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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Spitzbergen Vom Denken und Handeln im Eis Von Gaby Hartel Produktion: Dlf 2019

Erstsendung: Freitag, 26. April 2019, 20:10 Uhr

Redaktion: Tina Klopp Regie: Matthias Kapohl

Es sprachen: Sören Wunderlich, Louis Friedemann Thiele,

Andreas Meidinger, Sigrid Burkholder, Naghme Alaei und die Autorin

Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Jens Müller

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

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Regie:

Atmo Field Recordings

Benjamin Vidmar, O-Ton:

Well, this place has a very transient population, and people come and go very often.

A K Dolven, O-Ton:

Wir haben viel diskutiert. Das ist nicht nur ein Kunsttourismus, das ist ein Wechsel zwischen Geben und Lernen und Zuhören und, klar, das diskutieren wir auch mit den Organisationen, die Künstler einladen.

Chris, O-Ton:

You meet so many more people, and you have so many different insights.

Pal Berge, O-Ton:

And as you might know the coal age in , in Spitzbergen, is about to change. That gives us a quite fascinating challenge: what to do with this place.

Übersetzer:

Sie wissen ja, dass das Kohle-Zeitalter in Spitzbergen zu Ende geht. Und darum stehen wir jetzt vor der aufregenden Herausforderung: was machen wir mit all dem hier.

Kelsey, O-Ton:

Yeah, of course I think about that often. It’s so easily romanticized here.

Übersetzerin:

Klar, denke ich oft daran, wie schnell man das Ganze hier zu romantisch sieht.

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A K Dolven, O-Ton:

Die Königin bedeutet sehr viel für die Menschen hier oben und die Menschen bedeuten auch sehr viel für die Königin.

Königin Sonja von Norwegen, O-Ton:

1:41:595 - 1:52:368

Übersetzerin:

Was ist das, Svalbard? Licht, Landschaft, Stille, Unendlichkeit.

Regie: Sound Mix

Ansage:

Spitzbergen. Vom Denken und Handeln im Eis

Ein Feature von Gaby Hartel

Katya Garcia-Anton, O-Ton:

And the other thing to say also is that, you know, Svalbard is a very precious Archipelago.

Übersetzerin:

Der Archipel ist ja auch wirtschaftlich von größtem Interesse.

Kelsey, O-Ton:

Yeah, I go back and forth in my mood about how I feel about this place (lacht).

Übersetzerin:

Ich bin hin- und hergerissen, was mein Gefühl über Spitzbergen angeht.

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Autorin:

Es muss die Luft sein. Dieses trockene, beizende, klirrend kalte Element, das mich schockartig trifft. Eben noch bin ich im Anflug auf Spitzbergen über die samtweichen, verschneiten Hügel geglitten, über durch Packeis und Fjorde gegliedertes Wasser und blasstürkisfarbene Gletscher. Und jetzt, nach dem ersten Schritt aus der Glashalle des Flughafens heraus, greift die Luft nach mir, gleißendes Licht treibt mir Tränen in die Augen, die Nasenschleimhaut prickelt.

Atmo

Eine euphorisierende Frische überfällt mich und fast auch ein Gefühl der Erhabenheit, das ich doch um jeden Preis vermeiden wollte: Nur nicht sentimental werden und einen kühlen Kopf bewahren hier auf Spitzbergen, dem Archipel am nördlichsten Ende der bewohnten Welt. Einer Gegend in der Arktis, die derzeit so umschwärmt und vielleicht auch umkämpft ist, wie kaum eine andere.

Atmo

Katya Garcia-Anton, O-Ton:

But, you know: Svalbard is the most amazing place […]

[…] That’s a huge challenge.

Autorin:

Katya Garcia-Anton sitzt an einem kleinen Glastisch in ihrem Büro. Sonst gibt es nirgendwo Platz in diesem schmalen Industriebau: Der Schreibtisch ist mit Papieren übersät, und selbst auf dem Boden stapeln sich Kataloge, Werkzeuge und Kisten mit Kunstwerken.

Übersetzerin:

Spitzbergen ist ein unbeschreiblicher Flecken, kann manchmal aber auch selbst sein größter Feind sein. Und zwar dann, wenn die massiven Interessen 5

von Macht, Politik und Wirtschaft das Denken behindern. Das ist eine sehr große Herausforderung.

Autorin:

Ausbeutung der Natur hat Tradition, seit Willem Barents 1596 als erster Europäer die Inselgruppe zu Gesicht bekam. Zunächst betrieb man intensiv Wal-, Robben-, Walross- und Eisbärenfang, später dann Kohleabbau. 1920 wurde der Archipel im Spitzbergenvertrag Norwegen zugeschrieben, doch theoretisch haben alle 46 Unterzeichnerstaaten Abbaurechte in diesem Teil der Welt, der strategisch so günstig zwischen Russland und dem Nordatlantik liegt. In Zeiten der schmelzenden Eiskappe am Nordpol steigt das internationale Interesse an den Bodenschätzen, die hier liegen.

Norwegen positioniert sich in diesem Rennen um Ressourcen und Handelswege anders als etwa Dänemark, Kanada oder Russland und eröffnete 2017 mit „Artica Svalbard“ ein ambitioniertes Artist-in Residence- Programm. Bis zu elf nationale und internationale KünstlerInnen und SchriftstellerInnen erhalten jährlich die Möglichkeit, sich drei bis neun Monate lang hier aufzuhalten, hier zu arbeiten und sich den Fragen dieser außergewöhnlichen Umgebung und damit auch den Fragen unserer Zeit zu stellen.

Katya Garcia-Anton, O-Ton:

We wanted to reach out to diverse sets of publics.

