burg burg Die A u t o r T i t e l

Dieburg

Wissenschaftlicher Begleitband zu den Ausstellungen »Burg und herrschaft« und »Mythos Burg« burgHerausgegeben von G. Ulrich Grossmann und hans Ottomeyer

Sandstein Verlag · Dresden

2 3 I n h a l t

G. Ulrich Großmann · Hans Ottomeyer Alexander Jendorff Stephan Hoppe Fabian Link Die Burg – Einführung zum Begleitband 8 Die Ganerbenburg – Hofstube und Tafelstube – Der Mythos Burg Zur politisch-sozialen Funktion eines Funktionale Raumdifferenzierungen im Nationalsozialismus 302 Burgentyps für Herrschaftsgemeinschaften 102 auf mitteleuropäischen Adelssitzen Werner Meyer seit dem Hochmittelalter 196 Burg und Herrschaft – Beherrschter Raum Hans-Heinrich Häffner und Herrschaftsanspruch 16 Jörg R. Müller Von der Adelsburg zur Hüpfburg? – Juden und Burgen im Mittelalter – Guido von Büren Burgen in der modernen Freizeitgesellschaft 312 Eine nur scheinbar marginale Beziehung 110 Burgen am Ende des Mittelalters – Felix Biermann Die Baugestalt im Spannungsfeld Burg und Herrschaft Thomas Biller von Residenz- und Wehrfunktion 208 bei den nördlichen Westslawen 26 Mark Mersiowsky Perspektiven der Burgenforschung – Burg und Herrschaft – Objektstudie, regionale Analyse und Ein Blick in die spätmittelalterliche Praxis 126 Olaf Wagener versuchte Gesamtschau 324 Peter Ettel Die Vielseitigkeit der Belagerungsanlagen – Burgenbau unter den Franken, Neue Erkenntnisse zu einem Phänomen Karolingern und Ottonen 34 Horst Buszello Orts- und Burgenregister ...... 336 der mittelalterlichen Kriegführung 218 Adel, Burg und Bauernkrieg – Adel und adlige Herrschaft im Christian Frey Denken der Aufständischen 1525 134 Georg-Wilhelm Hanna Burgen König Heinrichs I. – Frowin von Hutten – Das Leben eines Ritters 226 »urbes ad salutem regni« 50 Trude Ehlert Die Burgküche des Anja Grebe Hans-Wilhelm Heine Hoch- und Spätmittelalters Mythos Burg – Zu den Ursprüngen Burg und Recht – Zum Burgenbaurecht im Spiegel literarischer Quellen 144 des modernen Burgenbildes im »Sachsenspiegel« 56 in Mittelalter und Früher Neuzeit 236 Reinhard Schmitt Volker Rödel Der – Ein wehrhaftes Stephanie Lieb Burg und Recht – Ein Bereich vielfältiger Statussymbol des Burgherren 158 Der »Mythos Wartburg« im 19. und 20. Jahrhundert – Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten 64 Mechanismen der Inszenierung und Instrumentalisierung und ihre Auswirkungen Christof Krauskopf Daniel Burger auf die bauliche Gestaltung der Burg 254 Alltag auf Burgen im Mittelalter – Burgen als Orte der Justiz und Verwaltung – Ideen zu einem komplexen Modell 168 Zum Funktionstypus der spätmittelalterlichen Martin Baumeister und frühneuzeitlichen Amtsburg 72 Ritterlicher Kampf und Turnier – G. Ulrich Großmann Erscheinungsformen von Gewalt im Mittelalter 264 Wohnräume im Burgenbau Bernd Kluge des 12. und 13. Jahrhunderts 176 Burg und Münze – Burgen als Münzstätten Ulrich Klein im hohen Mittelalter 86 Die Erforschung der Burgen in Deutschland bis 1870 274 Jens Friedhoff Spätmittelalterliche und Clemens Bergstedt · Mario Müller frühneuzeitliche Burginventare 188 Elisabeth Crettaz-Stürzel Geistliche Residenzen und Romantik oder Herrschaftsanspruch – Residenzburgen im spätmittelalterlichen Burgenrenaissance und Burgenforschung Heiligen Römischen Reich 94 zwischen 1870 und 1918 292 W er n er M e y er

Burg und ­ Herrschaft – Beherrschter Raum und Herrschafts­ anspruch

Castles and Territorial Control

In the Middle Ages, a nobleman’s is positioned at the centre of a complex of properties and rights of varying size and importance. This complex can either be an allodium, i.e. lands held in absolute ownership not subject to any conditions of service or payment, or a Abb. 1 Abb. 2 , i.e. lands given to a vassal in return for service or payment. Haldenstein, Graubünden. Mittelpunkt einer kleinen Grundherrschaft, Castello di Mesocco (Misox), Graubünden. Together with the castle, it forms a unit of ownership which contin- die nur ein Dorf umfasst. Dieses hat anstelle des ursprünglichen Herrschaftszentrum des gleichnamigen Tales. rätoromanischen Namens den Burgnamen übernommen. ues to exist even after the castle has become a ruin. This legal entity of properties and rights is considered an inherent part of the castle. It often appears in historical documents under such all-embracing Burg und Zugehörden 1149 allerdings keine genauen Angaben enthält. Da die beiden Waldeck- ensit der Birse [...].«3 Näheres über die Zusammensetzung und den terms as “pertinencia” (“appurtenances”) or “Herrschaft” (“sei- Burgen schon früh, wohl noch im 13. Jahrhundert, abgegangen sind, Umfang dieser Güter erfahren wir erst aus jüngeren Quellen, namentlich gneury”). Precise details concerning the size and composition of a Im Jahre 1149 hat König Konrad III. dem Basler Bischof Ortlieb dessen haben sie keine weiteren Spuren in der schriftlichen Überlieferung aus Urbaren des 15. Jahrhunderts.4 Ähnlich wie die Urkunde von 1325 seigneury appear from the 13th century onwards in deeds of convey- weltlichen Besitz bestätigt, namentlich die beiden Burgen von Waldeck hinterlassen, sodass sich die Pertinentia (»Zubehör«, d. h. alle zugehö- lautet ein Passus im Habsburger Urbar, aufgezeichnet um 1310, der sich ance and sales documents as well as rent-rolls. (Kleines Wiesental, Südwestschwarzwald), die von zwei Herren, Trud- rigen Güter und Rechte) auch nicht aus späteren Quellen rekonstruie- auf die Burg Neu-Habsburg bei Luzern bezieht: »Item [...] die burg ze In the majority of sources, though not exclusively so, the term “ap- win und Heinrich, dem Bistum übertragen worden waren.1 Für unser ren lassen.2 Habsburg, matten und anders, das darzu höret, und das burgstal ze purtenances” signifies a complex of seigneurial properties and Thema ist folgender Passus wichtig: »[...] specialiter autem et nomina- Güter und Rechte aller Art, auch als »Zubehörden« oder »Zugehör- Meggenhorn in dem sewe, sint der herschaft eigen.«5 rights, including legal jurisdiction. Conflicts over the control of tim utrumque castrum Waldecke, antiquum et novum, cum omnibus den« bezeichnet, sind im Mittelalter an jede Burg gebunden (Abb. 1). Sie – as long as they are not punitive actions resulting from a felony or breach of public peace – often revolve around disputed pertinentiis eorum, terris cultis et incultis, silvis, venationibus, aquis, gehören so selbstverständlich zu ihr, dass sie bei Handänderungen, claims to a castle and its “appurtenances”. Situated at the hub of aquarum decursionibus, piscationibus, molendinis, viis et inviis, pratis, d. h. bei Verkauf oder Verpfändung einer Burg samt Zubehör, Belehnun- »Herrschaft« und »herlikeit« the complex of properties owned by a nobleman, the castle takes on pascuis […].« (dt.: »[…] die beiden Burgen Waldeck mit allem Zubehör, gen oder Güteraufzählungen, wenn überhaupt, oft nur summarisch the function, from the 10th/11th centuries onwards, of the early medieval bebautem und unbebautem Land, mit dem Wildbann, mit Wasser und aufgeführt werden. So enthält eine Belehnungsurkunde des Herzogs Hier zeigt sich, dass der Terminus »Herrschaft« im Mittelalter vieldeutig fortified manor(“curtis”) . Owing to its defensive works the castle is Wasserläufen, der Fischenz, mit Mühlen, Weg und Steg [eigentlich: Albrecht von Habsburg-Österreich von 1325 über die Burg Münchenstein verwendet worden ist. Im Habsburger Urbar und in anderen Quellen better protected against hostile attacks than the manor house. The Begehbarem und Unwegsamem], mit Wiesen und Weiden [...].«) bei Basel folgende Umschreibung: »alle die lehen, die si [= die Münch des 14. und 15. Jahrhunderts dient er u. a. als Pauschalbezeichnung für very appearance of the castle, both monumental and defensive, can Demnach besteht der Besitzkomplex »Burg« nicht allein aus einem von Münchenstein] von uns habent auf gütern, die ze der burg ze Mu- eine übergeordnete, landes- oder lehnsherrliche Instanz, d. h. im Falle be interpreted as a visible symbol of the nobleman’s power exer- wehrhaften und repräsentativen Baukörper, sondern auch aus einer nichenstein gehorent und die ouch unser lieber sweher graf Ulrich selig des genannten Urbars jener des Hauses Habsburg-Österreich und sei- cised from within the castle walls. Vielzahl von Gütern, zu deren Umfang und Standort die Urkunde von von Phyrt vor gelihen hat, wo die gelegen sind, disent der Birse oder ner landesherrlichen Administration.6 Dies. wird durch Formulierungen

