KINDLER KOMPAKT FRANZÖSISCHE LITERATUR 19. JAHRHUNDERT

Ausgewählt von Gerhard Wild

J. B. Metzler Verlag Kindler Kompakt bietet Auszüge aus der dritten, völlig neu bearbei- teten Auflage vonKindlers Literatur Lexikon, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. – Die Einleitung wurde eigens für diese Auswahl verfasst und die Artikel wurden, wenn notwendig, aktualisiert.

Dr. Gerhard Wild ist Professor für Romanistik an der Goethe-Univer- sität in Frankfurt/Main; er war Fachberater bei der dritten Auflage von Kindlers Literatur Lexikon. Inhalt

GERHARD WILD Frankreichs Literatur im 19. Jahrhundert 9

FRANÇOIS RENÉ VICOMTE DE CHATEAUBRIAND René / René 33 MADAME DE STAËL Über Deutschland / De l’Allemagne 36 ALPHONSE-MARIE LOUIS PRAT DE LAMARTINE Poetische Betrachtungen / Méditations poétiques 39 Racine und Shakespeare / Racine et Shakespeare 41 Rot und Schwarz / Le rouge et le noir 43 Die Kartause von Parma / La chartreuse de Parme 47 Das lyrische Werk 50 Der Glöckner von Notre-Dame / Notre-Dame de Paris. 1482 57 Die Elenden / Les misérables 60 HONORÉ DE BALZAC La comédie humaine 63 Das unbekannte Meisterwerk / Le chef-d’œuvre inconnu 67 Vater Goriot / Le père Goriot 70 Glanz und Elend der Kurtisanen / Splendeurs et misères des courtisanes 73 PROSPER MÉRIMÉE Die Novellen 79 GUSTAVE FLAUBERT Die Erzählungen 85 Madame Bovary / Madame Bovary. Mœurs de province 89 Lehrjahre des Herzens / L’éducation sentimentale. Histoire d’un jeune homme 94 Die Versuchung des heiligen Antonius / La tentation de Saint-Antoine 97 Bekenntnisse eines Kindes seiner Zeit / La confession d’un enfant du siècle 100 ALOYSIUS BERTRAND Gaspard de la Nuit / Gaspard de la Nuit. Fantaisies à la manière de et de Callot 102 CHARLES MARIE RENÉ LECONTE DE LISLE Das lyrische Werk 104 François das Findelkind / François le champi 108 GÉRARD DE NERVAL Chimären / Les chimères 110 Die Töchter der Flamme / Les fi lles du feu 112 THÉODORE DE BANVILLE Seiltänzerische Oden / Odes funambulesques 116 Die Blumen des Bösen / Les fl eurs du mal 118 Kleine Gedichte in Prosa / . Petits poèmes en prose 123 Das lyrische Werk 126 EDMOND UND JULES DE GONCOURT Germinie Lacerteux / Germinie Lacerteux 134 Tagebuch der Brüder Goncourt / Journal. Mémoires de la vie littéraire 136 STÉPHANE MALLARMÉ Das lyrische Werk 138 COMTE DE LAUTRÉAMONT Die Gesänge des Maldoror / Les chants de Maldoror 142 ARTHUR RIMBAUD Das lyrische Werk 147 Die Prosadichtungen 152 ÉMILE ZOLA Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich / Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire 158 Nana / Nana 163 THÉOPHILE GAUTIER Emaillen und Kameen / Émaux et camées 166 GUY DE MAUPASSANT Die phantastischen Novellen 168 Die realistischen Novellen 172 Bel Ami / Bel Ami 175 JULES LAFORGUE Das lyrische Werk 178 PAUL BOURGET Psychologische Abhandlungen über zeitgenössische Schrift steller / Essais de psychologie contemporaine 182 HENRI FRÉDÉRIC AMIEL Tag für Tag / Fragments d’un journal intime 185 JORIS-KARL HUYSMANS Gegen den Strich / A rebours 188 HENRI FRANÇOIS JOSEPH DE RÉGNIER Das lyrische Werk 191 JOSÉ-MARIA DE HEREDIA Trophäen / Les trophées 195 ALFRED JARRY König Ubu / Ubu roi 198 EDMOND ROSTAND Cyrano de Bergerac / Cyrano de Bergerac 201 MAURICE MAETERLINCK Blaubart und Ariane / Ariane et Barbe-Bleue 204 Frankreichs Literatur im 19. Jahrhundert

Gerhard Wild

Eine unglaubliche Folge von Regierungen und Revolutionen: Frankreich erblickte im Laufe des 19. Jahrhunderts nacheinander das Kaisertum von Napoleon Bonaparte, die bourbonische Restaura- tion unter Ludwig XVIII. und Karl X., auf die nach der Julirevolution von 1830 der »Bürgerkönig« Louis Philippe folgte, den dann 1848 eine weitere Revolution hinwegfegte. Die darauffolgende, nur vier Jahre währende »II. Republik« endete nach einem blutigen Staatstreich in jener Militärdiktatur, für die ihr Anführer Louis Napoleon in direkter Nachahmung seines Onkels Bonaparte die Bezeichnung »Second Empire« fand. Dieses »Zweite Kaiserreich« brach infolge des Deutsch- 9 Französischen Krieges 1870/71 zusammen, um in der bis zum Zweiten Weltkrieg währenden »III. Republik« ein trotz aller innenpolitischen Spannungen stabiles parlamentarisches System hervorzubringen. Gleichzeitig mit diesen politischen Umwälzungen vollzog sich die zusehends radikale Abkehr der Künste von jenen Wertvorstellungen, die seit dem Zeitalter Ludwigs XIV. von Frankreich aus die ästheti- EINLEITUNG schen Konzepte in ganz Europa dominiert hatten. Am Ende dieses Umbaus des Kunstsystems sollten am Beginn des 20. Jahrhunderts – vor allem von Paris aus – die Avantgarden hervorgehen. Es überrascht kaum, dass gerade in Frankreich als der Literatur- nation schlechthin die Dichtung eine Vorreiter- und Mittlerrolle bei der Neuorientierung der Künste übernahm. Mit der Französischen Revolution war nicht nur die seit der Aufk lärung zusehends proble- matisierte Einheit von Religion und ständischer Hierarchie aufgeho- ben worden. Vielmehr wurden dadurch auch die diesem System inhä- renten Funktionszuweisungen der Kunst fragwürdig, mehr noch das seit der Frühen Neuzeit etablierte System der Künste und der ihnen in den vorausgehenden Jahrhunderten einbeschriebenen Gesetze. Die »Große Revolution« hatte mit der Möglichkeit einer Sinn- stift ung durch die Religion radikal gebrochen. Es war nur konsequent, dass die Kunst, indem sie sich aus der funktionellen Bindung an Kir- che und Adel löste, nun selbst gefordert war, Antworten auf die sich verschärft stellenden Sinnfragen anzubieten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein sollten sich daher zumal die Literatur und die Musik als Religionsersatz etablieren.