Autorin:

Garcia-Anton ist Direktorin von OCA, dem „Office for Contemporary Art“, und leitet damit eine der Institutionen, die neben dem Queen Sonja Print Award und der norwegischen Schriftstellervereinigung PEN, die Künstler und Künstlerinnen auswählt und hierhin entsendet. Wir unterhalten uns darüber, 6

wie OCA das Stipendiatenprogramm mit der Konferenz „Thinking at the Edge of the World“ vorbereitete.

Katya Garcia-Anton, O-Ton:

People who are living in the archipelago […]

[…] the other day took place “under”, in the mines.

Übersetzerin:

Wie Sie schon sagten, wollen wir sehr unterschiedliche Leute ansprechen. Menschen, die hier auf dem Archipel leben, Menschen, die in der Nähe, also im Norden Norwegens, leben und Menschen, die von ihrer intellektuellen Ausrichtung her dazu passen könnten und eine eher internationale Perspektive mit einbringen. Außerdem wollten wir die übliche Struktur einer Konferenz komplett hinterfragen. Wo Vortragende von einem Podium herab sprechen, die dann ab und zu von unten, vom Publikum aus unterbrochen werden können. Wir wollten das Denken aber durch den Körper ziehen lassen. Und darum haben wir unterschiedliche Veranstaltungsorte gesucht, in denen der Körper unterschiedliche Seinszustände erlebt, weil wir davon ausgegangen sind, dass dies einen anderen Zugang zu unseren Themen ermöglichen würde. Und darum fanden die Diskussionen an einem Tag auf einem Forschungsschiff statt, am nächsten an Land, in der Universität, und an einem weiteren unter Tage, in einer Grube.

Autorin:

Der internationale Kunstbetrieb ist bekannt dafür, dass die Insider in jeder Situation einen passenden Kommentar auf den Lippen haben. Hier aber, zwischen den Gletschern, beim Anblick eines Wals und in den kalten, von Kohlebrocken verdreckten Tunneln der Grube, habe man öfter mal einfach überwältigt geschwiegen. Sie fand das sehr produktiv.

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Katya Garcia-Anton, O-Ton:

Now, of course, the day that took place in the mine […]

[…] as a place of thought.

Übersetzerin:

Der Tag, den wir in der Kohlegrube zubrachten, war natürlich auf vielfältige Weise symbolisch. Ein Aspekt befasste sich mit der Neuzuordnung des Körpers unter der Erde und bei einem weiteren spielte natürlich der ganze industrielle Hintergrund eine Rolle. Was er für den gesamten Archipel bedeutet hatte und auch für die politischen Beziehungen, die Norwegen zu Russland pflegt, und dessen Interessen an den Ressourcen in diesem Teil der Welt. Und darum war es für uns entscheidend, den Blickwinkel zu wechseln, sondern den Körper – nicht nur das Gehirn – als Ort einzufordern, an dem Denken stattfindet.

Zitator:

Es ist oft davon die Rede, dass Spitzbergen sich auf drei Säulen stützt: auf den Bergbau, den Tourismus und die wissenschaftliche Forschung.

Autorin:

Das schrieb Kim Holmen, der Direktor des Norwegischen Polarinstituts, in einem Text, in dem er sich für kultuelle Investitionen auf Svalbard einsetzt.

Zitator:

Doch gibt es eine vierte Säule, die Kultur, die wir aufmerksam in den Blick nehmen sollten, wenn wir über die Zukunft des Archipels sprechen. Hierin liegt der einzigartige Kern, aus dem wir die Identität von erschaffen können. Eine Gesellschaft mit hoher Fluktuation an Touristen und Arbeitern kann den Eindruck erwecken, dass es ihr an Tradition fehlt. Aber das 8

Engagement für die Kultur kann nachhaltige Werte schaffen. Man kann den Touristen Norwegischkurse anbieten, wenn sie keine Lust mehr haben auf Outdoorabenteuer. In den Läden können Produkte lokaler Künstler und Kulturarbeiter verkauft werden. Kulturelle Investitionen können auch den Berufsstolz der Grubenarbeiter würdigen und ihnen andere Wege weisen, jetzt, wo das ehemals wichtigste Unternehmen der Region sich anders ausrichten muss. [...] Die zahllosen Besucher Spitzbergens wollen durch Erfahrungen und Informationen bereichert werden. [...] So festigen wir die Rolle Spitzbergens in der Welt und schaffen Arbeitsstellen und neue Werte, Freude, Selbstbewusstsein und Geist.

Autorin:

Holmens Statement betont auffällig stark den Kompensations- und Warenwert von Kunst und Kultur. Ein Handelsdenken, dass sich auch an der Nutzarchitektur entlang der einzigen Straße vom Flughafen zum Zentrum Longyearbyens ablesen lässt: Lagerhallen aus Wellblech, ein kastiges Kohlekraftwerk, schmucklose Hafengebäude, Garagen, in denen zahlreiche Schneemobile für die abenteuerlustigen Touristen parken. Ist Kunst also ein neuer Wirtschaftszweig, der den Niedergang der Kohleindustrie abfedern und die Tourismusbrache unterstützen soll? „Artica Svalbard“ geht es um mehr, um ein anderes Denken – auch in der Politik. Um dieses neue Denken anzuregen, setzen die Veranstalter auf die extreme Temperatur, das Licht, die überwältigende Landschaft. Der Körper reagiert auf die ungewohnten klimatischen Verhältnisse und viele Teilnehmerinnen fühlten sich desorientiert. Sie nutzten die Verunsicherung produktiv, legten ihre gewohnte Arbeitsroutine ab und ließen sich bereitwillig auf Einschätzungen ihrer Kolleginnen ein. So wurden neue Zugangsweisen zu den Problemen in der Region entwickelt.

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Katya Garcia-Anton, O-Ton:

Arriving in Svalbard […]

[…] in one way or another.

