SITZUNGSBERICHTE DER LEIBNIZ-SOZIETÄT Band 67 • Jahrgang 2004 trafo Verlag ISSN 0947-5850 ISBN 3-89626-493-1

Inhalt 01 Peter Oehme: Einleitung

02 Herbert Hörz: Eine glückliche Verbindung von Person und Funktion

03 Günter Pasternak: Begegnungen mit Werner Scheler

04 Adolf Grisk & Hansgeorg Hüller: Gemeinsame Jahre an der Universität Greifswald

05 Peter Oehme: Ein Pharmakologe und Akademiepolitiker

06 Christiane Jung: Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P450

07 Rita Bernhardt: Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie

08 Werner Scheler: Schlussworte; Anstelle eines Nachwortes

Anhang 09 Wissenschaftlicher Werdegang

10 Auswahl bibliografischer Daten

Rezensionen 11 Gisela Jacobasch: Moritz Mebel, Gottfried May, Peter Althaus: Der komplette Nierenersatz!? Aufbau und Entwicklung der Nierentransplantation in der DDR 12 Werner Scheler. Athineos Philippu: Geschichte und Wirken der pharmakologischen, klinisch-pharmakologischen und toxikologischen Institute im deutschsprachigen Raum

13 Werner Scheler: Heinz David: Kontinuitäten, Brüche und Abbrüche sowie Neuanfänge in der 300jährigen Geschichte der Medizinischen Fakultät (Charité) der Berliner Universität

14 Nachwort Prof. Dr. sc. med. Drs. hc. Werner Scheler (im Hintergrund Ingeborg Scheler) während des Festkolloquiums am 19. September 2003 Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 7–9

Mehr als 70 Fachkollegen, ehemalige „Mitstreiter“ und Freunde hatten sich am 19. September diesen Jahres zu einem wissenschaftlichen Kolloquium im Zeiss-Großplanetarium Berlin zusammengefunden, um den 80. Geburtstag unseres Mitgliedes Werner Scheler gemeinsam zu begehen. Entsprechend der Kolloquiumsthematik „Zwischen Wissenschaft und Politik“ würdigten die Referenten sowohl die wissenschaftlichen Leistungen des Jubilars in seinem Fachgebiet, der Pharmakologie, als auch sein Wirken in der Wissenschafts- politik der DDR.

Während des Kolloquiums v.r.n.l. Erste Reihe: Werner Scheler, Ingeborg Scheler, Enkeltochter Katrin, Peter Oehme, In dem Eröffnungsbeitrag des Präsidenten der Leibniz-Sozietät, Herbert Hörz, „Eine glückliche Verbindung von Person und Funktion“, ebenso wie in dem einleitenden Vortrag von Günter Pasternak, Teupitz, zu „Begegnungen mit Werner Scheler“ wurde das Werden und das Wirken des Jubilars in seiner Zeit und für seine Zeit lebendig und nachvollziehbar dargestellt. Berlin-Buch und Greifwald waren dabei sicher zwei wichtige Etappen im Leben von Werner Scheler. Angeregt von seinem Lehrer Friedrich Jung begründete Werner Scheler in Berlin-Buch der 50er Jahre in der Hämoglobinforschung sein eigenes Arbeitsgebiet. Im Mittelpunkt seiner zahlreichen Veröffentli- 8 chungen stand dabei die Analyse der funktionell wichtigen Fähigkeit der Hä- moproteine, speziell des Hämoglobins und Methämoglobins, zur Komplexbildung. Trotz dieser stark biophysikalisch orientierten Arbeiten suchte Werner Scheler immer wieder die Brücke zur Pharmakologie und sah im Hämoglobin das Modell eines typischen Pharmakonrezeptors, an dem die molekularen Prozesse einer Pharmakon-Rezeptor-Wechselwirkung mit ihren Folgeerscheinungen studiert werden konnten. Ausgehend von diesen Bucher Arbeiten entwickelte Werner Scheler nach seinem Wechsel an die Greifswalder Universität (1959) das dortige Pharma- kologische Institut der Greifswalder Universität zu einer international aner- kannten Stätte in Forschung und Lehre. Beispielhaft für diese wissen- schaftlich fruchtbare Zeit steht sein Lehrbuch „Grundlagen der Allgemeinen Pharmakologie“, welches auch heute noch eine lohnende wissenschaftliche Fundgrube darstellt. Ebenso prägend wie sein mehr als 10-jähriges Instituts- direktorat war auch sein Wirken als Rektor der Greifswalder Ernst-Moritz- Arndt-Universitat. Der Beitrag von Adolf Grisk, Greifswald, und Hansgeorg Hüller, Gehlberg, „Gemeinsame Jahre an der Universität Greifswald“ charak- terisierte diese Greifswalder Zeit des Jubilars an Hand aussagekräftigen Fak- tenmaterials. Die Rückkehr Werner Schelers im Jahre 1971 von Greifswald nach Ber- lin-Buch fiel in die bewegte Zeit der Akademiereform. Als Direktor des neu zu konstituierenden Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin (FZMM) gelang es Werner Scheler in Berlin-Buch die drei Zentralinstitute der Akademie der Wissenschaften zu konfigurieren. Gemeinsam mit den üb- rigen biologisch-medizinischen Instituten der Akademie entstand ein leis- tungsfähiges Forschungszentrum mit wichtigen Koordinierungsaufgaben für eine Reihe von Forschungsvorhaben in der DDR und auch für die internatio- nale Zusammenarbeit mit sozialistischen und nichtsozialistischen Ländern. Trotz ökonomischer Schwierigkeiten gelang es Werner Scheler, im FZMM eine Reihe von Investitionen zu beginnen oder abzuschließen. Dabei galt sein Augenmerk sowohl der Grundlagenforschung wie der Zusammenarbeit mit der Industrie. Am Ende seiner 8-jährigen Tätigkeit als FZMM-Direktor konn- te er auf eine umfangreiche und erfolgreiche Bilanz zurückblicken. 1979 wählte dann das Plenum der Akademiemitglieder Werner Scheler zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der DDR. Die nun fol- genden 11 Jahre seiner Präsidentschaft waren eingebettet in die sozialökono- mischen Strukturen und Prozesse in der DDR und in die politische Entwicklung in Europa. Die Akademie erfuhr in dieser Zeit einerseits eine 9 hohe gesellschaftliche Anerkennung, wurde aber andererseits zunehmend ein- gebunden in die Innen- und Außenpolitik der Partei- und Staatsführung; mit daraus folgenden Konsequenzen für die akademische Freiheit. Über diese Zeit von Werner Scheler als „Pharmakologe und Akademiepolitiker“ informierte der Beitrag von Peter Oehme, Berlin. Der nachfolgende Vortrag von Christiane Jung, Berlin, zum Thema „Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P450“, ebenso wie der Beitrag von Rita Bernhardt, Saarbrücken, zur Thematik „Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie“ belegten überzeugend die Dynamik dieses For- schungsgebietes. Zugleich zeigten beide Beiträge, dass die wissenschaft- lichen Ergebnisse von Werner Scheler in der Hämoglobin- bzw. Biokata- lyseforschung auch heute noch aktuell sind. Die Beiträge des Symposiums zeigten zum Ersten den Wissenschaftler Werner Scheler, der auf mehr als 350 wissenschaftliche Veröffentlichungen zurückgreifen kann, die zum Teil noch heute weiterleben und der für seine wissenschaftlichen Leistungen vielfache Auszeichnungen erhielt, Mitglied wissenschaftlicher Akademien des In- und Auslandes sowie Ehrenmitglied wissenschaftlicher Gesellschaften wurde und die Ehrendoktorwürde von den Universitäten Greifswald und Vilnius erhielt. Das Symposium zeigte zum Zweiten den Akademiepolitiker Werner Scheler, der über fast zwei Jahr- zehnte die Wissenschaftsgeschichte der DDR mitgestaltete. Das Festkollo- quium zeigte drittens und nicht zuletzt den Menschen Werner Scheler, dessen persönliche Entwicklung ein Stück DDR-Geschichte reflektiert und dessen Handeln den Leibniz’schen Zielen folgte „etwas Greifbares und Nützliches fuhr das allgemeine Wohl zu leisten“. Die zum Nachdenken anregenden gehaltvollen „Schlussworte“ des Jubi- lars Werner Scheler beschlossen eine inhaltsreiche wissenschaftliche Veran- staltung in einer freundschaftlich-kollegialen Atmosphäre.

Peter Oehme, in: LEIBNIZ INTERN, Nr. 20 vom 15.11.2003 Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 11–14

Herbert Hörz

Eine glückliche Verbindung von Person und Funktion Anmerkungen zum Wirken von Werner Scheler

Liebe Mitglieder der Leibniz-Sozietät, werte Teilneh- mer dieses Festkolloquiums, verehrter Jubilar, sehr ge- ehrte Frau Scheler, liebe Familienangehörige,

ich begrüße Sie alle recht herzlich zu dieser Veranstal- tung, die zu Ehren des 80. Geburtstags unseres stets einsatzbereiten Mitglieds, des Pharmakologen und langjährigen Präsidenten der Akademie der Wissen- schaften der DDR (AdW) Werner Scheler, von der Leibniz-Sozietät veranstaltet wird. Das Thema „Zwi- Eröffnung durch schen Wissenschaft und Politik“ charakterisiert das Herbert Hörz, Präsident Wirken unseres Jubilars, der an verschiedenen wissen- der Leibniz-Sozietät schaftlichen Einrichtungen als Pharmakologe forschte und lehrte, sich aktiv politisch betätigte, Rektor der Universität Greifswald, Direktor des Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin der AdW und dann bis 1990 Akademiepräsident war. Einige dieser Lebensstati- onen werden von den Vortragenden hier nachgezeichnet. Wer Werner Scheler kennt, weiß, dass es ihm nicht leicht fiel, einem Fest- kolloquium für seine Person zuzustimmen. Es bedurfte schon des starken Ar- guments der Traditionspflege. Ihr ist er, wegen seiner Funktionen in der AdW verpflichtet, da deren Gelehrtensozietät die direkte Vorgängerin unserer Leibniz-Sozietät ist. Außerdem hat er sich in seinem „Ruhestand“, der für Wissenschaftler meist eine andere Form sinnvoller Betätigung darstellt, in- tensiv mit der Akademiegeschichte befasst. Sein im Jahr 2000 erschienenes Buch „Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Aka- demie der Wissenschaften der DDR“ ist inzwischen das Standardwerk zur Entwicklung der AdW für die Zeit von 1945 bis 1990. Er weiß, dass wir als Sozietät unsere Tradition pflegen, ohne sie auf diese Zeit zu reduzieren. Dem 12 Herbert Hörz

Zwiespalt zwischen persönlichem Nichtwollen und sozietätsoffiziellem Sol- len konnte er nur, nach angemessener Bedenkzeit, durch Zustimmung zum Kolloquium entgehen. Klaus Steiger hat mit anderen in dieser Richtung argu- mentiert. Unserem Mitglied Peter Oehme ist es zu danken, dass wir heute durch berufene Vortragende mit dem Leben und Wirken unseres Jubilars ver- traut gemacht werden können. Ich danke allen, die mitgeholfen haben, diese Würdigung zu ermöglichen. Werner Scheler und Peter Oehme zeigen in ihrem Buch „Zwischen Arznei und Gesellschaft“ für ihren Lehrer und Freund Friedrich Jung, dem aktiven Streiter für die Interessen der Leibniz-Sozietät, wie eng verwoben Pharmako- logie, Politik, Wissenschaftsleitung und Wissenschaftsorganisation sind. Heute werden wir mit anderen Daten und Fakten, Forschungsobjekten und Ereignissen etwas vom Leben und Wirken Werner Schelers in diesem Span- nungsfeld erfahren. Wie hoch seine wissenschaftliche und wissenschaftsor- ganisatorische Arbeit auch im Ausland geschätzt wird, drücken u.a. die Glückwunschschreiben der Russischen Akademie der Wissenschaften, deren Auswärtiges Mitglied er ist, und der Universität Vilnius, die ihm die Ehren- doktorwürde verlieh, aus, die sie an den Jubilar schickten. Als ich 1977 als Kreisvorsitzender der Gewerkschaft Wissenschaft zum ersten Mal Mitglied des Präsidiums der AdW wurde, saß Werner Scheler schon lange in diesem erlauchten Gremium, das über die Geschicke von vie- len Forschungsinstituten, von mehr als 20 000 Mitarbeitern zu bestimmen und über die Arbeit der Gelehrtensozietät mit mehreren hundert Mitgliedern zu beraten hatte. Oft trafen sich Überlegungen des Wissenschaftsphilosophen mit denen des Pharmakologen, wenn es um die Entwicklung der Wissen- schaften, um den spezifischen Beitrag der Akademie, um die Kritik an Män- geln in der Organisation und vor allem um die Auseinandersetzung mit Mittelmäßigkeit in der Forschung, mit der Forderung nach Bedingungen für Kreativität ging. Ich freute mich, als Werner Scheler 1979 zum Präsidenten gewählt wurde. Für mich war seine Wahl eine glückliche Verbindung von Person und Funktion. Ein deutsches Sprichwort lautet: „Man soll die Ämter mit Leuten und nicht die Leute mit Ämtern versehen“. Werner Scheler war geeignet für das Präsidentenamt. Er kannte die Akademie von unten und von oben. In der Lei- tung wissenschaftlicher Einrichtungen war er erprobt. Sicher füllt jede Person solche verantwortungsvollen Funktionen auf ihre Weise aus. Von manchen Spitzenleuten in Staat und Politik erzählte man, statt selbst zu lesen, ließen sie lesen und dann vortragen. Unser damaliger Präsident war dagegen ausge- Eine glückliche Verbindung von Person und Funktion 13 zeichnet auf Sitzungen vorbereitet, kannte die Probleme und hatte sich in sei- ner akkuraten Schrift, die gut lesbar ist, Meinungen, Vorschläge und Schlussfolgerungen notiert, die er zur Diskussion stellte und die dann, nach entsprechenden Argumenten, modifiziert zum Beschluss erhoben wurden. Er konnte zuhören und kann es heute noch. Er ist ein aufmerksamer Beobachter, findet schnell Schwachstellen in der Argumentation und weist keineswegs besserwisserisch darauf hin, sondern kleidet seine Bedenken in Fragen, die dem anderen die Möglichkeit geben, seine Gedanken weiter zu entwickeln. Er hat seine Ämter mit Verstand, Geschick, Selbstkritik und einem unge- heuren Arbeitsaufwand erfolgreich ausgefüllt. Mir fällt die damals oft gestell- te Frage ein, worin denn der Unterschied zwischen Mensch und Funktionär bestehe, mit der Antwort, es gäbe keinen, doch nicht jeder Funktionär wisse das. Werner Scheler ist in allen seinen Wirkungsbereichen stets Mensch ge- blieben. Er wusste und weiß, dass Wissenschaft zwar entsubjektivierte Ergeb- nisse zu liefern hat, sie jedoch von lebendigen Menschen mit ihren Vorzügen und Schwächen betrieben wird. Als die AdW von der Obrigkeit die Immobilien in der Prenzlauer Prome- nade zugesprochen bekam, in denen eine Gesundheitseinrichtung geplant und teilweise schon installiert war, hatte ich Differenzen mit dem Präsidenten. Als Vertreter der Gewerkschaft plädierte ich für die Erweiterung der Gesund- heitsversorgung, doch er hielt sich an die Vorgaben, alles für die Wissen- schaft zu nutzen. So konnte es zu Interessenkollisionen kommen, bei denen ich jedoch bemerkte, dass zwar die Pläne von Gewerkschaftern nicht immer auf seine volle Zustimmung stießen, doch Belange der Mitarbeiter immer of- fene Ohren fanden. Werner Scheler ist ein initiativreiches und aktives Mitglied unserer Sozi- etät. Als es darum ging, zum 300-jährigen Jubiläum unserer Sozietät eine wis- senschaftliche Konferenz zum Leibniztag 2000 zu veranstalten, auf der Zeitzeugen über die Berliner Akademie nach 1945 berichten sollten, nahm er die schwierige Aufgabe auf sich, ein interessantes Programm zu entwickeln, die Referenten zu gewinnen und half so mit, eine erfolgreiche Veranstaltung zu organisieren. Ein differenziertes Bild wurde gezeichnet, nachlesbar in den „Abhandlungen der Leibniz-Sozietät“. Sicher war es für den experimentierenden Forscher, den Lehrer und Leiter nicht leicht, sich nach der „Wende“ ein neues Aufgabengebiet mit der Aka- demiegeschichte zu erschließen. Interesse an Philosophie und Wissenschafts- geschichte hatte er schon immer. In persönlichen Diskussionen gingen wir diesem nach, unabhängig von der großen Akademiepolitik. Doch nun wurde 14 Herbert Hörz für ihn die Akademie, sein früheres praktisches Operationsfeld, zum Gegen- stand historischer Studien. Er zweifelte, ob die selbst gestellte Aufgabe zu be- wältigen sei. Ich denke an seine Bemerkung bei der Diskussion um den Entwurf der Akademiegeschichte: „Ich bin ja kein Historiker“. Doch akri- bisches Forschen war er gewohnt, Erfahrungen hatte er gesammelt, Materi- alien recherchierte er besser als manche Nachwendehistoriker, deren legendenbildender Enthüllungsliteratur er mit seiner Arbeit wirkungsvoll ent- gegen trat. So vollzog er seine eigene „Wende“ zum Akademiehistoriker, für ihn zur Freude und für uns zum Nutzen. Wir, das Präsidium und die Mitglieder der Leibniz-Sozietät, erhoffen uns von Werner Scheler noch viele Anregungen für unsere Arbeit und würden uns freuen, wenn er als Mitglied der Schiedskommission unserer Sozietät nichts zu tun bekäme. Ich wünsche uns und unserem Jubilar weiterhin die Kraft, so aktiv wie bisher am Leben der Sozietät teilzunehmen. Das Festkolloquium ist eröffnet. Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 15–21

Günter Pasternak

Begegnungen mit Werner Scheler

Die vergangenen 8 Jahrzehnte deutscher Geschichte waren eine politisch wechselvolle Zeit. Zu Beginn der zwanziger Jahre war dem verlorenen Ersten Weltkrieg die „Weimarer Republik“ gefolgt, das Kaiserreich existierte nicht mehr. Eine demokratische Entwick- lung schien im Bereich der Möglichkeiten. Jedoch braute sich gleichzeitig erneutes Unheil mit dem auf- kommenden Faschismus über Deutschland zusam- men. Werner Scheler ist zur Zeit der Weimarer Republik Günter Pasternak geboren. Die faschistische Machtübernahme 1933 er- lebte er als Kind. Die Bedeutung und die Folgen konn- te er noch nicht erfassen, wie es, trotz mahnender Stimmen, auch die meisten Erwachsenen nicht glauben wollten, dass, wer Hitler wählt, den Krieg wählt. Die neuen Machthaber versprachen Recht und Ordnung, natürlich ihr Recht und ihre Ordnung, und der folgende wirtschaftliche Aufschwung, von dem so viele angetan waren, diente der Vorbereitung des fürchterlichsten Krieges im 20. Jahrhundert. Werner Scheler war zum absehbaren Ende des 2. Weltkrieges gerade alt genug, um noch die Uniform anziehen zu müssen, er musste die Schrecken und Leiden miterleben, mit ansehen, wie auch unsere Städte zu Schutt und Asche gebombt wurden und das „tausendjährige Reich“ schließlich zugrunde ging. Die Erfahrungen des Krieges, das Nachdenken über das Ursächliche des Geschehens haben, wie Werner Scheler in seiner Biographie schildert, seine spätere Einstellung zu gesellschaftlichen und politischen Fragen nachhaltig geprägt: nie wieder Krieg und den Aufbau eines neuen, friedlichen Deutsch- lands, befreit vom Kapitalismus! Werner Scheler studiert, nachdem er verschiedene Arbeiten angenommen hat, Medizin in , wo er 1951, zwei Jahre nach Gründung der DDR, das 16 Günter Pasternak

Staatsexamen „Mit Auszeichnung“ besteht und im selben Jahr zum Dr. med. promoviert. In diesem Jahr begegnete ich erstmals dem Dr. Scheler, der in Berlin-Buch in der Pharmakologischen Abteilung von Prof. Jung tätig war. Ich arbeitete im selben Haus als Praktikant nach dem Abitur bei Prof. Graffi und bewunderte die Ärzte und Wissenschaftler, die mit ihren Experimenten in unerforschte Gebiete vorstoßen konnten und denen ich es vielleicht einmal nachmachen würde. Unsere Kontakte beschränkten sich damals möglicher- weise auf einen kurzen Gruß auf den Korridoren des Instituts. Wenige Jahre später traf ich Werner Scheler wieder während meines Me- dizinstudiums im Pharmakologischen Institut der Humboldt-Universität. Werner Scheler war für die Vorlesung zum „Rezeptierkurs“ verantwortlich. Die Studenten lernten bei ihm jedoch nicht nur, wie ein Rezept geschrieben werden muss, sondern hörten auch vieles über die Wirkungsweise und die Darreichungsformen von Arzneimitteln. Das Thema gehörte zu den obligato- rischen Vorlesungen, zu denen die Studenten vollzählig erschienen, denn die Bestätigung der Teilnahme war mit einer Klausurarbeit verbunden, in der ein Rezept geschrieben werden musste. Mir fiel besonders die Exaktheit, die akribische Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit auf, mit der Werner Scheler die Grundlagen der praktischen Arzneibehandlung vermittelte. Im Gegensatz zu Fritz Jung, dessen sprunghaftes und unberechenbares Verhalten gefürchtet war, hatte Werner Scheler den Ruf eines angenehmen, sachlichen und kor- rekten Prüfers für das Gebiet Pharmakologie zum Staatsexamen. Werner Schelers Wirken in Berlin-Buch Anfang der fünfziger Jahre, sein Ruf als forschender Pharmakologe am Berliner Institut, sein Schaffen als stu- dentischer Lehrer und später als Rektor der Greifswalder Universität und Di- rektor des dortigen Pharmakologischen Instituts waren für die Forschungs- einrichtungen der Akademie in Berlin-Buch ausschlaggebend, ihn in kri- tischer Zeit an diesen Ort „als Retter in der Not“ zu rufen. Die Akademie be- fand sich Anfang der siebziger Jahre im Zustand der „Reform“, der Bildung von „Großforschung“, der Neuordnung von Leitungsstrukturen, eingeleitet in den Bucher Instituten durch die Etablierung eines ehemaligen Generals der NVA-Militärmedizin als Direktor der dort befindlichen biomedizinischen Akademie-Institute. Als dieser General sich der Belegschaft mit den Worten vorstellte, „ich bin Arzt, ich bin Soldat, ich bin Kommunist“, rief er eisiges Schweigen hervor. Skepsis zeigte sich auf den Gesichtern der Zuhörer bei der Verkündung seines Arbeitsmottos „geht nicht – gibt’s nicht und Erfolg ist Pflicht“. Das Bleiben des Generals in Buch war nicht von langer Dauer. Nachdem ihn zwei Genossen Institutsdirektoren bei den Dienstberatungen Begegnungen mit Werner Scheler 17 mittels zivilem Ungehorsam boykottierten, konnte er nicht mehr im Amt ge- halten werden. Werner Scheler, 1970 durch den Akademiepräsidenten Her- mann Klare berufen, trat als Wunschkandidat der Bucher Institutsdirektoren die Nachfolge an. Die Erfahrungen Werner Schelers in den ersten Jahren in Berlin-Buch kenne ich nur aus seinen späteren Erzählungen. Er charakterisiert diese Zeit als die schwierigste bei seinen wissenschaftsleitenden Aufgaben. So sehr ihn die Mehrzahl der Bucher Direktoren herbeigewünscht hatte, empfingen ihn jedoch nicht alle mit offenen Armen, legten ihm statt dessen oft Steine in den Weg. Seine bescheidenen Ansprüche an Räume für seine Arbeitsgruppe und für die Leitungsmannschaft stießen in den Instituten auf erheblichen Wider- stand. Erst Jahre später stand eine in Leichtbauweise errichtete zweigeschos- sige Baracke, in der die Mitarbeiter der Leitung des inzwischen gebildeten Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin und einige Labors der Arbeitsgruppe von Werner Scheler untergebracht waren. Werner Scheler hatte sich als Leiter durchgesetzt, galt als geschickter Wissenschaftsorganisa- tor und war gleichzeitig als erfolgreicher Wissenschaftler anerkannt. Es kam für mich überraschend, als ich Ende 1978 zu einem Gespräch mit Werner Scheler geladen wurde. Abgesehen von meinem akademischen Leh- rer Arnold Graffi, hatten sich die Direktoren der Institute wenig um mich und meine Arbeitsgruppe gekümmert, die aus einem halben Dutzend wissen- schaftlicher und technischer Mitarbeiter bestand. Werner Scheler eröffnete mir seinen Wunsch, mich in seiner Nachfolge zu sehen, da er für das Amt des Präsidenten vorgesehen sei. Die Begründung für seine Entscheidung trug er mir so plausibel und überzeugend vor, dass mir eine Ablehnung unmöglich war. Werner Scheler übertrug mir ein durch ihn gebildetes, funktionierendes Forschungszentrum, das aus 11 biowissenschaftlichen und medizinischen Zentralinstituten und anderen Einrichtungen der Akademie in Berlin, , Jena, Gatersleben und Potsdam-Rehbrücke mit mehr als 4000 Mitarbeitern bestand. Es waren, wie man heute abwertend urteilt, zentralistische Leitungs- strukturen. Doch beeinträchtigten sie im wesentlichen nicht die souveränen Entscheidungsbefugnisse der Institutsdirektoren. Jedenfalls war das For- schungszentrum und seine Institute weit davon entfernt, als „Kommando- strukturen“ zu gelten, wie sie sich vielleicht ein General gern vorgestellt hätte. Werner Scheler hatte großen Anteil an dem kollegialen Umgang, der unter den Institutsdirektoren herrschte und der offenen Atmosphäre beim wis- senschaftlichen Gedankenaustausch. 18 Günter Pasternak