Faszination des Fremden – Sehnsucht nach der Ferne

Am Anfang stehen in Frankreich zwei theoretische Entwürfe, die auf sehr gegensätzliche Weise den Mentalitätswandel widerspiegeln, René de Chateaubriands Le génie du Christianisme (1802, Der Geist des Christentums) und Germaine de Staëls De l’Allemagne (1815, Über Deutsch- land). Indem Chateaubriand alle Kulturleistungen von der Musik bis zur Wissenschaft in ein großangelegtes gedankliches Gebäude einbezieht, um das Christentum gegen den aufklärerischen Skeptizis- mus zu rehabilitieren, schafft er ein Dokument der Abwendung vom Rationalismus, das zum Gründungstext der frühen französischen Romantik wird. In die erste Auflage hatte der Dichter zwei seiner frühen Erzählungen aufgenommen, die auf eigene Eindrücke seiner Reise zu den Indianern Nordamerikas zurückgehen. Der aus altem bretonischen Adel stammende Chateaubriand hatte sich 1791 für ein dreiviertel Jahr in die damals französischen Kolonien am Mississippi begeben, um Distanz zu den revolutionären Ereignissen in Frankreich zu gewinnen. Seinen Indianererzählungen Atala und René sollte 1826 das thematisch verwandte Prosaepos Les Natchez (Die Natchez) folgen. Schon im ausgehenden Jahrhundert hatten Jean-Jacques Rousseau und dessen Adept Bernardin de Saint-Pierre (Paul et Virginie, 1788) durch den Bezug auf eine idealisierte außereuropäische Fremde die korrumpierten Sitten der französischen Oberschicht kritisiert. Mit seiner Fiktion des christianisierten Stammes der Natchez, der from- men Indianerin Atala und des stoisch anmutenden Indianergreises Chactas unterlegt Chateaubriand der bis auf die Frühe Neuzeit zurückgehenden Idee des »edlen Wilden« (Montaigne, Gracián) ein persönliches, vom Katholizismus geprägtes antiaufklärerisches Kon- zept als neues Sinnangebot. Der Amerikareisende Chateaubriand steht gerade durch die spezi- fi sche Verklammerung von Weltfl ucht und Authentizitätsstreben am Anfang einer langen Reihe französischer Intellektueller, die durch die reale Flucht in entlegene geographische Räume den gesellschaft lichen Einschränkungen auf Zeit oder für immer zu entkommen versuchen. Diese neuerliche Phase des Exotismus – das Faszinosum lässt sich in Frankreich bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückverfolgen – wird ebenso Nordafrika und den Vorderen Orient (Delacroix, Gautier, Nerval, Baudelaire, Rimbaud, Loti, Bernard) wie den Pazifi schen Raum (Gauguin, Segalen) und im frühen 20. Jahrhundert Indochina (Malraux) einbegreifen. Noch eine dem Exotismus nahestehende Mode des 19. Jahrhun- derts zeichnete Chateaubriand in einem seiner späteren Werke vor, die Begeisterung für Spanien. Die Erzählung Le dernier Abencerage (1826, Die Abenteuer des letzten Abencerragen) führt in die Zeit nach der Übergabe des Emirats Granada an die Katholischen Könige. Der Pro- tagonist Aben-Hamet ist der letzte Spross des Araberstammes Banu 11 Zaraj, dessen Fehde mit der Granada beherrschenden Nasridendynas- tie 1491 zum Untergang des letzten maurischen Königreichs führte. Wieder modelliert Chateaubriand hier einen edlen Protagonisten exotischer Abkunft als romantischen Helden. Doch entscheidender ist freilich, dass über den kleinen Kreis von an spanischer Kultur interessierten Lesern hinaus erstmals nicht das klerikal-reaktionäre EINLEITUNG Spanien der habsburgischen Monarchie aufgerufen wird, sondern ein exotisch-urwüchsiger Kulturraum, dessen kreative Energien fortan erweckt werden. Dieser verdrängte Aspekt der iberischen Halbinsel wird in derselben Zeit entdeckt, als die wissenschaft liche Erforschung der arabischen Welt mit Gelehrten wie Sylvestre de Sazy, Reinhart Dozy und Adolf von Schack ausgehend vom maurischen Spanien ihren Anfang nimmt. wird Spanien den Amerika- nern näher bringen (Tales of the Alhambra, 1832), E. T. A. Hoff mann und die Brüder Schlegel werden in Spaniens Kultur eine Alternative zum Klassizismus fi nden. Victor Hugo, Sohn eines in Spanien stationierten napoleonischen Offi ziers, sollte sich aufgrund eher vager Kindheits- erinnerungen in seinen orientalischen Gedichten (Les Orientales, 1829) sowie den Theaterstücken Hernani (1830) und Ruy Blas (1838) auf Spa- nien beziehen. Alfred de Mussets Contes d’Espagne et d’Italie (1830) dient neben Italien das exotische Spanien als Projektionsort romantischer Leidenschaft . Prosper Mérimée, der 1830 Spanien bereiste, verdanken wir nicht nur die über anderthalb Jahrzehnte entstandenen Theater- stücke Le théâtre de Clara Gazul (1842, Das Theater von Clara Gazul); mit der Andalusierin Carmen (1845) entwarf er eine Männer vernichtende »Femme fatale«, die als Zigeunerin gleichwohl zum Inbegriff einer Libertinage wurde, die ab den fünfziger Jahren mit dem Begriff der antibourgeoisen städtischen Bohème in Verbindung gebracht wurde.

Frankreichs »deutsches Jahrhundert«

In der von Bonaparte regulierten bürgerlichen Wirklichkeit vereinte sich aber nicht nur der von der iberisch-maurischen Kultur genährte Exotismus mit einem weit zurückliegenden und auch idealisierten Mittelalter zu einem Sinnangebot. Auf dem Höhepunkt von Napo- 12 leons Macht wurde Deutschland, das den Franzosen seit der Klassik als geistig und gesellschaftlich rückständig erschienen war, der intel- lektuellen Opposition zum Gegenmodell und für mehrere Genera- tionen Dichter, Maler und Musiker weit über die Grenzen Frankreichs hinaus ästhetisches Vorbild. Germaine de Staël hatte bereits in den Revolutionsjahren einige politische veröffentlicht und war ob ihrer liberalen Einstellung und ihrer Agitation gegen Napoleon von dessen Geheimpolizei bespitzelt, 1802 aus Paris verbannt worden. Ihr schweizerisches Exil im Schloss Coppet am Genfer See sollte für die Zeit der napoleonischen Herrschaft zum intellektuellen Zentrum Europas werden. Eine Deutschlandreise, auf der sie Wieland, Schiller, Goethe und schließlich die Brüder Schlegel kennenlernt, wird zum einschneidenden Erlebnis, das den Anstoß zu ihrem Hauptwerk De l’Allemagne gibt. Frankreichs Aufstieg zur führenden Kulturnation war in den vorausgehenden zwei Jahrhunderten der einseitigen Zent- rierung auf Königtum, Katholizismus und Rationalismus sowie der ästhetischen Beschränkung auf die Imitation der Antike zu verdan- ken. De l’Allemagne entwickelte hierzu das positive Gegenmodell eines Staates, dessen kultureller Reichtum in der Vielheit unabhängiger Kleinstaaten mit jeweiligen sprachlichen Varietäten, unterschied- lichen Glaubensvorstellungen und eigenen Traditionen bestand. Wen wundert, dass Napoleon als Visionär eines hegemonialen Kaisertums die erste Auflage mit dem abschätzigen Kommentar »Eine schlechte Französin« beschlagnahmen ließ? Durch Madame de Staël erhält Frankreich Kunde von Herders geschichtsphilosophischen und religionskritischen Arbeiten, und vor allem von jener geistigen Revolution, die in den neunziger Jahren durch die Brüder Schlegel – laut Germaine die »bedeutendsten deut- schen Kritiker« – projektiert worden war. sollte am Genfer See der Hauslehrer von Germaines Kindern werden. Dort lernte sie jene bis in die Gegenwart aktuellen ästhetischen Kon- zepte kennen, die vor der Jahrhundertwende in dem Essay Über das Studium der griechischen Poesie (1797) und den in der Zeitschrift Athenäum veröff entlichten Fragmenten (1798) niedergelegt hatte. Das Dorf Coppet wurde so vorübergehend zum intellektuellen Zentrum Europas. In Cologny, am gegenüberliegenden Seeufer, lebten 1816 , seine spätere Frau Mary Godwin und 13 , der häufi g bei Madame de Staël zu Gast war. Friedrich Schlegels Idee einer dem französischen Klassizismus fremden Vermischung von »Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie« und das Konzept der »progressiven Universalpoesie« machte die Runde in den französischen Künstler- und Intellektuellenkreisen. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhun- EINLEITUNG derts sollten diese Ideen von Hugo, Berlioz, Musset, George Sand und Delacroix aufgenommen werden und in den kommenden Jahrzehn- ten das alte System der Künste zum Einsturz bringen. Zu Recht hat man gelegentlich von einer »germanophilen Epoche« der französischen Kultur gesprochen, die Madame de Staël eingeleitet hatte. Frankreichs Geist gerät bis ins späte 19. Jahrhundert mehrmals in Gefahr, seine sprichwörtliche Klarheit und Rationalität preiszuge- ben, sobald er mit den spirituellen Ideen aus Deutschland konfron- tiert wird. , Fichte, Schiller und Hegel werden ebenfalls durch De l’Allemagne bekannt gemacht. Gérard de Nerval übersetzt Heine und 1827 Goethes Faust, den vertonen sollte. Das spätere 19. Jahrhundert wird gänzlich im Banne E. T. A. Hoff manns sowie vor allem Richard Wagners und Schopenhauers stehen. Vom geistigen Zentrum Paris aus wird deutsche Literatur und Philosophie in die gesamte Romania ausstrahlen, und zumal die entkolonialisierten Lite- raturen Südamerikas auf ihrem Weg in die Moderne begleiten.

