64. Jahrgang · Nr. 248 · juni 2013 Die Österreichische Volkshochschule Magazin für Erwachsenenbildung

Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement lokal, national, europäisch

Armut und DeDemmokratieokratie Zweifel an der Fernsehpreis der in Europa Demokratie? Erwachsenenbildung Chancen und Demokratieentwicklung in Axel-Corti-Preis an Konflikte einem Mehrebenensystem Kurt Langbein Seite 5 Seite 27 Seite 36 Inhalt

Editorial 1 „Neue Denkansätze für die Bildung“ Leitbild 2 Neues Leitbild des vöv Medienpreise 4 Medienpreise der österreichischen Erwachsenenbildung Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement 5 Armut und Demokratie in Europa – Chancen und Konflikte 10 Eine kritische Annäherung an „Rethinking Education“ und die Notwendigkeit, Fertigkeiten zur Bürger/innenbeteiligung zu entwickeln 15 Dachverbände – Dinosaurier oder Notwendigkeit? 17 Wir sind Europa! 19 Politische Bildung in der Basisbildung 22 Lernen bewegt! – und die Folgen 23 „Wege zum Weltwissen“ – eine Kursreihe der Vorarlberger Volkshochschulen 24 Politische Bildung im ländlichen Raum 27 Zweifel an der Demokratie? Bildungsthemen aktuell 29 Gesundheitsförderung – auf drei Säulen 32 Gesunde Impulse für VHS-Kursleiter/innen in Niederösterreich 33 Lebendige Qualität durch Information und Austausch 34 ADUQUA – Quality Assurance in Integration Training for Adult Migrants Fernsehpreis 36 Fernsehpreis der Erwachsenenbildung 42 Begrüßungsrede zur Fernsehpreisverleihung 42 Dankesrede zum Axel-Corti-Preis 2013 43 (1933 - 1993) – eine biografische Skizze Geschichte 44 Gründung von unten Aus den Volkshochschulen 46 Volksbildungspreis der Stadt Wien für „Science Busters“ 47 Volkshochschule Salzburg: Neu in der Strubergasse 26 Rezensionen 48 Barbara Prammer: Wir sind Demokratie. Eine Ermunterung 49 Christina Auer: Fremdsprachenerwerb Erwachsener in der Weiterbildung 50 Michael J. Sandel: Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun? 51 Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland Autor/innen 52 Für diese Ausgabe der Österreichischen Volkshochschule schrieben 53 Impressum Editorial „Neue Denkansätze für die Bildung“

gerhard bisovsky

Unter diesem deutschen Titel wurde von der Europäi- anzusprechen, die noch nicht beziehungsweise nicht schen Kommission im Dezember letzten Jahres eine Mit- mehr am Arbeitsmarkt sind. Sie erreichen aber auch je- teilung veröffentlicht, die – so hört man das immer wie- nen Teil der gesellschaftlichen Mittelschicht, der seine der von den Vertreter/innen der Kommission – aufgrund Kompetenzen verbessern und Qualifikationen „updaten“ des Drucks der Mitgliedsstaaten entstanden sei, welche und/oder sein kreatives Potenzial verbessern will. die Prioritäten auf die Bekämpfung der Jugendarbeitslo- Schließlich ist nicht zu unterschätzen, dass die Volks- sigkeit legen. hochschulen ein wichtiger Arbeitgeber sind. Sie beschäf- Dass die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ein tigen mehrere tausende Lehrende und über tausend Mit- wichtiges Thema der Beschäftigungspolitik und auch der arbeiter/innen, die administrativ, pädagogisch-planend, Bildungspolitik ist, ist keine Frage. Auch die österreichi- beratend und leitend tätig sind. schen Volkshochschulen zeigen, welche Beiträge sie hier Mehr Investitionen in die non-formale Erwachsenen- leisten können. Gleichzeitig sollten wir aber nicht ver- bildung und insbesondere in Volkshochschulen lohnen gessen, dass nicht nur Jugendliche von Beschäftigungslo- sich daher allemal, denn mit der Breite ihres Angebotes sigkeit betroffen sind, sondern auch Menschen mittleren erreichen sie Menschen in verschiedenen Lebensphasen, Alters und ältere Menschen. Auch hier sind Maßnahmen leisten einen wichtigen Beitrag zur Weiterqualifizierung zu treffen, damit Situationen wie jene, in denen Jugend- aber auch für das Zusammenleben und den sozialen Zu- liche in Beschäftigungsmaßnahmen sind, während deren sammenhalt. Darüber hinaus bilden die Volkshochschu- Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen sind, vermieden len eine Brücke zwischen dem non-formalen Lernen in werden können. der Erwachsenenbildung und dem formalen Lernen in Der Fokus von „Rethinking Education“, so der engli- Schulen und Universitäten. Selbst Menschen mit negati- sche Titel der Mitteilung, wird auf Schlüsselkompeten- ven Lernerfahrungen werden mit entsprechenden Ange- zen gelegt, wie etwa Grundbildung (Lesen, Schreiben, boten in Lernprozesse integriert und mit ihrem flächen- Rechnen), Fremdsprachenerwerb, digitales Lernen und deckenden Angebot gelingt es den Volkshochschulen unternehmerische Kompetenz sowie implizit auf das sehr gut, Menschen dort anzusprechen, wo sie arbeiten, „Lernen lernen“ und auf Naturwissenschaften, Technik, leben oder auch ihre Ausbildung machen. Ingenieurswissenschaften und Mathematik (stem). Die von der Kommission beschlossenen und vom Europäi- // schen Parlament verabschiedeten Schlüsselkompetenzen Anlässlich des Europäischen Jahres der Bürgerinnen für lebensbegleitendes Lernen sind aber breiter angelegt und Bürger liegt der Schwerpunkt dieser Ausgabe im und umfassen auch die bürgerschaftliche und die kul- Bereich aktiver Staatsbürgerschaft. Es ist uns gelungen, turelle Kompetenz. Mit dem Argument, dass es dring- renommierte Autor/innen aus Österreich und aus ande- lichere Aufgaben gäbe, werden diese „übergeordneten ren Ländern für diese Ausgabe zu gewinnen, die die Hin- Aufgaben der Bildung“, wie die Vermittlung von aktivem tergründe gegenwärtiger Entwicklungen analysieren Bürgersinn oder der Beitrag zur persönlichen Entwick- und dabei auch aktuelle Politiken kritisch beleuchten. lung und zum persönlichen Wohlbefinden, ausgeklam- Demokratie ist, so der Soziologe Oskar Negt, die Staats- mert. Das ist durch nichts gerechtfertigt und sogar höchst form, die ständig gelernt werden muss. Eine Reihe von problematisch. Beiträgen aus der Praxis zeigt eindrucksvoll, was die Bildung und Weiterbildung leisten zweifelsohne ei- Volkshochschulen hier leisten. nen sehr wichtigen Beitrag für Beschäftigung und wirt- Der hoch angesehene Axel-Corti-Preis für besondere schaftliches Wachstum, allerdings führt ein zu enges erwachsenenbildnerische Leistungen ging heuer an den Verständnis des lebensbegleitenden Lernens leicht dazu, Sachbuchautor und Filmemacher Kurt Langbein. Die Bei- dass jene bevorzugt werden, die sich bereits in Lernpro- träge zur Verleihung des Fernsehpreises der Erwachse- zessen befinden und dass andere damit ausgeschlossen nenbildung finden Sie ebenfalls in dieser Ausgabe. Die sind. Das wiederum führt zur Erhöhung der Ungleich- historische Kolumne befasst sich dieses Mal mit der Ent- heit, die ein nicht zu unterschätzendes soziales Prob- stehung der Wiener Volkshochschule Ottakring, die sich lempotenzial darstellt, welches wir in mehreren europä- am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht Volkshochschule ischen Ländern aktuell beobachten können. nennen durfte. Hier können Volkshochschulen punkten. Sie errei- chen unterschiedliche Zielgruppen, auch solche mit ne- gativen Lernerfahrungen, die durch non-formale Lern- Ende September/Anfang Oktober erscheint die nächste Ausgabe der Settings besser in das Lernen integriert werden können. ÖVH, die sich dem Schwerpunkt „Bildung und Kunst“ widmen wird. Die Volkshochschulen verfügen über große Möglich- Redaktionsschluss ist Ende August 2013. keiten, auch junge Menschen und junge Erwachsene

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 1 VÖV-Leitbild

staatlichen Einrichtungen. Unser Ziel ist es hierbei, neue Impulse zu setzen und die Neues Leitbild des VÖV Politik im Bereich der Erwachsenenbil- dung mitzugestalten. Der Verband Österreichischer Volkshochschulen (VÖV) durchläuft seit Herbst 2012 Unsere Aufgaben gliedern sich in den Qualifizierungsprozess nachLQW (Lernerorientierte Qualitätstestierung in der folgende Bereiche: pädagogische Akti- Weiterbildung). Im Rahmen dieses Prozesses galt es, als ersten Schritt möglichst vitäten, Forschung, Entwicklung und partizipativ ein Leitbild zu erstellen und dieses intern und extern zu kommunizieren. Dokumentation sowie Publikationstätig- Ein Leitbild spiegelt die Identität einer Bildungsorganisation wider und informiert keit, Öffentlichkeitsarbeit und Lobbying. über deren Auftrag, Werte, Kooperationen, Fähigkeiten, Ziele, Leistungen und Wichtig ist uns in all unseren Tätigkeiten Ressourcen. Im abschließenden Teil definiert die Institution im Rahmen eines eine kritische und reflektierte, differen- LQW-Leitbildes, was sie unter „gelungenem Lernen“ und, wie in unserem Fall, zierte und wertschätzende Herangehens- was sie unter einer „gelungenen Serviceleistung“ versteht. weise und Aufbereitung. Wir orientieren uns am aktuellen Stand der wissenschaft- lichen Forschung und kommunizieren diesen entsprechend an unsere Auftragge- ber/innen.

1. Identität und Auftrag sehr bemüht, die Vielfältigkeit unserer 5. Leistungen Der Zweck des Verbandes Österreichi- Projekte und Aufgaben in einem offenen, Unsere Arbeit zeichnet sich durch eine scher Volkshochschulen (vöv) besteht in kreativen und vernetzten Arbeitsumfeld große Bandbreite an unterschiedlichsten der Verbreitung des Volkshochschulge- und vor internationalem und wissen- Service-, Wissenstransfer- und Koordina- dankens sowie in der Wahrung und in der schaftlichem Hintergrund [zu gewähr- tionsleistungen wie folgt aus: Förderung der gemeinsamen Interessen leisten und kontinuierlich zu verbessern. • Bildungspolitische Vertretung der ge- der in ihm zusammengeschlossenen Lan- Wichtig sind uns ein offenes Arbeitsklima meinsamen, ideellen und materiellen desverbände beziehungsweise Mitglieder sowie ein partnerschaftliches Verhältnis Interessen der Volkshochschulen und damit der Mitglieds-Volkshochschu- zwischen den Kolleg/innen, wodurch die • Vernetzungs- und Koordinationstätig- len. Der Verband übt seine Tätigkeit ohne erfolgreiche interne und externe Kommu- keiten für die Landesverbände Gewinnabsicht und gemeinnützig aus. nikation und das gemeinsame Arbeiten • Nationale und internationale Projekt- Wir sehen uns als zentrale Service-, gesichert werden. tätigkeit Wissenstransfer- und Koordinationsstel- • Wissenschaftliche Auseinanderset- le für bildungspolitisch und pädagogisch 3. Auftraggeber/innen, Teilnehmende zung mit gesellschaftspolitischen, his- relevante Aktivitäten. Als Teil nationaler und Adressat/innen torischen, pädagogischen und didakti- und internationaler Netzwerke und als Der vöv wendet sich aufgrund seiner viel- schen Entwicklungen wichtige Schnittstelle setzen wir Impulse fältigen Arbeits- und Geschäftsfelder an • Bildungsforschung und Statistik (vhs, und gestalten die Politik im Bereich der eine ganze Reihe von unterschiedlichen kebö) Erwachsenenbildung mit. Kooperationspartner/innen, Auftragge- • Mehrsprachigkeitsdidaktik und Spra- ber/innen und Veranstaltungsteilneh- chenpolitik 2. Werte mer/innen: an österreichische Ministe- • Lizenzinhaber (öif, ösd etc.) Wir verstehen uns als eine der Demokra- rien, die Europäische Kommission, an • Wahrnehmung internationaler Vertre- tie verpflichtete, an die Menschenrechte Landesverbände und Volkshochschulen, tungsfunktionen gebundene und von politischen Parteien Kursleiter/innen und vhs-Mitarbeiter/ • Mittelaufbringung und Subventions- unabhängige Bildungseinrichtung. innen, an wissenschaftliche Institutionen weitergabe Zu unserem Selbstverständnis gehört und Forschungseinrichtungen, (internati- • Weiterbildung der vhs-Mitarbeiter/ es daher, keine antidemokratischen, ras- onale) Partnereinrichtungen, die Medien- innen und Kursleiter/innen sistischen, antisemitischen, frauenfeind- öffentlichkeit, an Meinungsbildner/innen • Publikationstätigkeit lichen und andere Menschengruppen und Multiplikator/innen. • Herausgabe des Magazins „Die Öster- diskriminierenden Inhalte und Verhal- reichische Volkshochschule“ tensweisen in unseren Einrichtungen 4. Allgemeine Unternehmensziele • Vergabe von Medienpreisen und Aus- zuzulassen und solchen Tendenzen und Die oberste Zielsetzung liegt, wie bereits zeichnungen Verhaltensweisen mit Bildungsveranstal- unter Punkt 1 erwähnt, in der Verbreitung • Durchführung von Veranstaltungen, tungen und/oder anderen Maßnahmen des Volkshochschulgedankens sowie in um einen Ansatz im Aufgreifen von entgegenzuwirken. der Wahrung und in der Förderung der ge- Themen und Standpunkten sicherzu- Die Aufbereitung unserer Tätigkeiten meinsamen Interessen der im vöv zusam- stellen, der unterschiedliche Zielgrup- und Themenstellungen erfolgt kritisch, mengeschlossenen Landesverbände und pen anspricht und versucht niemanden reflektiert, differenziert und wertschät- damit deren Mitglieds-Volkshochschulen. auszugrenzen. zend. Wir orientieren uns am aktuellen Als zentrale Service-, Wissenstrans- Stand der wissenschaftlichen Forschung fer- und Koordinationsstelle sind wir Teil 6. Fähigkeiten und bereiten diese entsprechend für un- nationaler und internationaler Netz- Zu unseren größten Stärken zählt die sere Auftraggeber/innen auf. Wir sind werke und eine wichtige Schnittstelle zu Vielfältigkeit der Projekte und Aufgaben,

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die unterschiedlichste Zielgruppen an- Lernergebnisse kennen und laufend über- Gelungenes Lernen entsteht durch Neu- sprechen (siehe oben). In einem offenen, prüfen, sowie ihre informell erworbenen gierde, Kreativität und/oder Empathie. Es kreativen und vernetzten Arbeitsumfeld Kompetenzen erkennen. Somit trägt Ler- braucht als Vorrausetzung Ressourcen wie und vor internationalem und wissen- nen zu einer besseren Bewältigung des Geld, Zeit, Sicherheit, Ruhe und Muße, so- schaftlichem Hintergrund nehmen wir Alltags im Sinne eines guten Lebens bei, wie ein kritisch erkennendes Bewusstsein. unsere Rolle als Impulsgeber und Innova- fördert Chancengleichheit und sichert die tor wahr und ergreifen immer wieder eine finanzielle Basis. 9. Definition der gelungenen inhaltliche Führungsposition. Gelungenes Lernen schafft Mehrwert Serviceleistung auf verschiedenen Ebenen. Durch das Er- Die Serviceleistung des vöv stellt einen 7. Ressourcen lernen von Reflexions-, Konflikt- und Kri- wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung Unser wichtigstes Potenzial sind unsere tikfähigkeit kann Vernetzung, Austausch der österreichischen Volkshochschulen Mitarbeiter/innen, die sich durch fachli- und Kooperation entstehen. Das soll wie- und der Festigung ihrer Stellung im ge- che Expertise, pädagogisches Know-how, derum dazu beitragen, dass Lernende ihre samten österreichischen Bildungswesen Innovationsbereitschaft und Kreativität Handlungsfähigkeiten besser erkennen, dar, beispielsweise durch den Innovations- auszeichnen. Sie verfügen über profunde benennen und nützen können. Durch transfer, die Implementierung innovativer Kenntnisse der österreichischen und in- den Blick über den „eigenen Tellerrand“ Erkenntnisse sowie deren Evaluierung. ternationalen Erwachsenenbildungsland- entsteht Einfühlungsvermögen und Em- Die Sicherstellung der Bundessubven- schaft und sind in handlungsrelevanten pathie, d.h. die Kompetenz, sich selbst, an- tionen garantiert den Erhalt und den Aus- Netzwerken aktiv. dere und die Welt besser zu verstehen und bau der gewonnenen Position zur Errei- Arbeiten und vernetztes Denken in Ko- dementsprechend zu handeln. Und gelun- chung der Verbandsziele und somit für die operation mit den Gremien und Arbeits- genes Lernen bedeutet nicht zuletzt die Be- gelungene Serviceleistung. gruppen des vöv sowie nationalen und fähigung zu mündigen Bürger/innen, ihre Ferner ist es uns wichtig, dass die Stand- internationalen Partnerorganisationen er- partizipative Rolle aktiv wahrnehmen. orte gestärkt werden, sie ihre finanzielle höhen im Weiteren die Handlungskompe- Charakterisiert ist gelungenes Lernen Mittel widmungsgemäß verwenden und tenzen und das Durchsetzungsvermögen etwa durch die Möglichkeit, auszuprobie- die in ihrer Verantwortung liegende Infra- des vöv. ren und auch „Fehler“ zu machen. Es ist struktur gewährleisten können. Öffentliche Förderungen sichern unse- ein reflexiver Prozess, der die ganze Per- Eine gelungene Serviceleistung er- re inhaltliche Arbeit ab. son umfasst, und sich an den individuellen kennen wir an persönlichen positiven 8. Definition des gelungenen Lernens Bedürfnissen der Lernenden sowie den Rückmeldungen der Menschen, die unser Wir erachten Lernen als gelungen, wenn gesellschaftlichen Bedarfen (wie Demo- Service in Anspruch nehmen, sowie an es Lernende dabei unterstützt, sich selbst- kratieentwicklung, wirtschaftliche Ansprü- kompetenten Auskünften durch die Mit- verantwortlich und selbstgewählt im per- che etc.) orientiert und an die jeweiligen arbeiter/innen und dem reibungslosen sönlichen und beruflichen Bereich weiter- Kenntnisse und Kompetenzen anschließt. Ablauf von Programmen und Projekten. zuentwickeln. Wir halten es für wichtig, Die Sinnhaftigkeit ist grundlegende Vo- Wir machen Ergebnisse und Leistun- dass Lernende die von ihnen angestrebten raussetzung allen gelungenen Lernens. gen sichtbar. //

vöv-Publikationen

Elisabeth Feigl-Bogenreiter (Hg.): Georg Ondrak, Stefan Vater (Hrsg.) Stefan Vater, Peter Zwielehner Mehrsprachig statt Einsilbig Eine Gesellschaft ohne Mitte? Statistikbericht 2013 für das Sprachen lernen bis ins hohe Alter Erwachsenenbildung ins Out? Arbeitsjahr 2012/13 Wien 2013: vöv-Edition Sprachen 6, Dokumentation des Zukunftsforum 2012 Wien 2013: vöv-Materialien 48, 60 Seiten vom 9. bis 11. Juli 2012, Kloster Seeon, 36 Seiten Dokumentation der gleichnamigen Bayern Detaillierte Daten zur VHS-Statistik Tagung, die am 17. November 2012 an der Wien 2013, 76 Seiten Download: http://www.adulteducation. Volkshochschule Graz stattfand. Preis 7 €, zuzüglich Versandkosten at/de/struktur/statistik/ Preis 7 €, zuzüglich Versandkosten

Bestellungen: Verband Österreichischer Volkshochschulen 1020 Wien, Weintraubengasse 13 T: +43 1 216 4226, E: [email protected]

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 3 Medienpreise

Medienpreise der österreichischen Erwachsenenbildung

Die vier Verbände der Erwachsenenbildung, die Arbeitsgemeinschaft Bildungshäuser Österreich, der Büchereiverband Österreichs, der Verband Österreichischer Volkshochschulen und das Wirtschaftsförderungsinstitut der Wirtschaftskammer Österreich schreiben den Radiopreis und den Fernsehpreis der Erwachsenenbildung aus.

16. Radiopreis der Über die Preisvergabe entscheidet im No- Erwachsenenbildung – vember 2013 eine Jury, der Vertreter/innen Ausschreibung für 2012/2013 der preisverleihenden Verbände der Erwach- senenbildung sowie Journalistinnen und Der Radiopreis umfasst die Sparten Kultur, Journalisten österreichischer Printmedien Information, Bildung (Eduard-Ploier-Preis), angehören. Die Preisträger/innen werden Interaktive und experimentelle Produktio- bei der Überreichungsfeier, die am 23. Jän- nen sowie Sendereihen und Themenschwer- ner 2014 im Radiokulturhaus stattfindet, be- punkte. kannt gegeben. Kultur: Insbesondere Literatur-Sendungen (Hörspiele usw.) und Musik-Sendungen (Ge- 46. Fernsehpreis der Fernsehpreis der Radiopreis der staltung) Erwachsenenbildung Erwachsenenbildung Erwachsenenbildung Information: Sendungen wie Features, Re- portagen, Dokumentationen, Interviews und 2014 wird der Fernsehpreis der Erwach- Gespräche, Magazine. senenbildung zum 46. Mal verliehen. Für Bildung – Eduard Ploier-Preis*: Sendungen die Preisvergabe kommen österreichische zu Bildung und Wissenschaft oder über Bil- Produktionen oder Produktionen, bei denen dungsveranstaltungen. österreichische Sender maßgeblich beteiligt Interaktive und experimentelle Produktio- sind, inklusive Auftrags- und Koproduktio- nen: Sendungen mit interaktivem Charakter nen österreichischer Sender in Betracht, die (das heißt Beteiligung und Einbeziehung von im vorangegangenen Jahr (2013) erstmals in Hörerinnen und Hörern) oder Sendungen, Österreich gesendet wurden. die mit klassischen Sender- und Empfänger- Der Fernsehpreis der Erwachsenenbil- Mustern experimentieren und somit Radio als dung wird in drei Sparten vergeben: Doku- Prozess oder „Work in Progress“ präsentieren. mentation; Fernsehfilm, inklusive Serien; Sendereihen und Themenschwerpunkte Sendungsformate, Sendereihen. *Der Preis für die Sparte Bildung ist nach Vorschläge für die Zuerkennung des Prei- dem verstorbenen Erwachsenenbildner und ses können von Teilnehmer/innen und Mitar- langjährigen orf-Kurator Eduard Ploier be- beiter/innen der preisverleihenden Verbände nannt. der Erwachsenenbildung, von Fernsehkriti- Bei Bedarf kann die Jury einen Preis für ker/innen der Presse, von österreichischen Kurzsendungen (weniger als 10 Minuten) Fernsehsendern sowie von Produzent/innen vergeben. und von den Seher/innen des österreichi- Vorschläge für die Zuerkennung des Prei- schen Fernsehens bis spätestens 3. Februar ses können von Teilnehmer/innen und Mit- 2013 (Poststempel) eingebracht werden. Der arbeiter/innen der genannten Verbände der Tag und die Sendezeit der Ausstrahlung sind Erwachsenenbildung, von Kritiker/innen der bei der Einreichung anzuführen. Presse und vom Österreichischen Rundfunk Über die Preisvergabe entscheidet im sowie von österreichischen Radiosendern April 2014 eine Jury, der Vertreter/innen der und ihren Mitarbeiter/innen bis spätestens preisverleihenden Verbände der Erwach- // 27. September 2013 (Poststempel) einge- senenbildung sowie Journalistinnen und bracht werden. Der Tag und die Sendezeit Journalisten österreichischer Printmedien Unterlagen zur Einreichung für beide der Ausstrahlung sind bei der Einreichung angehören. Darüber hinaus vergibt die Jury Medienpreise können Sie von der anzuführen. den Axel-Corti-Preis, der 2014 bereits zum VÖV-Homepage downloaden: Für die Zuerkennung des Preises kommen 18. Mal verliehen wird. Fernsehpreis: http://www.vhs.or.at/212 nur Eigenproduktionen österreichischer Sen- Die Preisträger/innen werden bei der Radiopreis: http://www.vhs.or.at/213 der in Betracht, die in der Zeit vom 1. Septem- Überreichungsfeier, die am 5. Juni 2014 im oder vom Büro Medienpreise, Christine ber 2012 bis 31. August 2013 in einem österrei- Wappensaal des Wiener Rathauses stattfin- Rafetseder, Tel. 01 216 4226-15, E-Mail: chischen Sender erstmals gesendet wurden. det, bekannt gegeben. // [email protected] anfordern.

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dieren ebenfalls dazu, die weniger gut orga- nisierten und sozial schwächeren Gruppen, wie z. B. Arbeitslose oder anderweitig sozial Armut und Demokratie benachteiligte Menschen, zu ignorieren (sie- he z. B. Schmitter/Lehmbruch: 1979 Crouch/ Streeck: 2006). Die dritte, klientelistische in Europa – Chancen und Form begünstigt Gruppen, die leichten Zu- gang zu zentralen Machthaber/innen und Konflikte „Gönner/innen“ haben – oft auf ethnischer, regionaler oder ähnlicher Grundlage auf Schwerpunkt Kosten anderer sozial und politisch ausge- Dieser Artikel1 behandelt die facettenreiche Beziehung schlossener Gruppen (Kitschelt/Wilkinson: zwischen Armut und Demokratie im europäischen 2006). Kontext. Er weist auf die grundlegende Bedeutung von Eine dritte, indirektere Beziehung be- demokratischen Verfahren und von Rechten für die ärmeren trifft Situationen, in denen wahrgenomme- Bevölkerungsschichten hin. Einige Aspekte der Globalisierung, wie ne Interessen einer Mehrheit gegen sozial z. B. die industrielle Standortverlagerung und Abwanderung, haben schwache Minderheiten mobilisiert werden, in diesem Zusammenhang zu vermehrten Spannungen geführt. oftmals wiederum auf ethnischer oder ein- Die „Stimmen“ der Armen sind folglich schwächer geworden wanderungsbedingter Grundlage oder auf und deren Rechte wurden in Frage gestellt. Im Gegensatz dazu anderweitig „gezielte“ Art und Weise. Dies haben unkonventionelle Formen der politischen Partizipation und geschieht oft in „populistischen“ oder natio- „advokatorische“ Arten der Interessenvertretung an Bedeutung nalistischen Formen, in denen die grundle- gewonnen. Die beobachteten Spannungen und bisweilen genden Menschenrechte dieser Gruppen im diskriminierenden Praktiken müssen innerhalb der bestehenden Interesse der nominellen Mehrheit im Staat institutionellen und juristischen Strukturen einer Demokratie verletzt werden. Nicht selten war dies in erst ausgetragen und verhandelt werden, soll der notwendige soziale kürzlich demokratisierten Ländern der Fall, Zusammenhalt nicht weiter gefährdet sein. in denen sich Mehrheiten gegen Minderhei- ten wendeten oder hohe Einwanderungsra- ten innerhalb kurzer Zeit auftraten. In die- sem Beitrag, dessen Schwerpunkt auf dem europäischen Kontext mit mehr oder weni- ger etablierten und relativ prosperierenden Demokratien liegt, werden wir uns haupt- sächlich mit den zweiten und dritten Bezie- hungsformen beschäftigen. Die erste Form, Dirk Berg-Schlosser in der ein Großteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, betrifft hauptsächlich die 1. Einführung: Grundlegende Beziehungen onsmuster und Interessenvermittlung. Hier am wenigsten entwickelten Länder im Sinne und Dilemmata können drei Hauptformen unterschieden der Definition der Vereinten Nationen. Die Beziehungen zwischen Armut und De- werden: eine pluralistische, eine korporatis- Im Folgenden werde ich zunächst kurz mokratie sind konfliktgeladen und zumin- tische und eine klientelistische, von denen Probleme der Definition von Demokratie dest dreischichtig. Auf der abstrakten („Mak- alle bestimmte Arten der Unterrepräsenta- und Armut skizzieren und diese auf den zeit- ro“-)Ebene betrifft das den gesamten Bereich tion und des Ausschlusses von sozial schwä- genössischen europäischen Kontext im wei- der sozialökonomischen Entwicklung sowie cheren Gruppen aufweisen. In der – heut- teren Sinne beziehen. Danach gehe ich näher die Entstehung und Aussicht auf Konsolidie- zutage in vielen Ländern vorherrschenden auf die möglichen „Stimmen“ und Hand- rung von Demokratien in der heutigen Zeit. – pluralistischen Form der offenen, kompe- lungenoptionen armer Bevölkerungsgrup- Viele Autor/innen, darunter Lipset (1959) als titiven Interessenvertretung rangieren eher pen und deren potenzielle Auswirkungen Bekanntester, betrachteten eine höhere Stu- wirtschaftlich besser gestellte und mächti- auf ihre Lebenssituation ein. Zusätzlich zu fe der Entwicklung und Modernisierung als gere Gruppen an vorderster Stelle. Einer der diesen konventionellen oder unkonventio- „Muss“ für einen Übergang zur Demokratie frühen Kritiker formulierte es so: „The plu- nellen partizipativen Formen werden rechts- und die Nachhaltigkeit von zeitgenössischen ralist choir tends to sing with an upper-class basierte Zugänge diskutiert. Der letzte Teil Demokratien. In jüngster Zeit überwiegen accent” (Schattschneider: 1960, S. 30 f.). Die befasst sich damit, wie beide Arten der de- differenziertere Sichtweisen, die verschiede- korporatistische oder neokorporatistische mokratischen Intervention mit gegnerischen ne Muster und Wege der Demokratisierung Form in Ländern mit gut organisiertem Ar- aufzeigen (z. B. Przeworski et al. 2000; Ace- beitsmarkt, wie wir sie in Skandinavien und moglu/Robinson: 2006; siehe auch Berg- Teilen Westeuropas vorfinden, ist dadurch Schlosser: 2007, 2010). gekennzeichnet, dass die dominierenden 1 Leicht gekürzte Fassung aus: Council of Europe (2012): Auf einer konkreteren Ebene beziehen Interessengruppierungen des organisierten Redefining and combating poverty. Human rights, democracy and common goods in today’s Europe. Trends sich diese Verhältnisse auf innergesellschaft- Kapital- und Arbeitsmarktes eng mit den in Social Cohesion, No. 25, S. 217-229. Im Original: Poverty liche Konflikte, demokratische Repräsentati- Regierungen zusammenarbeiten. Sie ten- and Democray – Chances and Conflicts.

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 5 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement populistischen oder antidemokratischen Armut“ auf die Einkommenssituation von Im Hinblick auf die Hauptaspekte dieser Reaktionen konfrontiert werden. All dies Personen und Gruppen im Hinblick auf den Definitionen von Demokratie, Armut und kann hier aus Platzgründen freilich nur sehr spezifischen wirtschaftlichen Kontext, in dem der Umsetzung der Wohlfahrtspolitik in den verkürzt und zusammenfassend dargestellt sie leben. In Europa wird dies als Einkommen 47 Mitgliedsstaaten des Europarats können werden. definiert, das statistisch gesehen weniger als zumindest drei Hauptgruppen unterschie- 60 % des Medianwertes des Einkommens ei- den werden. Eine bezieht sich auf die länger 2. Definitionen und Kontext ner Bevölkerung ausmacht (eurostat). Ge- etablierten, relativ prosperierenden Demo- Demokratien bestehen sowohl aus funk- mäß dieser Definition wird es daher – abhän- kratien Westeuropas. Diese respektieren im tionalen (institutionellen) als auch norma- gig von der Gesamteinkommensverteilung Allgemeinen die zentralen funktionalen und tiven Elementen. Die funktionale Seite, die – immer eine „relative“ Armut im Verhältnis normativen Aspekte der Demokratie und spezifische institutionelle Regelungen, wie zu anderen geben. Insofern gilt dies auch für verfügen über ein relativ breites Spektrum Präsidial- oder parlamentarische Systeme, Gruppen, die relativ wohlhabend sind im an Sozialmaßnahmen. Dennoch bedürfen die Gewaltentrennung, Wahlgesetze etc., Vergleich zu Bevölkerungen, die anderswo in einige besonders benachteiligte Gruppen enthalten, wird in all ihren Variationen übli- absoluter Armut leben. sogar in diesen Ländern spezieller Aufmerk- cherweise explizit in Verfassungsdokumen- In dieser Hinsicht kann „relative“ Armut samkeit. Die zweite Gruppe besteht aus den ten niedergelegt. Die normative Seite wird aber auch auf eine rechtsbasierte Art und neuen eu-Mitgliedsstaaten in Zentral- und hingegen oft in einer gesonderten „bill of Weise verstanden werden, die sich wieder- Osteuropa. Diese Länder sind zu mehr oder rights“ (Grundrechtecharta) oder in Präam- um vom Konzept der menschlichen Würde weniger gefestigten Demokratien im funkti- beln festgehalten, aber auch in allgemeineren ableiten lässt, aber sich nun explizit auf den onalen Sinne geworden, aber einige norma- Dokumenten, wie den Chartas der Vereinten breiter gefassten Lebensstandard in einer tive Aspekte hinsichtlich der festen Veran- Nationen, die – zumindest formal – von den Gesellschaft bezieht, sowie das Recht auf kerung der Rechtsstaatlichkeit, des Schutzes meisten der heutigen Staaten anerkannt und eine angemessene, nicht diskriminierende der Minderheitenrechte und ähnlicher Fak- ratifiziert wurden. Lebensweise, die sowohl materielle als auch toren lassen noch immer zu wünschen übrig. Funktionale Aspekte, wie wir sie in Ro- immaterielle Aspekte, wie die gegenseiti- Gleichermaßen stellt sich die wirtschaftliche bert Dahls (1971, 1989) Konzept der „Poly- ge Anerkennung der Würde des Anderen, Situation nach einem schwierigen Übergang archie“ finden, in dem er die politische Par- einschließt (Daly: 2002). In diesem Zusam- von einer staatlich kontrollierten Wirtschaft tizipation auf breiter Basis und den offenen menhang ist das Konzept der „extremen Ar- zur Marktwirtschaft für weite Teile der Be- pluralistischen Wettbewerb hervorhebt, mut“ auch ein relationales (Dierckx: 2010). völkerung noch immer als sehr prekär dar. werden ebenso in Abschnitt 3 diskutiert wie Folglich kann relative Armut weder direkt Die dritte Gruppe umfasst schließlich die die daraus resultierenden Formen des „Em- operationalisiert noch gemessen werden, verbleibenden postkommunistischen Staa- powerment“ für arme Bevölkerungsgruppen. sondern sie spiegelt sich wider in der Lebens- ten im früheren Jugoslawien und der ehema- Solche formal-institutionellen Aspekte wer- weise jener Gruppen einer Gesellschaft, die ligen Sowjetunion. Demokratische Verfah- den zum Beispiel auch im „Polity“-Datensatz am meisten ausgegrenzt und oft diskrimi- ren und Rechte sind in diesen Staaten noch operationalisiert und regelmäßig erhoben niert werden. In den Worten von Christian immer viel gefährdeter, wenn es z. B. um (Jaggers/Gurr: 1996 ff.). Abschnitt 4 be- Bay formuliert dies folgendermaßen (1970, freie und faire Wahlen, Pressefreiheit, Ach- schäftigt sich mit der normativen Seite der S. 351): „The crucial test for judging a demo- tung der Rechtsstaatlichkeit etc. geht. Auf Demokratie, die in letzter Konsequenz auf cracy or any other system of government is der wirtschaftlichen Ebene zeigt sich zudem der universellen Menschenwürde und deren the extent to which its decision processes ein sehr gemischtes Bild je nach verfügbaren Auswirkungen auf arme und ausgegrenzte favor the protection and expansion of hu- Ressourcen – in einigen Ländern sind das Öl Bevölkerungsgruppen beruht. Bezug wird man rights, or the expansion of the freedom oder Gas – und je nach Art des Übergangs zu dabei auf die „Anspruchsberechtigung“ die- of those strata that at a given time are least einer stärker marktorientierten Wirtschaft. ser Gruppen und die Vertretung ihrer Rechte free – whether their chains are made by eco- Darüber hinaus präsentiert sich die Türkei durch Dritte genommen. Einige Teilbereiche nomic or cultural impoverishment, political als Spezialfall, die in den letzten Jahren eine dieser Rechte, darunter „politische Rechte“ disenfranchisement, or lack of equality in the Vielzahl an demokratischen und rechtlichen und „bürgerliche Freiheiten“, werden in den courts of law.” Reformen eingeleitet hat und hohe Wirt- jeweiligen Freedom House Indizes (1978 ff.) Mit all dem beschäftige ich mich hier im schaftswachstumsraten aufweist, aber wei- erhoben. „europäischen“ Kontext, wie er laut Europa- terhin auch starke politische Spannungen Das Armutskonzept weist ebenfalls ein rat verstanden wird. Dies impliziert sowohl und soziale Ungleichheiten. breites Spektrum von Definitionen und eine allgemeinere Ebene an bestehenden Natürlich handelt es sich hierbei nur um Messverfahren auf. Der Begriff „absolute Ar- demokratischen Rechten und Verfahren als eine grobe Kategorisierung und die Situation mut“ bezieht sich auf das absolute Minimum auch eine Vielfalt an Formen und Umset- in jedem Land muss im Hinblick auf diese an grundlegenden Lebensbedingungen, um zungen von zeitgenössischen „Sozialstaaten“ erweiterten Kriterien mit Hilfe einiger bes- die körperliche Existenz eines Menschen in (siehe z. B. Esping-Andersen: 1989). Die fol- ser verfügbarer Hauptindikatoren, darunter Bezug auf ausreichende Nahrung, Unter- gende Diskussion sollte in diesem Kontext die erwähnten politischen Indizes, aber auch kunft und Kleidung zu gewährleisten. Dies verstanden werden. Andernorts existieren statistischer Daten der Weltbank, undp, wird häufig mit monetären Indikatoren ge- „absolutere“ und einfacher „objektivierbare“ oecd etc., detaillierter betrachtet werden messen, wie z. B. der Kaufkraft eines oder Formen der Armut, doch auch in Europa ist (siehe z. B. Berg-Schlosser: 2004). Eine fei- zweier us-Dollar pro Person und Tag (siehe die Bandbreite der materiellen Lebensbedin- ner abgestimmte Bewertung auf Basis der z. B. Weltbank 1978 ff.; undp 1990 ff.). Im gungen und verfügbarer privater und öffent- breiten Auswahl an Indikatoren für den Gegensatz dazu bezieht sich die „relative licher Ressourcen sehr groß. „sozialen Zusammenhalt“ muss noch weiter