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wie »Item hab ich zu lechen von miner gnedigen herschafft von Oster- Zum Umfang der Pertinenzen rich das schloss Lowenberg« (um 1450) bestätigt.7 Für den zu einer Burg gehörigen Güterkomplex, der meist aus grundherrlichen Rechten zu- Umfang, Zusammensetzung und Struktur der Pertinenzen, die in den sammengesetzt ist, findet sich dagegen häufig der Ausdruck »herlikeit« Quellen als »Herrschaft« oder als »Herrlichkeit« bezeichnet werden, bzw. »herlikeiten«.8 können sehr stark variieren. Eine Umschreibung für einen durchschnitt- Eine offenere Definition des Begriffes »Herrschaft«, dem älteren lichen Herrschaftskomplex hat sich für die Burg Gilgenberg (Solothurn) »Herrlichkeit« gleichgesetzt, wird von Haberkern/Wallach im »Hilfs­ erhalten, und zwar in einer Belehnungsurkunde von 1367: wörterbuch für Historiker« vorgeschlagen: »Inbegriff der Rechte eines »Die burg Gilgemberg mit dem turn uff dem velsen davor15 mit aller Herrn, z. B. des Lehnsherrn, über den Mann und über das Gut. Im spä- zugehörd, wegen, stegen, holtz, veld und aller begriffung; so hörend teren Mittelalter bezeichnet ›Herrschaft‹ besonders auch einen Kom- darzu die dörffer Meltingen, Zullwilr und Nunningen mit allen lüten, die plex von Besitzungen und Rechten, häufig die Pertinenz einer Burg in den dörffern, mülin und höfen siczen, mit diensten, stüren, vasnacht- bildend.«9 hünren, hohen und nidern gerichten, ungelten, wiltpennen, wasser, Burg und Herrschaft bzw. Herrlichkeit sind also eine Besitzeinheit, wasserrunsen, allen herligkeiten, als wit die benn der selben dörffer quasi ein Immobilienkomplex (Abb. 2). Vor allem im Spätmittelalter, reichend […].«16 bekannt als Periode des regional unterschiedlich ausgeprägten »Bur- In Bergbaugegenden wie dem Schwarzwald werden häufig auch die gensterbens«, tritt das Phänomen der güterrechtlichen Einheit von Burg Abbaurechte, die Minen und die Verhüttungseinrichtungen unter dem und Herrschaft dann besonders deutlich in Erscheinung, wenn die be- Zubehör einer Burg aufgeführt.17 treffende Burg gar nicht mehr bewohnt wird, wie das Beispiel der Burg Landesherrliche, im Territorialisierungsprozess begriffene, aus Ein- Bischofstein bei Sissach (Basel-Landschaft) zeigt.10 1464 verkauft Fried- zelteilen zusammengesetzte Herrschaftskomplexe größeren Ausmaßes rich zu Rhein die Burg für 700 Gulden an einen Werner Truchsess von gelten in der Regel allerdings nicht als Zubehör bloß einer einzigen Rheinfelden. Allerdings ist die Burg Bischofstein seit dem Erdbeben von Burg. Die Herzöge von Zähringen verfügten zwar über Residenzen, ihre Basel 135611 nur noch ein Schutthaufen, dessen Verkehrswert sicher ausgedehnten Herrschafts- und Hoheitsrechte waren aber nicht an eine keine 700 Gulden beträgt. An die Ruine sind aber noch immer die herr- einzige Burg mit umfassender Zentrumsfunktion gebunden.18 Ähnlich schaftlichen Pertinenzen gebunden, die in der Urkunde wie folgt um- verhielt es sich mit den Habsburgern. Deren Stammsitz bei Brugg im schrieben werden: »[…] das burgstal Bischofstein […] mit Zwingen und Aargau, der dem Grafengeschlecht den Namen gab, bildete nur den Bännen, ouch allen sinen rechten und zugehörungen«. Es folgt eine Mittelpunkt des sogenannten »Eigens«, einer kleinen, ein halbes Dut- genaue Aufzählung all dieser Güter, Einkünfte und Rechte, die in ihrer zend Dörfer umfassenden Grundherrschaft (Abb. 3).19 Gesamtheit den Kaufpreis als durchaus angemessen erscheinen las- Auch bei frühen Königs- oder Reichsburgen scheinen die herrschaft- sen.12 lichen Pertinenzen allein aus einer kleinen, zur Versorgung der Burg- Eine Burg repräsentiert demnach auch als Ruine noch einen er- sassen bestimmten Grundherrschaft bestanden zu haben. So galten heblichen Liegenschaftswert. Unter der Voraussetzung, dass sie als Zubehör des Vorderen Wartenbergs bei Basel, einer mutmaßlichen weiterhin den Mittelpunkt eines herrschaftlichen Güterkomplexes hochburgundischen Königsburg aus dem 10. Jahrhundert, lediglich ein bildet, kann sie somit auch Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten Forst und ein Versorgungshof im nahe gelegenen Dorf Muttenz.20 Die werden. So erstaunt es nicht, dass beispielsweise Burg Fürstenstein hochmittelalterlichen Inhaber der Burg, die Grafenhäuser Frohburg und am Blauen, 1411 von den Baslern zerstört und bis auf den Grund ge- Neu-Homberg, besaßen zwar die Landgrafschaftsrechte im Sisgau, diese schleift, unter der Bezeichnung »Fürstenstein der Fels mit siner Zu- bildeten aber einen vom Wartenberg getrennten Rechtstitel mit einer gehör« vom Basler Bischof bis ins 18. Jahrhundert hinein als immer eigenen Besitzerreihe.21 wieder erneuertes Lehen ausgegeben wird.13 Oft kommt es freilich Unterstrichen wird die enge Verbindung von Burg und »herlikeit« vor, dass eine Burgruine mit ihrer Pertinenz im Herrschaftskomplex durch das häufig belegte Phänomen, dass Herrschaften den Namen einer bestehenden Anlage aufgeht. Im Habsburger Urbar wird im der Burg tragen, als deren Zubehör sie gelten. Dies trifft vor allem auf frühen 14. Jahrhundert unter den Gütern des Amtes Regensberg »ein Grundherrschaften und kleinere, ursprünglich allodiale (d. h. voll­ burgstal uf dem Legern« erwähnt, und im Amt Interlaken »ligent och eigene) Territorien zu, wie für den Basler Raum etwa die Beispiele zwo vestinen, die burg ze Unspunnen und ein matte dabi und die Rötteln, Dorneck, Waldenburg, Schauenburg, Ramstein oder Löwen- Palme.«14 berg zeigen.22 Abb. 3 Habsburg, Aargau. Mittelpunkt des »Eigens«, einer kleinen Grundherrschaft, und bis gegen 1250 Residenz der Grafen von Habsburg.

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schnittlichen Burggut betrieben hat, ist ein Verzeichnis des Liegen- Der Wert der Pertinenzen schaftsbesitzes der Burg Alt-Wädenswil am Zürichsee aus der Zeit um 1550: »Hienach volgent acker, matten und weyden, dem hus Wedischwyl Angesichts der immensen Unterschiede bei den als Pertinenzen gel­ wegen der sennenten zugehörig.«26 Das Verzeichnis beginnt mit der ten­den Güterkomplexen hinsichtlich Größe, wirtschaftlichen und de- Aufzählung von Wiesen, die insgesamt für 44 Kühe Winterfutter liefern, mographischen Strukturen, Erträgen und herrschaftspolitischem Ge- dann folgt die Zusammenstellung des Weidelandes, das für die Som- wicht kann es nicht erstaunen, dass für den jeweiligen Verkaufswert merhaltung von 36 Kühen ausreicht. Die Ackerfläche umfasst 89 Juch­ einer Burg samt Zubehör ganz unterschiedliche Summen überliefert arten.27 Ferner gehören zum Liegenschaftsbesitz außer einem Kraut- sind. So bewegen sich im Basler Raum im 14./15. Jahrhundert die Preise garten mehrere Wirtschaftsbauten, darunter eine »sennhütte« mit der zwischen 370 Gulden für die kleine Grundherrschaft Gutenfels und Einrichtung zum Käsen. Der Viehbestand umfasst 18 Kühe, einen Stier, 10 000 Gulden für die Herrschaft Farnsburg, zu der damals (1461) auch acht Haupt »Galtfech«28, ein Schwein und acht Zugochsen. Schließlich die Rechte der Landgrafschaft Sisgau gehören.35 sind noch 52 Käse eingelagert, von denen elf bereits verkauft sind. In der Regel wird bei Handänderungen nur die Gesamtsumme ge- Dass auch auf der Burg selbst Vieh gehalten worden ist – etwa im nannt. Für die Landskron im Leimental (Sundgau) liegt mit dem Voran- Burggraben oder in der Vorburg –, auch wenn im nahen Umfeld ein schlag von 1569 für einen geplanten Verkauf jedoch eine detaillierte Versorgungshof lag, ergibt sich aus einer Urkunde von 1520. In ihr über- Zusammenstellung der einzelnen Posten vor.36 trägt ein Junker Hans Thüring Münch von Löwenberg den Gutshof der Abb. 6 Burg Löwenberg einem »Lehenmann«, der verpflichtet ist, nicht nur Tarasp, Graubünden. Rodungsburg Unterengadin, Vieh – Kühe, Pferde, Schweine, Schafe – auf dem Hof zu halten, son- Mittelpunkt einer kleinen Grundherrschaft. 1. Burg Landskron, mit Mauern umringt und mit Toren umschlossen, dern auch »die kü und sü, so fil der juncker hatt im schloss«, tagsüber mit Ausnahme des Sodbrunnens 30 000 fl durch einen Hirten hüten zu lassen.29 Die Funktion der Burg als land- turelle Investitionen – Bau von Wegen, Brücken und Gewerbeanlagen 2. der Sodbrunnen 2 000 fl wirtschaftlicher Gutsbetrieb hat in Form von Bauresten, meist im Vor- – verändern das Erscheinungsbild einer »Herrlichkeit« laufend. 3. der Graben um die Burg, größtenteils in Fels gehauen 2 000 fl burgbereich, sowie von signifikanten Funden archäologisch deutliche Diese Veränderungen hängen eng mit der Herrschafts- und Sied- 4. der Krautgarten 400 fl Spuren hinterlassen.30 lungsentwicklung zusammen, die zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert Die urkundlichen Formeln für die Umschreibung von Zugehörden im Zuge des mittelalterlichen Landesausbaues weite Teile des Abend- 5. der ganze Berg samt dem Holz, worauf das Haus Lands- kron, auch »alte Landtscron« und »Ryneckh« gelegen 4 000 fl verändern sich – namentlich bei routinemäßig ausgestellten Lehenbrie- landes erfasst und dessen Kulturlandschaft groß- und kleinräumig ver- fen – nur wenig, was nicht zuletzt daran zu erkennen ist, dass Textfeh- ändert hat.32 Von Burgen aus werden – etwa in den stark bewaldeten, 6. Baumgarten und Matten (u. a. 400 Bäume) 3 000 fl ler, die sich einmal eingeschlichen haben, bei jeder Lehenserneuerung dünn besiedelten Mittelgebirgen, aber auch im nördlichen Alpenvorland 7. Sennhaus und Scheunen 1 200 fl wiederholt werden.31 Das bedeutet aber nicht, dass Umfang und Struk- – regelrechte »Kolonisationsunternehmungen« geleitet, was zur Bildung 8. Reben 1 200 fl tur der herrschaftlichen Pertinenzen in Unveränderlichkeit verharrt von neuen Herrschaftsstrukturen und Wirtschaftsräumen führt (Abb. 4). 9. Trotte (Kelter) 300 fl wären. Erbteilungen, Teilveräußerungen, Erwerbungen und infrastruk- Mittlere und kleinere Herren, Edelfreie wie Kastvögte (d. h. Haupt- 10. Weidgang 500 fl Abb. 4 vögte), grundherrliche Amtsträger, später auch Stadtadlige, errichten 11. das halbe Dorf Leymen mit hoher und niederer Greifenstein, Graubünden. Rodungsburg, entstanden im Zuge in unbesiedeltem, als herrenlos geltendem Wald- oder Sumpfland Bur- »Obrigkeit«, Stock und Galgen, hohen und niederen der landesherrlichen Kolonisation Mittelbündens. gen, um welche sich, getragen von hörigen, bäuerlichen Siedlern, als Gerichten, »Ackrit«,37 ­Fischenzen (Fischereigerechtsamen), Pertinenzen dieser Neugründungen Herrschaftsgebilde unterschied­ Hagen,38 Jagen, Freveln, Fällen,­ Bußen und Besserungen Das Burggut licher Größe und Wirtschaftsstruktur entwickeln (Abb. 5). samt Fronden und anderen Dienstbarkeiten 1 500 fl Burgen, gegründet auf Rodungsland, tragen oft sprechende Namen. 12. die Steuer zu Leymen 400 fl Zum engsten Kreis der Pertinenzen zählt das sogenannte »Burggut«, Dies trifft z. B. auf die verbreitete Namengruppe Wildenberg, Wilden- 13. der Dinghof 3 200 fl d. h. jene landwirtschaftliche, die Burg meist unmittelbar umgebende stein, Wildeck und ähnliche Namensbildungen zu, denn das Wort »Wild- 14. weitere Zugehörden (Badstube, Taverne, Weiher, Fläche, die von der Burg oder einem unmittelbar benachbarten Gehöft nis« (»Wildnus«, »Wildung«) bezeichnet im Mittelalter eine urbarisierte der halbe Salzkasten, die Mühle zu Flüh) 5 200 fl aus direkt bewirtschaftet wird.23 Auch in Agrarzonen mit vorwiegendem Siedlungszone inmitten unkultivierten Geländes (Abb. 6).33 Leider ist 15. Burgstall Waldeck, »so ungebuwen«, samt Zugehörden 7 909 fl Getreide- und Weinbau wird auf den Burggütern oft mehrheitlich Vieh- die Bedeutung dieser Rodungsburgen und Rodungsherrschaften für die Summa summarum (gerundet) 62 000 fl und Milchwirtschaft betrieben. Der größte Teil des auf den Burgen in allgemeine Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters noch zu gewaltigen Mengen verzehrten Rind- und Schweinefleisches wird auf wenig, im besten Fall punktuell erforscht.34 In gewissen Regionen, wo dem Burggut produziert, denn in den Verzeichnissen grundherrlicher ein intensiver Landesausbau in Verbindung mit der Errichtung zahlrei- Abgaben werden Rinder und Schweine als Naturalzinsen kaum aufge- cher Burgen betrieben worden ist, lässt sich nachgerade von einem Der auffallend hohe Wert der Burg allein (mit Graben und Sodbrun- führt.24 Nicht näher bezifferbar sind die Quantitäten von Schlachtvieh »Kolonisationsadel« sprechen (Abb. 7). nen) – 34 000 Gulden bei einer Gesamtschätzung von 62 000 Gulden – und Fleisch, die für die Burgsassen in Städten oder auf nahen Vieh- erklärt sich aus der gewaltigen Wertsteigerung, welche die Landskron Abb. 5 25 märkten gekauft worden sind. Aufschlussreich für die Viehhaltung Zur Burg bei Splügen, Graubünden. Gründung der Freiherren von Vaz um 1515/1516 durch einen von der Herrschaft Österreich mitfinanzierten und Milchwirtschaft, die man im 15./16. Jahrhundert auf einem durch- zur Festigung der Herrschaftsansprüche im Hinterrheintal. Ausbau erfahren hatte.39