Entgrenzung

Waren die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts in politischer Hinsicht eine Zeit der Restauration, so markieren sie in künstlerischer Hinsicht Frankreichs ästhetischen Aufbruch in verschiedenster Hinsicht. Vor allem zwei literaturtheoretische Traktate signalisieren, wie weit sich die junge Generation von den Doktrinen der Klassik entfernt: Stend- hals Racine et Shakespeare (1825) und Victor Hugos Préface de Cromwell (1827). Indem Stendhal erstmals in der französischen Literatur die Allgemeingültigkeit von ästhetischen Kriterien wie Schönheit, Aus- gewogenheit oder Geschmack verwarf, wurde er zum Wortführer nicht nur der ersten Generation romantischer Dichter in Frankreich, 14 sondern zum Wegbereiter einer sich von der Klassik immer rascher und markanter absetzenden Kunst. Beispielhaft hierfür war die titelgebende Opposition von Racine als weltweit vorbildgeben- dem Höhepunkt der Klassik und Shakespeare, der nun wie bereits in August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1811) zum Kristallisationspunkt der neuen romantischen Dichtungsauffassung wurde. Diese bettete dann Victor Hugo in dem Préface de Cromwell in eine Geschichtsphilosophie ein. Ursprünglich war der Traktat als Einleitung des Theaterstücks Cromwell gedacht, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als unaufführbar galt – gerade weil es die im Traktat enthaltenen dramentechnischen Forderungen radikal umsetzte. Zeitsprünge, Ortswechsel und beträchtliches Per- sonal setzten ein dramaturgisches Management voraus, das eher mit der Möglichkeit des Breitwandkinos als den Begrenzungen der Guckkastenbühne rechnete. Die Aufhebung der bislang einheitlichen sprachlichen und stilistischen Ebene sollte eine historische wie auch psychologische Wahrhaftigkeit fördern. Dieser »Geist der Moderne« (so Victor Hugo) musste indes durch die »romantische Schule« Frankreichs erst erkämpft werden. 1830 kam es bei der Auff ührung von Hugos StückHernani (1830) zu einem Tumult, der als »La Bataille d’Hernani« in die Literaturgeschichte einging. Es war der erste einer ganzen Reihe von Kunstskandalen im 19. Jahrhundert, die man als Gradmesser dafür sehen mag, wie lange das ästhetische Denken nach der Großen Revolution noch unter dem Eindruck der Kunsttheorie der Klassik stand. Angesichts des Schei- terns seines ambitionierten Monumentaldramas mäßigte Hugo in späteren Werken die antiklassischen Tendenzen. Dennoch wirkt das Konzept einer totalen Entgrenzung der poetischen Beschränkungen gerade in seinen großen Romanen Notre Dame de Paris, 1482 (1831) und Les misérables (1862) nach.