Werner Scheler hat mich zunächst als seinen Stellvertreter in das Amt des Forschungszentrums-Direktors eingeführt. Die häufigen gemeinsamen Insti- tutsbesuche, besonders zu den Rechenschaftslegungen zur Forschungsarbeit, sind mir in bester Erinnerung. Institutsdirektoren, Bereichs- und Abteilungs- leiter legten dabei auf der Grundlage ihrer schriftlichen Berichte Rechen- schaft zu den erarbeiteten Forschungsergebnissen ab. Die erhaltenen wissenschaftlichen Informationen und die Diskussionen waren von unschätz- barem Wert für die Erweiterung des Wissens und für eine fruchtbare Zusam- menarbeit. Während der meist eintägigen Veranstaltungen wurden Wissenschaftler in ihren Labors aufgesucht und über ihre Arbeit und Pro- bleme befragt. Mein erster gemeinsamer Institutsbesuch fand Mitte Januar 1979 statt. Im Zentralinstitut für Ernährung in Potsdam-Rehbrücke wurde Werner Scheler nach der Sitzung, d. h. der offiziellen Rechenschaftslegung, in den Labors mit Neuentwicklungen bekannt gemacht, die das Lebensmittelange- bot in der DDR bereichern sollten. Während sich ein Mitarbeiter bemühte, grüne Tomaten zu Zitronat umzuwandeln, hatte sich ein anderer damit be- schäftigt, Proteine enzymatisch so zu verändern, dass die daraus entstandene braune Brühe als Fleischaromakonzentrat Verwendung finden sollte. Als ihn Werner Scheler fragte, ob er den Extrakt schon einmal zu Hause ausprobiert habe, antwortete der Mann entsetzt: „Um Gottes Willen, nein!“. Die Kostpro- be eines Schmelzkäses mit künstlichem Aroma konnte ich mir verkneifen, während von Werner Scheler, wie erwartet, ein positives Urteil nach der Ver- kostung geäußert wurde. Zum Glück für die Ernährungsforscher waren wir schon eine Stunde auf der Fahrt nach Jena, als Werner Scheler über einen unangenehmen Nachgeschmack in seinem Mund klagte. Das Käsearoma be- saß offensichtlich eine unauslöschliche Langzeitwirkung. Wenige Jahre später trafen wir, Werner Scheler war bereits Präsident der Akademie, in demselben Institut mit dem Landwirtschaftsminister zusam- men. Zu den vielseitigen behandelten Themen gehörte auch die Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ zu verbessernden Brötchen, zu der die Ernäh- rungsforscher beitragen sollten. Als Vergleichsobjekt dienten die knusprigen und länger frisch bleibenden Produkte westdeutscher Bäcker, von denen eini- ge Teilnehmer der Runde mehr als gehört hatten. Der Direktor des Zentralins- tituts versprach rasche Lösung des Problems durch Zusatz von Enzymen zum Teig, was allerdings den Preis der Brötchen von 5 DDR-Pfennigen auf etwa 8 angehoben hätte. „Das können wir uns nicht leisten, bei der Preiserhöhung würden die Leute auf die Barrikade gehen“, beendete der Minister die Dis- Begegnungen mit Werner Scheler 19 kussion zu der Frage. Zu dieser Zeit ahnte kaum jemand, weshalb die Leute einige Jahre später auf die Barrikade gehen würden. Werner Scheler war Präsident einer Akademie mit mehr als 25 000 Mit- arbeitern geworden, die in etwa 50 Instituten und anderen Einrichtungen ar- beiteten und gleichzeitig einer Gelehrtengesellschaft, die aus 10 disziplinär gegliederten Klassen bestand. Ich will nicht über Strukturen und Organisati- onsformen sprechen, zu denen in der gegenwärtigen Zeit zahlreiche Beiträge mit widersprüchlichen Auffassungen publiziert worden sind. Werner Scheler als leitende Persönlichkeit, Wissenschaftler und politisch engagierter Mensch hatte Verantwortungen, die die Gesellschaft in verschiedenen Bereichen, vor allem der Wissenschaft und Wirtschaft berührten. Die größte Herausforde- rung kam von Seiten der Politiker, die die Akademie seit den siebziger und vor allem den achtziger Jahren zunehmend für die Lösung von Tagesproble- men der Industrie einzusetzen gedachten. Damals sprach man von dem von der Akademie erwarteten notwendigen „Ruck nach vorn“, eine von der Partei ausgegebenen Parole. In vielen Präsidiumssitzungen betonte Werner Scheler die Verantwortung der Akademie für die Grundlagenforschung in der DDR und brachte in den Jahresberichten der Akademie an die Regierung zum Aus- druck, dass volkswirtschaftlich nutzbare Ergebnisse vor allem auf langfristi- ger Grundlagenforschung basieren. Andererseits stellte er die Zusammen- arbeit von Akademie und Volkswirtschaft als strategische Frage dar, aber nicht die Akademie als Dienstleistungseinrichtung der Industrie. Sogenannte „Kombinatsbeauftragte“ der Akademie sollten die Zusammenarbeit koordi- nieren. Es gibt Beispiele dafür, wie einseitig diese Zusammenarbeit war. Werner Scheler berichtete 1982 im Präsidium, dass das Kombinat „Carl- Zeiss Jena“ die Ausstattung der Akademie mit Geräten ablehnt, da das Werk ausschließlich für den Export arbeitet. Als Präsident hatte Werner Scheler Optimismus auszustrahlen, als Wis- senschaftler Realismus und als Mensch Verständnis für die Sorgen seiner Mitarbeiter. Er selbst kann zuhören, erteilt Ratschläge und trifft Entschei- dungen. Doch wer hilft ihm bei der Bewältigung seiner Probleme? Die Präsi- diumsmitglieder hatten eher Forderungen, als dass sie sich mit Problemen des Präsidenten befassen wollten. Der Parteisekretär, der den Platz neben dem Präsidenten bei Präsidiumssitzungen einnahm, beanspruchte die Führungs- rolle, nicht allein die politische. Werner Scheler hatte zwar für Akademiean- gelegenheiten Mitspracherecht im Ministerrat, saß damit an der Seite des Ministers für Wissenschaft und Technik, der ein besonderes Interesse für die Akademie hatte, andererseits hatte dieser als Stellvertreter des Vorsitzenden 20 Günter Pasternak des Ministerrats wahrscheinlich auch Weisungsbefugnis gegenüber dem Akademiepräsidenten – eine komplizierte Leitungsstruktur, die viele Rei- bungsflächen zur Folge hatte. Wenn dann auch noch die Partei in rein wissen- schaftliche Fragen hineinredete, waren Konflikte vorprogrammiert. Sicherlich erklären sich auch gerade daraus die Ernsthaftigkeit, Sachlich- keit und Objektivität, die für Werner Scheler bei den Akademieveranstaltun- gen charakteristisch waren. Souverän verbarg er die sicherlich zwiespältigen Gefühle. Der Besuch Erich Honeckers im Präsidium wie auch die jährlichen Rechenschaftslegungen zum Leibniztag vor Kurt Hager waren für den Präs- identen durchaus keine Anlässe für Besinnlichkeit, sondern Ergebnis harter Arbeit und psychische Belastung. Über mehrere Jahre hatte ich die Pflicht der Teilnahme an den jährlichen Veranstaltungen zur Rechenschaftslegung der Forschungsbereichsleiter vor dem Präsidenten. Der Ort der Veranstaltungen, die in Klausur stattfanden, wechselte jährlich, was zur Attraktivität beitrug. In den achtziger Jahren wa- ren wir beispielsweise für drei Tage im „Künstlerheim Wiepersdorf“, im Schloss derer von Arnim, das ein wunderbarer Tagungsort ist. Manfred Peschel, damals Bereichsleiter für die Mathematik, fragte mich gleich an- fangs, warum der Präsident kein entsprechendes Objekt für die Akademie be- sitzen würde und beantwortete die Frage dann selbst mit den Worten, „weil die Akademie im Vergleich zu den Künstlern zu wenig Dissidenten hat“. Wir ahnten aber nicht, dass Jahre darauf aus der Akademie führende Politiker der Bundesrepublik erwachsen würden, damals noch Dissidenten im Verbor- genen. Mir gefielen in Wiepersdorf die Sprüche an den Wänden, zu denen sich vielleicht die Mitglieder der Arnimfamilie bekannt hatten, vielleicht hatte di- ese auch Werner Scheler vor der Veranstaltung gelesen. Dort heißt es: „Dem Zuschauer ist keine Arbeit zu viel“ und „Einer acht’s, der Andre belacht’s, was macht’s“ oder „Wer lobt in praesentia, und schilt in absentia, den hol’ pestilentia“. „Wenn abends der Präsident den Schlips ablegt, beginnt der gesellige Teil der Veranstaltung“, hieß es in der Runde der Forschungsbereichsleiter. Es blieb bis Mitternacht noch ausreichend Zeit, bei einigen Gläsern Wein die Sprüche zu kommentieren oder anderweitig die Härte der Auseinanderset- zungen des Tages zu entschärfen. Den stets anwesenden Vertreter des Ministeriums für Wissenschaft und Technik tangierten die Fachdiskussionen offenbar wenig. Er schlief bereits Begegnungen mit Werner Scheler 21 am Vormittag trotz erhitzter Debatten mehrmals schnarchend ein. Was mag er seinem Minister erzählt haben?! Anfang Oktober 1989 kehrten Werner Scheler und ich von einer Beratung mit dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft in München nach Berlin zurück. Wir beide waren von Nachrichten schockiert, die uns in seinem Haus erreichten. Für Werner Scheler war es die Nachricht von dem Rücktritt Erich Honeckers als Staatsratsvorsitzender, dessen Konsequenzen in der ange- spannten politischen Lage in der DDR unabsehbar schienen. Mich erreichte die Nachricht mit der Gewissheit über die tödliche Erkrankung meines Sohnes. Wir haben uns an dem Tag schweigend verabschiedet. Die folgende Zeit stellte vieles Vorherige in Frage. Für Werner Scheler sollten schwierige Tage kommen, die am Ende mit dem neuen politischen System einen erneu- ten Umbruch in seinem Leben bedeuteten. Es gab viel Hass, aber auch Ver- ständnis und Beistand der Mitarbeiter in dieser kritischen Zeit, als nur wenige ahnten, dass mit der Abwicklung der Akademieinstitute nicht nur die alte Struktur zerstört werden, sondern auch der größte Teil der Wissenschaftler seine Arbeit verlieren würde. 1990 wurde Werner Scheler durch den Ministerpräsidenten der DDR von seiner Funktion als Präsident der Akademie der Wissenschaften entpflichtet und beschäftigt sich seitdem als Emeritus mit Akademiegeschichte und der Geschichte seines Fachgebietes, der Pharmakologie. Sein Wirken an der Akademie wird nicht in Vergessenheit geraten. Ich war sehr erfreut zu sehen, dass die Berlin-Brandenburgische Akademie sein Porträt im Foyer des 1. Stocks des Akademiegebäudes zeigt, neben dem des Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, 1746 Präsident der Akademie, und aus der DDR den anderen Akademie-Präsidenten. Die Freundschaft, die mich mit Werner Scheler und seiner Frau Inge ver- bindet, beruht sowohl auf gleichen Interessen, die sich aus unserer beruf- lichen und weltanschaulichen Entwicklung ergeben haben, als auch auf gemeinsamen Wertevorstellungen zum Zusammenleben der Menschen. Un- sere Begegnungen waren für mich stets anregend und eine Bereicherung meines Wissens. Ich wünsche Dir noch viele Jahre geistige und körperliche Kraft bei Dei- ner Arbeit und genug Zeit und Muße für Deine Familie und die zahlreichen Freunde. Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 23–36

Adolf Grisk & Hansgeorg Hüller

Gemeinsame Jahre an der Universität Greifswald1

In der Zeit von 1959 bis 1971 wirkte Werner Scheler als Hochschullehrer und Forscher sowie als Prorektor für den wissenschaftlichen Nach- wuchs und als Rektor an der Ernst-Moritz-Arndt-Universi- tät Greifswald. Der Ruf an die im Jahre 1456 gegründete Uni- versität war für ihn sowohl Hans-Georg Hüller Ehre wie Herausforderung. Adolf Grisk Über seiner Berufung nach Greifswald könnte ein Wort von Ernst-Moritz-Arndt gestanden haben, der in seiner „Erinnerung aus dem äußeren Leben“ (1840) forderte „...durch Auf- nahme junger Männer in den Lehrkörper der Universität Belebung und Erre- gung in den Greifswalder Schlaf zu bringen!“ Diese Worte hatten wohl ihre Wirkung auch auf die medizinische Fakultät nicht verfehlt, denn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkten an ihr Gelehrte, wie Paul Grawitz, Friedrich Loeffler, August Bier, Ferdinand Sauerbruch, Felix Hoppe-Seyler, Wilhelm Steinhausen, Gerhard Katsch.

Direktor des Pharmakologischen Instituts

Zum 15. September 1959, drei Tage nach seinem 36. Geburtstag, erfolgte die Berufung von Werner Scheler als Professor mit Lehrauftrag für Pharmakolo- gie und seine Ernennung zum Direktor des Pharmakologischen Institutes. Am 1. Januar 1961 wurde er Professor mit vollem Lehrauftrag und ein Jahr später

1 Gekürzte Fassung des Beitrages, vorgetragen von A. Grisk 24 Adolf Grisk & Hansgeorg Hüller

Professor mit Lehrstuhl. Zwar traf der „junge Mann“ bei seiner Berufung auf keinen „schlafenden Lehrkörper“ in der medizinischen Fakultät, doch an ei- ner „Belebung und Erregung“ von Lehre und Forschung wollte er schon kräftig mitwirken. Was fand er bei seinem Dienstantritt 1959 vor? Er kam in ein Institutsgebäude, in den Jahren 1860–62 erbaut, das einer dringenden Sanie- rung und Umgestaltung be- durfte. Sodann begegnete er einer abwartend-skeptischen jedoch willigen Mitarbeiter- schaft, die auf die neuen Auf- gaben vorzubereiten war, und in der es besonders an Medizi- nern fehlte. Des weiteren gab es eine unzureichende gerätet- echnische Ausstattung der La- boratorien, jedoch eine leistungsfähige mechanische und eine gute Glasbläser- Werkstatt. Und schließlich traf Werner Scheler auch auf ge- wisse Vorbehalte aus Reihen der Medizinischen Fakultät zu seiner Berufung nach Greifs- Gebäude des pharmakologischen Instituts der Univer- wald. – Gegen diese Schwie- sität Greifswald rigkeiten galt es anzugehen. Was hatte der neue Pharmakologe im Umzugsgepäck? Als Erstes baute er auf seine wissenschaftlichen Kenntnisse und Lehrerfah- rungen aus seiner Assistenten- und Dozentenzeit in Berlin. Ferner trug er die besten Wünsche und Ratschläge seines Lehrers Fritz Jung mit sich. Als Wei- teres brachte er Ideale und Eigenschaften mit, die er auch von seinen Mitar- beitern verlangte, wie Fleiß, Neugier, Freude am Suchen und Entdecken, Abstraktionsvermögen, absolute Ehrlichkeit und Ordnung. Außerdem packte Gemeinsame Jahre an der Universität Greifswald 25 er auch einige materielle Dinge aus, wie diverse Leihgeräte, Chemikalien und eine umfangreiche Literatursammlung. Was wollte er erreichen? Zuvorderst ging es ihm um eine fundierte pharmakologische Ausbildung von künftigen Ärzten, Zahnärzten und Pharmazeuten, stellen doch Arzneimittel für die meisten Krankheiten das wichtigste Rüstzeug zu ihrer Behandlung dar. Sein Augenmerk galt zweitens der wissenschaftlichen Qualifizierung seiner wissenschaftlichen und technischen Mitarbeiter und ihrer Motivierung, gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen. Eng mit beiden Zielen ver- bunden war sein Bestreben, auf speziellen Gebieten der Grundlagenfor- schung zu neuen Erkenntnissen über die molekularen Mechanismen biologischer Wirkungen beizutragen und zugleich Ergebnisse für die pharma- zeutische Industrie und die Medizin nutzbar zu machen. Was wurde erreicht? Mit Unterstützung durch die Organe der Universität gelang es ihm Schritt für Schritt eine Reihe baulicher Maßnahmen zu realisieren, um die Vorausset- zung für die Forschung und die studentische Ausbildung zu verbessern. Dazu gehörten u.a. die Errichtung und Ausstattung eines modernen Isotopenlabors, die Erweiterung der Laborkapazitäten und die Verbesserung der sozialen Be- dingungen für das Personal. Damit verbunden war der Ausbau der Tierställe für Groß- und Kleintiere, die Einrichtung einer elektronischen Werkstatt und die Verstärkung der feinmechanischen Werkstatt und der Glasbläserei. Da die Mittel für kommerzielle Forschungsausrüstungen und die Devisen für Ge- räteimporte begrenzt waren, kam diesen Maßnahmen eine vorrangige Bedeu- tung zu. Zudem vertrat Werner Scheler den Standpunkt, dass methodischer Fortschritt ein wesentlicher Vorläufer des Erkenntnisfortschritts ist. In Zusammenarbeit mit den beiden Physikern am Institut schufen die Werkstätten in wenigen Jahren zahlreiche Geräte für die biophysikalisch-bi- ochemischen und für die physiologisch-pharmakologischen Laboratorien, wie einen Monochromator zur Registrierung kinetischer Vorgänge, einen Kurzzeitspektrographen, Fraktionssammler, Elektrophoresegeräte, Infusi- onspumpen, Beatmungspumpen für Tierversuche etc. Hinzu kam die Be- schaffung von Geräten aus der DDR-Produktion sowie einiger Importe, wie einer analytischen Ultrazentrifuge, eines registrierenden Spektralphotometers und dgl. mehr. 26 Adolf Grisk & Hansgeorg Hüller

Die materiell-technische Basis des Instituts war indessen nur die notwen- dige Voraussetzung für die Gewinnung und Qualifizierung engagierter Mit- arbeiter. In mehreren medizinisch-theoretischen Instituten mangelte es unter dem wissenschaftlichen Personal besonders an Medizinern. In Greifswald kam er- schwerend hinzu, dass die Studenten aus der militärmedizinischen Sektion nach Abschluss ihres Studiums in klinische Einrichtungen und in Truppen- teile der Nationalen Volksarmee delegiert wurden. So blieb auch für Werner Scheler keine andere Wahl, frei werdende Assistentenstellen mit Naturwis- senschaftlern zu besetzen. Er machte aus dieser Zwangslage eine Tugend, und so erhielt die Greifswalder Pharmakologie ein Profil mit einer starken na- turwissenschaftlich-molekularpharmakologischen Prägung. Zugleich sorgte er dafür, dass unter meiner Leitung eine physiologisch-pharmakologische und unter Leitung von Hansgeorg Hüller eine klinisch-pharmakologische Ab- teilung entstanden. Damit war das Institut fähig, alle für die experimentelle und klinisch-pharmakologische Erforschung von Wirk- und Arzneistoffen er- forderlichen Untersuchungen gewährleisten zu können. Wie wurden die Mitarbeiter befähigt? Ein Credo Werner Schelers war: Ein Institut ist nur so gut wie seine Mitarbei- ter es sind. In der Festrede anlässlich seiner Ehrenpromotion in Greifswald am 15. Oktober 1981 resümierte er: „Wissenschaftliches Gespür erwächst vor allem aus logischer Systematik bei der geistigen Erschließung des Fachge- bietes und seiner Beziehung zu anderen Disziplinen unter Verfolgung der Forschungstrends und einer planvollen Strategie!“ So war die Qualifizierung und Weiterbildung seiner wissenschaftlichen und technischen Mitarbeiter eines seiner wichtigsten Anliegen. Um vor allem bei den Naturwissenschaftlern unter den Assistenten das Verständnis für das Fachgebiet der Pharmakologie zu fördern, war es für sie ein Obligatum, seiner Hauptvorlesung beizuwohnen. Für alle wissenschaft- lichen Mitarbeiter gab es wöchentliche Arbeits- und Literaturbesprechungen, ergänzt durch Referiertätigkeit für Zeitschriften, Unterrichtungen in Biosta- tistik und anderen methodischen Gebieten sowie in englischer Sprache. So- wohl ich wie Kollege Hüller wurden zwecks Erweiterung unserer Arbeitstechniken zu längeren Studienaufenthalten ins Ausland geschickt. An- dere nahmen an speziellen Qualifizierungsmaßnahmen teil. Und immer wieder stellte uns der Chef vor Bewährungssituationen. Bei mir begann das kurz nach meinem Wechsel vom Berliner an das Greifswalder Institut. Ich hatte meinen Koffer noch nicht richtig ausgepackt – ein Zimmer Gemeinsame Jahre an der Universität Greifswald 27 hatte ich noch nicht, weswegen ich mich in einem Labor einquartiert hatte –, da erhielt ich den Auftrag, den Rezeptierkurs im gerade angelaufenen Früh- jahrssemester zu halten. Diese Aufgabe war für mich so neu wie das Institut. Dank der Hilfe eines Pharmazeuten am Institut konnte ich den Kurs einiger- maßen erfolgreich absolvieren. Die nachhaltige Wirkung bestand jedoch dar- in, dass ich vor neuen und größeren Aufgaben nicht mehr zurückschreckte. Ähnlich erging es Hansgeorg Hüller. Vor kurzem erst zur Facharztausbil- dung an das Institut delegiert, wurde er mit der Vorlesung „Pharmakologie für Pharmazeuten“ betraut, und das mit Erfolg. Ganz im Vordergrund stand jedoch die Forderung Werner Schelers an sei- ne Assistenten, sich durch Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften und durch Kongressvorträge in der Fachwelt auszuweisen. Ein Blick auf die wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Instituts in den Jahren von 1959 bis 1971 legt Zeugnis vom Erfolg seiner Bemühungen ab. In dieser Zeitspan- ne promovierten am Institut etwa 50 Absolventen, 5 Wissenschaftler habili- tierten sich (jeweils Mediziner und Naturwissenschaftler). Nicht zuletzt war dieses Herangehen an die Ausbildung von Wissen- schaftlern ein Grund dafür, dass Werner Scheler von 1961 bis 1963 zum Pro- rektor für den wissenschaftlichen Nachwuchs der Universität berufen wurde. In dieser Aufgabe sah er seine Verantwortung in der inhaltlichen Qualifi- zierung und der Entwicklung von Eigeninitiative der jungen Wissenschaftler, nicht dagegen in der Erfüllung irgendwelcher formalen Förderprogramme. So äußerte er sich einmal: „Kaderentwicklungsprogramme sind nützlich, aber der staatliche Leiter muss nicht für alles gerade stehen. Es gibt auch keinen Freifahrtschein für den Aufstieg und keine Garantieurkunde für ein Amt!“ Zu einer Wissenschaftlerpersönlichkeit gehörten für ihn sowohl der Ausweis ho- her fachlicher Leistungen wie gleichermaßen die gesellschaftliche Wirksam- keit in ihrer Einheit. Spezialistentum ja, aber nicht „Fachidiotie“. Pflege von Beziehungen zu anderen Disziplinen und zur Praxis Werner Scheler vertrat in hohem Grade das Prinzip der Universitas littera- rum. Dafür zeugen die vielfältigen Beziehungen, die er innerhalb der Univer- sität pflegte, insbesondere zu anderen medizinischen und zu den naturwissenschaftlichen Disziplinen. Darüber hinaus gab es Verbindungen zum Tierseucheninstitut der Insel Riems, dem Zentralinstitut für Diabetes in Karlsburg ferner zu Forschungsgruppen in Berlin und Leipzig und nicht zu- letzt auch zur pharmazeutischen Industrie (Firma Apogepha in Dresden, Arz- neimittelwerk Dresden, Berlin-Chemie, Fahlberg List in Magdeburg, Jenapharm in Jena, und Isis-Chemie in Zwickau). 28 Adolf Grisk & Hansgeorg Hüller

Zeitweise war er Vorsitzender des Greifswalder „Medizinischen Ver- eins“, und seiner Initiative entsprang auch die Bildung des „Biochemischen Arbeitskreises“ der Greifswalder medizinisch-theoretischen Institute ein- schließlich der Institute auf Riems und in Karlsburg. Geplant hatte er weiterhin die Bildung eines Forschungsschwerpunktes „Arzneimittelwissenschaften“, in dem Pharmakologen, Mikrobiologen, Phar- mazeuten und Chemiker zusammengeführt werden sollten. Das Vorhaben kam leider nicht zum Tragen, andere Programme erhielten den Vorzug. Wie war das Institut für die Lehraufgaben gerüstet? Die Ausgangssituation war ungünstig: Für ca. 230 Stunden Lehrveranstaltun- gen stand nur ein Hochschullehrer mit Lehrauftrag, später mit vollem Lehr- auftrag zur Verfügung. Deshalb wurden, entsprechend ihrer Eignung und den Erfordernissen, die wissenschaftlichen Assistenten in den Ausbildungspro- zess einbezogen. Erst nach der Habilitation von Kollegen Hüller und mir sowie mit unser beider Berufung zu Dozenten und Professoren war der Lehrkörper des Insti- tuts ausreichend besetzt. Das inzwischen umbenannte Institut für Pharmako- logie und Toxikologie sah 1969 drei Lehrstühle vor: Für „Allgemeine und Spezielle Pharmakologie für Mediziner“, für „Experimentelle Pharmakologie und Toxikologie für Zahnmediziner und Naturwissenschaftler“ sowie für „Klinische Pharmakologie für Mediziner, Zahnmediziner und Pharmakologie für Pharmazeuten“. Doch diese Lehrstuhlstruktur, die für das Institut und uns beide eine hohe Anerkennung bisheriger Arbeit war, hatte nur kurze Gültigkeit. Bereits im Oktober 1970 informierte uns der Chef über seinen bevorstehenden Wechsel nach Berlin, um an der Akademie der Wissenschaften eine leitende Funktion zu übernehmen. In seinem Vorschlag an den Rektor sprach er sich für die Bei- behaltung der Institutsstruktur aus. Doch statt dessen wurde, dem damaligen Trend folgend, 1973 die selbständige Abteilung für Klinische Pharmakologie aus dem Institutsverband ausgegliedert. Heute existiert in Greifswald wieder die Struktur, die seinerzeit von Werner Scheler empfohlen wurde. Zum akademischen Unterricht am Institut In der Zeit, in der Werner Scheler am Institut wirkte, vollzogen sich unter sei- nem Ordinariat vier wesentliche Veränderungen des akademischen Unter- richts. Das war zum einen die Herausbildung der „Allgemeinen Pharmakologie“ als wissenschaftliche Teildisziplin der Pharmakologie, das war zum anderen die anschauliche Vermittlung des Stoffes durch die Abhal- Gemeinsame Jahre an der Universität Greifswald 29 tung eines Pharmakologischen Praktikums, das war drittens die Einführung der „Klinischen Pharmakologie“ als Lehr- und Forschungsgebiet am Institut, und das war schließlich auch noch die Initiierung und Vorbereitung der Stu- dienrichtung „Experimentelle Pharmakologie und Toxikologie“ (EPT). Werner Schelers besonderes Interesse im Fach galt zweifelsohne der „All- gemeinen Pharmakologie“. Dem lag ein Leitsatz von ihm zugrunde: „Jedes Fach muss aus der Fülle des Stoffes Verallgemeinerungen bringen und die Methodik dazu schaffen!“. Hier – wie auch in der Forschung – zeigte sich in ihm der Systematiker. Die Pharmakologie ist ein ausgesprochen umfang- reiches Gebiet mit einer nur schwer zu überschauenden Zahl von Arzneimit- teln und sonstigen Wirkstoffen. Umso notwendiger erschien es ihm, aus der Vielzahl von Fakten und Phänomenen allgemeingültige, wissenschaftlich be- legte und praktisch anwendbare Verallgemeinerungen zu vermitteln. Zu der von ihm eingeführten Vorlesung der „Allgemeinen Pharmakologie“, die im Zuge der Hochschulreform verbindlich für alle medizinischen Fakultäten wurde, ent- stand, von seiner Umgebung kaum be- merkt und ohne jeden Arbeitsurlaub das Manuskript zu seiner Monografie: „Grundlagen der Allgemeinen Pharmako- logie“. Das gezielte Referieren ausge- wählter wissenschaftlicher Publikationen in den Literaturbesprechungen und an die Assistenten in Auftrag gegebene Versuche zur Resorption, Verteilung oder zur wie- derholten Gabe von Arzneistoffen usw. dienten der Abrundung seiner Arbeiten an Werner Scheler während einer Vorle- dem Manuskript. 1969 erschien die 1. sung 1962/63 Auflage seines Lehrbuches beim Gustav Fischer Verlag Jena und Stuttgart, und es erfuhr in den Rezensionen seiner Fachkollegen in Ost und West eine einhellige Würdigung. Allein diese Leis- tung wäre Grund genug gewesen für die an ihn im Jahre 1970 ergangene Aus- zeichnung mit dem Nationalpreis für Wissenschaft und Technik II. Klasse. Überarbeitete Neuauflagen erschienen 1980 und 1989. Die Pharmakologie erfordert zu ihrer Aneignung ein beträchtliches Vor- stellungs- und Abstraktionsvermögen. Deshalb wurde von jeher nach Lös- ungen gesucht, den akademischen Unterricht anschaulich zu gestalten. Die 30 Adolf Grisk & Hansgeorg Hüller