Übersetzerin:

Allein die Ankunft auf Spitzbergen ist schon ein Erlebnis, wenn Sie aber mitten in der Licht-Saison hier her kommen – wenn es rund um die Uhr hell ist, dann ist das ein ganz schöner Schock für Ihren Körper. Die Leute fürchten sich ja normalerweise eher vor der lichtlosen Zeit, weil sie nicht verstehen, wie aggressiv es auf den Körper wirkt, wenn er 24 Stunden am Tag Licht ausgesetzt ist. Und ein Fazit, das viele der Konferenzteilnehmer zogen, war die Anstrengung während ihrer Zeit hier. Sie waren auch sehr angeregt – fast zu angeregt - und das hat sie erschöpft. Aber diese dauernden „Über- Anregung“ führte auch zu einer Verschiebung ihrer festgelegten Einstellungen und Haltungen, und sie waren den anderen gegenüber offener. Und so entstand etwas Verbindendes, eine Gemeinsamkeit, die sich auf irgendeine Weise niedergeschlagen hat.

Atmo

Autorin:

Mit den extremen Bedingungen und dem Kick des Ungewöhnlichen wirbt auch die Tourismusindustrie. Und die Menschen aus den wärmeren Weltregionen kommen und beginnen ihren Tag gegen acht Uhr morgens mit einigem Krach: In den privaten Hundezwingern spannen Touristen unter Anleitung die Tiere vor Schlitten, in denen sie dann warm eingepackt stundenlang durch die Schneewüste fahren. Geschäftstüchtige Unternehmer vermieten Schneemobile an Selbstfahrer, die mit jaulenden Motoren durch das weite Adventtal in Richtung Osten rasen, in der Hoffnung, dort einen der 5000 Eisbären vor die Kamera zu bekommen.

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Katya Garcia-Anton, O-Ton:

You know, Svalbard is […]

[…] under huge pressure.

Übersetzerin:

Spitzbergen ist ja auch ein sehr begehrter Archipel und ökonomisch interessant. Und wie ich von den Wissenschaftlern höre, mit denen ich im Gespräch bin, ist es mit der Kapazität der Touristen, die es aufnehmen kann, schon am Limit. Es gibt ja die Kreuzfahrtschiffe, die jeweils mit 3000 Leuten hier ankommen – also es ist schon nachvollziehbar, warum die Menschen, die hier wohnen, die dunkle Jahreszeit der hellen Jahreszeit vorziehen, weil sie sich in der hellen Jahreszeit völlig überfordert fühlen von den Touristenmassen. Da gibt es also eine Grenze. Und darum möchte ich mich stark machen für ein Spitzbergen, das weltweit zu einem intellektuellen Brennpunkt wird – verstehen sie – auf immaterielle Weise wichtig. Denn so könnten wir diese einzigartige Region erhalten, die bereits sehr unter Druck steht.

Atmo

Autorin:

Ich mache mich auf zu meinem nächsten Gesprächspartner, Magne Furuholmen, den ich in einem dieser teuren Hotels mit Hüttenschick treffe: Thema der Einrichtung ist die Vergangenheit Spitzbergens als Stützpunkt für Trapper und Walfänger. Wir sitzen auf sorgfältig roh belassenen Holzbänken, auf Fellkissen, die Wände sind mit Leinen bespannt. Kein Fernseher und Internetzugang auf den Zimmern. Furuholmen ist einer der Mitgestalter von „Artica Svalbard“. Selbst Grafikkünstler und bekannt als Keyboarder der norwegischen Pop-Band „a-aha“, vertritt er hier die Institution des Queen Sonja Print Award.

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Furuholmen, O-Ton:

My theory when I first came up here […]

[….] and a printmaker.

Übersetzer:

Noch bevor ich zum ersten Mal hier her kam, dachte ich, Mensch, wenn es wirklich ein echtes Stipendien–Programm für meinen Grafikbereich in Spitzbergen gäbe, fände ich das viel interessanter als ein Stipendium für, sagen wir, New York oder Paris. Hier Drucke machen zu können! Und wenn mir das so geht, dann geht es anderen doch bestimmt genauso. Und das hat sich bewahrheitet. Fast alle, mit denen wir darüber reden, sind begeistert und äußerst positiv. Es hat etwas von einer Expedition, und die Gesellschaft hier unterscheidet sich sehr von den meisten, urbanen Gesellschaften, zu denen man als Künstler Zugang hat. Normalerweise sind die Orte, an denen man sich aufhält, ja viel zentraler. Die Menschen hier sind anders als Gruppe. Man erhält ein anderes Feedback.

Autorin:

Vielfalt auf engem Raum unter extremen klimatischen Bedingungen, das bestimmt die Bevölkerung von Longyearbyen. Da kommt es vor, dass die Frau hinterm Tresen des Karlsberger Pub einst Richterin in Oslo war oder ein Lehrer in der Midlife-Crisis jetzt Funktionskleidung für Schneewanderer verkauft.

Furuholmen, O-Ton:

And then we started […]

[…] in record time.

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Übersetzer:

Und dann haben wir uns zusammengesetzt und erste Ideen zusammengetragen. Und uns gefragt, wie könnten wir etwas Interessantes hier konzipieren, das es in der Form noch nicht gibt: Wäre es machbar, dass unterschiedliche Institutionen ihr eigenes Stipendienprogramm kuratieren, das sich aber bewusst in Zeiträumen überschneidet, sodass eine produktive Dynamik entsteht – und damit etwas, dass weniger formalisiert ist und mehr Unkalkulierbarkeit zulässt, was besser zu dieser Umgebung passt. Und so kam es dann. Das Kulturministerium hat sich mit eingebracht, und die haben die Sache sehr schnell vorangebracht.