Künste zwischen Korrespondenz und Konkurrenz – l’art pour l’art

Der österreichische Maler Danhauser hat 1840 auf einem Gemälde festgehalten, wie die Dichter Alfred de Musset, , George Sand und Victor Hugo sowie die Musiker Berlioz, Paganini und Rossini dem Klavierspiel Liszts lauschen. Das Arrangement 15 dokumentiert eine ideologisch-ästhetische Gruppenbildung, wie sie in der Kunst bislang aufgrund des »Systems der Künste« nicht üblich war, das auf die strikte Trennung der Disziplinen Musik, Poesie und Bildende Kunst hin angelegt war. Das Neben- und Ineinander medial verschiedener Ausdrucksformen, diese »wechselseitige Erhellung der Künste« (Oskar Walzel 1917) hat seinen Ursprung ebenfalls in Schle- EINLEITUNG gels Forderung der »Universalpoesie«. Weit über die bereits seit dem Mittelalter gängigen Verbindungen von Wort und Musik sollte Poesie musikalisch oder malerisch oder die Malerei so abstrakt wie Musik werden, während Musik ihre Abstrakt- heit zugunsten einer Zeichenhaft igkeit und Bildlichkeit preisgab, die weit über die in der Vormoderne aufrecht erhaltene Grenze möglicher Beziehungen zu rhetorischen Bildkonzepten hinauswiesen. An der Synästhesie, also der Vermischung und Vertauschung menschlicher Wahrnehmungen, kann geradezu das Fortschreiten der ästhetischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts gezeigt werden. Sinnesverknüp- fung wird in der Romantik und ihren auf die Avantgarde zustre- benden Folgeperioden zur Grundlage einer Dichtung, die Sigmund Freuds psychoanalytische Konzeption einer die rationalen Zwänge aussetzenden menschlichen Sprache vorwegzunehmen scheint. Vier Generationen von Lyrikern – Romantiker, Parnassiens, Symbolisten, Dekadente – werden in beständigem Wettstreit mit Malerei und Musik oft unter Bildung von Wortneuschöpfungen und durch Import von Begriff en aus dem Englischen, Deutschen, Arabischen, Griechi- schen oder Spanischen das im 17. Jahrhundert durch die Gründung der Académie Française festgeschriebene Französisch allmählich umbauen. Anders als im rationalistischen Zeitalter wurden während des ganzen 19. Jahrhunderts die Neuerungen nicht im Drama, sondern zuerst in der Lyrik wahrnehmbar. Poesie wird damit zum Experimen- tierfeld neuer, auf die Avantgarden vorausweisender Verfahrensmi- schungen. Zunächst lebte eine bis in das Mittelalter zurückführende Tradition wieder auf, die vor allem im 20. Jahrhundert weltweit zum Inbegriff französischer Poesie werden sollte. Bereits die kunstvolle Spottdichtung der mittelalterlichen Troubadours und erst recht das 16 volkstümliche Balladenwerk François Villons hatten immer wieder soziale Konfl ikte problematisiert und Kritik am Verhalten der Rei- chen und Mächtigen geübt. (Nicht umsonst sollten gerade im 20. Jahr- hundert Lieder der Troubadours und Villons von den größten franzö- sischen Chansonniers wieder aufgegriff en werden.) Das französische Chanson war bereits in vorrevolutionärer Zeit poetischer Ausdruck gesellschaft licher Opposition. Nach 1820 wurde der Chansonnier Pierre-Jean de Béranger, der sich vor allem als Kritiker der Nutznießer der bourbonischen Restaurationszeit verstand, weit über Frankreich hinaus so bekannt, dass ihn selbst E.A. Poe in den fernen USA noch zitierte. Béranger etablierte den Liedermacher als politischen Nest- beschmutzer, der vor Majestätsbeleidigung und Kritik an der wieder erstarkten Kirche nicht zurückschreckte. Auf seinen ideologischen Spuren sollten noch in der zweiten Hälft e des 20. Jahrhunderts Chan- sonsänger wie Georges Brassens, Jacques Brel und Georges Moustaki wandeln. Die Lyrik der »Literaten« indes zog sich in der ersten Jahrhun- derthälft e aus dem gesellschaft lichen Dialog zurück, um die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten vor allem im metaphorischen, lexikalischen und klanglichen Bereich voranzutreiben. Bereits bei der ersten Generation romantischer Dichter – allen voran bei , Alfred de Vigny und dem jungen Victor Hugo – wurde das Gedicht zum Ausdrucksträger einer Subjektivität, die viel stärker als in den vorangegangenen Epochen auf die dichterische Existenz zurückweist. Mit Vignys Poèmes antiques et modernes (1826) off enbarte sich das künft ige Schwanken zwischen Themen der klassischen Antike und subjektivistisch verschlüsselten Gegenwartsbezügen. Sowohl Lamartine als auch Vigny inszenierten das dichterische Ich dabei in der Nachfolge Lord Byrons erstmals als Empörer und Aus- gestoßenen. Um 1830 treten mit Alfred de Musset, Gérard de Nerval und Théophile Gautier die »Jeunes-« an. Allesamt Parteigänger Hugos und seines Entgrenzungskonzepts, eint sie der Protest gegen das bourbonische Establishment. Zugleich entsteht in Paris ein lite- rarischer Markt, auf dem sie sich mit journalistischen Brotarbeiten zu behaupten versuchten: Balzac wird in seinem Roman Illusions perdus (1837/43) die Misere der Literaten in einer vom Utilitarismus bestimmten Umgebung behandeln. 17 Gemein ist allen Lyrikern seit den dreißiger Jahren eine gegen die Kommerzialisierung gerichtete Abwehrhaltung, ein tief sitzender Argwohn, meist gar die Verachtung des bürgerlichen Fortschritts und seiner Äußerungsformen. Im Zentrum der neuen Literatenkultur steht ein absolutes Schönes, das bizarr, gar abseitig sein mag, wie Baudelaire später sagen wird. Doch das Schöne ist in keinem Falle EINLEITUNG vulgär, denn vulgär ist allein der bürgerliche Geschmack. Bereits 1835 hatte Gautier in seinem Roman Mademoiselle de Maupin gegen das Nützlichkeitsdenken des Bürgertums revoltiert: »Alles Nützliche ist hässlich«. Gautier hatte damit den Begriff des »l’art pour l’art« geschaf- fen, das Etikett einer autonomen Kunst, die sich aus allen Zwängen funktionaler Bestimmung löst. Mit dem gegen die Bourgeoisie gerichteten Schönheitskult zugleich etablierte sich in Paris ein neuer Menschentypus, der selbst aus der Literatur entsprungen schien, der Dandy. Als »Aristokrat ohne Geburtsvorrechte« war er dem Äuße- ren nach ein Kunstwerk aus Fleisch und Blut. Sichtbar protestierte er gegen bürgerliche Betriebsamkeit und städtische Hektik durch demonstrative Gelassenheit. Es wird berichtet, Anhänger des »dan- dysme« hätten in den vierziger Jahren als Zeichen der »Entschleuni- gung« Schildkröten am Halsband auf dem Trottoir ausgeführt; Gérard de Nerval ließ sich das Tempo seiner Schritte auf den Boulevards gar durch einen Schwan vorgeben. Die wegweisenden Gedichtbände entstehen vor allem in und nach den fünfziger Jahren. Erfolglos protestiert der ehemalige Abge- ordnete Victor Hugo aus dem Exil auf der Kanalinsel Guernsey mit Les châtiments (1853, Die Züchtigungen) gegen Louis Napoleons Unter- drückungsregime. Théodore de Banvilles Odes funambulesques (1857, Ausgefallene Oden) hingegen wandten sich bereits bewusst von der unbefriedigenden gesellschaft lichen Realität ab. Formale Vollkom- menheit der Sprache und des Versbaus werden zum Emblem eines ästhetischen Spiels, das den Dichter aus jeder Bindung an die äußere Welt enthebt. Überhaupt blenden die Lyriker der fünfziger Jahre klar erkennbare Zeitbezüge aus und sprechen so gerade über das, was sie verschweigen. Gautiers Émaux et Camées (1852, Emaillen und Kameen) greifen nur scheinbar alte Themen wie das Frauenlob in äußerlich 18 volksliedhaft en Vierzeilern auf, um mit Vergleichen aus der Bildenden Kunst und Musik neue ästhetische Eff ekte hervorzubringen. Bereits der Titel des Bandes ist Metapher für das Selbstverständnis des Dich- ters, der sich als Goldschmied der Sprache begreift . Damit wurde Gau- tier zum Propheten des Schönheitskults, der die zweite Jahrhundert- hälft e bestimmen sollte. Charles Léconte de Lisles Poèmes antiques (1852) und zehn Jahre später seine Poèmes barbares breiteten vordergründig das komplette Motivrepertoire der Romantik aus, um es mit dem neuen Ideal der »impassibilité« zu konfrontieren, der Zurücknahme des subjektivis- tischen Überschwangs. Antike, ägyptische, persische, nordische und hinduistische Mythen sollten nur noch auf eine ideale Welt hinwei- sen, die in deutlichem Gegensatz zur zeitgenössischen Wirklichkeit trat. Auch die zwölf Sonette, die Gérard de Nerval in Les chimères (1854) vereinigte, waren reich an mythologischen Anspielung, mehr noch indes an metaphorischen Bezügen zu Werken der Literatur und Kunst. Nerval verdichtete seine stupende Belesenheit auf das Äußerste und bereitete so für die künft ige Generation symbolistischer Dichter den Boden. Diese durch eine ebenso hermetische wie ellip- tische Sprachverwendung entstandene