Lösungen reichten von Vorlesungsversuchen über Filme bis zur Videotech- nik der heutigen Zeit. Ein Praktikum in der Pharmakologie ist bis auf den heu- tigen Tag umstritten; oft wird mit Personalmangel, einem hohen Arbeitsaufwand und mit dem Tierschutzgesetz eine Scheinargumentation ge- führt. Wir ließen uns hingegen vom didaktisch-pädagogischen Wert selbst durchgeführter Experimente und einem ethischen Gesichtspunkt leiten: „Der die Universität verlassende Arzt soll die Wirkung eines differenten Medika- mentes nicht erstmalig am Patienten ausprobieren!“ So wurden bereits existierende Versuchsanordnungen aktualisiert, Scree- ning-Methoden aus der laufenden Arbeit adaptiert und noch fehlende, aber notwendige Versuchsanordnungen erarbeitet. Es entstand eine umfangreiche Sammlung von Versuchen mit genauer Anleitung zu deren Durchführung und Auswertung, die in Studentengruppen parallel zur Vorlesung durchgeführt wurden. 1969 erschien mein „Praktikum der Pharmakologie und Toxikolo- gie“ beim Fischer-Verlag Jena. Es fand im In- und Ausland seine Verbreitung und Akzeptanz. An die Stelle eines vorlesungsbegleitenden Praktikums sind heute audiovisuelle Hilfsmittel auf PC-Basis getreten. Geblieben ist seine Be- deutung als unverzichtbares Methodenbuch für die Ausbildung von Biophar- makologen und Fachärzten für Pharmakologie und Toxikologie. 1966 veranlasste Werner Scheler die Vorbereitungen am Institut für das Fach „Klinische Pharmakologie“. Deren Ziel sollte es sein, durch eingehende klinisch-pharmakologische Forschungen die Arzneimittelsicherheit zu erhö- hen und während der Ausbildung die klinisch-therapeutischen Kenntnisse der künftigen Ärzte zu vertiefen. Auf Basis der Morbiditätsstatistik und nach Konsultation klinischer Fachvertreter und praktischer Ärzte wurden die Schwerpunkte der Lehrveranstaltung abgeleitet und Hansgeorg Hüller mit ih- rer Durchführung betraut. Im Zuge der Entwicklung dieses Teilgebietes der Pharmakologie wurde 1973 die „Klinische Pharmakologie“ als selbständige Abteilung am Institut geführt, aus der das spätere „Institut für Klinische Phar- makologie“ hervorging. Jetzt noch einige Worte zur Konzipierung der Studienrichtung „Experi- mentelle Pharmakologie und Toxikologie“ an der Ernst-Moritz-Arndt-Uni- versität. Sie war für die DDR einzigartig, und sie entsprach einem Standpunkt Werner Schelers: „Typisch für eine Universitas litterarum ist die wechselsei- tige, befruchtende Verflechtung von Ausbildungsaufgaben zwischen den Fa- kultäten“. Welche Überlegungen lagen dem Vorschlag zugrunde, eine solche Studienrichtung zu schaffen? Hier kamen zwei Momente zusammen, Fragen des gesellschaftlichen Bedarfs und der Bildungsökonomie. Gemeinsame Jahre an der Universität Greifswald 31

Mit der zunehmenden Bedeutung des Umweltschutzes, mit der Verbrei- tung chemischer Stoffe in der Landwirtschaft, in der Nahrungsgüterwirt- schaft und zahlreichen Industriezweigen, mit den großen Fortschritten der Molekularbiologie, der Biotechnik und Biomedizin wuchs der Bedarf nach Fachleuten mit vertieften Kenntnissen in Biologie, Chemie, Pharmakologie und Toxikologie. Grundsätzlich hätte er durch eine vermehrte Ausbildung von Fachärzten für Pharmakologie und Toxikologie gedeckt werden können. Ein solcher Ausbildungsweg erstreckte sich indessen über etwa 9 bis 10 Jah- re. Für die vorgesehenen Einsatzgebiete jener Fachleute erschien dieser Weg über die ärztliche Approbation und die Facharztausbildung, gemessen am Be- darf, bildungsökonomisch nicht sinnvoll. Solche Fachleute bräuchten keine Ausbildung in den klinischen Fächern, da sie keine Ärzte werden sollten, vielmehr benötigten sie vertiefte Kenntnisse in Molekularbiologie, Bioche- mie, Ökobiologie, analytischer Chemie, Informatik, Pharmakologie und To- xikologie. Werner Scheler konnte die Greifswalder Pharmazeuten für dieses Vorha- ben gewinnen, währenddessen sich die Biologen reserviert verhielten. Nach Verhandlungen mit dem Hochschulministerium wurde eine neue Studien- richtung „Experimentelle Pharmakologie und Toxikologie“ an der Sektion Pharmazie eingerichtet. Seine ursprüngliche Absicht, sie dem Bereich Medi- zin zuzuordnen, fand aus Bedenken betreffs ärztlicher Approbationsordnung nicht die Zustimmung des Ministeriums. Ab 1970 wurden ca. 20 Studenten pro Studienjahr für diese Fachrichtung immatrikuliert. Entgegen der ursprünglichen Konzeption unterschied sich allerdings die neue Studienrichtung nicht prinzipiell von der klassischen Ausbildung der Pharmazie, sondern wies eher eine vertiefte Zusatzausbildung in Pharmako- logie und Toxikologie auf. Es mangelte besonders an Ausbildungsinhalten der medizinisch-theoretischen Fächer und an tieferen Kenntnissen zu den Bi- osystemen. Auf Grund dieser Erfahrungen wurde später – mit dem Studien- jahr 1988/89 – die Fachstudienrichtung „Biopharmakologie“ an der Sektion Biologie eingerichtet. Heute bewerben sich an der Greifswalder Universität 14 Studienbewerber um einen Studienplatz der Fachrichtung Biopharmako- logie. Welche Zielstellungen wurden in der Forschung verfolgt? Werner Scheler war ein prominenter Vertreter der Grundlagenforschung, je- doch mit Blick auf die gesellschaftlichen Konsequenzen wissenschaftlicher Arbeit. Er untersuchte das Reaktionsverhalten von Hämoproteiden. Mit dem roten Blutfarbstoff und einer größeren Reihe von Häm-haltigen Enzymen 32 Adolf Grisk & Hansgeorg Hüller stellen sie eine wichtige Klasse von Proteinen und damit auch von Angriffs- partnern von Arzneistoffen und Giften dar. Gerade die Hämoglobine mit ih- ren gut zu objektivierenden physikalischen und biochemischen Eigen- schaften boten sich an, an ihnen die molekularen Prozesse zu studieren, die bei der Reaktion eines Wirkstoffes mit einem Rezeptor ausgelöst werden. So studierte er die Konformationsänderungen des Proteinmoleküls unter dem Einfluss verschiedener Reaktionspartner und vice versa von deren Ei- genschaften durch die Bindung an das Rezeptorareal. Er analysierte ferner die damit verbundenen intermolekularen Effekte, wie sie auch Grundlage einer biologischen Wirkung eines Pharmakons sind. Mit seiner Arbeitsgruppe schuf er in wenigen Jahren ein umfassendes Bild über die molekularen Me- chanismen der dabei ablaufenden Vorgänge. Einen späteren Schwerpunkt bildeten Arbeiten über das Cytochrom P 450-System, das u.a. für den Arznei- stoffmetabolismus eine wichtige Rolle spielt. – Christiane Jung und Rita Bernhardt werden in ihren Beiträgen auf seine Forschungen noch eingehen. Jedenfalls war er überzeugt, dass die Erarbeitung fundamentaler Grundla- gen des Faches unerlässlich ist, um in der angewandten Forschung zu origi- nellen neuen Lösungen zu gelangen. Die tierexperimentelle pharmakologische Forschung am Institut vollzog sich im Wesentlichen in meiner Arbeitsgruppe und in der von Kollegen Hüll- er. Dabei entwickelte sich ein befruchtendes Wechselverhältnis mit der phar- mazeutischen Industrie, wobei diese z.B. Substanzen für ein Screening bereit stellte, oder wir für ein Indikationsgebiet ein adäquates Testprogramm erar- beiteten. Zur Untersuchung kamen Benzilsäurederivate, Flavonoide, Imida- zolderivate, Isothiozyanate, Piperidine, ätherische Öle, mikrokristalline Zellulose u.a. Von Interesse waren ferner Diuretika, Choleretika, Laxantien, ß-Blocker und Antiarrhythmika. Diese Untersuchungen führten später zum Spasmalgan® und Mictonorm® als registrierte Medikamente. Auf dem Sektor der klinisch-pharmakologischen Forschung konzent- rierten wir uns auf Spasmoanalgetika, Herzkreislaufmittel (Myofedrin) und Chemotherapeutika (Nitroimidazol), ferner auf Fragen der Arzneimittel-An- wendung in der Schwangerschaft und der Stillperiode sowie auf sozialphar- makologische Untersuchungen. Die toxikologische Forschung beschränkte sich auf Metabolismus-Studi- en zu Pestiziden (Dimethoat, Wofatox, Trakephon) zur analytischen Überwa- chung exponierter Personen in der Landwirtschaft und auf die chemisch- toxikologischen Analyseverfahren für die Bearbeitung akuter Intoxikationen. Gemeinsame Jahre an der Universität Greifswald 33

Wie war das Arbeitsklima im Institut? Am Institut herrschte unter dem Direktorat von Werner Scheler eine At- mosphäre der Leistungsbereitschaft und der Kollegialität. Er erwartete von jedem Einzelnen, dass er seinen Beitrag zur wissenschaftlichen wie gesell- schaftlichen Wirksamkeit des Instituts beisteuere. Dabei war er ein kritischer wie aufgeschlossener Diskussionspartner. Er äußerte einmal: „Zum rechten Klima gehört der Meinungsstreit als Grundvoraussetzung für die Positionie- rung des Einzelnen und der Gruppe an der internationalen Spitze“. Dieser Meinungsstreit war im Institut in vielfältiger Weise ausgeprägt, in Literatur- und Arbeitsbesprechungen, bei Institutsversammlungen und anderen Gele- genheiten. Den Wettbewerb hielt er für eine wichtige Methode. Er meinte, ein For- scher stehe auf seinem Arbeitsgebiet immer im Wettbewerb mit seinen Kon- kurrenten, national wie international. Wer das nicht verstehe, sei kein richtiger Forscher. Umso mehr konnte er nicht verstehen, dass in der DDR der Wettbewerb an wissenschaftlichen Einrichtungen in formale Korsette ge- zwängt wurde, dass Leistungen auf Termine, Jahrestage oder gesellschaft- liche Höhepunkte ausgerichtet werden sollten. Er lehnte einen kalendarischen Algorithmus ab und erzeugte damit nicht selten Spannungen mit der Gewerk- schaftsleitung der Universität. Großen Wert für das Arbeitsklima maß er dem offenen kollegialen Ver- hältnis zwischen dem Chef und den Mitarbeitern zu, und er achtete darauf, dass die Geselligkeit bei bestimmten Anlässen nicht zu kurz kam. Er lud oft zum Beisammensein in seine Wohnung ein, und in schwierigen Situationen der Mitarbeiter, wie Wohnungssuche, gab er Unterstützung. Wenn wir uns am Sonntag im Institut einfanden, um Unerledigtes aufzuarbeiten, vergaß Inge Scheler nicht, den großen Proviantkorb mitzubringen. In angenehmer Erinnerung bleiben die regelmäßigen Betriebsausflüge, Weihnachts- und Kinderweihnachtsfeiern. Nach der Verleihung des Nationalpreises unter- nahm er mit allen Institutsangehörigen einen zweitägigen Ausflug, der mit einem Fest auf Schloss Spyker gekrönt wurde. Werner Scheler war unser Vorbild, daher geachtet und beliebt. Er hat am Institut viele Wissenschaftler und Mitarbeiter geprägt, ihnen Wissen vermit- telt und Verhalten vorgelebt! 34 Adolf Grisk & Hansgeorg Hüller

Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität

Dank seiner erfolgreichen Arbeit war es nur folgerichtig, dass Werner Scheler von 1961 bis 1963 zum Prorektor für den wissenschaftlichen Nachwuchs be- rufen und 1966 einstimmig vom Senat zum Rektor der Universität gewählt wurde. Nach einer zweijährigen Amtszeit erfolgte seine Wiederwahl bis Ende 1970. Zu einer weiteren Verlängerung kam es nicht, seine Berufung an die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin stand zu diesem Zeitpunkt schon fest. Der Festakt seiner Investitur fand am 15. Dezember 1966 in der traditionsreichen Aula statt, die durch Hermann Kants Roman weithin bekannt wurde. In seiner Antrittsrede als Rektor behandelte er das Thema „Das Pharmakon zwi- schen Molekül und Gesell- schaft“. Darin stellte er sein Investitur als Rektor an der Universität Greifswald Fach in all seinen Wechselbe- 1960 ziehungen in der Universitas litterarum und seiner Einbindung in die gesellschaftlichen Prozesse dar. Seine damaligen Ausführungen haben nichts an Aktualität verloren. In seine Amtszeit als Rektor fielen wichtige Maßnahmen der Regierung der DDR zur Um- und Neugestaltung des Hochschulwesens, bekannt als „Dritte Hochschulreform“. Dabei ging es u.a. um die Bestimmung der Aus- bildungsrichtungen und Neugestaltung der Studienpläne sowie der quantita- tiven Richtwerte und Kapazitäten (Immatrikulationsziffern, Struktur des Lehrkörpers) einschließlich der territorialen Verteilung auf die Universitäten, ferner um das Profil der einzelnen Hochschulen, um ihre Verbindung zur ge- sellschaftlichen Praxis, um die Herausarbeitung rationeller Strukturen an den Universitäten und Hochschulen für die Prozesse der Ausbildung/Erziehung, Forschung, Weiterbildung und medizinischen Versorgung. Werner Scheler nahm sich mit Sorgfalt und Verständnis für die damit ver- bundenen menschlichen Probleme dieser Aufgabe an. Im Zuge der Umset- zung dieser Zielstellungen wurde das „Konzil“, als Versammlung von Delegierten aus den verschiedenen Struktureinheiten zu Grundfragen der Universität und zur Entgegennahme des Rechenschaftsberichtes des Rektors Gemeinsame Jahre an der Universität Greifswald 35 geschaffen, ferner der „Gesellschaftliche Rat“, dem neben Hochschulange- hörigen auch Vertreter der gesellschaftlichen Praxis angehörten, und dessen Aufgabe in der Beratung und Beschlussfassung über die gesellschaftliche Entwicklungsstrategie der Hochschule bestand, sowie letztendlich der „Wis- senschaftliche Rat“ aus Vertretern der Fachdisziplinen, welcher die Wissen- schaftsstrategie der Universität im Rahmen der gesellschaftlichen Entwick- lungskonzeption zu bestimmen hatte. Die herkömmlichen disziplinär determinierten Institute wurden zuguns- ten komplexerer Struktureinheiten, der „Sektionen“, aufgelöst, und es er- folgte eine Reorganisation des akademischen Leitungsapparates. Nach Abschluss der Umgestaltung bestanden an der Universität Greifswald neben dem Bereich Medizin fünfzehn Sektionen. Die Sektionsbildung war für den Rektor Scheler ein besonders schwieriger Prozess, mussten doch manche ob- jektiven Vorbehalte abgebaut und subjektive Widerstände überwunden wer- den. So war auch die geplante Bildung einer Sektion „Arzneimittelwissen- schaften“ zu dieser Zeit nicht spruchreif. Ganz zweifellos lagen der Reform Bestrebungen zugrunde, das akade- mische Bildungssystem der DDR an die realen Wirtschafts- und Gesell- schaftsprozesse heranzuführen, es „mit dem Leben zu verbinden“ und durch neue demokratische Elemente, wie Konzil, Gesellschaftlicher Rat, Wissen- schaftlicher Rat und Sektionsbildung, die Residuen des alten „Geheimrats- systems“ aufzubrechen. Während der Amtszeit Werner Schelers festigten sich die Beziehungen der Universität zu verschiedenen Industriepartnern in der elektronischen und pharmazeutischen Industrie, ferner zu dem Petrolchemischen Kombinat Schwedt und zum Erdöl- und Erdgaserkundungsbetrieb in Gommern. Wäh- rend seiner Amtszeit als Rektor begann auch der Aufbau des Kernkraftwerkes in Lubmin bei Greifswald und die Errichtung eines Elektronikbetriebes in der Stadt, speziell für moderne Schiffselektronik. Beides induzierte gewisse Ver- änderungen im Profil der Universität. Als er sein Amt als Rektor antrat, bestanden bereits internationale Bezie- hungen mit den Universitäten in Brno, in Szeged und in Sarajevo. Neben de- ren Ausbau widmete er sich der Aufnahme einer Zusammenarbeit mit der Universität in Vilnius und der Pflege der engen, historischen Verbindungen zu schwedischen Universitäten und anderer skandinavischer und baltischer Länder. Besonders intensiv entwickelten sich in seiner Amtsperiode die Ver- bindungen zur Universität Vilnius, was diese auch später durch die Verlei- hung des Doctor medicinae honoris causa an ihn besonders anerkannte. 36 Adolf Grisk & Hansgeorg Hüller

In seinem Institut für Pharmakologie und Toxikologie lief während seines Rektorats die Arbeit in gewohnter Weise weiter. Jene vier Jahre, in denen er der Universität vorstand, waren für uns eine Phase intensiver persönlicher Entwicklung, befördert durch eine größere Verantwortung und Selbständig- keit. Es war eine Art Generalprobe für die bevorstehenden Aufgaben, wobei wir uns der schützenden Hand von Werner Scheler gewiss sein konnten. Im Oktober 1970 teilte er uns den definitiven Wechsel an die Akademie der Wissenschaften mit, um eine leitende Tätigkeit auf dem Gebiet der Bio- logie und Medizin aufzunehmen. Seine engere Arbeitsgruppe wechselte mit ihm im Verlaufe der nächsten zwei Jahre fast vollständig an seine neue Wir- kungsstätte. Anlässlich der 525-Jahrfeier der Greifswalder Universität im Jahre 1981 würdigte der damalige Rektor, Dieter Birnbaum, das Wirken von Werner Scheler, und die Medizinische Fakultät verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. In seinem Vortrag anlässlich dieser Ernennung bekannte er, „dass ihn die 60iger Jahre in Greifswald entscheidend geprägt hatten. Es war die eigentliche Rei- fezeit im Wirken als Wissenschaftler und ein Bewährungsfeld für die Erzie- hung junger Wissenschaftler und für gesellschaftliche Verantwortung!“ Nach seinem Wechsel an die Akademie kam es nur noch zu wenigen of- fiziellen Aufenthalten in Greifswald, doch mit seinem früheren Institut und der Universität blieb er stets verbunden. So besuchte er vor zwei Jahren das Institut, und er freute sich beim Rundgang mit dem Direktor Heyo K. Kroe- mer über die Entwicklung seiner alten Wirkungsstätte, und zuletzt folgte er noch Anfang dieses Jahres auch gerne der Einladung zur Investitur des der- zeitigen Rektors, Rainer Westermann. Wir bedanken uns bei Werner Scheler als unserem Lehrer für alles, was er uns vermittelt hat, um im beruflichen und privaten Leben bestehen zu kön- nen. Wir wünschen ihm Gesundheit und Schaffenskraft für immer wieder neue Aufgaben und Ziele. Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 37–47

Peter Oehme

Ein Pharmakologe und Akademiepolitiker

Sehr geehrter Jubilar, lieber Werner, liebe Frau Sche- ler, liebe Familie Scheler, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

das heutige Festkolloquium zu Ehren des 80. Geburts- tages von Werner Scheler findet im Rahmen der Leib- niz-Sozietät statt. Dieser Rahmen ist sicher ein richtiger, denn das Wirken des Jubilars ist eng mit dem Namen Gottfried Wilhelm Leibniz verbunden. Das be- trifft zum einen das Leibniz’sche Konzept einer engen Peter Oehme Verbindung von Theorie und Praxis. Das betrifft zum zweiten die Motivation des Handelns von Leibniz: „et- was Greifbares und Nützliches für das allgemeine Wohl zu leisten“. Betrachten wir vor diesem Hintergrund das Leben, das Wirken und das Werk unseres Jubilars, des Pharma- kologen, Akademiepolitikers, Kollegen und Freundes Werner Scheler. Dabei bittet der Vortragende vorab um Verständnis dafür, dass im Mittelpunkt seines Beitrages der Jubilar und nicht die von ihm gestaltete Institution steht und auch dafür, dass der Blickwinkel dieses Bei- trages persönlich und pharmakologisch geprägt ist. Erste bildliche Zeugnisse zeigen den Jubilar am Tag seiner Schuleinführung, gewissermaßen in der akade- mischen – genauer schulischen – „Startphase“ im Jahre 1930. Ort der Handlung ist Steinach, eine Kleinstadt mit etwa 7000 Einwohnern am Südhang des Thüringer Schuleinführung 1930 Waldes. Dieses kleine hübsche Städtchen ist bekannt durch seine Schieferbrüche, Glas-, Holz- und Spielzeugindustrie. Der Vater unseres „Einschülers“ – Karl Scheler – arbeitet als Schlossermeister in einer 38 Peter Oehme

Maschinenfabrik des Ortes. Karl Scheler ist ein pflichtbewusster und durch- setzungskräftiger Mann; in seinen Auffassungen eher traditionsbewusst, kon- servativ. Den sich bereits andeutenden Entwicklungen des aufkommenden Nationalsozialismus steht er bald misstrauisch gegenüber. Die Mutter – Elise Scheler – ist Hausfrau. Dieser seiner Thüringer Heimat wird sich Werner Scheler Zeit seines Lebens emotional eng verbunden fühlen. Geboren ist Werner Scheler jedoch nicht in Steinach, sondern im ca. 30 km Luftlinie entfernt liegenden fränkischen . Zwischen Steinach und Coburg liegt die Landesgrenze zwischen Thüringen und Bayern. Damals ohne Bedeutung, nach 1945 jedoch die Trennungslinie zwischen der ameri- kanischen und sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und später zwi- schen beiden deutschen Staaten. Machen wir an dieser Stelle ein kleines Gedankenexperiment und stellen uns die Frage: Wie wäre der Lebensweg von Werner Scheler verlaufen, wenn seine Eltern nicht ein Jahr nach seiner Geburt vom fränkischen Coburg in das thüringische Steinach gezogen wären? Obwohl es theoretisch vielleicht nützlich ist, eine solche Frage zu stellen, wollen wir nicht bei diesem Gedankenspiel stehen bleiben, sondern wenden wir uns weiter dem Werden von Werner Scheler zu. In der Steinacher Volks- und dann Oberschule bleibt Werner Scheler bis zum Schuljahr 1939/40. Mit dem Aufrücken in die Unterprima wechselt er zur Oberschule der benachbarten größeren Stadt und fährt täglich dorthin. Das Jahr 1940 sieht Deutschland und Europa wesentlich verändert. Der Nationalsozialismus hat das deutsche Volk in den verheerenden zweiten Weltkrieg geführt, der auch nicht an der Sonneberger Oberschule vorbei geht. Der Primaner Werner Scheler wird, wie seine anderen Altersgenossen, zum Reichsarbeits- dienst eingezogen. Zum Abschied erhält er 1941 den „Reifevermerk“, ein Notabitur, wel- ches zum Hochschulstudium berechtigt. Vom Reichsarbeitsdienst kommt er zur Wehrmacht, der er zunächst in einer Flakeinheit und später in anderen Einheiten bis Kriegsende angehört. Als Flakkanonier, 1942 Diese Kriegsjahre, in denen eine Reihe seiner ehemaligen Klassenkameraden den Tod fin- den, prägen nachhaltig seine Einstellung zu gesellschaftlichen und poli- tischen Fragen. Nach Kriegsende – glücklicherweise ohne Kriegsgefangenschaft – kehrt Werner Scheler in seinen Heimatort Steinach zurück. Zunächst arbeitet er als Ein Pharmakologe und Akademiepolitiker 39