6 — DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement operationalisiert und umgesetzt werden (sie- Industrialisierung und Verstädterung immer arm sind und sich mit schlecht bezahlten, tem- he Europarat: 2005). Im Folgenden können stärker in säkularen sozialdemokratischen, porären Beschäftigungsverhältnissen durch- nur die allgemeineren Aspekte der Bezie- sozialistischen oder kommunistischen Par- schlagen müssen und viel eher von Kon- hung zwischen Armut und Demokratie dis- teien und in Gewerkschaften, aber auch in junkturschwankungen und finanziellen Kri- kutiert werden. Eine konkrete, aktuelle em- kirchennahen Organisationen wie christlich- sen betroffen sind. Es gibt hier zwar einige pirische Bewertung jedes einzelnen Landes demokratischen Parteien und Verbänden. Formen von Selbstorganisation, Selbsthilfe würde einer breiter angelegten, separaten Für diese Gruppen bedeutete Demokratisie- und freiwilliger Unterstützung von außen Studie bedürfen. rung das Recht zu wählen und anderweitige (O’Kelly/Corr: 2010), aber ihr politischer Ein- Möglichkeiten des Zugangs zu wichtigen fluss zur Änderung der Situation ist im All- 3. Die „Stimmen“ der Demokratie Ressourcen, um ihre Lebensweise mit Hilfe gemeinen sehr gering. Dies führt nicht selten Die formal-institutionelle Seite der De- von Gesetzgebung (z. B. der Regulierung der zu politischer Apathie, die aus Verzweiflung mokratie bietet eine Vielzahl an klar definier- Arbeitszeit und -bedingungen), Sozialversi- oder Zynismus entsteht und zu einem mehr ten Möglichkeiten , durch die Interessen und cherung und Umverteilung durch fiskalische oder weniger dauerhaften „Ausstieg“ aus Ansprüche der Gesellschaft als Ganzes arti- Maßnahmen zu beeinflussen und zu verbes- der politischen Arena im Sinne Hirschmans kuliert und gebündelt werden können. Die sern. Ihre Stärke drückte sich hauptsächlich (1970) führt. wichtigste besteht in regelmäßigen „freien durch ihre bloße Anzahl und effektive Orga- „Empowerment“ für die einkommens- und fairen“ Wahlen der politischen Entschei- nisation aus (bei Wahlen, Streiks etc.). schwachen Arbeiter/innen und von extre- dungsträger/innen auf allen Ebenen (lokale, Wie schon erwähnt, hat es bei den kon- mer Armut betroffenen Menschen ist daher regionale, nationale oder gegebenenfalls so- ventionellen und unkonventionellen For- sowohl bei Sozialwissenschafter/innen als gar überstaatliche Ebene). Darüber hinaus men der politischen Partizipation jedoch auch politischen Aktionsgruppen in den gibt es eine breite Palette an etablierten For- auch immer Bedenken in Bezug auf Chan- Vordergrund getreten (Dierckx: 2010). Em- men von politischer Partizipation, wie z. B. cengleichheit gegeben. Mit zunehmenden powerment wird hier folgendermaßen ver- die Kontaktaufnahme mit gewählten Ver- Aktivitäten in den Dienstleistungssekto- standen: „[a] process by which people, orga- treter/innen, entweder persönlich oder über ren, den Tendenzen zur Verlagerung von nizations, and communities gain mastery Telefon, Post – oder heutzutage Internet –, arbeitsintensiven Industrien und anderen over their affairs […] in the context of chan- Mitgliedschaft und aktives Engagement bei Formen der Globalisierung haben sich diese ging their social and political environment politischen Parteien oder das direkte politi- Bedenken im Laufe der Zeit zwar verändert, to improve equity and quality of life” (ebd., sche Mitentscheiden durch Bürger/innen- sind aber nie ganz verschwunden. Die Mit- S. 58). In diesem Sinne bezieht sich Empow- Initiativen, Referenden und dergleichen (Stan- gliederzahlen und der Einfluss von Gewerk- erment auf individuelle, gruppenbezogene dardwerke, die sich mit diesen Maßnahmen schaften in Europa und anderswo sind gene- und politische Aspekte. Während die indi- befassen, sind z. B. Milbrath/Goel: 1977, Ver- rell schwächer geworden und in vielen der viduelle Lage durch spezifische Sozialleis- ba/Nie/Kim: 1978 und idea: 2008). neuen Formen des politischen Handelns und tungen und Sozialpolitik verbessert werden Diese mehr oder weniger direkten po- Protestes, wie er von Nichtregierungsorga- kann (zu diesem Zweck muss der politische litischen Kanäle werden durch eine noch nisationen und über das Internet organisiert Wille mobilisiert werden!), hängen die bei- breitere Palette von sozialen und wirtschaft- wird, dominieren eher die besser ausgebil- den letztgenannten Aspekte teilweise von lichen Interessengruppen und deren typi- deten (neuen) Mittelklasse-Gruppen (Della der Mobilisierung der betroffenen Gruppen sche Lobbying-Methoden ergänzt – dazu Porta: 1995). Dalton et al. (2010, S. 72) formu- selbst ab. zählen auch Beiträge zur Parteien- und lierten es so: „Indeed, our analysis suggests Kampagnen-Finanzierung, die manchmal that this tension between participation and 4. Die Rechte der Demokratie in dubiose und illegale Aktivitäten abgleiten equality exists across various vastly different Wie bereits erwähnt, hat Demokratie in (Pinto-Duschinsky: 2002). Seit den 1970er- contexts and is particularly apparent in more einem weiter gefassten Sinn nicht nur funk- und 1980er-Jahren traten darüber hinaus affluent and democratic societies. Thus, the tional-institutionelle Seiten, sondern auch vermehrt „unkonventionellere“ Formen po- expanding repertoire of political action in normative, rechtsbasierte (siehe z. B. Dwor- litischer Partizipation und politischen Han- these nations may raise new issues of gene- kin: 1977,; Bobbio: 1987). Diese Rechte kön- delns in den Vordergrund. Diese beinhalten rating the equality of voice that is essential to nen von betroffenen Personen und Gruppen (manchmal gewalttätige) Demonstrationen, democracy.” sowohl in materieller als auch immaterieller Boykotte, Streiks, Land- oder Gebäudebeset- Dies trifft vor allem auf kleinere und oft Hinsicht beansprucht werden. In einem Eu- zungen etc. (die erste breit angelegte Studie besonders „etikettierte“ Gruppen zu, die in ropa mit seinen unterschiedlichen Ausprä- über solche Aktivitäten im westlichen Kon- extremeren Ausprägungen von Armut leben. gungen an Sozialstaaten (und trotz deren text stammt von Barnes/Kaase: 1979; eine Für sie ist es erheblich schwieriger, sich in anhaltender Probleme und Schwächen) sind Studie über Staaten der Dritten Welt ist auch wirksamen Formen „kollektiven Handelns“ solche Rechte und Dienstleistungen klar ge- Berg-Schlosser/Kersting: 2003). zu organisieren und gehört zu werden (zu regelt. Doch oft mangelt es an detaillierten Im Hinblick auf arme Bevölkerungsgrup- diesem Begriff und seinen Implikationen sie- Informationen über diese Rechte, die erfor- pen, denen hier unser Hauptaugenmerk gilt, he z. B. Olson: 1965; Offe: 1973). Dies gilt un- derlichen bürokratischen Maßnahmen sind lassen diese Formen von politischer Partizi- ter anderem für die beachtliche Zahl an (nicht umständlich und es kann vorkommen, dass pation und die dazugehörigen Studien auch gewerkschaftlich organisierten) Arbeitslosen einige Mitarbeiter/innen dieser Dienstleis- eine Vielzahl an Bedenken und Defiziten er- oder (meist jüngeren) Personen, die noch nie tungsstellen wenig hilfreich und freundlich kennen. In der Vergangenheit organisierten Teil des offiziellen Arbeitsmarktes waren. Es sind. Dies trifft vor allem die am stärksten sich die ärmeren Teile der Gesellschaft in Eu- betrifft aber auch Teile der „working poor“, marginalisierten und stigmatisierten Grup- ropa und anderen Ländern mit wachsender jene Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit pen in der Gesellschaft.

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 7 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement

Hier spielen zivilgesellschaftliche Zusam- finden, haben bis jetzt noch nicht wirklich demokratische Mobilisierung solcher Grup- menschlüsse von Personen, die selbst nicht gefruchtet. Im Gegenteil, Probleme dieser pen kann sich dann gegen die normativen zu den am schwersten betroffenen Gruppen Art haben starke populistische und fremden- Prinzipien der Demokratie selbst wenden. gehören, eine wichtige Rolle. Diese „advoka- feindliche Reaktionen in vielen Orten und Wenn solchen Entwicklungen nicht durch torische“ Interessenvertretung zu Gunsten Ländern ausgelöst. starke Rechtsinstitutionen, welche auf sol- wirtschaftlich, sozial und daher auch poli- chen Prinzipien basieren, oder bürgerschaft- tisch schwacher Gruppen hat in den letzten 5. Feindliche Reaktionen und Konflikte liches Engagement von anderen entgegen Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung Die Demokratisierung bietet neue Rechte getreten wird, kann dies zu faschistischen Er- gewonnen. Solch öffentliche Anwaltschaft und Freiheiten für Leute, die lange Zeit unter scheinungsformen führen, wie wir sie in der kann helfen, direkte materielle Hilfe zu leis- verschiedenen autoritären Regimen gelebt Vergangenheit aus einer Reihe von Ländern ten, häufig auf lokaler Ebene, wie z. B. durch haben. Gleichzeitig kann sie jedoch zum kennen. kostenlose Mahlzeiten („Tafeln“) und Versor- Ausbruch von Konflikten führen, die von gung mit anderen Dingen wie Kleidung und diesen mit Gewalt unterdrückt, ja sogar von 6. Schlussfolgerungen Ähnliches. Auch kostenloser Rechtsbeistand ihnen kreiert wurden, indem sie bestimmte In aller Kürze wurden die Beziehungen und ähnliche Hilfestellungen können – wo Gruppen und Regionen bevorzugt und da- zwischen Armut und Demokratie als mehr- benötigt – so geleistet werden. Über diese durch Gefühle wie Neid und den Ruf nach schichtig und oftmals konfliktgeladen dar- Dienstleistungen hinaus kann diese Art der Vergeltung geschürt hatten. Dies trifft be- gestellt. In Situationen, in denen große Teile Interessenvertretung auch die Aufmerksam- sonders auf multiethnische oder multireligi- einer Bevölkerung von Armut betroffen sind, keit der allgemeinen Öffentlichkeit auf spezi- öse Länder zu, in denen bestimmte Gruppen kann Demokratisierung Menschen bestär- fische Gruppen und Belange ziehen und all- oder Regionen von anderen dominiert wur- ken, ihre „Stimmen“ zu erheben und ihnen so gemeine Reformen und die Gesetzgebung in den. Formale demokratische Mehrheitsbe- auf allen Ebenen des demokratischen Prozes- diese Richtung beeinflussen (Baumgartner/ schlüsse allein können solche Konflikte nicht ses Gewicht verleihen, denn allein die Masse Leech: 1998; Berry/Wilcox: 2007). regulieren. Die Definition des „Staatsvolkes“ an Leuten kann das politische Gleichgewicht Ein spezielles Thema muss hier jedoch kann nicht einer einzigen Gruppe oder sogar zu ihren Gunsten verschieben, wie dies mo- erwähnt werden, welches die rechtliche Po- einer großen Mehrheit überlassen bleiben. mentan z. B. in einigen lateinamerikanischen sition von speziellen Zielgruppen, wie z. Sie muss auch typische ansässige Minderhei- Staaten geschieht. B. Migrant/innen, Flüchtlingen oder Asyl- ten oder sozial schwache Gruppen, wie z. B. Im europäischen Kontext mit seinen seit bewerber/innen grundlegend beeinflusst, die Roma, miteinbeziehen.. Langem etablierten Demokratien und So- nämlich die Frage der Staatsangehörigkeit. In dieser Hinsicht muss die normative zialstaaten kommt „absolute Armut“ viel Grundlegende öffentliche Sozialdienstleis- Seite der Demokratie, die grundlegenden seltener vor, und die Ausprägungen der tungen sind für gewöhnlich auf jene Perso- Menschenrechte und der Rechtsstaat, ein- „relativen Armut“ sind vielfältiger. Weitere nen beschränkt, die ein legaler Teil des betref- mal mehr betont werden. In diesem Zu- Differenzierungen werden auch für ver- fenden Sozialsystems sind und ein Anrecht sammenhang können sich die Anliegen der schiedene Ländergruppen benötigt, die sich auf spezielle Vorteile und Leistungen haben. ansässigen Minderheiten oder erst kürzlich in der Übergangsphase zur Demokratie und Personen ohne Staatsangehörigkeit oder eingewanderter Gruppen – wie im vorigen Marktwirtschaft befinden. Die wachsende zumindest ohne Aufenthaltsgenehmigung Abschnitt erwähnt – überschneiden. Beide Globalisierung hat mit ihren erheblichen befinden sich in einer ungleich prekäreren werden und wurden schon oft mit heftigen wirtschaftlichen und sozialen Strukturverän- Situation. Sie werden oftmals in speziellen Reaktionen von zumindest Teilen der no- derungen zu einer Schwächung der europäi- Heimen oder Camps zusammengefasst – minellen Mehrheit im Staat konfrontiert. schen Arbeiterparteien und Gewerkschaften ohne Recht auf Arbeit und oft von der Aus- Solche Stimmungen werden häufig von po- und zu unsicheren Beschäftigungsformen lieferung bedroht. Ihre rechtliche Stellung pulistischen Politiker/innen aufgewiegelt geführt, aber auch zur Entstehung einer wird von der Genfer Flüchtlingskonvention und lösen Gewaltakte und starke fremden- „neuen Mittelklasse“ im Dienstleistungs- oder von Sonderasylgesetzen, wie wir sie feindliche Bewegungen aus. Es ist gerade sektor und verwandten Sektoren. Darüber in Deutschland finden, definiert. Obwohl diese Missachtung der normativen Seite der hinaus belasten die demografischen und ihre menschliche Würde in keiner Weise an- Demokratie und ihrer rechtlichen Implika- andere gesellschaftliche Veränderungen die gezweifelt werden kann – so wie das auch tionen, die diese populistischen und häufig bestehenden Sozialsysteme immer stärker, für alle anderen Menschen gilt –, ist die Art stark personalisierten Bewegungen oder po- und einige der durchgeführten Reformen formaler Hilfe, die solche Personen erhalten litischen Parteien von den wahrlich demokra- haben die Kluft zwischen den ärmeren und können, sehr eingeschränkt. Dieser Umstand tischen unterscheidet (Mény/Surel: 2002). den wohlhabenderen Teilen der Gesellschaft treibt sie oft in heimliche informelle und ille- Es kommt nicht selten vor, dass sich be- vergrößert. In den letzten Jahrzehnten er- gale Aktivitäten. Auf Grund der jüngsten Kri- sonders die stärker benachteiligten Gruppen höhten sich die Einkommensunterschiede sen in bestimmten Ländern und Regionen, einer Gesellschaft, wie z. B. Arbeitslose oder im Großen und Ganzen. Die „Stimmen“ wie z. B. im Jugoslawien der 1990er-Jahre weniger gebildete Personen, die selbst unter der relativ (und immer ärmer werdenden) oder gegenwärtig im Mittleren Osten und schwierigen Umständen leben, gegen Ziel- Armen ergeben ebenso ein gemischtes Bild. in Teilen der afrikanischen Länder südlich gruppen wie ethnische Minderheiten oder „Unkonventionelle“ Formen der politischen der Sahara, sind diese Probleme in Europa Immigranten wenden oder gegen diese mo- Partizipation sind zwar gebräuchlicher, aber immer dringlicher geworden. Versuche, eine bilisiert werden. Ihnen dienen so geweckter auch für andere Gruppen zugänglich gewor- gemeinsame Lösung auf europäischer Ebene und heraufbeschworener nationalistischer den. Manchmal werden sie für sehr partielle oder zumindest besser geduldete Unterbrin- Stolz und die dazugehörigen Symbole dazu, lokale Interessen oder die Mobilisierung von gungsmöglichkeiten für diese Personen zu über ihre eigene Misere hinwegzusehen. Die diskriminierenden Strömungen genutzt.

8 — DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement

Personen, die unter solchen Umständen „ex- der Interessenvertretung ergänzt werden populistische Stimmungen gegen diese treme“ Armut erfahren, profitieren üblicher- auf Grundlage der normativen und rechtsba- Gruppen mobilisiert, was zu starken sozialen weise nicht von demokratischen Verfahren sierten Seite der Demokratie. In dieser Hin- Spannungen und sogar Gewaltakten führt. alleine. Ihre Anzahl ist (relativ) gering und sicht muss deren Hilfe noch weiter auf Basis Das Wesen der Demokratie, die Achtung oftmals sind sie in verschiedene Gruppen allgemein anerkannter Prinzipien verstärkt der allgemeinen Menschenrechte und der und Kategorien aufgesplittert, was ihr ge- werden. Rechtsstaatlichkeit, werden dann gefährdet. meinsames Handeln schwierig macht und Das Ganze wird noch vielschichtiger und Aus diesem Grund hat das Projekt des Euro- ihnen nur wenig Gewicht verleiht. Einige komplizierter, wenn die Rechte spezieller parates zum „gesellschaftlichen Zusammen- Formen der Selbstorganisation und Selbst- Minderheitengruppen, wie der Roma oder halt“ seine volle Berechtigung und verdient hilfe existieren zwar, aber diese Formen müs- erst kürzlich eingewanderter Personen, in allgemeine Unterstützung. // sen häufig durch „advokatorische“ Formen Frage gestellt werden. Nicht selten werden

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DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 9 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement

zentrieren das Problem der rasch wachsenden Jugendar- beitslosigkeit zu lösen“. Wir sollen die „entsprechenden Eine kritische Annäherung Fertigkeiten für Erwerbstätigkeit liefern, um die Effektivi- tät und Inklusion unserer Bildung zu erhöhen“. Moderne, an „Rethinking Education“ auf Wissen basierte, Ökonomie benötigt Menschen mit höheren und sachbezogenen Fertigkeiten – damit soll und die Notwendigkeit, sichergestellt werden, dass Europa in der Weltwirtschaft mithalten kann (Vgl. Europäische Kommission: 2012, S. 3). Fertigkeiten zur Bürger/ Bildungsabschluss wird immer stärker als ein Prozess des Wetteiferns gesehen, indem instrumentale Argu- innenbeteiligung zu mente benutzt werden, um Bildungsmaßnahmen zu be- gründen und um die Erziehungsberechtigten betreffen- entwickeln de, nationale und nun auch kontinentale Bestrebungen voranzutreiben. Im internationalen Wettbewerb hat die 1 Alistair Ross Entwicklung von Vergleichen und Wertungen, die der Einführung des Programms zur internationalen Schüler- Institut für Politikstudien der Bildung, Schwerpunkt beurteilung (PISA) gefolgt sind, dazu geführt, dass sich London Metropolitan Universität einzelne Regierungen und die EU wegen internationaler Rankings Sorgen machen, in der Annahme, dass diese eng mit der wirtschaftlichen Performance in Verbindung stehen, obwohl es wenig Beweise über solche Zusammen- hänge gibt. Die europäische Union hat sich selbst zum Ziel ge- setzt, Europas Bildungsranking beizubehalten (oder zu Alistair Ross verbessern). Die Ratstagung in Lissabon 2000 folgerte in diesem Zusammenhang, dass das Ziel „die wettbe- Die aktuelle Publikation der Europäischen Kommission werbsfähigste und dynamischste auf Wissen basierende Rethinking Education: Investing in skills for better socio- Wirtschaft der Welt“ (Europäische Union: 2000, § 5) zu economic outcomes (Europäische Kommission: 2012) werden, verlangt, dass sich Europas Bildungssystem „so- stellt eine bemerkenswerte Abhandlung der neoliberalen wohl am Bedarf einer Wissensgesellschaft als auch an ei- Agenda für Bildung dar: Bemerkenswert deshalb, weil nem höheren Niveau und einer verbesserten Qualität der kaum zuvor der Zusammenhang zwischen dem Grund- Beschäftigung/Erwerbstätigkeit anpassen muss“ (ebd., § prinzip für die Investition in Bildung und dem Argument, 25). Die Europäische Kommission entwickelte diese Stra- dass dies zu ökonomischem Wachstum führen wird, so tegien und neuere Dokumente betonen, dass Bildung 1 Dieser Beitrag basiert explizit hergestellt wurde. hinsichtlich wirtschaftlicher Begriffe gesehen werden auf der Grundsatzrede Bereits Aristoteles stellte Alternativen für ein Bil- soll, um eine konkurrenzfähige Wirtschaft hervorzubrin- der eucis-lll- Konferenz 2 Rethinking Learning: dungscurriculum dar. Die Notwendigkeit von Bildung gen (Europäische Kommission: 2007). Transversal Competences kann, laut Aristoteles, auf drei Arten begründet werden: Bildung wird als Schlüssel zur Beschäftigung ange- in the Spotlight, gehalten • Im Sinne eines instrumentalen Bildungsargumentes sehen, und wenn Stellenangebote – besonders für junge in Wilna, Litauen, am 14. als Ausbildung, die auf die nützlichen Dinge des Le- Menschen – knapp sind, wird das konkurrenzbetonte Mai 2013. bens gerichtet ist. Jedoch nützlich für wen? Um Bür- Element von Bildungsabschlüssen verstärkt, angeheizt von jedem Prozentpunkt in der Jugendarbeitslosenquo- 2 „In modern times there ger/innen zu formen, die „nützlich“ für Gesellschaft are opposing views about und Ökonomie sind, um Achtung und Akzeptanz für te. Es ist nicht nur wichtig, in der Bildung gut abzuschnei- the tasks to be set, for die Autoritäten zu entwickeln oder um Nutzen für die den; andere müssen schlechter sein, damit man die Stelle there are no generally Lernenden zu erzielen? bekommt. accepted assumptions In der individuellen Bewertung von Bildung gibt es about what the young • Um „Werte“ bzw. „Tugenden“ zu fördern, also ein should learn, either for facettenreiches Verhalten, um in einer besonders pro- heutzutage ähnlich wettbewerbsbetonte Sichtweisen. their own virtue or for sozialen Art und Weise zu handeln. Dieses Verhalten Viele Eltern und Schüler/innen sehen Bildung als ein the best life; nor is it richtet sich auf die Entwicklung des Individuums und Nullsummenspiel: es gibt immer Gewinner/innen und yet clear whether their auf jene Prozesse, bei denen sich Individualität in Be- Verlierer/innen. Dabei geht es nicht bloß darum, dass education ought to be conducted with more zug auf andere Mitglieder der Gesellschaft ausbildet. wenn ein Kind gewinnt, ein anderes verliert: Der stritti- concern for the intellect • Um außergewöhnliche Leistungen hervorzubringen: ge Punkt ist, dass das andere Kind verlieren muss, damit than for the character or Dazu bedarf es der Übereinkunft, was kulturelles Wis- Bildung „erfolgreich“ war. Der Wandel von Bildung, ihre soul […] it is by no means sen ist und was „das Außergewöhnliche“ ist. Bildung Verortung im Konkurrenzmarkt und der dominierende certain whether training should be directed at ist in diesem Sinne die Weitergabe von Kultur. Diskurs der Instrumentalisierung haben Bildung in ein things useful in life, or at Die Debatte, die es seit der Zeit von Aristoteles über die Spiel verwandelt, welches Verlierer/innen verlangt, um those most conducive to Funktionen der Bildung gibt, konnte nun endlich – nach erfolgreich zu sein (Ball: 2003, Reay: 2006). virtue, or to exceptional rund 2.300 Jahren – gelöst werden. Die Kernaufgabe der In diesem Diskurs einer Leistungsgesellschaft geht es accomplishments.“ (Aristotle, The Politics, Bildung, so wird uns gesagt, ist es, „sich mit den Bedürf- darum, dass es Effizienz erfordert, damit „die Besten“ zur VII.ii:1337a33 (453) nissen der Wirtschaft zu befassen und sich darauf zu kon- Spitze „aufsteigen“ können. Termine werden vereinbart

10 — DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement und Verantwortungen an jene Personen vergeben, die Zugang zur Schaffung fairer Voraussetzungen ist dabei am besten ihre Intelligenz und Fähigkeiten demonstrie- das logische Grundprinzip aller Maßnahmen zur Chan- 3 Begabungen, welche ren können, und diese Faktoren werden im Allgemeinen cengleichheit .Der Begriff des Spielfeldes spiegelt die einst zwischen den durch die Bildungsleistungen beurteilt. Ein hohes Ni- Geisteshaltung wider, dass Bildung als ein Wettbewerb Klassen mehr oder weniger veau an Bildung gewährt Zugang zu Positionen und Er- zwischen Individuen zu sehen ist, mit der Begleiterschei- zufällig verteilt waren, fahrungen, welche wiederum diesen Personen erlauben, nung, dass es Verlieren und Versagen gibt. wurden durch den Motor der Bildung viel höher mehr Beweise ihrer Intelligenz und Fähigkeit anzuhäu- Die Praxis der Leistungsgesellschaft hat in vielen Län- konzentriert. Eine soziale fen, und verweigern (oder zumindest erschweren) so den dern ganze soziale Gruppen gebildet, die „versagen“, und Revolution wurde durch Zugang zu solchen Erfahrungen für jene mit niedrigerem institutionalisiert daher schwache Leistung. Dies bietet angepasste Schulen und Leistungsniveau. Dies ist ein heimtückisches Argument: wiederum Handlungsspielraum für beschwichtigende Universitäten erreicht, um Personen entsprechend Es impliziert, dass jene, die nicht erfolgreich sind – sogar Rationalisierungen und rechtfertigt diskriminierende des eng gefassten ganze Gruppen von Personen – selbst für jedwede Nach- Handlungen gegen sozial Gruppen, seien es bestimm- Wertebündels der Bildung teile verantwortlich sind. Es lässt institutionelle und te Klassen, Ethnien, behinderte Menschen oder andere auszusieben. Mit einer strukturelle Hindernisse zum Erfolg unberücksichtigt Minderheiten. erstaunlichen Anhäufung von Zertifikaten und und ignoriert die Tatsache, dass jene, die es in einer Leis- Diese Ungleichheit ist also nicht zufällig oder gleich- akademischen Graden tungsgesellschaft „schaffen“, Maßnahmen ergreifen wer- mäßig über die Bevölkerung verteilt: Sozioökonomische und ihrer Vergabe, legt den, um sicherzustellen, dass ihre Kinder in Strukturen Nachteile sind eng mit schwachen Leistungen in der Bil- Bildung ihr Gütesiegel eingeschlossen sind, in denen diese, unabhängig von ih- dung verbunden, ähnlich wie die Zugehörigkeit zu einer auf eine Minderheit, und ihr Siegel der Ablehnung rer „Leistung“, erfolgreich sein werden. ethnischen Minderheit. Vor allem Migrant/innen leiden auf eine Vielzahl an Der Begriff „Leistungsgesellschaft“ stammt aus einem in diesem Qualifizierungsrennen, wobei bewiesen wer- Menschen, denen es satirischen Argument gegen die Vermengung von Ideen den kann, dass dies nicht die Konsequenz von Schwie- versagt geblieben ist, der Gleichheit mit Vorstellungen von Leistung, in „The rigkeiten in der Zweitsprache ist, sondern die der insti- hervorragende Leistungen zu vollbringen. Rise of the Meritocracy“ von Michael Young, einem So- tutionellen Praxis auf Ebene der Schulverwaltung und ziologen und sozialen Unternehmer. Er mokiert sich über anderswo. Betrachten Sie das Beispiel aus der pisa-Stu- die Tatsache, wie eine Elite – die durch Leistung ausge- die in Bezug auf die Sprachkompetenz von heimischen wählt wurde – arrogant und selbstgefällig danach strebt, Schüler/innen und Migrant/innen der ersten Generation sicherzustellen, dass ihre privilegierte Position an ihre und vergleichen Sie es dann mit den Ergebnissen von Nachkommen weitergegeben wird, obgleich diese viel- Migrant/innen der zweiten Generation, welche selbst- leicht weniger talentiert sind. Er argumentiert, dass jedes verständlich „heimisch“ sind, da sie im Land geboren und Bestreben, einer Elite einen speziellen Status als beson- aufgewachsen sind, das ihre Eltern gewählt haben. ders wichtigen Teil der Gesellschaft zu geben – den einer „kreativen Minderheit“ oder einer „rastlosen Elite“, wie er Darstellung – Unterschiede in der Leseleistung der es nennt – eine viel größere Mehrheit an Entmachteten Schüler/innen bezüglich Migrationsstatus und Land, hervorbringen würde: „Every selection of one is the rejec- 2006 tion of the many“ (Young: 1958, S. 15). (Leseleistung im Durchschnitt; von ausgewählten eu- Kurz vor seinem Tod im Jahr 2002 vermerkt Young Ländern, in denen Daten von Migrant/innen erster und ironisch, wie seine Satire missverstanden und falsch an- zweiter Generation verfügbar sind) gewandt wurde: „Ability of a conventional kind, which used to be dis- tributed between the classes more or less at random, has 600 become much more highly concentrated by the engine of education. A social revolution has been accomplished by 500 harnessing schools and universities to the task of sieving 400 people according to education’s narrow band of values. 300 With an amazing battery of certificates and degrees at its disposal, education has put its seal of approval on a mi- 200 nority, and its seal of disapproval on the many who fail 100 to shine from the time they are relegated to the bottom 0 streams.“3 (Young: 2001) BE DK DE FR LU NL AT SE UK

Der Trugschluss der Leistungsgesellschaft durchzieht MigrantInnen MigrantInnen Einheimische viele Bereiche der Rechtfertigung eines Bildungswett- erster Generation zweiter Generation SchülerInnen bewerbs. Er basiert auf der Annahme, dass der prinzi- pielle Zweck eines Bildungssystems sei, die Leistungen einzelner zu filtern und zu beurteilen anstatt sie mit Die Arbeit der Migration-Policy-Group in Brüssel, Datenquelle: oecd Fähigkeiten, Fertigkeiten und dem Verständnis auszu- im Besonderen deren komparative Arbeit im Migrant- pisa 2006 (adaptiert statten, erfüllte Mitglieder einer Gesellschaft zu werden. Integration-Policy-Index (mipex) (Huddleston u.a.: von der Europäischen Kommission, 2008, Das System, wie es Young so wortgewandt beschreibt, 2011), ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, weil sie Darstellung 3, S. 6) ist dazu gemacht, Versagen zu schaffen: Dies wiederum das Ausmaß der Diskriminierung von Migrant/innen in macht Ungleichheit, mit all ihren sozialen Konsequen- der Bildungspolitik aufzeigt. Eine neue Gruppe, sirius, zen, unabdingbar. Der sogenannte „Level-playing-field“- sammelt und verbreitet nun aktiv wissenschaftliche

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Belege, wie die Bildung von Migrant/innen verbessert was zurückgezahlt werden kann; wofür es Sinn macht, werden kann (sirius: 2013). Geld zu leihen. Dies wäre ein konkretes und sehr prakti- Welche Fähigkeiten brauchen also junge Leute, und sches Beispiel dafür, wie Bildung dazu beitragen kann, zu welche Fähigkeiten helfen uns, eine Art von Gleichheit verhindern, dass so eine Krise wiederkehrt. der Ergebnisse sicherzustellen? Noch besser, aber vielleicht etwas unwahrscheinlicher, Ich möchte nicht argumentieren, dass Basiskenntnisse wäre es, dass unsere Banker/innen nach einem Kurs über in Bezug auf Lesen, Schreiben und Rechnen unwichtig die Ethik und Moral von Bankgeschäften strenge, ver- sind: Sie sind wesentlich für unser heutiges Leben. Aber pflichtende Tests zu absolvieren hätten, wonach nur die gerade in diesen Bereichen haben wir in vielen Ländern Erfolgreichsten eine Lizenz bekommen, um am Finanz- Bildungsstrukturen und Routinen, welche den Charak- markt handeln zu können. ter der Selektion in jeder Stufe des Bildungsprozesses Der Bereich des sozialen Lernens, der Bürger/innen- betonen. Leistung und Qualifizierung richten sich nach bildung, ist von besonderer Bedeutung und Wichtigkeit den Eintrittsanforderungen für die nächste Stufe, sogar und ich möchte den Vortrag mit einem Resümee aus mei- dann, wenn viele der Beteiligten nicht danach streben, in ner derzeitigen Forschung abschließen, indem ich eine die nächste Stufe aufzusteigen. Das bedeutet, dass jene, Art der Bürger/innenbildung vorschlagen möchte, die die nicht mit den notwendigen Qualifikationen für die dienlich sein könnte. nächste Ebene abschließen, als Versager gekennzeich- Ich untersuche momentan, wie junge Menschen im net werden, und das System schafft eine Gesellschaft, in Alter von 12 bis 19 Jahren ihre Identitäten konstruieren, der sich viele Menschen selbst als unfähig ansehen, das als Mitglieder ihrer Herkunftsländer und als Europäer/ nächsthöhere Bildungsniveau zu erreichen. Der akade- innen. Ich habe in den letzten Jahren viele Länder be- mische Weg wird daher besonders wertgeschätzt, der sucht, die der Europäischen Union beigetreten sind oder Berufsweg hingegen wird allenfalls zum Trostpreis. Oft- sich gerade dafür bewerben, und mit vielen Gruppen von mals wird Bildung immer noch als ein Prozess der Über- jungen Menschen darüber gesprochen, was es heißt, ein/e tragung angesehen: Junge Menschen werden mit „Fak- Bürger/in dieses Landes oder ein/e Europäer/in zu sein. ten“ gefüttert, die sie angeblich benötigen. Die Lehrkraft Diese Identitätsbegriffe werden konstruiert – sie werden besitzt das Wissen, und ihre oder seine Aufgabe ist es, als Beschreibungen gebildet, um mit anderen teilen zu sicherzustellen, dass dieses in den Köpfen der Lernenden können, wer man „ist“, welche Identität man hat. erfolgreich reproduziert wird. Wir konstruieren unsere Identitäten bedingt, das heißt Es gibt viele andere wichtige Fertigkeiten neben jenen, wir tun dies unter gewissen Umständen beziehungsweise die direkt am Arbeitsmarkt benötigt werden. Alle jungen in einem bestimmten Kontext, abhängig davon, mit wem Menschen müssen Fähigkeiten und Kompetenzen im wir sprechen, wann wir sprechen, und worüber wir spre- persönlichen Bereich wie Gesundheit und Fitness und chen. Dies sind soziale Konstruktionen, die in einem so- der Führung von Beziehungen aufbauen, ebenso wie mo- zialen Umfeld stattfinden. ralische und soziale Werte und die Fähigkeit, ein aktiver Nehmen wir zum Beispiel einen jungen Mann in einer Bürger, eine aktive Bürgerin zu sein. Sie müssen lernen, kleinen Stadt in Nordengland: Er würde sich selbst je nach mit ihren Finanzen umzugehen und Umweltbewusstsein Kontext unterschiedlich beschreiben: als Brite, als briti- zu entwickeln. Blendet man reine Nützlichkeitserwägun- scher Muslim, als Mensch mit pakistanischer Herkunft, gen aus, so lässt sich argumentieren, dass Bildung ihnen als britischer Pakistani, als sunnitischer Muslim, oder aus auch helfen kann, Verständnis und Wertschätzung für Bradford, zum Beispiel. Seine Antwort hängt davon ab, unsere Kultur und für menschliche Leistungen im Allge- ob er mit einem Freund spricht, mit einem/einer Journa- meinen zu entwickeln. list/in, einem/einer Polizeibeamten/in oder einem/einer Dies sind Kompetenzen des lebensbegleitenden Ler- Forscher/in. Die Selbstbeschreibung könnte von aktuel- nens, welche in unsere Kultur eingebettet und ständig len Geschehnissen in Großbritannien abhängen oder von durch Übung aktualisiert werden sollen, sowohl im for- lokalen Ereignissen oder von Ereignissen irgendwo in der mellen als auch im informellen Bereich. Sie sind es, die Welt. Keine seiner Beschreibungen ist unwahr, aber jede unser Leben ausmachen. stellt eine Selektion von einem Repertoire an möglichen Immer wieder gibt es ökonomische Krisen, ausgelöst Antworten dar. durch exzessive Kreditnahme und leichtsinnige Kreditge- Ich war nicht auf der Suche nach einer definitiven Ant- währung. Exzessive Kreditnahme durch Einzelpersonen wort, wer diese Menschen „sind“, aber ich wollte zuhören und kommerzielle Institutionen ist in vielen Fällen das wie sie die verschiedenen Möglichkeiten untereinander Resultat davon, dass den Menschen die Möglichkeit ge- diskutieren. Ich organisierte Fokusgruppen mit rund boten wird, scheinbar „leichtes Geld“ ausborgen zu kön- sechs Personen aus derselben Klasse, welche miteinander nen, unter Konditionen, die nicht erläutert werden, von über dieses Thema sprachen. Ich forschte nach sozialen Institutionen, die bereits eine Versicherung abgeschlos- Konstruktionen, welche im sozialen Kontext artikuliert sen haben, im Falle, dass das verborgte Kapital nicht wie- werden. Ein Interview wäre dafür ungeeignet, weil es der eingebracht werden kann. nur ein einfacher Dialog zwischen einem Mitglied dieser Dies deutet an, dass wir Schulen und Einrichtungen Gruppe und mir, dem außen stehenden Forscher, wäre. In brauchen, die junge Menschen darin unterrichten, wie die so einer Fokusgruppe beginne ich die Diskussion so, wie private Finanzgebarung funktioniert: Warum Geld geborgt ich denke, dass sie zum Ergebnis führen wird, lasse dann werden kann und von wem; warum dies angeboten wird; aber die Gruppe so gut es geht alleine, damit die Mitglieder