Autorin, O-Ton:

Do you know what […]

[…] their perspective on life

Autorin über ihren O-Ton:

In den drei Tagen, die ich jetzt hier bin, ist mir aufgefallen, dass ein gewisser Pioniergeist herrscht. Es gibt sehr viele junge Leute hier, oft internationale Hipster, die ihr Leben verändern wollen, ihr Glück suchen -

Furuholmen, O-Ton

- ja! I think that’s also […]

[…] international interaction

Übersetzer:

Das ist auch an anderen Orten mit hoher Fluktuation so, glaube ich. Die Leute bleiben hier ja im Schnitt so um die vier Jahre – aber trotzdem: das ist ja hier 13

wie in einem kleinen Dorf: die Leute sehen sich dauernd und müssen sich auf einander einlassen. Aber zu diesem Dorfcharakter kommt ein vitaler Strom des ständigen Wechsels und Wandels. International gemischt ist Spitzbergen ja ohnehin. Die Russen sind fest hier, die Japaner, und Longyearbyen war immer ein Ort des internationalen Austauschs.

Autorin:

Darum ist es Furuholmen sehr wichtig, die Bewohner in die Entwicklung des ambitionierten Kulturprojekts mit einzubeziehen.

Furuholmen, O-Ton:

[…] There has to be enthusiasm

[…]otherwise it doesn’t work.

Übersetzer:

Die Leute hier waren sehr enthusiastisch. Man kann so ein Projekt ja nicht einfach von außen managen. Man kann Leute hier hoch schicken, die Ideen beisteuern, dass Leute kommen und gehen, kennt man hier ja. Aber so ein Projekt muss sein Fundament hier haben und von den Leuten als ihres eigenes betrachtet werden.

Autorin:

Furuholmen hat einen Raum gefunden, in dem die Druckwerkstatt mit der von Königin Sonja gestiftete Druckerpresse unterkommen konnte.

Furuholmen, O-Ton:

[…] I have to admit 14

[…] over time

Übersetzer:

Es war einfach die ideale Location. Vor allem war sie praktisch. Nicht zu protzig, eine kleine, heruntergekommene Lagerhalle, vollgestopft mit alten Möbeln und staubigen Ersatzteilen für Autos. Sie kennen das: Überall machen die Künstler etwas aus leerstehenden Industriegebäude. Geben ihnen ein neues Leben. Die ganze Infrastruktur war schon da: Licht und all das. Ich dachte einfach nur: das ist es. Direkt neben einer bestehenden Kunstinitiative, die das Neue anfangs vielleicht nicht mit offenen Armen empfangen hat. Aber ich war mir sicher, dass das mit der Zeit kommen würde.

Atmo: Überleitung zu meinem Besuch in der Druckwerkstatt. Hunde, Autos, Wind, Eis

Kelsey Comacho O-Ton:

[…] And I like that sense

[…] for the community.

Übersetzerin:

Mir gefällt das Gefühl, dazu zu gehören. Das hier ist ein schöner Raum für uns alle.

Atmo

Autorin:

Wieder habe ich mir die warmen Stiefel festgeschnürt, Furuholmen seinen Pflichten überlassen und mich bei minus 25° C durch ein Schneetreiben zur Druckwerkstatt durchgeschlagen. Sie liegt am Ende der Hauptstraße in einem kleinen Industriegebiet, direkt am Fjord. Milchiger Dunst zieht über die gefrorenen Wellen, auf dem Kiesstrand schimmern winzige Eiskristalle. 15

In der schlichten Halle aus Metall treffe ich auf ein Gruppe junger Leute aus den USA, aus Japan und Großbritannien.

Kelsey Comacho, O-Ton:

[…] Lately

[…] a normal place.

Übersetzerin:

In letzter Zeit – und damit meine ich die letzten fünf Jahre oder so, habe ich mich sehr zum Norden hingezogen gefühlt. Die Landschaft hier, vor allem der Unterschied zwischen Licht und Dunkelheit, das Wetter – und wie sich das alles auf den Menschen auswirkt. Man nimmt das Nördliche ja nicht nur körperlich auf, sondern mit dem ganzen Wesen. Und das wollte ich selbst erleben. Das und diese spezielle Schlichtheit – vor allem als Schriftstellerin. Ich wollte mich mehr aufs Lesen und Schreiben konzentrieren. Anderswo wird man ja ständig abgelenkt.

Autorin:

Kelsey, eine junge Schriftstellerin aus den USA, die ihren Lebensunterhalt als Schlittenhund-Guide verdient, ist Stipendiatin von Artica Svalbard. Mir scheint, dass sie in der langen Tradition von Autorinnen, Forschern und Abenteurern steht, für die der hohe Norden, das endlose Weiß am Ende der Welt, ein Sehnsuchtsort ist. Symbol eines Freiraums, in dem Selbstfindung und Neuerfindung möglich ist.

Kelsey Comacho, O-Ton:

[…] I think I actually 16

[…] would you like to hear it?

Autorin, O-Ton: I’d very much love to.

Kelsey, O-Ton:

Okay: “

On the glacier front columns of ice spiked the air like a crown

We were looking at the bears beneath it

Sleeping in what seemed like dreams of indifference

It was Sunday

They had nowhere to be

Across the bay in the abandoned Russian town

We passed around a bottle of Vodka

As we walked through deserted buildings

The kindergarden, the swimming hall

Imagining what it was like to grow up there

Now the main street is overgrown

They still call it Broadway

And from the statue of Lenin our voices echoed away and were gone

Birds nested in the broken windows,

Books in the class room open and waiting

How strange to hear silence where there’s buildings

Even when the walls are crumbling, foundation shifting 17

You said you felt younger than you were

That you felt unsure how time kept moving

“We’re not so different”, you said

But I already knew

The sun warmed the arctic air

The day was achingly blue

We walked from room to room.