neue Ausdrucksform sollte in den kommenden Jahrzehnten als »dunkler Stil« zum Normalfall der Lyrik werden. Doch auch Nervals Prosawerk der fünfziger Jahre zeichnete sich durch diese Eigenschaft en aus. Weit davon entfernt, Erzähltexte im üblichen Sinne zu sein, vereinigten Nervals Novel- len (Aurélia, 1855; Les fi lles du feu, 1854) traumhaft e Elemente und eine lyrisch geprägte Diktion zu einer neuen Gattung, die am ehesten der phantastischen Literatur zu zuordnen ist. In den Augen der Surrealisten schienen Nervals Prosatexte die »automatische Schreibweise« vorwegzunehmen. Daneben hatte bereits im vorausgehenden Jahrzehnt Aloysius Bertrand mit seinem Gaspard de la nuit (posthum 1842) lyrische Stimmungsbilder geschaff en, die achtzig Jahre später von den Surrealisten begeistert aufgenom- men wurden. Formal nicht mehr als Gedichte im bisherigen Sinne konzipiert, off enbarte Bertrands lyrische Prosa bereits im Untertitel ihre bewusste Beziehung zur deutschen Romantik. Diese »Fantasien nach der Art des Rembrandt und des Callot« stellten einen Beleg für 19 die frühe und produktive Rezeption von E. T. A. Hoff mann während des 19. Jahrhunderts in Frankreich dar. (Bereits 1830 hatte Thé odore Toussenel Hoff manns Gesamtwerk ins Französische übertragen.) Vielen der Texte ist ein Motto – Nostradamus, Rabelais, Lope, Cal- derón, Hugo, Schiller, Goethe, Scott – vorangestellt. Doch Bertrands eigentliche Begeisterung gilt nicht der Literatur, sondern der Malerei. EINLEITUNG Bertrand greift die Verschwisterung der Künste, die schon bei dem Musik-Dichter Hoff mann obsessive Züge annahm, auf, indem er auf bekannte Bildbestände rekurriert. Napoleon hatte einst damit begon- nen, den Louvre zum bedeutendsten Museum Europas zu machen, woran auch die baldige Rückgabe der in seinen Eroberungskriegen beschlagnahmten Raubgüter nichts änderte. Dieser Bilderfundus ging nunmehr über den »Katalysator« der Hoff mann-Lektüre in die von Bertrand entwickelte Form des Prosagedichts ein. Vor allem die in der französischen Klassik diskreditierte Malerei der frühen Neuzeit – etwa van Eyck, Dürer, Brueghel, Lukas van Leyden und Rembrandt– dient als Inspirationsgegenstand für ebenso knappe wie symbolbe- haft ete Studien, deren immense Deutungsspielräume bei Erscheinen des Werkes noch kaum gewürdigt wurden. War Malerei in Frankreich im 18. Jahrhundert zunächst Explikationsgegenstand philosophi- scher Theorien – vor allem über Fragen der Wahrnehmung und des Geschmacks –, so entwickelte sich die träumerische Überschreibung des visuellen Gedächtnisses seit Bertrand zum Initiator der schöpferi- schen Hervorbringung neuer, medial unterschiedlichster Kunstwerke. In dem immer noch von der Idee der Trennung der Künste beherrsch- ten Frankreich eröff net Gaspard de la nuit eine Epoche der intermedia- len Inspiration, die Autoren wie Flaubert (La tentation de Saint Antoine, 1849/1874), Zola (Nana, 1880), Huysmans (À rebours, 1884), Mallarmé (Apparition, 1883), Proust (Portraits de peintres, 1894), erfassen sollte. Dass Bertrands unkonventionelles Werk dreißig Jahre nach seiner Entstehung doch noch zur Wirkung gelangte, war vor allem die Leis- tung Charles Baudelaires, der in seinem Le Spleen de Paris. Petits poëmes en prose (1869) ausdrücklich auf den Einfl uss des Gaspard de la nuit hinwies. Baudelaire selbst nahm von Bertrand nicht nur die unkonventionelle Gestalt des Prosagedichts in seinem Spätwerk auf; er teilte mit ihm die 20 Begeisterung für Autoren wie E. T. A. Hoff mann und für die anderen Künste. So zieht sich durch sein Schaff en eine ebenso intensive wie subjektive Auseinandersetzung mit der Malerei, die sich in seinen zahlreichen journalistischen Arbeiten zur bildenden Kunst nieder- schlug. Stets gegen den Akademismus und das Vulgäre des bourgeoi- sen Geschmacks gerichtet, entdeckte er Goya, Delacroix, Daumier und vor allem Constantin Guys, den er als »Maler des zeitgenössischen Lebens« feierte. Wie jene Maler, die er in dem Gedicht Les Phares (Die Leuchttürme) als Vorbilder nennt – u. a. Goya, Delacroix, Watteau und Rembrandt – sucht er Schönheit gerade im Abstrusen oder gar Häss- lichen: »Das Schöne ist immer zugleich bizarr.« Wahrhaft ige Kunst ist aus Baudelaires Blickwinkel durchdrungen vom Streben nach Überzeitlichkeit, das dem Wissen um die Vergänglichkeit entspringt. Dies bedingt auch seine Sicht auf die zeitgenössische Kunst, die der- einst eine neue Klassik werden soll. Diese Dialektik einer Moderne, die im Schaff ensakt sich selbst überwindet, um Tradition zu werden, bestimmt zumal sein Hauptwerk Les Fleurs du Mal (1857, Die Blumen des Bösen). Baudelaires Lyrik schöpft aus allen Quellen der abendlän- dischen Poesie. Doch sind seine »Helden« nicht die Schönheiten der Renaissance oder Heroen der Antike, sondern die Randexistenzen der Großstadt – Huren, Bettler, alte Menschen. Im Zentrum dieses Pan- optikums inszeniert sich der Dichter selbst bald als unbeteiligter Fla- neur, bald als moderner Schmerzensmann, dessen Leiden an der Welt in der Erkenntnis ihrer Vulgarität gründet. Es ist bezeichnend für das kulturelle und gesellschaft liche Klima unter Louis Napoleons Dikta- tur, dass sich Baudelaire und sein Verleger schon zwei Wochen nach Erscheinen des Bandes einer Klage wegen »Verletzung der öff entli- chen Moral« ausgesetzt sahen. Strafrechtliche Konsequenz des Pro- zesses war die essentielle Neukonzeption des Bandes, die Baudelaire durch die Unterdrückung von sechs Gedichten als notwendig ansah. Ab der zweiten Aufl age enthielt das Buch die Abteilung »Tableaux Parisiens«, die das Moment der Flüchtigkeit der Großstadtwirklich- keit konzentriert. Einer Mittelachse gleich befi ndet sich hier als zehn- ter der zwanzig Texte das meist zitierte Gedicht Baudelaires: A une passante (An eine Passantin) besingt nicht die schöne Passantin auf dem Boulevard, sondern beweint die Flüchtigkeit des Zusammentreff ens, der der Dichter durch die formale Vollkommenheit eines artifi ziell 21 konstruierten Sonetts begegnet. In derselben Abteilung der »Pariser Bilder« fi ndet sich Le cygne (Der Schwan). Dem exilierten Victor Hugo gewidmet, schildert es die groteske Szenerie eines aus dem Gehege am Carrousel du Louvre entkommenen Schwans, der sich in dem von Napoleons Stadtplaner Baron Haussmann umgestalteten Paris nicht zurechtfi ndet: »Die Gestalt einer Stadt ändert sich rascher, ach!, als des EINLEITUNG Menschen Herz.« Folgerichtig entwirft Rêve parisien für Momente die Vorstellung totalen Stillstandes in einem Paris, das durch die Tilgung des Natürlichen der Veränderung enthoben ist. Mit der imaginierten Kunstwelt projektiert Baudelaire die »vie factice«, eine dem Alltäg- lichen enthobene Parallelwelt, die noch in den »Unterreich«-Gedich- ten in Stefan Georges Algabal (1892) nachklingen wird. Baudelaires Leistung ging indes über die Schöpfung des wohl bedeutendsten Gedichtbandes der Moderne weit hinaus. Er schuf nicht nur die bis heute in Frankreich gültige Übersetzung des erzähle- rischen Werks Edgar Allan Poes, der zusammen mit E. T. A. Hoff mann zum Ahnherrn der abgründigen Literatur des späten 19. Jahrhunderts werden sollte. Mehr noch, er setzte sich enthusiastisch für das Werk Richard Wagners ein, als dessen Tannhäuser 1860 einen Skandal hervor- gerufen hatte. Er durchforstete in den vierziger und fünfziger Jahren Pariser Ausstellungen nach Werken von bleibendem Wert, verwarf heute vergessene Gestalten und hob Goya (damals ein Unbekannter), Delacroix und Daumier in den Olymp. Vehement propagierte Baudelaire daher auch die Verschwiste- rung der Künste. Im Zentrum aller synästhetischen Bestrebungen des späten 19. Jahrhunderts stand sein vermutlich um 1846 entstan- denes Sonett Correspondances (»Entsprechungen« oder »Übergänge«), das fast wörtlich eine Passage aus E. T. A. Hoff manns Kreisleriana (1810/14) zitiert, wo von einer »Übereinkunft der Farben, Töne und Düft e« die Rede ist. Im Dienste eines Schönheitsideals, das durch die Potenzierung der Sinneseindrücke im Leser bislang unbekannte Intensitätsmomente hervorbringen sollte, öff nete sich die Poesie für Wahrnehmungsmischungen und sprachliche Verschiebungen, die bis heute gelegentlich als gleichbedeutend mit einer provokativ hervorgekehrten Unverständlichkeit angesehen werden. Diese 22 subjektivistische Neuorganisation des Französischen wird während der folgenden drei Jahrzehnte im Schaff en von Baudelaires »Nach- folgern« – Arthur Rimbaud, Paul Verlaine und vor allem Stéphane Mallarmé – kulminieren.