12 — DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement unter sich argumentieren, etwas bestreiten, zustimmen Das Konzept von Europa ist sehr divers. Eine Minderheit oder sich wiedersprechen können. der Jugendlichen – wenngleich keine kleine Minderheit – Ich habe 150 solcher Fokusgruppen an 60 verschiede- sagt, dass sie sich nicht als Europäer/innen fühlen. Euro- nen Orten in 15 Ländern durchgeführt, dadurch habe ich pa – besonders für jene in Südost-Europa – ist woanders, eine große Bandbreite an Orten, sozialen Gruppen, sozi- dort drüben. Das „echte“ Europa besteht aus den großen alen Klassen und Altersgruppen. Nichtsdestotrotz ist es Ländern im Westen, mit dem „Schloss“ und dem „Châ- keine repräsentative Auswahl, wobei eine repräsentative teau“. „Echte“ Europäer/innen verhalten sich in einer be- Auswahl in der Tat gar nicht möglich wäre. Aber es sind stimmten Art und Weise – manchmal auch „zivilisiert“ 960 junge Menschen, die eine große Bandbreite an Di- genannt – anders als ihre eigenen Mitbürger/innen. versität in Ost- und Zentraleuropa aufweisen. Es ist kei- Gibt es eine europäische Kultur? Wenn die Frage auf ne präzise Darstellung, aber es zeigt viele verschiedene diese Art und Weise gestellt wird, ist die Antwort meist Standpunkte auf. „nein“. Es gibt zu viele Sprachen, Sitten und Bräuche aus Identitäten werden als multiple und bedingte Kon- denen man eine europäische Kultur verallgemeinern strukte anerkannt, die – für viele Menschen – in einem könnte. Europa ist vielleicht ein geografischer Ausdruck, Kontext der immer größer werdenden Diversität entste- aber für diese jungen Menschen ist es auch eine richtige hen. Vor allem in Europa ist diese Diversität besonders Institution, besonders die Europäische Union. Viele sind komplex: Globalisierung bedeutet, dass die Bevölkerung sich der Tatsache sehr bewusst, dass sie sich jetzt ohne von vielen europäischen Ländern auf neuen, interessan- Visa bewegen können, um zu studieren, zu arbeiten oder ten Wegen interkulturell wird und die Europäische Uni- einfach nur zu verreisen. Sie wissen über die Möglich- on selbst fügt eine neue Ebene einer potenziellen oder keiten mittels Programmen wie Erasmus/lebenslanges tatsächlichen Identität hinzu. Staatsbürgerliche Identität Lernen im Ausland studieren zu können Bescheid und wurde früher mit einem festgelegten, begrenzten und viele hoffen, diese einmal nutzen zu können. Sie sehen ausschließenden Gebiet in Verbindung gebracht, (Ma- Europa auf einer weniger persönlichen Ebene auch als ckenzie: 1978), innerhalb der letzten 60 Jahre wurde die- eine institutionelle Einheit und wissen von europäischen se Starrheit jedoch allmählich zunehmend aufgeweicht. Hilfestellungen und Geldmittel zur Entwicklung der In- Eine wachsende Anzahl junger Menschen in vielen frastruktur. Manche erwähnen Europa als einen Ort, wo Teilen der Europäischen Union anerkennt heute ein zu- Menschenrechte besonders respektiert werden – vor al- mindest teilweises Gefühl einer Europäischen Identität lem einige Minderheiten in der Türkei. neben ihrer nationalen Identität. Europäische und nati- In all diesen Belangen – bezüglich ihres eigenen onale Identitäten sind nicht Alternativen, sondern mög- Landes und Europa – sehen sie ihre Sichtweise als sehr licherweise ergänzende Gefühle, die parallel bestehen verschieden von der ihrer Eltern und Großeltern. Sie di- können (Licata: 2000, Lutz u.a.: 2006). stanzieren sich von ihren Eltern, die während des Auf- Identifizieren sich junge Menschen verschiedenartig brechens der sowjetischen Vorherrschaft gelebt haben, mit den kulturellen und bürgerlichen Aspekten von Eu- einem Ereignis, das vor ihrer Geburt stattgefunden hat. ropa? Und wie verhält sich dies in Bezug auf ihre Iden- Einige, besonders aber die polnischen Jugendlichen, tifikation mit dem eigenen Herkunftsland? Anerkennen haben noch ein bestimmtes nationalistisches Gefühl, je- junge Menschen eine Mannigfaltigkeit der Identitäten doch in einer abgeschwächten Form. Viele der anderen oder bestehen sie darauf, dass ihre Identität singulär und sehen jegliche nationale Identität als etwas Kulturelles, unentbehrlich ist? Sehen sie ihre Identitäten in der Art nicht aber Politisches. Ihre Großeltern hingegen würden und Weise anders konstruiert als jene der Eltern und mehr in der Vergangenheit leben: einige versuchen, die Großeltern? Polaritäten und Ausrichtungen des Zweiten Weltkriegs Was habe ich herausgefunden? 4 beizubehalten, andere blicken auf die Sicherheiten des Was die Identifikation mit dem eigenen Heimatland sozialistischen Systems. Sowohl die Eltern als auch die angeht, so scheinen die meisten jungen Menschen ihr Großeltern seien mehr nationalistisch eingestellt als sie Land über die Sprache und Kultur zu begreifen und weni- selbst, und weniger interessiert an Europa. ger im Sinne der öffentlichen Institutionen. Sie sprechen Dann jedoch forderte ich sie auf, zu überlegen, ob über die Musik, das Essen, die Tänze, manchmal auch andere Länder auch der Europäischen Union beiträten über die Geschichte: Einige erzählen ausführlich über könnten. Was ist zum Beispiel mit Russland, oder Weiß- die Naturlandschaft und den Genuss dieser Schönheit. russland? Manche hatten damit kein Problem, aber viele Wenn sie sich über politische Institutionen und Struktu- hatten Bedenken, besonders Jugendliche des Baltikums ren unterhalten, geschieht dies oft in negativer Art und und in Zentral-Osteuropa. Sie waren der Ansicht, dass Weise: Sie sprechen über die Unbeliebtheit von Politiker/ diese Länder nicht demokratisch, sondern unterdrückend innen, über ihre Auffassung von Korruption, über Miss- seien, und nicht in die Union passen würden: denn „un- wirtschaft. Sie sprechen auch über die Möglichkeit, das ser Land“ ist demokratisch und beachtet die Menschen- Land zu verlassen, um Arbeit zu finden oder eine weitere rechte, so sagten sie. Indessen hatten sie zuvor bei der Ausbildung zu erlangen, und die Spannungen, die sich einfachen Beschreibung ihrer Heimatländer die politi- daraus ergeben. Manche sehen es als eine Pflicht an, im schen und bürgerrechtlichen Elemente heruntergespielt. 4 Detaillierte Land zu bleiben, um es zu reformieren und zu entwi- Waren Russland oder Weißrussland jedoch Vergleichsba- Beschreibungen in: Ross: 2012a, 2012b, 2013a, 2013b, ckeln, andere sehen es als eine Chance zur Persönlich- sis, wurde die politische Natur ihre Heimatländern nach 2014 (in Vorbereitung); keitsentwicklung. vorne gerückt. Ross/Zuzeviciute: 2011).

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Ich wies dann darauf hin, dass die Türkei ein potenzielles Mitgliedsland ist. Wiederum sahen einige kein Problem darin. Aber es gab doch Einwände: und dieses Mal, be- Literatur sonders in Bezug auf die kulturellen Unterschiede. Man- Aristoteles: Politica [translation by T. A. Sinclair (1981): The Politics. che meinten, dass die Türkei eine andersartige Kultur als Harmondsworth: Penguin] Europa hätte. Jene Jugendliche, die vorher ausführlich Ball, S. J. (2003): Class strategies and the education market. The middle bestritten hatten, dass es eine „europäische Kultur“ gäbe, classes and social advantage. London: Routledge. Europäische Kommission (2007): Towards a more knowledge-based wiesen nun darauf hin, dass die türkische Kultur davon policy and practice in education and training (sec(2007) 1098). Brüssel: zu unterscheiden sei. Europäische Kommission. (= Commission Staff Working Document.) Mein Ziel ist es nicht, Ungereimtheiten und das Europäische Kommission (2008): Migration and mobility. Challenges and Fehlen von gründlichen Überlegungen aufzuzeigen, opportunities for eu education systems [Green Paper com(2008) 423 final] [3 July 2008sec (2008) 2173]. Brüssel: Europäische Kommission. sondern die zufällige Natur in der Art und Weise, wie Europäische Kommission (2012): Rethinking education. Investing in skills Identitäten konstruiert werden und wie sich diese in be- for better socio-economic outcomes [com(2012)669 final]. Strassburg: stimmten Situationen verändern. Citizenship Education Kommunikation von der Kommission zum Europäischen Parlament, (Bürger/innenbildung) muss ihre Voreingenommenheit dem Europarat, dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und dem Ausschuss der Regionen, 20. November 2012). und ihre Interessen reflektieren und darf ihnen nicht eine Brüssel: Europäische Kommission. „nationale“ oder „europäische“ Identität aufzuzwingen. Europäische Union (2000): Presidency Conclusions, Lisbon European Woher haben diese Jugendlichen ihre Ideen und Ar- Council (23-24 March). Brüssel: Europäische Union. gumente? Ich habe sie am Ende jeder Diskussion gefragt, Huddleston, T./Niessen, J./Ni Chaoimh, E./White, E. (2011): Migrant Integration Policy, Index III . Brüssel: Migration Policy Group/British ob sie mit ihren Freunden, Eltern oder Lehrern über die Council. sie betreffenden Themen sprechen. Licata L. (2000): National and European identities –complementary or Manche – aber nicht viele – sprechen mit ihren Freun- antagonistic? Paper at the id-net conference, Institut der den über Europa, Politik und Wirtschaft. Einige – aber Europäischen Universität, 9.-10. Juni 2000. Lutz, W./Kritzinger, S./Skirbekk, V. (2006): The demography of growing bestimmt nicht die Mehrheit – sprechen mit ihren Eltern, European identity. In: Science, 314, 2006, S. 425. besonders dann, wenn sie gemeinsam die Nachrichten Mackenzie, W. J. M. (1978): Political identity. Harmondsworth: Penguin. im Fernsehen anschauen. Nur sehr wenige sprechen OECD (2008): PISA 2006. Science competencies for tomorrow's world. darüber in der Schule; sie erwähnten Geschichte- oder Paris: OECD. Reay, D. (2006): The zombie stalking English schools. Social class and Sozialkundelehrer/innen, aber es scheinen Themen zu educational inequality. In: British Journal of Educational Studies. sein, die nicht auf dem Lehrplan vieler Schulen stehen. 54, 2006, 3, S. 288–307. Manche Schüler/innen lachten sogar über die Idee, dass Ross, A. (2012a): Communities and Others. Young peoples’ constructions sie darüber mit ihren Lehrkräften sprechen könnten. of identities and citizenship in the Baltic countries. In: Journal of Social Science Education, 11, 2012, 3, S. 22-42. In school it’s forbidden to speak of politics. At home we Ross, A. (2012b): Controversies and generational differences. Young are just little kids who don’t understand about these people’s identities in some European states. In: Educational. Sciences, things! (Naz K., Tokat tr, 16 ♀) 2012, 2, S. 91-104. [doi: 10.3390/educsci2020091] „In der Schule ist es verboten, über Politik zu sprechen. Ross, A. (2013a): Identities and diversities among young Europeans. Some examples from the eastern borders. In: Gonçalves, S./Carpenter, M. Zuhause sind wir nur kleine Kinder, die nichts davon (Hrsg.): Diversity. Intercultural encounters, and education. verstehen.“ (Naz K., Tokat tr, 16 ♀) London: Routledge, S. 141-163. But if we are to learn here in school, then we should talk Ross, A. (2013b): Intersecting identities. Young people’s constructions about this! I miss it, I miss the opportunity. (Kamilia of identity in south-east Europe. In: Maylor, U./Bohpal, K. (Hrsg.): F., Krakow pl, 15 ) Educational inequalities. Difference and diversity in schools and higher ♀ education. London: Routledge „Aber wenn wir in der Schule etwas lernen sollen, dann Ross. A. (2014, in Vorbereitung): Understanding (or Exploring) const- sollten wir darüber sprechen! Ich vermisse das, ich ructions of identities by young new Europeans: Kaliedescopic selves. vermisse diese Möglichkeit.“ (Kamilia F., Krakow pl, London: Routledge. 15 ) Ross, A./Zuzeviciute, V. (2011): Border crossings, moving borders – young ♀ people’s constructions of identities in Lithuania in the early 21st Ihnen fehlt die Gelegenheit, ihre Stimme abzugeben. century. In: Profesinis Rengimas. Tyrimai ir Realijos (Kaunus, Litauen), Ein junger Tscheche sagte zu mir nach der Gruppendis- 20, 2011, S. 38–47. kussion: „Darf ich sagen, wie tapfer es ist, für eine Person SIRIUS (2013): http://www.sirius-migrationeducation.org/ Ihres Alters, so weit zu kommen, um zu hören was wir zu Young, M. (1958): The rise of the meritocracy. London: Thames and Hudson. sagen haben“ (Oldrich, Hradec Kralove cz, 12 ♂). In ei- Young, M. (2001): Down with meritocracy. In: The Guardian, Freitag, nem albanischen Dorf in Mazedonien bedankte sich Pël- 29. Juni 2001. http://www.guardian.co.uk/politics/2001/jun/29/ lumb (Tetovo mk, 17 ♀) bei mir: „Keiner hat uns bis jetzt comment [2013-06-20] besucht, um mit uns über unsere Zukunft zu sprechen. Ich bin wirklich froh, dass Sie unsere Meinungen wichtig nehmen, wir schätzen das sehr.“ Eine einzige Änderung im Lehrplan? Jede Lehrkraft, in jeder Klasse, sollte die ersten fünfzehn Minuten des Ta- ges damit verbringen, die zwei Hauptelemente der Fern- sehnachrichten zu diskutieren. //

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Konzepte und Maßnahmen entwickelt wurden, durch die Weiterbildungen und Studienbesuche europaweit möglich sind. Dies hat zu der absurden Situation ge- Dachverbände – führt, dass in manchen Ländern mehr mit Partnern in anderen europäischen Ländern gearbeitet wird als mit verwandten einschlägigen Organisationen im eigenen Dinosaurier oder Land. Dachverbände spielen hier eine wichtige Rol- le und helfen, Kooperationen zu ermöglichen und zu Notwendigkeit? fördern. Die Europäische Kommission hat in den letz- ten Jahren Instrumente entwickelt, die seit langem von Schwerpunkt Dachverbänden verwendet werden, wie etwa „Peer-lear- ning-Activities“. Diese sollen die Mitgliedsstaaten dazu anregen, voneinander zu lernen und die „best practice“ so zu adaptieren, dass sie im eigenen Land angewendet werden kann. Ob man dies jetzt „peer-learning“ oder „Arbeitskreis“ nennt – die Zielsetzungen sind absolut vergleichbar: das Rad muss nicht nochmals erfunden werden und Instru- mente, die bereits entwickelt wurden, können adaptiert und anderswo eingesetzt werden.

2. Erwachsenenbildung braucht Transparenz und Information Gina Ebner Die eaea – European Association for the Education of Die Erwachsenenbildung ist noch immer der Bereich Adults oder Europäischer Verband für Erwachsenenbil- in der Bildungslandschaft, über den man am wenigsten dung – vertritt die (non-formale) Erwachsenenbildung weiß. Dazu ein Beispiel: Wie viel Geld wird tatsächlich in auf europäischer Ebene und hat 116 Mitglieder in 43 die Erwachsenenbildung in einem Land investiert? Hier Ländern. In den meisten nord- und westeuropäischen kann man die Arbeitsmarkt- und anderen Förderungen Ländern gibt es Dachverbände, welche die nationalen einrechnen, wie auch verschiedene Subventionen von Erwachsenenbildungsorganisationen koordinieren und Gemeinden, Ländern etc. Dann muss man die Kursbei- vertreten. In Süd- und Osteuropa ist dies seltener, obwohl träge von Einzelpersonen berücksichtigen, womit die einige Länder seit mehreren Jahren darum ringen, einen Berechnung bereits intransparent wird, da Anzahl und gemeinsamen Dachverband zu gründen (z.B. Portugal). Diversität der Anbieter hier keinen Überblick mehr er- In anderen Ländern, wie zum Beispiel den Niederlanden, lauben. Von einigen Arbeitgeberorganisationen gibt es geht der Trend eher in Richtung professionelle Vereini- allgemeine Angaben, wie etwa „Firmen investieren X- gung und das Konzept eines Dachverbandes erscheint Milliarden in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter“ die dort als veraltete Organisationsform. aber in der Regel nicht überprüfbar sind. Wenn wir also eaea folgt diesem „veralteten“ Prinzip – um Vollmit- von der Finanzierung von Erwachsenenbildung spre- glied bei eaea zu sein, muss eine Organisation entwe- chen, wissen wir eigentlich nicht genau, worüber wir der ein nationaler Verband oder ein Anbieter sein, und tatsächlich reden. Der englische Dachverband niace sowohl als eaea-Vertreterin als auch aus persönlicher (National Institute for Adult and Continuing Education) Erfahrung glaube ich fest an die Wichtigkeit von Dachver- hat aus diesem Grund eine Studie beauftragt, welche bänden, und zwar aus folgenden Gründen: die Finanzierung in Großbritannien untersuchte (siehe http://www.niace.org.uk/lifelonglearninginquiry/docs/ 1. Erwachsenenbildung braucht Strukturen und Expenditure-funding-models.pdf). Kooperation In dieser Studie wurden die Ausgaben der öffentli- Die (allgemeine) Erwachsenenbildung ist in vielen chen Hand, von Unternehmen, des dritten Sektors (Frei- Ländern fragmentiert und unübersichtlich. Die Etablie- willigenarbeit) und von Privatpersonen erfasst, ebenso rung eines Mindestmaßes an Struktur, die die Zusam- die Teilnahme an Erwachsenenbildung. Das Papier ent- menarbeit koordiniert, hilft bei der Steuerung der Akti- hält auch Vorschläge für die Finanzierung. vitäten. Viele Dachverbände publizieren landesweite Statis- Die Dachverbände, die bei eaea Mitglied sind, er- tiken über Teilnahme, Kostenentwicklung, Mitarbeiter/ füllen eine Reihe von Aufgaben für ihre Mitglieder, bei- innen etc. – eine absolut notwendige Information, die es spielsweise die Organisation von Konferenzen oder ge- ermöglicht, Trends zu beobachten und mit Fakten argu- meinsame Aus- und Weiterbildung. Auch Zeitschriften mentieren zu können. werden herausgegeben und Arbeitsgruppen zu bestimm- Ein weiteres Beispiel, wie ein Dachverband für seine ten Themen abgehalten. Mitglieder einen Mehrwert erarbeiten kann, kommt aus Die Grundtvig- und Leonardo-da-Vinci-Programme Finnland: Der finnische Dachverband beauftragte einen der Europäischen Kommission haben in den letzten Jah- Forscher, Jyri Manninen, die positiven Auswirkungen ren enorm dazu beigetragen, dass gemeinsame Ideen, von allgemeiner Erwachsenenbildung zu untersuchen.

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Kursteilnehmer/innen von Freizeitkursen wurden den Aktionsplan für Erwachsenenbildung, später durch befragt, welche Vorteile sie aus dem Kursbesuch zogen. die Agenda für Erwachsenenbildung abgelöst, aber auch Die Ergebnisse waren weitreichend – die Teilnehmer/ durch die übergreifenden Strategien und Zielsetzungen innen bestätigten, gesundheitlich, sozial, beruflich etc. der Europäischen Kommission ergaben sich immer mehr vom Kursbesuch profitiert zu haben. Diese Studie war Themen und Bereiche, zu denen die institutionalisierte somit ein hervorragendes Instrument, um den Nutzen Erwachsenenbildung Stellung nehmen sollte. eaea hat der Erwachsenenbildung zu unterstreichen. Die fin- sich als Hauptansprechpartner für die (allgemeine) Er- nische Studie wurde übrigens in der Zwischenzeit zur wachsenenbildung positioniert. Grundlage eines weiterreichenden europäischen Pro- Durch das Subsidiaritätsprinzip ist es für die eaea jekts, das vom Deutschen Institut für Erwachsenenbil- notwendig, intensiv mit den Mitgliedern zusammenzu- dung koordiniert wird. Die Umfrage wird nun in zehn arbeiten. Die eaea kann die europäische Ebene beein- europäischen Ländern durchgeführt (http://bell-project. flussen, aber zur nationalen Umsetzung sind jeweils die eu/index.html). einzelnen Dachverbände aufgerufen. In den letzten Jahren haben sich im Bildungsbereich 3. Erwachsenenbildung braucht mehrere europäische Dachverbände etabliert und damit Interessensvertretung begonnen, auf europäischer Ebene zusammenzuarbei- Dies bringt mich auch zu dem Punkt, den ich für be- ten. Die Plattform eucis lll (European Civil Society sonders wichtig halte, nämlich jenem der Interessensver- Platform on Lifelong Learning), die die Zivilgesellschaft tretung: Erwachsenenbildung, und hier insbesondere die im Bildungbereich organisiert, begann vor acht Jahren allgemeine Erwachsenenbildung, braucht eine Instituti- mit fünf Mitgliedern, nun, 2013, sind es bereits 33 Mitglie- on, die ihre Interessen gegenüber der Politik und den Re- der und ein Sekretariat mit drei Mitarbeiter/innen. gierungen vertritt. Die automatische Unterstützung von Ich habe die zunehmende Anerkennung dieser Dach- Erwachsenenbildung und das Verständnis, dass Erwach- verbände in den letzten sechs Jahren selbst erlebt: Wäh- senenbildung Teil einer demokratischen Struktur und rend wir in den 2000er-Jahren hauptsächlich mit den ein wichtiger Teil des Bildungssystems ist, gehören leider zuständigen Abteilungen in der Kommission und eini- der Vergangenheit an, selbst in nordischen Ländern; und gen besonders enthusiastischen Europaparlamentarier/ in vielen Ländern fehlen diese Unterstützung und dieses innen zusammengearbeitet haben, konnten wir 2013 Verständnis von vorherein. auch Zugang zu den Direktor/innen, Generaldirektor/ Dachverbände haben hier ihre wichtigste Rolle: Sie innen und Kommissar/innen einerseits und einer Reihe können die Anliegen ihrer Mitglieder bündeln und di- von Parlamentarier/innen andererseit finden. Auch die rekte Ansprechpartner von Ministerien, Parlamentarier/ Zusammenarbeit mit den Bildungsattachés der einzelnen innen etc. sein. Die Dachverbände haben verschiedene Mitgliedsländer hat sich verstärkt. Instrumente erarbeitet, um politisch gehört zu werden: Trotz dieser steigenden Anerkennung gibt es natürlich In einigen Ländern arrangieren sie Treffen zwischen Ent- Auffassungsunterschiede, welche Rolle Dachverbände scheidungsträger/innen und erfolgreichen Lernenden, spielen sollen: Die Europäische Kommission sieht sie als um die transformative Wirkung von Erwachsenenbildung Instrument, um die „Grassroots“-Ebene des Bildungsbe- zu unterstreichen. Andere Dachverbände arbeiten an reiches zu erreichen, als Sprachrohr der Kommission, das der Verbesserung der rechtlichen Situation von Erwach- deren Zielsetzungen und Strategien in die Mitgliedslän- senenbildung: Der dänische Verband hat es geschafft, der trägt. Und während wir kein Problem damit haben, einen nationalen Ausschuss für Erwachsenenbildung zu unsere Mitglieder zu informieren, was auf europäischer etablieren. Eine der Politiker/innen, die diesen Prozess Ebene passiert, beziehungsweise umgekehrt auch die besonders unterstützt haben, ist seit einem Jahr die zu- Kommission zu informieren, welche Reaktionen wir von ständige Ministerin. In ihrer Antrittsrede unterstrich sie unseren Mitgliedern auf europäische Entwicklungen und dementsprechend die besondere Rolle und Wichtigkeit Vorschläge bekommen, sehen wir unsere eigene Rolle von non-formaler Erwachsenenbildung. Dies ist natür- doch weitaus politischer: Dachverbände sind Ausdruck lich eine besonderes Beispiel für Interessensvertretung einer demokratischen Struktur der Zivilgesellschaft. // und noch dazu aus einem Land, das in diesem Bereich ohnehin erfolgreich ist. Unsere litauischen Kolleg/innen haben eine Kampagne begonnen, um ein Erwachsenen- bildungsgesetz zu erreichen und finden dafür momentan nur begrenzt Unterstützung, aber wir wissen von den nor- dischen Ländern, dass diese Kampagnen langfristig sehr wohl zum Erfolg führen können. Dies braucht allerdings Koordination und gebündeltes Lobbying: Im Prinzip Auf- gaben, die eigentlich nur ein Dachverband erfüllen kann!

Koordination und Interessenvertretung durch Dachverbände auch auf der europäischer Ebene Mehr über die Arbeit der EAEA: eaea besteht zwar schon seit circa 60 Jahren, hat aber www.eaea.org das Büro in Brüssel erst vor etwa 13 Jahren eröffnet. Durch

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auskommen muss, ist auch im Hinblick auf andere Res- sourcen wie Bildung, Wohnung, Gesundheit und tragfä- hige soziale Netzwerke benachteiligt, muss unmögliche Wir sind Europa! Entscheidungen – wie etwa die zwischen dem Einkauf von Nahrung für die eigenen Kinder und dem Einschal- Partizipationsprojekte von und mit Menschen mit ten der Heizung bei Minusgraden – treffen, und bleibt Armutserfahrungen als Wegweiser für eine notgedrungen von wesentlichen Gesellschaftsbereichen ausgeschlossen. Teilhabegesellschaft Menschen mit Armutserfahrungen beschreiben ihre Situation häufig mit dem Mangel an grundlegenden Res- Schwerpunkt sourcen, dem Fehlen würdiger Erwerbsarbeitsmöglich- Seitdem auf Initiative der damaligen belgischen keiten, aber auch als Defizit an Respekt und Hoffnung Ratspräsidentschaft im Dezember 2001 erstmals ein solches sowie mit dem Gefühl der Isolation. Deshalb muss Ar- Treffen organisiert wurde, kommen alljährlich im Mai über mut, wie die Arbeiten des indischen Ökonomie-Nobel- 100 Frauen und Männer mit Armutserfahrungen aus den eu- preisträgers Amartya Sen und der US-amerikanischen Mitgliedsländern nach Brüssel, um Erfahrungen auszutauschen, Philosophin Martha Nussbaum belegen, als Mangel an gemeinsam Strategien zu entwickeln und Probleme sowie Verwirklichungschancen definiert werden. Damit wird Lösungsansätze zur Vermeidung und Bekämpfung von Armut mit auch auf Gerechtigkeitsvorstellungen verwiesen, die über politischen Entscheidungsträger/innen und Behördenvertreter/ ökonomische Verteilungsfragen hinausgehen und nicht innen zu diskutieren. Und seit damals warten sie auf spürbare zuletzt die Dimension der „Teilhabegerechtigkeit“ in den Veränderungen.1 Blick nehmen. „Teilhabegerechtigkeit“, so der Soziologe Lutz Leisering, „kann Gleichheit, aber auch Anerken- nung von Ungleichheit, Diversität und Pluralität meinen“ und er betont, dass es dabei um die „Sicherung von sozi- aler Anerkennung, Menschenwürde und Partizipation“ gehe.2 Zwar entspricht die Anzahl an Menschen, die in Eu- ropa unterhalb der Armutsgrenze leben beinahe der Ein- Michaela Moser Armut ist sichtbar wohner/innenzahl der Bundesrepublik Deutschland, Brüssel, 10. Mai 2012: Es ist ein ungewohntes Bild, das und damit einer der einflussreichsten Akteurinnen der sich Passant/innen vor dem Gebäude der Kommission Europäischen Union – über Einfluss verfügen die 80 am Schumann-Platz bietet. An die 100 Menschen haben Millionen armutsgefährdeten Menschen dennoch nicht. sich auf der Straße versammelt. Sie strecken rote Karten Trotz ihrer großen Zahl mangelt es ihnen an Mitbestim- in die Höhe und tragen Transparente mit Aufschriften, mungsmöglichkeiten, ihre Anliegen und Vorschläge wer- die daran erinnern, dass 20 Millionen Menschen in Euro- den sowohl auf nationaler als auch auf eu-Ebene kaum pa in Armut leben und dass nicht diese es waren, die die gehört. Selbst wenn es gelingt, Armutsfragen zumindest Länder der Union in die Krise geführt, trotzdem jedoch näher an das Zentrum politischer Aufmerksamkeit zu am stärksten darunter leiden zu haben. rücken, passiert dies im Normalfall ohne die Einbezie- Die Menschen, die diese Transparente tragen, wissen hung derjenigen, die in Armut leben. Dem skandalösen nur allzu genau, wovon sie sprechen. Es handelt sich um Zustand von Armut wird mit vagen Ankündigungen und einen Großteil der 150 Delegierten, die aus allen Mit- Absichtserklärungen begegnet. gliedsländern zum elften Europäischen Treffen von Men- Bis heute warten Millionen von Kindern, Frauen und schen mit Armutserfahrungen nach Brüssel gekommen Männern auf das Einlösen jenes Versprechens, das die sind. eu-Regierungschefs bereits im Jahr 2000 auf der Ratsta- Nach all den Jahren der Präsentationen und Diskus- gung von Lissabon abgaben. Damals wurde angekündigt, 1 Umfassende Berichte der sionen ihrer Situation mit politisch Verantwortlichen bis 2010 einen entscheidenden Beitrag zur Armutsbe- bisherigen Europäischen nationaler Regierungen und Entscheidungsträger/innen kämpfung leisten zu wollen. 2010 wurden im Zuge der Treffen von Menschen mit der Europäischen Kommission wollen sie sich nicht län- Europa-2020-Strategie dann gar quantitative Ziele festge- Armutserfahrungen sowie ger auf den vorgesehenen Austausch in Konferenzsälen legt. Um ein Viertel solle in den europäischen Mitglieds- weitere Informationen und Materialien stehen auf beschränken. Sie versuchen mit ihren Forderungen stär- ländern im vorgegebenen Zeitrahmen der Anteils an der Website des European ker an die Öffentlichkeit zu gehen und wollen die Ver- Bürgern unterhalb der jeweils nationalen Armutsgrenze Anti Powerty Network antwortlichen dazu drängen, Antworten auf die Frage zu reduziert werden Ein Vorsatz, der infolge der Sparmaß- (eapn) http://www.eapn. geben, warum es im – trotz Krise immer noch – reichen nahmen zwecks Krisenbekämpfung ebenso zu Makulatur eu zur Verfügung. Europa so viel Armut gibt. wurde, wie schon zuvor das bereits um zehn Jahre ältere 2 Lutz Leisering (2000): Versprechen. Nur wenige punktuelle Verbesserungen Die Rückkehr der Armut ist Mangel an Teilhabe können seither in einzelnen Ländern verzeichnet wer- Gerechtigkeitsfrage. In: Mindestens 80 Millionen Menschen leben derzeit in den. Für die große Mehrheit jener, die in Armut leben, ist Magazin Mitbestimmung, den eu-Mitgliedsländern unter der Einkommensarmuts- es zu einer Verschärfung der Situation gekommen, auch 2000,01-02. http://www. boeckler.de/18739_18754. grenze, die mit 60 Prozent des mittleren Einkommens wenn dies in offiziellen Statistiken nicht immer zum Aus- htm [2013-04-27]. des jeweiligen Landes definiert wird. Wer mit Wenigem druck kommt.