Volontär in dem gleichen Betrieb wie sein Vater. Der Betrieb – als früherer Zulieferer für die Rüstungsindustrie – wird jedoch von der sowjetischen Be- satzungsmacht 1946 demontiert, so dass Werner Scheler zunächst einmal ar- beitslos ist. Nach einem weiteren Arbeitsversuch in der Steinacher Außenstelle der Sozialversicherung fasst Werner Scheler einen wichtigen Entschluss. 1946 bewirbt er sich an der Vorstudienanstalt der Friedrich-Schil- ler-Universität Jena. Dort legt er sein „richtiges“ Abitur ab und beginnt im gleichen Jahr ein Medizinstudium. Auf Grund seiner ausgezeichneten Studi- enleistungen kann er sein Staatsexamen bereits nach fünf Jahren ablegen und zwar mit dem Prädikat „Mit Auszeichnung“. Die Bedingungen während die- ser Studienjahre sind extrem schwierig. Werner Scheler wohnt in einem im Winter nicht beheizbaren Zimmer, wo selbst das Waschwasser gefriert. Auch die Hörsäle sind ungeheizt. Das bewilligte Leistungsstipendium reicht gerade für das Nötigste. Trotz dieser schwierigen Lebensbedingungen empfindet Werner Scheler das „Studierenkönnen“ als eine Chance und fühlt sich diesem Staat, der ihm hierzu die Chance gibt, zunehmend verbunden. In das Jahr des Staatsexamens fällt auch die Promotion von Werner Sche- ler zum Dr. med.. Seine Dissertation führt er im Physiologisch-chemischen Universitätsinstitut durch. Sein Thema: „Über die biologischen Wirkungen des Cholins unter besonderer Berücksichtigung des Neurotropan". Cholin – bekanntlich der Vorläufer des Transmitters Azetylcholin – besitzt metabo- lische Effekte und Wirkungen auf das Nervensystem. Diese Cholineffekte untersucht der Doktorand Scheler mit pharmakologischen Methoden. Mit sei- nen Experimenten erbringt er sowohl Erkenntnisse zum Wirkungsmechanis- mus des Cholin, als auch praktisch verwertbare Ergebnisse zu dem bereits auf dem Markt befindlichen pharmazeutischen Präparat Neurotropan. Hierbei also eine erste Bekanntschaft von Werner Scheler mit dem Prinzip von Leib- niz „theoria cum praxi“. Trotz dieser Erfolge ist Werner Scheler mit der Situation in Jena nicht zu- frieden. Er fühlt sich in seiner Arbeit nur unzureichend gefordert und möchte sich verändern. Für diese Veränderung kommt ihm ein Zufall zu Hilfe. Eine ehemalige Kommilitonin erzählt ihm von einem interessanten Pharmakolo- gen, der vor kurzem aus dem bayrischen Würzburg an die Ost-Berliner medi- zinische Fakultät gekommen ist. Dieser Pharmakologe ist Friedrich Jung. Das pharmakologische Universitätsinstitut ist zu dieser Zeit noch weitgehend zer- stört. Werner Scheler entschließt sich, nach Berlin zu fahren und bei Jung vorzusprechen. In dem Vorstellungsgespräch findet Jung Gefallen an dem 40 Peter Oehme

Bewerber, auch an seinen Vorleistungen zur Pharmakologie des Cholins. Jung schlägt Scheler vor, bei ihm mit Arbeiten zum Azetylcholin anzufangen. Kurz nach seinem Staatsexamen wechselt Werner Scheler von Jena nach Berlin. Im Hausbuch des Pharmakologischen Institutes der Humboldt Univer- sität finden wir seinen Namen unter Nummer 16 mit seiner Wohnanschrift Berlin-Niederschönhausen Treskowstr. 46. Als Arbeitsbeginn ist der 15.10.1951 ausgewiesen. Dieser Arbeitsbeginn verläuft für Scheler überra- schend. Jung kommt nicht auf die Vorabsprachen zum Thema Azetylcholin zurück, sondern beauftragt ihn, Blut vom Schlachthof zu besorgen, präparativ aufzuarbeiten und noch festzulegende Untersuchungen damit durchzuführen. Die Vorabsprachen zu dem Arbeitsthema Azetylcholin hat Jung offensichtlich zwischenzeitlich längst wieder vergessen. So wird Werner Scheler in die von Jung unmittelbar wissenschaftlich betreute Hämoglobinthematik einbezogen. Arbeitsort wird für Werner Scheler das alte Gebäude für die Hirnfor- schung der früheren Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Buch. In diesem Gebäude sind einige Abteilungen des Instituts für Medizin und Biologie der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin untergebracht. Hier fin- det sich auch die Abteilung für Pharmakologie und experimentelle Patholo- gie, die Jung neben dem pharmakologischen Universitätsinstitut in Personalunion leitet. Werner Scheler arbeitet im Turmlabor in der l. Etage und hat etwa l–2 m2 Tischfläche zur Verfügung. Schelers erste Arbeitsaufga- be betrifft medizinisch-toxikologische Untersuchungen zur Methämoglobin- vergiftung. Hinzu kommen später Arbeiten zur Reaktion zwischen Methämoglobin und verschiedenen Liganden, wie Azid, Zyanid etc. Immer mehr entwickelt Scheler daraus ein größeres Arbeitsgebiet. Im Zentrum die- ser Arbeiten steht die Analyse der funktionell wichtigen Fähigkeit des Hämo- globins bzw. des Methämoglobins zur Komplexbildung und der dabei ablaufenden molekularen Prozesse. Trotz dieser stark biophysikalisch orien- tierten Arbeiten sucht Scheler immer wieder die Brücke zur Pharmakologie und sieht im Hämoglobin einen „Pharmakonrezeptor honoris causa“. Die aus den Hämoglobinarbeiten resultierenden umfangreichen Veröff- entlichungen sind dann die Basis für seine Habilitation im Jahre 1956. Werner Scheler wird damit der erste Habilitand von Jung. Hierdurch erhält er unter den anderen Jung-Schülern eine gewisse Sonderrolle. Diese Sonderrol- le findet ihren scherzhaften Niederschlag in einem Geburtstagsglückwunsch von Erhard Göres für Friedrich Jung, der den Jubilar an der Spitze der Assis- tentenschaft zeigt. Ein Pharmakologe und Akademiepolitiker 41

In diese Bucher Arbeitsperiode von Werner Scheler fällt ein weiteres – vielleicht noch bedeutsameres – Ereignis. In Buch lernt er die in der gleichen Abteilung als Medizinisch-technische Assistentin arbeitende Ingeborg Fisch- bach kennen. Beide heiraten am Silvestertag des Jahres 1960 und sind damit jetzt im fünften Jahrzehnt verheiratet. 1959 ist Werner Scheler bereits von Berlin-Buch an die Greifswalder Uni- versität gewechselt und hat das Direktorat des Pharmakologischen Instituts übernommen. Über diese Zeit haben Adolf Grisk und Hannes Hüller hier be- richtet. 1966 wird er Rektor der Universität. In seiner Antrittsrede als Rektor spricht er über „Das Pharmakon zwischen Molekül und Gesellschaft“. Die von ihm gewählte Thematik zeigt, dass sein Blick über die enge Spezifik des Fachgebietes hinaus auf die interdisziplinären und gesellschaftlichen Aspekte der Pharmakologie gerichtet ist. Die Rückkehr von Werner Scheler aus Greifswald nach Berlin-Buch fällt in eine bewegte Zeit. Der Prager Frühling 1968/69 hat auch in der DDR bei vielen jungen Wissenschaftlern/innen Hoffnungen auf eine Demokratisie- rung, auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz geweckt. Hierzu gehö- ren auch Initiativen der jungen Wissenschaftler/innen für eine effektivere und demokratischere Gestaltung der Forschungsprozesse. Für Berlin-Buch nenne ich die „Hullerbusch-Kommission“ mit ihren Vorschlägen für die Weiterent- wicklung von Berlin-Buch. Auf der anderen Seite erlebt in dieser Zeit die „So- zialistische Wissenschaftsorganisation“ in der DDR Hochkonjunktur. Beispielhaft nenne ich die einige Zeit später wieder aufgelöste Akademie für marxistisch-leninistische Organisationswissenschaften in der Wuhlheide, die illusionären Mittag’schen Vorstellungen zu Großforschungszentren und Großforschungsverbänden. All diesen Ansätzen ist gemeinsam, durch eine möglichst straffe Führungs- und Leitungstätigkeit die Effizienz der Forschung zu erhöhen, wobei wissenschaftliche Fachkenntnis von sekundärer Bedeutung erscheint. All das schlägt sich auch in der Akademie nieder. Die Auswir- kungen dieser Umgestaltung zeigen sich u.a. in einem zeitweiligen Rückgang der Veröffentlichungstätigkeit der Akademie in den Jahren 1968–1970. Diese – im Grunde wissenschaftsfremden – Vorstellungen hinterlassen auch in Berlin-Buch ihre Spuren. Im Mai 1969 kommt es zum Einsatz eines ehemaligen Generalmajors aus dem medizinischen Dienst der Nationalen Volksarmee als „Beauftragten für die Bildung eines Zentralinstitutes für Bi- ologie und Medizin“ in Berlin-Buch. Wie vorauszusehen, geht dessen militä- rische Kommandostruktur in die Brüche und der Ex-Generalmajor muss vom damaligen Akademie-Präsidenten ein Jahr später wieder aus dem Verkehr ge- 42 Peter Oehme zogen werden. Nach diesem Desaster in Berlin-Buch wenden sich eine Reihe von Bucher Wissenschaftlern an Werner Scheler, der ja zu diesem Zeitpunkt in Greifswald tätig ist, mit dem Vorschlag, wieder nach Berlin-Buch zu kom- men und dort die Geschicke in die Hand zu nehmen. Die Kollegen wollen ei- nen sachkundigen Wissenschaftler, jedoch keinen sachunkundigen Militär. Die Entscheidung Greifswald oder Buch fällt Werner Scheler sicher nicht leicht. Am Ende entscheidet er sich für Berlin-Buch und der Präsident der Akademie, Hermann Klare, beruft ihn zum 1.2.1971 zum Direktor des neu zu konstituierenden Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin (FZMM). In einem komplizierten Prozess formieren sich unter seiner Leitung in Berlin-Buch die Zentralinstitute für Molekularbiologie, Herz-Kreislauf- Regulationsforschung und Krebsforschung. Gemeinsam mit den übrigen bi- ologisch-medizinischen Instituten der Akademie entsteht allmählich das For- schungszentrum für Molekularbiologie und Medizin mit wichtigen Koordinierungsfunktionen für eine Reihe von Forschungsvorhaben in der DDR und auch für die internationale Zusammenarbeit mit sozialistischen und nichtsozialistischen Ländern. Trotz ökonomischer Schwierigkeiten werden in den 70er Jahren im FZMM eine Reihe von Investitionsvorhaben begonnen oder abgeschlossen. Beispielhaft nenne ich die Grundsteinlegung für den Laborneubau des Zen- tralinstitutes für Molekularbiologie im Jahre 1974, die der Direktor des Zen- tralinstituts, Friedrich Jung, in Anwesenheit von Werner Scheler, dem Direktor des FZMM, vornimmt. Der Zielstellung „theoria cum praxi“ fühlt sich Werner Scheler auch wei- terhin verbunden. Deshalb befördert er die Zusammenarbeit der Institute des FZMM mit Betrieben, Kombinaten und anderen gesellschaftlichen Einrich- tungen. Hierzu gehört auch die Bildung des ersten Akademie-Industrie-Kom- plexes (AIK) im Jahre 1976 und zwar auf dem Gebiet der Arznei- mittelforschung. Der Jubilar und der Generaldirektor des Pharmazeutischen Kombinates GERMED, Werner Hohtanz, unterzeichnen die Gründungsdo- kumente des „AIK Arzneimittelforschung“ im Speisesaal des Institutes für Wirkstoffforschung der Akademie. Institutioneller Industriepartner des Aka- demieinstituts sind die Pharmakologischen Forschungslaboratorien von GERMED (das spätere Institut für Pharmakologische Forschung), gleichfalls auf dem Gelände des Akademie-Objektes Friedrichsfelde angesiedelt. Am Ende der mehr als 8-jährigen Tätigkeit als Direktor des FZMM kann Werner Scheler mit den Direktoren der zugehörigen Institute und mit seinen Ein Pharmakologe und Akademiepolitiker 43

Mitarbeitern aus dem Leitungsbereich des Forschungszentrums auf eine um- fangreiche und erfolgreiche Bilanz zurückblicken. Neben seiner Leitungstätigkeit als Direktor des FZMM hält Werner Sche- ler stets die Verbindung zur direkten Forschung. Ich nenne hierzu die Arbei- ten zum Cytochrom P 450 und zur Hämkatalyse mit einer Arbeitsgruppe im Zentralinstitut für Molekularbiologie, ferner die Fachbeiträge zu physika- lisch-chemischen und pharmakologischen Themen, die Mitherausgabe von Zeitschriften, wie der Acta biologica et medica germanica bzw. der daraus hervorgegangenen Biomedica biochimica acta, gemeinsam mit Heinz Bielka.

Der Präsident der AdW der DDR empfängt das Auswärtige Mitglied Guri Martschuk, Vorsitzen- der der Sibirischen Abteilung der AdW der UdSSR (1. von links), 10.05.1989 1979 wählt das Plenum der Akademiemitglieder Werner Scheler zum Präsid- enten der Akademie der Wissenschaften der DDR. 11 Jahre – bis 1990 – steht er als Präsident an der Spitze dieser traditionsreichen Institution in der Einheit von Gelehrtengesellschaft und Forschungsverbund. Die Akademie ist mit ih- rer Arbeit in die sozialökonomischen Strukturen und Prozesse innerhalb der DDR eingebettet und in die politische Entwicklung in Europa einbezogen. Während der Präsidentschaft von Werner Scheler erfährt sie in dieser Zeit hohe gesellschaftliche Anerkennung und wird zunehmend in die Innen- und Außenpolitik der Partei- und Staatsführung eingebunden. Die Monografie von Werner Scheler „Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissenschaften der DDR“ gibt hierzu eine Fülle von 44 Peter Oehme

Informationen. In meinem Beitrag möchte ich mich auf einige wenige As- pekte beschränken, speziell auf das Leibniz’sche Credo „theoria cum praxi“. Hatte die AdW Mitte der 60er Jahre etwas mehr als 10 000 Mitarbeiter, so sind es 1989 mehr als 20 000 Beschäftigte. In den 70er und 80er Jahren er- folgte nicht nur eine starke Personalerweiterung, sondern auch eine erheb- liche Zunahme der Bauinvestitionen. Gleichzeitig wird die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und mit anderen gesellschaftlichen Bereichen ausgebaut. Das zeigt sich auch in einem besonders starken Beschäftigtenanstieg von Akademieinstituten in der Nähe von Industriestandorten. Diese Entwicklung war bedingt durch das Entstehen neuer Techniken und Technologien in dieser Zeit. Ich nenne beispielhaft die Mikroelektronik, die Kommunikationstech- niken und die Biotechnologie. Diese modernen Techniken waren im beson- deren Maße auf eine enge Beziehung der industriellen Forschung mit der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung der Akademie und der Universitäten angewiesen. Deshalb sieht Werner Scheler neben seiner Verantwortung für die Gelehrtengesellschaft und für die langfristig angelegte Grundlagenforschung in einer möglichst engen Verbindung von Theorie und Praxis einen wichtigen Schwerpunkt während seiner Präsidentschaft. Zu dieser Schwerpunktsetzung gehört auch die Inbetriebnahme neuer Technika. Anfang 1989 verfügt die AdW über 20 größere Technika, weitere 14 befinden sich im Aufbau bzw. in der Vorbereitung. Insgesamt entwickelt die Akademie mit diesem Konzept ein anerkanntes und leistungsfähiges Pro- fil in der Einheit von Grundlagenforschung und anwendungsorientierter For- schung. Daneben weitet die Akademie ihre internationalen Beziehungen aus. Ab Mitte der 80er Jahre kommt es im Ergebnis der politischen Entspannung in Europa zu Kontakten der Akademie mit wissenschaftlichen Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland. 1988 unterzeichnen Werner Scheler und Hubert Markl eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Deutschen Forschungsge- meinschaft der BRD. Eine analoge Vereinbarung mit der Max-Planck-Gesellschaft ist vorberei- tet. Doch dieser Prozess endet Ende 1989. Die Jahre 1989/90 werden für die DDR, wie für die Akademie, Schick- salsjahre. Die ökonomische und gesellschaftliche Situation der DDR und die politische Entwicklung in Europa klammert auch die Akademie nicht aus. Zum einen zeigen sich zunehmende Defizite in der materiellen Forschungs- basis. Zum anderen – und noch gravierender – berührt die Unzufriedenheit Ein Pharmakologe und Akademiepolitiker 45 mit der politischen Situation in der DDR auch Defizite in der akademischen Freiheit. Hierzu gehören die berechtigten Diskussionen zum Reisekadersta- tus, zu notwendigen Demokratisierungsprozessen in der Akademie und ande- res mehr. All dieses wird immer mehr von der sich abzeichnenden Vereinigung beider deutscher Staaten überlagert. Hieraus folgte die generelle Frage: „Quo vadis Akademie der Wissenschaften der DDR?“

Die Präsidenten der DFG und der AdW der DDR, Hubert Markl und Werner Scheler, nach Ab- schluß des Vertrages zwischen beiden Einrichtungen am 22.12.1988 Werner Scheler und ich sitzen in dieser bewegten Zeit an unterschiedlichen Tischen: Du als Präsident am Tisch des Präsidiums der Akademie, ich am „Runden Tisch“ der Akademie als basisdemokratisch gewählter Sprecher der medizinisch-biologischen Institute der Akademie. Zwischen beiden Tischen gab es sicher grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen zu verschiedenen Fragen. Ein Thema beschäftigt aber in dieser bewegten Zeit gleichermaßen beide Ebenen: „Wohin geht es mit der Akademie?“ Werner Scheler führt in diesen Monaten von Ende 1989 bis Mitte 1990 zahlreiche Gespräche mit wis- senschaftlichen Persönlichkeiten und Wissenschaftspolitikern der Bundesre- publik Deutschland über die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen 46 Peter Oehme

Institutionen der BRD und über eine künftige gemeinsame Wissenschafts- landschaft in Deutschland, so u.a. auch mit dem damaligen Vorsitzenden des Wissenschaftsrates der BRD, Dieter Simon. Die Frage nach der Zukunft der Akademie stellt sich auch der „Runde Tisch“ der Akademie und beantwortet diese u.a. mit einem Konzept für die Bildung einer Leibniz-Gesellschaft aus Forschungsinstituten der Akademie mit einem leistungsfähigen Profil speziell in der Einheit von Grundlagen- und Anwendungsforschung. Diese Leibniz-Gesellschaft aus positiv evaluierten Akademieinstituten sollte im vereinigten Deutschland einen Platz finden zwi- schen der auf reine Grundlagenforschung orientierten Max-Planck-Gesell- schaft und der anwendungsorientierten Fraunhofer-Gesellschaft. Wir wissen, dass die spätere politische Entwicklung diese Frage – durch die systematische Übertragung der Wissenschaftsstrukturen der Bundesre- publik auf die neuen Bundesländer und durch die Abwicklung der DDR-Aka- demie – anders entschieden hat. Hierzu ist bereits viel gesagt und geschrieben worden. Ich möchte deshalb diesen Graben nicht weiter vertiefen, sondern die letzten zwei Zeilen eines kleinen Gedichtes des bekannten Lyrikers Emanuel Geibel zum Ausgangspunkt nehmen: „Wohl stürzt, was Macht und Kunst er- schufen, wie für die Ewigkeit bestimmt, doch aus den Trümmern werden Stu- fen, darauf die Menschheit weiter klimmt“. Wählen wir einen solchen Ansatz und sehen uns jetzt auf dem biomedizi- schen Campus in Berlin-Buch um, auf dem Du von 1951 bis 1959 und von 1971 bis 1979 tätig warst, und dem Du Dich auch als Akademiepräsident wei- ter verbunden fühltest. Auf dem heutigen Festsymposium hören wir heute – im nachfolgenden Teil – zwei Beiträge, die über das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, über das Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie und über das Institut für Medizin und Biologie bis zu den Wurzeln Deiner gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeiten mit Friedrich Jung im Pharmaklogischen Institut führen. Sehen wir uns weiter auf dem Bucher Campus um, so ist der von Dir unterstützte Laborneubau des Zentralinstitutes für Molekularbiologie auch heute noch eine wichtige Basis des Max-Del- brück-Centrums für Molekulare Medizin. Zweihundert Meter daneben steht ein Neubau, in dem das Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie ar- beitet; heute das größte deutsche pharmakologische Institut der Grundlagen- forschung. Dieses Institut versteht sich als Nachfolger des Institutes für Wirkstoffforschung der Akademie der Wissenschaften, dessen Weg Du mit der Bildung des ersten Akademie-Industrie-Komplexes „Arzneimittelfor- schung“ mitbestimmt hast. Sehen wir übergreifend auf den Bucher Medizin- Ein Pharmakologe und Akademiepolitiker 47

Campus, so ist die dort verfolgte enge Zusammenarbeit zwischen biomedizi- nischer Grundlagenforschung, Wirtschaft und Kliniken ein erfolgreicher Weg, ähnlich dem von Dir verfolgten Leibniz-Credo „theoria cum praxi“. Vor diesem Hintergrund gratulieren wir zum Ersten dem Pharmakologen Werner Scheler, der auf mehr als 350 wissenschaftliche Publikationen zu auch heute noch weiterlebenden wissenschaftlichen Ergebnissen zurückgrei- fen kann und dessen Lehrbuch für Allgemeine Pharmakologie eine Leistung ist, die auch heute noch bei Fachkollegen Respekt hervorruft. Wir gratulieren einem Wissenschaftler, der vielfache wissenschaftliche Auszeichnungen er- hielt, Ehrenmitglied wissenschaftlicher Gesellschaften wurde und die Ehren- doktorwürde der Universitäten Vilnius und Greifswald erhielt. Wir gratulieren zum Zweiten dem Akademiepolitiker Werner Scheler, der als Direktor des Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin und nicht zuletzt als Präsident der Akademie der Wissenschaften der DDR über fast zwei Jahrzehnte die Wissenschaftsgeschichte der DDR mitgestaltete und der für seine umfassenden Leistungen zum Mitglied zahlreicher Akademien des In-und Auslandes gewählt wurde. Die Dir als Akademiepolitiker gesteck- ten Grenzen wurden zunehmend enger. Sie grundsätzlich sprengen konntest Du nicht und wolltest Du wahrscheinlich auch nicht. Dagegen standen die Randbedingungen und wahrscheinlich auch Dein ausgeprägtes Pflichtgefühl und Deine Verbundenheit mit diesem Staat. Wir gratulieren zum Dritten dem Menschen Werner Scheler, dessen per- sönliche Entwicklung ein Stück DDR-Geschichte reflektiert und dessen Han- deln den Leibniz'schen Zielen folgte, „etwas Greifbares und Nützliches ... für das allgemeine Wohl zu leisten“. Wir wünschen Dir, dem Pharmakologen, dem Akademiepolitiker und dem Freund Werner Scheler noch zahlreiche weitere glückliche, gesunde und erlebnisreiche Jahre gemeinsam mit Deiner Frau, Deiner Familie und Deinen Kollegen! Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 49–68

Christiane Jung

Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P4501

Lieber Jubilar Werner Scheler ! Werte Anwesende !

Es ist für mich eine besondere Freude und Ehre, heute hier sprechen zu dürfen – insbesondere auch deshalb, weil ich mich in zweifacher Weise mit dem Jubilar verbunden fühle. Werner Scheler war nicht nur für eine Reihe von Jahren mein Chef als Leiter der Abteilung Hämkatalyse am Zentralinsti- tut für Molekularbiologie der Akademie der Wis- senschaften der DDR, sondern legte mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten in den fünfziger Jah- ren auch eine entscheidende Basis für meine eige- Christiane Jung nen Forschungen.

1. Schelers fundamentelle Entdeckung am Häm im Methämoglobin

Das Wort „Häm“ hörte ich erstmals 1972, als ich bei Prof. Werner Haberditzl an der Sektion Chemie der Humboldt Universität zu Berlin meine Diplomar- beit über „Spektrale Eigenschaften von Porphyrinen“ begann. Ich hatte die Aufgabe, ein Computerprogramm zur quantenchemischen Berechnung von elektronischen Zuständen und deren magnetischen Eigenschaften zu schrei- ben und auf das Porphyrin und Eisenporphyrin anzuwenden. Hauptaugen- merk sollte darauf gelegt werden, den Einfluss des Eisens auf die Porphyrinzustände quantitativ zu erfassen. Zur damaligen Zeit war mir nicht im geringsten bewusst, dass ich damit in ein so interessantes und wichtiges

1 Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Arbeitsgruppe Proteindynamik, Robert- Rössle-Strasse 10, 13125 Berlin 50 Christiane Jung

Forschungsgebiet eintrat, zu dem der Jubilar bereits eine Reihe von Jahren zuvor wesentliche fundamentale Beiträge lieferte. Auch als ich 1973 am Zen- tralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Buch meine Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin und damit meine Forschungen zu Struktur-Funktions-Beziehungen im Cytochrom P450 aufnahm, wusste ich wenig von dem, was Werner Scheler an Hämoglobinen und Myoglobinen erkannt hatte und dass das von großer Bedeutung für das Enzym Cytochrom P450 sein würde.