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Anders ist der Sachverhalt bei der gewaltsamen Besitzergreifung zum Zwecke der herrschaftspolitischen Expansion. So bringen beispiels- weise die Berner 1388 Burg und Herrschaft Nidau »manu militari« in ihren Besitz. Wie häufig bei Belagerungen wird zuerst das vorburgartige Städtchen Nidau im Sturm genommen, dann ist die Burg an der Reihe. Über ihre Einnahme berichtet der Chronist Conrad Justinger: »Do nu die stat nidouw gewunnen wart und die vigende in die vesti gewichen warent, do wart vertedingot, daz si sollten friden haben sechs wuchen; wurden si dazwüschen nit entschüttet, so sollten si den von bern die vesti ingeben mit allem dem da ine were, ussgenommen ross und harnesch, damitte sollten si abziehen. […] Und do si nit entschütt wur- den, do zugent die herren und jederman so in der vesti warent, ir strass, und namen die von bern die vesti in, und besaste man die vesti mit einem fromen bürger von bern, hies Peter Balmer, der da vogt wart. […] Also mit grossem kosten und arbeit ist nidouw und bürren in der von bern hand kommen, und hat dieselben zwey sloz mit grossen eren mit dem swert gewunnen.«44 Mit der Einnahme von Büren und Nidau bringen die Berner ein be- achtliches Territorium östlich des Bieler Sees in ihren Besitz. Allerdings ist einschränkend festzuhalten, dass nach einem Krieg in den Friedens- Abb. 8 verträgen die »manu militari« errungenen Burgen und Herrschaften oft Castelmur, Graubünden. Talsperre, Zollstätte zurückerstattet werden müssen oder nur gegen eine Entschädigungs- und Herrschaftszentrum im Bergell. summe behalten werden können.45 Beim Kampf um Burgen geht es sehr oft nicht um militärisch-takti- sondern findet sich bereits im Frühmittelalter beim Herren- oder Fron- sche Vorteile wie bei neuzeitlichen Festungswerken, sondern um die hof (lat. »curtis«, »curia«).48 So heißt es etwa in der Güterbeschreibung gewaltsame Aneignung herrschaftlicher Güter und Rechte. Wer die des sogenannten Testaments des Churer Bischofs Tello von 766 über Burg besitzt, gilt als rechtmäßiger Inhaber der an die Burg gebundenen den Fronhof von Sagogn bei Ilanz, Graubünden: »Hoc est curtem meam »Herrlichkeit« (Abb. 8). Ein Gegner kann zwar die Zubehörden verwüs- in Secanio, imprimis salam cum solario subter caminata, desuper alias Abb. 7 ten, die Besitzrechte muss er sich bei gewaltsamem Vorgehen mit der caminatas subter cellarium, coquina, stuba, circa curtem stabulum, Alt-Wartburg, Aargau. Um 1200 im bewaldeten Niemandsland Einnahme der Burg sichern. Deren Wehreinrichtungen wiederum die- tabulata, torbaces vel alia hospitalia vel cellaria et quidquid ad ipsam zwischen Buchsgau und Aargau gegründet. nen in der Kriegspraxis nicht nur der Verteidigung der Burg selbst oder curtem pertinet, omnia ex integro. Item curtinum cum pomiferis suis. ihrer Insassen und deren Fahrhabe, sondern auch der Wahrung des Item ortos et vineas subter curtem ex integro. Item in castro sala mu- Krieg und Vergeltung schaft Münchenstein an die Stadt Basel mit der Begründung verpfän- Besitzrechtes am herrschaftlichen Güterkomplex. ricia, subter cellaria, torbaces in ipso castro, quantum ad me legitime det, er sei seit dem Tode seines Vaters wegen »vil und manigfaltig Bei unsicheren oder umstrittenen Besitzansprüchen ist es für den pertinet, omnia ex integro. Item ad vicum curtem meam cum tabulata, Bei kriegerischen Auseinandersetzungen wird der herrschaftliche Güter­ wider­wertikeit durch krieg, roupp, nom, vehde und vintschafft« so in Burgherrn wichtig, die Burg, an der die Herrschaftsrechte hängen, vor cum bareca cum omnibus que ad ipsam curtem pertinent cum introitu komplex durch Plünderung und Niederbrennen der Dörfer, Vernichtung Schulden geraten, dass er zur Veräußerung seines Familiengutes ge- gegnerischem Zugriff zu sichern. Dies kann sogar in vertragliche Be- suo ex integro. Item in territoriis [...]. Item de colonis de ipsa curte der Saaten, Viehraub, Zerstörung der Weinberge etc. oft stärker in zwungen sei.41 stimmungen einfließen, wie das Beispiel der Burg und Herrschaft Pfirt Secanio [...].«49 (dt.: »Dies ist mein Fronhof von Sagogn, zum ersten das Mitleidenschaft gezogen als die Burg selbst. Der zu Schutz und Schirm Im Zuge einer kriegerischen Heimsuchung kommt es immer wieder im Sundgau zeigt. 1278 empfängt Graf Diebold von Pfirt vom Basler Bi- Herrenhaus mit der Halle, dem beheizbaren Raum unten, anderen heiz- verpflichtete und an der Erhaltung der Produktionskraft seiner Unter- vor, dass die zumeist wehrlose Bevölkerung genötigt wird, der einge- schof »die herschaft von Phirete« zu Lehen. Die Urkunde schreibt vor, baren Gemächern oben, dem Keller unten, der Küche, der Stube, dem tanen interessierte Burgherr, d. h. der Herrschaftsinhaber, kann sol- drungenen Truppe zu huldigen, d. h. den Untertaneneid zu leisten.42 dass der Graf »Phirette, die burch, mit niemanne sol besezzen, wan mit Pferdestall und dem Viehstall beim Hof, Speicher, Vorratskammern und chen Vorgängen selten Einhalt gebieten. Er übt deshalb häufig Vergel- Hier wird ebenfalls deutlich, dass der Kampf um Burgen und die dazu- biderben lüten, die demme Bischoue an argwan sin«, und dass er über- anderen Wohn- und Wirtschaftsräumen, und was immer zu demselben tung, indem er im Herrschaftsbereich des Gegners gleiche Verheerun- gehörigen Güter und Herrschaftsrechte häufig keinen militärisch-takti- haupt dafür sorgt, dass die Burg im bischöflichen Lehensbesitz ver- Hof gehört, alles ohne Ausnahme. Desgleichen den Einfang mit den gen anrichtet, wie das Sprichwort »Es ziert der Brand den Krieg wie das schen, sondern einen herrschaftspolitischen Hintergrund hat. Dies gilt bleibt.46 Wer demnach die Burg innehat, ist rechtmäßiger Besitzer der Obstbäumen, desgleichen die Gärten und Weinberge unterhalb des Magnificat die Vesper« besagt. Die bäuerlichen Untertanen fliehen oft nicht für jene Fälle einer Belagerung von Burgen, deren Inhaber der Herrschaft Pfirt.47 Hofes ohne Ausnahme. Desgleichen in der Burg das gemauerte Her- mit ihrer Habe in die Wälder oder in den Schutz einer nahen Stadt.40 Felonie, d. h. dem vorsätzlichen Treuebruch gegenüber dem Lehensher- Diese Feststellungen führen zu einem Sachverhalt, der als zentral für renhaus, unten die Keller, die Vorratskammern in derselben Burg, so Ein beredtes Zeugnis, wie Kriegsverwüstungen eine burggestützte Grund­ ren, oder des Landfriedensbruchs bezichtigt werden. Die Einnahme und das Verständnis der Burg im Mittelalter gelten muss: die rechtsverbind- viel mir rechtmäßig zusteht, alles ohne Ausnahme. Desgleichen im Dorf herrschaft ruinieren können, gibt ein Passus aus einer Urkunde von Zerstörung solcher Burgen, oft verbunden mit der Hinrichtung der Be- liche Zuordnung von herrschaftlichem Gut an einen Gebäudekomplex. ein Hof mit Speicher, Schuppen und allem, was dazu gehört. Desglei- 1470, in der Konrad Münch von Münchenstein seine Burg und Herr- satzung, erweist sich als landesherrliche Strafmaßnahme.43 Sie ist nicht erst eine Erscheinung im hochmittelalterlichen Burgenbau, chen an Grundstücken […]. Ferner die zum Hof gehörigen Bauern […].«)

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Die Quellen

Thema der folgenden Darstellung ist die hoch- und spätmittelalterliche Burgküche, die aus der Perspektive literarischer Quellen beleuchtet ie Burgküche werden soll. Die besprochenen Textpassagen werden sich wie Mosaik- D steine zu einem Bild von den literarischen Konzepten der Burgküche des Hoch- und sowie den Einstellungen zu Essen und Trinken auf mittelalterlichen Burgen zusammenfügen (Abb. 1). Dieses Bild erhebt allerdings nicht den Spätmittelalters Anspruch, mittelalterliche Realität widerzuspiegeln. Vielmehr zeigt es die Sichtweise, welche die Autoren ihren Hörern und Lesern zu vermit- teln wünschten; diese Sichtweise kann nicht zuletzt auch in Abhängig- im Spiegel keit von der Gattung und der Thematik der behandelten Texte variieren. Herangezogen werden in erster Linie höfische Romane, Epen und Erzäh­ litera­rischer Quellen lungen, aber auch didaktische, also normative, sowie direktive Texte, die zwischen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und etwa 1500 entstanden sind.1 . Abb. 1 Hochzeitsfest am norwegischen Königshof mit Tafelszene. Miniatur aus: Rudolf von Ems, Willehalm, um 1440/1441 (GNM, Hs 998, fol. 260r, Det.). Was heißt »Burgküche«?