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 17 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement

Um dies zu erkennen, muss man nicht nach Griechen- Gehört werden und mitentscheiden land oder Spanien reisen, auch wer in Österreich oder Information, Konsultation, Partizipation und schließ- Deutschland und andernorts mit offenen Augen, Ohren lich Mit-Entscheidung gelten als zentrale Elemente und Herzen durch die Städte und Dörfer reist, wird be- ernsthafter Beteiligungsprojekte und -strukturen. Damit stehende Ungleichheiten und Armutsverhältnisse nicht kommen auch die eigenen Strukturen und Arbeitsweisen übersehen können. sozialer Organisationen und Armutsnetzwerke auf den Prüfstand. Hörbar werden – sichtbar werden Als vorbildlich kann hier die Organisationsentwick- Während sich Europa im Zuge der Sparpolitik von ei- lung des jungen ungarischen Armutsnetzwerks (hapn) ner nachhaltigen Entwicklung einer Politik des Sozialen, beschrieben werden. Das hapn wurde 2004 als zivilge- die allen die umfassende Teilhabe ermöglichen würde, sellschaftliches Bündnis sozialer Organisation, die sich also immer weiter entfernt, machen Betroffene ihrem Är- gegen Armut und soziale Ausgrenzung engagieren, von ger Luft und zeigen ihr Elend deutlich. Sie erheben ihre Sozialarbeiter/innen gegründet. Von Anfang an stand die Stimme und nutzen all jene Möglichkeiten, die seit dem Partizipation von Betroffenen als wichtiges Prinzip und Formulieren einer „Mobilisierung aller Akteur/innen“ in Ziel fest, Details der Umsetzung jedoch waren zunächst die Soziale Agenda der eu zumindest teilweise geschaf- unklar, zumal in Ungarn kaum einschlägige Selbstorga- fen wurden, um politische Mitsprache und Teilhabechan- nisationen oder Selbsthilfegruppen bestehen. cen von Menschen mit Armutserfahrungen zu stärken. Im Zuge nationaler Vorbereitungstreffen für die un- Dazu gehören die jährlichen Treffen von Menschen garischen Delegierten an den Europäischen Treffen von mit Armutserfahrungen in Brüssel genauso wie zahlrei- Menschen mit Armutserfahrungen bildete sich eine che Partizipationsprojekte, darunter viele nationale und Gruppe von Menschen, die von Armut betroffen sind, regionale Initiativen, die u.a. vom European Anti Poverty die sich aktiv an der Netzwerkarbeit beteiligten. 2006 Network (eapn) und seinen Mitgliedsnetzwerken in 26 wurde dann beschlossen, jene strukturellen Rahmenbe- europäischen Ländern umgesetzt werden. Den meisten dingungen zu schaffen, die es für eine nachhaltige Betei- dieser Projekte geht es dabei weniger um eindeutige De- ligung von Betroffenen an der Netzwerkarbeit braucht. finitionen und die „richtigen“ Antworten im Hinblick auf Damit begann die Transformation des ungarischen Ko- Partizipation, sondern vor allem um Aufmerksamkeit für ordinationsteams, das bis dahin aus Funktionär/innen sozialpolitische Notwendigkeiten und die vielfältigen bzw. Mitarbeiter/innen sozialer Organisationen und der Möglichkeiten, mit denen die gesellschaftliche, ökono- Wohlfahrtsverbände bestanden hatte. Die Anzahl der mische, politische und kulturelle Teilhabe von Menschen Teammitglieder wurde verdoppelt und zur Hälfte mit mit Armutserfahrungen gestärkt werden kann. Darüber Menschen mit Armutserfahrungen besetzt. Auch die re- hinaus möchten sie die Einsicht nähren, dass effektive und gionale Arbeit des ungarischen Netzwerks wird seither nachhaltige Lösungen nur unter Beteiligung von Men- von einem Tandem aus je einer von Armut betroffenen schen mit Armutserfahrungen entwickelt werden können. Person und einem/r professionell in der Sozialarbeit tä- Zu den konkreten Projekten, die in den verschiedenen tigen Mitarbeiter/in einer Mitgliedsorganisation besetzt. Ländern in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang Das Funktionieren des Modells wird unter anderem umgesetzt wurden gehören zum Beispiel: durch die bestehende Kontinuität im Engagement der • ein umfassender Konsultationsprozess mit Menschen beteiligten Menschen mit Armutserfahrungen belegt. Im mit Armutserfahrungen, der unter dem Slogan „Get Koordinationsteam mitzuarbeiten, bedeute für sie eine heard“ in Großbritannien durchgeführt wurde, Entwicklungschance, erzählt Zoltanne Szvoboda. „Es ist • ein in Portugal umgesetztes Projekt zur Etablierung eine Möglichkeit, Träume wahr werden zu lassen“ und notwendiger Strukturen einer Kultur der politischen „zu Diamanten zu werden, indem wir uns gegenseitig po- Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrungen lieren.“ Die Zusammenarbeit im Tandem mit einer „Pro- 3 Einige der genannten auf lokaler Ebene und fessionalistin“ beschreibt sie mit dem Bild einer Waage, sowie weitere Projekt die es beständig in Balance zu halten gelte. werden in mittlerweile • die in Norwegen regelmäßig im Vorfeld der Parla- zwei eapn-Publikationen mentswahlen stattfindenden Hearings mit von Armut Inzwischen haben einige der Mitarbeiter/innen im im Detail vorgestellt: Betroffenen. Koordinationsteam bereits eigene Organisationen ge- eapn (Hrsg.) (2008): In Belgien werden seit vielen Jahren sogenannte Er- gründet und geben damit den neu erworbenen Vorsprung Small steps – big changes. fahrungsexpert/innen für die Mitarbeit in Behörden und an Informationen, Beziehungen und Wissen an andere Building participation of people experiencing sozialen Organisationen ausgebildet und in den Nie- weiter. Auch für das Netzwerk selbst ist es zu Wissenszu- poverty. Brüssel; eapn derlanden ist seit langem für alle sozialen Institutionen wachs und zur Erweiterung des bisherigen Horizonts ge- (Hrsg.) (2011): Breaking – auch auf Gemeindeebene – ein Klient/innen-Beirat ge- kommen und die Organisation hat an Glaubwürdigkeit barriers – driving setzlich vorgesehen. und Stärke gewonnen. change. Case studies of building participation Auch in Österreich werden Anliegen und Lösungsvor- „Es war ein Sprung ins kalte Wasser“, berichtet das of people experiencing schläge über Selbsthilfeorganisationen von Menschen ungarische Koordinationspaar Izabelle Marton und poverty. Brüssel. Beide mit Armutserfahrungen durch öffentliche Straßenakti- Zoltanne Szvoboda, aber dies „hat viel zu unserem ganz Veröffentlichungen onen, nationale Treffen und rund um Forum-Theater- speziellen Image beigetragen und zu einer bewussten stehen auf der Website http://www.eapn.eu zum projekte, die sich u.a. im Projekt „Sichtbar werden“ der und zielgerichteten Förderung der aktiven Teilhabe von Download zur Verfügung. Armutskonferenz vernetzen, zunehmend in die Öffent- Menschen mit Armutserfahrungen in unserer internen lichkeit gebracht.3 und externen Arbeit.“ Vgl. eapn (2008): S. 10.

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Unterwegs zur Teilhabegesellschaft und nicht […] eine Antwort oder gar ein politisches Kon- In der Hoffnung und im Glauben daran, dass auch mit zept. Die Konflikte über die Ausgestaltung unserer Ge- kleinen Schritten viel zu erreichen ist und Veränderun- sellschaft haben damit gerade erst begonnen.“ // gen nachhaltig zu verankern sind , werden das eapn und seine Netzwerke auch weiterhin für die verstärkte Teilha- be von Menschen mit Armutserfahrungen kämpfen und diese durch die Entwicklung, Umsetzung und Evaluie- Literatur rung entsprechender Projekte fördern. European Anti Poverty Network EAPN (Hrsg.) (2008): Small steps – big changes. Building participation of people experiencing poverty. Auch wenn die konkreten Ergebnisse der einschlägigen Brüssel: Eigenverlag (Bestellung über: www.eapn.eu ). europäischen und nationalen Treffen oft mager ausfallen European Anti Poverty Network EAPN (Hrsg.) (2011): Breaking barriers und der gewünschte ernsthafte und wirksame Dialog mit – driving change. Case studies of building participation of people politischen Entscheidungsträger/innen bislang nur ver- experiencing poverty. Brüssel: Eigenverlag (Bestellung über: www. eapn.eu ). einzelt zustande kam, lassen sich doch auch Erfolge ver- Leisering, Lutz (2000): Die Rückkehr der Gerechtigkeitsfrage. In: Magazin buchen. So führten Diskussionen zwischen Politiker/in- Mitbestimmung, 2000,01-02. http://www.boeckler.de/18739_18754. nen und Menschen mit Armutserfahrungen im Zuge des htm [2013-04-27]. regionalen Theaterprojekts „Kein Kies zum Kurven krat- Moser, Michaela/Schenk, Martin (2009): Armutsbetroffene als Akteure.Partizipation und Selbstorganisation von Menschen mit zen“ zu einer Veränderung im damals geltenden Sozial- Armutserfahrungen. In: Dimmel, Niklaus/Heitzmann, Karin/ hilfegesetz des österreichischen Bundeslandes Steiermark Schenk, Martin (Hrsg.): Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck: und zu einem breiten Diskurs zu Armutsfragen in vielen Studienverlag, S. 410-419. (Neuauflage in Vorbereitung). steirischen Gemeinden. Ein als Weltcafé organisiertes Zu- Nussbaum, Martha (1999): Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp. sammentreffen von Menschen mit Armutserfahrungen mit dem österreichischen Bundespräsidenten, dem Sozi- alminister, Beamt/innen weiterer Ministerien, sowie Ver- treter/innen von Sozialamt, Arbeitsmarktservice, Medien und Bildungseinrichtungen sorgte für neue Einblicke in konkrete Armutsrealitäten, unter deren Eindruck die ein- geladenen Gäste zumindest zu Reflexionen, wenn nicht Änderungen ihrer bisherigen Arbeit angeregt wurden. Politische Bildung in der Und im Jänner dieses Jahres fand eine Veranstaltung im Sozialministerium statt, in der relevante sozial- und arbeitsmarktpolitische Entscheidungsträger/innen, dar- Basisbildung unter auch Sozialminister Rudolf Hundstorfer und ams- Pädagogischer Ansatz des Schwerpunkt Vorstand Johannes Kopf, Probleme und Lösungsvor- schläge im Anschluss an ein von Jugendlichen, die von Grundbildungszentrums der VHS Linz Armut und Ausgrenzung betroffen sind, entwickeltes Theaterstück mit den Betroffenen selbst diskutierten und in einzelnen Punkten die Umsetzung von Änderungsvor- Ausreichende Basisqualifikation ist Voraussetzung für eine uneingeschränkte schlägen bereits in die Wege geleitet haben. Teilnahme am sozialen, politischen und beruflichen Leben. Sprach- und Ähnliche Erfahrungen wurden bei Projekten in ande- Schriftsprachenkompetenz, sowie zumindest grundlegende Kenntnisse in ren Ländern gemacht, auch wenn nicht wenige vielver- Ma-thematik und im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik sprechende Projekte in den letzten Jahren dem Sparstift (ikt) sind in unserer Gesellschaft als notwendige Basiskompetenzen zum Opfer gefallen sind. hinreichend bekannt. Zur politischen Partizipation, der aktiven Teilhabe an Umso wichtiger ist die Forderung an die Politik und der Gesellschaft und der Mitgestaltung des persönlichen Umfeldes braucht öffentliche Verwaltung, Partizipationsprozesse nicht es allerdings auch noch einen kritischen, reflektierten und gestalterischen nur weiterhin verstärkt zu fördern, sondern Ergebnisse Zugang zu den erlernten Fähigkeiten und den damit verbundenen erweiterten auch entsprechend aufzugreifen und umzusetzen. Dies Handlungsmöglichkeiten innerhalb spezifischer gesellschaftspolitischer verlangt freilich die Einsicht, dass die Entwicklung einer Umfelder. Teilhabegesellschaft zentrales Element einer umfassen- den, effektiven und nachhaltigen Armutsbekämpfungs- Birgit Krupka, Sonja Muckenhuber strategie ist. Mit der Förderung einzelner Projekten, mögen sie noch so positiv sein, wird es hier nicht getan Selbstverständnis einer politischen Basisbildung sein. Vielmehr müssen entsprechend demokratie-, aber Bildung und insbesondere Basisbildung enthalten im- auch bildungs-, sozial-, wirtschafts- und finanzpolitische mer auch einen politischen Aspekt. Ermächtigung und Prioritäten überdacht und geändert sowie mithilfe der ge- „Nur wer die Welt Selbstermächtigung der Teilnehmenden stehen im Mit- nannten und weiterer Partizipationsprojekte Gesellschaft benennen kann, d. h. telpunkt. Dies geschieht durch Förderung der Lernauto- von unten neu gestaltet werden. nur wer die Sprache nomie und konsequent dialogischer Lernprozesse. Wech- Auf dem Weg in Richtung Teilhabegesellschaft gilt es in Wort und Schrift selseitigkeit prägt die Beziehung zwischen Lernenden und beherrscht, ist in der nicht zuletzt auch zu lernen, dass die richtigen Antworten Lage, die Welt zu Lehrenden. Lehrinhalte werden nicht vorab bestimmt oft erst im Prozess gefunden werden können. „Gerech- verändern.“ und den Teilnehmenden bevormundend auferlegt, viel- tigkeit“, so der Soziologe Lutz Leisering, „ist eine Frage – Paulo Freire mehr stehen das Fokussieren der Lebenswirklichkeit

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 19 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement und die Aktualität der Themen im Vordergrund. Dies Produktion und Konsum auf Natur und Mensch oder gelingt allerdings nur, wenn Interaktion und Kommu- auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und nikation auf gleicher Ebene stattfinden können. In der die Fähigkeit zur Orientierung in der heutigen Welt sol- Praxis arbeiten dabei Basisbildungs- und Alphabetisie- len zentrale Ziele auch des politischen Verständnisses in rungstrainer/innen nicht mit vorgefertigten Materialien, der Basisbildung sein. sondern nähern sich vielmehr dem Lebenskontext der Zielgruppe an, machen diesen bewusst, regen im laufen- Annäherung an das pädagogische Konzept Paulo Freires den Austausch mit den Teilnehmenden eigenständige Die Zugänge zur Bildung werden gemäß Freires Bil- Lösungsansätze an, fördern gesellschaftsveränderndes dungsidee vom gesellschaftlichen System determiniert. Denken und Handeln und unterstützen die Entwicklung Bildung ist daher immer auch politisch (Freire: 1973, S. individueller politischer Handlungsmöglichkeiten. Das 13). Die Trainer/innen müssen sich darin ihrer politi- heißt, im Bildungsprozess der politischen Basisbildung schen Handlungsdimension im Rahmen ihrer Tätigkeit steht nicht die einseitige Wissensvermittlung im Zent- bewusst werden und diese Erkenntnis gezielt in die Ar- rum, sondern die gemeinsame Auseinandersetzung mit beit einfließen lassen. Aktivität, Dialog, Kooperation der individuellen Lebensumwelt und das Erschließen und Kritik sind somit feste Bestandteile dieser Pädagogik von Zusammenhängen und Hintergründen. Emotionale und übertragbar auf die Andragogik. Durch Kommuni- und soziale Zugänge zu den behandelten Themen finden kation und Dialog, besonders auch durch das Verbessern dabei ebenfalls Beachtung, da auch Emotionen einen we- von Lesen und Schreiben als Grundlage der schriftlichen sentlichen Einfluss auf den Lernprozess ausüben und ein Kommunikation, sollen die Teilnehmenden mit einem Gefühl des „aktiven Involviert-Seins“, so Wiltrud Gieseke wesentlichen Schlüssel zur Welt ausgestattet werden. (2003, S. 11), Selbsttätigkeit und Motivation stimulieren. Freire versteht Bildung als eine Erkenntnissituation, in Die Trainer/innen übernehmen dabei die Funktion von der das alltägliche Geschehen im nahen Umfeld genauso Begleiter/innen. wie im gesamtgesellschaftlichen Kontext reflektiert wird Das Basisbildungskonzept der vhs Linz beinhaltet und dadurch die Zusammenhänge der Welt begriffen auch stets den Empowerment-Gedanken Paulo Freires. werden können. Die Teilnehmenden unserer Basisbil- Mut zur aktiven Teilnahme am persönlichen Umfeld dungskurse zeichnen sich durch weitgehend unterschied- und zur politischen Mitbestimmung an der Gesellschaft liche Lern- und Lebensbiographien aus, es gibt zunächst soll durch das Erlangen und Verbessern der Lese- und keine gemeinsame Struktur. Diese muss erst in einem Schreibkompetenzen erzielt werden. Das Erlernen und gruppendynamischen Prozess begleitend zum eigentli- Beherrschen dieser Fähigkeiten bestärken die Teilneh- chen Bildungsprozess miteinander geschaffen werden. menden der Basisbildungskurse, ermutigen sie, fördern Ein wesentlicher Bestandteil der Basisbildungskurse an das Selbstbewusstsein und das Selbstvertrauen und bil- der vhs Linz ist auch die Förderung des Entstehens eines den die Grundlage für eine aktive und mutige, selbststän- strukturellen Mikronetzwerkes, das die Alltagswelt der dige und bewusste politische Teilnahme an der eigenen Teilnehmenden mit neuen Lebensrealitäten verbindet Umwelt und der Gesellschaft im Allgemeinen. Sich in- wodurch die Lebenswelten der Teilnehmenden gestärkt formieren können, sich trauen mitzureden und eigene und neue Wege zu weiteren Lebensbereichen erschlossen Meinungen zu formulieren stellen auch nach Krammer werden sollen. Eine vielfältige und mutige Teilhabe an (2008, S. 9) die zentralen Kompetenzen politisch gebilde- der eigenen Lebenswelt wird dadurch ermöglicht. ter Staatsbürger/innen dar. Basisbildung bedeutet daher mehr, als Menschen zum Lesen und Schreiben zu befähi- gen. Es muss auch erlernt werden, zu verstehen und kri- „Wir haben eine Vision, nämlich die, unseren TeilnehmerInnen Schritt tisch zu reflektieren, was man liest und schreibt. Darüber für Schritt die Welt zu erschließen.“ (vhs Linz) hinaus ist es laut Negt (1998, S. 30) sowohl für die Trainer/ innen als auch für die Teilnehmenden notwendig, zu ver- stehen, dass das Lernen stets im Kontext gesellschaftli- cher Veränderungsprozesse stattfindet. Basisbildung schafft den Grundstein für die notwendi- Für die Basisbildung bedeutet dies, dass erst zusam- gen Kompetenzen im Rahmen eines emanzipatorischen menhängendes Lernen (Negt: 1998 S. 27) die Auseinan- und partizipativen politischen Bildungsansatzes. Um das dersetzung mit den Problemen unserer Gesellschaft und Interesse und die Motivation der Teilnehmenden dabei unserer Umgebung ermöglicht und das Zurechtkommen zu fördern, orientieren sich die Basisbildungstrainer/ in der eigenen Lebensgestaltung unterstützt. Die Teil- innen der vhs Linz gemäß Freire stets an der aktuellen nehmenden sollen auf diesem Weg befähigt werden, und konkreten Situation der Teilnehmenden im Rahmen mit einem immer schnelleren, kürzeren, effektiveren des Bildungsprozesses. Die persönliche Lebenssituation und flexibleren Umfeld zurechtzukommen, Zusammen- der Menschen, ihre Erfahrungen und Probleme, ihre Be- hänge zu verstehen und zu reflektieren. Der Umgang ziehungen und Konflikte sind Ausgangspunkt jeder Bil- mit tech-nologischen Kommunikationsmitteln und die dungseinheit. kritische Auseinandersetzung mit deren Folgen für die Gesellschaft, das Wahrnehmen von Veränderungen, von Ohne die Fähigkeit, Kritik zu üben und in die Reali- Recht und Unrecht in der individuellen Lebenswelt und tät einzugreifen, die Freire (1977, S. 23 ff.) so bedeutend in der Gesamtgesellschaft, das Erkennen der Folgen von nennt, ist es schwer möglich, die gesellschaftlichen

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Veränderungen zu erfassen. Fehlt dieser kritische Geist, Gewonnene Erkenntnisse werden dabei kollektiv reflek- so ist der Mensch nicht imstande, die in der Gesellschaft tiert und kritisches, abwägendes Denken gefördert. Die entstehenden Widersprüche und Diskrepanzen zu er- Diskussionskreise fördern die soziale Kompetenz, das fassen und bleibt somit nur deren Spielball. Gerade in Formulieren eigener Meinungen und das Nachvollzie- einer sich rasch bewegenden und sich verändernden hen und Akzeptieren anderer Meinungen. Zusätzlich Gesellschaft sollte daher der flexible und kritische Geist können im Laufe des Diskussionsprozesses biografische auch unserer Teilnehmenden ermutigt und ermöglicht Erfahrungen zu diversen politischen Geschehnissen in werden. Mit diesem Konzept Freires vor Augen versucht Bezug gesetzt werden. Auch emotionale und soziale In- die vhs Linz im Rahmen ihrer Basisbildungsangebote teressen finden immer wieder Eingang in die Diskussion bestimmte methodische Vorgehensweisen umzusetzen. und ein direkter Bezug zur persönlichen Erfahrungswelt Im Mittelpunkt des pädagogischen Ansatzes steht wei- wird hergestellt (vgl. Dabisch/Schulze: 1991, S. 243 f.). ter ein dialogisches und ausgewogenes Verhältnis zwi- Lebens-abc: Um auf die individuellen Lebenswelten schen Trainer/innen und Teilnehmenden, das von Kritik der Teilnehmenden besser eingehen zu können, wird anregenden und aktivierenden Methoden begleitet wird. am Beginn eines Kurses ein so genanntes „Lebens-abc“ Die Kluft zwischen Lehrenden und Lernenden ist dabei erstellt. Dabei schreiben die Teilnehmenden in einer Literatur aufzuheben. Die traditionelle Position der Trainer/innen Einzelarbeit zu jedem Buchstaben im Alphabet Wörter Dabisch, Joachim/ Schulze, als allwissende Autoritätspersonen ist in diesem pädago- auf, die für sie wichtig sind und Assoziationen hervor- Heinz (Hrsg.) (1991): Befreiung und Mensch- gischen Konzept nicht vorgesehen, die neu gefundene/n rufen. Die Trainer/innen erfahren auf diese Weise, wel- lichkeit. Texte zu Paulo Rolle/n ist/sind immer wieder zu reflektieren und zu hin- che Themen für die Kursgruppe relevant und interessant Freire. München: AG terfragen. Der versteinerte und leblose Unterricht durch sein können und orientieren sich im Laufe des Kurses an Spak Bücher. das übermittelnde Subjekt und das zuhörende Objekt diesen Themen. Durch das dialogische Verhältnis von Freire, Paulo (1973): Pädago- gik der Unterdrückten. soll auf diese Weise vermieden werden. Diesen einseiti- Trainer/innen und Lernenden können Themen im Laufe Bildung als Praxis der gen Informationsprozess thematisiert Freire (1973, S. 57) eines Kurses vertieft, abgeändert oder abgeschwächt wer- Freiheit. Reinbeck bei auch in seinem „Bankierskonzept“. Durch die einseitige den, eine ständige Dynamik begleitet die immer wieder- : Rowohlt. „Anlage“ von Informationen werden die Menschen zu kehrende gemeinsame Themenfindung und -festlegung. Freire, Paulo (1977): Erziehung als Praxis der anpassbaren, beeinflussbaren, passiven und unterdrück- Aktuelle Arbeitsmaterialien: Auf Basis der Themen Freiheit. Beispiele zur baren Wesen, da jegliche Möglichkeit der kreativen und im Lebens-abc und in den Diskussionsrunden werden Pädagogik der Unter- kritischen Teilnahme am Bildungsprozess und ein re- die Arbeitsmaterialien von den Basisbildungstrainer/in- drückten. Reinbeck bei flexives Bewusstsein unterbunden werden. Der Mensch nen in der vhs Linz erstellt, abgeändert und angepasst. Hamburg: Rowohlt Gieseke, Wiltrud (2003): wird durch diese Hierarchie im Lernprozess zum/zur Zu- Nicht nur der Inhalt, sondern auch die methodische He- Individuelle Bildungs- seher/in geformt und nicht zu mutiger, selbstgestalteri- rangehensweise wird gemeinsam mit den Teilnehmen- geschichte und das scher Aktivität angeregt wie dies der Basisbildungsansatz den erarbeitet und diese zur Eigeninitiative ermutigt. Interesse an lebens- der vhs Linz vorsieht, der Teilnehmenden kritisches Be- Bildung sensibilisiert dabei für zentrale Probleme und langem Lernen. In: Verhaltenstherapie und wusstsein und die Fähigkeit, in die Realität verändernd aktuelle Themen der Gesellschaft und vermittelt Mitver- psychosoziale Praxis, 35, eingreifen zu können, vermittelt. antwortung. 2003, 1, S. 47-56. Gemeinsame Aktivitäten: Der Bildungsprozess im Krammer, Reinhard (2008): Methodische Umsetzungsmöglichkeiten Kurs wird von gemeinsamen Aktivitäten wie Ausstel- Kompetenzen durch Poli- tische Bildung. Ein Kom- Zentrale Kompetenzen im Rahmen der politischen lungs- und Konzertbesuchen, Kinobesuchen oder Lesun- petenz-Strukturmodell. Basisbildung können mit unterschiedlichen Methoden gen ergänzt. Die aktive Teilnahme am kulturellen Leben In: Kompetenzorientierte verdeutlicht und gefördert werden. Mit Hilfe geeigne- wird in der Praxis kennen gelernt, gemeinsam vorbereitet Politische Bildung. Hrsg. ter pädagogischer Mittel soll dabei die Bildung und Be- und geübt. Diese Erfahrungen sollen darüber hinaus in v. Forum Politische Bil- dung. Innsbruck-Bozen- gründung von persönlichen Urteilen thematisiert, das den Alltag der Teilnehmenden einfließen und später ei- Wien: Studien-Verlag, S. Artikulieren und Formulieren eigener Meinungen und genständig ausprobiert und realisiert werden. 5-14. (= Informationen zur Interessen ebenso wie das Erkennen der Ursachen und politischen Bildung, 29.). Zusammenhänge von Ereignissen und Darstellungen Abschluss und Ausblick Muckenhuber, Sonja (2007): oder auch das Erfassen von Wörtern, Fachbegriffen und Mehr als Lesen und Politische Bildung auch in Zukunft als notwendiges Schreiben – Alphabetisie- Geschehnissen (vgl. Krammer: 2008, S. 7 f.) ermöglicht Werkzeug für die gesellschaftlichen Partizipation zu rung und Basisbildung an werden. Für Freire (1973, S. 62) ermöglicht erst die Befä- verstehen, bleibt weiterhin eine Herausforderung in der der Volkshochschule Linz. higung zur Kommunikation das Denken und die Ausein- Basisbildung. Es muss gelingen, den Teilnehmenden von In: Magazin erwachse- andersetzung mit dem Umfeld. Beispielhaft werden nun Basisbildungsangeboten die eigene Rolle als Gestalter/ nenbildung.at. http:// erwachsenenbildung.at/ einige kurze Blitzlichter auf den methodischen Alltag der in ihrer Umwelt bewusst zu machen und somit ein Werk- magazin/archiv_artikel. Basisbildungskurse an der vhs Linz geworfen, der den zeug zu vermitteln, das zur Stärkung, Veränderung und php?mid=408&aid=299. genannten Ansätzen politischer Basisbildung entspricht Ausweitung der individuellen Lebenswelten befähigt [2013-06-10]. und in dem Freires Anregungen Umsetzung finden. und ermutigt. Negt, Oskar (1998): Lernen in einer Welt gesellschaft- Diskussionskreis: Ein Treffen im Basisbildungskurs Bildung, insbesondere Basisbildung, hat die notwen- licher Umbrüche. In: beginnt mit einem Diskussionskreis. Die Themen die- dige Aufgabe, Menschen die Teilnahme an der Gesell- Dieckmann, Heinrich/ ser Diskussionsrunde werden von den Teilnehmenden schaft zu ermöglichen und auf ständige Veränderungen Schachtsiek, Bernd selbst vorgeschlagen oder aktuelle gesellschafts-, sozial-, in Umwelt, Technik und Gesellschaft selbstbestimmt und (Hrsg.): Lernkonzepte im Wandel. Die Zukunft wirtschafts- und kulturpolitische Themen von Teilneh- gestaltend zu reagieren. Damit ist politische Bildung im- der Bildung. Stuttgart: menden und Trainer/innen partizipativ ausgewählt. manenter Bestandteil jedes Basisbildungsangebots. // Klett-Cotta.

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 21 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement

geschafft. Dazu kommt die soziale Komponente. Einzel- ne Gruppen treffen sich regelmäßig zum Kaffee, zu sport- lichen Aktivitäten oder zum Computerstammtisch, oft Lernen bewegt! – über Monate und Jahre hinweg. „Wir treffen uns seit Ok- Schwerpunkt tober 2011 einmal pro Monat. Ohne diesen Kurs hätten wir uns nie gefunden“, berichtet eine Kursteilnehmerin und die Folgen aus der Gemeinde St. Andrä. Neben dem Inhalt werden auch Lernmethoden be- wusst gemacht, die im Lernprozess zum Einsatz kommen. „Herr Bürgermeister, wir brauchen einen Raum!“ Sie treffen sich einmal pro Das und die zusätzliche Bestimmung des individuellen Monat mit ihren Laptops im Gemeindeamt und besprechen edv-Inhalte und Lerntyps ermöglichen ein selbständiges Weiterlernen. So vieles mehr. Frauen, die einen Computerstammtisch gründen und dafür einen schaffen die Teilnehmerinnen einen (Wieder-)Einstieg Raum in der Gemeinde beantragen, wären vor drei Jahren ebenso undenkbar ins lebensbegleitende Lernen. Es hat sich viel getan: Sie gewesen wie der angstfreie Umgang mit dem Computer. fühlen sich nicht mehr als Außenseiterinnen, sehen sich als „vollwertigen“ Teil der Gesellschaft. „Ohne Compu- terkenntnisse ist man in der heutigen Zeit fast wie ein Ne- andertaler. Mein Leben hat sich seit dem Kurs sehr verän- Michaela „Lernen am Computer ist großartig!“ dert, der Kurs war in jeder Weise ein Gewinn!“ meint eine Slamanig Zwischen April 2009 und Dezember 2012 organisierte ehemalige Teilnehmerin. Die Frauen erleben, dass sie die Volkshochschule Völkermarkt in allen 31 Gemeinden nicht mehr ausgeschlossen sind, entdecken immer mehr der Lokalen Aktionsgruppen (lag)-Region Südkärnten Möglichkeiten, die sie individuell nutzen können, stehen Computerkurse mit dem Schwerpunkt e-Government den neuen Medien aber auch kritisch gegenüber. und konnte damit ein Viertel aller Kärntner Gemeinden und rund 300 Frauen erreichen. Was passiert an Weiterbildung? Den Computer als Instrument zu begreifen, spart Die Evaluationsergebnisse bestätigen: 94 Prozent der Wege, Zeit und Geld. Im Kern geht es in „Lernen bewegt!“ Teilnehmerinnen haben durch Lernen bewegt! Lust auf darum, Frauen eine Brücke zum Computer und zur edv Weiterbildung bekommen, 82 Prozent geben an, selbst- zu bauen. Vor allem wurden Frauen angesprochen, die organisiert weiterlernen zu können. Konkret hat sich et- aufgrund ihrer Bildungsbiografie mit dem Lernen nicht was mehr als die Hälfte der Befragten einen Computer ge- vertraut sind und sich im Umgang mit der Technik we- kauft und einen Internetzugang installiert. Mehr als ein nig zutrauen. Das Alter spielt dabei keine Rolle. „Lernen Drittel hat selbständig weitergelernt, also den Einstieg in am Computer ist großartig! Auch für ältere Semester gibt lebenslanges, lebensbegleitendes Lernen (lll) gefunden. es noch eine Chance, mit diesen Wunderdingern richtig Hauptsächlich wird das Internet genutzt, e-Government umzugehen“, meinte eine Kursteilnehmerin. angewendet, Fotobücher und Haushaltspläne erstellt. Vorrangiges Ziel ist der angstfreie Umgang mit dem Bei beruflichen Weiterbildungen stehen Zusatzqualifika- pc und die sichere Nutzung von Word, Internet und e- tionen zu bestehenden Berufen im Vordergrund. Mail. Online-Behördenwege, das sogenannte e-Govern- ment, dienen als Beispiel für die praktische Nutzung Erfolgsfaktoren für gelungenes Lernen des Internets. In 51 Stunden erarbeiten sich die Teilneh- Bildungsbenachteiligte Frauen scheitern beim Thema merinnen mit der Lernbegleiterin edv-Grundkenntnisse Weiterbildung häufig bereits an der Sprache. Sie fühlen und Schlüsselqualifikationen für das Lernen, wie zum sich von „herkömmlichen“ Ausschreibungen nicht ange- Beispiel, sich realistische Ziele zu setzen. Durch lebens- sprochen bzw. trauen sich aufgrund ihres geringen Selbst- praktische Beispiele ergibt sich eine hohe Anwendbarkeit vertrauens keinen Kursbesuch zu. Zudem verhindern des Gelernten. ungünstige Rahmenbedingungen wie unzureichende Verkehrsverbindungen, hohe Kurskosten und fehlende Die Folgen von Lernen bewegt! Zeit eine Teilnahme. Die Stellung der Frauen innerhalb der Familie hat Damit der Einstieg in institutionalisierte Bildung ge- sich verändert, sie nutzen Facebook, reden mit, können lingt, bedarf es einer umfassenden Information in einer ihren Kindern, Enkeln, Partnern oder Freund/innen et- zielgruppenspezifischen Sprache, wobei der Nutzen des was zeigen. Sie beanspruchen den pc jetzt auch für sich, Bildungsangebotes deutlich gemacht und Vorbehalte haben vielfach einen eigenen gekauft oder geschenkt be- und Ängste im Umgang mit den neuen Medien ernst ge- kommen und nutzen diesen intensiv. „Der Zugang zum nommen werden müssen. Internet ist so ziemlich das Beste, was mir im letzten Jahr Damit sich die Frauen selber weiterentwickeln kön- passiert ist“, meint eine begeisterte Kursteilnehmerin. nen, ist es entscheidend, sie als Expertinnen für ihr Leben Die Frauen sind selbstbewusster geworden. Sie überneh- und ihren Weg zu sehen, ihre vorhandenen Kompeten- men Verantwortung, z.B. mit der Leitung des Pensionist/ zen und Potenziale sichtbar zu machen und das Selbst- 1 Lernen bewegt! innenverbandes. Eine Teilnehmerin beschreibt es so: bewusstsein und die Autonomie zu stärken. Geeignete wird finanziert aus „Ich schreibe für Zeitungen des Pensionistenverbandes, Beispiele knüpfen an Vorhandenes an und binden ihre leader-Mitteln und aus Mitteln der Kärntner mache auch Bildbearbeitung. Meine Zeit ist kürzer ge- Lebenserfahrung und Vorkenntnisse in das Lernange- Landesregierung. worden.“ Manche haben den Wiedereinstieg in den Beruf bot ein. Die didaktische und methodische Gestaltung

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adäquater Lernangebote muss sich an den Lernbedürf- Gemeinde ist die Nahtstelle zwischen den Frauen und nissen und -bedarfen sowie den Lernzielen der Gruppe der vhs, übernimmt die Zielgruppenerreichung, wird orientieren. zu einem neuen Lernort. Das führt zu einer besseren Lernen in der Gruppe stärkt das Selbstvertrauen. Identifikation der Frauen mit der Institution Gemein- Durch gegenseitige Unterstützung steigt auch die Moti- de, zu einer schnelleren Kommunikation z. B. durch die vation. Möglichst unterschiedliche und vielfältige Lern- vermehrte Nutzung von e-Government. Der soziale Fak- settings befähigen die Frauen darin, die jeweils für sie ge- tor, der durch diesen neuen Lernort entsteht, äußert sich eignete Lerntechnik anzuwenden. Die Vermittlung von u.a. in dem Gefühl „die Gemeinde tut etwas für mich“. Inhalt und Methode ermöglicht ein selbständiges Weiter- Diese Zufriedenheit wirkt der Abwanderung entgegen. lernen. Die Teilnehmerinnen von Lernen bewegt! wissen Beobachten konnten wir ferner ein vermehrtes soziales jetzt auch, wie sie lernen können. Engagement der Frauen in der Gemeinde. Wir führen Lernprozessmoderatorinnen spielen eine zentrale Rol- mit allen Bürgermeister/innen persönliche Gespräche. le für den Erfolg bei diesem Lernangebot. Gilt es doch, Es geht uns dabei nicht nur um die Bedingungen für die die Diversität der individuellen Lernbedürfnisse zu be- Umsetzung der Kursmaßnahme, sondern auch um Be- rücksichtigen, für einen wertschätzenden Umgang in der wusstseinsbildung für das Thema Bildung und lll sowie Gruppe zu sorgen, ausreichend Zeit zum Lernen zu geben, um soziale Chancen, die dem ländlichen Raum eröffnet sowie gut erklären, motivieren und begeistern zu können. werden. Und das gelingt:„Die Gemeinden gewinnen mit diesem Angebot ein gutes Image und eine positive Wer- Die Gemeinde als Nahtstelle bung, die sich […] auf die gesamte Region auswirkt“, ist Die Gemeinden sind ein wichtiger Partner. Wir arbei- Bürgermeister Günther Vallant (Gemeinde Frantschach/ ten in diesem Projekt mit vielen sehr eng zusammen. Die St. Gertraud) überzeugt. //

Kunst, Musik, Weltreligionen, Psychologie, Astronomie, Meteorologie und Geologie. Zu jeder dieser Disziplinen „Wege zum Weltwissen“– gibt es Grundkurse (je sechs bis acht Abende), die durch spezielle Themenkurse (etwa Geschichte des Jazz, Kunst eine Kursreihe der der Wiener Moderne, Geschichte der USA, Schweizer Gegenwartsliteratur, Islam in Vorarlberg, Philosophie Vorarlberger der Lebenskunst, Klimageschichte) ergänzt werden (je vier Abende). Schwerpunkt Volkshochschulen In den vergangenen acht Jahren wurden an den Vor- arlberger Volkshochschulen insgesamt 103 Kurse ange- boten, von denen 80 Prozent auch erfolgreich über die Bühne gingen. Ein gemeinsames „Weltwissen“-Kursheft Gerold Amann Die vor acht Jahren ins Leben gerufene Bildungsreihe aller fünf Volkshochschulen stärkt die Zusammenarbeit „Wege zum Weltwissen“ reagiert auf das zunehmende und Identität der Volkshochschulen innerhalb der Vor- Interesse an Allgemeinbildung – eigentlich das klassi- arlberger Bildungslandschaft. sche Feld der Volkshochschulen seit ihren Anfängen. Als Referent/innen für die Grundkurse habe ich „Weltwissen“ steht für „enzyklopädisches Wissen“, knüpft Gymnasiallehrer/innen mit Erfahrung in der Erwachse- also an das legendäre Projekt der Enzyklopädie an, mit nenbildung bevorzugt, da hier ein leicht verständlicher dem die Aufklärer des 18. Jahrhunderts ein auf Vernunft Überblick über das jeweilige Fachgebiet gefragt ist. The- gegründetes Kompendium des Wissens ihrer Zeit einer menkurse werden meist von einschlägigen Fachleuten breiten und bis dahin oft noch illiteraten Öffentlichkeit gehalten. zugänglich machen wollten. Mit dem kommenden Wintersemester werden die Geboren wurde die Idee zu einer derartigen Kursreihe „Wege zum Weltwissen“ in eine neue Phase treten. An vor neun Jahren bei einer Klausurtagung der VHS Göt- meiner Stelle übernimmt Thomas Matt, ein landesweit zis, die anlässlich ihres 15-jährigen Bestandsjubiläums bekannter und geschätzter Redakteur und Kolumnist der etwas Neues anbieten wollte. Ich wurde gebeten, ein „Vorarlberger Nachrichten“ die Leitung der Bildungsrei- Konzept zu entwickeln, und 2005 gelang es, die Reihe he. Es kommt damit zu einer Kooperation der Volkshoch- mit Vorträgen und Grundkursen in den Bereichen Phi- schule mit dem wichtigsten Vorarlberger Printmedium. losophie, Geschichte und Literatur zu starten. Beflügelt Dies wird nicht nur den Bekanntheitsgrad der Reihe er- von den Anfangserfolgen wurde die Reihe bereits im höhen, sondern den Referent/innen auch die Möglichkeit Jahr darauf sowohl inhaltlich als auch bezüglich der Ver- geben, ihre Inhalte schriftlich einem breiteren Publikum anstaltungsorte ausgeweitet. Mittlerweile sind alle fünf näherzubringen. Somit können wir zuversichtlich einer Vorarlberger Volkshochschulen daran beteiligt, und zum positiven Weiterentwicklung der „Wege zum Weltwissen“ Fächerbündel gehören mittlerweile auch Anthropologie, entgegenblicken. //

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 23 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement

gesellschaftlicher Aspekte, um einen breiten Zugang für möglichst viele Interessierte zu schaffen.