Im Wettstreit mit dem Fortschritt – Realismus und Naturalismus

1791 hatte der Pariser Verfassungskonvent eine Reihe bis heute fol- genreicher Beschlüsse verabschiedet, die vor allem die Normierung von Maßeinheiten zum Ziel hatten und unmittelbarer Ausdruck jenes empirischen Denkens waren, das die Revolution vorbereitet hatte. Überprüfbarkeit der äußeren Bedingungen und die Wieder- holbarkeit oder gar Manipulation von Vorgängen in der Natur werden zur Grundlage des folgenden Jahrhunderts, das fast jährlich mit ein- drucksvollen Erfindungen aufwartet. Vor dem elektrischen Licht, der Schreibmaschine, dem Verbrennungsmotor, dem Telefon, der Tele- grafie und dem Phonographen ist es zunächst vor allem die Fotografie, die das Publikum fasziniert und zugleich die Künste in Zugzwang bringt. Es ist interessant zu beobachten, wie sich unter dem Eindruck der neuen Technik im Laufe des 19. Jahrhunderts das Selbstverständ- nis der Künste allmählich so veränderte, dass Jean Cocteau viel später zu Recht sagen konnte, die Fotografi e habe die Malerei befreit. Am Beginn dieses Befreiungsprozesses steht indes nicht der Weg hin zu einer abstrakten Kunst, wie sie bereits die Romantik projek- tiert hatte, sondern ein Konkurrenzdenken, das aus der mechanisch hervorgebrachten Unmittelbarkeit der Fotografi e herrührt. Bau- delaire wird bereits um die Mitte des Jahrhunderts diesen Wahr- heitsanspruch in Frage stellen, indem er die mittels Fotos mecha- nisch abgebildete Realität gegen den Kunstcharakter eines durch subjektive Wahrnehmung und individuelle manuelle Fähigkeiten hervorgebrachten Werks ausspielt. Der Gegensatz wirkt noch nach, als Walter Benjamin bald hundert Jahre nach dem Aufk ommen der Fotografi e die »Aura« des Kunstwerks der »technischen Reproduzier- barkeit« der Artefakte entgegenhält. Diese Aura ist indes bereits in der ersten Jahrhunderthälft e das erklärte Ziel all der Autoren – allen voran Balzacs und Stendhals –, die versuchten, Wirklichkeit genau, 23 vollständig und wahrhaft ig wiederzugeben. Bereits 1826 taucht im Zusammenhang mit der Forderung nach der getreuen Nachahmung der Wirklichkeit erstmals der Begriff »Realismus« in Frankreich auf. Dieser wurde, zunächst abwertend ohne Nennung von bestimm- ten Personen, auf eine künstlerische Bewegung gemünzt, der man nachsagte, das Aussehen der eigenen Epoche, ihre Sitten und Ansich- EINLEITUNG ten ohne künstlerisches Beiwerk abzubilden. Das dem Realismus wesenseigene Ideal von Wahrhaft igkeit bedeutet indes keine Absage an die literarische Fiktion. Bereits Aristoteles bescheinigte doch der Literatur gegenüber der Historiographie das höhere Maß an Exem- plarität. Während der Realismus in der Bildenden Kunst bis zur verspäteten Anerkennung der impressionistischen Malerei in Kon- kurrenz mit der perfekteren Fotografi e sich immer weiter von den klassischen Abbildungsmodalitäten entfernt, tritt der »realistische« Romancier in Konkurrenz zum Historiker und zur Philosophie, vor allem zu deren »praxisorientiertem« Zweig: der Moralistik. Diese hatte sich von Montaigne über La Rochefoucauld bis Vauvenargues zur sprachlich pointierten Kritik menschlicher Verhaltensmuster entwickelt. Das Schaff en Stendhals und Balzacs in den zwanziger und dreißiger Jahren zehrte von der schon in der klassischen Mora- listik ausgebreiteten präzisen Beobachtung, die ihren Niederschlag in brillant verkürzten Aphorismen fand. Die Bevölkerung von Paris erreichte bereits 1846 eine Million, die sich in weiteren drei Jahrzehnten auf zwei Millionen verdoppelte. Diese zunehmende Unüberschaubarkeit des städtischen Raums brachte nicht nur Kriminalität, sondern auch deren Aufarbeitung in verschiedenen Zweigen der Literatur mit sich. Der einstige Ketten- sträfl ing François Vidocq war unter Bonaparte zum Gründer und Leiter der Geheimpolizei (Sûreté Nationale) aufgestiegen, hatte Handbücher über die französische Gaunersprache, das Profi l von Verbrechern sowie seine Memoiren veröff entlicht und schließlich die erste Privatdetektei in Paris ins Leben gerufen. Balzac sollte Vidocq in der Gestalt des unter verschiedensten Pseudonymen agierenden Verbrechers Vautrin ein literarisches Denkmal setzen. Der Kaper- kapitän Robert Surcouf war ebenfalls unter Bonaparte zum Baron und 24 Oberst aufgestiegen. Solche im Kaiserreich und erst recht während der Restaurationszeit keineswegs seltenen Karrieren befl ügelten die Fantasie des städtischen Publikums und trugen zur Entstehung neuer Literaturgattungen wie der Detektivgeschichte bei. Die literarische Auseinandersetzung mit der Parallelgesellschaft von Verbrechern, Huren, gescheiterten Existenzen und Polizeispitzeln mündete in Romane wie Sues Les mystères de Paris (1843, Die Geheimnisse von Paris), Hugos Les misérables (1862, Die Elenden), Dumas’ Comte de Monte-Cristo (1846, Der Graf von Monte Christo) und dem ambitionierten tausend- seitigen Roman Les mohicans de Paris (1859, Die Mohikaner von Paris). Wenn es bei Eugène Sue heißt, die Helden der Unterwelt seien »nicht minder der Zivilisation entrückt als die Wilden«, so vor allem deshalb, weil die Gesellschaft sich selbst fremd und die Stadt ein exotischer Ort geworden ist. Nicht umsonst nannte der Danteverehrer Balzac seinen zwölf- tausendseitigen bürgerlichen Mikrokosmos »Menschliche Komödie«, in der das Tal der Seine zum bibelgleichen Jammertal wird. Das Groß- bürgertum und die wieder erstandene Aristokratie bezeichneten in den Augen der Romanciers zu dieser Unterwelt nur einen geographi- schen Gegensatz: »Hinter jedem großen Vermögen steht ein Verbre- chen«, vermerkt Balzac, folgerichtig werden seine Protagonisten erst im Augenblick des bürgerlichen Versagens zu Helden. Denn die tat- sächlichen Verbrecher in den Romanen Balzacs, Stendhals und Flau- berts sind Kleriker, Militärs, Bankiers und Politiker. In Le rouge et le noir (1830, Rot und Schwarz) verdeutlichte Stendhal schon in der Titelmeta- pher, wie die zweite Bourbonenherrschaft auf dem früheren Gesell- schaft ssystem des Ancien Régime basierte. Schwarz für die Kirche, Rot für die Armee signalisieren insofern gesellschaft lichen Stillstand. Der junge Julien Sorel steigt durch beide Faktoren in die höchsten Kreise auf, um dann auf der Suche nach Authentizität zu einer der großen antibürgerlichen Empörergestalten zu werden, dessen Ausbruchs- versuch die Wohlanständigkeit als Hypokrisie off enlegt. Gerade eine Blick in Stendhals letzten Roman La chartreuse de Parme (1839, Die Kartause von Parma) erweist sich hier als erhellend als Gegenent- wurf in einer Welt, die dem Einzelnen noch die Möglichkeit individu- eller Selbstverwirklichung eröff net. Als Antwort auf das Scheitern der durch die Große Revolution 25 geweckten Hoff nungen blieb der literarische Realismus bis weit ins 19. Jahrhundert attraktiv und für die darin porträtierte Gesellschaft provokativ. Dass sich der Begriff »Realismus« gerade wegen seines abwertenden Gebrauchs seit 1850 allgemein durchzusetzen begann, war weniger den Schrift stellern als einem Maler, dem als Sozialisten verrufenen Gustave Courbet, zuzuschreiben: Dessen monumenta- EINLEITUNG les Gemälde Un enterrement á Ornans war von der offi ziellen Jury 1850 wegen »Verletzung religiöser Gefühle« abgelehnt worden. Tatsäch- lich scheint die Kritik am Realismus jedoch vor allem dem Umstand geschuldet zu sein, dass Courbet erstmals die unteren Bevölkerungs- schichten kunstwürdig erachtete und dass er hierfür bildnerische Mittel fand, die eine Verletzung der vorherrschenden Salonkunst darstellten. In den späten sechziger Jahren hatte die französische Malerei in den frühen Arbeiten von Edouard Manet eine neue Stufe der Provokation erreicht. Als Manet 1865 das Aktbild Olympia im Salon präsentierte, kam es zu einem Skandal, der wiederum weniger mit dem dargestellten Gegenstand, als vielmehr mit dessen zynisch- kalter Präsentation zusammenhing: »Wenn sie auf den Strich ginge, würde man sie nicht für drei Franc haben wollen«, schrieb ein Kriti- ker über das Gemälde, das eher einem Plakat zu gleichen schien als jener Venus Tizians, die Manets bildnerischer Fantasie off enkundig zu Grunde lag. In der hitzig geführten Debatte meldete sich ein jun- ger Journalist zu Wort, der gerade erste Erzählungen veröff entlicht hatte und zu einem wortgewandten Kunstkritiker und produktiven Romanautor der folgenden drei Jahrzehnte werden sollte: Für Émile Zola repräsentierte Manets Werk jene unprätentiös dargebotene Alltagswirklichkeit, der er selbst sich bald darauf völlig verschreiben sollte. Es überrascht daher kaum, dass man bei Erscheinen seines ersten Romans Thérèse Raquin (1867) bemängelte, Zola schreibe so, wie Manet malt. Zu diesem Zeitpunkt plante Zola bereits ein weitaus ambi- tionierteres Projekt. Unter dem Reihentitel Les Rougon-Macquart entstand die Natur- und Sozialgeschichte einer Familie während des zweiten Kaiserreichs. Ursprünglich auf zehn Bände angelegt, 26 sollte dieses letzte große zyklische Romanprojekt des 19. Jahrhun- derts zwischen 1871 und 1893 auf zwanzig Titel mit insgesamt über zehntausend Seiten anwachsen und das gesamte gesellschaft liche Spektrum vom Bauernstand bis zur Welt der Hochfi nanz, Politik und Diplomatie umfassen. Im thematischen Bereich neuartig war gerade die Darstellung des Stadtproletariats in L’assommoir (1877), die Arbeitswirklichkeit im Markthallenviertel (Le ventre de Paris, 1873) und das Elend der Bergarbeiter (Germinal, 1885). Gegenüber der darstellerischen Konzeption der Realisten forcierte Zola den kriti- schen Ansatz durch Rückgriff e auf die Entwicklungen der exakten Naturwissenschaft en, vor allem der Biologie und Medizin. Indem er den Schreibakt durch Bezüge zur Vererbungslehre und den Theorien Darwins und Haeckels als Versuchsanordnung konzipierte, unter- legte er der dargestellten Welt von vorne herein einen biologischen Fatalismus, der in der Romanserie als kausale Erklärung diente, um den auf allen gesellschaft lichen Ebenen feststellbaren Niedergang Frankreichs im Zeitalter von Louis Napoleon zu begründen. Jenseits der aus heutiger Sicht problematischen Ineinssetzung von litera- rischer Schöpfung und einem allzu mechanistisch gehandhabten Wissenschaft smodell zeigt Zolas Monumentalwerk gerade dort ästhetische Qualitäten, wo er das soziologische Erkenntnisziel nicht mit biologischen Thesen unterlegte, sondern Imaginationspotenti- ale durch die Eindringlichkeit des Stils freilegte.