»Burgküche« kann in unserem Zusammenhang zweierlei meinen: Es kann zum einen im wörtlichen Sinn den Lebens- und Arbeitsraum der Der Erzähler vergleicht den Jüngling mit Gold, das in eine Pfütze fiel, der verwendeten eisernen Geräte oder auch vom fettigen Bratenrost Küche auf mittelalterlichen Burgen bezeichnen, jenen Raum, in dem die und mit einem Edelstein, der in Ruß geworfen wurde (188,21; 188,26 – 25). herrühren dürfte (»under râme der geflôrte«, 195,3 – 6). Speisen für die Bewohner zubereitet wurden. Zum anderen kann das Beide Vergleiche implizieren die Fallhöhe, die zwischen dem jungen Eine gänzlich andere Bewertung erfahren dagegen mit der Küche und Wort »Burgküche« als Metapher für die Essensordnungen2 auf mittel- Adligen – selbst wenn dieser heidnischer Abstammung ist – und der der Speisung verbundene Tätigkeiten, wenn es sich um die in das hö- alterlichen Burgen stehen, also für die Gesamtheit der Speise- und Küche als dem ihm zwangsweise zugewiesenen Arbeitsraum besteht. fische Zeremoniell5 eingebundenen Hofämter handelt. Ursprünglich Castles and Kitchens of the High and Ernährungsgewohnheiten sowie der mit ihnen verbundenen Konzepte3 Die Vergleiche machen auch deutlich, dass praktische Handarbeit in wurden die zentralen Hofämter, zu denen im Umfeld der Küche vor as Revealed in Literary Sources und Einstellungen. Beides soll im Folgenden behandelt werden (Abb. 2).4 der Küche einem Adligen nicht angemessen ist, dass sie ihn gleichwohl allem die des Kämmerers, des Truchsessen und des Mundschenken nicht in seiner Substanz zu berühren vermag. Zwar bedeutet sie für ihn gehörten, von Ministerialen versehen.6 Die Ehre, die der Dienst in die- A description of the “medieval castle kitchen” is given, based on »kumber« (191,10) und ist »smaelich arbeit« (193,15), die ihn vor Scham fast sen Ämtern mit sich brachte, trug neben anderen Faktoren zum Auf- three types of sources: narrative, didactic and instructional literature wahnsinnig werden lässt (193,24), kann aber seinem angeborenen Adel stieg der Ministerialen bei, die ursprünglich unfreie Dienstleute des th th Die Burgküche als Lebens- und Arbeitsraum from the 12 to 15 centuries. The “castle kitchen” is understood, at keinen Abbruch tun. Königs und später auch des Adels waren. one level, as a place where food is prepared, and at another, as a Über die Küche als Lebens- und Arbeitsraum erfahren wir aus der er- So wird er denn auch nicht bestraft, nachdem er einen Knappen Am Hof der deutschen Könige und Kaiser wurden bereits im 12. Jahr- metaphor for the rules governing medieval aristocratic cuisine and zählenden Literatur des Mittelalters nur sehr wenig: Sie ist im Prinzip kurzerhand gegen eine Säule schleudert, weil dieser zusammen mit hundert zumindest bei großen Festen die Hofämter im Rahmen des table etiquette. It is obvious that work in the castle kitchen was nicht »literaturfähig«, denn das darin arbeitende Personal gehört in der anderen zum wiederholten Male seinen Wasserzuber umgestoßen hatte. Zeremoniells von Mitgliedern des Hochadels ausgeübt. Arnold von Lü- considered inappropriate for aristocrats themselves; however, where Regel nicht der adligen Oberschicht an, aus welcher sich die Helden Auch nachdem man seine Haare und seine neuen Kleider in der Küche beck berichtet in seiner bis 1209 reichenden »Chronica«, dass beim an office, an “official function” linked with kitchen work only re- und Heldinnen der Erzählliteratur rekrutieren. angesengt hatte und bei seinem wütenden Vergeltungsschlag gegen Mainzer Hoffest 1184, mit dem die Schwertleite der Söhne Friedrichs I. quired symbolic action, then it could be considered honorable, as Dass die Küchenarbeit dem Adel, welchem die epischen Helden meist die Kessel der Küchenmeister zu Schaden gekommen ist (198,20 – 28), Barbarossas gefeiert wurde, »die Ämter des Truchsessen, des Schen- was the case with other court offices. If the “castle kitchen” is zuzurechnen sind, nicht angemessen ist, vermittelt der Erzähler in Wolf- wird er von seinem neuen Herren Willehalm nur ermahnt, sich fürderhin ken, des Kämmerers und des Marschalks nur von Königen, Herzögen understood as a metaphor for medieval rules governing aristocratic rams von Eschenbach »Willehalm« (unvollendet abgebrochen um 1217 zusammenzureißen und nicht mehr zu klagen. Der in der Küche ange- und Markgrafen verwaltet« worden seien.7 cuisine and table etiquette, decision-making as to who is given what kind of food becomes a matter of status. This may be discerned in oder später) seinem Publikum anhand der Figur des heidnischen Knap- richtete Schaden und selbst der verletzte Küchenmeister sind dem Da die Ausübung dieser Ämter nichts mit praktischer Küchenarbeit the distinction between the lords’ food and the peasants’ food as pen Rennewart: In der Küche des französischen Königs Lôîs ist der mit Erzähler kaum eine Silbe wert, was wiederum die ständische Diskre- zu tun hat, sondern vielmehr symbolisches Handeln im Rahmen des well as the contrast between the so-called “food triads” of the der Kraft von mehr als drei Mauleseln ausgestattete Rennewart damit panz zwischen dem jungen Adligen und der Arbeitswelt der Küche höfischen Zeremoniells darstellt, welches die Handelnden in das höfi- 8 and the hermits. In descriptions of meals in broad terms, beschäftigt, in riesigen Zubern das Wasser herbeizuschleppen, das in unterstreicht. sche Machtgefüge einbindet, verwundert es nicht, wenn in einem hosts and guests can be characterized through the depiction of the der Küche benötigt wird (187,30 – 188,15). Der König weiß, dass der junge Ganz nebenbei lässt der Erzähler auch durchblicken, dass Küchen- heldenepischen Text wie dem »Nibelungenlied«, das wohl um 1200 bei meal. It can, for example, indicate the generosity of the host, but Mann nicht »nâch sîner geschickede und nâch sîner art« (188,19), d. h. arbeit mit Schmutz verbunden ist: Zweimal kurz hintereinander be- Passau aufgezeichnet wurde, solche Hofämter von Recken eingenom- also his scarcity of material means. Finally, medieval collections of nicht seiner eigentlich schönen Gestalt und seiner Abkunft entspre- schreibt er den jungen Mann als über und über vom Küchenschmutz men werden, deren heldische Qualitäten über jeden Zweifel erhaben recipes are examined for their informational value in regard to nutri- chend behandelt wird, belässt ihn aber bewusst in dieser demütigenden bedeckt (»gap nâch küchenvarwe schîn«, 188,16; »Rennewart, der kü- sind. Vom Küchenmeister Rûmolt heißt es dort etwa, er sei »ein ûz tional practices in medieval castles. Stellung, weil Rennewart sich weigert, sich taufen zu lassen (191,1 – 10). chenvar«, 189,1), der vor allem vom Ruß der offenen Herdstelle, vom Rost erwelter degen« (10,1); als Truchsess fungiert Ortwîn von Metz, Hagens

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Abb. 2 Abb. 3 Cornelius Tennissen: Frau Welt tafelt mit den Herren Sorglos und Geschmack. Im Hinter­grund Daniel Hopfer: Tafelnde Bauern bei einem Dorffest. ist der Blick in eine Küche mit Dienstpersonal zu sehen. Holzschnitt, Anfang 16. Jh. (GNM, H. 5366). Kupferstich, 1. Hälfte 16. Jh. (GNM, StN 11372).

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Schwestersohn (11,2); auch Sindolt, der das Amt des Mundschenken innehat, wird als »ein ûz erwelter degen« bezeichnet (11,3); Hûnolt, der »Man pflag ir wol mit reycher kost: »Man diente ihnen mit reicher Kämmerer der Burgunden, ist mit einbezogen in das Lob: »si kunden Rüeben und kumpost Kost: / Rüben und Sauerkraut / hôher êren pflegen« (11,4). Dass es sich bei diesen Hofämtern um Funk- Trug man nicht ze tisch; Trug man nicht zu Tisch; / tionen innerhalb des höfischen Zeremoniells handelt, wird nicht zuletzt Wilprett und edel fisch Wildbret und Edelfische / Was mit gewurtz den heren wol perait. standen wohl gewürzt für die dadurch deutlich, dass Rûmolt später für die Zeit der Hunnenfahrt als Mit speyse was da reychait Herren bereit. / Reiche Speise Landverweser der burgundischen Könige eingesetzt wird (1518 – 1519). Und dar zu der peste wein gab es dort /und dazu tranken Der auff erden mag gesein die Helden dort / den besten Truncken di recken do.« (11 406 – 11 414) Wein, / den es auf Erden geben Die Burgküche als Metapher für Essensordnungen kann.« auf mittelalterlichen Burgen