Politische Bildung im Die Definition von „ländlicher Raum“ Naheliegend erscheint, dass Fragestellungen der Po- litischen Bildung im urbanen oder gar großstädtischen ländlichen Raum Raum nicht einfach in eine ländlich geprägte Region Versuch eines Plädoyers transferiert werden können. Nimmt man die Österreich- Karte der Klassifizierung des ländlichen Raums nach Schwerpunkt eu-/oecd-Kriterien zur Hand (www.statistik.at), so wird rasch klar, dass diese Typologisierung für die spezifischen Seit dem „Arbeitskreis Politische Bildung“ Mitte der Bedürfnisse in Bezug auf Politische Bildung nicht wei- 1990er-Jahre und dem Erscheinen des Buches von Hans Knaller terhilft: Mit Ausnahme der Regionen Rhein-Bodensee, „Gegenkonzepte. Politische Bildung und Erwachsenenbildung“ Innsbruck und Wien-Umland (klassifiziert als „überwie- 1998 hat sich am Charakter der Politischen Bildung als gend städtische Regionen“) und Salzburg-Umgebung, Randerscheinung in der Angebotsstruktur der Volkshochschulen Traunviertel, Linz-Wels, Klagenfurt-Villach, Graz, die wenig verändert. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen östliche Obersteiermark und Niederösterreich-Süd („in- Umbrüche allerdings ist die Wichtigkeit dieses Fachbereiches termediäre Regionen“) sind alle anderen Regionen Öster- unverändert gegeben. reichs als „überwiegend ländliche Regionen“ zu bezeich- nen (www.oekosozial.at). Das heißt, dass zur Konzeption politischer Bildungsangebote für konkrete Regionen der Sabine Aschauer- Zur Definition von „Politischer Bildung“ Blick in der Angebotsplanung weiter fokussiert werden Smolik Orientiert man sich an der im Rahmen der „Europarats- muss. Die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftli- Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung“ chen Bedingungen sind regional zu unterschiedlich, als (http://www.bmukk.gv.at/medienpool/23178/2012_15.pdf) for- dass politische Bildung für den gesamten so definierten mulierten Grundlage, so handelt es sich bei Politischer „ländlichen Raum“ einheitlich zu gestalten wäre. Bildung vornehmlich um Demokratiebildung und Erzie- hung zur Rechtsstaatlichkeit. Ziel sei es, „Lernende […] Und nun … zu befähigen, ihre demokratischen Rechte und Pflichten Man könnte jetzt einwenden, dass entscheidende glo- in der Gesellschaft wahrzunehmen und zu verteidigen, bale Prozesse, die bis in die kleinsten Strukturen wirken, den Wert der Vielfalt zu schätzen und im demokratischen sich heute anscheinend unabhängig vom Individuum Leben eine aktive Rolle zu übernehmen, in der Absicht, vollziehen und damit alle betreffen. Die sozialen Un- Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fördern und zu gleichheiten und Ungerechtigkeiten sind in den vergan- bewahren“. Liest man weiter, öffnet sich das Feld hin genen Jahrzehnten keinesfalls geringer geworden, ein zur „aktive[n] Partizipation im Hinblick auf die zivilge- Ende des Aufgehens der sozialen Schere in weiten Regi- sellschaftlichen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen, onen Europas ist im Gegenteil nicht absehbar, prekäre rechtlichen und kulturellen Bereiche der Gesellschaft“. Arbeitsbedingungen sind in Mitteleuropa bereits in die Durch diese Ergänzungen sind Verknüpfungen verschie- Mittelschicht vorgedrungen. dener gesellschaftlicher Aspekte sowie unterschiedlicher Da globale Prozesse Menschen allerorts betreffen, thematischer Schwerpunkte im Rahmen der Politischen stellt sich die Frage, ob es überhaupt Sinn macht, Poli- Bildung mitgedacht. tische Bildung entsprechend den in den verschiedenen Die Erfahrung zeigt, dass Bildungsangebote im klas- Regionen herrschenden Rahmenbedingungen zu diffe- sischen Verständnis der Politischen Bildung, wie z.B. zur renzieren. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen Funktionsweise unseres Staatswesens, zu den Institutio- werden. Antworten auf die Frage nach der Notwendig- nen der Europäischen Union und dem Zusammenwirken keit der Analyse konkreter Lebens- und Rahmenbedin- der verschiedenen politischen Ebenen von der europäi- gungen einer Region liefert die Politische Psychologie schen über die Bundes- und Länderebene bis hin zum lo- mit Einblicken in die psychologischen Hintergründe von kalen Bereich, immer noch gerne wahrgenommen werden. politischem und sozialem Verhalten (vgl. Frankenberger/ Spricht man mit den Teilnehmer/innen, so ermutigt sie Frech/Grimm: 2007, S.13). Ein einheitliches kollektives das Vorhandensein solcher Angebote, sich und anderen Selbst wie einst in der Arbeiter/innen- oder Student/ gegenüber einzugestehen, dass sie zu diesen Themen we- innenbewegung gibt es nicht mehr. Seit damals hat der nig wissen. Leider gibt es kaum Studien zur Wirkung von gesellschaftliche Wandel neue Formen der Subjektivität politischer Bildungsarbeit, eine Tatsache, die Planende und des Handelns hervorgebracht, die politisch relevant zwingt, Entscheidungen auf Angebotsebene auf Erfah- sind und damit auch die Interessenslage für Politische rungswerten aufzubauen. Veranstaltungen dieser Art zie- Bildung prägen. Eine These lautet, dass in Krisenzeiten hen freilich kein Massenpublikum an, sind aber, umgelegt und in Zeiten sich auflösender Traditionen, Sozialformen auf Seminargrößenordnungen, immer wieder gut besucht. und sozialer Bindungen viele Menschen auf alte kollek- Bezüglich der politischen Bildungsarbeit der Volks- tive Bewältigungsstrategien zurückgreifen. Sie beziehen hochschulen im ländlichen Umfeld plädiere ich aus der bis- sich wieder auf eine Gruppe, der sie sich sozial zugehörig herigen Erfahrung für Mut zur Verbindung verschiedener fühlen (Bibouche/Held: 2007, S. 192). Ein Problem dabei

24 — DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement ist, dass rechtskonservative Politiker/innen diese Form All diese exemplarischen Überlegungen prägen die Fra- der sozialen Segmentierung für ihre politische Strategie gen, die für die Menschen einer Region relevant sind, nutzen und als Lösung die Ausgrenzung anderer Grup- geben Auskunft über mögliche Gruppenzugehörigkeiten pen proklamieren (Ebd.:, S. 193). Religiöse und kulturelle und politische Stimmungen. Daraus leiten sich gänzlich Faktoren werden im Zuge sozialer Konflikte häufig mitei- unterschiedliche Lebenswelten ab, auf die die politische nander verwoben und politisch instrumentalisiert. Bildungsarbeit eingehen und aufbauen muss. Durch die Lockerung der sozialen Identitäten hat sich die Tendenz breit gemacht, sich selber eine persönliche „Lebensweltlicher Bezug“ in der politischen Identität zu schaffen, wobei allerdings vermieden wird, Bildungsarbeit am Beispiel „Kommt zusammen! sich festzulegen. Das Individuum bleibt gleichsam ein Kirche, Moschee, Synagoge“ lebenslängliches „Identitätsprojekt“ und ist als „Spazier- Saalfelden (ca. 17.000 Einwohner/innen) hat einen Mi- gänger“ bzw. „Wanderer“ zwischen verschiedenen Identi- grant/innenanteil von etwas mehr als 15 Prozent. Zu den täten unterwegs (Ebd.:, S. 194). größten Gruppen zählen u.a. Menschen aus der Türkei Bibouche und Held machen den Rückzug ins Private und aus Serbien. Die Stadt ist eine von drei Gemeinden und die soziale Abkapselung als weiteren Trend aus. Alle im Land Salzburg mit einem muslimischen Gebetsraum, Missstände werden auf die Anonymität, die Entfremdung eine von zwei Salzburger Gemeinden mit einem Minarett und Kälte der Gesellschaft zurückgeführt. Sie sprechen und hat zudem eine von 16 Serbisch-Orthodoxen Kirchen zudem von einer weit verbreiteten „Politikverleugnung“ österreichweit. Durch die Wahrzeichen ihrer Religionen (nicht „Politikverdrossenheit“). Die Menschen sind nicht sind diese Kulturen im Stadtbild präsenter als andernorts. unpolitisch, allerdings lässt sich der Wechsel zwischen Diese Sichtbarkeit des „Fremden“ ist Quelle von Vorurtei- den Identitäten schlecht damit vereinbaren, sich politisch len und lässt sich für Abgrenzungstendenzen instrumen- zu deklarieren (Ebd.:, S. 194-197). talisieren. Mit der Veranstaltung „Kommt zusammen!“ Helga Bilden sieht die Entwicklung zum vielstimmi- bot sich für die politische Bildungsarbeit die Möglichkeit, gen, heterogenen Individuum als Folge „einer gesell- den Blick ganz bewusst auf diese religiösen Orte und die schaftlichen Umbruchperiode […], deren Tragweite der Menschen, mit denen sie verbunden werden, zu richten. des Umbruchs von der feudalen zur kapitalistisch-indust- Ziel war es, durch das gegenseitige Kennerlernen Vorur- riellen Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts ähnelt“ teilen die Basis zu entziehen. (Bilden: 2007, S. 98). Ausgangspunkt und Zentrum der Veranstaltung bil- Nimmt man diese Erkenntnisse der Politischen Psy- dete eine Ausstellung des Fotokünstlers Jochen Gewecke chologie ernst, so muss man davon ausgehen, dass sich aus Stuttgart, der religiöse Gebäude und Innenräume die Konsequenzen der globalen Entwicklungen regional fotografiert und in den religiösen Räumlichkeiten der je- sehr unterschiedlich darstellen. Es gibt regional spezifische weils anderen Glaubensgemeinschaft ausstellt. Das sollte Gruppenzugehörigkeiten und Identitäten und damit sehr neugierig machen auf die Kultur und die Religion der an- verschiedene Ansatzpunkte für politische Bildungsarbeit. deren und die bis dahin weitgehend unbekannten Räume Um sich diesen regionalen Rahmenbedingungen im für alle öffnen. So waren konkret Bilder aus Moscheen Zuge der Planungsarbeit anzunähern, können folgende in den drei christlichen Kirchen (katholisch, evangelisch Überlegungen hilfreich sein, wobei die folgende Auflis- und serbisch-orthodox) zu sehen, die Bilder der Kirchen tung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt: in der Moschee. Ergänzend wurde ein Zyklus zur Syna- • wie weit ist die Region vom nächstliegenden urban ge- goge (Saalfelden hat keine Synagoge, diese befindet sich prägten Raum entfernt (laut Lebensministerium sind in Salzburg) auf die drei Kirchen und die Moschee aufge- damit Gemeinden mit mehr als 30.000 Einwohner/ teilt. Im Rahmen eines Ausstellungsbesuchs wurden alle innen gemeint; www.lebensministerium.at ), vier religiösen Orte besucht. • welche Strukturen der Daseinsvorsorge sind gegeben (Nahversorgung, Gesundheitsversorgung, öffentli- Immer alle und nie allein cher Verkehr usw.), Zentral für das Gelingen von politischen Bildungsver- • wie ist die Wirtschaftsstruktur beschaffen („Monokul- anstaltungen ist die Planung und Durchführung unter tur“, Durchmischung der Branchen), Einbeziehung möglichst aller Akteur/innen. Im konkre- • welche Chancen und Möglichkeiten bietet der Ar- ten Fall waren alle Erwachsenenbildungsträger (Volks- beitsmarkt in der Region, hochschule, Bildungszentrum, Bildungswerke) sowie die • wie sieht der Bildungstand der Bevölkerung aus (An- drei Pfarrer der drei christlichen Kirchen, der Vorbeter teil der Menschen mit höherer Ausbildung, Anteil der der Moschee und ein Vorstandsmitglied des Türkischen Menschen maximal mit Pflichtschulabschluss), Kulturvereins eingebunden. • handelt es sich um eine Abwanderungs- oder Zuwan- Die Vernissage wurde von allen religiösen Akteuren derungsregion, gemeinsam und gleichberechtigt geplant und gestaltet, • welche Einkommenssituation herrscht vor, sodass sichergestellt war, dass sich alle mit der Veranstal- • wie ist die Vereinsstruktur vor Ort beschaffen und wie tung identifizieren konnten. Die Bildungsakteur/innen hoch der Grad der Einbindung der Menschen, schufen dafür die Rahmenbedingungen, organisierten • wie sieht die politische Machtverteilung aus, einen Vortrag zum Thema „Europa, wie hast du’s mit der • wie hoch ist der Anteil an Migrant/innen in der Bevöl- Religion?“ und übernahmen die Koordination und die kerung und woher kommen diese? Organisation des Gesamtprogrammes.

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Offenheit nach einem langen Prozess der Annäherung wobei die religiösen Akteure im Vorfeld und auch nach Über Monate hin gab es gemeinsame Planungstreffen. der Veranstaltung harte Kämpfe in den eigenen Glau- Das Ergebnis war eine vierstündige Eröffnung, bei der bensgemeinschaften durchzustehen hatten (so vor allem nicht nur die jeweiligen Chöre agetauscht wurden – so der katholische Dechant).. umrahmte der Kinderchor der Moschee die Eröffnung in Bis heute hat sich jedoch die interkonfessionelle und der evangelischen Kirche –, sondern sich darüber hinaus -kulturelle Zusammenarbeit auch in anderen Bereichen die christlichen Religionen in der Moschee vorstellten – ob Gesundheitsprojekt oder Stadtfest – fortgesetzt. wie umgekehrt der Islam in der katholischen Kirche mit Tendenzen wie Abgrenzung, Ausgrenzung und den vor- anschließendem Singen einer Sure durch den Vorbeter. handenen vorurteilsbehafteten Bildern über die „Ande- Im Rahmen des Gesamtprogrammes erkundeten insge- ren“ wurde viel Boden entzogen, denn es ist heute – um samt 800 Saalfeldner/innen mit verschiedenstem reli- nur ein Beispiel zu nennen – bekannt, dass die Tür der giösem und kulturellem Hintergrund die verschiedenen Moschee an jedem Tag der Woche den ganzen Tag geöff- religiösen Orte und tauschten sich untereinander aus, net ist.

Und dennoch: „Das Dilemma der Poltischen Bildung dauert an“ Mit diesem Satz begann Klaus Ahlheim 1998 seinen Beitrag in Hans Knallers „Gegenkonzepte“ (Ahlheim: 1998, S. 11), um sich in der Folge den Chancen und Mög- lichkeiten politischer Erwachsenenbildung zu widmen. Wenig hat sich seither verändert und ebenso wenig an der Wichtigkeit der politischen Bildungsarbeit. Auch wenn Veranstaltungen wie die beschriebene kurz ein positives Gefühl aufkommen lassen, sind diese doch nur verein- zelte blühende Pflänzchen in einer öden politischen Bil- dungslandschaft, zumindest im ländlichen Raum. Die notwendigen Analysen der Regionen als Basis für Kon- zepte sind für die wenigsten Volkshochschulen abseits der größeren Orte durchführbar – dazu beedarf es der Arbeit auf übergeordneter Ebene, die Zurverfügungstel- lung notwendiger Ressourcen und vor allem Foren zur Projektdiskussion und -entwicklung innerhalb der Volks- hochschulen. //

Literatur Ahlheim, Klaus (1998): Aktuelle Herausforderungen. Chancen, Grenzen, Möglichkeiten politischer Erwachsenenbildung. In: Knaller 1998, S. 11-23. Auszug aus dem Österreichischen Programm für die Entwicklung des Ländlichen Raums 2007-2013: http://www.lebensministerium.at/ land/laendl_entwicklung/programmtext.html [2013-05-06]. Bibouche, Seddik/Held, Josef (2007): Politisches Handeln in der Postmoderne. In: Frankenberger, Rolf/Frech, Siegfried/Grimm, Daniela (Hrsg.) (2007): Politische Psychologie und politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 167-188. Bilden, Helga (2007): Das vielstimmige, heterogene Selbst. Zum Verständnis „postmoderner“ Subjektivitäten. In: In: Frankenberger, Fotos: © Cansu Özkan Rolf/Frech, Siegfried/Grimm, Daniela (Hrsg.) (2007): Politische Psychologie und politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 95-113. Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/23178/2012_15.pdf [2013-05-06]. Frankenberger, Rolf/Frech, Siegried /Daniela Grimm (Hrsg.) (2007): Politische Psychologie und politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau Verlag. Knaller, Hans (Hrsg.) (1998): Gegenkonzepte. Politische Bildung und Erwachsenenbildung. Wien: Studienverlag . (= VÖV-Publikationen, 13). https:// www.statistik.at/web_de/static/stadt-land_typologie_der_ europaeischen_kommission_unter_beruecksichtigung_063463.pdf [2013-05-06]. Foto: © Jochen Gewecke http://www.oekosozial.at/uploads/pics/krajasits.pdf [2013-05-06].

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inkompatibel sei mit einem Mehr-Parteien-System.4 Das System „ein Mensch – eine Stimme“ habe sich, so Bell, nicht bewährt, es sei aber zu einem quasi heiligen, Zweifel an der unantastbaren Prinzip geworden. Bell beklagt, dass der 1 Vorschlag von John Stuart Mill, dass gebildete Menschen bei Wahlen mehr Stimmung zur Verfügung haben soll- Schwerpunkt Demokratie? ten, heute nicht diskutierbar sei. „Spiegel Online“ zitiert in dem Bericht über die Hongkong-Konferenz den Wirt- schaftsnobelpreisträger 2001, Michael Spence, als Befür- worter eines „wohlwollend autoritären“ Systems. 5 Der österreichische Journalist und bekennende Wirt- Gerhard Bisovsky Der Sprung des Österreichers Felix Baumgartner aus 39 schaftsliberale Christian Ortner spricht in seinem gleich- Kilometer Höhe am 14. Oktober 2012 war zwar ein Sprung namigen Büchlein von einer „Prolokratie“ und prangert aus einem Ballon und nicht ein „Sprung aus dem Weltall“, die angeblichen Souveräne „Kevin“ und „Jessica“6 an, die wie oft zu lesen war. Zweifelsohne handelte es sich aber ungebildet und meist auch noch Empfänger von Sozial- um eine beeindruckende menschliche Leistung und vor hilfen seien. Deren Wahlverhalten führe letzten Endes allem um ein Ereignis für die Medien. Felix Baumgart- dazu, dass Politiker gewählt würden, die nicht kompetent ner ließ aber nicht nur mit seinem Sprung aufhorchen, seien und den Fortbestand des bestehenden Systems ga- sondern auch mit einer Bemerkung zur Demokratie. Als rantieren, was wiederum Vorteile für Sozialhilfeempfän- er von Journalist/innen der „Kleinen Zeitung“ gefragt ger schaffe. So werde der Staat in die Pleite geführt. Ort- wurde, ob er sich eine politische Karriere vorstellen kön- ner spricht sich zwar gegen Monarchien und Diktaturen nen, antwortete er mit „Nein“ und argumentierte so: „Du aus, beide hätten in Österreich historisch versagt, doch kannst in einer Demokratie nichts bewegen. Wir würden zeigt er, den tschechischen Außenminister Karel Schwar- eine gemäßigte Diktatur brauchen, wo es ein paar Leute zenberg zitierend, Sympathien für eine „parlamentari- aus der Privatwirtschaft gibt, die sich wirklich auskennen“ sche Monarchie“. Ortner lässt auch den österreichischen (Kleine Zeitung vom 27.10.2012). liberalen Ökonomen und Nobelpreisträger Friedrich Diese Meinung soll nicht überbewertet werden und August von Hajek zu Wort kommen, der sich vorstellen sie kann keineswegs dazu herhalten, Österreich nun konnte, dass das Wahlrecht nicht für alle gültig sein müs- als Land der Befürworter von Diktaturen hinzustellen. se. Hajek zitiert er damit, dass „Staatsangestellte“ oder Allerdings befremdet es einigermaßen, wenn in einem „alle Empfänger von öffentlichen Unterstützungen aus- Land, das in seiner jüngeren Zeitgeschichte von zwei Dik- geschlossen wären“ (Ortner: 2012, S. 87). taturen regiert wurde (dem Austrofaschismus von 1933 Die Entscheidungsschwäche, die vielen europäischen bis 1938 und dem Nationalsozialismus von 1938-1945), Regierungen gerade in der noch andauernden Wirt- die Demokratie in Frage gestellt wird. schafts- und Finanzkrise vorgeworfen wurde und wird, Baumgartner steht mit seiner Meinung jedenfalls nicht alleine da. „Spiegel Online“ berichtete am 8. April 2013 von der Jahrestagung des Instituts für Neues Öko- 2 nomisches Denken in Hongkong. Das Institute for New 1 Überarbeitete Fassung eines Beitrages beim Colloque Européen der Economic Thinking (inet) 3 versteht sich als Think-Tank Association des Universités Populaires de France (AUPF) vom 24. bis und will einen Beitrag für eine „bessere Welt für alle“ leis- 25.11.2012 in Valence (Drôme). ten. inet geht es darum, für eine jüngere Generation von 2 http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/oekonomen-und- Ökonomen Bedingungen zu schaffen, damit diese neue sozialwissenschaftler-zweifeln-an-der-demokratie-a-892991-druck.html Wege beschreiten kann. Dieser offene und vorurteilsfreie [2013-04-27]. Zugang zu Themen, Aufgabenstellungen und Herausfor- derungen beinhaltet jedoch auch einen Rückgriff auf das 3 http://ineteconomics.org/. Konzept der „politischen Meritokratie“, der von einzelnen Wissenschaftlern gemacht wird. Daniel A. Bell, Professor 4 Vgl. dazu: Daniel A. Bell: Political meritocracy is a good thing (part 1). an der Jiatong-Universität in Shanghai und Professor für The case of China. Ders.: Political meritocracy is a good thing (part 2). Improving meritocracy in China. Beide Beiträge unter http://www. politische Theorie sowie Direktor des Zentrums für ver- huffingtonpost.com/daniel-a-bell/ [2013-04-27]. gleichende und internationale politische Philosophie an der Tsinghua-Universität in Peking, behauptet, dass De- 5 Wie Fußnote 2. mokratie ein mit Mängeln behaftetes politisches System sei. Diesem Umstand könne, so Bell, mit einer politischen 6 Der Vorname Kevin deutet auf das so bezeichnete Phänomen des Meritokratie begegnet werden, welche die Selektion der „Kevinismus“ , also auf modische Namensgebungen, die sich häufig in Unterschichtfamilien finden, ,hin. Folgt man einer Masterarbeit an der besten politischen Führungskräfte gewährleiste und da- Universität Oldenburg, so ordnen Lehrer Kinder mit solchen häufigen mit zu besseren politischen Entscheidungen beitragen und modischen Vornamen den Unterschichten zu und beurteilen sie würde. Bell ist vom Auswahlprozess der politischen Eli- auch schlechter (Vgl. Julia Isabell Kube (2009): Vornamensforschung, ten in China beeindruckt, führt in seinen Beiträgen in Fragebogenuntersuchung bei Lehrerinnen und Lehrern, ob Vorurteile bezüglich spezifischer Vornamen von Grundschülern und davon der „Huffington Post“ allerdings auch Verbesserungsvor- abgeleitete erwartete spezifische Persönlichkeitsmerkmale vorliegen. schläge an. Abschließend merkt er an, dass Meritokratie Oldenburg, Univ., Master-Arb.)

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 27 Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement führt nun auch dazu, dass Argumente vorgebracht und Angesichts der Legitimationsprobleme, die wir heute in Stimmen laut werden, die implizit oder explizit den vielen europäischen Staaten und auf Ebene der Europäi- Ruf nach einem „starken Mann“, nach einer effektiven schen Union beobachten können, halte ich es für notwen- Führung beinhalten, zumindest aber die Demokratien dig, dass gerade die Volkshochschulen einen demokra- westlichen Musters in Frage stellen. Demokratie wird mit tiepolitischen Diskurs führen, der alle Ebenen umfasst: dem Signum der Ineffizienz und fehlenden Effektivität die lokale bzw. regionale, die nationale und auch die eu- versehen, das bestehende System der parlamentarischen ropäische. Demokratie und die damit verbundene demokratische Die Volkshochschulen sind mit ihren vielfältigen Or- Legitimierung der politischen Entscheidungsfindung ganisationsformen Teil der Zivilgesellschaft und sollten werden angezweifelt. Leichtfertig und ohne historische in diesem Sinne dazu beitragen, dass Demokratie als eine Perspektive stellen diese Kräfte mühsam erkämpfte Er- Gemeinschaft von Körperschaften und Bürgern gesehen rungenschaften der politischen Teilhabe in Frage. Dies wird und in diesem Sinne auch legitimiert ist und weiter ermöglicht es zudem Obskuranten und antidemokrati- entwickelt werden kann und soll. schen Strömungen, sich hier argumentativ anzuhängen Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas spricht in ohne dabei gleich in den Verdacht zu geraten, die Demo- seinem Essay „Zur Verfassung Europas“ von einer „de- kratie überhaupt abschaffen zu wollen. mokratischen Verrechtlichung“ der Europäischen Union Wir müssen allerdings berücksichtigen, dass Demo- und meint damit den Abbau sozialer Ungleichheiten kratie heute für selbstverständlich gehalten wird, was zwischen den europäischen Staaten und den Aufbau sich unter anderem auch darin ausdrückt, dass die Wahl- von Verteilungsgerechtigkeit (Habermas: 2011, S. 81 f.). beteiligung sinkt. Keine Selbstverständlichkeit mehr ist Habermas plädiert für eine „transnationale Demokra- Demokratie hingegen in dem Sinn, dass Kritik an ihr zu tie“ (S. 75 f.) und sieht dabei die Nationalstaaten, die einer breiten Partizipationsbewegung mit dem Ziel der für ein Niveau an Gerechtigkeit und Freiheit bürgen, Systemverbesserung führt. das die Bürger erhalten sehen wollen (S. 72), gleichzei- Cédric Durand, Dozent für Ökonomie an der Uni- tig sei es laut Habermas aber notwendig, dass die Bür- versität Paris-xiii, und Razmig Keucheyan, Dozent für gersolidarität auch die Angehörigen anderer Völker Soziologie an der Universität Paris-Sorbonne (Paris-iv), miteinschließt. Er spricht sich für eine Bürgersolidari- sprechen 2012 in „Le Monde diplomatique“ von einer tät mit jenen Staaten aus, die „sozial unausgewogenen „suspension de la démocratie à la faveur de la crise“ (S. 3). Sparprogrammen unterworfen“ wurden (S. 76). Aufgabe In ihrem Beitrag mit dem Titel „Vers un césarisme euro- der politischen Eliten und der Medien wird es sein, „die Literatur péen“ analysieren sie, wie eine Reihe von demokratisch Bevölkerung für eine gemeinsame europäische Zukunft Bell, Daniel A. (2012): nicht legitimierten europäischen und internationalen zu gewinnen“ (S. 79). Habermas entwickelt seine Über- Political meritocracy Gremien und Institutionen antidemokratische Dynami- legungen weiter und spricht sich auf globaler Ebene für is a good thing (part 1). ken beschleunigen. Den Begriff „césarisme“ haben sie eine neue Ausrichtung der Vereinten Nationen aus, die The case of China. In: Huffington Post vom von Antonio Gramsci entlehnt, der darunter die Bereit- als „eine politisch verfasste Gemeinschaft von Staaten 21.8.2012. http://www. schaft demokratisch legitimierter Regierungen meint, und [Kursiv im Original] Bürgern reorganisiert“ werden huffingtonpost.com/ in Zeiten von Krisen autoritäre Ausprägungen zuzulas- sollen. Gleichzeitig sollen sie auf ihre Kernfunktionen daniel-a-bell/ [2013- sen. Der „césarisme“, den wir heute in den Ländern der der Friedenssicherung und der weltweiten Durchset- 04-27]. Bell, Daniel A. (2012a): Europäischen Union beobachten können, wird von den zung der Menschenrechte beschränkt werden (S. 85). Political meritocra- Finanzagenturen und deren Lobbies sowie der Bürokra- Die Kooperation zwischen Bürgern und Staaten ist für cy is a good thing tie vertreten und findet seinen Ausdruck zum Beispiel im Habermas essenziell, die Europäische Union solle in (part 2). Improving Ruf nach „Expertenregierungen“. Richtung der bereits angesprochenen „demokratischen meritocracy in China. In: Huffington Post Verrechtlichung“ konsequent weiterentwickelt werden vom 22.8.2012. http:// Active Citizenship, Kooperation zwischen Bürgern und (S. 81), die Weltbürgergemeinschaft sieht er als eine www.huffingtonpost. Staaten – wichtige Aufgaben für Volkshochschulen „überstaatliche Assoziation von Bürgern und Staatsvöl- com/daniel-a-bell/ Volkshochschulen haben sich immer der Demokratie kern“ (S. 86), in einem solcherart ausgeprägten Mehre- [2013-04-27]. verpflichtet gefühlt. Ludo Moritz Hartmann, erster Bot- benensystem komme auch und gerade den einzelnen Durand, Cédric/Keuchey- an, Razmig (2012): schafter der Republik Österreich in Deutschland von 1918 Staaten und ihren Bürger/innen eine wichtige konstitu- Vers un césarisme bis 1920 und Abgeordneter der konstituierenden Natio- tive Rolle zu, die sich auf allen supranationalen Ebenen européen. In: Le nalversammlung des Nationalrates, war einer der bedeu- wieder findet. Monde diplomatique, tendsten Förderer der Volksbildung in Österreich und Einen Beitrag zur Demokratieentwicklung in einem Novembre 2012, S. 3. Habermas, Jürgen (2011): unter anderem Begründer der Wiener Volkshochschule Mehrebenensystem zu leisten – lokal, regional und na- Zur Verfassung Euro- Ottakring. Hartmann hat es als wesentliche Aufgabe der tional, aber auch supranational – ist heute eine wichtige pas. Ein Essay. Berlin: Volkshochschule gesehen, „Denken zu lehren“, denn die- Aufgabe von Volkshochschulen. Um dieser Aufgabe Suhrkamp Verlag. ses ermögliche begründete, reflektierte und selbständige nachzukommen, ermöglichen die Volkshochschulen Negt, Oskar (2010): Der politische Mensch. Entscheidungen, heute würden wir von den Grundlagen Orientierungen, sie unterstützen die Menschen in Mei- Demokratie als Le- des „Empowerments“ sprechen. Damals wie heute geht nungsbildungsprozessen und sie nehmen teil an einem bensform. Göttingen: es um die Realisierung dessen, wofür die Volkshochschu- Diskurs über Demokratie. Denn: „Demokratie ist die ein- Steidl Verlag. len stehen: Nämlich das Chancenspektrum der Men- zige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt Ortner, Christian (2012): Prolokratie. Demo- schen zu vergrößern – unabhängig von ihrer Herkunft werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins hohe kratisch in die Pleite. und/oder ihrer Vorbildung. Alter hinein“ (Negt: 2010). // Wien: edition a.

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Statistik : 2011c, S. 1). Gründe für Krankenstände waren zumeist Darminfektionen, psychische Krankhei- ten und Erkrankungen des Nervensystems, der oberen Gesundheitsförderung – Luftwege und des Skeletts sowie der Muskeln und des Bindegewebes (vgl. Statistik Austria: 2011b, S. 1). Das Österreichische Netzwerk für Betriebliche Ge- auf drei Säulen sundheitsförderung (önbgf) unterscheidet vier Grup- Betriebliche Gesundheitsförderung für Arbeitnehmer/ pen von Belastungssituationen, denen junge Arbeitneh- mer/innen zwischen 15 und 21 Jahren ausgesetzt sind: 1 innen in Kärnten Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, psychosoziale Belastungen und Arbeitsklima, gesundheitliche Belas- tungssituationen am Arbeitsplatz und das persönliche Dieser Beitrag beschreibt das „Drei-Säulen-Programm“ für betriebliche Gesundheitsverhalten (vgl. önbgf: 2012a, S. 1). Junge Gesundheitsförderung, das von den Kärntner Volkshochschulen seit 2010 Arbeitnehmer/innen seien weiters vergleichsweise häufi- angeboten wird. Es soll Betrieben und deren Mitarbeiter/innen vor Ort ger krank, die Dauer der Erkrankung sei allerdings kürzer teilnehmer/innenorientiert die lebendige Auseinandersetzung mit den (vgl. ebd.). Ältere Beschäftigte in Österreich weisen dem Bereichen Ernährung, Bewegung und „Work-Life-Balance“ ermöglichen önbgf zufolge mehr Arbeitsunfähigkeitszeiten auf als und helfen, Krankheiten am Arbeitsplatz vorzubeugen, Krankenstände zu jüngere Arbeitnehmer/innen, wobei sie im Vergleich verringern, das Betriebsklima zu verbessern und langfristig die Gesundheit, nicht häufiger erkranken, im Durchschnitt allerdings län- das Wohlbefinden, die Lebensqualität und die Gesundheitskompetenzen ger im Krankenstand verbleiben. Dies sei auf die Schwere der Arbeitnehmer/innen zu fördern und zu stärken. Im Jahr 2010 wurde das der Erkrankungen beziehungsweise chronische Erkran- Projekt von der Stadt Klagenfurt ausgezeichnet. kungen, vor allem im Bereich der Muskeln und des Ske- letts zurückzuführen (vgl. önbgf: 2012b, S. 1). Um den steigenden Anforderungen am Arbeitsplatz gerecht zu werden und arbeitsplatzbezogenen Kran- kenstandsfällen vorzubeugen, ist unseres Erachtens die Implementierung von dauerhaften innerbetrieblichen Gesundheitsförderungsmodellen in den Unternehmen, welche auf die Bedürfnisse und Bedarfe der Mitarbei- ter/innen abgestimmt sind, zu empfehlen. Neben be- trieblicher und persönlicher Weiterbildung, ob formal, Beate Gfrerer Arbeitsmarkt und Gesundheit non-formal oder informell, ist auch die betriebliche Ge- und Gloria Die demographische Entwicklung und der stetig steigen- sundheitsförderung ein Aspekt des lebenslangen und le- Sagmeister de Leistungsdruck am Arbeitsplatz nehmen immer stär- bensbegleitenden Lernens. ker Einfluss auf den österreichischen Arbeitsmarkt. Dies Ziel des Drei-Säulen-Programms ist es, Krankheiten spiegelt sich auch in der Krankenstandsstatistik wider. So am Arbeitsplatz vorzubeugen, Krankenstände zu verrin- gab es im Jahr 2011 rund 3,8 Millionen Krankenstandsfäl- gern, das Betriebsklima zu verbessern und langfristig die le, exakt 235.520 mehr als im Vorjahr – und es entfielen Gesundheit, das Wohlbefinden, die Lebensqualität und auf jeden Erwerbstätigen durchschnittlich 13,2 Kranken- die Gesundheitskompetenz der Arbeitnehmer/innen zu standstage, – wohingegen es 2010 noch 12,9 gewesen fördern und zu stärken. Nur so können unseres Erach- waren (vgl. Statistik Austria: 2012b, S. 1). Von den 4,07 tens Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen den Millionen Menschen in Österreich, die 2011 im erwerbs- ständig wachsenden Anforderungen am Arbeitsmarkt fähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren waren, waren 1,6 gerecht werden. Gesundheit und Wohlbefinden aller Millionen Erwerbstätige zwischen 45 und über 64 Jahren Akteur/innen stellen die Grundvoraussetzungen für die alt (siehe Statistik Austria: 2012a, S. 1). Die Erwerbsprog- wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Unternehmen nose der Statistik Austria zeigt zudem, dass bis 2050 mit dar. einem Anstieg auf 4,24 Millionen arbeitenden Menschen zu rechnen ist. Auch die Quote der Arbeitnehmer/innen Betriebliche Gesundheitsförderung – ein Aspekt des jenseits des 50. Lebensjahres soll bis 2050 stark zuneh- lebenslangen Lernens men (vgl. Statistik Austria: 2011a, S. 1), denn aufgrund ge- „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen burtenschwacher Jahrgänge rücken zugleich kaum junge Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über 1 Dieser Beitrag ist die Menschen auf den Arbeitsmarkt nach. Zugleich erfolgt ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stär- leicht gekürzte Fassung der Eintritt in die Arbeitswelt durch längere Ausbildungs- kung ihrer Gesundheit zu befähigen.“ (who: 2012, S. 1). des Beitrages in: Magazin wege verspätet und berufstätige Personen verbleiben im- So lautet die Definition für Gesundheitsförderung in der erwachsenenbildung.at. Fachmedium für mer länger im Arbeitsprozess (vgl. ebd.). Ottawa Charter von 1986. Laut Luxemburger Deklarati- Forschung, Praxis und Die häufigsten Krankenstandsfälle bei Erwerbstätigen on von 1997 vereint betriebliche Gesundheitsförderung Diskurs. Nr. 17 vom zeigten sich 2011 in den Bereichen verarbeitendes Gewer- alle gemeinsamen Maßnahmen von Arbeitgeber/innen, November 2012. Online be/Herstellung von Waren, Reparatur von Kraftfahrzeu- Arbeitnehmer/innen und Gesellschaft zur Verbesserung im Internet: http://www. erwachsenenbildung.at/ gen, öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialver- von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz (vgl. magazin/12-17/meb12-17.pdf. sicherung und im Gesundheits- und Sozialwesen (vgl. enwph: 1997, S. 1).