Zwischen Schwänen und Schildkröten: Ein Zeitalter besichtigt sich selbst

Nicht erst der Zusammenbruch Frankreichs im Deutsch-Französi- schen Krieg hatte wie bei Zola die Reflexion über die Zukunftrank- F reichs in Bewegung gebracht. Bereits vor der ersten Romantikerge- neration hatten gerade in Frankreich Aufklärungsphilosophen wie Montesquieu, Holbach und Volney die Frage nach den Ursachen für den Untergang einer Zivilisation formuliert. Bereits die Aufklärer ver- muteten als Grund für das Phänomen der Dekadenz ein Mentalitäts- problem, nämlich das Zurücktreten des sozialen vor dem Eigeninter- esse. Wenn seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts verstärkt die Möglichkeit des Verfalls der französischen Kultur formuliert wurde, so wollte man die Gründe dafür weniger in den politischen Verwer- 27 fungen sehen als im »mal de siècle«, der unheilbaren Melancholie mehrerer Generationen von Intellektuellen. Von Chateaubriand, Sten- dhal (Souvenirs d’égotisme, 1837/1892) und Musset (Confession d’un enfant du siècle, 1836) zieht sich die Spur der literarischen Selbstentdeckung im Zustand des Weltschmerzes bis zu den Tagebuchautoren am Ende des Jahrhunderts. Baudelaires posthum unter dem Titel Mon coeur mis EINLEITUNG à nu (1887) erschienene Notizen, Frédéric Amiels Fragments d’un journal intime (1884) und vor allem das weit über Frankreich hinaus gelesene Journal (1887) der in Paris frühverstorbenen russischen Malerin Marie Bashkirtseff sind die Höhepunkte jener Ego-Literatur, welche äußere Realität zugunsten einer Zwiesprache mit dem eigenen Selbst immer weiter ausblendete. Bereits 1881 veröffentlichte der Arzt und Schrift- steller Paul Bourget eine Abhandlung über Baudelaire, die zwei Jahre später, mit weiteren Aufsätzen über Stendhal, Taine, Flaubert und Renan vereinigt und unter dem Titel Essais de psychologie contemporaine zu einem der weltweit meist gelesenen und folgenreichsten Bücher des späten 19. Jahrhunderts wurde. Unter dem Titel »Théorie de la décadence« versuchte er, am Beispiel Baudelaires erstmals ein von der Geschichtsphilosophie der Aufklärung inspiriertes gesellschaftliches Phasenmodell auf die Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte zu beziehen und mit einer medizinischen Argumentation zu untermau- ern. »Ein Dekadenzstil besteht darin, dass sich die Einheit des Buches auflöst, um der Unabhängigkeit der einzelnen Seite Vorrang zu lassen; oder die Seite löst sich zugunsten des Satzes auf, und der Satz weicht der Unabhängigkeit des Wortes.« Ursprünglich als linguistisch kor- rekte Beschreibung von Spätstilen gedacht, hatte bereits Théophile Gautier in seiner Notice (1868) zur zweiten Auflage von Baudelaires Fleurs du Mal dieses Stilphänomen als »manieristisch« bezeichnet (er war damit der neueren Kunstwissenschaft um mehrere Jahrzehnte vorausgeeilt) und mit der Metapher des Sonnenuntergangs (déca- dence) auf Baudelaires Rolle als Vollender der Romantik verwiesen. Der Mediziner Bourget indes verschob Gautiers stilgeschichtliche Lesart in den Bereich einer soziologischen Theorie: »Das Wort Deka- denz bezeichnet den Zustand einer Gesellschaft, die zu viele Indivi- duen hervorbringt, die ungeeignet für die gemeinsamen Aufgaben 28 sind.« Die literarische Antwort auf Bourgets Gesellschaft skritik kam aus dem Kreise von Zolas Anhängern. Joris-Karl Huysmans hatte seit den siebziger Jahren den Kreis um Zola frequentiert und neben zahlreichen kunsttheoretischen Essays Romane im Fahrwasser Zolas publiziert, bevor er 1884 mit À rebours den Roman veröff entlichte, der brennspiegelartig die Mentalität einer ganzen Generation konzent- rierte. Verschiedentlich als die »Bibel der Dekadenz« bezeichnet, kon- zentrierte À rebours alle zeitgenössischen ideologischen, ästhetischen und psychologischen Strömungen zu einem Panoptikum, das häufi g die Grenze zur Grotesken und der Parodie überschritt und damit das von Bourget beschriebene Lebensgefühl durch Übersteigerung iro- nisch brach und dementierte.