Verwendet man das Wort »Burgküche« als Metapher für Essensordnun- In einem der unter dem Namen »Seifrit Helbling« überlieferten satirisch- gen auf mittelalterlichen Burgen, so bezieht es sich auf die Gesamtheit kritischen Reimpaargedichte wettert der im letzten Jahrzehnt des der Speise- und Ernährungsgewohnheiten, die ihnen inhärenten Nor- 13. Jahrhunderts schreibende unbekannte Autor dagegen, dass die Bau- mierungen, ihren gesellschaftlichen Kontext sowie die damit verbun- ern sich nicht mehr mit den ihrem Stand angemessenen Speisen denen Konzepte und Vorstellungen. Der ständisch verfasste Begriff (Kraut, Gerstenbrei, Hanfgemüse, Linsen, Bohnen) begnügen wollen, »Burgküche« umfasst dabei vor allem die Oberschichtenküche, die Speise­ sondern dasselbe zu essen begehren wie die Herren: Das sei für das gewohnheiten und -normen des Adels und der höherrangigen Ministe- Land wie ein Hagelschlag.10 rialen. Sie steht in Opposition zur Bauernküche bzw. der Küche einfa- Eine interessante Quelle für die anscheinend bereits habituelle Zu- cher Leute sowie zur Küche von Stadtbewohnern und kann auch in ordnung bestimmter Gerichte zu unterschiedlichen Ständen und damit Opposition gesehen werden zur eremitischen und klösterlichen Küche für die Existenz mentaler Essensordnungen ist der vermutlich zwischen Abb. 4 mit ihren jeweiligen religiös bedingten Normierungen (Abb. 3).9 . 1250 und 1280/1285 entstandene »Helmbrecht« Wernhers des Gartenære. Tafelszene in einem Liebesgarten. Die ständische Gebundenheit von Speisen und Getränken ist ein Darin unternimmt es ein wohlhabender Meier, seinen nach dem Auf- Nürnberger Bildteppich, um 1460 (GNM, Gew 672). herausragendes Merkmal mittelalterlicher Essensordnungen im ein- stieg in das Rittertum strebenden Sohn von dessen Begehr abzubrin- gangs dargelegten Sinne; sie trägt zum Zeichencharakter der Nahrung gen, indem er ihm die Speisen schmackhaft zu machen versucht, die Beispiele für den eremitischen Speiseplan liefern Hartmanns von Aue Trevrizent hatte diese durch strenge Askese gekennzeichnete Essens- bei und wird besonders in normativen Texten betont. So schreibt Hugo ihm als Bauern nach Ansicht des Vaters (und wohl auch des Erzählers) »Iwein« (um 1200) und Wolframs von Eschenbach »Parzival« (entstanden ordnung, bei der sogar auf Brot verzichtet wird und die statt angebau- von Trimberg (gest. nach 1313), »magister« und »rector scholarum« am eher angemessen und ehrlich erworben sind: Er möge lieber Wasser zwischen 1200 und 1210). Als der vor Schmerz über seine gesellschaft­ ter Vegetabilien nur solche enthält, die in der Natur gefunden werden St. Gangolfstift in der Bamberger Vorstadt Teuerstadt, in seinem »Ren- anstatt mit geraubtem Geld gekauften Wein trinken, lieber eine mit liche Ächtung wahnsinnig werdende Iwein im Wald auf einen Einsiedler können, bereits vor Jahren als Bußleistung in der Hoffnung auf die ner«, einem fast 25 000 Verse umfassenden, vielfältige Wissensgebiete Obst oder Fleisch gefüllte Semmelschnitte als durch Raub erworbenes trifft, flieht dieser verängstigt vor ihm, versucht aber sodann, ihn durch Heilung seines Bruders Amfortas gewählt. Trevrizents Fastenspeise, die berührenden Kompendium, das sich mit moralisch-didaktischer Ab- Hühnerfleisch essen, denn jeder halte die für Herrenspeise. Er solle die Gabe von Brot und Wasser zu besänftigen, was auch gelingt. Diese er mit Parzival teilt, steht nach ihrer Zusammensetzung und dem Grad sicht an ein nicht lateinkundiges Publikum richtet: den von der Mutter zubereiteten Eintopf einer mit Diebesgut gekauften partielle Anpassung an den eremitischen Speiseplan13 unterstreicht kultureller Verarbeitung auf der untersten Stufe des Ernährungssys- Gans vorziehen und lieber aus einem Roggen- und Hafergemisch geba- zugleich, dass Iwein aus der höfischen Gesellschaft herausgefallen ist. tems,17 noch unter dem im »Iwein« geschilderten eremitischen Speise- ckenes Brot als unehrenhaft erworbene und »wohl gewürzte« Fische Als er zwei Tage später wieder vor der Tür des Eremiten steht, wieder- plan, und hat im Textzusammenhang die strukturelle Aufgabe, Parzival »Manic gebûr wirt schimelgrâ, »Manch ein Bauer wird alt und verspeisen.11 Der Sohn weist die Ermahnungen des Vaters zurück: Der holt dieser seine Geste, wird aber nun mit einem von Iwein erlegten auf seine Buße vorzubereiten, die Voraussetzung für seine Rückkehr in Der selten hât gegezzen mensier blâ, schimmelgrau, / der niemals Vater möge Wasser trinken und Grütze und Haferbrot essen, er wolle Stück Wild entschädigt. Bei der so entstehenden Nahrungsgemein- die spirituelle Gralgemeinschaft ist. Vîgen, hûsen, mandelkern: Blancmangier gegessen hat, / dagegen Wein trinken, gekochtes Huhn und bis zu seinem Tod nur schaft, die zugleich den Beginn von Iweins Reintegration in die Gesell- Rüeben, kumpost âz er gern Feigen, Hausen oder Mandel- Semmeln aus feinem Weizenmehl essen.12 schaft signalisiert, nähert sich auch der Eremit den ritterlichen Speise- Und was im etwenne alsô sanfte kerne: / Rüben und Sauerkraut Nach den Ausführungen des »Helmbrecht« zählen zur Herrenküche gewohnheiten an, indem er das Fleisch brät und mit Iwein teilt und Mit einem heberînen ranfte aß er gern, / und es war ihm Kennzeichen der »Burgküche« als Essensordnung – Als einem herren mit wilde und zam.« manchmal so wohl / mit der nicht nur Wild und das Fleisch von Zuchttieren sowie edle Fische wie später sogar im Tausch gegen das Leder Salz und feineres Brot zur Anzahl und Umfang der Mahlzeiten (9813 – 9819) Rinde von einem Haferbrot / der Hausen, eine Stör-Art, sondern auch (exotische) Gewürze und im- Aufbesserung des Speiseplans erwirbt.14 wie einem Herrn mit Wildbret und portierte Zutaten wie Feigen und Mandeln (Abb. 4). Die Bauernspeise In Wolframs »Parzival«15 begegnet der Titelheld nach Jahren der Aven­ Über die Anzahl der Mahlzeiten pro Tag geben vor allem normative Schlachtfleisch von Haustieren.« dagegen setzt sich zusammen aus heimischen Feldgemüsen wie Rüben tiure-Fahrt seinem Onkel, dem Einsiedler Trevrizent, der ihn über sein Texte, wie z. B. die »consuetudines« der Klöster oder die Hofordnungen, oder zu Sauerkraut verarbeitetem Kohl. Eintopfgerichte, Getreidebreie bisheriges Fehlverhalten aufklärt und ihm den Weg zurück zu Gott und Auskunft, wobei auch diese zahlreiche Topoi tradieren. Nach den An- sowie unter Beimischung von Hafer hergestelltes Brot, im Gegensatz damit auch zum Gral weist. Das Gespräch der beiden wird immer wie- gaben der »Rules« etwa, einer Hofordnung, die Robert Grosseteste Auch die erzählende Literatur trägt mit ihrer Darstellung zur Imple- zum Weißbrot der Herrenspeise, das aus dem Mehl der ersten Mahlung der unterbrochen durch die Beschreibung der Nahrungssuche und der (Bischof von Lincoln, gest. 1252) für die Gräfin Margaret von Lincoln mentierung und Zementierung dieser Stände differenzierenden Nor- von Weizen hergestellt wurde, vervollständigen den bäuerlichen Speise- Zubereitung der äußerst kärglichen, ausschließlich aus Wurzeln und verfasste, wurde im Hochmittelalter gewöhnlich zweimal am Tag geges- men bei, wie das Beispiel des »Apollonius von Tyrland« des Heinrich zettel. Wasser gilt als das ihnen angemessene Getränk, während sich Kräutern bestehenden Mahlzeit, welche die beiden roh oder getrocknet sen: am Vormittag und je nach Jahreszeit am Spätnachmittag oder von Neustadt (1312 in Wien urkundlich belegt) zeigt: Wein auf der Herrentafel findet. miteinander verspeisen.16 abends.18 Im Spätmittelalter scheinen für bestimmte Personengruppen