It was a well-preserved frozen loneliness

Leaves still hanging from dead trees in the cafeteria

No winds to bring them down

Übersetzerin:

Zufällig habe ich heute ein Gedicht geschrieben und an einen Freund geschickt – ich müsste es noch in meinem Telefon haben. Es handelt von dem verlassenen russischen Städtchen Pyramiden.

Wollen Sie es hören?

„Pyramiden“

Auf der Abbruchkante des Gletschers ragen gezackte Säulen aus Eis in die Luft /

Wie eine Krone.

Wir blickten hinunter auf die Bären, die da lagen /

Einen gleichgültigen Traum träumend, wie es uns schien.

Es war Sonntag /

Sie mussten nirgendwo hin. 18

Gegenüber der Bucht /

In der toten russischen Stadt /

Ließen wir eine Flasche Wodka herumgehen /

Auf dem Weg durch menschenleere Gebäude /

Den Kindergarten, das Schwimmbad.

Und wir stellten uns vor, wie es gewesen sein muss /

Hier groß zu werden.

Die Hauptstraße ist überwachsen /

Und heißt doch immer noch Hauptstraße.

Und unsere

Stimmen hallten von der Leninstatue zu uns zurück und verschwanden /

Vögel nisteten in den zerbrochenen Fenstern /

Bücher im Klassenzimmer, geöffnet und wartend.

Merkwürdig, diese Stille, umgeben von Häusern /

Selbst wenn die Mauern zerfallen, das Fundament verrutscht.

Du sagtest, dass du dich jünger fühlst, als du bist /

Und nicht sicher seist, wie die Zeit sich bewegt.

„Wir sind nicht so verschieden voneinander“, sagtest du /

Aber das wusste ich schon.

Die Sonne wärmte die arktische Luft /

Der Tag war schmerzhaft blau.

Wir gingen von Raum zu Raum /

Durch eine gut erhaltene, tiefgefrorene Trägheit, 19

Blätter hingen an den toten Bäumen /

In der Cafeteria.

Kein Wind, der sie zur Strecke bringt.

Kelsey, O-Ton:

[…] I don’t really see the self

[…] the self is always moving.

Übersetzung:

Ich verstehe das Selbst eher nicht als etwas Stagnierendes, Festgelegtes, das man definieren und „finden“ kann. Das Selbst verändert sich ständig und wird beeinflusst, wächst also, durch seine Umgebung.

Autorin:

Chris aus London, der an der hiesigen Universität Astrophysik studiert, hält Longyearbyen für den idealen Ort, an dem man sich neu erfinden kann.

Chris, O-Ton:

[…] OK, so I feel like […]

[…] a much wider outlook on life.

Übersetzer:

Ich denke immer, wenn ich hier aufgewachsen wäre, hätte ich vermutlich einen viel weiteren Blick auf die Welt. Hier kommen ja dauernd neue Leute 20

hin, man begegnet sich und lernt viel dazu. Ich komme aus einem ziemlich geschlossenen, kiezartigen Zusammenhang, wo jeder die gleichen Ansichten hat und man selten neue Leute kennenlernt. Als Kind und Jugendlicher hing ich also in einem Umfeld fest, wo alle das gleiche Weltbild hatten und sich eigentlich nichts bewegte. Wenn ich im Umfeld einer Uni wie dieser hier aufgewachsen wäre, hätte ich sicher einen sehr viel weiteren Horizont.

Autorin:

Würde Chris sich mit seiner Arbeit von der Ansicht eines Künstlers aus dem Konzept bringen lassen?

Chris, O-Ton:

Definitely, definitely […]

[…] if that makes sense.

Übersetzer:

Ja! Unbedingt! Wenn man Naturwissenschaftler ist, dann entwickelt man seine Theorien anhand von Fakten. Und wenn einen ein Künstler aus der Bahn wirft und einem einen völlig neuen Blick auf sein Feld ermöglicht, akzeptiert man diese neuen Fakten. Man passt sich an sein neues Umfeld an – will ich mal sagen.

Autorin:

Kelsey erzählt dann doch auch von den Schwierigkeiten, mit einer oft wechselnden, heterogenen Bevölkerung unter extremen klimatischen Bedingungen auf engem Raum zu leben.

Kelsey, O-Ton:

But, I guess […]

[…] sample population (lacht). 21

Übersetzerin:

Das liegt wahrscheinlich daran, dass keiner tatsächlich von hier ist. Nicht viele Leute können von sich sagen: Ich bin hier aufgewachsen und geblieben. Wir sind eine merkwürdige Gemeinschaft: Alle hierher verpflanzt. Aber ich kenne viele, die auch länger bleiben wollen und nicht nur zur Stippvisite. Und manchmal gibt es Spannungen, zwischen den hier Ansässigen und den Kurzbesuchern, die verstärkt werden, weil wir eine kleine Community sind. Ein perfekter Bevölkerungsdurchschnitt und darum so etwas wie ein soziologisches Experiment.

Autorin:

Kelsey bedauert, dass sie nirgendwo einfach nur schreiben kann, ein Buch lesen, sich konzentrieren. Immer muss ein Café Latte bezahlt werden, ein Craft Beer oder ein Lachssandwich. Auch darum ist die Druckwerkstatt als Angebot und Treffpunkt für alle so wichtig.

Kelsey, O-Ton

‘cause a lot of the time […]

[…] at a coffee shop .

