Hugo Von Hofmannsthal, Leopold Von Andrian Und Ot
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74 GALLE, H. – Die Mitteleuropa-Idee und die konservativen Österreicher jüdischer Herkunft Die Mitteleuropa-Idee und die konservativen Österreicher jüdischer Herkunft: Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian und Otto Maria Karpfen (Carpeaux) [The Idea of Central Europe and Conservative Austrians of Jewish Origin: Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian and Otto Maria Karpfen (Carpeaux)] http://dx.doi.org/10.11606/1982-8837244474 Helmut Galle1 Abstract: In the context of modern European nation states, the Habsburg Empire was an anachronism. Its multi-ethnic and multicultural conception, however, guaranteed a peaceful, equal coexistence that was appreciated by various minorities, especially by the Jews. After the end of the First World War, these remained in the new nation state of German Austria or the Republic of Austria as a kind of minority without minority status. In the idea of „Central Europe“, a substantial part of the ideology that had held the empire together at the end of 19th century survived. It found its way into the nostalgic elements of a new identity of those Austrians who were resistant to the pan-German tendencies, but was also held by conservative Catholic intellectuals of Jewish origin who were looking for a bastion against anti-Semitic and ultra- nationalist tendencies. Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian and Otto Maria Karpfen (Carpeaux) developed political ideas that seem extremely conservative and even anachronistic from today’s perspective. At a closer look, however, it becomes clear that the Mitteleuropa idea forms a humanistic core within the anti-modern gesture, a specific kind of resistance to the totalitarian wave of the 1930s. This article attempts to trace the particular nature of the three conceptions in their specificity as well as their unifying features. Keywords: Central Europe; Austria; Hugo von Hofmannsthal; Leopold von Andrian; Otto Maria Karpfen (Carpeaux). Resumo: No contexto dos Estados-nação europeus modernos, o Império Habsburgo era um anacronismo. Entretanto, sua constituição multiétnica e multicultural garantiu uma coexistência pacífica e igualitária que foi apreciada por várias minorias, em particular os judeus. Após o fim da Primeira Guerra Mundial, estes permaneceram no novo Estado-nação da Áustria alemã ou na República da Áustria como uma espécie de minoria sem status de minoria. Na idéia da „Europa Central“ sobreviveu uma parte substancial da ideologia que tinha mantido o império unido no final do século XIX. Ela se encontrou seu caminho para os elementos nostálgicos de uma nova identidade dos austríacos resistentes às tendências pan-germânicas, mas também foi defendida por intelectuais católicos conservadores de ascendência judaica que buscavam um bastião contra 1 Universidade de São Paulo, Departamento de Letras Modernas, Av. Prof. Luciano Gualberto, 403, São Paulo, SP, 05508-980, Brasil. E-mail: [email protected]. ORCID: 0000-0001-8563-6080 Pandaemonium, São Paulo, v. 24, n. 44, set.-dez. 2021, p. 74-105 75 GALLE, H. – Die Mitteleuropa-Idee und die konservativen Österreicher jüdischer Herkunft as tendências anti-semitas e ultra-nacionalistas. Entre as guerras, Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian e Otto Maria Karpfen (Carpeaux) desenvolveram idéias políticas que, da perspectiva atual, parecem extremamente conservadoras e até anacrônicas. Se olharmos mais de perto para eles, no entanto, torna-se claro que a idéia Mitteleuropa forma um núcleo humanista dentro do gesto antimoderno, uma específica forma de resistência à onda totalitária dos anos 1930. O presente artigo tenta delinear as diferenças das três concepções e também seus traços unificadores. Palavras-chave: Europa Central; Áustria; Hugo von Hofmannsthal; Leopold von Andrian; Otto Maria Karpfen (Carpeaux). Zusammenfassung: Im Kontext der modernen europäischen Nationalstaaten war das Habsburger Reich ein Anachronismus. Seine multiethnische und multikulturelle Konzeption garantierte jedoch ein friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben, das von verschiedenen Minderheiten geschätzt wurde, insbesondere von den Juden. Diese verblieben nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in dem neuen Nationalstaat Deutschösterreich bzw. Republik Österreich als eine Art Minderheit ohne Minderheitenstatus. In der Idee von „Mitteleuropa“ überlebte ein guter Teil der Ideologie, die das Reich am Ende des 19. Jahrhunderts zusammengehalten hatte. Sie fand Eingang in die nostalgischen Elemente einer neuen Identität der Österreicher, die resistent waren gegen alldeutsche Tendenzen, wurde aber auch von konservativ-katholischen Intellektuellen jüdischen Ursprungs vertreten, die nach einer Bastion gegen die antisemitische und ultranationalistische Entwicklung suchten. Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian und Otto Maria Karpfen (Carpeaux) entwickelten in den Jahren zwischen den Kriegen politische Vorstellungen, die aus heutiger Sicht extrem konservativ und anachronistisch erscheinen. Betrachtet man sie jedoch genauer, wird deutlich, dass die Mitteleuropa-Idee im Rahmen des antimodernen Gestus einen humanistischen Kern bildet, eine spezifische Form von Widerstand gegen die totalitäre Welle der 1930er Jahre. Der vorliegende Artikel versucht die Eigenart der drei Entwürfe und ihre verbindenden Züge nachzuzeichnen. Stichwörter: Mitteleuropa; Österreich; Hugo von Hofmannsthal; Leopold von Andrian; Otto Maria Karpfen (Carpeaux). 1 Vorbemerkung Unter den drei hier behandelten Autoren ist Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) der einzige, der eine ebenso zentrale wie sichere Position im Kanon der deutschsprachigen Literatur einnimmt. Für seinen Freund und Weggefährten Arthur Schnitzler „der größte Dichter dieser Zeit“ (zit. n. DANGEL-PELLOQUIN 2017: 42) und viermal für den Literatur- Nobelpreis vorgeschlagen, hinterließ Hofmannsthal bei seinem frühen Tod ein umfangreiches lyrisches, dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk von Weltrang. Dennoch ist er in Brasilien fast unbekannt: nur der berühmte „Chandos-Brief“ liegt in Übersetzungen vor.2 Otto Maria Karpfen (1900-1978; in Brasilien: Otto Maria Carpeaux) ist eine feste Größe in der brasilianischen Kulturgeschichte der 2 Hofmannsthals Libretti für Richard Strauß‘ Opern wurden teilweise für Aufführungszwecke übertragen, sind aber nicht als Buchpublikationen verfügbar. Pandaemonium, São Paulo, v. 24, n. 44, set.-dez. 2021, p. 74-105 76 GALLE, H. – Die Mitteleuropa-Idee und die konservativen Österreicher jüdischer Herkunft Nachkriegszeit, aber in Europa völlig unbekannt.3 Leopold von Andrian (1875-1951) wird in der österreichischen Literaturgeschichte von Zeyringer und Gollner (2012: 387 f.) mit einem kurzen eigenen Kapitel gewürdigt, ist aber außerhalb der Fachgermanistik weitgehend vergessen. Gemeinsam ist diesen drei Österreichern (teilweise) jüdischer Abstammung, dass sie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine dezidiert katholische, ultrakonservative Haltung vertraten, die aus heutiger Sicht zumindest in enger Nachbarschaft zum sich gleichzeitig konsolidierenden Nationalsozialismus zu stehen scheint. Im Unterschied zur nationalistischen, rassistischen und totalitären Nazi-Ideologie jedoch, basiert der Konservatismus von Hofmannsthal, Andrian und Karpfen auf Vorstellungen, die aus dem Fundus des Habsburger Reiches stammen und sich unter dem Schlagwort „Mitteleuropa“ zusammenfassen lassen. Es soll hier zu zeigen versucht werden, dass diese Konstellation von politischen und kulturellen Ideen keineswegs eine nostalgische Sehnsucht nach der „Welt von Gestern“ darstellt, sondern vielmehr ein realpolitisches Konzept, in dem sich die Identität der Deutschösterreicher – und zugleich der deutsch-österreichischen Juden – unter den Bedingungen der Zwischenkriegszeit aufrechterhalten ließ – gegen den außen- und innenpolitischen Anschlussdruck vonseiten der Nationalsozialisten. Hofmannsthal starb bereits 1929; Andrian und Karpfen flohen nach 1938 über verschiedene Stationen nach Brasilien; Andrian kehrte nach dem Krieg zurück, Karpfen blieb in seinem Exilland und wurde naturalisiert. Ihre publizistische Tätigkeit während der 1. Republik und des Ständestaats ist heute starker Kritik ausgesetzt: Hofmannsthals Münchner Rede von 1927 gilt manchen als Wegmarke der „konservativen Revolution“, Andrians Schriften der 1930er Jahre hat man als „Ausgeburten monarchistisch- faschistoiden Feinsinns“ (WEINZIERL 2007: 1037) bezeichnet; Karpfen/Carpeaux‘ Apotheosen Roms und des Ständestaats wurden von ihrem Autor nach seiner Wandlung zum politischen Liberalen in der Emigration nicht mehr erwähnt und haben bei ihrer Wiederentdeckung in den vergangenen Jahren für eine gewisse Verwirrung gesorgt. Der Autor galt zumal seit seinem mutigen Eintreten gegen die brasilianische Diktatur in den 1960er Jahren als linker Theoretiker; seine Aufsatzsammlungen und die umfangreichen Werke zur Literatur- und Musikgeschichte sind Standardwerke in den Geisteswissenschaften. Mit der Wahl Jair Messias Bolsonaros 2018 rückte jedoch ins 3 Trotz seiner außerordentlichen Bedeutung für Brasilien existiert kein Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia. In der wissenschaftlichen Literatur außerhalb Brasiliens wird er nur äußerst selten behandelt oder auch nur erwähnt; vgl. Eckl (2010); Pfersmann (2014); Prutsch und Zeyringer in Andrian (2003: 737). Pandaemonium, São Paulo, v. 24, n. 44, set.-dez. 2021, p. 74-105 77 GALLE, H. – Die Mitteleuropa-Idee und die konservativen Österreicher jüdischer Herkunft Bewusstsein, dass sich Olavo de Carvalho, der in den USA lebende „Guru“ des Bolsonaro-Clans, auf jene frühen