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Überfluss und Mangel: Was wird gegessen? Speisen auszufüllen – allein von Saucen und Wein werden einige kon- Die Zeichenhaftigkeit von Speisen und Getränken kretere, wenn auch wiederum typische Beispiele erwähnt, die als In­ dikatoren für Herrenküche dienen. Es geht also nicht um die Schilde- Schilderungen von Mahlzeiten, welche die Essensordnung der Burg­ rung eines bestimmten Banketts, sondern um die Darstellung eines von küche repräsentieren, sind in der höfischen Epik durch zwei gegenläu- Ort und Zeit unabhängigen, idealtypischen Festmahls, wenn Wolfram fige Tendenzen gekennzeichnet. Einerseits bemühen sich die Autoren, schreibt: . anhand der Üppigkeit der Festmähler Reichtum und Freigebigkeit der Protagonisten zu demonstrieren – sie schreiben den Mahlzeiten also Zeichenhaftigkeit zu. Andererseits verzichten sie häufig explizit auf »man sagte mir, diz sag ouch ich »Man erzählte mir, und dies erzähle ausführliche Beschreibungen, sei es mit dem rhetorischen Argument ûf iwer ieslîches eit, ich weiter / auf euer aller Eid, / der Vermeidung des »taedium«, sei es unter dem Vorwand, nicht der daz vorem grâle waere bereit […] dass vor dem Gral bereit lag, / […] / Sünde der »gula« Vorschub leisten zu wollen21 oder sich angeblich in swâ nâch jener bôt die hant, wonach jemand auch die Hand Küchendetails nicht auszukennen.22 Auch in diesen Fällen kann den daz er al bereite vant ausstreckte, / das fand er fix und Mahlzeitenschilderungen Zeichenfunktion zukommen. Als in Heinrichs spîse warm, spîse kalt, fertig vor: / warme Speisen, kalte spîse niuwe unt dar zuo alt, Speise, / neuartige Speise und alt- von Veldeke »Eneas« (entstanden in zwei Phasen zwischen den 1170er daz zam unt daz wilde.[…] bekannte, / Fleisch von Zuchttieren Jahren und 1184/1185) Eneas und seine Gefährten von Dido empfangen in kleiniu goltvaz man nam und von Wild. / […] / In kleinen werden, heißt es beispielsweise: als ieslîcher spîse zam, goldenen Gefäßen nahm man, / salssen, pfeffer, agraz. wie es für jede Speise angemessen dâ het der kiusche und der vrâz war, / Saucen, Pfefferbrühen und »man enmohte niht gezellen »Man konnte nicht die Gerichte / alle gelîche genuoc. saure Würzsaucen. / Da hatte der diu rihte noch das trinken. zählen noch die Getränke. / Alles mit grôzer zuht manz für si truoc. Bescheidene und der Vielfraß / des ieman mohte irdenken was man sich erdenken konnte, / môraz, wîn, sinopel rôt, gleichermaßen genug. / Mit vollen- des heten si alle genûch. hatten sie in Fülle. / In höfisch swâ nâch den napf ieslîcher bôt, deter Höflichkeit trug man ihnen / gefûchlîch manz vor trûch.« gesitteter Weise trug man es auf.«23 swaz er trinkens kunde nennen, Maulbeerwein, Traubenwein oder (894 – 898) des mohter drinne erkennen roten Siropel [Würzwein]. / Wonach Abb. 5 allez von des grâles kraft.« jemand auch den Becher aus- Tafelszene aus einem Bildteppich mit Szenen aus dem Busant-Epos (14. Jh.). (238,8 – 239,5) streckte, / welches Getränk er auch Straßburg, um 1490/1500 (GNM, Gew 673, Det.). benannte, / das konnte er darin Auch als der Titelheld in Hartmanns von Aue Roman »Erec« auf der erkennen, / alles durch die Kraft des Grals!«25 drei Mahlzeiten pro Tag üblich geworden zu sein. Dies geht aus einer Burg seines Freundes Guivreiz einkehrt, schildert der Erzähler die rei- aus dem 16. Jahrhundert überlieferten Hofordnung des Grafen Joachim che Mahlzeit mit den üblichen Topoi aus der »ritterlichen Trias«:24 von Öttingen hervor, die genau vorschreibt, wer zu welcher Mahlzeit wie viele Gänge vorgesetzt bekommen soll: Er selbst, die »Jungfrauen« Seltener wird der Reichtum der Tafel durch die Nennung einer Viel- (also die Hofdamen), die Priester und Edelleute sowie die Marstaller »Penefrec was diz hûs genant. »Penefrec hieß diese Burg. / zahl von Speisen und Getränken detailliert vor Augen geführt, wie etwa essen dabei zweimal, die Wächter, Torwächter, Bauknechte, Jäger und dâ man dehein gebresten vant Dort herrschte kein Mangel, / ebenfalls in Wolframs »Parzival« beim gemeinsamen Abendessen, das Arbeiter dreimal am Tag.19 Wer körperlich schwerer arbeitet, isst also unde volleclîchen rât, und es gab alles im Überfluss, / Kyngrimursel und Vergulaht in friedensstiftender Absicht mit Gâwân offenbar öfter am Tag, wobei andererseits die Anzahl der Gänge pro vische unde wiltbrât, Fische und Wildbret, / sowohl teilen. Dort werden Maulbeerwein, Traubenwein, Würzwein (»môraz«, Essen mit dem sozialen Rang der Esser abnimmt. beide semeln unde wîn.« Semmeln als auch Wein.« »wîn«, »lûtertranc«) serviert, Fasan, Rebhühner, köstliche Fische und (7188 – 7192) Ihren rechtswirksamen Niederschlag finden Essensordnungen nach- »wastel«, ein Gebäck aus weißem Mehl (423,16 – 21), das Wolfram, eben­so weisbar zuerst 1279 in einem Erlass Philipps III. von Frankreich gegen wie die Rebhühner, mit französischem Namen benennt, um anzudeu- den Speiseluxus des Adels, nach dem »kein Herzog, kein Baron, kein ten, dass die Gastgeber den höfischen Standards nach französischem Graf, kein Prälat, kein Ritter, kein Kleriker und niemand sonst im König- Selbst wenn die Autoren den Überfluss betonen, so geschieht dies Vorbild zu genügen wissen. Dagegen ist bei dem Festessen, das Be- reich, welchen Standes er auch sei, mehr als drei ganz gewöhnliche häufig in pauschalierenden Äußerungen, sodass man über die Details lakâne für Gahmuret gibt, nur von Reihern und Fischen (33,4) die Rede, Gänge ausgeben dürfe«,20 wobei Obst und Käse, sofern sie nicht zu der Speisen und Getränke oder über die Speisefolgen eines Festmahls ebenfalls Indikatoren der Herrenküche, doch ohne impliziten Verweis Torten oder Aufläufen verarbeiten waren, nicht zu den drei Gängen selten etwas erfährt (Abb. 5). Sogar als er das Speisewunder des Grals auf Raffinement nach französischem Vorbild. gezählt werden sollten. Allerdings umfasste ein »Gang« eine Reihe un- beschreibt, wählt Wolfram von Eschenbach im »Parzival« allgemeine Willehalm, der bei Brot und Wasser zu fasten gelobt hat, bis er Hilfe terschiedlicher Gerichte, die bei einem Gang des Servierpersonals aus Bezeichnungen für das, womit die Gesellschaft vermöge der Kraft des für sein belagertes Oransche gefunden hat (Abb. 6), verzichtet in Wolf- der Küche aufgetragen wurden. Grals gespeist wird. Durch diesen Kunstgriff überlässt er es der Fan­ rams gleichnamigen Epos auf die köstlichen Speisen, die der ritterbür- Abb. 6 tasie des Rezipienten, die als Statthalter fungierenden Gemeinplätze tige Kaufmann Wîmâr ihm auftischen lässt, darunter auch einen gebra- Gastmahl auf der Burg Oransche. Fragment aus mit konkreten, vielleicht den eigenen Wunschträumen entsprechenden tenen Pfauen mit allerbester Sauce, Kapaun, Fasan, Lampreten in Aspik Wolfram von Eschenbach: Willehalm, um 1270/1280 (GNM, Hz 1105).

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Einleitung Begriffspaar »Burg« und »Schloss« zu fassen. Der suggerierte Anta- gonismus verschleiert, dass die Begriffe im Mittelalter komplementär Der Titel des Beitrags wirft gleich zu Anfang eine begriffliche Frage auf, verwendet wurden, und auch im 16. Jahrhundert ein Schloss nicht die sich nicht einfach beantworten lässt: Was hat man unter dem Ende selten noch als »Burg« bzw. die Burg als »Schloss« bezeichnet urgen am Ende des Mittelalters zu verstehen? In unserem Kontext der Burg bieten sich wurde.10 Die Diskussion von Begriffen und historischen Entwicklun- B zur Beantwortung dieser Frage folgende Setzungen an: Das Ende des gen sollte aber nicht den Blick auf die Bauten selbst verstellen. Ziel des Mittelalters – Mittelalters – und damit der Beginn der Frühen Neuzeit – wird durch der folgenden Ausführungen ist es, anhand ausgewählter Beispiele verschiedene Neuerungen bestimmt, die eine Epochenzäsur in den einige Charakteristika der Entwicklung des Burgenbaus am Ende des Die Baugestalt im Jahrzehnten um 1500 anzeigen. Mancher Historiker möchte diese Zäsur Mittelalters vorzustellen.11 zwar abgeschwächt wissen: »Es gibt breite Bereiche der Wirklichkeit, Spannungsfeld in deren Geschichte sich um 1500 fast nichts verändert hat«, so Hartmut Boockmann im Hinblick etwa auf die Geschichte der Landwirtschaft, Die Hofburg in Innsbruck der Verfassung, der Städte und der Wirtschaft, ja sogar des Humanis- von Residenz- und mus und der Kirche.1 Kommt man heute nach Innsbruck, steht einem die Hofburg als Anlage Die Burg gehörte jedoch zu den Bereichen, die um 1500 großen Ver- des Barock aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor Augen. Wehrfunktion änderungen unterworfen waren. Ein wichtiger Faktor hierfür waren die Spuren der Spätgotik sind weitgehend verschwunden. Zwei Albrecht militärischen Neuerungen, besonders das Aufkommen von Feuerwaffen Dürer zugeschriebene Aquarelle, die Ansichten des Innenhofs der Inns- und deren weitere Verbreitung im Laufe des 15. Jahrhunderts.2 Die Ver- brucker Hofburg aus dem Jahr 1496 oder 1497 zeigen, erlauben zusam- änderungen im Militärwesen hatten Auswirkungen auf verschiedene men mit weiteren historischen Ansichten und den erhaltenen Baurech- Lebensbereiche, nicht zuletzt auf die soziale Stellung und Schichtung nungen, die Bauten der Hofburg am Ausgang des Mittelalters zu rekon- des Adels als einem Hauptträger des Kriegswesens.3 Auch in baulicher struieren (Abb. 2 auf S. 210).12 1363 war Tirol an die Habsburger gefallen, Hinsicht musste auf den verstärkten Einsatz von Feuerwaffen und deren und 1420 war die Stadt Innsbruck zur Residenzstadt erhoben worden. stetig steigende Effizienz reagiert werden. Die Burg, wie sie uns ty­ Seit den 1460er Jahren hatte Erzherzog Sigmund der Münzreiche die pischerweise für das Mittelalter vor Augen steht und noch zu Beginn Hofburg ausbauen lassen, deren spätgotische Vollendung unter Kaiser des 16. Jahrhunderts von den Zeitgenossen abbreviaturhaft dargestellt Maxi­milian I. erfolgte. wurde,4 musste entsprechend ausgebaut und verstärkt werden oder Die beiden Dürer-Ansichten des rechteckigen Burghofs zeigen, dass Castles in the Late Middle Ages. Building Design sie verlor ihren Wert als Schutz- und Verteidigungsbau (Abb. 1).5 dieser von Bauten verschiedener Größe und Gestalt eingefasst wurde. in the Context of the Transition from the Medieval Castle Gleichzeitig hatte sich der Charakter vieler Burgen durch die sich Beim Blick nach Norden erkennt man rechts einen massiven Steinbau to the Early Modern Residence mehr und mehr ausdifferenzierenden Nutzungsanforderungen und den mit einem aus der Fassade heraustretenden Achteckturm. Die Gegen- Wunsch nach zeitgemäßem Wohnkomfort während des 14. und 15. Jahr- ansicht zeigt, dass im zweiten Obergeschoss südlich des Turmes alle Abb. 1 The end of the Middle Ages is usually placed at around 1500 and is hunderts bereits spürbar verändert.6 Letztere Beobachtung bezieht Fenster als kleine Erkerfenster ausgebildet waren. Nicht eindeutig ent- Eroberung der Burgen Weißenstein, Hollende und Frauenberg durch die Truppen Sophies von Burgund. Aus: Wigand Gerstenberg, Landeschronik von Thüringen und linked with a last flowering of the chivalric-courtly culture. At the sich vor allem auf die Burgen des reichsfürstlichen Adels, bei denen scheiden lässt sich, ob der Massivbau tatsächlich aus Quadern errich- Hessen, Ende 15. Jahrhundert (UB-LMB Kassel, 4° Ms. Hass. 115, fol. 273r). same time, however, many foundations for the early modern period seit dem 14. Jahrhundert vor allem im Inneren der Wandel von der Burg tet wurde oder ob es sich hier um einen grauen Verputz mit rotem were being laid. This applies to territorial history as well as zum Schloss zu beobachten ist, wie das Beispiel des Heidelberger development. Both aspects impacted directly on castle building. Schlosses exemplarisch zeigt.7 Dieser Wandel ist historisch eng ver- Fugenstrich handelte. Repräsentative Bauteile sind jedoch auch in Fach- Territorial rule developed in the Late Middle Ages. The princes set knüpft mit dem Prozess der Herrschaftsverdichtung in den Territorien werktechnik errichtet. So erkennt man im Hintergrund ein turmartiges themselves up as important pillars of state authority within the Holy des Alten Reiches und der dadurch ausgelösten Entstehung landesherr- Gebäude, dessen Obergeschoss aus Fachwerk mit Dachtürmchen be- Roman Empire. Their castles became princely residences in the licher Residenzen.8 Er ging einher mit einer umfassenden Reform des steht. Die nordwestliche Hofecke wird durch einen Turm besetzt. Ganz course of the 14th and 15th centuries, buildings whose importance as Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in den Jahrzehnten um links ist noch ein weiteres steinernes Gebäude angeschnitten. Zwi- temporary residences grew while their military significance gradually 1500. Erklärtes Ziel des Kaisers und der Reichsfürsten und -städte war schen diesem und dem Eckturm sowie zwischen jenem und dem Qua- began to fade. This was also a result of the revolution in military technology, which can be linked above all to the introduction of dabei das Zurückdrängen des mittelalterlichen Fehdewesens, um einen derbau befindet sich jeweils ein Gang, der im Untergeschoss eine 13 gunpowder for use in war. New offensive strategies were developed, Ewigen Landfrieden zu schaffen. Der Erfolg der Reformen führte mittel­ ­Arkatur in Massivbauweise aufweist, während das Obergeschoss aus which the medieval castle could only withstand to a limited extent. fristig dazu, dass die Notwendigkeit zur Verteidigung der kleineren Fachwerk errichtet wurde. The castles in Innsbruck (Hofburg), Füssen (Hohes Schloss), Halle Burganlagen des landsässigen und nichtfürstlichen Adels abnahm, wel- Die Ansicht nach Süden zeigt das letztgenannte steinerne Gebäude a. d. Saale (Moritzburg), Ingolstadt (Neues Schloss) as well as Eltz cher im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts vermehrt Schlösser und Her- etwas genauer. Sein Erscheinungsbild wird durch einen markanten Castle and Wildenstein Castle will be cited to illustrate how differing rensitze errichtete.9 Treppengiebel mit Fialen bestimmt. In der Mitte des südlichen Hof­ overall situations and the respective positions of the castle owners Den Wandel in der Herrschaftsarchitektur von der überwiegend abschlusses erhebt sich der Torturm. Die äußere Ostfassade der Hof- Abb. 3 within the hierarchy of the nobility led to entirely divergent solutions ­verteidigungstechnischen Funktion zur ausschließlich repräsentati- Unbekannter Zeichner (Augustin Hirschvogel?), Die Innsbrucker Hofburg vom Rennweg burg ist gut dokumentiert durch die sogenannte »Erlanger Zeichnung«, regarding their construction and further development. ven Wirkung versucht man im deutschsprachigen Raum mit dem aus gesehen, ca. 1525 – 1534 (UB Erlangen-Nürnberg, Graph. Sammlung, Inv.Nr. III D 52). die in den Zeitraum zwischen 1525 und 1534 datiert wird (Abb. 3).14 Der