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 29 Bildungsthemen aktuell

Betriebliche Gesundheitsförderung ist eine moderne Das Drei-Säulen-Programm besteht aus den Bereichen Er- Unternehmensstrategie, bei der die Gesundheit und die nährung, Bewegung und „Work-Life-Balance“ und wird Verbesserung der Lebensqualität der Beschäftigten im mit den Wünschen und Bedürfnissen der Arbeitnehmer/ Vordergrund stehen. Aus sozialer und ökonomischer innen abgestimmt. Sicht sind gesunde und qualifizierte Mitarbeiter/innen die Stütze eines Unternehmens und wesentlich für des- Die Säule „Ernährung“ sen Erfolg mitverantwortlich. Jede/r Arbeitgeber/in Ausgebildete Ernährungstrainer/innen geben im trägt unseres Erachtens die Verantwortung, gesund- Rahmen der Kursmaßnahmen Tipps zu ausgewogener heitsfördernde Maßnahmen zu ermöglichen und die Ernährung in der Arbeit und im Alltag und zeigen auf, Mitarbeiter/innen diesbezüglich zu befähigen. Eine aus- wie gesundes Essen dazu beiträgt, Körper und Geist im geglichene „Work-Life-Balance“ ist zu einem wichtigen Gleichgewicht zu halten. Des Weiteren werden Gerichte Gesundheitsfaktor geworden. Dieser Entwicklung versu- betreffend ihres Energieaufbaus, der Vitalisierung und chen die Kärntner Volkshochschulen seit 2010 mit einem Verdaulichkeit nach den Prinzipien der Traditionellen entsprechenden Angebot Rechnung zu tragen. Chinesischen Medizin beschrieben. Neben der theore- tischen Wissensvermittlung werden neue Rezepte ge- Das „Drei-Säulen-Programm“ – Die Entwicklung meinsam erprobt und gekocht. Dabei bleibt ausreichend Im Oktober 2008 luden die Kärntner Volkshoch- Zeit für angeregte Gespräche, die im Berufsalltag oft ver- schulen Vertreter/innen aus den Bereichen Bildung, loren gehen. Somit hat diese Maßnahme innerhalb eines Gesundheit, Arbeitsmarkt, Unternehmensberatung Betriebes auch einen hohen sozialen Wert. Wichtig sind und Justiz, Vertreter/innen sozialökonomischer Be- den Teilnehmer/innen und Trainer/innen die Integration triebe, der Kammern und der Kirchen zu einem „Con- des Gelernten in den Alltag, die Umsetzbarkeit im Büro versation-Dinner“ zum Thema Grundbildung. Ziel war und die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen es, die Herausforderungen des wachsenden Bedarfs Ernährungsverhalten. Die Kurse im Rahmen der Säule an Grundbildung und an Angeboten zum lebenslan- „Ernährung“ sind: „Gesund Essen im Büro“, „Fit im Büro gen Lernen zu diskutieren, Handlungsperspektiven durch tcm: Ernährung nach den 5 Elementen“ und „Zu zu beschreiben und gemeinsame Schritte festzulegen. ausgepowert um nach der Arbeit zu kochen? Doch es zahlt Ein intensives Gespräch zwischen Claudia Stumpfl, sich aus!“. Seit März 2010 konnten wir insgesamt 69 Teil- Expertin für betriebliche Gesundheitsförderung der nehmer/innen in unseren Ernährungskursen im Rahmen Kärntner Gebietskrankenkasse, und Beate Gfrerer, der betrieblichen Gesundheitsförderung weiterbilden. stellvertretende Geschäftsführerin der Kärntner Volks- hochschulen, über gesundheitsbezogene Maßnahmen Die Säule „Bewegung“ für Arbeitnehmer/innen und den diesbezüglich stetig Mit zertifizierten Gesundheitstrainer/innen setzen steigenden Bedarf zeigte die Notwendigkeit eines ad- die Teilnehmer/innen gemeinsam erste Schritte zur För- äquaten Angebots an betrieblicher Gesundheitsförde- derung und Erhaltung der eigenen Gesundheit. Die Freu- rung für Arbeitnehmer/innen in Kärntens Betrieben de an Bewegung und das Training in der Gemeinschaft auf. Gemeinsam wurde, basierend auf den Ergebnissen stehen im Mittelpunkt der Maßnahmen. Folgende Kur- der österreichweiten Bedarfsanalyse des Österreichi- se werden angeboten: „Latino Dance – Fit in den Feier- schen Netzwerks für Betriebliche Gesundheitsförderung abend“, „Wirbelfix – Flacher Bauch und starker Rücken“, (önbgf: 2012c) das Drei-Säulen-Programm entwickelt. „Pilates – Übungen für den Arbeitsplatz“, „Yoga – für einen entspannten Arbeitsausklang“ und „Zumba® – Fit Das Angebot für den Arbeitsalltag“. An den Bewegungskursen haben Nicht jedes Unternehmen ist heute in der Lage, be- seit März 2010 336 Personen teilgenommen. triebliche Gesundheitsförderung als internes Angebot im Betrieb zu implementieren. Aufgrund der Arbeitszeiten Die Säule „Work-Life-Balance“ und oftmals schlechten Verkehrsanbindungen haben Die Kurse in der Säule „Work-Life-Balance“ zielen viele Arbeitnehmer/innen auch nicht die Möglichkeit, darauf ab, Entspannung durch einfache Übungen für an Bildungsprogrammen der Volkshochschulen teilzu- Körper und Geist herbeizuführen, vorhandene Stärken nehmen. Diesen Betrieben wird mit dem Drei-Säulen- zu nutzen und auf diesen Ressourcen aufzubauen, um Programm die Möglichkeit geboten, ein qualitativ hoch- stressigen Momenten mit einem Lachen zu begegnen. wertiges externes Angebot über den Verein Die Kärntner Angeboten werden: „Wer lacht, hat mehr vom Job“, „Well- Volkshochschulen zu organisieren. Alle Kurse finden da- Relax – Body & Mind“ und „Stärken stärken – meiner Ge- bei nach Möglichkeit vor Ort statt. Die Arbeiterkammer sundheit zuliebe“. Dieses Angebot nutzten seit März 2010 stellt jenen Mitarbeiter/innen, die ak-Mitglieder sind, 56 Arbeitnehmer/innen. für die Kursmaßnahmen den Bildungsgutschein in Höhe von 100 Euro beziehungsweise 150 Euro für Lehrlinge Gesundheitsvorträge und über 50-Jährige zur Verfügung. Seit dem Frühjahrssemester 2012 bieten die Kärntner Auftrag für die Arbeitgeber/innen ist es, die Maßnah- Volkshochschulen auch Gesundheitsvorträge zu den The- men in den Arbeitsalltag zu integrieren und den Mitar- men Ernährung, Bewegung und Work-Life-Balance. Die- beiter/innen den Besuch innerhalb der Arbeitszeit zu se leiten den Beginn von weiterführenden Maßnahmen ermöglichen. im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung ein.

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Bei den Gesundheitsvorträgen konnten im Jahr 2012 100 nehmer/innen aus acht Institutionen durchgeführt, unter Personen begrüßt werden. diesen das Arbeitsmarktservice Kärnten, die Stadtwerke, das Hilfswerk Kärnten, das Landeskrankenhaus Wolfs- Die Umsetzung berg, die Volkshilfe Kärnten, die eva GmbH, die Donau- Die Mitarbeiter/innen der Bereichsdirektion Betriebli- chemie in Brückl und die Volkshochschule selbst. che Gesundheitsförderung der Kärntner Gebietskranken- Im Evaluationszeitraum März 2010 bis September 2012 kasse informieren Unternehmen über das Angebot. wurden 483 Fragebögen ausgegeben, 359 davon wurden In den Unternehmen eruieren dann Personalbeauf- retourniert. 58 Fragebögen wurden unausgefüllt abgege- tragte oder Betriebsrät/innen den Bedarf der Mitarbeiter/ ben. 301 Evaluationsbögen konnten also für die Auswer- innen an betrieblicher Gesundheitsförderung und kontak- tung herangezogen werden. Teilweise war die Ausgabe tieren die Kärntner Volkshochschulen. Sie buchen den ge- der Fragebögen am letzten Kurstag von den Trainer/innen wünschten Kurs unter Angabe der Teilnehmer/innenzahl, vergessen worden beziehungsweise wurden die Evalua- des Kurstages und der -zeit. Danach erfolgen der Kontakt tionsbögen von den Teilnehmer/innen nicht retourniert. mit den Trainer/innen und die Organisation. Die Kursge- Somit lag die Rücklaufquote bei 62,32 Prozent. Die 97 bühr wird über den Bildungsgutschein abgegolten. Um Teilnehmer/innen der Gesundheitsvorträge wurden nicht die Abrechnungsmodalitäten kümmern sich die Kärntner befragt. Bei der Evaluation handelt es sich um eine Zufrie- Volkshochschulen in Kooperation mit der Bildungsabtei- denheitsanalyse inklusive statistischer Datensammlung. lung der Arbeiterkammer Kärnten. Die Beantwortung unterlag der Freiwilligkeit. Ausgewer- Die Umsetzbarkeit und Integration der Kurse in den tet wurden die geschlossenen Fragen in Excel, Antworten Arbeitsalltag wird dadurch gewährleistet, dass die Teilneh- auf offene Fragen wurden wörtlich übernommen. mer/innen die beziehungsweise direkt im Anschluss an die berufliche Tätigkeit stattfinden. Dies alles kann nur durch Statistische Daten ein harmonisches Zusammenwirken von Arbeitnehmer/ Von jenen Teilnehmer/innen, die den Evaluationsfra- innenvertretung, Dienstgeber/innen und Erwachsenen- gebogen ausfüllten, waren 81 Prozent weiblich und 15 Pro- bildungseinrichtungen gelingen. Die Trainer/innen sind zent männlich. Vier Prozent gaben keine Antwort auf die die große Stütze dieses Projekts. Individualisierte Trai- Frage nach ihrem Geschlecht. 89 Prozent der Teilnehmer/ nings und hohe Teilnehmer/innenorientierung rücken die innen waren zwischen 30 und 59 Jahre alt. Sechs Prozent Stärken und Kompetenzen der Teilnehmer/innen in den waren zwischen 15 und 29 Jahre alt und ein Prozent älter Vordergrund. Kompetente, gut ausgebildete und vor allem als 60. Ebenfalls vier Prozent machten keine Altersanga- einfühlsame Trainer/innen können sehr viel mit ihren An- ben. Als höchste abgeschlossene Ausbildung gaben 3% der leitungen in den Kursen bewirken. Aktuelle Entwicklun- Teilnehmer/innen einen Pflichtschulabschluss, 24 Prozent gen und Trends aufzugreifen und die Rückmeldungen der einen Lehrabschluss, 36 Prozent den Abschluss an einer Teilnehmer/innen und Trainer/innen miteinzubeziehen, berufsbildenden mittlere Schule beziehungsweise Fach- gehört für die Kärntner Volkshochschulen zum Grundver- schule, 23 Prozent einen Maturaabschluss und 11 Prozent ständnis von gelungenem Lernen im Rahmen der betrieb- einen Abschluss an einer Universität oder Fachhochschu- lichen Gesundheitsförderung. Auch die beobachtete kon- le an, drei Prozent machten keine Angaben. Die Zusam- sequente Teilnahme ist ein Signal, dass wir die Bedürfnisse mensetzung der Teilnehmer/innen ähnelt damit jener der erfüllen können. Kärntner Volkshochschulen im klassischen Kursbereich.2 Auf die Kurse aufmerksam wurden die Teilnehmer/ Abbildung BGF 2010- Die Evaluationsergebnisse innen zu 92 Prozent durch Vertreter/innen aus dem Be- 2012: Anzahl der Kurse und Teilnehmer/innen Das „Drei-Säulen-Programm“ ist seit März 2010 ein fi- trieb oder Betriebsrät/innen. Diesen wurde das Angebot Quelle: Die Kärntner xes Angebot der Kärntner Volkshochschulen. Von März durch die Kärntner Gebietskrankenkasse bekannt ge- Volkshochschulen, 2012 2010 bis September 2012 wurden 62 Kurse mit 580 Teil- macht. Als ausschlaggebende Gründe für die Teilnahme an den Gesundheitskursen gaben die Teilnehmer/innen das Kursangebot, die passende Kurszeit, den Veranstal- Betriebliche Gesundheitsförderung 2010 - 2012 tungsort im Betrieb und die Möglichkeit zur Einlösung 300 des Bildungsgutscheins der Arbeiterkammer Kärnten an. Für 7 bis 8 Prozent der Teilnehmer/innen erschien 250 die Teilnahme beruflich notwendig beziehungsweise ga- ben diese das Preis-Leistungsverhältnis und die Leistung 200 der Trainer/innen als Beweggrund an. 89% meldeten ihr 150 251 100 185 144 2 Im Evaluationszeitraum Herbstsemester 2010/Frühjahrssemester 2011 waren 83% der befragten Teilnehmer/innen Frauen. Der Großteil 50 TeilnehmerInnen der Teilnehmer/innen war zwischen 30 und 59 Jahre alt (67%). Von 21 19 22 den Teilnehmer/innen der Volkshochschule Klassik gaben als höchste 0 Kurse Ausbildung 4% einen Pflichtschulabschluss, 18% einen Lehrabschluss, 2010 2011 2012 28% eine berufsbildende mittlere Schule bzw. Fachschule, 24% einen Kursjahr Maturaabschluss und 26% einen Abschluss an einen Universität bzw. Fachhochschule an (siehe: Die Kärntner Volkshochschule: 2011).

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 31 Bildungsthemen aktuell

Interesse an einem Folgekurs an, 88 Prozent würden das Resümee Drei-Säulen-Programm weiter empfehlen. Fast 80% der Für Berufsfelder mit hohen körperlichen Anforde- Teilnehmer/innen gaben an, mit der Kursorganisation rungen und starker Stressbelastung ist ein adäquates und und den Kurszeiten zufrieden zu sein. Bei der Wahl der vor allem teilnehmer/innenorientiertes Gesundheits- Kursräumlichkeiten gab es Verbesserungswünsche, da die förderungsprogramm wichtig. Oft ist die Teilnahme an Räumlichkeiten in den Betrieben oft zu klein beziehungs- Gesundheitsförderung auch der (Wieder-)Einstieg in weise von der Ausstattung und Temperatur her als unpas- den Prozess des lebenslangen Lernens. Einen kleinen send empfunden wurden. Speziell Kurse für Yoga oder Beitrag dazu leisten die Kärntner Volkshochschulen mit Entspannungskurse verlangen ein angenehmes Raumkli- dem Drei-Säulen-Programm und jene Unternehmen, die ma und Ambiente. Befragt nach den Gründen ihrer Teil- betriebliche Gesundheitsförderung für ihre Mitarbeiter/ nahme beziehungsweise dem Interesse an einem Folge- innen ermöglichen und den dafür notwendigen Raum kurs gaben die Teilnehmer/innen an, dass ihnen Fort- und sowie die Zeit zur Verfügung stellen. Im Jahr 2010 errang Weiterbildung sehr wichtig ist, sie ihr körperliches und das Projekt in der Kategorie „Betriebliche Gesundheits- geistiges Wohlbefinden steigern und Gesundheitsvorsor- förderung“ den ersten Rang im Rennen um den Gesund- ge betreiben möchten, und sie hoffen, dass auch das Mitei- heitspreis der Stadt Klagenfurt. // nander mit den Kolleg/innen gefördert wird.

Literatur ENWPH – Europäisches Netzwerk für betriebliche Gesundheits- Statistik Austria (2011a): Erwerbsprognosen. Online im Internet: http:// förderung (1997): Luxemburger Deklaration zur betrieblichen www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/demographische_ Gesundheitsförderung in der Europäischen Union. November prognosen/erwerbsprognosen/index.html [2012-10-05]. 1997. Online im Internet: http://www.netzwerk-bgf.at/portal27/ Statistik Austria (2011b): Krankenstandfälle auf 1000 Erwerbstätige portal/bgfportal/channel_content/%20cmsWindow?p_tabid=3&p_ nach Krankheitsgruppen seit 2001. Online im Internet: http://www. menuid=65574&action=2&p_pubid=129850 [2012-10-05]. statistik.at/web_de/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/ Die Kärntner Volkshochschulen (2011): Evaluationsbericht des Vereins krankenstandstage/index.html [2012-10-05]. „Die Kärntner Volkshochschulen“ (Auswertung und Bericht Isabella Statistik Austria (2011c): Krankenstandsfälle und -tage 2011 nach Penz). Klagenfurt. Wirtschaftsklassen und Geschlecht. Online im Internet: http://www. ÖNBGF – Österreichisches Netzwerk für Betriebliche Gesundheits- statistik.at/web_de/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/ förderung (2012a): 2. Gesundheitsdaten einer komplexen Le- krankenstandstage/index.html [2012-10-05]. bensphase. Online im Internet: http://www.netzwerk-bgf.at/ Statistik Austria (2012a): Erwerbstätige nach Alter und Geschlecht seit portal27/portal/bgfportal/channel_content/cmsWindow?p_ 1994. Online im Internet: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/ pubid=638225&action=2&p_menuid=69336&p_tabid=4 [2012-10-05]. arbeitsmarkt/erwerbstaetige/index.html [2012-10-05]. ÖNBGF – Österreichisches Netzwerk für Betriebliche Gesundheits- Statistik Austria (2012b): Krankenstandsfälle und -tage nach Geschlecht förderung (2012b): 3. Gesundheit älterer Arbeitnehmer/innen. Online seit 1965. Online im Internet: http://www.statistik.at/web_de/statis- im Internet: http://www.netzwerk-bgf.at/portal27/portal/bgfpor- tiken/gesundheit/gesundheitszustand/krankenstandstage/022362. tal/channel_content/cmsWindow?p_pubid=638236&action=2&p_ html [2012-10-05]. menuid=69335&p_tabid=4 [2012-10-05]. WHO (2012): Ottawa Charter for Health Promotion, 1986. Erste Internati- ÖNBGF – Österreichisches Netzwerk für Betriebliche Gesundheits- onale Konferenz über Gesundheitsförderung. Ottawa, Kanada, 17.-21. förderung (2012c): BGF für KKU [Klein- und Kleinstunternehmen]. November 1986. Online im Internet: http://www.euro.who.int/de/ Ergebnisse einer österreichweiten Bedarfsanalyse zu gesundheitsbe- who-we-are/policy-documents/ottawa-charter-for-health-promoti- zogenen Maßnahmen. Online im Internet: http://www.netzwerk-bgf. on,-1986 [2012-10-05]. at/portal27/portal/bgfportal/channel_content/cmsWindow?p_ pubid=133330&action=2&p_menuid=66412&p_tabid=6 [2012-10-10].

Der Sport und Kommunikationswissenschafter aus Wie- ner Neustadt hat sich mit seiner Firma VitaleBetriebe (www.vitalebetriebe.at) auf genau diesen Aspekt spezi- Gesunde Impulse für alisiert: „Wir allen verbringen so viel Zeit mit unserer Arbeit, Tempo und Druck werden generell höher – da reichen Reparaturmaßnahmen am Wochenende oder ein VHS-Kursleiter/innen in Wellnessurlaub nicht mehr. Wir müssen auf unsere Ge- sundheit auch am Arbeitsplatz achten.“ Niederösterreich Helmut Buzzi setzt auf einen sehr ganzheitlichen Ge- sundheitsansatz. So hat zum Beispiel das Thema Stress einen enorm hohen Einfluss auf Gesundheit und Wohl- befinden. Elisabeth Halej, Seit 2011 sind die Workshops zur Gesundheitsförderung „Gerade bei Menschen mit vielen Sozialkontakten, die Norbert Koch ein fixer Bestandteil in den Fortbildungen des Verbandes noch dazu im Rampenlicht stehen wie zum Beispiel Leh- Niederösterreichischer Volkshochschulen. Für regelmä- rer/innen haben Burn-out-Fälle deutlich zugenommen. ßige Workshops zum Thema „Gesundheit am Arbeits- Die Anforderungen steigen ständig, daher ist es ganz platz“ konnte Mag. Helmut Buzzi gewonnen werden. wichtig, dass unsere Kraft- und Regenerationsquellen

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Schritt halten“, betont Buzzi. Ganz wichtig ist dafür eine positive Alltagskommunikation. Missverständnisse oder Konflikte rauben viel Energie – genau darum geht es auch in den Workshops. Qualität durch Natürlich spielen auch die klassischen Gesundheits- themen eine große Rolle im Seminar, so gibt es in den Workshops immer wieder Bewegungspausen oder Spie- Information und le, um den Stresslevel gezielt zu senken und um für mus- kuläre Entspannung zu sorgen. Austausch Die Bedeutung von Bewegung für Gesundheit und Wohlbefinden ist enorm, egal ob diese in Form von Be- wegungsprogrammen (Training), Bewegungschancen (Bewegung in den Alltag) oder Bewegungspausen (kur- ze Unterbrechungen der Arbeit für gezielte Übungen) durchgeführt wird. Ebenso darf, um sich fit zu halten und auf den Punkt genau in Topform zu sein, die gezielte Er- Elisabeth Feigl Worauf muss ich bei der Vorbereitung der (Re-)Tes- nährung und die Aufnahme von genügend Flüssigkeit tierung achten? Wie kann ich als lqw-Anwender/in nicht unterschätzt werden (zu obengenanntem gibt es sicherstellen, dass die Qualität nachhaltig und laufend gute Tipps in der letzten övh-Ausgabe vom März). optimiert wird? Und wie können Organisationen viel- Zielgruppe der Gesundheits-Seminare sind alle vhs- fältig durch qualitätssichernde Maßnahmen profitieren? Kursleiter/innen, die ihre Leistungsfähigkeit aufrecht Diese und eine Reihe weiterer Fragen beschäftigten die erhalten und dabei gesund bleiben wollen. Aber natür- rund 25 Teilnehmer/innen der Veranstaltung „lqw vor lich sind auch vhs-Leiter/innen und administrative vhs- Ort“, die am Donnerstag, dem 23. Mai 2013, von 11 bis 16 Mitarbeiter/innen, die ebenfalls die erhöhte Arbeitsin- Uhr an der VHS Simmering in Wien stattfand und sich tensität spüren und noch dazu als Multiplikator/innen an lqw-testierte Organisationen sowie an alle, die sich große Bedeutung haben, herzlich willkommen. im Testierungs-Prozess befinden, richtete. Organisiert wurde sie von der regionalen lqw-Beratungsstelle rüst- Österreich gemeinsam mit der Testierungsstelle ArtSet. Vertreter/innen von sehr unterschiedlichen Bildungs- Die bisherigen Workshops: institutionen – von Ein-Personen-Unternehmen bis zu 2011: Gesund leben – fit für dievhs Großbetrieben wie den Wiener Volkshochschulen – reis- an der vhs St. Pölten ten aus dem Burgenland, aus Niederösterreich, Salzburg, der Steiermark, Tirol und Wien an, um sich über ihren 2012: Schau auf Dich – brenn nicht aus Qualitätsmanagement-Prozess im Rahmen von lqw (Burn Out-Prophylaxe) auszutauschen. Frau Elke Krämer, die Leiterin der lqw- an der vhs Wiener Neustadt Testierungsstelle ArtSet, stand Frage und Antwort zu den Gesundheit & Kommunikation verschiedenen Problemstellungen. an der vhs Krems Im Zentrum des ersten Teils der Veranstaltung am Vormittag stand die Frage, wie gelebte Praxis in die 2013: Konflikt & Beschwerdemanagement manchmal etwas sperrige und schwer verständliche Fach- an der vhs Krems sprache des Qualitätsmanagements übersetzt werden kann. Elke Krämer sprach in diesem Zusammenhang von einem „Qualitätssprachregime“, dem sich lqw unterwor- Alle Themen sind sehr gut angekommen, dievhs - fen habe, wies aber sogleich darauf hin, dass die Anbie- Kolleg/innen waren dankbar für das Angebot und sich ter bei der Beschreibung der jeweiligen Tätigkeiten und einig, das Gelernte gut in ihrem Arbeitsalltag einsetzen Vorgänge keineswegs auf diese Art der Sprache zurück- zu können. Wichtig war auch immer der Austausch und greifen müssten. Im Gegenteil, die hier gewählte Sprache die Vernetzung der Teilnehmer/innen, auch das stärkt soll, so Krämer, möglichst praxisnah, verständlich und die Ressourcen. 2014 wird es wieder Gesundheitsangebo- gut nachvollziehbar sein. Je klarer die Prozesse beschrie- te für die vhs-Kursleiter/innen geben. // ben werden, desto weniger müssen die lqw-Gutachter/ innen in Folge auf Nachweise zurückgreifen. Die Doku- mentation dieser Nachweise kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Helena Verdel (rüst Österreich, Wiener Volkshochschulen) betonte, dass sie mit der Sammlung in einem entsprechenden Ordner sehr gute Erfahrungen gemacht hatte; Krämer meinte, dass es auch ausreiche, zu wissen, wo diese zu finden seien. Jedenfalls sollten bei Formularen, Evaluationsbögen etc., die als Nachweis an- geführt werden, nur ausgefüllte Dokumente vorgewiesen werden und keine leeren Formulare.

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 33 Bildungsthemen aktuell

Nachmittags erfolgte eine Aufteilung der Gruppe in „An- fänger/innen“ und „Profis“, was sich als vorteilhaft für die Teilnehmer/innen herausstellte. So fiel es einigen Teil- ADUQUA – Quality Assurance nehmer/innen leichter, im kleineren Rahmen oft banal erscheinende Fragen zu stellen, welche die Qualitätsbe- in Integration Training for auftragten täglich beschäftigen. Der Vertreter einer neugegründeten Organisation be- Adult Migrants richtete, dass die Unterlagen von lqw bei der Organisa- tionsgründung und -entwicklung sehr hilfreich seien, da Eben noch im Austausch mit österreichischen sie einen ausgezeichneten Leitfaden für die unterschiedli- Partner/innen, schon wieder zurück im europäischen chen zu klärenden Bereiche darstellen. Diskutiert wurde auch, wie bei größeren organisato- Netzwerk! rischen Veränderungen sowie mit der Beschreibung der Prozesse umgegangen werden sollte. Empfohlen wurde, auf derartige Gegebenheiten explizit hinzuweisen und Claudia Lo Am 21. März 2013 fand auf Einladung des Verbandes sogleich den Status quo aber auch das neue, vereinbarte Hufnagl und Österreichischer Volkshochschulen (vöv) in Wien die Prozedere zu skizzieren. Wichtig ist in jedem Fall, dass Elisabeth Feigl Veranstaltung „Qualitätssicherung von Integrationsmaß- immer wieder auf das jeweilige Leitbild sowie auf das „ge- nahmen, aber wie?" statt. Jetzt fließen die dort erhaltenen lungene Lernen“ Bezug genommen wird. Rückmeldungen in die weitere Ausarbeitung der Pro- Viel Interesse rief auch die Frage hervor, wie laufende jektziele des europäischen Netzwerkes aduqua mit 15 Veränderungen (etwa auch nach der Testierung) immer Partner/innen in 13 Ländern ein. Das herausfordernde wieder in den Arbeitsalltag von Mitarbeiter/innen und Unterfangen, Standards und Kriterien zur Qualitätssi- Qualitätsbeauftragten eingebaut werden könnten. Eine cherung in Integrationsmaßnahmen zu entwickeln, hat Teilnehmerin berichtete, dass es sich in ihrer Organisati- begonnen. on bewährt hätte, den Punkt „Qualitätsmanagement“ als Im März trafen sich für einen Nachmittag Vertreter/ Tagesordnungspunkt für jede der monatlich stattfinden- innen aus vierzehn verschiedenen österreichischen Er- den Teamsitzungen aufzunehmen. Eine andere mein- wachsenenbildungsinstitutionen, um Neues vom Netz- te, dass eine jährliche Revision des lqw-Selbstreports werk-Projekt aduqua zu erfahren, ihre eigenen Erfah- zielführender wäre. Die Teilnehmer/innen erhielten so rungen einzubringen und miteinander über sinnvolle konkrete Anregungen für eine mögliche Vorgangsweise Maßnahmen zu diskutieren. Das gemeinsame Thema: in der eigenen Organisation, wo es wohl gilt, die jeweils Qualitätssicherung bei Integrationsmaßnahmen. Mitar- entsprechende Form zu finden. beiter/innen aus dem Berufsförderungsinstitut Oberös- Eine eher zögerlich anlaufende, aber keineswegs zu terreich, aus dem Bundeskanzleramt, von Interface Wien, vernachlässigende Diskussion entspann sich um die Rol- dem Österreichischen Verband für Deutsch als Fremd- le von Qualitätsbeauftragten in Organisationen. Hier und Zweitsprache (ödaf), dem Österreichischen Sprach- wurde ein sehr starker Informationsbedarf geortet, dem diplom Deutsch (ösd), der update training GmbH, dem vielleicht zukünftig in kleinerem Rahmen Rechnung ge- Verband Österreichischer Volkshochschulen, dem Verein tragen werden könnte. Piramidops, der vhs Ansfelden, der vhs Floridsdorf, der Die Rückmeldungen der Teilnehmer/innen zum vhs Korneuburg, der vhs Ottakring und der Zentrale der Workshop fielen insgesamt sehr positiv aus. Viele der Wiener Volkshochschulen sowie dem Wissensturm Linz Anwesenden wünschten sich eine derartige oder ähnliche waren anwesend. Veranstaltung im jährlichen Rhythmus und betonten, Die Eröffnung erfolgte durch Gerhard Bisovsky, Ge- dass sie der Austausch mit anderen in ihrem Tun gestärkt neralsekretär des vöv, der die Begrüßungsworte vor hätte. allem der Bedeutung von Qualitätssicherung unter Be- Als rüst Österreich möchten wir Sie daher gleich auf rücksichtigung der Bedürfnisse und Erfahrungen der folgende Angebote hinweisen: Lernenden widmete. Im ersten Teil berichteten Elisabeth Für Frühjahr 2014 ist ein ähnlicher Workshop in der Feigl, Sprachenreferentin des vöv und Projektkoordi- Steiermark geplant. In Zukunft findet halbjährlich alter- natorin in Österreich, und Claudia Lo Hufnagl, adu- nierend ein lqw-Treff in Salzburg und Wien statt, wo qua-Projektmitarbeiterin aus der vhs Wien/lernraum. lqw-zertifizierte Organisationen und solche, die sich im wien, über die in aduqua geführten Diskussionen zum Prozess befinden, Möglichkeiten für Fragen und fachli- Thema Qualität von Integrationsmaßnahmen sowie che Kommunikation finden. // vor allem über die Ergebnisse der Länderberichte der 15 teilnehmenden aduqua Partner/innen. Diese waren im Rahmen des Projekts in einem zwölfseitigen englisch- sprachigen Bericht zusammengefasst worden, der über die Projekt-Website zum Download bereitsteht. Darin Weitere Informationen finden Sie im nächsten werden zunächst die in den jeweiligen Partner/innen- LQW-Newsletter oder auf der Homepage des ländern üblichen Bezeichnungen und Definitionen im VÖV unter: www.vhs.or.at/379. Feld der Integrationstrainings beleuchtet. Ein Vergleich und eine Diskussion, die vor allem zeigt, wie wichtig

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Bedeutungen und Konnotationen sind, die sich hinter funktionieren können, wenn die beteiligten Länder so un- Begriffen wie „Migrant/in“ oder „Integration“ verbergen. terschiedliche Herangehensweisen haben und nicht über Denn sie stehen für äußerst unterschiedliche Konzepte. klare und gemeinsam erarbeitete Definitionen verfügen Der Begriff des „Integrationstrainings“ beinhaltet zum Bei- (etwa über so grundlegende Aspekte wie Qualitätsstan- spiel Maßnahmen im Ausmaß zwischen 60 bis 600 Stun- dards). Unabhängig davon war eine strittige Frage unter den, von auf Sprache fokussierten Angeboten oder einer den Teilnehmenden, ob und welche Qualitätskriterien Bandbreite von Maßnahmen und vieles mehr (wir haben überhaupt Lehrenden und Lernenden zumutbar sind. darüber bereits in der letzten Ausgabe des övh berichtet). Es herrschte jedenfalls Übereinkunft, dass es wichtig und Im Bericht werden die Themen Qualitätssicherung grundlegend ist, zu wissen, „was“ man über die Qualität und Qualitätsentwicklung ebenso angesprochen wie die etwa von Trainings wissen möchte, bevor darüber disku- Auswirkungen und Erfolge von Integrationstrainings. tiert werden kann „wie“ diese durch ausgewählte Metho- Der Bericht gibt Einblick in die Positionierung der Integ- den und Standards gesichert werden kann. rationstrainings in einzelnen Ländernn, präsentiert dabei Nach einer Pause inklusive Erfahrungsaustausch zu aber vor allem die Perspektive der Partner/innen auf die den Workshops diskutierten die Teilnehmenden noch, jeweilige Ländersituation, ihren institutionellen Umgang wie Erfolge im Zusammenhang mit Integrationstrainings damit und ihre Handlungsgewohnheiten. qualitativ und quantitativ gemessen werden könnten Die auf der Veranstaltung gemeinsam verbrachte Zeit und wie die Auswirkungen von Erfolgen zu beschreiben und die Möglichkeiten einer mündlichen Präsentation sind. Die lebhaften Diskussionen verliefen dabei in wech- der bisherigen aduqua Ergebnisse samt anschließender selnden Arbeitsformen – in Kleingruppen und später in Diskussion wurden genutzt, um tiefere Einblicke in die Verschnittgruppen. Zum Abschluss wurden gemeinsa- Thematik zu gewinnen. Von besonderem Interesse für me Knotenpunkte in den verschiedenen Diskussionen die Teilnehmer/innen waren die Beispiele für gute Praxis festgehalten, die bereits durch die Teilnehmenden in die und Qualität in Integrationstrainings einzelner teilneh- eigenen Institutionen geflossen sind aber auch schriftlich mender Ländern, die ein Kernstück der diversen Länder- und mündlich in das Netzwerk aduqua zurückgetra- berichte sind, und die darin enthaltenen, auffällig unter- gen wurden. Ebenso gab es die Empfehlung, ein Mission // schiedlichen Zugänge und Ideen zu Qualitätssicherung Statement möglichen Qualitätsempfehlungen voranzu- in den verschiedenen Partner/innenländern (siehe Ab- stellen, um klarzustellen, welches gemeinsame Verständ- Weiterführende bildung). Präsentiert wurden qualitative wie quantitati- nis von Integrationstrainings vorhanden ist und welche Informationen: ve Qualitätssicherungsmaßnahmen, ergänzt um die An- Art von Integrationstrainings angestrebt wird. www.aduqua.eu wendungsbeispiele dahinter. So wurde etwa der Umgang Einigkeit bestand bei allen Teilnehmenden der Wie- mit Drop-out in Norwegen als ein Anwendungsbeispiel ner Veranstaltung über die Sinnhaftigkeit solcher Treffen, diskutiert. Der dortige aduqua-Partner setzt Umfragen die zum Erfahrungsaustausch genützt und als Entwick- und kleinere Studien auf Organisationsebene ein, um lungsraum gesehen werden können. Begrüßt wurde eine Verbesserungsmöglichkeiten ausfindig zu machen, nicht Wiederholung in etwa einem Jahr, gekoppelt mit einem zuletzt, um Gründe für Drop-out im Zusammenhang mit weiteren Bericht zu aduqua. Bis dahin läuft das Unter- dem eigenen Angebot zu hinterfragen. fangen, Standards und Kriterien zur Qualitätssicherung Die Teilnehmenden zeigten außerdem großes In- in Integrationsmaßnahmen zu entwickeln. Aktuell wer- teresse an den Empfehlungen im Länder-Bericht von den in sechs großen Feldern von den aduqua-Partner/ Abbildung aduqua. Es wurde sehr kritisch darüber diskutiert, ob innen Kriterien beschrieben, wonach sich Qualität in In- Measuring Success – Dokumentationen von derartige Empfehlungen aus verschiedenen anderen tegrationstrainings bemisst. Die Herausforderungen für Erfolg in Integrations- europäischen Ländern im eigenen Land überhaupt das internationale Netzwerk bleiben hoch. // trainings

Quantitativ Qualitativ • Teilnehmer/innen-Zahlen • Anwesenheit • Verweildauer – Drop-out • Leistungen (von Teilnehmer/innen und/oder Anbieter/innen) • Qualifizierung Unterrichtende • Teilnehmer/innen-Zufriedenheit/Feedback • Teilnehmer/innen-Zufriedenheit/Feedback • Qualitätsstandards & • Qualitätsstandards & Externe Evaluation externe Evaluation • Qualität des Lehrens & Lernens • Ausschreibungsverfahren • Intensität von Kooperation • mit Stakeholdern und/oder relevanten Institutionen • Selbsteinschätzung (Peer und/oder individuell) • Motivation • Entwicklungen der Teilnehmer/innen (in Trainings und/oder am Arbeitsmarkt)

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Gruppenbild der Preisträger/innen mit Fernsehpreis der Cecily Corti (Mitte) Erwachsenenbildung Am 4. Juni 2013 wurden im Prechtlsaal der Technischen Universität Wien Fernsehpreis der zum 45. Mal die Fernsehpreise der Erwachsenenbildung Erwachsenenbildung verliehen. Aus insgesamt 46 eingereichten Produktionen hat die Der Autor, Journalist, Filmemacher und Nominierungsjury, der Vertreter/innen der vier preisver- leihenden Verbände der Erwachsenenbildung angehö- Produzent Kurt Langbein erhielt ren, elf Produktionen für die Preisvergabe in den Sparten den Axel-Corti-Preis 2013. „Dokumentation“, „Fernsehfilm“ und „Sendereihen“ no- miniert. Jede dieser Produktionen besticht durch heraus- ragende Qualität, daher ist auch schon jede Nominierung eine Auszeichnung für sich. Die aus 17 Personen beste- Gerhard Bisovsky Die stellvertretende Institutsleiterin des Wirtschaftsför- hende und sehr breit zusammen gesetzte Jury aus Vertre- derungsinstitut (wifi) der Wirtschaftskammer Öster- ter/innen der Erwachsenenbildung und Journalist/innen reich, Mag.a Monika Elšik, begrüßte im Namen der vier von Printmedien zeichnete sodann in jeder Preissparte preisverleihenden Verbände der Erwachsenenbildung, eine Produktion aus. der Arbeitsgemeinschaft Bildungshäuser, des Bücherei- Alle Produktionen stehen für Qualitätsfernsehen, das verbandes, des Verbandes Österreichischer Volkshoch- sich sowohl am Inhalt als auch an der Gestaltung festma- schulen und des Wirtschaftsförderungsinstitutes die chen lässt. Diese Produktionen stehen auch für Lernen zahlreich erschienen Gäste, unter ihnen der Abgeordnete und Bildung durch das Fernsehen, für informelles und für zum Nationalrat Dr. Harald Walser und der vöv-Vor- eigenständiges Lernen, das an den unterschiedlichsten standsvorsitzende, Stadtrat Dr. Michael Ludwig. Orten stattfindet.