Abb. 1: Die erste Seite der grundlegenden Arbeit von W. Scheler, G. Schoffa und F. Jung über den Zusammenhang von Lichtabsorption und Spinzustand des Hämeisens im Myoglobin [1]. Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P450 51

Im Jahre 1956 erschien in der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften“ der Artikel von W. Scheler, G. Schoffa und F. Jung mit dem Titel „Über die Zu- sammenhänge zwischen Lichtabsorption und paramagnetischer Suszeptibili- tät bei Methämoglobin-Komplexen“ (Abbildung 1) [1]. Darin zeigen die Autoren, dass sich das Maximum der Soretbande (Lichtabsorption) des Por- phyrinrings im Methämoglobin zu niedrigen Wellenlängen verschiebt, wenn die Anzahl der ungepaarten Elektronen am Hämeisen (paramagnetische Sus- zeptibilität) bei verschiedenen axialen Liganden größer wird. Jedes Elektron besitzt einen Spin, dem eine Quantenzahl +1/2 oder -1/2 zugeordnet wird. Eisen im dreiwertigen Zustand hat fünf Elektronen in den oberen Energieniveaus. Von diesen fünf Elektronen können z. B. drei Elek- tronen den Spin von +1/2 und zwei Elektronen den Spin -1/2 besitzen. Der summarische Spin wäre dann +1/2 und man nennt diesen Zustand „Niedriger Spin“ („low-spin state“). Alle fünf Elektronen können aber auch den gleichen Spin besitzen (z.B. +1/2), dann ergibt sich ein summarischer Spin von +5/2. In diesem Fall spricht man von einem „Hohen Spin“ oder „high-spin state“. Scheler und Mitautoren berichten, dass die Natur des axialen Hämliganden bestimmt, welcher Spinzustand vom Eisen eingenommen wird und dass das sich in der Lichtabsorption niederschlägt. Wie detaillierte Untersuchungen in späteren Jahren dann zeigen [2,3], gibt es Situationen, bei denen ein Gleich- gewicht zwischen dem „low-spin state“ und dem „high-spin state“ vorliegt, das durch äußere Bedingungen wie z.B. die Temperatur verschoben werden kann. Dieses am Methämoglobin beobachtete Phänomen des temperaturab- hängigen High-Spin/Low-Spin-Gleichgewichtes wurde in den siebziger Jah- ren mittels optischer Methoden auch am Cytochrom P450 nachgewiesen; etwa zur gleichen Zeit durch eine amerikanische Arbeitsgruppe am bakteriellen Cy- tochrom P450cam [4] und Mitarbeitern der Arbeitsgruppe von Prof. Klaus Ruckpaul in der Abteilung Biokatalyse des Zentralinstituts für Molekularbi- ologie der AdW der DDR an mikrosomalem Cytochrom P450 [5,6]. Der pro- zentuale Anteil der Cytochrom P450 Moleküle, der sich im High-Spin- Zustand befindet, wird High-Spin-Gehalt genannt und stellt einen der wich- tigsten physiko-chemischen Parameter dieses Enzyms dar. Ähnlich wie Sche- ler am Methämoglobin gefunden hat, ist das Maximum der Soretbande im Low-Spin-Zustand (417 nm) zu niedrigen Wellenlängen im High-Spin-Zu- stand (392 nm) verschoben. Anhand dieses spektralen Effektes in Kombina- tion mit Messungen der Elektronspinresonanzspektren (ESR) stellte man fest, dass das substratfreie Enzym im Low-Spin-Zustand vorliegt. Bindet sich ein Substrat, dann wird das Gleichgewicht zum High-Spin-Zustand verschoben [7]. Letzteres wurde auch durch Messungen der paramagnetischen Suszepti- 52 Christiane Jung bilität [8] nachgewiesen. Die durch Titration des Enzyms mit dem Substrat in- duzierten optischen Absorptionsdifferenzspektren bilden die entscheidende Basis für die Bestimmung von Substratbindungskonstanten. Die Aufnahme solcher Spektren ist sehr einfach, mit allen zur Verfügung stehenden UV-VIS- Spektrometern möglich und hat sich somit seit mehr als 20 Jahren als Stan- dardmethode zur Charakterisierung der Cytochrom P450-Substratwechsel- wirkung etabliert. Neben dieser pragmatischen Anwendung des High-Spin/ Low-Spin-Gleichgewichtes gibt es seit dessen Entdeckung aber auch vielfäl- tige experimentelle und theoretische Untersuchungen, die darauf zielen zu verstehen, was sich physikalisch hinter diesem Gleichgewicht verbirgt und ob sich daraus weitere Eigenschaften des Enzyms ableiten, die für die Funktion wichtig sind. Im folgenden wird der aktuelle Erkenntnisstand dargelegt und gezeigt, wie unsere Forschungen am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin zum tieferen Verständnis von Struktur-Funktions-Beziehungen im Cytochrom P450 beitragen.

2. Der Reaktionszyklus des Häms im Cytochrom P450 Mit dem Namen „Cytochrom P450“ verbindet sich eine Superfamilie von mehr als 2300 Isoenzymen, die in den verschiedensten Organismen durch Hydroxylierung, Epoxidierung, Dealkylierung und Übertragung von Sauer- stoffatomen auf Heteroatome wie Stickstoff, Schwefel oder Phosphor eine Vielzahl von chemischen Verbindungen umwandeln. Für den Menschen ist diese Enzymfamilie lebenswichtig. Bei der Biosynthese aller Steroidhormone aus Cholesterin ist Cytochrom P450 für die Einführung von funktionswich- tigen Hydroxygruppen in bestimmte Positionen im Steroidgrundkörper zu- ständig. Dadurch entstehen die Glucocorticoide, wichtig für Kreislauf und Nierenfunktion, und die Sexualhormone. Von den 58 bisher im menschlichen Organismus nachgewiesenen Cytochrom P450-Isoenzymen ist der überwie- gende Anteil jedoch in den Abbau von Fremdstoffen, die durch die Nahrung und die Atmung aufgenommen werden, involviert. Zu diesen Fremdstoffen zählen auch die Arzneimittel, die wir zu uns nehmen, um Krankheiten zu hei- len oder Symptome zu bekämpfen. Nicht selten gibt es unerwünschte Arznei- mittelnebenwirkungen und Unverträglichkeiten bei gleichzeitiger Aufnahme von verschiedenen Medikamenten, die manchmal sogar zum Tod führen können. Die Ursache dafür ist in den meisten Fällen in der Wechselwirkung der Medikamente mit den Cytochromen P450 zu suchen [9,10]. Viele der Me- dikamente sind nämlich so genannte Substrate für die Cytochrom-P450-En- zyme und gehen als solche direkt in den Reaktionszyklus des Enzyms ein. Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P450 53

Interessanterweise zeigen alle bisherigen Untersuchungen, dass die Cyto- chrome P450 aus den verschiedensten Organismen einen gleichen grundle- genden Reaktionszyklus aufweisen. Diese Beobachtung ist von großer Bedeutung dafür, dass Erkenntnisse über Cytochrome P450 aus Mikroorga- nismen auch auf Struktur-Funktionsbeziehungen in menschlichen Cytochro- men P450 übertragen werden können. Viele, insbesondere physikalische Untersuchungen sind nur an Cytochromen P450 aus Bakterien möglich, weil diese in großen Mengen und in hohen Konzentrationen aufgereinigt werden können, was mit den menschlichen Enzymen nicht möglich ist. Das wichtigs- te bakterielle Enzym, an dem die meisten und wichtigsten Erkenntnisse zu Struktur-Funktionsbeziehungen in Cytochromen P450 gewonnen wurden, stellt das bereits oben erwähnte Kampher-hydroxylierende Cytochrom P450cam aus Pseudomonas putida dar [11]. Nach der international aner- kannten Nomenklatur wird es auch CYP101 genannt. Die Mehrzahl unserer Untersuchungen haben wir an diesem Enzym durchgeführt, dessen Wildtyp- Gen wir freundlicherweise von Prof. I.C. Gunsalus (University of Illinois, Ur- bana-Champaign), dem Entdekker dieses Cytochrom P450, zur Verfügung gestellt bekommen haben. In meinem Labor am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin haben wir eine „large-scale“-Expression und Aufreini- gung des Cytochrom P450cam etabliert, das uns in die Lage versetzt, ausrei- chende Mengen des Wildtyp-Proteins und ausgewählter Mutanten für physikalische Untersuchungen herzustellen.

Abb. 2: Reaktionszyklus des Cytochrom P450 (RH, Substrat; ROH, Produkt; Fe, Hämkomplex). 54 Christiane Jung

Abbildung 2 zeigt den Reaktionszyklus des Cytochrom P450. Zu Beginn des katalytischen Zyklus liegt das Hämeisen als dreiwertiges Eisen im Low-Spin-Zustand vor. Im zweiten Schritt bindet sich das Substrat und das Eisen geht in den High-Spin-Zustand über, wie bereits oben erwähnt. Nun kann das Eisen ein Elektron aufnehmen, welches über Redoxproteine (Flavinprotein, Eisen-Schwefel-Protein) vom Elektronendonator NAD(P)H zum Cytochrom P450 transferiert wird. Das zweiwertige Eisen ist nun in der Lage, molekularen Sauerstoff zu binden. In dem nächsten Schritt wird dann bei gleichzeitigem Protonentransfer ein weiteres Elektron zum Häm übertra- gen. Dadurch werden eine Reihe von Folgereaktionen ausgelöst, deren Inter- mediate bisher nicht eindeutig charakterisiert werden konnten. Eines der wichtigsten Intermediate ist die vermutete Eisen-Oxo-Spezies, die das Sauer- stoffatom direkt auf das Substrat übertragen soll und damit das Hydroxylie- rungsprodukt bildet. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass auch Hydroxylierungen durch die Peroxy- bzw. Hydroperoxy-Spezies möglich sind. In dem letzten Schritt dissoziiert das Produkt dann ab und das Cyto- chrom P450 steht nun wieder in seinem Ausgangszustand für den nächsten katalytischen Zyklus zur Verfügung. Man erkennt, dass die entscheidenden katalytischen Prozesse am Hämeisen in der so genannten Hämtasche des Cy- tochrom P450 stattfinden, d.h. dass die Cytochrom P450-Katalyse eigentlich eine Hämkatalyse darstellt. Die Effektivität der Substratumwandlung wird je- doch durch Seitenreaktionen gemindert. Bereits auf der Ebene des Sauerstoff- komplexes beobachten wir eine erste Seitenreaktion; die autoxidative Abgabe - des Superoxidanionradikals O2 unter Rückbildung des dreiwertigen Eisens. Man hat vor vielen Jahren an verschiedenen Cytochromen P450 beobachtet, dass Wasserstoffperoxid (H2O2) ebenfalls als Nebenprodukt auftritt [12–14], - das entweder durch Dismutation des freigesetzten O2 entsteht oder direkt vom Eisen abdissoziiert, und dass das Ausmaß dieser Seitenreaktion mit der Natur des Substrates zusammenhängt. Kürzlich konnten wir erstmals eine weitere Seitenreaktion nachweisen, die durch die intermediäre Eisen-Oxo- Spezies ausgelöst wird; nämlich die Bildung von Proteinradikalen. Ein As- pekt der Forschung in meiner Arbeitsgruppe ist zu verstehen, welche struktu- rellen Eigenschaften des Proteins und des Substrates zu diesen Seitenreaktionen führen. Das ist von unmittelbarem Interesse für das Verste- hen der Funktionsweise von Cytochromen P450 im menschlichen Organis- - mus, denn O2 , H2O2 als auch Proteinradikale sind der Ursprung weiterer Prozesse, die für die lebende Zelle toxisch sind bzw. als Signalmoleküle in die Zellregulation eingehen. Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P450 55

3. Analyse des strukturellen Verhaltens des Cytochrom P450 mittels physikalischer Methoden Um diesen Zusammenhang auf molekularer Ebene zu erklären, bedarf es an- spruchsvoller physikalischer, insbesondere spektroskopischer Methoden, die es uns erlauben, strukturelle und elektronische Eigenschaften des Proteins und des gebundenen Hämkomplexes zu untersuchen. In der Abbildung 3 sind die wichtigsten Methoden zusammengefasst und schematisch den erfass- baren Bereichen des Proteins zugeordnet.

Abb. 3: Physikalische Methoden zur Charakterisierung der Hämproteine, X stellt den proximalen Hämliganden dar, der im Cytochrom P450 durch den negativ geladenen Schwefel eines Cysteins gebildet wird. Y-Z repräsentiert den distalen Hämliganden, der im Laufe des Reaktionszyklus wechseln kann. Für viele Untersuchungen bildet Kohlenmonoxid als Y-Z ein wichtiges Sondenmolekül, das es erlaubt, Struktureigenschaften des Protein-Substrat-Kom- plexes zu charakterisieren. Die Daten, die die verschiedenen spektroskopischen Methoden liefern, wer- den wie ein Puzzle zusammengefügt und ergeben ein Gesamtbild. In meiner Arbeitsgruppe haben wir insbesondere die Fourier-Transform-Infrarotspekt- roskopie (FTIR) mit einer Reihe von zusätzlichen Techniken etabliert [15]. Damit sind wir einer der wenigen Labore in Deutschland, die FTIR-Untersu- chungen an Proteinen unter vielfältigen Aspekten der Strukturveränderung 56 Christiane Jung durch Temperatur, Druck und als Funktion der Zeit durchführen können. Mit der FTIR-Spektroskopie erhalten wir Informationen über das Schwingungs- verhalten des Proteins und können über die Absorptionsbanden spezifischer Atomgruppen als Sonde in bestimmte Bereiche des Proteins schauen. Durch Variation der Temperatur zwischen Raumtemperatur und 100°C erhalten wir Aussagen über die strukturelle Stabilität des Proteins [16]. Dagegen durch Abkühlen bis zu -253°C können wir kleinere Strukturveränderungen, die für die Dynamik des Proteins wichtig sind, studieren [17]. Durch Veränderung des hydrostatischen Drucks bis in den Bereich von 10 kbar können wir Infor- mationen über die Kompressibilität des Proteins erhalten [18]. Wir haben die FTIR-Spektroskopie mit einem Flashphotolyse-System gekoppelt [19]. Durch einen Laserlichtimpuls der Dauer von nur 5 Nanosekunden wird die Bindung zwischen dem Eisen und dem axialen Liganden (Abbildung 3) auf- gebrochen und der Ligand verlässt das Protein. Als Liganden benutzen wir Kohlenmonoxid (CO) als Sondenmolekül, das sich an die gleiche Position bindet wie molekularer Sauerstoff im natürlichen Reaktionszyklus (Abbil- dung 2). Nach Abklingen des Impulses wandert das CO Molekül wieder zu- rück zum Eisen und wir können mittels der Step-Scan-Technik des FTIR- Spektrometers die Zeitabhängigkeit der Rückbindung im Nano- bis Millise- kundenbereich verfolgen und erhalten dabei vollständige Absorptions- spektren für jeden Zeitpunkt [19]. Dadurch sind wir in der Lage, sowohl die Kinetik als auch die in den Prozess involvierten Strukturveränderungen zu analysieren. Neben der FTIR-Spektroskopie liefert uns die UV-VIS-Elektro- nenabsorptions-Spektroskopie weitere Informationen insbesondere über den bereits oben beschriebenen High-Spin-Gehalt [20]. Mit diesen beiden Metho- den haben wir den Zustand des Cytochrom P450 in den einzelnen Schritten im Reaktionszyklus bis hin zur Sauerstoffbindung analysiert. Für die Analyse der folgenden Schritte müssen andere Techniken einge- setzt werden, die wir durch enge Kooperation mit verschiedenen Arbeitsgrup- pen nutzen. Hierbei sind wir insbesondere daran interessiert, die Natur des kurzlebigen Eisen-Oxo-Intermediates aufzuklären, weil der Mechanismus der Einführung des Sauerstoffatoms in das Substrat von der elektronischen Struktur dieser Spezies abhängt. Die Eisen-Oxo-Spezies kann in einem ver- kürzten Weg (Abbildung 2) durch Reaktion des Cytochrom P450 in der drei- wertigen Form mit einer Peroxysäure erzeugt werden. Da diese Spezies sehr kurzlebig ist, darf die Reaktionszeit nur wenige Millisekunden betragen und das erzeugte Intermediat wird durch die so genannte „Freeze-Quench“-Tech- nik sofort eingefroren. Im eingefrorenen Zustand wird das Intermediat dann Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P450 57 mittels der Mößbauer-Spektroskopie und der ESR-Spektroskopie analysiert. Die Mößbauerspektroskopie gibt uns Informationen über den Oxidationszu- stand des Hämeisens, während die ESR-Spektroskopie Aussagen über den Spin-Zustand des Eisens und über die Bildung organischer Radikale liefert.

4. Struktur-Funktions-Beziehungen im Cytochrom P450 4.1. Die Bildung von Wasserstoffperoxid im Reaktionszyklus des Häms im Cytochrom P450 ist ein Ausdruck einer verstärkten Wasserzu- gänglichkeit der Hämtasche infolge einer flexiblen Proteinstruktur.

Die Bestimmung funktioneller Parameter ist in den meisten Fällen einfach und eindeutig. Die Bildung von Wasserstoffperoxid kann durch etablierte co- lorimetrische Methoden bestimmt werden. Das Hydroxylierungsprodukt des Substrates wird mit Gaschromatographie und Massenspektrometrie nachge- wiesen. Die Analyse des Strukturverhaltens des Cytochrom P450 jedoch ge- staltet sich als wesentlich schwieriger, da Struktureigenschaften sich nur mittelbar über spektroskopische Sonden offenbaren. Man muss deshalb viele experimentelle und theoretische Untersuchungen auch an anderen Proteinen oder Modellverbindungen durchführen, um beurteilen zu können, welche Ei- genschaften sich in der Sonde reflektieren. Uns ist es erstmals gelungen, die FTIR-spektroskopischen Sonden für das Cytochrom P450 interpretierbar zu machen und für Struktur-Funktions-Studien zu nutzen [21,22].

Abb. 4: UV-VIS-Absorptionsspektren für das Cytochrom P450cam im Low-Spin-Zustand (subs- tratfrei) und High-Spin-Zustand (Kampher-gebunden) in der Fe(III)-Form und im CO-Komplex (links) und FTIR-CO-Streckschwingung als Funktion des High-Spin-Gehaltes für verschiedene Substratkomplexe (rechts) von Cytochrom P450cam [21]. 58 Christiane Jung

Im Jahre 1985 wurde von Poulos und Mitarbeitern [23] die dreidimensio- nale Kristallstruktur des Cytochrom P450cam als die erste Struktur eines Cy- tochrom P450 Proteins gelöst. Die kurze Zeit später publizierte Struktur des substratfreien Proteins [24] bestätigte die aus NMR-Experimenten [25] ge- machte Vermutung, dass das substratfreie Enzym viele Wassermoleküle in der Hämtasche aufweist und eines davon sich an das Hämeisen bindet. Diese Wassermoleküle sind für den Low-Spin-Zustand des Hämeisens verantwort- lich, was an der Soretbande des Häms nachgewiesen wurde (Abbildung 4). Das Substrat Kampher verdrängt diese Wassermoleküle und das Eisen geht in den High-Spin-Zustand über, was wiederum durch die Verschiebung der Soretbande verifiziert wurde. Große Probleme bereitete jedoch zu verste- hen, wie es kommt, dass durch die Bindung von anderen Substraten eine voll- ständige Überführung in den High-Spin-Zustand nicht möglich ist, d.h. ein High-Spin-Gehalt kleiner als 100 % entsteht. Dieses Puzzle konnten wir nun durch eine Vielzahl von Untersuchungen mit den verschiedenen oben er- wähnten Techniken zusammenfügen. Es stellt sich heraus, dass der High- Spin-Gehalt einen dynamischen Zustand der Proteinstruktur beschreibt. Ist die Proteinstruktur sehr flexible und kann nicht ausreichend durch die Bin- dung eines Substrates verfestigt werden, dann gibt es einen ständigen Aus- tausch von Wassermolekülen zwischen der Hämtasche und dem äußeren Lösungsmittel. Es stellt sich ein dynamisches Gleichgewicht ein und der High-Spin-Gehalt kann als Maß für eine mittlere Aufenthaltsdauer von Was- sermolekülen interpretiert werden. Je kleiner der High-Spin-Gehalt ist, um so länger halten sich im zeitlichen Mittel die Wassermoleküle in der Hämtasche auf. Wir konnten nun zeigen, dass dieses Phänomen nicht nur auftritt, wenn das Eisen in der dreiwertigen Form vorliegt, also zu Beginn des Reaktions- zyklus, sondern sich durch den ganzen Reaktionszyklus hindurchzieht. Die- ser Sachverhalt schlägt sich in Korrelationen vieler physikalischer Parameter wie der Streckschwingungsfrequenz des CO Liganden und der Position der Soretbande des P450-CO-Komplexes (Abbildung 4) [21], der Geschwindig- keitskonstante der CO-Rückbindung nach Flashphotolyse [19] und in Stop- ped-Flow-Experimenten [26], der Wiedereinlagerung von Wassermolekülen in die Proteinstruktur nach einem Temperatursprung [27], der Kompressibi- lität der Proteinstruktur [28] und der Beweglichkeit des Substrates im aktiven Zentrum [27] mit dem high-spin-Gehalt nieder. Mit Hilfe der Streckschwin- gung des CO-Liganden als Sondenmolekül fanden wir heraus, dass durch eine verstärkte Wassereinlagerung spezifische polare Kontakte zwischen dem Sauerstoffliganden und Aminosäuren des Proteins verlorengehen [29], Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P450 59 die für den spezifischen Protonentransport zum Sauerstoff erforderlich sind. Die Konsequenz ist eine unspezifische Protonenanlagerung aus dem Wasser und der Abdissoziation des Sauerstoffs als Wasserstoffperoxid (Abbildung 2). Somit ist das Ausmaß der Wasserstoffperoxidbildung als Seitenreaktion eine Folge der erhöhten strukturellen Dynamik des Cytochrom P450-Subs- tratkomplexes (Abbildung 5) zu verstehen [29,30].

Abb. 5: Kreuzkorrelation der Bildung von Wasserstoffperoxid (H2O2) (•) im natürlichen Reakti- onszyklus von Cytochrom P450cam für verschiedene Substrat-Komplexe für Wildtyp-P450cam und Mutanten, die im Fe(III)-P450cam unterschiedliche High-Spin-Gehalte (HS) erzeugen, mit physikalischen Parametern für die strukturelle Charakterisierung der Protein-Substrat-Kom- plexe [29]. Gleichgewichtskonstante für das Spin-Gleichgewicht Kspin=HS/(1-HS), Wasser-In- fluxrate: prozentualer Verlust von HS bei schneller Abkühlung bezogen auf 1 Grad und einer Zeit von 10 Minuten [27], Substrat-Mobilität angegeben als B-Faktor des Substrates in der Kristall- struktur des P450cam-Substratkomplexes [27]. Geschwindigkeitskonstante der Bindung von CO an das Hämeisen in den P450cam-Substratkomplexen, bestimmt aus Flashphotolyse- und Stop- ped-Flow-Daten [19,26]. Aktivierungsvolumen ∆V# für die CO-Bindung: bestimmt aus der Druckabhängigkeit der Geschwindingkeitskonstante der CO-Bindung [26], Protein-Volumen- fluktuation bestimmt aus der Druck-induzierten Verschiebung der Soret-Bande des P450cam- CO-Komplexes [28], Position der Soret-Bande und der CO-Streckschwingungsfrequenz für ver- schiedene P450cam-Substratkomplexe [21]. 60 Christiane Jung

4.2. Die räumliche Nähe von Tyrosin zum Häm führt in der Eisen-Oxo- Spezies zum intramolekularen Elektronentransfer und erzeugt ein Proteinradikal. Die strukturelle Dynamik des Protein-Substratkomplexes hat aber auch eine weitere Konsequenz, die wir bisher nur in Ansätzen verstehen. Man stelle sich vor, es wird ein Handballspiel mit dem einzigen Ziel ausgetragen, dass ein spezifischer Spieler einen Ball von einer bestimmten Stelle aus an sich reißt und das Spielfeld so schnell wie möglich verlässt. Das Spielfeld ist eine Fläche mit zwei dicht beieinander liegenden Löchern. In dem einen Loch be- findet sich der Spielball und in dem anderen Loch eine klebrige Flüssigkeit. In verschiedenen Abständen von diesen Löchern stehen Eimer mit kleineren Bällen. Alle anderen Spieler sind Gegner des spezifischen Spielers und müs- sen versuchen, aus den Eimern einen Ball zu entnehmen und in das Loch mit der klebrigen Flüssigkeit zu werfen. Sobald das erreicht ist, läuft die Flüssig- keit in das andere Loch und klebt den Spielball fest und der spezifische Spie- ler kann den Ball nicht mehr an sich nehmen. Wovon hängt es nun ab, ob der spezifische Spieler Erfolg hat oder nicht? Sicherlich hängt es davon ab, wie schnell der spezifische Spieler zum Spielball laufen und ihn in die Hand neh- men kann. Andererseits werden die Gegenspieler ihrerseits um so schneller einen Ball aus einem Eimer nehmen und zum Loch mit der Flüssigkeit brin- gen können, je dichter die Eimer an dem Loch stehen und die Gegenspieler rennen können. Analog verhält es sich mit unserer Eisen-Oxo-Spezies im Cy- tochrom P450. Das Substrat muss das Sauerstoffatom vom Eisen wegfangen und dann als Hydroxylierungsprodukt schnell die Hämtasche des Proteins verlassen. Es kann das Sauerstoffatom aber nur wegreißen, wenn der Porphy- rinring im Häm ein Kationradikal ist. Befindet sich nun in der Nähe des Häms ein Tyrosin, das durch Elektronenabgabe das Porphyrinkationradikal neutra- lisiert, dann kann das Sauerstoffatom nicht mehr an das Substrat abgegeben werden. Das entstandene Tyrosinradikal ist aber hoch reaktiv und kann eine Reihe anderer Reaktionen auslösen, z.B. die Erzeugung von OH-Radikalen, die wiederum toxisch für die lebende Zelle sind. In der Tat ist es uns als Erste kürzlich gelungen, mittels der Mößbauer-Spektroskopie und der ESR-Spekt- roskopie bei verschiedenen Frequenzen (9.6, 94, 190 und 285 GHz) in enger Kooperation mit der Universität Lübeck, Institut für Physik (Prof. A.X. Trautwein und PD Dr. V. Schünemann), der Technischen Universität Berlin, Max-Volmer-Institut (Dr. F. Lendzian) und dem Grenoble High Magnetic Field Laboratory, CNRS, Frankreich (Dr. A.–L. Barra) den Oxidationszu- stand des Eisens (Fe(IV), [31].) und die Bildung eines Tyrosinradikals in der Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P450 61

Eisen-Oxo-Spezies des Cytochrom P450cam nachzuweisen [32]. In Kombi- nation mit Verfahren zur mathematischen Simulation der Spektren und zum Austausch von spezifischen Tyrosinen mittels gentechnischer Methoden ord- neten wir das ESR-Signal eindeutig einem spezifischen Tyrosin in der dreidi- mensionalen Struktur des Proteins zu (Y96 im Wildtyp bzw. Y75 in der Y96F-Mutante des P450cam) [33] (Abbildung 6).

Abb. 6: 94-GHz-ESR-Spektrum des Tyrosinradikals in der Eisen-Oxo-Spezies im Cytochrom P450cam (links), erzeugt durch eine 8ms-Reaktion von Fe(III)-P450cam mit Peroxyessigsäure (PA) und „freeze-quenched“ bei –110°C in Isopentan [33]. Exp., experimentelles Spektrum, Sim:, simuliertes Spektrum, WT, Wildtyp P450cam, Y96F, Mutante, bei der das Tyrosin 96 durch Phenylalanin ersetzt ist, Y97F/Y75F, Doppelmutante, bei der die Tyrosine 96 und 75 durch Phe- nylalanine ersetzt sind. (rechts): Häm und die relevanten Häm-nahen Tyrosine im P450cam. Nach Entfernen der Häm-nahen Tyrosine beobachten wir auch kein Tyrosin- radikalsignal mehr im ESR-Spektrum. Zu unserer großen Überraschung konnten wir aber auch kein Porphyrinkationradikal nachweisen. Offensicht- lich gibt es noch weitere Möglichkeiten, das Porphyrinradikal zu neutralisie- ren, oder – und das wäre sehr bedeutungsvoll – die seit 30 Jahren existierende Theorie eines intermediären Porphyrinradikals in der Eisen-Oxo-Spezies des Cytochrom P450 ist nicht korrekt. Welche der Varianten auch zutrifft, den konkurrierenden Kampf um das Sauerstoffatom kann das Substrat häufig nicht gewinnen, mit der schlimmen Folge, dass andere reaktive Spezies ent- 62 Christiane Jung stehen, die für die lebende Zelle sehr ungünstig sein können. Die konkrete Struktur und Dynamik der Cytochrom P450-Proteine im Komplex mit ihren Substraten kann ihre Aufgabe zum Abbau der Substrate (z.B. Arzneimittel) erfüllen oder dafür sorgen, dass der Reaktionszyklus im Leerlauf arbeitet und nur „Abgase“ erzeugt.