209 G uido von Büren B u r g e n am E nde des Mittel a l t e r s

steinerne Quaderbau, den wir aus den beiden Dürer-Zeichnungen ­kennen, zeigt hier an der Außenfassade mehrere Erker sowie eine starke Durchfensterung, und das unmittelbar hinter der Stadtmauer, die ­deutlich niedriger als die Hofburg war; direkte verteidigungstechni- sche Aspekte standen somit bei der Neuanlage der Hofburg im späten 15. Jahrhundert nicht mehr im Vordergrund.15 Ein besonderes Bauteil der Hofburg bildete der zwischen 1496 und 1499 geschaffene Wappenturm, der den Zugang zum Areal der Hofburg von der Ostseite her ermöglichte. Mit seinen Wappenmalereien von Jörg Kölderer, die auf anschauliche Art und Weise die Herrschaftsrechte und -ansprüche Maximilians visualisierten, unterstrich er die Bedeutung der Hofburg als Residenz Maximilians I. und war zugleich Teil des umfang- reichen Programms der Memoria des zukünftigen Kaisers.16 Die Inns- brucker Hofburg ließ, wie die Wiener Hofburg,17 mit ihren unterschied- lichen Bauteilen die fortschreitende Ausdifferenzierung des höfischen Lebens erkennen und war zugleich steinernes Monument ihrer Erbauer.

Das Hohe Schloss in Füssen

Wenden wir uns nun einer Anlage zu, die etwa zur gleichen Zeit wie der spätgotische Ausbau der Innsbrucker Hofburg entstand und noch er- halten ist: dem Hohen Schloss in Füssen.18 Der Burgberg zeichnet sich durch seine strategische Lage als Kontrollpunkt an der Straße nach Italien aus. Ursprünglich von Herzog Ludwig dem Bayer im 13. Jahrhun- dert errichtet, fiel die Burg schon 1292 an die Augsburger Bischöfe. Eine zweite Bauphase lässt sich im frühen 14. Jahrhundert fassen. Unter Bi- schof Friedrich (II.) von Zollern, der ab 1486 regierte, wurde die Burg schließlich systematisch unter weitgehender Beibehaltung der beste- henden Bauten erweitert. Einerseits erkannte der Bischof die verteidi- gungstechnischen Probleme des Burgbergs, die er durch die Anlage eines Halsgrabens vor dem westlichen zu beheben hoffte, andererseits ließ er die Burg durch repräsentative Bauteile als Som- merresidenz schlossartig ausbauen. 1490 begannen die Arbeiten am Südflügel, 1494 die am Nordflügel, dem sogenannten Fürstenflügel. 1503 waren die Bauarbeiten abgeschlossen. In diesem Jahr verweilte Kaiser Maximilian I. mit seiner Frau Maria Bianca Sforza den Sommer über auf Abb. 4 dem Hohen Schloss – ein deutliches Anzeichen dafür, dass es keine Allgäuer Meister (Stephan Mair?), Ansicht der Stadt Füssen, gravierenden Unterschiede zwischen Residenzen geistlicher und welt- Detail aus dem Stifterbild zum Bildzyklus des hl. Magnus (St. Mang), um 1570 (Staatsgalerie im Hohen Schloss Füssen). licher Fürsten im Hinblick auf die höfische Nutzung gab. Besonders hervorstechend sind die mit Fialen besetzten Treppengie- Abb. 5 bel und die Türme, von denen jedoch allenfalls geringe Bauteile aus den Hohes Schloss Füssen, Blick auf die Hoffassade des Fürstenbaus vorherigen Bauphasen übernommen wurden. Es steht zu fragen, inwie- mit der illusionistischen Wandmalerei von 1499. In der Mitte oben der Erker mit den drei von Feuerwaffen besetzten Schlüsselscharten. weit dies dazu dienen sollte, die Tradition der bischöflichen Herrschaft am Ort zu unterstreichen. Eine historische Ansicht des Schlosses aus Abb. 2 der Zeit um 1570 zeigt gut erkennbar den Gefängnisturm an der West- Albrecht Dürer, Innenhof der Innsbrucker Hofburg seite und den Storchenturm an der Nordwestecke der Anlage (Abb. 4).19 mit Blick nach Norden, um 1496 (Wien, Albertina). Der hohe Anspruch der Bauten wird an der – allerdings in den Jahren

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Die Moritzburg in Halle Das Neue Schloss in Ingolstadt

Ein vergleichbares Niveau der Repräsentation fürstlicher Macht zeigt Während das Hohe Schloss in Füssen und die Moritzburg in Halle Resi- die Moritzburg in Halle.21 Statt eines palastartigen Ausbaus wie in Füs- denzen geistlicher Fürsten waren, ist das Neue Schloss in Ingolstadt ein sen begegnen wir hier auf den ersten Blick einer gegen die Stadt Halle Beispiel für den spätmittelalterlichen Residenzbau eines weltlichen Lan- gerichteten Zwingburg, die der Stadtherr, der Magdeburger Bischof desherren.27 Die Stadt war seit 1392 Haupt- und Residenzstadt des Teil- Ernst von Wettin, ebenfalls ein geistlicher Bauherr, zwischen 1484 und herzogtums Bayern-Ingolstadt und fiel 1447 an die Landshuter Linie der 1503 errichten ließ (Abb. 6).22 Der die Westfont der Stadt beherrschende Wittelsbacher. Der Bau des Neuen Schlosses begann bereits unter Her- Bau hat einen unregelmäßigen viereckigen Grundriss. Starke Rund- zog Ludwig dem Gebarteten 1418, war aber bei seinem Tod 1447 noch nicht türme, die den wehrhaften und damit abweisenden und stadtbe­ abgeschlossen. Der Herzog hatte durch seine Schwester, die mit dem herrschenden Charakter der Anlage unterstrichen, besetzten die vier französischen König verheiratet war, enge Beziehungen nach Frank­reich, Ecken. Die Sockelgeschosse sind bzw. waren rundum mit Schießschar- was auch seine ambitionierte Hofkultur prägte.28 Erst um 1480 wurde unter ten vorwiegend für Handfeuerwaffen versehen. Eine Verteidigung des Georg dem Reichen der innere Ausbau des Neuen Schlosses vollendet. Vorfelds der Anlage war dadurch nur im Nahbereich möglich. Da die Der Hauptbau ist ein bemerkenswert frühes Beispiel für eine schloss- Türme im ursprünglichen Bauzustand eine Bedachung aufwiesen, fehlte artig angelegte Residenz. Sie ist durchaus mit der Albrechtsburg in zudem die Möglichkeit, größere Geschütze aufzustellen, die über den Meißen vergleichbar, die allgemein als Schlüsselbau für die Entwicklung Graben hätten hinwegschießen können. Im 16. Jahrhundert wurde des- von der Burg zum Schloss angesehen wird.29 Der dreigeschossige recht- halb im Hinblick auf die sich weiterentwickelnde Waffentechnik und die eckige Bau weist vier Ecktürme auf, wobei die beiden äußeren den infolge der Reformation angespannte Situation im Reich die von der Hauptbau seit der Zeit um 1492 um zwei Geschosse überragen. Sie Moritzburg besetzte Nordwestecke der Stadt mit einem Wall zusätzlich waren auf Fernwirkung ausgelegt und hatten keine direkte Vertei­ geschützt. digungsfunktion, sieht man von den Maulscharten in den Turmerd­ Mit der Grundsteinlegung der Moritzburg 1484 dürfte zuerst der West- geschossen ab, aus denen der Graben mit Feuerwaffen unter Beschuss Abb. 6 flügel errichtet worden sein, wobei die Zwerchhäuser, wie sie aus his- genommen werden konnte. Moritzburg in Halle, Grundriss des Erdgeschosses torischen Ansichten überliefert sind, erst im Laufe des 16. Jahrhunderts Der Repräsentation dienten auch die großen Säle und Räume im In- (Rekonstruktion: Hans-Joachim Krause). entstanden sind.23 Der Westflügel enthielt im Südteil des Erdgeschos- nern, die teilweise eingewölbt sind. Das Treppenhaus teilt das Neue ses sowie im ersten Obergeschoss jeweils einen großen Saal; im Nord- Schloss in eine nördliche und eine südliche Hälfte (Abb. 8). Während 1957 und 1958 stark restaurierten – illusionistischen Architekturmalerei teil schlossen sich vermutlich die herrschaftlichen Räume an. Die süd- die nördliche Hälfte aus drei Sälen besteht, wobei der untere als Hof- der Fassaden deutlich, die vermutlich von dem Hechinger Maler Fidelis westliche Ecke mit dem 1639 gesprengten Turm war um 1488 im Bau. stube, der mittlere als Saal und der obere als Frauenzimmer benutzt Eichele aus der Zeit um 1499 stammt. Die Hoffassade des Fürstenflügels Der Nordflügel mit dem heute verschlossenen Hauptportal und der (bzw. mit diesen Funktionsbezeichnungen versehen) wurde, enthielt die erhält dadurch ein Erscheinungsbild, wie es die Zeichnungen Dürers Maria-Magdalena-Kapelle war 1503 vollendet, wobei der Ausbau der südliche Hälfte die herrschaftlichen Appartements: im ersten Oberge- für die Innsbrucker Hofburg überliefern, wobei dort die Architektur­ Kapelle noch einige Jahre andauerte. schoss die Räume des Herzogs und im zweiten Obergeschoss die der elemente als real anzusehen sind. Das Niveau fürstlicher Repräsenta- Die Maria-Magdalena-Kapelle war, ehe die Kirche des Neuen Herzogin. tion ist also ähnlich, wurde jedoch in Füssen durch illusionistische Stifts, der Dom, eingerichtet wurde, von herausragender kirchlicher Abb. 7 Wandmalereien wohl kostengünstiger verwirklicht. Bemerkenswert ist Bedeutung, wurde doch hier das von Ernst von Wettin zusammen- Lucas Cranach d. Ä. (Werkstatt), Ernst von Wettin und der im zweiten Obergeschoss aufgemalte Runderker, der unter einer getragene Hallesche Heiltum aufbewahrt (Abb. 7).24 Welche Qualität Albrecht von Brandenburg halten ein Modell der Maria-Magdalenen-Kapelle der Hallenser Moritzburg. Zinnenbekrönung drei von Feuerrohren besetzte Schlüsselscharten die Ausstattung hatte, zeigt der heute im Germanischen National- Holzschnitt, um 1514 (SMB, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 357-2). zeigt – hier ist das seit dem späten Mittelalter an adligen Bauten fest- museum Nürnberg aufbewahrte Flügelaltar mit der »Marter des hei- stellbare Element der symbo­lischen Wehrhaftigkeit auf die Spitze ge- ligen Sebastian« von Hans Baldung, genannt Grien, aus dem Jahr trieben (Abb. 5). 1507, den Ernst von Wettin für die Kapelle der Moritzburg in Auftrag Die Moritzburg vereinigte die Elemente der Wehrhaftigkeit und der Im Inneren schließt die kunstvoll gearbeitete spätgotische Kasset- gegeben hatte,25 womit er nicht zuletzt sein Gespür für den künst- Wohn- und Repräsentationsfunktion des mittelalterlichen Burgenbaus, tendecke im Saal des zweiten Obergeschosses des Nordflügels an die lerischen Wert dieses zu diesem Zeitpunkt noch jungen Künstlers in dessen Entwicklung sie sich nahtlos einordnen lässt. Sie bildete mit Qualität der Fassadengestaltung nahtlos an. Die Schnitzdecke, mög­ bewies. Kanzlei, Archiv und Kammermeisterei das verwaltungstechnische Zen- licherweise ein Frühwerk Jörg Lederers (um 1470 – 1548/1550), zeigt in Als schmalere Trakte mit Wehrgängen entstanden der Süd- und der trum des Erzstifts Magdeburg und war zugleich Wohnbau des Landes- den achteckigen Kassetten Blattwerkrosetten und in den neun Mittel- Ostflügel erst in den späten 1490er Jahren. Auffällig ist die offene Arka- herrn. Die Festung wirkte dabei nach innen, indem sie sichtbares feldern Halbfigurenreliefs der Muttergottes mit dem Wappen Bischofs tur im Erdgeschoss der Hoffassade des Ostflügels mit dem darüberlie- Zeichen der Herrschaft des Erzbischofs über die Stadt war, und zu- Friedrich von Zollern, der Bistumspatrone Ulrich und Afra sowie Sim- genden Fachwerkgeschoss; ein Aufbau, dem wir schon in Innsbruck gleich nach außen, als potenzielle Angreifer abschreckender Wehr- pertus und fünf weitere heilige Bischöfe. Mit dem Hohen Schloss in begegnet sind. Das heute noch erhaltene Osttor wurde unter Ernst von bau.26 Abb. 8 Füssen steht uns ein gutes Beispiel für den Ausbau der Residenzen Wettins Nachfolger Kardinal Albrecht von Brandenburg im Jahr 1517 um Neues Schloss Ingolstadt, Grundriss des 1. Obergeschosses des Hauptgebäudes (nach Häffner-Großmann 2003). geistlicher Fürsten im Reich am Ausgang des Mittelalters vor Augen.20 einen Durchgang für Fußgänger erweitert.