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Elisabeth Krimbacher, Rosen Filmproduktion GmbH. Sie studierte Politik- Thomas Grusch und wissenschaft und Kunstgeschichte und ist seit 1995 freie Rudi Planton Mitarbeiterin des orf. Bis 2002 war sie Redakteurin der Sendung „kunst-stücke“, die schon mehrfach für den Fernsehpreis nominiert war und bereits prämiert wurde. Sie zeichnet für eine Reihe von tv-Magazinen verant- wortlich, die erfolgreich ausgestrahlt und national sowie international ausgezeichnet wurden. Thomas Grusch praktizierte in den 1990er-Jahren Licht- und Bühnendesign in vielen europäischen Län- dern, absolvierte die New York Film Academy und war anschließend in Mumbai tätig. Seit 2000 arbeitet er als Sparte Dokumentation freier Filmemacher und Regisseur in Wien und internati- Der Fernsehpreis der Erwachsenenbildung 2012 geht onal. Dokumentationen wie „Fischbach“ oder „24 hours“ für die Dokumentation „Familie andersrum – Homose- gehören ebenso zu seinem Schaffen wietv -Arbeiten für xuelle mit Kind“ an die Gestalter Dr.in Elisabeth Krimba- die Abteilung Unterhaltung des orf, aber auch für Kul- cher und Thomas Grusch. tur und Religion. Als ausgewählte Beispiele wären die In „Familie andersrum“ werden zwei gleichgeschlecht- „Sendung ohne Namen“ oder „Sunshine Airlines“ zu nen- liche Paare porträtiert, das eine mit Kind, das andere Paar nen. Seit 2011 ist er auch als Regisseur für Tausend Rosen möchte ein Pflegekind aufnehmen und wird durch das Ju- Film tätig. gendamt und den Pflegeelternverein geprüft. In der Do- Der Fernsehpreis der Erwachsenenbildung 2012 wur- kumentation kommen Gegner und Befürworter von „Re- de vom Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der Bil- genbogenfamilien“ vor, es wird aber auch das Umfeld der dungshäuser Österreich, Ing. Rudolf Planton, überreicht. Paare beziehungsweise Familien sichtbar gemacht. Die Porträts zeigen, dass vielfach noch vorhandene Klischees über schwule und lesbische Paare nicht stimmen und dass die Akzeptanz dieser Partnerschaften und Eltern im un- mittelbaren Umfeld eine sehr hohe ist. Die Produzentin und Redakteurin Elisabeth Krimba- cher ist Mitgründerin und Geschäftsführerin der Tausend

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Gerald Leitner und werden soll. Und in einem der Postings zu dem Film heißt Uli Brée es, dass „dieser Film […] ein riesiger Schritt in die richtige Richtung“ ist. Wolfgang Murnberger studierte Regie, Drehbuch und Schnitt an der Wiener Filmakademie und arbeitet seit 1991 als freier Autor und Regisseur. Seine Karriere ist von zahlreichen Erfolgen und Auszeichnungen gekrönt, die aus zeitlichen Gründen hier nicht alle präsentiert wer- den können. Den Fernsehpreis der Erwachsenenbildung 2008 erhielt er gemeinsam mit Rupert Henning und Uli Brée für „Der schwarze Löwe“ und im Vorjahr mit Tac Ro- mey, Rupert Henning und Don Schubert für die Komö- Sparte Fernsehfilm die „Kebab mit Alles“. Mit den Verfilmungen der Wolf- In dieser Sparte haben die Mitglieder der Jury mit dem Haas-Romane konnte Murnberger beachtliche Erfolge Fernsehpreis 2012 die von orf und mdr koproduzierte im Fernsehen und im Kino feiern. und von dor-Film hergestellte Tragikomödie „So wie Der Schauspieler, Autor und Regisseur Uli Brée absol- du bist“ ausgezeichnet. Die Preise gehen an: Wolfgang vierte nach der Clownausbildung an der „School of Fools“ Murnberger für die Regie und Uli Brée für das Drehbuch. in Amsterdam, die Schauspielschule Krauss in Wien. „So wie du bist“ zeigt den Kampf eines Paares mit Das mittlerweile zum Kultstück avancierte Kabarettpro- Down-Syndrom um seine Heirat. Julian Götze und Se- gramm „Männer-Schmerzen“ schrieb er 1987. Gemein- bastian Urbanski, die beide zum integrativen Berliner sam mit Rupert Henning bildet Uli Brée ein erfolgreiches RambaZamba-Theater gehören, spielen das Paar, das von Duo, das neben vielen anderen erfolgreichen orf-Kaba- einer kürzlich pensionierten Richterin, die von der bay- rettprogrammen die ebenso erfolgreichen Filmproduk- rischen Volksschauspielerin Gisela Scheeberger gespielt tionen „Geliebte Gegner“, „Die Ehre der Strizzis“, „Vier wird, unterstützt wird. In weiteren Rollen standen unter Frauen und ein Todesfall“, um nur einige zu nennen, her- anderen Cornelius Obonya, Petra Morzé, Lukas Reseta- vorbrachte. Den Fernsehpreis für Erwachsenenbildung rits, August Schmölzer, Karlheinz Hackl, Christopher erhielt Uli Brée bereits 2008. Schärf und Tim Seyfi vor der Kamera. Der Film betont Der Fernsehpreis 2012 wurde vom Geschäftsführer wie wichtig es ist, dass mit dem Thema „Selbständig- des Österreichischen Büchereiverbandes, Mag. Gerald keit im Leben mit Down-Syndrom“ offen umgegangen Leitner, überreicht.

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Monika Elšik, Andreas Dokumentation wird die Gesellschafts-, Sozial- und Novak, Robert Gokl Kulturgeschichte zwischen 1950 und 1980 nacherzählt. und Wolfgang Stickler Viele Zeitzeugen, prominente Persönlichkeiten aus Poli- tik, Sport, Wirtschaft und Kunst erzählen über prägende Erfahrungen in ihrer Jugend in den 1950er-, 1060er- und 1970er-Jahren und tragen somit auch ein Stück zu einer Reflexion bei über das Entstehen von Identitäten, die auch im heutigen Österreich noch zu finden sind. Andreas Novak studierte Publizistik und Theaterwis- senschaften und ist seit 1980 beimorf tätig. Einige sei- ner Stationen waren: die orf-Parlamentsredaktion, der „Inlandsreport“, „Compass“, „Am Schauplatz“, „Modern Sendereihen Times“, zib 1 und zib 2 und andere. Novak ist Wissen- In der Sparte Sendereihen haben sich die Jurymitglie- schaftsredakteur und wurde für seine zahlreichen zeit- der für die orf 2-Produktion „Jahrzehnte in Rot-Weiß- geschichtlichen Dokumentationen bereits mit vielen Rot“ entschieden. Der Fernsehpreis der Erwachsenen- Preisen ausgezeichnet, von denen hier nur einige we- bildung 2012 geht an den Sendungsverantwortlichen nige angeführt werden können: mit dem Fernsehpreis Andreas Novak sowie an die Sendungsgestalter Robert der Erwachsenenbildung 1989 für die Dokumentation Gokl, Peter Liska und Wolfgang Stickler. über den autoritären Ständestaat und 1999 für die „Im Die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte Ös- Brennpunkt“-Dokumentation über den Februar 1934. terreichs und ihre Aufarbeitung ist eines der zentralen Für sein Porträt des ehemaligen Spiegelgrund-Arztes Themen in der Bildung und insbesondere in der Erwach- Dr. Heinrich Gross erhielt er im Jahre 2000 den Dr.-Karl- senenbildung, die sich ja schon sehr früh mit der Bearbei- Renner-Publizistikpreis. Für die Dokumentation „Der tung der Zeitgeschichte befasst hat. Für den öffentlich- Zweite Weltkrieg“ erhielt er 2010 den Erasmus-EuroMe- rechtlichen Rundfunk ist diese Auseinandersetzung eine dia-Award–for-Education-and–Ethics. Für seine Ver- Verpflichtung, was durch zahlreiche und vielfach ausge- dienste um antifaschistische Publizistik erhielt Andreas strahlte Dokumentationen belegt wird. Novak 2011 den Willy-und-Helga-Verkauf-Verlon-Preis. Historische Ereignisse haben ihre Nachwirkungen Robert Gokl studierte Geschichte und deutsche Phi- und ihre Aufarbeitung soll dazu beitragen, dass die Men- lologie sowie allgemeine Sprachwissenschaft. Er ist Lek- schen aus der Geschichte lernen können. In der dreiteiligen tor an der Fachhochschule Joanneum, im Studiengang

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Informationsdesign. Gokl ist im Zeitgeschichte-Team Zeitgeschichte-Redaktion, und war Co-Regisseur mit Medienreaktionen um Andreas Novak tätig, er hat an verschiedenen zeitge- Andreas Novak und Robert Gokl im orf-Schwerpunkt schichtlichen Dokumentationen mitgearbeitet, zum Bei- „Kriegsgefangenenschaft“. spiel „Österreich II“. In „Trotz Verbot nicht tot“ analysiert Den Fernsehpreis überreichte die stellvertretende In- Robert Gokl die Geschichte des Rechtsextremismus in stitutsleiterin des wifi-Österreich, Mag.a Monika Elšik. Österreich, von den „Werwölfen“ der Nachkriegsjahre bis zu den Skinheads von heute. Für „Österreich in Farbe – Die Besatzungszeit“ erhielt er die Comenius-Euromedia-Medaille der Gesellschaft für Pädagogik und Information. Axel Corti Preisträger/innen seit 1997 Peter Liska war zunächst im historischen Archiv des 1997: Josef Broukal orf tätig und gestaltete zahlreiche Beiträge für mehrere 1998: Dr. Peter Pawlowsky orf-Sendereihen und tv-Dokumentation. Er arbei- 1999: Prof. Paul Lendvai tete bei der Fortsetzung von „Österreich II“ mit und ist 2000: Prof. Michael Kehlmann Gründungsmitglied von „Am Schauplatz“. Seine Doku- 2001: Michael Haneke mentationen wurden mehrfach für den Fernsehpreis der 2002: Dr. Hugo Portisch Erwachsenenbildung nominiert und bereits zwei Mal 2003: Dr. Peter Huemer ausgezeichnet: 2004 für die Dokumentation „Helfer in 2004: Georg Stefan Troller Not“ und 2009 für „Die Ungehorsamen“. 2005: Prof.in Barbara Coudenhove-Kalergi Wolfgang Stickler ist Drehbuchautor und Buchautor 2006: DDr. Adolf Holl und Georg Riha und hat neben anderem auch eine Biographie über Axel 2007: Dr.in Susanne Scholl Corti mitherausgegeben. Stickler hat bei zahlreichen 2008: Dr.in Traudl Brandstaller tv-Produktionen mitgearbeitet. Beispielsweise hat er 2009: Dr. Raimund Löw das Drehbuch für ein orf-Porträt über Michael Kehl- 2010: Ernst Hinterberger mann verfasst und dabei auch Co-Regie geführt, aber 2011: Elisabeth Scharang auch das Drehbuch für die 10-teilige tv-Dokumentation 2012: Dr.in Barbara Rett „Balkanexpress“ geschrieben, wie für die Dokumenta- 2013: Kurt Langbein tion über Benazir Bhutto. Er ist Mitarbeiter in der orf-

Weitere Nomierungen, Sparte: Dokumentation

Produktion und Herstellung: orf Produktion und Herstellung: orf Produktion und Herstellung: puls 4 Weitere Nomierungen, Sparte: Sendungsformate bzw. Sendereihen

Produktion und Herstellung: orf Produktion und Herstellung: orf Weitere Nomierungen, Sparte: Fernsehfilm inkl. Serie

Produktion und Herstellung: orf Produktion und Herstellung: orf

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Axel-Corti-Preis 2013 an Kurt Langbein Fernsehstationen wie etwa orf, rtl, wdr, zdf und Michael Ludwig und Der Autor, Journalist, Filmemacher und Produzent arte entwickelt. Internationale Koproduktionen wur- Kurt Langbein studierte in den 1970er-Jahren Soziologie an der Univer- den und werden unter anderem mit Discovery Channel, sität Wien, wandte sich aber schon bald dem Fernsehen National Geographic tv oder tv Asahi (Japan) abgewi- zu und begann seine Laufbahn unter dem Journalisten ckelt. Für die orf-Magazinsendungen „Report“, „Kreuz und Historiker Claus Gatterer, der als Begründer einer & Quer“, „Eco“ und „Thema“ produzieren Langbein und liberalen und weltoffenen Geschichtsschreibung gilt und Partner regelmäßig Beiträge. sich Zeit seines Lebens für die Belange von Minderheiten Ausgewählte Produktionen zu Themen aus Wissen- eingesetzt hat. schaft, Medizin, Kultur und Soziales sind alsdvd s ver- Zahlreiche Buchpublikationen kennzeichnen das fügbar. Viele davon wurden als Bildungsfilme konzipiert Werk von Kurt Langbein. Die meisten davon sind zum und werden als Unterrichtsmaterialien eingesetzt. Thema Gesundheit erschienen und unterstützen Patien- Über die Surfmed-Plattform stehen Online-Tools tinnen und Patienten und andere Betroffene im Gesund- etwa zur Ernährungs- und Bewegungsberatung zur Ver- heitssystem, ihre Anliegen und Positionen zu vertreten fügung. Projekte zur prozessbegleitenden Patientenin- und auch umzusetzen. formation sind in Entwicklung. Ermächtigung und Empowerment sind die Begriffe, Exemplarisch für die vielen Dokumentationen ist die für Konzepte stehen, die – aus der Sicht der Erwach- „Die Akte Aluminium“ zu erwähnen, die von Kurt Lang- senenbildung - in den Bereich der Politischen, der staats- bein produziert wurde. In der mit der „Romy 2013“ aus- bürgerlichen, Bildung fallen. Einer Bildung, die eigen- gezeichneten Dokumentation „Wunder Heilung“ begibt verantwortlich aber auch solidarisch handelnde Bürger/ sich Langbein als selbst Betroffener auf die Suche nach innen meint. den Faktoren, die das Immunsystem des Menschen mo- Dazu gehören auch die Bereitschaft und die Fähigkeit, bilisieren und damit auch die Heilung von Krebs unter- gesellschaftliche, soziale und wissenschaftliche Entwick- stützen können. lung zu beobachten und sich mit ihnen auch eigenständig Den Fernsehpreis der Erwachsenenbildung erhielt Kurt und kritisch auseinanderzusetzen. Langbein bereits zwei Mal, und zwar 1981 für die tv-Doku- Dies wird durch zahlreiche Filmprojekte, die von Kurt mentationen „Irre Welten – Psychiatrie 1981“ und 1983 für Langbein beziehungsweise von dem Unternehmen Lang- den Teleobjektiv-Beitrag „Archipel Mauthausen“. bein und Partner entwickelt und umgesetzt werden, un- Den Axel-Corti-Preis 2013 überreichte der Vorstands- terstützt. vorsitzende des Verbandes Österreichischer Volkshoch- Fotos: © ORF/ Die Filmprojekte wurden für viele deutschsprachige schulen Dr. Michael Ludwig. Günther Pichlkostner

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sofort Zusatzinfos zu den Geschehnissen googelt. Umso mehr freut es mich, dass die Jury auch heuer wieder aus Begrüßungsrede zur zahlreichen Beiträgen auf höchstem Niveau wählen konnte. Neben den Expertinnen und Experten aus den Fernsehpreisverleihung vier Stiftungsverbänden bestand die Jury auch heuer wie- der aus namhaften österreichischen Journalistinnen und Journalisten, welche aus 46 Einreichungen die besten Monika Elšik Die technische Universität ist, so glaube ich, eine gelunge- Beiträge in drei Sparten kürten. ne Location für die heutige Verleihung des Fernsehpreises Betonen möchte ich auch die Leistungen aller Einrei- der Erwachsenenbildung. Wer weiß wohl besser als diese chungen und allen danken, die diese gute Beitragsquali- Universität, was sich alles – in technischer, in elektroni- tät fast tagtäglich liefern und damit das Fernsehpublikum scher Hinsicht – in den letzten Jahren beim Fernsehen erfreuen und bereichern. verändert hat. Verändert hat sich auch das Lernen. Stan- Mit einem exzellenten Beitrag auch noch einen Preis den früher eher nur die Lerninhalte im Focus, so ist es nun zu gewinnen ist dann die „Krönung“. Dieses gute Gefühl, auch der Mensch, der etwas lernen will. Medien wie das das heute einige von Ihnen in diesem Saal erleben wer- Fernsehen sind deshalb unverzichtbarer Partner für le- den, ist heuer etwas ganz Besonderes. Denn die Preise, benslanges Lernen – weil Fernsehen erreicht (fast) jeden. die heute vergeben werden, fallen auf einen halbrunden Deshalb ist es auch eine große Freude für die vier Stif- Geburtstag des Österreichischen Fernsehpreises für Er- ter des 45. Fernsehpreises für Erwachsenenbildung, den wachsenenbildung. Genau vor 45 Jahren wurde dieser Verband Österreichischer Volkshochschulen, die arge- Preis zum ersten Mal vergeben. Bildungshäuser Österreich, den Büchereiverband Öster- Ohne zu wissen, wer die Sieger sind, gratuliere ich jetzt reich und das wifi Österreich, diesen Preis zu vergeben. schon, sozusagen vorweg, allen heutigen Preisträgerinnen Populäre Medien wie das Fernsehen sind ein wichtiger und Preisträgern. Ich bedanke mich bei den Veranstaltern, Partner in der heutigen, multimedialen Bildungsarbeit. der Jury und allen Mitwirkenden des Fernsehpreises für Qualitätsvoll und gleichzeitig spannend aufbereitete deren zeitaufwändigen Einsatz bei der Vorbereitung und Sendungen schaffen Aufmerksamkeit für Themen und Organisation der heutigen Veranstaltung. regen zum Weiterlernen an: Ich bin beispielsweise so Ich wünsche uns allen einen interessanten und span- jemand, der mit dem iPad vor dem Fernseher sitzt und nenden Abend! //

denen auch ich gehöre – und kritische Inhalte zu Opfern von erzwungenen Einsparungen werden. Dankesrede zum Umso wichtiger sind Auszeichnungen wie die, die ich heute entgegennehmen darf – als Ermutigung, dem Axel-Corti-Preis 2013 Trend zu widerstehen und weiter Fernsehen im besten Sinn zu machen. Fernsehen, wie es beispielhaft von dem Künstler ge- macht wurde, der dem Preis seinen Namen gibt. Kurt Langbein „Der Markt hat einst die Bühne gebildet, auf der sich sub- Axel Corti sagte zu seiner ganz besonderen Arbeits- versive Gedanken von staatlicher Unterdrückung eman- weise, mit der er uns die brennenden Themen der Zeitge- zipieren konnten. schichte nahe gebracht hat: Aber der Markt kann diese Funktion nur solange erfül- „Ich glaube, dass die Neugier der älteste und der len, als die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nicht in richtigste Antrieb eines Künstlers ist: die Neugier, über die Poren der kulturellen und politischen Inhalte eindrin- Menschen, über Zeiten und dadurch über sich etwas zu gen“, sagte Jürgen Habermas im Jahr 2007. erfahren". Axel Corti hat sich mit seinen Worten als Ra- Heute zeigt uns der Medienmarkt oft erschütternd diolegende und in seinen Filmen brillant gegen die Un- deutlich, wie tief die Ökonomie in die Inhalte eingedrun- kultur des Verdrängens und Vergessens gestellt. gen ist. Und der öffentlich-rechtliche Rundfunk, dazu Aber wie Axel Cortis Frau Cecily in der Biografie über ersonnen, diesem Trend entgegenzuwirken, erfüllt diese Axel Corti schreibt: Aufgabe weniger als es nötig wäre – teils aus ideologi- „Wieviel Kraft hat es Dich gekostet, Deine Träume zu scher Anpassung, teils aus ökonomischer Not. Ein Leit- bewahren gegen alle Widerstände, gegen Verunglimp- spruch von Claus Gatterer, meinem Lehrer im tv–Jour- fung, Zynismus, Lüge, auch gegen das schleichende Gift nalismus, war: „Das Fernsehen verlöre seinen Sinn, wenn von Neidern und Machthabern“. es von Mächtigen für Mächtige oder von Ängstlichen für „Tatsachen sind niemals ausgewogen“ und „Im Zweifel Ängstliche gemacht wird.“ auf Seiten der Schwachen“ waren Leitsprüche von Claus Heute behalten die Mächtigen Gebührengelder ein, Gatterer. um den orf in Geiselhaft zu nehmen. Und die Ängstli- Ich habe mich bemüht, diesen Leitsätzen gerecht zu chen sorgen dafür, dass unabhängige Produzenten – zu werden, und habe dafür nicht immer nur Anerkennung

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erhalten. Aber die Sehnsucht, zumindest kleine Impulse „Wohin und zurück“ nach der Autobiografie von Georg Ste- für mehr Gerechtigkeit zu setzen und die Anerkennung fan Troller sowie der prominent besetzte, ebenso aufwändig des Publikums waren Motor genug, hartnäckig und un- wie feinfühlig inszenierte Kinofilm „Radetzkymarsch“ (1995) bequem zu bleiben. nach dem bekannten Roman von Joseph Roth, während des- Ein Preis, der Axel Cortis Namen trägt, wiegt schwer sen Dreharbeiten Axel Corti verstarb. und bedeutet Verantwortung. Ihn für mein Lebenswerk zu Generationen von Zuhörern prägend und Radioge- erhalten, macht mich ein wenig verlegen – ich bin ja noch schichte machend wurde das zwischen Mai 1969 und 26. mitten im Leben, genauer gesagt wieder mitten im Leben. Dezember 1993 wöchentlich zunächst auf ö3, später auf Ich werde mich bemühen, dieser Verantwortung wei- ö1ausgestrahlte Radiofeuilleton „Der Schalldämpfer“. Die- terhin gerecht zu werden, um mir den Preis in Zukunft ser akustische Mikrokosmos in dem scheinbar so flüchtigen noch einmal zu verdienen. Medium Radio wurde für den genauen Beobachter, behut- Danke // samen Deuter und moralisch unbestechlichen Corti zum Podium für seine Menschenbetrachtungen und Geschich- tenerzählungen, die er mit feiner, sonor-melancholischer Stimme und unverwechselbarem Timbre vortrug. Streng zur Welt – und streng zu sich selbst – ging er, oft auf All- tagsbeobachtungen, Alltagsbegebenheiten und Alltags- „Und doch, man muß auf dem schicksale Bezug nehmend, Sonntag für Sonntag rigoros ge- gen die moralischen Verwerfungen der Menschen und des Grund gewesen sein. Darum Landes, in dem er lebte, vor. Leidenschaftlich widersprach er der Dumpfheit und Gefühllosigkeit, den alltäglichen handelt sichs.“ Dummheiten, den kleinen und großen Betrügereien und Selbstbetrügereien und wurde so – ohne es vermutlich zu Axel Corti (1933-1993) – eine biografische Skizze wollen – zu einer öffentlichen moralischen Instanz. Sein „Schalldämpfer“ dämpfte alles Wichtigtuerische und Laute und erzog zum genauen Hinhören und zur Thomas Dostal Vor 80 Jahren, am 7. Mai 1933, wurde Axel Corti als Sohn Konzentration auf das Wesentliche. Denn Corti wusste, deutschsprachiger Eltern in Paris geboren. Vor 20 Jahren, am dass Vieles – und insbesondere die Wahrheit – nur ganz 29. Dezember 1993, verstarb er in Oberndorf bei Salzburg. leise, zwischen den Zeilen zu sagen und zu hören ist. Of- Dazwischen lagen 60 schaffensreiche Jahre, in denen er als fensichtlich für den Tag geschrieben – und oft auch tages- Autor, Publizist, Radiomacher, Theater-, Film- und Fern- aktuelle Themen aufgreifend – sind seine Menschenge- sehregisseur Maßstäbe für ein moralisch-verantwortungs- schichten auch nach 20 Jahren immer noch aktuell. Denn volles, öffentlich-rechtliches Sehen und Hören, Denken und offensichtlich traf der leidenschaftliche Geschichtenerzäh- Nachdenken setzte, und in diesem Sinne auch –obwohl er ler Corti wohl aufgrund seines sich kompromisslos Einlas- es explizit so nie bezeichnet hat – volksbildnerisch wirkte. sens auf die Menschen und ihre Schicksale nur zu oft den Sein Miterleben der nationalsozialistischen Besetzung „Nagel auf den Kopf“, dieses Einlassen war ein Ganzes und Frankreichs und des Zweiten Weltkriegs als Kind wurden Vollständiges und das merkte wohl auch sein Publikum. dabei zum biografischen Ausgangspunkt für eine lebenslan- Seine Lust an der Sprache und am Erzählen vermengte sich ge Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dabei mit skurrilem Humor, zuweilen auch mit fantasie- dessen „Bewältigung“, mit Krieg und Emigration. 1943 aus voll Träumerischem. Vielleicht dachte Axel Corti an sich Frankreich in die Schweiz geflohen, verschlug es ihn und sei- selbst, als er folgende Zeilen schrieb: „Der träumte ja! Gott ne Familie über Zwischenstationen in Italien, England und sei Dank, ja! Der hatte das nicht verlernt, das Träumen. Er Deutschland nach Österreich, wo er in Innsbruck Germanis- träumte, und wir wachten auf, und die Wirklichkeit war da tik und Romanistik studierte. 1953 begann er in der Literatur- und war geworden. Und hatte einen Sinn.“ // und Hörspielabteilung des späteren orf-Landesstudios Ti- rol, deren Leiter er dann auch wurde. Ab 1958 arbeitete Corti überdies an verschiedenen deutschsprachigen Sprech- und Gesangsbühnen, unter anderem am Wiener , wo Weiterführende Quellen und Literatur: er zunächst als Regieassistent, später als Dramaturg und Re- Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA: 127/99): gisseur tätig war. Ab 1960 wandte er sich dem Film und Fern- Nachlass Axel Corti. Zugangsdatum: 1999, Umfang: 90 Archivboxen, Bestand eingeschränkt benutzbar. sehen zu. Mit seinen subtilen Fernsehspielen „Der Fall Jäger- Axel Corti im Radio 1952-93 (1994). 4 CDs. Wien: ORF. stätter“ (1971), „Ein junger Mann aus dem Innviertel“ (1973), Corti , Axel (1994): Der Schalldämpfer. Texte aus den Jahren 1970-1993. „Jakob der Letzte“ (1976) und „Der junge Freud“ (1976) ver- Wien: Kremayr & Scheriau.. mochte er bis heute unüberboten zu zeigen, wie dieses Me- Corti, Axel (1995): Der Schalldämpfer, Teil 2: Texte zur Zeit. Wien Kremayr & Scheriau. dium volksbildnerisch-aufklärend eingesetzt werden kann. Kindermann, Wolfgang (1992): Der Paradigmenwechsel im österreichischen Seine späteren Filme waren oft ebenso sensible, wie differen- Nachkriegfilm am Beispiel von Axel Corti. Wien, Univ., Dipl.-Arb. . zierte Literaturverfilmungen: „Herrenjahre“ (1983) nach ei- Neumüller, Robert / Schramm, Ingrid / Stickler, Wolfgang (Hrsg.) (2003): nem Roman von Gernot Wolfgruber, „Eine blaßblaue Frau- Axel Corti. Filme, Texte, Wegbegleiter. Ein Porträt von Robert Neumüller, Ingrid Schramm, Wolfgang Stickler. Weitra: Bibliothek d. Provinz. enschrift“ (1984) nach einer Erzählung von Franz Werfel, der „Warst du Axel Corti?“ Dokumentation, Österreich 2003, Regie: Robert zwischen 1982 und 1985 entstandene dreiteilige Fernsehfilm Neumüller, 58 min.

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 43 Geschichte

(Volkshochschule)“ veröffentlicht, der bald 65 – vielfach prominente – Unterzeichner/innen fand. Unter ihnen waren Universitätsprofessoren wie der Präsident der Gründung von unten Akademie der Wissenschaften Eduard Suess sowie die Professoren Friedrich Jodl, Ernst Mach, Albrecht Penck, Die Volkshochschule durfte sich nicht Eugen von Philippovich, Adolf Stöhr, Richard von Volkshochschule nennen Wettstein und Emil Zuckerkandl und die – damaligen – Dozenten Ludo Moritz Hartmann, Anton Lampa, Emil Reich, Walter Schiff und Julius Tandler. Unterzeichner/ innen aus Kunst und Kultur waren die Hofschauspieler Am 24. Februar 1901 wurde in Wien die erste Josef Lewinsky und Georg Reimers, die Malerin Tina Volkshochschule gegründet, die sich auch so nennen Blau und die Schriftsteller/innen Marie von Ebner- wollte, dies aber nicht durfte. Die Gründer wichen Eschenbach, Marie Eugenie delle Grazie und Ferdinand auf den unverfänglich klingenden Namen Volksheim von Saar. Die Politik war durch Reichsratsabgeordnete aus. Die Gründungsgeschichte ist in vielerlei Hinsicht wie Julius Ofner, Engelbert Pernerstorfer und Karl Seitz bemerkenswert. vertreten. Die als Frauenrechtlerin bekannt geworde- ne Rosa Mayreder unterzeichnete ebenso wie der Ob- mann des „Sozialwissenschaftlichen Bildungsvereins“ und spätere Bundespräsident Michael Hainisch. Auch Vertreter anderer Volksbildungsvereine wie Eduard Lei- sching und einiger Arbeiterbildungsvereine gehörten zu den Unterzeichnern, ebenso wie eine Anzahl von Fabri- kanten. Wilhelm Filla Bei den 1895 als Einrichtung der Universität Wien ge- Der Aufruf enthielt Hinweise auf bildungstheoreti- gründeten „Volkstümlichen Universitätsvorträgen“ ge- sche und -methodische Überlegungen der Gründer. Es hörte der Philosoph Alfred Stöhr zu den prominenten ging um angeleitete Selbsttätigkeit der Besucher/innen, Vortragenden. An der Universität Wien lehrte er schwer nämlich um „einen weiteren Ausbau des freien Unter- verständlich, bei den „Volkstümlichen Universitätsvor- richtssystems, wobei die Selbstthätigkeit der Lernenden trägen“ brillierte er durch Verständlichkeit und scharte durch persönlichen Umgang mit dem Lehrenden geleitet eine größere Zahl von Hörern und Hörerinnen um sich. wird“. Einige von ihnen begleiteten ihn sogar auf dem Weg nach Hause. Dabei wurde der Wunsch geäußert, es möge das ganze Jahr über die Möglichkeit geben, Wissen zu er- Ablehnung des Namens Volkshochschule werben und es zu erweitern und zu vertiefen. Von Stöhr Ein bereits gedruckter Statutenentwurf mit dem angeregt, setzten 38 „Volksstudenten“ eine Eingabe an die Namen „Volkshochschule“ für die zu gründende Universität Wien auf, es möge eine Einrichtung geschaf- Bildungseinrichtung wurde bei der Niederösterrei- fen werden, die eine fachmännisch geleitete Bildungstä- chischen Statthalterei zur Genehmigung einge- tigkeit ganzjährig bietet. reicht. Diese untersagte aber die Verwendung des Namens Volkshochschule, so dass die Proponen- Gründungsinitiative und Ansprechen der Öffentlichkeit ten des Vereins auf die Bezeichnung „Volksheim“ An „einem Mainachmittag“ 1900 besprachen die da- ausweichen mussten. Volkshochschule signa- maligen Privatdozenten Ludo Moritz Hartmann und lisierte für die, wie sie Emil Reich bezeichnete, Emil Reich im Büro der „Volkstümlichen Universitäts- „übervorsichtige“ Statthalterei universitätskriti- vorträge“ die Eingabe. Im nahen Rathauspark fassten sie sche Bestrebungen. Die Universität war staatlich, dann den Entschluss, eine Volkshochschule mit Ganzjah- somit wurde eine gegen den Staat gerichtete resbetrieb – nur die heißeste Zeit sollte ausgenommen Gründung befürchtet. Diese politisch motivierte bleiben – zu schaffen. Als Lehrende wurden zunächst Restriktion war in hohem Maße irrational, zumal Universitätsangehörige und daneben gleichberechtigt sich der in Gründung befindliche Verein betont Mittelschullehrer oder Lehrende ohne staatliche Anstel- nicht-politisch verstand. Hartmann betonte bei lung, darunter auch Frauen, ins Auge gefasst. der konstituierenden Versammlung des Vereins Von Anfang an wurde die Öffentlichkeit gesucht. Mit am 24. Februar 1901: „Wir wollen ferne bleiben Unterstützung des 1887 gegründeten „Volksbildungs- aller und jeder Politik, nicht aus irgendwelchen vereins“, der sich im Laufe der Zeit zu einer Volkshoch- Rücksichten der Opportunität, sondern weil wir schule entwickelte, wurden so bezeichnete „Propagan- der Ansicht sind, daß die Politik nicht in die Schule davorträge“ abgehalten. Am 2. Dezember 1900 sprachen und auch nicht in die Volksbildungsbestrebungen Adolf Stöhr im iii., Ludo Moritz Hartmann im vi., gehöre. Denn die Politik ist Sache der Parteien, Wilhelm Jerusalem im ix., Emil Reich im xviii. und und der Zweck unserer Bestrebungen soll nur die Anton Lampa im xx. Wiener Gemeindebezirk „Über Verbreitung von Bildung und Wissen sein.“ (zit. n. Volksuniversitäten“. Parallel zu den Gründungsaktivitä- Fellinger: 1969, S. 133). ten wurde ein „Aufruf zur Gründung eines Volksheims

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Korrektur des Statutenentwurfs für die zu gründende Volkshochschule. Aus: Volksheim-Akt der „Vereinsbehörde“ (Bundespolizeidirekti- on Wien).