Autorin:

Dass es wenige Rückzugsorte gibt, kann man auch an meinen Aufnahmen hören. Dieser Fokus auf den Gebrauchswert von Gebäuden ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Longyearbyen in seiner gut einhundertjährigen Geschichte immer eine auf Funktionalität und Handel bedachte Siedlung war. Hier lebten die Bergarbeiter, hier tranken sie abends, hier wurden Geschäfte gemacht. Heute sind weitere Verkaufs- und Konsumstätten hinzugekommen, wo man die perfekte Extremsportausrüstung shoppt oder raffinierte Kaffee- und Biersorten trinkt. 22

Wie zweckmäßig schlicht die kastenhaften Bauten entlang der kleinen Geschäftsstraße sind, fällt mir besonders ins Auge, nachdem ich von einem Ausflug nach zurückkomme - einer der beiden russischen Enklaven auf Spitzbergen, die geradezu urban anmuten. Dort gibt es einen zentralen Lenin-Platz mit sozialistischer Skulptur und zwei Plattenbauten, auf den die Straßen vom Hafen und vom Kindergarten, vom Tante Emma Laden und von den Gruben zulaufen. Das Ensemble könnte ebenso gut in Berlin Marzahn oder einem Vorort von St. Petersburg liegen.

Katya Garcia-Anton, O-Ton:

Well, you see that’s fascinating in itself.

Übersetzerin:

Das ist ja per se schon ein interessanter Punkt. Und darum ist mir ja beim Nachdenken über die Zukunft des Archipels ein kenntnisreicher Blick in seine Geschichte so wichtig.

Katya Garcia-Anton, O-Ton:

And this is why […]

[…] that kind of thinking.

Übersetzerin:

Warum beharren wir so darauf, einer komplett anderen Gegend der Welt wie etwa Spitzbergen unser bekanntes urbanes Umfeld aufzuzwingen. Das wäre doch ein fantasievoller Schritt in die Zukunft, solche Fragen zu stellen. Und warum kommen die Entscheider nicht von sich aus darauf, ihr Handeln einmal zu hinterfragen? Das wäre eine sehr, sehr wichtige Denkrichtung, und würde Fragen zur Ökologie nach sich ziehen und zu unserem Verhältnis zur Umwelt 23

generell. Die Kunstwelt ist ja sehr theoriefreudig und so ein Denken müsste sie eigentlich interessieren.

Autorin:

Das Kulturhyset in Longyearbyen ist ein Neubau, der versucht, sich den ortsspezifischen Gegebenheiten anzupassen: Die Architektur spiegelt die steilen Berghänge, das arktischen Farbenspiel und die Barackenform der Bergarbeiterwohnungen.

Im Kulturhaus eröffnet Königin Sonja mit einer schwungvollen Rede vor vollbesetztem Haus das Stipendien-Programm „Artica Svalbard“.

Eröffnungsveranstaltung, Kameras klicken, Vorstellung Königin Sonja von Norwegen, Lacher etc.

Königin Sonja, O-Ton:

1:41:595 - 1:52:368

Übersetzerin:

Wie fasst man Svalbard zusammen? Licht, Stille, Unendlichkeit …

Autorin:

Mette Henriette tritt auf. Die international bekannte Saxophonistin ist eine der Stipendiatinnen. Sie stellt der überwältigenden Landschaft mit ihrer Komposition eine abstrakte Naturstimme entgegen.

Atmos: Mette Henriette, Husten aus dem Publikum etc.

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Autorin:

Nach der Eröffnung lerne ich im Café des Kulturhyset Lars kennen. Er ist Mitte Dreißig, Bergarbeiter und arbeitet seit zwölf Jahren in der letzten noch bewirtschafteten Kohlegrube. Die gefährliche, anstrengende Arbeit im Stollen zieht auch den Typus Abenteurer an: Menschen, die nach Spitzbergen kommen, um sich den Gefahren der Natur auszusetzen.

Autorin:

Aber für ihn, Lars, sei dies ein ganz normaler Job und hätte nichts Abenteuerliches. Darum ginge es ihm und den Kollegen ganz und gar nicht. Und die wenigen, die wegen des Kitzels kommen, seien nach sechs Monaten wieder weg.

Sein kleiner Sohn kommt angelaufen und versteckt sich unter dem Tisch. Ob das nicht ein gefährlicher Job ist, für einen Familienvater, will ich wissen, und Lars winkt ab.

Nur aus der Grubenwehr sei er ausgetreten.

Lars, O-Ton:

For us, it’s not an adventure […]

[…] any more.

Autorin, O-Ton:

You also have a family – as we can hear.

Lars, O-Ton:

Oh yeah.

Autorin, O-Ton:

Your little son, Thor, crawling under the table. You wouldn’t want to risk anything, obviously – 25

Lars O-Ton:

No, no, no […]

[…] fire brigade.

Autorin:

Ich frage Lars, wie er den Ansturm internationaler Hipster hier oben erlebt. Als jemand, der für Lonyearbyener Verhältnisse nun schon so lange hier lebt.

Dass sie wohl auf der Suche nach einem Wahnsinnserlebnis seien, meint er. Sie arbeiten als Wanderarbeiter im Pub oder im Café oder in der Tourismusbranche. Und dann gingen sie woandershin, auf der Suche nach dem nächsten Wahnsinnserlebnis.

Ob sie dem Ort auch etwas geben, will ich wissen.

Lars denkt nach und meint dann: Na, vielleicht, stellen sie ja ein paar Fotos ins Netz.

Lars, O-Ton

I would say […]

[…] need to experience.

Autorin, O-Ton:

Do you think they contribute anything to Longyearbyen?

Lars O-Ton:

Well […]

[…] I don’t know (lacht). Yeah.

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Autorin::

Wie es scheint, leidet auch die Arktis unter der Gentrifizierung. Wie sieht der Bergarbeiter so etwas wie das Stipendienprogramm?

Und was hält er von der Kunst, die in diesem Zusammenhang entsteht?

Lars versucht, gerecht zu sein. Er interessiere sich mehr für die zupackenden Künstler, etwa die aus der Druckwerkstatt. Oder die Bildhauer, die Metall schweißen und schwer arbeiten.

Aber das sei seine persönliche Meinung.

Als Bergarbeiter denke er nun einmal mit dem Händen.