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Burg Eltz den Innenhof und eine Innenansicht bekannt.34 Die 1831 entstandene Ansicht von Norden (Abb. 9) lässt sich gut mit einer Postkartenansicht Als Burg schlechthin gilt für viele die Burg Eltz in der Südeifel.30 Im aus der Zeit um 1900 (Abb. 10) vergleichen. Deutlich erkennt man von 19. Jahrhundert im Zuge der Rheinromantik wiederentdeckt,31 waren es links nach rechts den Kapellenbau, das innere Burgtor, eines der Ro- u. a. die Maler der Düsseldorfer Kunstakademie, die das Bild der Anlage dendorfer Häuser, das Rübenacher Haus und den bislang für spät­ bekannt machten und prägten. Beispielhaft sei hier auf Johann Wilhelm romanisch gehaltenen Turm Platt-Eltz mit unklarer Datierung. Auffal- Schirmer (1807 – 1863) verwiesen,32 dessen teilweise äußerst exakte lend ist die später veränderte Dachkonstruktion des Kapellenbaus und Ansichten aus dem frühen 19. Jahrhundert33 für die Baugeschichte bis- der äußere Erker am Rübenacher Haus, der bei Schirmer noch fehlt und her kaum herangezogen wurden, aber von großer Bedeutung sind, zei- somit als historistische Zutat identifiziert werden kann.35 gen sie doch die Burg vor der Restaurierung von 1845 unter Friedrich Das pittoreske Erscheinungsbild36 von Burg Eltz, dessen Grundlagen Karl Graf zu Eltz. Von Schirmer sind drei Außenansichten, ein Blick in aus dem ausgehenden Mittelalter stammen, ist jedoch das Ergebnis ganz spezieller Rahmenbedingungen, die sich in dem Begriff Ganerben- burg zusammenfassen lassen.37 Das Geschlecht von Eltz hatte sich im 13. Jahrhundert in drei Hauptlinien geteilt, die Linie mit den Büffelhör- nern, die Linie vom goldenen Löwen und die Linie vom silbernen Löwen. Die drei Linien nutzten den Burgplatz als Erb- und Wohngemeinschaft gleichberechtigt. Die Linie mit den Büffelhörnern starb 1440 aus, sodass sich nun das Burgareal die beiden Linien vom goldenen und vom silber- nen Löwen teilten. Wenige Jahrzehnte später begannen beide Linien mit dem Ausbau der Burg. Es entstanden mehrere getrennte Wohnhäuser: das Rübe­ nacher Haus (Linie Eltz vom silbernen Löwen), die Rodendorfer Häuser Abb. 11 (der Name erinnert an die Linie mit den Büffelhörnern) und die Kempe- Luftbild der Zitadelle Jülich von Südwesten. nicher Häuser (Linie vom goldenen Löwen). Als erstes wurde das acht- geschossige Rübenacher Haus an der Westseite des Burghofes errich- mächtigen kasemattierten Mauer gesichert. Davor befand sich ein dop- tungswall mit Bastionen um­geben.41 Der militärische Charakter einer tet, das 1472 vollendet war. Besonders auffällig sind das oberste Ge- pelter Halsgraben. Zwischen den Gräben wurde eine Mauer mit einem solchen Anlage verdrängte schnell die residenzielle Funktion und so schoss und das steile Dach gestaltet. Die drei Rodendorfer Häuser an Eckrondell angelegt. Zu direkten kriegerischen Auseinandersetzungen führte die Entwicklung des bastionierten Schlosses im Herrscherbau der Nordostseite wurden ab 1470 gebaut. Das Groß-Rodendorfer Haus um die Burg kam es nie. Einer förmlich vorgetragenen Belagerung hätte der Frühen Neuzeit auf Dauer in eine Sackgasse. Die Zukunft gehörte sticht mit seinen zehn Geschossen und einer Höhe von 40 Metern stark sie auch kaum standgehalten. Gleichwohl ist zu vermerken, dass sie in spätestens seit dem 17. Jahrhundert den unbefestigten Schlossbau- hervor. Die Häuser Groß- und Klein-Kempenich entstanden erst seit der den Augen der Zeitgenossen als sicher galt und 1552 von befreundeten ten, deren Wehrhaftigkeit sich auf entsprechende Architekturzitate Mitte des 16. Jahrhunderts und wurden schließlich 1627 endgültig fertig- und verwandten Adelsfamilien als Aufbewahrungsort für Hab und Gut beschränkte,42 während strategisch wichtige Orte und Städte mit gestellt. Verteidigen ließ sich die Burg mit ihren hoch aufragenden, verwendet wurde.39 Festungswerken und einer entsprechenden Infrastruktur für das Mi- stark durchfensterten Häusern angesichts des beginnenden bzw. bei litär versehen wurden.43 Vollendung schon fortgeschrittenen Zeitalters der Feuerwaffen schlecht, was von den Bauherren offensichtlich als nachrangig angesehen wurde, Die Zitadelle Jülich da die Wohnfunktion eindeutig im Vordergrund stand. Schluss Im Hinblick auf die modernen, geschütztauglichen Verteidigungsan- lagen gehörte die Zukunft dem Kaiser, den Reichsfürsten und den Überblickt man den spätmittelalterlichen Burgenbau im Heiligen Rö- Burg Wildenstein größeren Freien Reichsstädten. Dem Niederadel blieb in den meisten mischen Reich Deutscher Nation und die verschiedenen Schichten Territorien das Recht auf eigene, zeitgemäße Festungswerke ver- von geistlichen und weltlichen Bauherren, so wird deutlich, dass die Ganz anders stellte sich die Situation zur gleichen Zeit auf der Burg sagt.40 Von der Moritzburg in Halle lässt sich in gewisser Hinsicht differierenden Rahmenbedingungen zu ganz unterschiedlichen bauli- Wildenstein dar, die oberhalb des Donaudurchbruchs durch die Schwä- eine Traditionslinie zu den zeitweilig im landesherrlichen Bereich chen Lösungen führten. Die in ihrer Gestalt immer gleiche, fest um- bische Alb liegt.38 Unter Graf Gottfried Werner von Zimmern wurde die vorzufindenden bastionierten Schlössern des 16. Jahrhunderts ziehen. rissene Burg des ausgehenden Mittelalters gab es nicht. Wenn auch Burg zwischen 1512 und 1554 ausgebaut, wobei man den Versuch unter- Diese sind der Versuch, die Elemente der Wehrhaftigkeit und der der vielbeschworene Epochenumbruch der Zeit um 1500 nicht in allen Abb. 9 nahm, das Bauwerk für den Einsatz von Feuerwaffen brauchbar zu Repräsentation, wie beim mittelalterlichen Adelssitz, zu verbinden. Lebensbereichen greifbar zu machen ist, so hat er doch den Burgen- Johann Wilhelm Schirmer, Burg Eltz von Norden, 1831, machen. Ein Hintergrund für diese Arbeiten dürften u. a. die Auseinan- Als Beispiel sei hier die Schlossfestung Zitadelle Jülich angeführt bau vielfach gekennzeichnet. Hier setzten schon frühzeitig Entwick- Bleistift auf Papier (Privatbesitz). dersetzungen mit der benachbarten Grafschaft Sigmaringen um die (Abb. 11). Das für Herzog Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg zwischen lungen im Hinblick auf die repräsentative Gestaltung und die innere

Abb. 10 territorialen Hoheitsrechte gewesen sein. An der Seite zum Hang­rücken, 1549 und 1553 von dem italienischen Architekten Alessandro Pasqualini Raumstruktur ein, die in die Zukunft adliger Baukultur späterer Jahr- Burg Eltz von Norden, um 1900, rechts am Hang Platt-Eltz. an der mit einem Angriff zu rechnen war, wurde die Burg mit einer errichtete prächtige Residenzschloss ist von einem mächtigen Fes- hunderte wiesen.

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