5. Schelers Vision von der Variabilität der Funktion des Häms in den verschiedenen Hämproteinen und die aktuelle Erkenntnis ihrer Rolle in der Regulation von Zellfunktionen „Eines der interessantesten Probleme der Biochemie ist zweifelsohne die Va- riabilität der Funktion von Hämoproteiden. In einer relativ eng verwandten Klasse von Stoffen, die sich durch gleiche prosthetische Gruppen auszeich- nen, vermögen unterschiedliche Proteinkomponenten einen erheblichen Funktionswandel zu bewirken. So reicht die biologische Funktion der Hämo- proteide vom Hämoglobin als Sauerstoffüberträger einerseits hinüber zu ka- talatischen, peroxydatischen und Redox-Biokatalysatoren andererseits.“

Abb. 7: Auswahl wichtiger Hämproteine, die kleine Signalmoleküle als Liganden binden oder er- zeugen, die für die Regulation vieler Zellreaktionen wichtig sind. Fehlregulation durch erhöhte oder erniedrigte Konzentrationen der Signalmoleküle führen zu Krankheiten. Von der Hämkatalyse zum Cytochrom P450 63

Diese von Scheler vor mehr als 45 Jahren in seiner Schrift [34] niederge- legte Vision ist niemals so aktuell gewesen wie heute. Viele Hämproteine wa- ren zu jener Zeit noch nicht bekannt, so auch das Cytochrom P450. Heute wissen wir, dass die vielen kleinen Moleküle, die als Hämliganden fungieren oder am Hämeisen erzeugt und an die Umgebung abgegeben werden, wichtige Signalmoleküle für die Zellregulation darstellen (Abbildung 7). Das oben beschriebene Wasserstoffperoxid ist in hohen Konzentrationen zytotoxisch [35] und wird über Katalasen entfernt [36]. Peroxidasen nutzen Wasserstoffperoxid für Substratumwandlungen [37]. In geringen Konzentra- tionen ist H2O2 aber ein essentielles Signalmolekül z.B. für vaskuläre Rela- xation durch Stimulierung der Expression der löslichen Guanylat-Cyclase (sGC) oder für die Stimulierung von Proteinphosphorylierungen [38, 39]. Das „giftige“ Kohlenmonoxid, ein hervorragender Hämligand, ist ein Pro- dukt der Hämoxygenase und geht als Signalmolekül in die Regulation von Transkriptionsprozessen ein und stimuliert auch die Aktivität der sGC [40,41,42]. Die mit dem Nobel-Preis gewürdigte Entdeckung, dass das kleine NO-Molekül als ein typischer Ligand für das Hämeisen den „endothelium- derived relaxing factor (EDRF)“ darstellt [43] und auch als Neurotransmitter wirkt [44], hat unser Verständnis für die funktionelle Bedeutung der Hämpro- teine revolutioniert. Das dieses Signalmolekül erzeugende Enzym ist die NO- Synthase, in der das Häm eine ähnliche Koordinationssphäre hat wie das Cy- tochrom P450 obwohl die dreidimensionale Struktur verschieden ist [45,46]. Die insbesondere für das Cytochrom P450 bekannte merkliche Freisetzung - des Superoxidanions (O2 ) kann mit NO zu dem zytotoxischen Peroxynitrit reagieren [47]. Die Folge sind Oxidationen und Nitrierungen von Tyrosinen mit verheerenden Folgen für die Funktion von vielen Proteinen [48]. Die Hämgruppe der sGC fängt mit hoher Affinität NO ab. Dadurch wird die ka- talytische Kapazität der sGC für die Umwandlung von Guanosin-Triphosphat zu zyklischem Guanosin-Monophosphat um etwa das 200-fache erhöht, was die Regulation von Ionenkanälen und damit die Zellfunktion beeinflusst [49]. Selbst die Myoglobine und Hämoglobine, seit den siebziger Jahren als weit- gehend funktionell und strukturell verstanden und als „langweilig“ angese- hen, erfreuen sich einer bemerkenswerten Renaissance in der aktuellen Forschung, nach dem ihr Beitrag zur Zellregulation durch ihre spezifische Wechselwirkung mit NO und ihre Radikaltransferfunktion erkannt wurden [50,51]. Die intermediäre Eisen-Oxo-Spezies, die durch Wechselwirkung - von Sauerstoffspezies wie O2, O2 und H2O2 mit fast allen Hämproteinen ent- steht, ist die Quelle von Proteinradikalen [52], was wiederum funktionelle 64 Christiane Jung

Konsequenzen hat. Für das Cytochrom P450 haben wir Proteinradikale erst- mals nachgewiesen und eindeutig strukturell zugeordnet [31–33]. Wir müssen uns fragen, ob wir der Vielfältigkeit der Funktion der Cyto- chrome P450 wirklich voll Rechnung tragen, wenn wir „nur“ die biosynthe- tische und biotransformatorische Aufgabe für die diversen endogenen und exogenen organischen Stoffe betrachten. Wir stehen erst am Anfang, den Bei- trag der Cytochrome P450 zur Häm-basierten Erzeugung und Umwandlung kleiner Signalmoleküle zu verstehen (Abbildung 2). So treffen sich heute aktuelle Forschungsfelder, die einerseits die biolo- gischen Zellen als komplexe Regulationsmodule betrachten, mit biophysika- lischen Untersuchungen zur Struktur und Protein-Ligand-Wechselwirkung unter Einsatz klassischer und moderner anspruchsvoller physikalischer Tech- niken. Der Jubilar hat mit seinen frühen physikalischen Untersuchungen „Über die Zusammenhänge zwischen Lichtabsorption und paramagnetischer Suszeptibilität bei Methämoglobin-Komplexen“ [1] dazu Bäumchen ge- pflanzt, die inzwischen zu kräftigen Baumbeständen herangewachsen sind. Ein Blick in die Baumwipfel lässt die Weite des Himmels erkennen, wo neue Erkenntnisse wie Vögel durch die Lüfte gleiten.

Lieber Jubilar, 80 Lebensjahre eines aktiven und kreativen Forschers und Wissenschaftsor- ganisators verlangen Respekt und Dankbarkeit von der folgenden Wissen- schaftlergeneration. Häufig geben erst Jubiläen wie dieses Anlass, solche Erkenntnis zu reflektieren. Ich möchte daher die Gelegenheit nehmen, die frühen wissenschaftlichen Beiträge des Jubilars zur Hämkatalyse und damit zur Cytochrom P450 Forschung nochmals würdigend hervorzuheben. Für die weiteren Aktivitäten wünsche ich dem Jubilar Gesundheit, viel Kraft und Freude und ich glaube, dass ich damit auch im Namen meiner ehe- maligen Kollegen der Abteilung Hämkatalyse gesprochen habe.

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Rita Bernhardt1

Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie

Sehr verehrter Jubilar, Herr Präsident, liebe Kolle- gen und Gäste,

es ist mir eine ganz besondere Freude und auch eine außerordentliche Ehre, dass ich heute diesen Vortrag zu Ehren des 80. Geburtstages von Werner Scheler halten darf. Wie wir hier bereits gehört haben, zog sich die Farbe Rot in mehrfacher Hinsicht durch das gesamte Le- ben unseres Jubilars. Schon in den 50er Jahren, Rita Bernhardt nachdem er sich der Gruppe um Friedrich Jung am Pharmakologischen Institut der Humboldt-Universi- tät zu Berlin angeschlossen hatte, publizierte er seine ersten Arbeiten zum ro- ten Blutfarbstoff, dem Hämoglobin. Und noch als Akademie-Präsident blieb er der Untersuchung von Hämoproteinen, insbesondere von Cytochromen P450, in seiner Gruppe, der Abteilung Hämkatalyse, treu. Ich bin 1977, in ei- ner Zeit, da Werner Scheler noch Leiter des Forschungszentrums in Berlin- Buch war, an das Zentralinstitut für Molekularbiologie Berlin-Buch in die Abteilung Biokatalyse (Leiter: Prof. Klaus Ruckpaul) gekommen. Und seit- her lassen auch mich die Hämoproteine, und zwar die Cytochrome P450, nicht mehr los. Einen Überblick darüber, was diese interessante Enzymgrup- pe, die durch den Hämcharakter, aber auch die große Bedeutung für die Phar- makologie, gleich zweifach mit dem Jubilar verbunden ist und auch darüber, was ich in den letzten Jahren in meiner Gruppe erarbeitet habe, möchte ich jetzt geben.

1 Universität des Saarlandes, FR 8.8 – Biochemie, P.O. Box 15 11 50, D–66041 Saarbrücken, 70 Rita Bernhardt

1. Einführung zu den Cytochromen P450 Cytochrome P450 sind Hämoproteine, d.h. sie enthalten als prosthetische Gruppe das Protoporphyrin IX, den roten Blutfarbstoff Häm, der unseren Ju- bilar, den hochgeschätzten und hochverehrten Werner Scheler, sein ganzes Leben lang begleitete. Cytochrom P450 Systeme katalysieren folgende Reaktion: + + RH + O2 + NAD(P)H + H → ROH + H2O + NAD(P) Ihren Namen erhielten sie durch die für Hämoproteine untypische Absorption des reduzierten CO-Komplexes bei 450 nm (Abb. 1)

Abb. 1: Spektrum des reduzierten CO-gebundenen Komplexes von Cytochrom P450 Cytochrome P450 sind in den Metabolismus vieler Arzneimittel und Xenobi- otika eingebunden (Abb. 2): Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie 71

• Hydroxylierung von Aromaten (Bsp.: Steroide, Gallensäuren, Anilin) • Hydroxylierung von Aliphaten (Bsp.: Fettsäuren, Alkane) • Seitenketten-Hydroxylierung (Bsp.: Cholesterol, Barbiturate) • Epoxidation (Bsp.: Vinylchlorid) • Peroxidation (Bsp.: Lipide) • N-Oxidation (Bsp.: Nikotin, Morphin), S-Oxidation • N-Desalkylierung, O-Desalkylierung (Bsp.: Codein), S-Desalkylierung • Desaminierung (Bsp.: Amphetamine, Mescalin) • Dehalogenierung (Bsp.: Chloroform)

Abb. 2: Beispiele für P450-katalysierte Reaktionen Die von ihnen katalysierten Reaktionen sind sehr vielfältig und umfassen z.B. Hydroxylierungen, N-, O- und S-Dealkylierungen, Sulfoxidation, Epoxidie- rung, Desaminierung, Entschwefelung, Dehalogenierung, Peroxidierung und N-oxid-Reduktion. Ihre Substrate sind Fettsäuren, Steroide, Prostaglandine, aber auch eine große Zahl anderer Komponenten wie Arzneimittel, Anästhet- ika, organische Lösemittel, Ethanol, Alkyl-Aryl-Kohlenwasserstoffe, Pestizi- de und Karzinogene (siehe Bernhardt 1996, 2003; Ruckpaul und Rein 1981). Es ist offensichtlich, dass diese Vielzahl von Substraten und katalysierten Reaktionen nicht durch wenige Iso-Formen von Cytochrom P450 umgesetzt bzw. bewirkt werden können. Bei der ersten Klassifikation der Protein-Fami- lie im Jahre 1991 wurden 154 verschiedene P450-Gene beschrieben und in 27 Gen-Familien eingeteilt. 1993 war die Anzahl der P450-Gene schon auf 221 angewachsen, die in 36 Genfamilien vorkommen; jetzt sind mehr als 3000 P450-Gene bzw. cDNAs kloniert, die mehr als 200 CYP Familien angehören (siehe http//drnelson.utmem.edu/nelsonhomepage.html) (Abb. 3).

Sept. 2002: 2383 Isoenzyme (Gene) • Total: >200 • Bakterien: 75 • Pilze: >20 • Pflanzen: 52 • Tiere: 69 • Säuger: 18 Familien, 43 Subfamilien

Abb. 3: CYP Familien Nach der neuen Nomenklatur wird das Kürzel CYP zur Charakterisierung der P450-Hämoproteine benutzt. Die daran anschließende arabische Ziffer kenn- zeichnet die Genfamilie, der nachfolgende Buchstabe die Unterfamilie und 72 Rita Bernhardt die zweite Ziffer das einzelne Enzym, z.B. CYP1A1 ist Cytochrom P4501A1 (früher als P450c bezeichnet). Mitglieder der gleichen Genfamilie sind so de- finiert, dass sie normalerweise ≤ 40% Sequenz-Übereinstimmung zu P450- Proteinen anderer Familien aufweisen. Diese Definition wurde willkürlich festgelegt, hat sich jedoch als sehr brauchbar erwiesen. Säugetier-Sequenzen innerhalb der gleichen Unterfamilie sind immer > 55 % identisch. Analysiert man die Zahl der Cytochrome P450 in verschiedenen Organismen, so fällt auf, dass es sehr große Schwankungen gibt (Abb. 4).

• Escherichia coli: 0 • Bacillus subtilis: 7 • Mycobacterium tuberculosis: 20 • Saccharomyces cerevisiae: 3 • Arabidopsis thaliana: 275 • Caenorhabditis elegans: 80 • Drosophila melanogaster: 90 •Mensch: 58

Abb. 4: CYPom (= Gesamtheit aller CYPs eines Organismus) verschiedener Organismen Während die Pflanze Arabidopsis mehr als 200 verschiedene Gene für Cyto- chrome P450 aufweist, deren Funktionen wir bisher noch nicht einmal annäh- ernd kennen, weist der Mensch 58 verschiedene Formen auf, deren Funktionen wir ebenfalls noch nicht alle im Detail verstehen. Die Verteilung auf die verschiedenen Chromosomen ist sehr ungleichmäßig. So finden sich auf Chromosom 2 beispielsweise 5 verschiedene Cytochrome P450, während Chromosom 5 keines aufweist. Beim Menschen sind ca.15 verschiedene Cy- tochrome P450 am Arzneimittelmetabolismus beteiligt. Etwa 75-80% der Phase I Reaktionen werden durch Cytochrome P450 der Familien 1–3 kata- lysiert, wobei CYP3A4 am Metabolismus von > 50% der Arzneimittel (Bsp.: Erythromycin, Cyclosporin, Nifedipin) teilnimmt (Evans and Relling 1999). Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass mehrere dieser Arzneimit- tel-metabolisierenden Cytochrome P450 sogenannte Polymorphismen auf- weisen, also Änderungen in den Genen, die zu Änderungen in der Aktivität dieser Enzyme führen. So konnte gezeigt werden, dass CYP2D6 bei 5–10% der europäischen (caucasian) Bevölkerung Defekte aufweist, die eine starke Verringerung des Abbaus von Arzneimitteln wie Debrisoquin und Bufuralol bewirkt (Meyer 1996) und somit zu erheblichen Nebenwirkungen führen kann. Andererseits konnte gezeigt werden, dass es Patienten gibt, die mehr- fache Kopien dieses Gens aufweisen, wodurch es zu einem sehr schnellen Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie 73

Abbau der entsprechenden Arzneimittel kommt (Ingelmann-Sundberg 2001). Mit den Mitteln der Molekularbiologie können diese Gendefekte analysiert werden und die Patienten können die entsprechende individuelle Arzneimit- teldosis bekommen. Allerdings werden derartige molekulargenetische Unter- suchungen zur individuellen Arzneimitteltherapie z.Z. aus Kostengründen noch nicht breit angewandt. Die Verschiedenheit der Cytochrome P450 und die von ihnen katalysier- ten Reaktionen haben das Interesse von Forschern sehr verschiedener Rich- tungen auf sich gezogen (Abb. 5).

Metabolism of endogeneous substrates (steroids, fatty acids, prostaglandin, Therapy of diseases (e.g. fungal vitamine D, bile acids) infection, hypertension), gene Biotransformation of drugs therapy Physiology Medicine Pharmacology Bioactivation of carcinogens

Degradation of Cytochrome P450 terpenes, alkanes, Microbiology Toxicology fatty acids systems Biotransformation Chemistry Environmental of xenobiotics Sciences Plant Sciences Stereo- and regioselective hydroxylation Conversion of Biomonitoring Metabolism of herbicides, insecticides phytoalexins, alkaloids, terpenes, cyanogenic glucosides

Abb. 5: Cytochrom P450-Funktionen Neben Pharmakologen und Toxikologen arbeiten auch Endokrinologen, Phy- siologen, Mikrobiologen, Organische Chemiker, Pflanzenphysiologen und Umweltforscher an verschiedensten Aspekten der Funktion und Regulation von P450. Auch unser Jubilar hat sich mehrere Jahre, ausgehend von seinen Untersuchungen am Hämoglobin und wegen der pharmakologischen Rele- vanz der Cytochrome P450 mit dieser Enzymgruppe beschäftigt, wie z.B. sein Beitrag im vom Akademie-Verlag 1983 von Ruckpaul und Rein heraus- gegebenen Buch „Cytochrome P450“ belegt. Die wachsende Vielfalt von Or- ganismen, in denen P450-Gene und -Enzyme gefunden wurden und die Entdeckung neuer P450-Formen wird zu weiteren Untersuchungen und neu- en Forschungsgebieten führen. Das Hauptinteresse meiner Gruppe gilt den Cytochrom P450-abhängigen Steroidhydroxylasen. Noch zu DDR-Zeiten hatten wir in der Gruppe von 74 Rita Bernhardt

Klaus Ruckpaul damit begonnen, an der Herstellung rekombinanter Mikroor- ganismen zu arbeiten, die für die Steroidhormonproduktion eingesetzt werden sollten. Die damaligen Bedingungen ließen ein schnelles Voranschreiten nicht zu, erlaubten mir aber, im Rahmen des Akademieaustausches mit Japan, mit einem Stipendium der Japan Society for Promotion of Science, gentechnische Methoden im Labor von Prof. Fujii-Kuriyama in Sendai zu erlernen. Dieses methodische know-how hat mir dann in den Folgejahren sehr geholfen, mein wissenschaftliches Arbeitsfeld erfolgreich zu bearbeiten. Sie sind von prinzi- pieller Bedeutung für die Steroidhormonbiosynthese (siehe Abb. 6).

CYP17 O CYP17 OH

OH OH CHOLESTEROL DEHYDROEPI- O 17-OH- PREGNENOLONE ANDROSTERONE

CYP11A1 OH 3β-HSD 3β-HSD 3β-HSD PREGNENOLONE

MITOCHONDRIUM O CYP17 O CYP17 OH OH

O CYP11B2 OH O O ANDROSTENE PROGESTERONE 17-aOH- CYP11B2 PROGESTERONE DIONE O CYP21

CORTICOSTERONE OH

OH O OH

O OH O O CYP11B2 OH CYP21 OH ENDOPLASMIC O

O 11-DEOXY- O RETICULUM CORTICOSTERONE 18-OH-CORTICOSTERONE ALDOSTERONE

OH OH

O CYP11B1 O OH OH OH

O O CORTISOL CYTOSOL 11-DEOXYCORTISOL

Abb. 6: Schema der Steroidbiosynthese in menschlichen Nebennieren Insbesondere erforschen wir die mitochondrialen Cytochrom P450-Systeme (aus Rind bzw. aus humaner Nebenniere): CYP11A1, das die Seitenketten- spaltung des Cholesterols katalysiert, CYP11B1, das die 11β-Hydroxylierung von 11-Desoxycortisol zu Cortisol katalysiert, sowie CYP11B2, das die Um- setzung von 11-Desoxycorticosteron zu Aldosteron bewirkt. Des weiteren ar- beiten wir an der Expression und Charakterisierung der 15β-Hydroxylase aus Bacillus megaterium (CYP106A2). Die genannten Steroidhydroxylasen er- halten die für die Sauerstoffaktivierung nötigen Elektronen über eine Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie 75

NAD(P)H-abhängige Reduktase sowie über ein Eisen-Schwefel-Protein des [2Fe-2S]-Typs, im Falle des Nebennierenproteins als Adrenodoxin bezeich- net (Abb. 7).

Cortisol Formation Catalized by Production of Aldosterone by Human CYP11B2 Mutants Human CYP11B2 Mutants

100 100

90 80 80

70

60 60 Hydroxylation (%) ί 50

40 40

30

20 Aldosterone synthesis (%) 20

11 Deoxycortisol 11 10

0 0 L301P MOCK K296N A320V E302D D335N L301P MOCK K296N A320V E302D D335N CYP11B1WT CYP11B2WT CYP11B1WT CYP11B2WT L301P/A320V L301P/E302D K296N/D335N L301P/A320V L301P/E302D K296N/D335N L301P/E302D/A320V K296N/A320V/D335N L301P/E302D/A320V K296N/A320V/D335N

Abb. 7: Schema des Aufbaus mitochondrialer Steroidhydroxylasen Drei Fragen stehen im Mittelpunkt des Interesses bei unseren Untersu- chungen: 1. Was ist die strukturelle Basis für die Ausprägung der Stereo- und Regio- selektivität von Steroid-Hydroxylierungen durch die Cytochrom-P450- abhängigen Steroid-Hydroxylasen? 2. Wie wird die Geschwindigkeit der Steroid-Hydroxylierungen reguliert? 3. Molekulargenetische Charakterisierung von Steroid-Hydroxylasen von Patienten, welche Defekte an diesen Proteinen haben (Adrenogenitales Syndrom, verursacht durch CYP11B1-Mangel; Glucocorticoid-suppri- mierbarer Hyperaldosteronimus, Hyperaldosteronismus).

2. Strukturelle Basis für die Regioselektivität von Steroid- Hydroxylierungen Nebennieren erzeugen drei Arten von Steroid-Hormonen: Mineralocortico- ide, Glucocorticoide und Androgene. Sie sind verantwortlich für den Mine- ralstoffhaushalt, für die Regulation des Protein-, Kohlenhydrat- und Lipid- Stoffwechsels und für die Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale. 76 Rita Bernhardt

Verschiedene Enzyme sind in die Synthese dieser Hormone eingebunden, darunter mehrere Cytochrome P450. Während einige dieser Cytochrome im Endoplasmatischen Rektikulum der Nebennieren lokalisiert sind (Cytochrom P450 17α, CYP17; Cytochrom P450 C21, CYP21A2), werden andere in Mi- tochondrien gefunden (Cytochrom P450scc, CPY11A1; Cytochrom P450 11β, CYP11B1; Aldosteron-Synthase, CYP11B2). CYP11A1 ist verantwort- lich für die Seitenketten-Abspaltung in Cholesterol, welche zu Pregnenolon führt. CYP11B1 katalysiert die11β-Hydroxylierung von 11-Desoxycorticos- teron und 11-Desoxycortisol, welche zu Corticosteron und Cortisol führt, während CYP11B2 die Aldosteron-Bildung über 18-Hydroxylierung und 18- Oxidation von Corticosteron gewährleistet (Abb. 6). Es ist hier anzumerken, dass die Überproduktion von Aldosteron nicht nur zu Bluthochdruck führen kann, sondern offenbar auch zu einer Fibrose des Herzgewebes und damit zu einer schlechteren Überlebensrate nach einem Herzinfarkt (Peters et al. 1998, Bureik et al. 2002 , Pitt et al. 1999). Computer-Modellierung und ortsgerichtete Mutagenese werden einge- setzt, um die Unterschiede in der Regiospezifität der Steroid-Hydroxylierung durch die menschlichen Nebennieren-Cytochrome CYP11B1 und CYP11B2, die zu 93% identisch sind, zu untersuchen. Nach der Klonierung der cDNAs aus normalen menschlichen Nebennieren wurde die Protein-Expression in COS-1-Zellen durchgeführt (Denner et al. 1995a). Zusätzlich wurde eine sta- bile Expression beider Enzyme in V79-Zellen von chinesischen Hamstern er- halten, die die ersten Zell-Linien darstellen, um Inhibitor-Effekte von Arzneimitteln und physiologischen Substanzen auf menschliche Mitochond- rien-Cytochrome P450 untersuchen zu können (Denner et al. 1995b, Denner und Bernhardt 1998). Die Effekte von Metyrapon, Spironolacton und ver- schiedener Azol-Derivate auf CYP11B1 und CYP11B2 wurden getestet und die Zell-Linien scheinen gut geeignet zu sein, um potentielle spezifische In- hibitoren von CYP11B2 zu identifizieren, die auf CYP11B1 keinen Einfluss haben (Denner et al. 1995b, Denner und Bernhardt 1998, Ehmer et al. 2002, Bureik et al. 2003). Derartige selektive und spezifische Inhibitoren für CYP11B2, die Aldosteronsynthase, sind ein neuer Ansatzpunkt für die Ent- wicklung von Arzneimitteln gegen den Aldosteron-bedingten Bluthochdruck und gegen bestimmte Formen von Herzerkrankungen. Die Computer-Modellierung der 3D-Strukturen von CYP11B1 und 11B2 auf der Basis bekannter 3D-Strukturen von bakteriellen Cytochromen P450 ergaben, dass drei Sequenz-Differenzen zwischen CYP11B1 und CYP11B2 in der sogenannten I-Helix auftreten, und zwar in den Aminosäure-Positionen Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie 77

301, 302 und 320. Einfache, doppelte und dreifache Mutanten wurden herge- stellt, wobei die normalerweise in CYP11B2 vorkommenden Aminosäuren in diejenigen von CYP11B1 geändert wurden (Abb. 8).