Lars, O-Ton:

You mean the artists?

Autorin, O-Ton:

Mhhm. Yes, the artists that come up here for -

Lars, O-Ton:

“Artica”? […]

[…] I think with my hands.

Atmo: Panel in Druckwerkstatt mit Künstlerin A K Dolven und Koch Benjamin Vidmar

Autorin:

Vielleicht könnte ein Denken und Handeln im Eis auch so aussehen, wie Benjamin Vidmar es gestaltet. Der Erfinder von „Polar Permaculture“ kooperiert mit dem Residency-Programm und war am Eröffnungswochenende in einer Gesprächsrunde zwischen Künstlern und Anwohnern zu hören.

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Benjamin Vidmar, O-Ton

It’s bigger than me […]

[…] I can’t do it all.

Übersetzer:

Das Projekt geht ja nicht nur mich etwas an. Jeder stellt so große Erwartungen an mich. Ich bin aber kein super Landwirt, ich bin ja noch nicht einmal Biologe. Ich bin einfach nur ein Typ, der was Frisches zu essen haben will.

Atmo

Autorin:

Benjamins Firma interessiert mich. Und so stapfe ich durch den Schnee, zum Ortsausgang von Longyearbyen, vorbei an Straßenschildern, die vor Eisbären warnen und besuche den Unternehmer in seinem Gewächshaus, in dem die ökologische Heizanlage brummt.

Benjamin Vidmar, O-Ton:

Hi my name is Benjamin Vidmar […]

[…] here in town.

Übersetzer:

Ich heiße Benjamin Vidmar, komme aus Florida und wohne seit 2008 hier. Wir arbeiten hier an einem Projekt, in dem wir versuchen, vor Ort Gemüse anzubauen und eigene Ressourcen zu schaffen: Wir machen kompostierten Mutterboden mithilfe von Würmern und andere Dinge, um hier auf lange Sicht einen Wirtschaftskreislauf herzustellen. 28

Benjamin Vidmar, O-Ton

I’m a chef […]

[…] what happened.

Übersetzer:

Ich bin von Hause aus Koch und habe erst auf Schiffen gearbeitet, dann in Restaurants hier. Dann fiel mir eben auf, dass es hier keine frischen Lebensmittel gibt, weil das hier eine Inselgruppe ist und alles mit dem Schiff gebracht werden muss. Das Beste, was man kriegen kann, ist Tiefkühlkost. Und ich wusste, dass man überall in der Arktis Lebensmittel anbaut: in Alaska, in Kanada, in Skandinavien, in Russland. Wieso ist da keiner drauf gekommen? Also haben wir uns ran gemacht, nur um zu sehen, ob das überhaupt klappt.

Autorin:

Das Geschäft mit lokal angebautem Gemüse und Kräutern läuft schon recht gut. Benjamin beliefert Restaurants, und die Anwohner bringen ihren Biomüll zur Weiterverwertung her. Viele aus der Gemeinde wollen sich auch einfach nützlich machen.

Und manchmal schauen die Betreiber der nahe gelegenen Saatgutbank in Bens Gewächshaus vorbei. Dann erläutern sie ihren Besuchern vor der Kulisse dieses landwirtschaftlichen Betriebs die Idee ihrer „Global Seed Bank“: Seit 2007 lagern in der stillgelegten Grube 7, nach einer Art Arche- Noah- Prinzip, unzählige Pflanzensamen, gut bewacht und bei gleichbleibend kalten Temperaturen. Sie sollen den Fortbestand der Pflanzenvielfalt sichern. Die Idee wurde weltweit gut angenommen.

Das brachte ein norwegisches Unternehmen 2017 auf eine neue Geschäftsidee: Die Firma heißt PIQL - was im Deutschen etwa „Einweckware“ bedeutet. Ziel ist es, in Grube 3, direkt neben dem Saatgutspeicher, das 29

„Arctic World “ einzurichten. Auf ihrer Website versprechen sie die „einzige zukunftssichere Lösung“, Archivexponate von historischem Wert zu lagern.

Atmo unter O-Ton: Schritte auf dem vereisten Boden von Grube 3

Autorin, O-Ton

Nice and cool down here – I suppose that the people who work here will always be wearing some warm padded suit, like we’ve seen with the miners (Pal: Ja)

Pal Berg, O-Ton:

This is actually […]

[…] good places to work.

Autorin, O-Ton

I see … It’s just an interesting thought that this is where the world heritage will travel (Pal: Yeah, lacht)

Pal Berg, O-Ton

It’s a nice bridge […]

[…] for the future.

Autorin:

Schön kalt hier unten – Ihre Angestellten tragen wahrscheinlich dick gefütterte Overalls. 30

Übersetzer:

Hier ist es sogar noch angenehm. Im November, Dezember haben wir draußen ja tiefe Minusgrade. Wind und Kälte zusammen genommen sind dann sehr intensiv. Hier drinnen lässt sich‘s dann besser arbeiten.

Autorin:

Und hier soll also das kulturelle Welterbe hin.

Übersetzer:

Eine interessante Brücke zwischen der Tradition und Zukunft, finde ich. Man benutzt eine historische Stätte wie die hier, um etwas für die Zukunft zu bewahren.

Autorin:

Pal Berg, der das Projekt „Arctic World Archive“ in Grube 3 managt, findet das Einlagern von Archivmaterial „für die Ewigkeit“ ideal.

Als ich später wieder in der Stadt bin, erzählt mir Eirik Berger, der stellvertretende Bürgermeister von Longyearbyen, warum Spitzbergen seiner Meinung nach die perfekte Hüterin des kulturellen Welterbes ist.

Eirik Berger, O-Ton:

And to do it on Svalbard […]

[…] preserving information for the future.