Die Suche nach den absoluten Zeichen

Weder Bourgets Theorie noch Huysmans’ polemischer Hieb gegen eine gänzlich nach innen gerichtete Lebensweise konnten verhindern, dass man die am Beginn des Jahrhunderts projektierten ästhetischen Konzepte einer aus ihrer gesellschaftlichen Funktion befreiten Kunst vorantrieb. Im Zentrum aller künstlerischen Intentionen stand neben Baudelaire und Wagner vor allem . So veröffentlichte Stéphane Mallarmé eine Prosaübertragung der Gedichte Poes (1888). Villiers de L’isle-Adam, Jules Barbey d’Aurevilly, Catulle Mendès, Jean Lorrain, Jarry und Lautréamont sollten versuchen, die abgründigen Fantasien zu überbieten, die Poe in seinen Tales of Mystery and Imagina- tion dokumentiert hat. Unter dem Titel Genèse d’un poème begründete Poes viel gerühmter Traktat The Philosophy of Composition die neuere Dichtungstheorie, die vom Mystizismus einer vorrationalen Kreativi- tät befreit wurde. Mit der Begeisterung für Poes Schaffen importierte man allerdings auch seine pessimistische Geschichtsauffassung und seine Aversion gegen demokratische Einrichtungen. Bereits Baude- laire hatte, durchdrungen von Verachtung für alles Vulgäre, in zwei Poe-Essays darauf aufmerksam gemacht. Bei Frankreichs geistiger Elite mündeten damit am Ende des Jahrhunderts die einstigen Hoff- nungen der Großen Revolution in politische Reaktion, die sich in der Hervorbringung insularer Alternativen offenbart. Villiers de l’Isle- 29 Adams Drama Axël (1884) etwa übersteigert Poes elitäre Handlungs- arrangements mit Protagonisten, die fern der Gesellschaft nur noch sich selbst genügen. Literatur verweigerte vorübergehend gerade den Anspruch von Massenkommunikation, um für die Mitglieder kleinster Dichterzirkel ebenso als Inzitationsmittel zu dienen wie jene Drogen, die Baudelaire schon als »künstliche Paradiese« (Les paradis EINLEITUNG artificiels, 1869) gerühmt hatte. Dem Dichter der hier sich herausbilden- den »symbolistischen« Bewegung war Schönheit in ihrer avancier- testen Gestalt das neue Rauschmittel, das zugleich die Verweigerung gegenüber der als vulgär und trivial empfundenen Realität signali- sierte. Wieder interagierten Kunst, Musik und Sprache nicht nur in der Zusammenarbeit mit Musikern (Debussy, Ravel) und bildenden Künstlern (Manet, Degas, Rops, Vallotton, Moreau, Redon, Whistler). Vielmehr sollte Sprache selbst Musik und Bild zugleich werden. Insbesondere Überlegungen Mallarmés zielten gar auf ein omi- nöses »Buch« ab, das im Hegelschen Sinne »Aufh ebung« – Vollendung und Aufb ewahrungsort – aller Literatur sein sollte, ohne dabei noch Buch im herkömmlichen Sinne zu sein. War Mallarmé mit tiefgründi- gen Refl exionen über die Sprache und das Wesen der Zeichen weit in sprachphilosophische und kunsttheoretische Probleme des 20. Jahr- hunderts vorgestoßen, so stellt sein dichterisches Werk bis heute eine Herausforderung dar. Erklärbar wird die Faszination, die diese etwa hundert – formal vollkommenen – Gedichte ausüben, aus Mallarmés Konzeption des Symbolismus selbst. Diesem geht ein Absolutheits- anspruch voraus, der mit dem Protest gegen die durch das 19. Jahrhun- dert verwirklichte Kommerzialisierung der Literatur korrespondiert. Spätestens Baudelaires Fleurs du Mal hatten die dichterische Sprache aus der Zweckbindung der standardsprachlichen Kommunikation befreit und die abgenutzten Worte wieder erfahrbar werden lassen, indem sie in neue Kontexten »ausgesetzt« wurden. Gleich der Musik soll nun Sprache nicht mehr wie im Realismus eine Realität spiegeln, sondern auf ein jenseits des Abzubildenden Vermutetes hindeuten. Wie in der Alltagssprache eine Vokabel im Geist des Hörers ein Kon- zept erzeuge, so repräsentiere Kunst, wie es in Mallarmés Traktat Crise du vers (1892) heißt, immer etwas Virtuelles. Das Gedicht als Ganzes 30 wurde damit zum »totalen Wort«. Auf der Suche nach dem absoluten Zeichen erprobte Mallarmé schon 1886 den Verzicht auf jegliche Satz- zeichen. Sein letztes zu Lebzeiten veröff entlichtes Gedicht, Un coup de dés n’abolira le hasard (1897), ordnete auf gegenüberliegenden Seiten mit Leerräumen und unterschiedlichen Schrift größen den sprachlichen Text zur Wortpartitur an. Indem Mallarmé so auf damals unkonven- tionelle Weise die Typographie zu einer weiteren Aussageebene erhob, nahm er die graphische Poesie der Avantgardisten vorweg, die erst zwei Jahrzehnte später mit Apollinaires Calligrammes (1918) ein- setzte. Der Symbolismus verweigerte sich im Sinne der von Gautier pos- tulierten »vie factice« jeder Rückbindung an die Öff entlichkeit, ohne sich dabei jedoch völlig aus dem gesellschaft lichen Leben zurückzu- ziehen. Zahlreiche Lebenserinnerungen und Briefe haben die lebhaf- ten Auseinandersetzungen der Maler und Dichter dokumentiert, die sich im Bistro Voltaire oder im Cabaret Le chat noir an den stets neuen Theorien abarbeiteten oder der Rezitation neuester Werke im kleins- ten Kreise – etwa Mallarmés berühmten Zusammenkünft en (Mardis) – beiwohnen durft en. Standen am Anfang der literarischen Befreiung der französischen Literatur Skandale wie Napoleons Verbot von De l’Allemagne, die Schlacht um Hernani oder Prozesse um Flaubert und Baudelaire, so entfaltete der Symbolismus gerade als Veranstaltung elitärer Zirkel übernationale Strahlkraft . Junge Autoren aus Südamerika wie Carlos Reyles, José Martí, José Asunción Silva, Herrera y Reissig und Rubén Darío lernten seit den achtziger Jahren die neuen französischen Strö- mungen auf Reisen gleichsam aus erster Hand kennen. Indem sie den Geist der Décadence in der neuen Welt verbreiteten, wurden sie zu den Gründervätern jenes »modernismo«, der erst mit zehnjähriger Verzögerung das einstige Mutterland Spanien erfasste. Der Einfl uss Baudelaires und Rimbauds sollte gerade in Iberoamerika bis weit ins 20. Jahrhundert hinein spürbar bleiben. Obgleich Mallarmé zu Lebzeiten nur wenige Gedichte veröff ent- licht hatte, pilgerten auch William Butler Yeats, Rainer Maria Rilke und Stefan George zu Mallarmés Dienstags-Zusammenkünft en. Gerade Stefan George sollte sich durch seine Übertragungen (Zeitge- nössische Dichter, 1905) nicht nur für Mallarmés und Verlaines Dichtung, 31 sondern für deren weniger populäre Zeitgenossen Henri de Regnier, Jean Moréas und Émile Verhaeren engagieren. Auch Rilke übersetzte schließlich nicht nur Baudelaire und Maurice Maeterlinck ins Deut- sche. In dem 1910 erschienenen Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, der Rilkes ersten Parisaufenthalt (1902/03) refl ektiert, ist Baudelaire allgegenwärtig. Jahre danach sollten sich Henry Miller und EINLEITUNG Thomas Bernhard zu Rimbaud bekennen. In Frankreich selbst wurden die literarischen Außenseiter – allen voran Baudelaire, Rimbaud und Lautréamont –, für die Verlaine das treff ende Schlagwort der verfemten Dichter Les( poètes maudits, 1884) geschaff en hatte, bald zu Klassikern, mit denen sich jeder bedeuten- dere Literat auseinandersetzen musste. Bereits in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu wird immer wieder deutlich, wie Baude- laires Tableaux Parisiens in das Schreiben eingingen. Jacques Rivière, mit Gide gemeinsam Herausgeber der renommierten Nouvelle Revue Française, machte in einem bemerkenswerten Essay auf die poetische Leistung Rimbauds aufmerksam. Als sich nach dem Ersten Weltkrieg die surrealistische Bewegung formierte, erlebten auch symbolistische Außenseiter wie Tristan Corbière, Charles Cros und Jules Laforgue eine Renaissance als Vorläufer unkonventioneller metaphorischer Verfahren. Später setzten sich Paul Valéry, Jean-Paul Sartre und Jac- ques Derrida in Essays mit Mallarmé und Baudelaire auseinander. Seit auf dem Zenit des französischen Strukturalismus die Philosophin und Romanautorin Julia Kristeva neuartige Erklärungsansätze für Mallarmés Schaff en durch eine Kombination von Sprachwissenschaft und Psychoanalyse verbreitete, wurde off enbar, dass das Projekt einer Reihe von Literaturnarren am Ende des 19. Jahrhunderts die verspä- tete Fortsetzung der Großen Revolution mit anderen Mitteln war: eine Revolution der französischen Sprache.

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