Engineering aldesterone- synthese activity into the non-active CYP11B1 enzyme

120 100 80 A mineralocorticoid synthesizing 60 protein (CYP11B2) has been 40 changed to a glucocorticoid- 20 synthesizing one (activity like 0

CYP11B1) by only 2-3 point CYP11B2 activity (%) mutations and CYP11B1 became

an aldosterone synthase by only WT V320A CYP11B2 one point mutation CYP11B1

Abb. 8: Änderung der Regioselektivität der CYP11B1 und CYP11B2 katalysieten Steroidhydro- xylierung durch ortsgerichtete Mutagenese Danach wurde untersucht, ob der Ersatz dieser Aminosäuren die Regiospezi- fität der Steroid-Hydroxylierung beeinflusst. Es wurde gefunden, dass eine L301P/A320V Doppel-Mutante von CYP11B2 die 11β-Hydroxylase-Aktivi- tät auf 60% (das native CYP11B2 hat unter diesen Bedingungen 10–15% Ak- tivität), verglichen mit derjenigen von CYP11B1, erhöht. Die zusätzliche Substitution des Asp-302 durch Glu-302 in CYP11B2 erhöhte die Aktivität auf 85% (Böttner et al. 1996, Böttner und Bernhardt 1996). Die Aldosteron- Synthase-Aktivitäten dieser CYP11B2-Protein-Mutanten wurde auf 10–13%, bezogen auf den Wild-Typ CYP11B2, reduziert. Dies ist der erste literaturbe- schriebene direkte Wechsel der Stereo- und Regioselektivität von Steroid- Hydroxylasen. Nach diesen Studien sollte getestet werden, ob es durch ortgerichtete Mu- tagenese im angegebenen sogenannten I-Helix-Bereich nicht nur möglich ist, bestimmte Reaktivitäten zu erniedrigen (im oben angegebenen Fall die 18- Hydroxylierung und 18-Oxidation), bei gleichzeitiger quantitativer Vergröß- erung einer anderen Aktivität (11β-Hydroxylierung von 11-Desoxycortisol), sondern ob auch eine neue Spezifität kreiert werden kann. Dazu wurden die Aminosäuren des CYP11B1 in dieser Region gegen solche des CYP11B2 ausgetauscht. Es zeigte sich, dass bereits der Austausch einer Aminosäure 78 Rita Bernhardt

(V320A) ausreicht, um die 11β-Hydroxylase (CYP11B1) zu einer Aldoste- ronsynthase (mit der Fähigkeit zur 18-Hydroxylierung/18-Oxidation) zu ma- chen (Böttner et al. 1998). Damit konnte durch rationales Proteindesign ein Enzym mit einer neuen Substratspezifität generiert werden. Interessant ist, dass der letztgenannte Be- fund neben der erkenntnistheoretischen und biotechnologischen Bedeutung auch physiologische Relevanz besitzt. Bestimmte Formen des zu Bluthoch- druck führenden Hyperaldosteronismus könnten auf eine einzige Punktmuta- tion zurückzuführen sein. Weitere Untersuchungen sollen die Anwendbarkeit der gefundenen Ergebnisse auf andere Steroidhydroxylasen bzw. andere Hy- droxylierungspositionen testen. Zu diesem Zweck werden in meiner Gruppe weiterhin Modelling und ortsgerichtete Mutagenese, aber auch die Methoden der molekularen Evolution eingesetzt.

3. Regulation der Geschwindigkeit der Steroidhydroxylierung 3.1. Die Funktion von Adrenodoxin als Elektronendonator für mitochondriale Cytochrome P450, CYP11A1 und CYP11B1 Die mitochondrialen Cytochrome P450 der Nebenniere übernehmen die not- wendigen Elektronen für die Sauerstoff-Aktivierung und die darauffolgende Substrathydroxylierung von einer NADPH-Adrenodoxin-Reduktase über ein Ferredoxin (Adrenodoxin) (Abb. 9).

NADP+ ROH H2O

+ NADPH + H AdR Adx P450 O2 R

Abb. 9: Schema der Funktion von Adrenodoxin als Elektronendonator Interessanterweise unterscheiden sich verschiedene P450-Systeme um einen Faktor von 100-1000 in ihrer Elektronenübertragungs-Rate und entsprechend in ihrer Substratumwandlungs-Effektivität. Die Gründe hierfür sind z.Z. noch unklar. Um dieser Frage nachzugehen, haben wir ein System für eine Hoch- leistungs-Adrenodoxin-Expression im Bakterium E. coli entwickelt und Mu- tagenese-Studien durchgeführt (Uhlmann et al. 1992). Es konnte gezeigt werden, dass sowohl die Expression in das Periplasma von E. coli als auch die Expression des fertigen Proteins in das Cytoplasma von E. coli zu der As- Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie 79 semblierung des Eisen-Schwefel-Clusters führt. Die Expressionsrate beträgt ca. 5 mg Adrenodoxin/l E. coli im Falle des periplasmatischen Expressions- Systems und 100 mg/l E. coli im Falle des cytoplasmatischen Systems. Die ortsgerichtete Mutagenese des einzigen Tyrosinbausteins von Adre- nodoxin, Y82, dessen Beteiligung an der Elektronenübertragung von der Re- duktase auf CYP11A1 auf der Basis chemischer Modifikationsversuche in der Literatur postuliert wurde, zeigte, dass diese aromatische Aminosäure nicht am Elektronentransfer beteiligt ist, jedoch in der Nähe der Interaktions- stelle dieses Proteins mit CYP11A1 und CYP11B1 lokalisiert ist. Interessan- terweise sind die Mutationseffekte weniger ausgeprägt, wenn anstatt CYP11B1 die Interaktion mit CYP11A1 betrachtet wird, was darauf hindeu- tet, dass der Elektronentransfer von Adrenodoxin zu diesen Proteinen partiell durch verschiedene Strukturen der Cytochrome bestimmt wird (Beckert et al. 1997). Da bei der Adrenodoxin-Isolierung aus Nebennieren eine proteolytische Verkürzung des Proteins vom C-terminalen Ende her stattfindet, wurde die Funktion dieser Region für Struktur und Funktion des Proteins systematisch untersucht, indem die Deletions-Mutanten Adx (4–114), Adx (4–108) und Adx (4–107), welchen die Aminosäure 1–3 und 115–128, 109–128 oder 108–128 fehlen, getestet wurden (Uhlmann et al. 1994). EPR- und CD-Studien zeigen, dass die Strukturen der Mutanten Adx (4–114) und Adx (4–108) von denen des Wildtyps abweichen. Die Mutante Adx (4–107), der zusätzlich zu den Aminosäuren 109-128 auch das einzige Prolin, Pro 108, fehlt, zeigt kein EPR-Signal. Das deutet darauf hin, dass P108 für die Bindung und/oder Stabilität des Eisen-Schwefel-Clusters unbe- dingt erforderlich ist. Thermodynamische Studien mit Mutanten des Adreno- doxins in der Position 108 (P108A. P108S, P108K und P108W) zeigen, dass der Austausch des Prolins an dieser Position zu einer drastischen Erniedri- gung der Proteinstabilität führt, die auf einen erhöhten Entropie-Beitrag des P108 bei der Auffaltung des Adrenodoxins zurückzuführen ist. Für die ther- modynamischen Studien wurde, gemeinsam mit der Gruppe von Prof. W. Pfeil/Universität Potsdam, einem Schüler unseres Jubilars, ein System entwi- ckelt, das derartige Untersuchungen dieses [2Fe-2S]-Proteins erlaubt (Burova et al. 1995, 1996). Es wurden Unterschiede in der Konformations-Stabilität verschiedener Adrenodoxin-Mutanten gefunden. Die in-vitro Substitution des [2Fe-2S]-Clusters in die Mutante Adx (4–107) lieferte ein aktives, aber signifikant weniger stabiles Protein im Vergleich zur Mutante Adx (4–108) bzw. zum Wildtyp. Funktionsstudien mit den Mutanten Adx (4–114) und 80 Rita Bernhardt

Adx (4–108) zeigten, dass die Effektivität der Substratumwandlung (Vmax) mit CYP11B1, nicht jedoch mit CYPA1 im Falle der Mutante Adx (4-108) um den Faktor 5 erhöht wird. Weiterhin wurde der erste Schritt des Elektro- nentransfers auf CYP11B1 um den Faktor 4,5 beschleunigt, was durch stop- ped-flow-Messungen gezeigt werden konnte (Uhlmann et al. 1994). Die molekulare Basis dieser Erhöhung der Elektronentransfer-Rate wird gegen- wärtig untersucht. Eine Mutante, die in der zur Aminosäure W106 des Puti- daredoxins homologen Position ebenfalls ein Trytophan aufweist (Adx verfügt natürlicherweise über kein Tryptophan in seiner Sequenz und nur über ein Tyrosin, Y82), S112W, zeigte eine um den Faktor 10 erhöhte Elek- tronentransfer-Geschwindigkeit zu CYP11A1. Die Effektivität der Katalyse (Vmax/Km) steigt um das etwa 100-fache an (Schiffler et al. 2000). Eine de- taillierte stopped-flow kinetische Untersuchung dieser und weiterer Mutanten wurde durchgeführt. Diese Ergebnisse zeigen, dass bei einer sehr guten Kenntnis der bearbeiteten Enzyme durch den gezielten Einsatz der ortsgerich- teten Mutagenese erhebliche Verbesserungen der katalytischen Eigen- schaften möglich sind. In weiteren Studien wurde belegt, dass neben dem in der Literatur be- schriebenen Wechselwirkungsareal des Adx um die Reste D76 und D79 ein weiteres Bindungsareal für AdR und die Cytochrome P450 nahe der Amino- säurereste D41 und T47 existiert (Hannemann et al. 2001).

3.2. Dreidimensionale Struktur von Adrenodoxin Die ersten Kristalle von Adrenodoxin wurden bereits zu Beginn der 70er Jah- re erhalten, dennoch gelang mehreren Gruppen nicht der Durchbruch zum Er- halt gut streuender Kristalle dieses Proteins. Eigene Untersuchungen und Literaturdaten zeigten, dass Adx im C-terminalen Bereich zur Proteolyse neigt. Wir haben daher mittels gentechnischer Verfahren verkürzte Formen dieses Proteins hergestellt und untersucht. Es zeigte sich, dass die Mutante Adx (4–108) über volle, z.T. sogar gegenüber dem Wildtyp verbesserte, Funktionseigenschaften verfügt (siehe oben) und gut streuende Kristalle lie- fert. Die Kristallstrukturanalyse erfolgte in der Gruppe von U. Heinemann (Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berlin) in Kooperation mit unserer Gruppe (Müller et al. 1998). Weitere Untersuchungen werden durchgeführt, auch mit Hilfe der molekularen Evolution, um die strukturellen Grundlagen der Regulation der Geschwindigkeit der Steroidhydroxylierung besser verstehen zu lernen. Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie 81

4. Untersuchungen der molekularen Basis von Störungen bei menschlichen Steroid-Hydroxylasen Es gibt eine ganze Reihe von Krankheitsbildern, die durch Störungen des Ste- roidstoffwechsels verursacht werden. Am häufigsten ist das sogenannte Adre- nogenitale Syndrom, bei dem es zu einem Ausfall der 21-Hydroxylase (CYP21) oder der 11β-Hydroxylase (CYP11B1), seltener der 17α-Hydroxy- lase/17,20-lyase (CYP17) oder der 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase kommt. Dadurch ist die Synthese von Cortisol (auch von Aldosteron) einge- schränkt, wohingegen es zu einem Anstieg von Zwischenprodukten des Ste- roidstoffwechsels, besonders der 17-Keto-Steroide (Vorstufen für die Androgenbiosynthese) und damit zu den bekannten klinischen Symptomen kommt. Beim CMO I-Defekt ist die Umwandlung von Corticosteron in 18-Hydro- xycorticosteron gehemmt, während beim CMO II-Defekt die Bildung von Al- dosteron aus 18-Hydroxycorticosteron inhibiert ist (siehe Peters et al. 1998). Bei Patienten mit Defekten in der mitochondrialen Steroid-Hydroxylie- rung wurde die DNA sequenziert und eine Funktionsanalyse der mutierten Proteine nach Expression der cDNAs in COS-1-Zellen durchgeführt. Es konnte gezeigt werden, dass die Aminosäuresubstitution R384P in CYP11B2 einen Abfall der 18-Hydroxylaseaktivität hervorruft. Damit konnte das kli- nische Bild des CMO I-Defekts eindeutig einer Punktmutation zugeordnet und die molekulargenetische Ursache des Krankheitsbildes bei dem unter- suchten Patienten aufgeklärt werden. In einer Reihe weiterer Patienten wurde als Auslöser für einen Glucocorticoid-supprimierbaren Hyperaldosteronis- mus ein chimäres Gen aus CYP11B1 und CYP11B2 gefunden (Strauch et al. 2003), während in einigen Patienten keine Chimären-Bildung nachgewiesen werden konnte, obwohl der Hyperaldosteronismus Dexamethason-suppri- mierbar war. Es wurde in Kooperation mit einer vietnamesischen Arbeits- gruppe erstmals ein Patient mit 11β-Hydroxylase-Defekt charakterisiert, der als Ursache ein chimäres Gen aus Aldosteronsynthase (CYP11B2)-Promotor und CYP11B1-Strukturgen aufweist (Hampf et al. 2001). Darüber hinaus wurde auf dem zweiten Allel eine das Leseraster verschiebende Splice-site Mutation nachgewiesen.

5. Ausblick Cytochrome P450 stellen eine Enzymgruppe dar, die vielfältige chemische Reaktionen katalysieren und deren biotechnologische Anwendbarkeit noch 82 Rita Bernhardt nicht einmal zu einem geringen Teil ausgeschöpft ist. Moderne molekularbi- ologische und gentechnische Verfahren werden aber helfen, diesen Engpass zu überwinden und diese Enzymgruppe für die Durchführung von Oxidati- onsreaktionen einsetzbar zu machen. Die Beteiligung der Cytochrome P450 an vielfältigen Synthesen von Sekundärmetaboliten wird darüber hinaus das biotechnologische Einsatzspektrum dieser Enzymgruppe erweitern. Auf dem Gebiet der Pharmakologie wird die Entwicklung von preisgünst- igen DNA-Chips sicher dafür sorgen, die erwähnten Arzneimittelpolymor- phismen zu erfassen, wodurch eine individualisierte Therapie möglich werden wird. Auf dem Gebiet der Endokrinologie erlaubt die in den letzten Jahren er- reichte Verfeinerung solcher analytischer Verfahren wie Radioimmunoassay (RIA) und HPLC eine sensitive Analyse verschiedener Steroide im Blut und Urin. Damit ist in vielen endokrinologisch arbeitenden Labors eine wichtige erste Diagnose von Änderungen der Steroidbiosynthese, die neben anderen Faktoren zur Hypertonie führen kann, möglich. Der Einzug molekularbiolo- gischer Verfahren in die wissenschaftliche und klinische Laborpraxis ermögl- icht als nächsten Schritt die exakte molekulargenetische Analyse eventueller Gendefekte als Ursache für eine Hypertonie. Die Kenntnis der molekularen Ursachen kann Ansätze nicht nur für eine frühzeitige und verbesserte Dia- gnostik, sondern auch für eine differenzierte Therapie und neue Therapiean- sätze bringen. Insgesamt gesehen lassen die nächsten Jahre eine verfeinerte Diagnostik Steroid-bedingter Hypertonien unter Einbeziehung molekularge- netischer Techniken erwarten. Dabei werden möglicherweise neuartige Zu- sammenhänge zwischen klinischem Erscheinungsbild und genetischem Defekt entdeckt werden. Diese neuen Einblicke werden unser Wissen und un- sere Phantasie erfordern, um daraus neuartige Therapiemöglichkeiten zu ent- wickeln. Hochgeschätzter Jubilar, liebe Gäste, ich hoffe, ich konnte zeigen, dass die wissenschaftlichen Leistungen, die Werner Scheler erbracht hat, die Wur- zel bilden für Forschungen, die auch ich mit meiner Gruppe jetzt durchführe. Diese Wurzeln, die mit der Erforschung des Hämoglobins gesetzt wurden, führten über Friedrich Jung, Werner Scheler, Klaus Ruckpaul und Horst Rein direkt zu meinen Forschungen und den Forschungen von Christiane Jung, die heute ihre Arbeiten zum Cytochrom P450cam vorstellte. Ich hoffe, dass die- ser Baum kräftig bleibt und dass unsere Schüler wiederum weitere neue Triebe bilden. Dir, lieber Werner Scheler, wünsche ich alles Gute: Gesund- Cytochrom P450 und die Anwendung der Molekularbiologie 83 heit, Freude mit Deiner Familie und Spaß am Verfolgen der wissenschaft- lichen Fortschritte!

Literatur

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Werner Scheler

Schlussworte

Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Freunde,

als Erstes möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen, die das heutige Festkolloquium zu meinem 80. Ge- burtstag anregten und vorbereiteten, und die hier vor- trugen, verbindlichen Dank sagen. Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident, Dir, lieber Herbert Hörz, danke ich für die freundliche Begrüßung und für Deine bedenkenswerten Worte zu einem Kapitel Aka- Der Jubilar beim demiegeschichte der jüngeren Zeit. Schlußwort Zugleich danke ich der Leibniz-Sozietät für die wohl- gemeinten Glückwünsche zu meinem Jubiläum. Ich freue mich, dass die Leibniz-Sozietät erfolgreich an das Werk ihrer Vorgäng- erin, der Akademie der Wissenschaften der DDR, anknüpft, und dass – nach deren „Abwicklung“ – im Wirken unserer Leibniz-Sozietät die Intentionen ihres Namenspatrons eine von der Zeit geprägte Renaissance erfahren. Ich wünsche unserer wissenschaftlichen Gemeinschaft unter Deiner Präsidents- chaft und darüber hinaus ein reiches geistiges Leben und Impulse mit gesell- schaftlicher Resonanz. Verehrter Präsident Hörz, Du hattest in Deinen Begrüßungsworten darauf verwiesen, dass ich mich etwas schwer tat mit diesem Festkolloquium. Du hast mich nachdrücklich ermuntert, meine Zustimmung zu diesem Kolloqui- um zu geben, für das Peter Oehme und Klaus Steiger die Initiative ergriffen. Gewiss hattest Du damit Recht, zeigt doch die Anwesenheit von Kollegen, von früheren Mitstreitern und Freunden, dass sich aus der Arbeit auch geisti- ge und emotionale Bindungen entwickelten, welche die Jahre überdauerten. – Nochmals besten Dank! 86 Werner Scheler

Meine Kollegen Günter Pasternak, Adolf Grisk, Hannes Hüller und Peter Oehme entwarfen mit ihren Beiträgen – ich möchte sagen – ein mosaikartiges Bild aus Fragmenten meines Lebensweges, aus Gebieten meiner wissen- schaftlichen Arbeit und meiner Tätigkeit in akademischen Ämtern und im ge- sellschaftlichen Umfeld. Ihr, werte Kollegen und Freunde, habt mit meiner Vergangenheit Widersprache gehalten, und ich muss gestehen, es war für mich einigermaßen seltsam, verfolgen zu dürfen, wie bei solcher Gelegenheit das eigene Leben und Schaffen zum Objekt analytischer Betrachtungen und prüfender Bewertung wurde. Und es war auch psychologisch recht auf- schlussreich, meinen Werdegang und mich im Spiegel eurer Beiträge zu seh- en, eure Projektionen mit dem zu vergleichen, was man selbst für sein Leben und Wirken hält. Dabei habt ihr etwas zu viel Elogen gemacht. Und wenn ihr über Verdienste geredet habt, so muss man hinter meiner Person stets auch all’ die Menschen sehen, die mit ihrer Arbeit dazu beitrugen. Jedenfalls vielen Dank für eure Vorträge, mehr noch aber dafür, dass wir uns menschlich nahe gekommen sind, und dass unsere freundschaftlichen Bande den Wogen des Zeitgeschehens trotzten. Viel Freude bereiteten mir die Beiträge von Christiane Jung und Rita Bern- hardt aus dem Gebiet der Hämoproteine, in dem ich selbst längere Zeit forschte. Sie ließen mich zurückdenken an den Beginn meiner wissenschaft- lichen Arbeit bei Fritz Jung über den roten Blutfarbstoff. Meine erste „wis- senschaftliche Tat“ bestand übrigens darin, aus einer Berliner Pferdeschlächterei 10 Liter Blut zu holen und daraus das Hämoglobin in kris- talliner Form zu isolieren. Das war Anfang der 50er Jahre. Am Beispiel des Cytochrom P 450 habt ihr gezeigt, in welche Tiefe und Differenziertheit gegenwärtig bestimmte Richtungen der Hämoproteinfors- chung führen, aber auch wie rapide sich Methodik und Versuchstechnik in dieser Zeit weiterentwickelt haben. Zu euren Ergebnissen kann ich euch nur beglückwünschen, und mit etwas Wehmut muss ich feststellen, dass sich mei- ne Distanz zu den experimentellen und theoretischen Fortschritten auf diesen Gebieten weiter vergrößert. Aber das ist wohl das Schicksal eines jeden Na- turwissenschaftlers, der länger aus dem Laborbetrieb ausgeschieden ist. – Beste Wünsche euch Beiden für eine weiterhin erfolgreiche wissenschaft- liche Arbeit. In meinen Dank schließe ich alle ein, die mir zur Seite standen, die mich in der wissenschaftlichen Arbeit und in meinen akademischen Ämtern beglei- teten, darunter viele von Ihnen, die Sie hier teilnehmen, eingeschlossen meine Schlussworte 87

Frau. Manche der früheren Gefährten und Freunde sind bereits verstorben. Sie bleiben mir unvergessen. * Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde, gestatten Sie mir bitte noch einige – dem Anlass angemessen – recht persönlich gehaltene Anmer- kungen zu dem hinter mir liegenden Weg, wie er in den Beiträgen schon an- gesprochen wurde. An der Schwelle zum neunten Lebensjahrzehnt stehend, bleibt es nicht aus, dass die Gedanken den Spuren folgen, die man gegangen ist. Und man fragt sich rückschauend, wie es zu der Spezifik des eigenen Le- bensweges gekommen ist. Demografisch gesehen ist es nicht mehr unge- wöhnlich, 80 Jahre alt zu werden. Dennoch müssen ja eine Reihe endogener wie exogener Faktoren zusammen kommen, um ein solches Alter zu errei- chen. Bei mir sah das anfangs gar nicht gut aus. Ich war etwa elf Jahre alt und litt unter schwerem Bronchialasthma. Mehrere Ärzte hatten sich vergebens bemüht, Heilung oder Besserung zu erzielen. In dieser Situation entschloss sich mein Vater, mit mir einen Heilpraktiker aufzusuchen. Ich war befangen, misstrauisch und neugierig zugleich. Bald saß ich ihm, einem kurzatmigen, untersetzten, älteren Graukopf, im halbdunklen Raum gegenüber. Dann be- gann ein sonderbares Ritual. Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtete er mir in die Augen und vollführte irgendwelche geheimnisvolle augendiagnosti- sche Prüfungen. Danach betrachtete er meine Hände und erging sich in obs- kuren chiromantischen Analysen. Am Ende wiegte er den Kopf und raunte zu meinem Vater: „Ihr Sohn wird kaum die Dreißig erreichen“. Ein Schock für mich und meine Eltern. Doch mittlerweile sind – trotz allergischer Disposition – zu den prophe- zeiten dreißig Jahren fünfzig hinzu gekommen. Ein Hinweis, dass die gene- tische Konstitution nur eine Komponente ist, die eine determinierende Rolle in der Entwicklung eines Menschen spielt. Gleichermaßen bedeutsam wie die geistigen und körperlichen Anlagen sind die sich ständig ändernden spezi- fischen Bedingungen des sozialen Milieus, mit denen er sich im Laufe seines Lebens immer wieder auseinander setzen muss. Jeder Werdegang manifestiert sich so als ein unikales Lebensmuster, bei dem biologische und soziale Faktoren miteinander interferieren und sich in äußerst komplexer Weise zu individuellen Biografien – mit ihren Höhen und Tiefen, mit ihrem Licht und Schatten – überlagern. In ihrem lesenswerten Buch „Kindheitsmuster“ zeichnet Christa Wolf ein solches Geschehen ihrer 88 Werner Scheler