Besonderheiten des Gründungsprozesses 7. Wie die gesamte Wiener Volksbildung war auch das Die Analyse des Gründungsprozesses des Volksheims Volksheim von Beginn an für Frauen offen, sei es als weist eine Reihe von bemerkenswerten Charakteristika Lehrende, Teilnehmerinnen oder bei der Wahrneh- auf: mung von Vereinsfunktionen. 1. Es handelte sich um eine „Gründung von unten“, aus 8. Die behördliche Ablehnung des Namens Volkshoch- der Gesellschaft heraus, die mehr von engagierten und schule weist auf erhebliche Vorbehalte gegenüber bildungsaffinen Einzelpersonen als von Organisati- „wissenschaftlicher Volksbildung“ hin. Die von sehr onen und gesellschaftlichen Initiativen initiiert und unterschiedlichen Kräften getragene und auf verschie- getragen wurde. dene Weise zum Ausdruck kommende Gegnerschaft 2. Die Gründer waren von Anfang an bestrebt, für ihre gegenüber modernen Volksbildungsbestrebungen ist Anliegen eine breite Öffentlichkeit anzusprechen. bis heute kaum systematisch erforscht. 3. Mit dem Verein wurden anspruchsvolle Ziele verfolgt. 9. Die Entwicklung nach der Gründung des Volksheims Das Volksheim verstand sich vor dem Ersten Welt- verlief rasch und mündete in die Errichtung eines eige- krieg als „wissenschaftlicher Verein“. Die Ziele wurden nen Hauses, das am 5. November 1905 eröffnet wurde. im Laufe der Zeit, wenngleich es auch Schwächen gab, Ihm folgten noch vor dem Ersten Weltkrieg die Errich- in erstaunlich hohem Maße realisiert. tung eigener Häuser des Volksbildungsvereins und 4. Oberster Grundsatz neben „Bildung für alle“ war die der Urania, so dass in Wien bereits zu dieser Zeit eine weltanschauliche „Neutralität“ der Bildungstätigkeit, ausgebaute Infrastruktur für die Volksbildungstätig- die ein unverkennbares Zeichen für den bürgerlichen keit bestand. // Charakter des Vereins war. Von den Theoretikern der Arbeiterbildung, wie sie sich gleichfalls nach der Jahr- hundertwende auf hohem Niveau auszubilden be- gann, wurde diese Neutralität scharf kritisiert. 5. Die Liste der Unterzeichner/innen des Gründungs- aufrufs deutet die spätere Öffnung des Volksheims zum Austromarxismus an, wenngleich sich unter ih- Literatur Fellinger, Hans (1969): Zur Entwicklungsgeschichte der Wiener nen keine prononcierten Marxisten befanden. Volksbildung. In: Kutalek, Norbert;/Fellinger, Hans: Zur Wiener 6. Der unmittelbare Anstoß zur Gründung, die Gesprä- Volksbildung. Wien-München: Jugend & Volk, S. 125-273. che zwischen dem Philosophen Adolf Stöhr und sei- Reich, Emil (1926): 25 Jahre Volksheim. Eine Wiener Volkshochschul- nen Hörern, deutet auf das enge Verhältnis zwischen Chronik. Wien: Verlag des Vereines Volksheim. Stifter, Christian H. (2005): Geistige Stadterweiterung. Eine kurze „Lehrenden“ und „Lernenden“ in der frühen moder- Geschichte der Wiener Volkshochschulen, 1887-2005. Weitra: Verlag nen Volksbildung hin. Bibliothek der Provinz.

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Heinz Obergummer, Martin Puntigamm und Werner Gruber

Universität Wien, forschte zu Prozessen der Nukleosyn- these und beschäftigte sich mit der Feinabstimmung der Naturkonstanten. Gemeinsam mit Physikern aus ande- Volksbildungspreis der ren Ländern konnte er wichtige Forschungen zur kosmo- logischen Feinabstimmung der grundlegenden Kräfte im Universum durchführen. Die Popularisierung wissen- Stadt Wien für „Science schaftlicher Inhalte insbesondere mit neuen Medien ist ihm ein wichtiges Anliegen. Oberhummer ist Mitglied im Busters“ Wissenschaftsrat der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften. Martin Puntigam ist Kabarettist, Schauspieler und Autor mehreren Theaterstücke. Bereits für sein erstes So- Gemeinsam mit Heinz Oberhummer und Martin Pun- loprogramm „Durch und durch“ wurde mit dem Grazer tigam erhielt Werner Gruber, Leiter der astronomischen Kleinkunstvogel prämiert. In den Jahren 1989 bis 2009 Einrichtungen der Wiener Volkshochschulen (Planeta- präsentierte er elf Soloprogramme. rium Wien, Kuffner und Urania Sternwarte) den renom- Die Science Busters versuchen, Wissenschaft mit Hu- mierten Volksbildungspreis der Stadt Wien. mor für eine breite Öffentlichkeit zu kommunizieren. Werner Gruber ist Experimentalphysiker und wur- Das von ihnen gestaltete Kabarettprogramm besteht auch de durch seine populärwissenschaftliche Aufbereitung aus auf der Bühne durchgeführten Experimenten. Natur- der Alltagsphysik in Kursen und Vorträgen der Wiener wissenschaft wird verständlich, unterhaltsam und span- Volkshochschulen bekannt. Seine Themen sind: „Die nend dargestellt. Im Radiosender fm 4 des orf präsen- Naturwissenschaft von Star Trek“, „Die Physik des Pa- tieren die Science Busters eine wöchentliche Kolumne, pierfliegerbaus“, „Kulinarische Physik“, „Die Physik der ihre Kabarettprogramm werden als tv-Sendung in „Die Destillate“, und andere. Im zdf demonstrierte Gruber Nacht“ in orf eins gesendet. Weiters gibt es einen eige- die Ineffektivität der „Nacktscanner“, die zur Sicherheits- nen Video-Podcast. // kontrolle an Flughäfen eingeführt werden sollten. Heinz Oberhummer war Universitätsprofessor für Theoretische Physik am Atominstitut der Technischen Foto: © Hannelore Tiefenthaler

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Direktor-Stellvertreterin. Mit der Eröffnung der neuen Bouldertown im Frühling 2013 und einer einzigartigen Bildungskooperation mit dem Österreichischen Alpen- Volkshochschule verein verändert sich das Angebot auch weiterhin und passt sich damit den Bedürfnissen der Menschen an. Eine weitere wichtige Rolle spielt die Volkshochschule Salzburg: Neu in der Salzburg für das gesellschaftliche Miteinander. Angebote im Bereich „Deutsch als Fremdsprache“, dem Hauptschul- Strubergasse 26 abschluss oder Kurse im Bereich der Alphabetisierung erfüllt die Volkshochschule eine sehr wichtige Funktion für ein Miteinander in Salzburg. Mit den Sommerkursen Nach rund 3 Jahren Vorbereitungszeit, startet die Volkshochschule Salzburg unterstützt man als Partner der Stadt Salzburg Kinder mit dem Frühjahrssemester 2013 in eine neue Ära. Der attraktive Standort und Jugendliche mit Lernschwächen für guten Start in in Lehen inmitten von Salzburg punktet vor allem durch seine zentrale Lage das neue Schuljahr. Ein Angebot, das jährlich von rund und gute Erreichbarkeit. Durch die Übersiedelung in das Hochhaus am 200 Kindern genutzt wird. Competence Park entfaltet sich die Volkshochschule auf einer Fläche von ca. Mit der Übersiedlung der Volkshochschule ins ehe- 2.700 m2 vollkommen neu. malige Stadtwerke-Haus „erfährt der Stadtteil Lehen eine weitere entscheidende Aufwertung“, freut sich Bürger- meister Heinz Schaden. Mit der „Neuen Mitte Lehen“, der Erschließung durch zwei neue o-Bus-Linien und der An- bindung an die s-Bahn sowie der Errichtung des Wohn- quartiers Stadtwerk Lehen mit dem Competence Park für Wirtschaft, Wissen und Kreativität entwickle sich Lehen Mit der Übersiedelung in das neue Haus öffnet die Salz- zu einem modernen, urbanen Stadtviertel mit hoher burger Bildungsinstitution ein neues Kapitel ihrer über Lebensqualität. „Bildung und Kultur spielen dabei eine 65-jährigen Geschichte. „Wer heute Menschen mit dem große Rolle“, betont Schaden. Mit der jetzt übersiedelten Gut ,Bildung‘ versorgt, ist gefordert, Qualität auf allen Volkshochschule, der erfolgreichen Stadt:Bibliothek, der Ebenen zu liefern. Neben einem abwechslungsreichen „Paracelsus Medizinischen Privatuniversität“, dem Gale- und attraktiven Angebot, gut ausgebildeten Trainer/in- rie-Dreigestirn Stadt:Galerie, Fotohof und Eboran sowie nen und guten Preisen stellen Teilnehmer/innen auch dem Literaturhaus sei Lehen auf dem besten Weg, zu an den Kursort hohe Anforderungen“, so Mag. Günter einem der Knotenpunkte der prosperierenden Wissens- Mag. Günter Kotrba, Kotrba, Direktor der Volkshochschule Salzburg über die stadt Salzburg zu werden. Direktor Anforderungen an eine moderne Bildungsinfrastruktur. Neben den klassischen Angeboten in den Bereichen Mit 27 neuen Kursräumen auf vier Stockwerken setzt die Sprachen, Bewegung, Kreativität, Kultur und Wirtschaft Volkshochschule im neuen Haus auf moderne und flexi- nimmt die Volkshochschule mit Angeboten wie Deutsch ble Raumkonzepte. als Fremdsprache oder im Bereich der Alphabetisierung

Volkshochschule Auch im Angebotsspektrum passiert viel. Neben den eine wichtige Brückenfunktion zwischen den Gesell- Salzburg Klassikern wie Sprachen, edv oder Wirtschaft setzt die schaftsschichten ein. Als gemeinnütziger Verein hat die Volkshochschule bei der Programmgestaltung auf eine Volkshochschule Salzburg die Aufgabe, ein hochwertiges ganzheitliche Lebensbetrachtung. In unserer schnellle- Bildungsangebot zu leistbaren Preisen und damit den bigen Gesellschaft suchen Menschen heute nach völlig Menschen eine Stätte der Wissensvermittlung und einen neuen „Lern“-Inhalten. Nicht nur Training für den Kopf, Ort der Begegnung und des Wohlfühlens zu bieten. // sondern gerade auch Angebote für Körper und Seele sind wertvolle Bestandteile für ein ausgewogenes und erfüll- tes Leben. „Rund 35% der Buchungen in der Stadt passie- ren bereits im Fachbereich ,Gesundheit und Bewegung‘“, so Dr.in Nicole Slupetzky, pädagogische Leiterin und Aus: Pressemitteilung der Volkshochschule Salzburg, gekürzt.

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 47 Rezensionen

Barbara Prammer: Wir sind Demokratie. Eine Ermunterung. Wien-Ohlsdorf: Edition Ausblick 2013, 128 Seiten.

Gerhard Bisovsky

Mit ihrer neuesten Publikation will Barba- Lebens beteiligen“ (S. 10). Und: „Demokratie Fazit: „Wir sind Demokratie“ ist eine gute ra Prammer, Präsidentin des Nationalra- geht Hand in Hand mit Solidarität und setzt Einstiegshilfe für alle, die mehr über De- tes, „Lust auf Demokratie“ machen, auf die voraus, dass wir füreinander Verantwortung mokratie und darüber, wie sie funktioniert, „Einmischung in die Politik“ (S. 11). In dem übernehmen“ (ebd.). wissen wollen und eignet sich im Besonderen verständlich geschriebenen Buch, das keines- Wie Demokratie, Parlamentarismus und gut für junge Menschen, die zum ersten Mal falls leichte Kost ist, erläutert sie die Funkti- Politik funktionieren, wird kurzweilig in oder erst seit kurzem wahlberechtigt sind. onsweise und die Spielregeln der Demokra- zehn Kapiteln, mit etlichen Schautafeln und Zur Verwendung im Unterricht stehen in den tie. Dabei legt sie ein starkes Bekenntnis zur konkreten Beispielen versehen, erläutert. Landesverbänden der Volkshochschulen Ex- repräsentativen und parlamentarischen De- Prammer bezieht sich dabei nicht nur auf die emplare des Buches zur Verfügung. Sollten mokratie ab und bringt auch Vorschläge zur Bundesebene der Politik, sondern ebenso auf Sie dort keine mehr vorfinden, können wir Verbesserung durch mehr direkt-demokrati- die Ebene der Länder und Gemeinden und Ihnen gerne ein Exemplar für den Unterricht sche Elemente ein. Sie argumentiert dabei je- schreibt auch über die europäische Politik. übermitteln: [email protected]. Im Buchhandel doch immer auf dem Boden der Demokratie Das Buch eignet sich gut zum Einsatz im ist das Buch um den günstigen Preis von acht und wendet sich deutlich gegen Vorschläge, Unterricht. In verständlicher Sprache werden Euro erhältlich. // die eine Umgehung des Parlaments beinhal- komplexe Sachverhalte erklärt und Pram- ten könnten. mer setzt sich auch mit den vielen gängigen Demokratie, so Prammer, bedeute die Vorurteilen gegenüber „der Politik“ und Bereitschaft und die Fähigkeit, anderen Ar- gegenüber Politiker/innen auseinander. Im gumenten gegenüber aufgeschlossen zu zehnten Kapitel „Wie aus Stimmen Manda- bleiben und bereit zu sein, den Kompromiss te werden“, erläutert Prammer gut nachvoll- zu suchen. Demokratie muss gelernt werden ziehbar die Verfahren zur Mandatsvergabe und sie setzt die Fähigkeit und Bereitschaft von der Errechnung der Wahlzahl und der zu Meinungsbildung voraus. Diese Meinung Ermittlung der Direktmandate in Wahlkrei- mag auch vertreten werden, was wiederum sen bis zur Ermittlung der Mandate in einem „Selbstbewusstsein und Zivilcourage“ vor- Bundesland. Einzig das im dritten Schritt aussetzt (S. 85). Ebenso sind Toleranz und der verwendete Höchstzahlverfahren nach „Respekt gegenüber anderen Meinungen“ D’Hondt, das kompliziert zu rechnen ist, (S. 86) notwendig, sowie die „Überzeugung lässt Prammer aus. Das Rechenbeispiel kann und die Fähigkeit zum Kompromiss“ (ebd.). sehr gut im Unterricht verwendet werden. Konflikte werden durch Argumente ausge- Barbara Prammer ist es ein Anliegen, so tragen und nicht auf der Straße, schlussend- viele Menschen wie möglich zur Teilnahme lich sollen demokratische Beschlüsse gefasst an der Demokratie zu motivieren und sie werden. dazu auch zu befähigen. Mit der von Pram- Mit ihrem Buch „Wir sind Demokratie“ mer initiierten, viel beachteten „Demokra- wendet sich Prammer vor allem an junge tiewerkstatt“ (www.demokratiewebstatt.at), Menschen und will diese dazu motivieren, die sich an Kinder und Jugendliche richtet, aktiv an der Demokratie teilzuhaben. Denn ist es gelungen, viele junge Menschen mit Demokratie „baut darauf auf, dass sich alle parlamentarischer Demokratie vertraut zu an der Gestaltung des gesellschaftlichen machen.

48 — DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 Rezensionen

Christina Auer: Fremdsprachenerwerb Erwachsener in der Weiterbildung. Bielefeld: Bertelsmann 2013, 210 Seiten.

Werner Lenz

Die Türen zur Welt stehen offen. Wer mehr Zielgruppen steht im Vordergrund, wodurch Ziel, Erkenntnisse über den Erwerb von als eine Sprache spricht, geht leichter auf glo- vielleicht die Thematik „Milieu“ sowie der Fremdsprachen bei Erwachsenen theoretisch balen Wegen. In öffentlichen Verkehrsmit- soziale Bedingungsrahmen lernender Er- fundiert und praxisorientiert darzustellen, teln, beim Einkaufen, auf dem Spaziergang wachsener etwas zu wenig erörtert werden. hat die Autorin sicherlich erreicht. Ihre wis- durch die Stadt, in Schule oder Hochschule, Anschließend werden lerntheoretische senschaftlichen Bemühungen kommen der im Beruf – fremde Sprachen begegnen uns be- Grundlagen vorgestellt, wobei handlungs- Theorie und Praxis einer Erwachsenenbil- ständig. Sie zu verstehen und sie zu sprechen und prozessorientiertes Lernen im Mittel- dung zugute, die mündige und handlungsfä- ist ein Gebot der Stunde. Das Erlernen frem- punkt steht. hige (soll ich sagen handlungskompetente?) der Sprachen betrifft uns als gesellschaftspo- Aufgrund ihrer Expertise stellt Christina Mitgestalter/innen der Gesellschaft hervor- litische Vorgabe und als persönliches Anlie- Auer ihre eigenen didaktischen Überlegun- bringen und fördern will – einer Erwachse- gen: zum Beispiel in Empfehlungen der EU gen bezüglich Englisch für Erwachsene vor. nenbildung, die den Teilnehmer/innen er- oder als konkrete Anlässe am Arbeitsplatz, In diesem Abschnitt wird auch der Übergang möglicht, selbstbestimmt zu lernen und sich durch einen Urlaub oder aufgrund interkul- von der „Grammatik-Übersetzungsmetho- selbst zu bilden. // tureller Partnerschaften in der Familie. de“ zum „kommunikativ-situativen Sprach- Doch der Fremdsprachenunterricht rich- unterricht“ kompetent geschildert. Mit die- tet sich hauptsächlich nach Mustern und ser Reform in den 1990er-Jahren werden die Lehrbüchern für Kinder. Christina Auer, Sprachkompetenzen der Lernenden in den Trainerin und Lehrbeauftragte für Didaktik Vordergrund gestellt – ihr Sprachgebrauch und Methodik für erwachsenengerechtes wird wichtig. Der Wandel zur Orientierung Lehren und Lernen von Fremdsprachen, hat an den Lernenden, zur „learner-centered- sich dieses von ihr beanstandeten Defizits ness“, wird vollzogen. Damit erweitert sich angenommen. Ihre Forschungsfrage lautet: die traditionelle Rolle der Lehrenden um Wie soll ein teilnahmeorientierter Unterricht Aufgaben als Berater, Begleiter und Coach. konzipiert sein, um der Forderung nach indi- Konsequenterweise behandelt die Autorin vidualisiertem, den eigenen Wünschen und in diesem Zusammenhang auch die Funktion Ansprüchen entsprechendem, lebens- und und Gestaltung von Lehrmaterialien. arbeitsorientiertem Fremdsprachenlernen Der letzte Abschnitt des Buches umfasst von Erwachsenen gerecht zu werden? Die die Entwicklung eines Unterrichtskonzepts. von der Universität Klagenfurt als Disserta- Als Ergebnis liegt ein Modell vor, das, teil- tion approbierte Studie liegt hiermit in über- weise schon in der Praxis erprobt, durch arbeiteter und angenehm lesbarer Form vor. größtmögliche Teilnehmerorientierung cha- Anliegen der Autorin ist es, Erkenntnisse, die rakterisiert ist. dem Erwerb von Fremdsprachen durch Er- Die Komplexität des Themas regt an, wachsene dienen, interdisziplinär orientiert die wissenschaftlichen Forschungen wei- zu gewinnen. terzuführen, um auch den Zusammenhang Dieser Zielsetzung folgt der Aufbau des von gesellschaftlicher Entwicklung, Erwerb Buches. Ausgangspunkt bilden die Lage von Fremdsprachen und Veränderung von lernender Erwachsener und ihre Lernbe- Bildungsanspruch noch deutlicher in den dürfnisse. Die Diskussion des Begriffs von Blick zu bekommen. Ihr anspruchsvolles

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 49 Rezensionen

Michael J. Sandel: Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun? Berlin: Ullstein 2013, 417 Seiten.

Werner Lenz

Das Bildungswesen ist sozial ungerecht! Fast Die in zwölf Abschnitte gegliederte Ver- Gesellschaft wünschenswert erscheinen. täglich hören und lesen wir ein solches Urteil anstaltung lässt sich auch in Kursen der Kommunikation hält er für einen wichtigen oder es geht leicht über unsere Lippen. Doch Erwachsenenbildung und in der Aus- und Bestandteil. was wäre „gerecht“? Was verstehen wir über- Fortbildung von Lehrenden einsetzen. Nicht Seine Position und seine Vorschläge kom- haupt unter Gerechtigkeit? Wie können wir zuletzt: Hier liegt ein Beispiel für US-ameri- men im letzten Kapitel des Buches deutlich „gerecht“ handeln? Das Buch des Harvard- kanischen Wissensexport vor. Das Buch wur- zur Geltung: Gerechtigkeit ist mit Wertun- Professors, dem „die Welt zuhört, wenn er de in mehrere asiatische Sprachen übersetzt, gen verbunden, mit der Frage, was es bedeu- über Gerechtigkeit philosophiert“ (so die neben dem Internetauftritt gibt es einen eige- tet, ein gutes Leben zu führen, und mit einer zeit), ermutigt über Gerechtigkeit und wie nen Film zum Thema und bei allen Vorträgen öffentlichen Kultur, die mit den unvermeid- wir das Richtige tun nachzudenken. Denn des Autors im In- und Ausland findet sich lich unterschiedlichen Auffassungen umge- davon ist der Autor überzeugt: Gerechtigkeit eine zahlreiche Zuhörerschaft ein. hen kann. Soziale Ungleichheit hält Sandel ist von der Frage nach dem guten Leben nicht Sandel kehrt in seinem Buch drei Leit- für gefährlich, weil die Unterschiede zwi- zu trennen. gedanken hervor, die er mit dem Thema schen Arm und Reich wachsen, der öffentli- Michael J. Sandel eröffnet und begleitet Gerechtigkeit verbindet: die Mehrung des che Raum ausgehöhlt wird, sowie Solidarität seine Erörterungen mit Fallbeispielen und Gemeinwohls, die Achtung der Freiheit und und Gemeinsinn, wichtige Stützen der de- Fragen aufgrund aktueller Anlässe. Ist es ge- die Förderung menschlicher Tugenden. Da- mokratischen Zivilgesellschaft, zerbrechen. recht, vom Hurrikan Geschädigte mit über- mit führt er zu philosophischen Theorien, die Sandel warnt vor distanzierter Toleranz höhten Hotelpreisen, hohen Forderungen auf die Frage nach dem guten und richtigen und fordert uns auf, staatsbürgerlich enga- von Dachdeckern und anderen Dienstleis- Leben eine Antwort suchen. Positionen des giert zu leben. Gegenseitiger Respekt besteht tern, die offensichtlich die Notsituation der Utilitarismus, des Libertarianismus oder seiner Meinung nach darin, sich mit den ins Betroffenen ausnutzen, zu konfrontieren? philosophische Persönlichkeiten wie zum öffentliche Leben eingebrachten Überzeu- Darf man in einer Kriegssituation Zivilisten Beispiel Aristoteles, David Hume, Immanuel gungen unserer Mitbürger/innen zu beschäf- ermorden, um die Sicherheit der eigenen Ka- Kant oder John Rawls finden problemorien- tigen – ihre Aussagen zu hinterfragen, für sie meraden zu erhöhen? Soll man ein fremdes tierte Aufmerksamkeit. Wie gesagt in sehr einzutreten oder gegen sie aufzutreten und Kind dem Tod überlassen, um sein eigenes lebensnaher Weise: Es handelt sich um keine gelegentlich auch von ihnen zu lernen. // zu retten? Darf man foltern, um andere vor historisch-philosophische Abhandlung, son- Verletzungen und Misshandlungen zu schüt- dern aktuelle Fragen unserer Lebensführung zen? Doch es sind auch zahlreiche Fragen, die werden immer im Hinblick auf das Haupt- sich im Alltagsleben ergeben. Sie gehören thema Gerechtigkeit mit Hilfe unterschied- zum didaktischen Konzept, in das Sandel sei- licher Argumente zu beantworten versucht. ne Leserinnen und Leser einbezieht. Sandel gilt als Mitbegründer der kom- Das Buch verschriftlicht professionell die munitaristischen Bewegung, die die indi- Vorlesung über „Justice“ (Gerechtigkeit), die viduelle Verantwortung, die Sorge um das Sandel in Harvard hält. Wie Sandel seine Stu- Gemeinwohl und die sozialen Aufgaben der dierenden anspricht, herausfordert, zu Wort Familie betont. Er meint, moralische Refle- kommen lässt, an der Meinungsbildung be- xion sollte ein Gegenstand öffentlicher An- teiligt und wie er gemeinsames Nachdenken strengung sein. Es geht ihm um die Aufgabe, anregt, kann im Internet unter www.justice- wie Einstellungen und Charaktereigenschaf- harvard.org aufgerufen werden. ten zu kultivieren sind, die für eine „gute“

50 — DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 Rezensionen

Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland. München: Beck 2013, 191 Seiten.

Werner Lenz

Soziale Gerechtigkeit wird in den kommen- „Klasse“. Dieser Begriff behält für ihn, im Ge- die britische Premierministerin Margaret den Jahren zum „Dauerbrenner“ der innen- gensatz zu dem in den letzten Jahren auch in Thatcher. Die Verteilungsgerechtigkeit ist politischen Diskussion aufsteigen. Der deut- der Erwachsenenbildung propagierten „Mi- verloren gegangen und eine neue Elite von sche Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler lieu“, das Potenzial eines Machtfaktors. Mit Topmanager/innen, Vorständen und Auf- bemerkt die wachsende soziale Ungleichheit dem Klassenbegriff entstand etwa seit der sichtsrät/innen hat sich machtvoll und Macht sorgenvoll. Mit seinem Buch will er informie- schottischen Aufklärung (z. B. Adam Smith) ausübend etabliert. Vor diesem Hintergrund ren und aufklären. Nicht der funktionstüch- ein analytisches und politisches Instrument. belegt Wehler mit viel Zahlenmaterial di- tige Markt, sondern nur der moderne Staat, Seit damals wurde soziale Ungleichheit in verse Dimensionen der Ungleichheit. Dies der seit dem späten 19. Jahrhundert im Wege Verbindung mit dem jeweiligen Wirtschafts- bezieht sich u. a. auf Einkommen, Vermö- des Parlamentarismus den Wildwuchs des system gebracht – nicht göttliche Fügung gen, Heiratsmarkt, Alter, Bildungschancen, Privatkapitalismus begrenzt, kann soziale sondern menschliche Verfügung verursacht Geschlecht, Wohnen, Kultur, Konfession, Ungleichheit verringern. die soziale (Un-)Ordnung. Alltagswelt sowie auf den Osten und Westen Angesichts der aktuellen Krisen urteilt Lebensstilforschung, die jede Lebens- Deutschlands. Wehler: Globaler Kapitalismus und das Sys- führung individualisiert und pluralisiert Die Lektüre macht bewusst, wie sehr die tem der internationalen Finanzmärkte brau- versteht, oder die These von der „Risikoge- deutsche (die Analogie zu Österreich ist of- chen ein staatlich verordnetes Regelwerk, sellschaft“, die uns alle gleich gefährdet sieht, fensichtlich) Gesellschaft von Ungleichheit um ein friedliches Zusammenleben der Men- hält Wehler für oberflächliche Sichtweisen. gekennzeichnet ist. Als Beitrag zur politi- schen zu gewährleisten. Historische Kennt- Diese trübten den Blick auf bestehende so- schen Bildung zeigt das Buch gesellschaft- nisse über die erfolgreich etablierte moderne ziale Ungleichheiten. Der Autor präferiert liche Zusammenhänge und durchgängig Marktwirtschaft und Marktgesellschaft, so- die Position von Pierre Bourdieu, der Kapi- benachteiligende Strukturen. Erkennbar wie über ihre Prinzipien helfen – so die Über- tal differenziert (materiell, kulturell, sozial, wird, dass Erwachsenenbildung diese nicht zeugung des Autors – die Mechanismen und symbolisch) und einen klassenspezifischen aufheben kann, sondern sie oft sogar festigt. die Chancen eingreifender Veränderungen Habitus diagnostiziert. Dadurch gelingt Allerdings birgt Bildung per se die Möglich- zu verstehen. Wehler nennt als unmittelba- Bourdieu, so urteilt Wehler, eine realitätsna- keit, gesellschaftliche Vorgänge analysieren res politisches Ziel, „mit allen Kräften und he Erfassung von ‚sozialer Wirklichkeit‘, ins- und beeinflussen zu lernen. mit allen Ressourcen das Dauerphänomen besondere der gesellschaftlichen Hierarchie, Das Buch von Hans- Ulrich Wehler er- der aufklaffenden sozialen Ungleichheit auf ohne dass er der Versuchung einer Totalitäts- mutigt, soziale Ungleichheit nicht bloß hin- ein erträgliches Maß abzumildern“ (S. 9). Die theorie oder dem Sog einer allumfassenden zunehmen, sondern diese zu erkennen, zu Lernfähigkeit und die Entscheidungskraft Gesellschaftstheorie erlegen wäre“ (S. 53). benennen und über sie aufzuklären. Es bietet der parlamentarischen Demokratie uns so- Nicht zuletzt fühlt sich Wehler in seiner Ana- eine Chance, sich weiterzubilden und zu ler- mit jene ihrer Bürgerinnen und Bürger sind lyse dem Soziologen Max Weber verbunden: nen, um sich für soziale Gerechtigkeit einzu- gefordert. Die Verbindung zur Erwachsenen- Jede Besitzordnung spiegelt die Herrschafts- setzen. // bildung, das Thema soziale Ungleichheit als verhältnisse und die zugrundeliegenden un- eigenen Schwerpunkt oder als Querschnitts- gleichen Machtpotenziale. thematik anzubieten, liegt nahe. Das infor- Entscheidende Veränderungen hinsichtlich mative Buch schafft übersichtlich und aufklä- sozialer Ungleichheit brachte, so ist Wehler rend wissenswerte Grundlagen dafür. überzeugt, die neoliberale Wirtschaftspoli- Wohltuend, für mich als Rezensenten, tik, personalisiert durch den US-amerika- vertritt Wehler den Gebrauch des Begriffs nischen Präsidenten Ronald Reagan und

DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 51 Autor/innen

Für diese Ausgabe der Österreichischen Volkshochschule schrieben

Gerold Amann, Mag. et Dr. phil., geb. 1956. Monika Elšik¸ Mag.a, Kurt Langbein, geb. 1953. Historiker, Germanist und Philosoph; Institutsleiter-Stellvertreterin des Filmemacher, Wissenschaftsjournalist 2005 bis 2013 Leiter der Bildungsreihe Wirtschaftsförderungsinstituts (wifi) und tv-Produzent. „Wege zum Weltwissen“ bei den der Wirtschaftskammer Österreich. Kontakt: [email protected] Vorarlberger Volkshochschulen. Kontakt: [email protected] Kontakt: [email protected] Werner Lenz, Univ-Prof. Dr., geb. 1944. Elisabeth Feigl-Bogenreiter, Mag.a, Karl Franzens Universität Graz, Wilhelm Richard Baier, Dr., geb. 1962. geb. 1963. Sprachenreferentin Institut für Erziehungswissenschaft. Pädagogischer Mitarbeiter der des Verbandes Österreichischer Kontakt: [email protected] Österreichischen Urania Graz. Volkshochschulen. Kontakt: [email protected] Kontakt: [email protected] Michaela Moser, Dr.in, geb. 1967. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Gerhard Bisovsky, Dr., geb. 1956. Elisabeth Halej, Mag.a geb. 1962. am Ilse Arlt Institut und Dozentin Generalsekretär des Verbandes Landesgeschäftsführerin an der Fachhochschule St. Pölten. Osterreichischer Volkshochschulen und Verband Niederösterreichischer Vizepräsidentin des European Anti övh-Redakteur, Wien. Volkshochschulen. Poverty Networks. Gemeinsam mit Kontakt: [email protected] Kontakt: [email protected] Martin Schenk Autorin von „Es reicht! Für alle! Wege aus der Armut“, Sabine Aschauer-Smolik, Mag.a, geb. 1964. Claudia Lo Hufnagl, Mag.a, geb. 1976. Deuticke 2010. Leiterin des Bildungszentrums Wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie Kontakt: [email protected] Saalfelden, der Bezirksstelle der vhs Gender-und Diversitybeauftragte der Pinzgau, der vhs-Zweigstelle Saalfelden vhs Wien. Sonja Muckenhuber, Mag.a, geb 1954. und der Öffentlichen Bibliothek Kontakt: [email protected] Soziologin, Alphabetisierungs- und Saalfelden. Basisbildungstrainerin, Leiterin des Kontakt: bildungszentrum@bz-saalfelden. Norbert Koch, Mag., geb. 1979. Grundbildungszentrums der vhs salzburg.at Landesgeschäftsführer Verband Linz, Koordinatorin der Zentralen Niederösterreichischer Beratungsstelle und des Alfatelefons Dirk Berg-Schlosser, geb. 1943. Volkshochschulen. Österreich. Professor Emeritus für Kontakt: [email protected] Kontakt: [email protected] Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Barbara Kreilinger, Mag.a, geb. 1967, Alistair Ross, Univ.-Prof., geb. 1946. Kontakt: [email protected] pädagogische Mitarbeiterin im Verband Jean Monnet ad personam Professor Österreichischer Volkshochschulen. für Bürger/innen-Bildung in Europa Thomas Dostal, Mag., geb. 1969. Historiker, Universitätslektorin. und emeritierter Professor der London wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kontakt: [email protected] Metropolitan Universität. Österreichischen Volkshochschularchivs. Kontakt: http://www.alistairross.eu Kontakt: [email protected] Birgit Krupka, MMag.a, ma, geb 1985. Sozialwirtin, Politische Bildnerin, Michaela Slamanig, Mag.a Dr.in, Gina Ebner, geb. 1964, Generalsekretärin Wirtschaftswissenschafterin, geb. 1969. Kulturwissenschaftlerin, des Europäischen Verbandes für Projektmitarbeiterin im Projektkoordinatorin bei den Kärntner Erwachsenenbildung. Grundbildungszentrum der vhs Linz. Volkshochschulen, Kontakt: [email protected] Kontakt: [email protected] Kontakt: [email protected]

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Impressum

Die Österreichische Volkshochschule (övh) Magazin für Erwachsenenbildung Juni 2013, Heft 248/64. Jg. ISSN 0472-5662

Redaktion: Dr. Gerhard Bisovsky, Mag.a Barbara Kreilinger Telefon +43 1 216 4226, Fax +43 1 214 3891, E-Mail: [email protected], Internet: www.vhs.or.at Redaktionsausschuss: Mag. Ronald Zecha (Innsbruck), Dr.in Elisabeth Deinhofer (Eisenstadt), Mag. Hubert Hummer (Linz) Redaktionssekretariat: Brigitte Eggenweber, Christine Rafetseder Für den Inhalt verantwortlich: Dr. Gerhard Bisovsky Verband Österreichischer Volkshochschulen, Weintraubengasse 13, A-1020 Wien

Grafisches Konzept: Qarante Brand Design Layout: schaefer-design.at Hersteller: Grasl FairPrint, A-2540 Bad Vöslau, www.grasl.eu Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich, fallweise als Doppelnummer. Bezugsgebühren: Abonnement jährlich € 18,–, Mitgliederabonnement € 7,–, Einzelhefte € 5,50 Zahlungen auf das Konto Nr. 0947-31007/00, Bank Austria, Am Hof 2 Rufen Sie mich an. Ich berate Sie gern: Für unverlangte Rezensionsstücke und Beiträge übernimmt die Redaktion keine Haftung. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben Ellen M. Zitzmann M.A. die Meinung der Autor/innen wieder und müssen sich nicht mit jener Tel. 0699 - 11 71 75 19 der Redaktion decken. [email protected] Gefördert durch das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur www.klett.de/lehrwerkdigital Z34240 P.b.b. 02Z032708 M Erscheinungsort Wien – Verlagspostamt: 1020 Wien

Veranstaltungstermine

18. – 20. September 2013 7. – 9. November 2013 St. Wolfgang, Bundesinstitut für St. Wolfgang, Bundesinstitut für Erwachsenenbildung Erwachsenenbildung Kooperationen für das Aktivierung im Gemeinwesen. Lebensbegleitende Lernen. Ein kritischer Blick. Tagung Eine Möglichkeit, mehr Gemeinwesenarbeit – Menschen zu erreichen? community development

Information und Anmeldung: Information und Anmeldung: http://www.bifeb.at/index.php?id=741 http://www.bifeb.at/index.php?id=738

15. November 2013 15. – 16. November 2013 Wien, Urania Wien, Europahaus Tagung Bildung und Kunst Gemeinsam was bewegen! Bürgerbeteiligung in Europa Information und Anmeldung: als Herausforderung für die [email protected] Erwachsenenbildung

Information und Anmeldung: [email protected]