Übersetzer:

Wir machen das auf Svalbard, weil es ein sehr sicheres Gebiet ist. Hier herrscht Permafrost, das heißt, wir haben tief im Berginneren gleichbleibend niedrige Temperaturen. In geopolitscher Hinsicht ist es hier sicher – keine Kriege oder Spannungen. Wir denken und hoffen, dass die Lage hier über 31

Jahrhunderte stabil bleibt. Bei uns gibt es auch keine Naturkatastrophen, durch die die hier gelagerten Stücke zerstört werden könnten. Spitzbergen erfüllt also viele Sicherheitsfaktoren. Kürzlich waren der Direktor des Nationalarchivs von Brasilien und ein Vertreter des mexikanischen Nationalarchivs hier und eröffneten das Archiv mit den ersten, auf Film gespeicherten Objekten. Sie waren begeistert. Das war der erste Schritt auf dem Weg, auf Spitzbergen den weltweit ersten und wichtigsten Informationsspeicher zu gründen, der Wissen für die Zukunft sichert.

Autorin:

Alle diese norwegischen Projekte im ewigen Eis erscheinen auf den ersten Blick perfekt und ethisch einwandfrei zu sein. Und doch gibt es kritische Stimmen. Unterwegs zurück nach Berlin besuche ich Morten Stroeksnes in Oslo. Er ist Journalist und Autor eines Bestseller-Romans mit dem Titel: „Das Buch vom Meer oder: Wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um einen Eishai zu fangen und dafür ein ganzes Jahr brauchen“. Man hatte ihn zur Teilnahme an der Konferenz „Thinking at the Edge of the World“ eingeladen, doch er hatte abgelehnt. Was stört ihn an der Vorstellung, dass die Kunst ganz konkret Orte schaffen kann, Begegnungsorte wie etwa die Druckwerkstatt, von denen gute Dinge ausgehen können.

Autorin:

Kann er nicht damit leben, wenn an einem kommerziell ausgerichteten Ort, der stellvertretend für globale Zustände steht, ein Projekt anstößt, das dieser Dynamik etwas entgegensetzt. Und dann wie unter Laborbedingungen beobachtet, was passiert.

Autorin, O-Ton:

So, I thought […]

[…] which allows people to think, to talkorten Stroeksnes, O-Ton:

I don’t mind that (lacht). But who’s funding this? 32

Übersetzer:

Dagegen habe ich nichts. Aber wer bezahlt das?

Autorin, O-Ton:

I think it’s being funded by the Norwegian State and -

Autorin:

Der Norwegische Staat und -

Morton Stroeknes, O-Ton:

I think so too […]

[…] less commercially minded (lacht) – no.

Übersetzer:

Das glaube ich auch! In Ihrer Darstellung klingt das so, als sei es ein Projekt ohne Hintergedanken. Einzig zum Wohl der Menschheit. Ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil, ehrlich gesagt. Wir befinden uns im Wettrennen um die Pole, um den Norden, seine Bodenschätze und Ressourcen: Bohrungen, Fischfang, Handelswege – Sie wissen schon. Und auch was die Kunst im Norden angeht, herrscht Goldgräberstimmung. Wenn Sie die richtigen Formulierungen draufhaben, kriegen Sie ganz bestimmt Fördergelder und Stipendien. Weil sie da gerade Geld reinpumpen und wissen Sie warum? Weil der Kunstbetrieb dafür sorgt, dass der Prozess wie geschmiert läuft. Ich habe ganz vergessen: Die Öl- und Gasfirmen unterstützen Kunst im Norden ja auch. Vor allem auf Spitzbergen: Weil es ja geopolitische Interessenskonflikte mit Russland gibt und man durch Kunst auf die Präsenz Norwegens aufmerksam machen will. Ob das ein freier Denkraum ist, der der Menschheit etwas nutzen soll? Nein.

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Autorin:

Katya Garcia-Anton kennt diese Skepsis und nimmt sie sehr ernst.

Katya Garcia-Anton, O-Ton:

I do understand […]

[…] those kinds of processes.

Übersetzerin:

Ich verstehe die Skepsis sehr gut. Auch innerhalb der internationalen Gemeinschaft wird es nicht wenige geben, die dem Projekt skeptisch gegenüber stehen. Darunter auch norwegische Künstler, deren Arbeit eher ökologisch ausgerichtet ist. Ich habe mich mit sehr vielen Leuten darüber unterhalten, was es bedeutet, auf Spitzbergen zu arbeiten – auch in Bezug zur Plattform „Artica Svalbard“. Sie wissen vielleicht nicht, dass ich von Hause aus auch Biologin und Feldstudien durchgeführt habe. Daher weiß ich um den Wert einer Arbeit, die sich eher unauffällig und längerfristig entwickelt. Und das sind meiner Meinung nach Qualitäten, die auch ein Projekt in diesem Teil der Welt bestimmen sollten. Und auf lange Sicht würde es Norwegen sehr viel bringen, sich diesem Denken anzuschließen. Nicht nur, weil diese Art zu denken so nachhaltig ist, sondern auch, weil Norwegen so viel investiert hat in sein Image als ethische Nation, eine, die auf Sozialdemokratie und sozialer Gerechtigkeit basiert.

Und in einem Projekt wie „Artica Svalbard“ sollte sich diese Identität wiederfinden.

Absage:

Spitzbergen. Vom Denken und Handeln im Eis

Ein Feature von Gaby Hartel 34

Es sprachen: Sören Wunderlich, Louis Friedemann Thiele,

Andreas Meidinger, Sigrid Burkholder, Naghme Alaei und die Autorin

Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Jens Müller und die Autorin

O-Tonschnitt: Oliver Brod

Regie: Matthias Kapohl

Field Recordings: Chris Watson und Gaby Hartel

Redaktion: Tina Klopp

Gefördert durch die Film- und Medienstiftung NRW

Produktion: Deutschlandfunk 2019