Jugendzeit. Wie sie hat jeder Mensch sein spezifisches Kindheits- und Le- bensmuster, das tief in ihm verankert ist. In dem meinen reflektieren sich eine Reihe der großen politischen, gesell- schaftlichen und wissenschaftlichen Bewegungen in dieser Zeit, die einen prägenden Einfluss auf mich ausübten, ebenso, wie die ganz individuellen Geschehnisse und Begebenheiten aus dem engeren Umfeld, die ihre Spuren hinterließen. Eine Wegscheide bildete hierbei der Zweite Weltkrieg mit sei- nen weitreichenden Folgen für die Weltpolitik, für die Entwicklung in Nach- kriegsdeutschland und für meine eigene Vita. 1923 geboren, ward mir nicht die zweifelhafte „Gnade der späten Geburt“ zuteil, und, da in Thüringen beheimatet, auch nicht das scheinbare „Glück der rechten Topographie“, denn im Sommer 1945 wurde das von den Amerika- nern besetzte Thüringen gegen die drei Westsektoren in Berlin getauscht, Thüringen wurde sowjetische Besatzungszone. Doch mir bot sich durch Ort und Zeit und im Schoße einer sich neu formierenden Gesellschaft die „Gunst der Stunde“. So ist und bleibt die wichtigste Zeit meines Lebens und meines bewussten Wirkens mit dem Werden und der Existenz der DDR sowie mit dem Versuch und der Realität einer sozialistisch orientierten Gesellschaft untrennbar ver- bunden. Für mich liegt darin eine vielschichtige Erfahrung von essentiellem Wert, ein gesellschaftliches Verständnis, welches erlebte Geschichte nicht entsorgt, sondern befragt, ein Verständnis, das nicht im Gestern verharrt, doch über den Horizont des Heute hinaus zu denken vermag. Auf biowissenschaftlichem Gebiet vollzog sich in dieser Zeit ein revolu- tionierender Erkenntnisdurchbruch über die molekulare Struktur der belebten Materie und die elementaren Mechanismen ihrer Funktionsweise, ein Er- kenntnisdurchbruch mit außerordentlicher wissenschaftlicher und gesell- schaftlicher Tragweite, bis hin zu den prinzipiellen Folgen für den Eingriff in die genetische Konstitution des Individuums wie möglicherweise seiner Nachkommen. * Blicke ich auf meinen Entwicklungsweg, so tauchen Menschen und Ereig- nisse auf, die das Denken und Handeln formen halfen, die zur Geistes- und Charakterbildung beitrugen und die ethische und moralische Maßstäbe setzten. Versehen mit solch’ geistigem Gut und Wertekodex formt sich die Realität eines Lebens aus dem iterativen Wechselspiel von Ziel, Versuch, Er- folg und Irrtum. So wandelt sich die Poesie eines Lebensentwurfs durch das Schlussworte 89 permanente Korrektiv von Gelingen und Scheitern zur nüchternen Prosa einer Existenz. Unvergessen bleiben mir die Schlichtheit und Strebsamkeit sowie der Ge- meinsinn der Eltern, Eigenschaften, die sie mir vorlebten. Sie kannten zwar nicht jenes „Carpe diem“ des römischen Dichters Horaz, doch war dieses Ge- bot ihr Lebensprinzip. Mit ihren ethischen Werten und sozialen Normen prägten sie meine Kindheit und Jugend. 1930 kam ich zur Schule. – Peter Oehme hat hierüber gesprochen und mein Bild als Schulanfänger mit Zuckertüte gezeigt. – Kaum drei Jahre später erfolgte 1933 die Machtergreifung Hitlers, und wir erfuhren im Unterricht, wie schnell die Lehrer dem neuen Regime huldigten. 1934 folgte mein Wech- sel an die Oberschule. Dort wirkte als Direktor ein Studienrat, durch dessen Bild sich ein tiefer Riss zieht. Er lehrte uns in den höheren Klassen Mathema- tik, Physik, Chemie und Biologie. Ein anregender, ein begeisternder Pädag- oge, voller Energie und mit hohem Leistungsanspruch. Durch seinen lebendigen Unterricht mit zahlreichen anschaulichen Experimenten weckte er meine Freude an den Naturwissenschaften, und er vermittelte uns Schülern ein solides fachliches Wissen. In der Biologie betrieben wir damals schon ge- netische Kreuzungsexperimente an Drosophila. So leidenschaftlich wie als Lehrer, so fanatisch war er als Anhänger Hit- lers. Genetische Anomalien bei den Taufliegen, wie Stummelflügel oder De- formationen der Augen, verglich er mit erblichen Krankheiten beim Menschen, die man „ausmerzen“ müsse. Er befürwortete die Eugenik und die Nürnberger Rassengesetze. Und jeder Schüler hatte für das Fach Rassenkun- de, das er lehrte, mit Ahnenblatt und Sippschaftstafel seine „Deutschblütigk- eit“ nachzuweisen, was immer das sein sollte. Heftig beklagte er die deutsche „Schmach von Versailles“, und er glorifizierte den „völkischen Aufbruch“ Deutschlands unter dem von ihm verehrten „Führer“. Auch ruhte er nicht, bis die Schüler seiner Anstalt Mitglied der Hitlerjugend waren, wie er voller Stolz im Schuljahresbericht 1935/36 verkündete. Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 war ich noch Oberschüler, und 1941 schied ich als Siebzehnjähriger mit dem „Reifevermerk“, einer Art No- tabitur, und mit solcherlei geistigem Rüstzeug, objektivem Fachwissen wie nationalsozialistischer Dogmatik, in den Reichsarbeitsdienst und unmittelbar danach in die Wehrmacht. Der Krieg wurde mir zu einem drakonischen Lehrmeister. Hier erfuhr ich – um mit Arnold Zweig zu reden – meine „Erziehung vor Verdun“. Mit ju- gendlicher Unbekümmertheit als Rekrut eingezogen, zerbrach an der Realität 90 Werner Scheler des Krieges nach und nach all’ das, was uns die Schule und die Propaganda des „Tausendjährigen Reiches“ an politischer Weltanschauung, an großd- eutschen Zukunftsvisionen und völkischen Idealen, wie Patriotismus, Hel- dentum und blindem Gehorsam, vermittelt hatte. Je länger der Krieg andauerte, um so unbarmherziger seine Lehre. Und mir stellte sich die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt. Am Ende ging es nur noch ums Überleben. Wer diese Perversion menschlichen Seins, diesen barbarischen Bruch ethischer und kultureller Werte, selbst nicht durchlebt hat, wird kaum nachvollziehen können, wie grundlegend diese Erfahrungen mein politisches Bewusstsein veränderten. Das Ende des Krieges erlebte ich in einem Behelfslazarett in Bayern. Bit- ter empfand ich meine Selbsttäuschung, der ich lange unterlegen war. Wie viele meiner Kameraden empfand und wollte ich im Mai 1945 – trotz völlig ungewisser Zukunft – nur eines: Nie wieder Krieg! Doch der Keim für das ge- sellschaftliche Grundübel des Krieges ist leider geblieben. Wieder in der Heimat, schlug ich mich zunächst mit Arbeit auf dem Lande und mit anderen Tätigkeiten durch. Eine technische Ausbildung – wie sie Pe- ter Oehme erwähnte – musste ich abbrechen, als der Betrieb im Rahmen von Reparationsleistungen demontiert wurde. Als die Universitäten wieder öffn- eten, bemühte ich mich um einen Studienplatz und erhielt Ende 1946 in Jena die Zulassung zur Vorstudienanstalt und zum Studium. Nach den verlorenen Jahren des unseligen Krieges und geistig ausgehungert, wie ich war, wurden mir die Studienjahre zur Offenbarung, zum Aufbruch in eine kaum erhoffte, sinnvolle Zukunft. Meinen akademischen Lehrmeister nach dem Studium in Jena fand ich in Berlin. Eine Studienkollegin, die nach Berlin gewechselt war, hatte mich auf den dortigen neuen Pharmakologen neugierig gemacht. – Peter Oehme sprach schon davon. – Sie charakterisierte ihn mir als wahre „Intelligenzbestie“. Es war Fritz Jung. Viele von Ihnen werden sich noch an ihn, den ideenreichen, kritischen Geist erinnern. Ich bewarb mich bei ihm und hatte das Glück ange- nommen zu werden. Anders als angekündigt bezog er mich in die Hämoglob- inthematik ein. Ihm verdanke ich meine primäre wissenschaftliche Erziehung, gefördert durch das kreative Milieu im damaligen Bucher Akade- mieinstitut für Medizin und Biologie mit Persönlichkeiten, wie Karl Loh- mann, Walter Friedrich, Arnold Graffi, Erwin Negelein, Hans Gummel, Otto Neunhöffer, Friedrich Möglich. Die Bucher Kolloquien, bei denen diese her- vorragenden Forscher in den ersten Reihen des Hörsaals ihren Platz einnah- men und mit Fragen, Anregungen und Kritik nicht sparten, waren für uns Schlussworte 91

Adepten der Wissenschaft eine unvergleichliche Schule und ein gefürchtetes Fegefeuer, wenn wir selbst vorzutragen hatten. * Verehrte Anwesende, alles, was man in den einzelnen Abschnitten seines Le- bensweges als Mitgift erwirbt, wirkt zugleich auch präformierend auf die Ge- staltung der folgenden Etappen. Und am Ende steht eine unikale Biografie. Es liegt darin keine strenge Kausalität, doch eine Art von sozialem Determinis- mus. Von Georg Christoph Lichtenberg stammt der wunderbare Aphorismus: „Ein Meisterstück der Schöpfung ist der Mensch auch schon deswegen, dass er bei allem Determinismus glaubt, er agiere als freies Wesen“. Dabei schließt der soziale Determinismus das Wirken von Zufall, von Not und besonderen Umständen ein. Sie drängen zu Entscheidungen, verändern Lebenspläne, determinieren neue Wege und Ziele. Mir ging das nicht anders. Alleine schon der Krieg warf meine ursprünglichen Vorstellungen über den Haufen. Und nach dem Krieg kam ich durch eine Konstellation von Umständ- en, statt zum angestrebten Technikstudium, zur Medizin. Ich musste diesen Tausch nie bereuen. Hermann von Helmholtz urteilt in seiner Schrift „Das Denken in der Me- dizin“ über das Medizinstudium: „Ich betrachte ... das medicinische Studium als diejenige Schule, welche mir eindringlicher und überzeugender, als es ir- gend eine andere hätte thun können, die ewigen Grundsätze aller wissen- schaftlichen Arbeiten gepredigt hat“. Ich folge dieser Ausschließlichkeit nicht, doch eines ist gewiss: Das Me- dizinstudium, das sich von der Physik und Chemie bis hin zu sozialwissen- schaftlichen Gebieten spannt, erzieht gleichermaßen zum analytischen wie komplexen Denken. Ich empfand dies auch in meiner eigenen wissenschaft- lichen Tätigkeit und profitierte davon. Meine Untersuchungen auf dem Gebiet der Hämoproteine, der Biophysi- kochemie, der Allgemeinen und Molekularpharmakologie waren überwieg- end Grundlagenforschung. Darüber hinaus bearbeiteten wir Themen mit engerer medizinischer Bedeutung, z.B. in der Wirkstoffforschung und Toxi- kologie. Diese bilden eine Brücke von der angewandten Forschung zur medi- zinischen Praxis. So war es für mich auch in späteren Ämtern ein selbstverständliches Gebot, für die reine Grundlagenforschung ebenso Sorge zu tragen, wie für die angewandte Forschung und für deren Verbindung mit 92 Werner Scheler der Praxis. – Wie anders erwiese sich die Wissenschaft ihrer gesellschaft- lichen Verantwortung gerecht. In meiner akademischen Tätigkeit verschoben sich die Proportionen von Lehre und Forschung zunehmend zu den Aufgaben der Wissenschaftsorgani- sation und Wissenschaftsleitung. Ich habe stets gerne unterrichtet und ge- forscht. Doch war ich auch bereit und willens, akademische Leitungsaufgaben zu übernehmen, wenn sie mir angetragen wurden. Für einen Wissenschaftler bedeutet jede Einwilligung, ein höheres akade- misches Amt zu übernehmen, eine veränderte Wichtung zwischen eigener Fachwissenschaft und Verantwortung für die übergeordnete Aufgabe und Institution. Diesen Interessenkonflikt zwischen der Ambition als Forscher und dem Ersuchen einer Gemeinschaft, der man zugehört, muss man mit sich selbst austragen. Bei solcher Entscheidung kollidieren sachliche Argumente, Einsicht, Interesse, Eignung und Neigung in komplexer Weise. Bei allem Für und Wider der Erwägungen gab es aber für mich – eingedenk des Schicksals von „Buridans Esel“ – nach dem gefassten Entschluss nur die volle Identifi- kation mit dem eingeschlagenen Weg. So kam ich – initiiert von einigen Bucher Institutsdirektoren und Kollegen – Anfang 1971 mit einer größeren Gruppe von Mitarbeitern von Greifswald zurück nach Berlin, wurde Direktor des „Forschungszentrums für Molekular- biologie und Medizin“, das zunächst nur auf dem Papier existierte. In einem an Problemen und Widersprüchen reichen Prozess formierte es sich als Struk- tureinheit aller biowissenschaftlichen und medizinischen Einrichtungen der Akademie. Peter Oehme stand mir in dieser schwierigen Anfangsphase dan- kenswerterweise als Stellvertreter zur Seite. Die Biowissenschaften in der DDR erfuhren in dieser Zeit, nicht zuletzt durch das verdienstvolle Wirken von Mitja Rapoport im Forschungsrat der DDR, eine Ausrichtung auf wichtige Gebiete der molekularbiologischen, bi- otechnischen und biomedizinischen Forschung. Mit dem Forschungsvorha- ben „Molekulare Grundlagen der Entwicklung, Vererbung und Steuerung“, mit dem ich betraut worden war, und mit den nachfolgenden Forschungspro- grammen gelang es den Biowissenschaften der DDR, erfolgreich am interna- tionalen Fortschritt teilzunehmen, was sich auch später bei der Evaluierung der biowissenschaftlichen Einrichtungen zeigen sollte. 1979 übernahm Günter Pasternak die Leitung dieses Bereiches, und für mich schloss sich – nach wiederholter Wahl durch das Plenum und Berufung durch die Regierung der DDR – eine elfjährige Amtszeit als Präsident der Akademie an. Hier hatte ich das Glück und die Ehre, mit motivierten und Schlussworte 93 kompetenten Kollegen im Plenum und im Kreise des Präsidiums die Geschi- cke der Akademie bis 1990 leiten zu können, einer Wissenschafts- und For- schungsinstitution, die sich seit ihrer Wiedereröffnung im Jahre 1946 eine anerkannte Stellung in der DDR und in der internationalen Wissenschaft er- arbeitet hatte. Sie war zu einem stabilen Bindeglied zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung und der Volkswirtschaft sowie anderen gesell- schaftlichen Bereichen des Landes geworden. Dem diente während meiner Amtszeit auch die Etablierung verschiedener neuer technisch-technolo- gischer Arbeitsrichtungen an der Akademie und die Errichtung entspre- chender Institute und Technika. Mit ihrem Doppelcharakter als Gelehrtengemeinschaft und zentrale For- schungsinstitution sowie durch ihre unmittelbare Integration in den Gesell- schafts- und Wirtschaftsprozess unterschied sich unsere Akademie wesentlich von denen in der alten Bundesrepublik. Indessen ließen die Stel- lung, die Aufgaben und die gesellschaftliche Verankerung der Akademie gar nicht die Frage nach einer „Sinnkrise“ aufkommen, wie sie – bei der Vielzahl von Forschungs- und Wissenschaftsinstitutionen in der Bundesrepublik – für die traditionellen Gelehrtengemeinschaften bis in die Gegenwart immer wie- der diskutiert wird. Verehrte Anwesende, über diese Zeit der Akademie wurde auch heute ge- sprochen und bei anderen Gelegenheiten schon vieles geschrieben, und es wird noch mehr dazu kommen. Einiges findet sich auch in meiner diesbezügl- ichen Monografie. Für eine Epikrise ist die Zeit nicht reif, zumal bestimmte Quellen der Zeitgeschichte vorerst nicht zugänglich sind. Eines nehme ich, bei der Führung aller dieser Ämter, für mich in Anspruch: Nie galt mir das Amt mehr als die Wissenschaft, für die es geschaffen war. Im Rückblick auf die acht Jahrzehnte meines Weges möchte ich mit einem Ausspruch des österreichischen Arztes, Psychologen und Schriftstel- lers Arthur Schnitzler schließen. Dieses Wort scheint mir eine nachdenkens- werte Reflexion über die Motivation und Kausalität menschlichen Handelns im allgemeinen wie meines eigenen Wirkens: „Es ist kein großer Unterschied zwischen den Handlungen, die wir gewollt und denen, die wir gemusst haben. Wenn wir den Mut oder die Bescheidenheit oder die Jahre hätten, die gewoll- te Handlung immer bis dahin zurückzuverfolgen, wo ihre allerletzte Ursache liegt, so wüssten wir, dass wir auch das Gewollte gemusst haben“. * 94 Werner Scheler

Ich bedanke mich noch einmal bei allen, die zu diesem Kolloquium beigetra- gen haben, und ebenso bedanke ich mich für die zahlreichen Grußschreiben und die vielen guten Wünsche zu meinem 80. Geburtstag, darunter die Grüße von wissenschaftlichen Akademien und Gesellschaften, deren Mitglied ich bin, sowie für die Gratulationen aus meiner früheren Wirkungsstätte in Greifswald, der alma mater gryphiswaldensis. Ich hoffe, noch einige Zeit am wissenschaftlichen Leben unserer Leibniz- Sozietät und anderer Einrichtungen teilnehmen zu können. Die Wissenschaft bleibt mir eine vertraute Heimat, auch wenn meine Verbindung zu ihr kaum noch im eigenen Geben besteht, sondern sich mehr zum Beobachten, Rezipie- ren und Verfolgen hin verlagert hat. Ihnen, verehrte Anwesende, danke ich für Ihre Teilnahme an diesem Kol- loquium, und ich darf Sie anschließend zu einem zwanglosen Beisammensein im Foyer einladen.

Pausengespräch, im Vordergrund v.l.n.r. Hans-Georg Hüller, Werner Scheler, Bärbel Oehme, Peter Oehme

Redaktionelle Anmerkung: Die vorgetragenen Texte werden ergänzt durch ein Nach- wort am Ende des Bandes. Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 95–96

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Wissenschaftlicher Werdegang

12.09.1923 Geburt in Coburg 1930–1941 Schule und Oberschule in Steinach/Thüringen und Sonneberg/ Thüringen. Abschluss mit „Reifevermerk“ (Notabitur) 1941–1942 Reichsarbeitsdienst 1942–1945 Wehrmacht 1946–1947 Vorstudienanstalt der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) Jena Abschluss mit Abitur 1946–1951 Studium der Medizin, FSU Jena 1951 Medizinisches Staatsexamen, FSU Jena 1951 Promotion, Dr. med., Medizinische Fakultät, FSU Jena 1951–1954 Wissenschaftlicher Assistent, Pharmakologisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin (HUB) 1954–1959 Wissenschaftlicher Oberassistent und Gehobener wissen- schaftlicher Mitarbeiter, Institut für Medizin und Biologie, Deutsche Akademie der Wissenschaften (DAW) zu Berlin 1956 Habilitation, Dr. med. habil., Medizinische Fakultät, HUB 1956 Dozent, Medizinische Fakultät, HUB 1959 Professor mit Lehrauftrag, HUB 1959 Professor mit Lehrauftrag, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (EMAU) 1959–1971 Direktor des Pharmakologischen Instituts, EMAU Greifswald 1961 Professor mit vollem Lehrauftrag, EMAU Greifswald 1962 Professor mit Lehrstuhl, EMAU Greifswald 1961–1963 Prorektor für den wissenschaftlichen Nachwuchs, EMAU Greifswald 1966–1970 Rektor, EMAU Greifswald 96

1971–1979 Direktor des Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin, DAW zu Berlin bzw. Akademie der Wissenschaften (AdW) der DDR 1971 Korrespondierendes Mitglied der DAW 1973 Ordentliches Mitglied der AdW der DDR 1977 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldi- na 1979 Dr. med. h.c., Univ. Vilnius 1979–1990 Präsident, AdW der DDR 1980 Auswärtiges Mitglied der Tschechoslowakischen AdW 1981 Dr. med. h.c., EMAU Greifswald 1982 Auswärtiges Mitglied der Akademie der Medizinischen Wis- senschaften der UdSSR 1982 Auswärtiges Mitglied der AdW der UdSSR 1982 Auswärtiges Mitglied der Bulgarischen AdW seit 1990 Emeritus

Vielfache wissenschaftliche Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 97–114

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Auswahl bibliographischer Daten

Ausgewählte wissenschaftliche Originalarbeiten, Übersichten, Monografien, Editionen; Vorträge auf wissenschaftlichen Kongressen sind nicht enthalten. Die Angaben zu 171 Arbeiten sind gegliedert nach den vier Abschnitten Häm und Hämoproteine, Pharmakologie und Wirkstoffforschung, Biowissen- schaften und Medizin sowie Wissenschaftsgeschichte.

Häm und Hämoproteine Scheler, W., L. Wallis u. F. Jung: Regulationseffekte von Salzen gegenüber Fermenten. Naturwissenschaften 41, 88 (1954) Scheler, W. u. F. Jung: Hämoglobinstudien I. Zur Häm-Häm-Wechselwir- kung beim roten Blutfarbstoff. Arch.exp.Path.u.Pharm. 221, 152 (1954) Scheler, W., I. Fischbach u. F. Jung: Hämoglobinstudien II. Über das Gleich- gewicht zwischen Methämoglobin und Stickstoffwasserstoffsäure. Bio- chem. Z. 325, 258 (1954) Scheler, W., F. Jung u. K.-H. Hoffmann: Hämoglobinstudien III. Über den Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration auf einige Gleichgewichte des Methämoglobins. Biochem. Z. 325, 401 (1954) Scheler, W. u. F. Jung: Hämoglobinstudien IV. Über die Temperaturabhän- gigkeit der Reaktionsgleichgewichte einiger Methämoglobinverbin- dungen. Biochem. Z. 325, 515 (1954) Scheler, W.: Dissoziationskonstanten und Lichtabsorption einiger Verbin- dungen des Metmyoglobins und des Chironomus-Methämoglobins. Naturwissenschaften 41, 501 (1954) 98 Werner Scheler

Scheler, W., A. Salewski u. F. Jung: Hämoglobinstudien V. Über einige neue Methämoglobinverbindungen. Biochem. Z. 326, 288 (1955) Scheler, W., K. Scheler u. F. Jung: Hämoglobinstudien VI. Über die Umset- zung zwischen Formaldehyd und Methämoglobin. Biochem. Z. 326, 295 (1955) Scheler, W., I. Fischbach u. F. Jung: Hämoglobinstudien VII. Vergleichende Untersuchung der thermischen Denaturierung des Methämoglobins und einiger Methämoglobinkomplexe. Biochem. Z. 326, 358 (1955) Scheler, W.: Zur Analyse der pH-Abhängigkeit von Methämoglobingleichge- wichten. Wissensch. Z. der Univ. Jena 5, 297 (1955/56) Scheler, W.: Der Einfluß der Eiweißkomponente auf Eigenschaften und Struktur von Methämoglobinverbindungen. Habilitationsschrift. Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität Berlin (1956) Scheler, W., G. Schoffa u. F. Jung: Über Zusammenhänge zwischen Lichtab- sorption und paramagnetischer Suszeptibilität bei Methämoglobinkom- plexen. Naturwissenschaften 43, 159 (1956) Jung, F., H. Ankermann u. W. Scheler: Hämoglobinstudien X. Über den Ein- fluß von Alkoholen auf Gleichgewichte des Methämoglobins. Biochem. Z. 328, 328 (1956) Scheler, W., G. Schoffa u. F. Jung: Hämoglobinstudien XI. Über Anhydo-De- rivate verschiedener Hämoproteine. Biochem. Z. 329, 83 (1957) Scheler, W. u. F. Jung: Die Bindung von Stickstoffbasen und Cyanid an Hä- matin. Biochem. Z. 329, 222 (1957) Schoffa, G. u. W. Scheler: Magnetische Untersuchungen über zwei energe- tische Formen des Hämins und des Hämatins. Naturwissenschaften 44, 464 (1957) Scheler, W., G, Schoffa u. F. Jung: Lichtabsorption und paramagnetische Suszeptibilität bei Derivaten des Pferde- und Chironomus-Methämoglo- bins sowie des Pferde-Metmyoglobins. Biochem. Z. 329, 232 (1957) Auswahl bibliographischer Daten 99

Scheler, W., G. Schoffa u. F. Jung: Über Umsetzungen des Anhydro-Methäm- oglobins. Acta biol. med. germ. 1, 32 (1958) Scheler, W. u. I. Fischbach: Über Eigenschaften des Chironomus-Methämog- lobins und seiner Komplexe. Acta. biol. med. germ. 1, 194 (1958) Scheler, W. u. F. Jung: Über die Sigmoidkoeffizienten der Cyanidgleichge- wichte des Methämoglobins und Metmyoglobins. Acta biol. med. germ. 1, 232 (1958) Scheler, W.: Über einige physikalisch-chemische Eigenschaften des Chloroc- ruorins von Spirographis Spallanzani. Acta biol. med. germ. 1, 280 (1958) Scheler, W.: Über die Komplexaffinität des Eisens in Hämoproteiden (Met- hämoglobinen, Metmyoglobin). Wiss. Z. der Humboldt-Univ. zu Berlin, Math.-naturwiss. Reihe 7, 223 (1957/58) Scheler, W.: Hämoglobinstudien XIII. Alkylamin-Komplexe des Methämog- lobins. Biochem. Z. 330, 538 (1958) Scheler, W.: Zur Komplexaffinität der Hämoglobine. Z. physikal. Chemie 210, 61 (1959) Scheler, W., G. Schoffa u. F. Jung: Über die spektralen Eigenschaften und die Gleichgewichte von Alkylamin Verbindungen des Pferde-Methämoglob- ins. Acta biol. med. germ. 2, 396 (1959) Scheler, W.: Zur physikalischen Chemie des Methämoglobin-Imidazol-Kom- plexes. Acta biol. med. germ. 2, 468 (1959) Jung, F., G. Schoffa, W. Scheler u. O. Ristau: Über die magnetische Suszep- tibilität des Methämoglobins zwischen 20 und 300 °K. Naturwissenschaften 46, 317 (1959) Schoffa, G., W. Scheler, O. Ristau u. F. Jung: Über anomales Verhalten der magnetischen Suszeptibilität der Methämoglobinverbindungen im festen und eingefrorenen Zustand. Acta biol. med. germ. 3, 65 (1959) 100 Werner Scheler

Scheler, W. u. W. Schwartzkopff-Jung: Erwiderung zu einem Beitrag von F. B. Klynstra: A contribution to the problem of the haem-protein-linkage in haemoglobin. Experientia 15, 272 (1959) Scheler, W. u. L. Schneiderat: Über die Präparation und die Bestimmung des Molekulargewichtes wie der Konzentration des Hämoglobins von Tubifex tubifex. Acta biol. med. germ. 3, 588 (1959) Scheler, W.: Über Lösungsmittel- und pH-Einflüsse auf die Lichtabsorption des Protoporphyrin IX und des Protohämins mit einem Vergleich der Lichtabsorption der Ferrihämoproteide und einer Klassifikation der Spektren von Protoporphyrinderivaten. Biochem. Z. 332, 344 (1960) Scheler, W.: Über die Lichtabsorption und die Gleichgewichte des Methäm- oglobins von Tubifex tubifex. Acta biol. med. germ. 4, 26 (1960) Scheler, W.: Lichtabsorption und Sauerstoffbindungskurve des Hämoglobins von Tubifex tubifex. Biochem. Z. 332, 366 (1960) Scheler, W. unter techn. Mitarbeit von I. Fischbach: Untersuchungen zur Stö- chiometrie und Struktur der Aquo- bzw. Alkohol-Verbindungen des Pro- toporphyrins, Hämins und Methämoglobins. Acta biol. med. germ. 4, 470 (1960) Scheler, W. unter techn. Mitarbeit von I. Fischbach: Untersuchungen über die Komplexbildung des Hämins mit Anionen. Biochem. Z. 332, 542 (1960) Scheler, W.: Über die Wasserbindung des Fe3+ in den Komplexen verschie- dener Methämoglobine. Acta biol. med. germ. 4, 606 (1960) Scheler, W.: Die Bindung von Nitrosobenzolderivaten an Hämoglobin und Hämoglobinverbindungen. Naturwissenschaften 47, 399 (1960) Scheler, W.: Die Bindung von Nitrosobenzol und Nitrosobenzolderivaten an Hämoglobin und Hämoglobinverbindungen. Acta biol. med. germ. 5, 382 (1960) Behlke, J. u. W. Scheler: Durch SH-Reagentien bedingte Veränderungen des Redoxpotentials von Hämoglobin. Naturwissenschaften 48, 717 (1961) Auswahl bibliographischer Daten 101

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Biowissenschaften und Medizin Steenbeck, M. u. W. Scheler: Essay über den Einfluß von genetischem und gesellschaftlichem Erbe auf das Verhältnis Mensch – Gesellschaft. Dt. Z. Philos. 21, 781 (1973) Geißler, E., A. Kosing, H. Ley u. W. Scheler (Hrsg.): Philosophische und ethische Probleme der Molekularbiologie. III. Kühlungsborner Kolloquium. Akademie-Verlag, Berlin 1974 Kraatz, H. u. W. Scheler: Medizinische Wissenschaft. In: Kurt Winter (Hrsg.): Das Gesundheitswesen in der Deutschen Demokratischen Republik. Ver- lag Volk und Gesundheit, Berlin 1974, S. 177-191. 2. überarbeitete Aufl. 1980, S. 208-223 112 Werner Scheler

Geißler, E. u. W. Scheler (Hrsg.): Information. Philosophische und ethische Probleme der Biowissenschaften. IV. Kühlungsborner Kolloquium. Akademie-Verlag, Berlin 1976 Geißler, E., J.-H. Scharf u. W. Scheler (Hrsg.): Diskredität und Stetigkeit von Lebensprozessen. V. Kühlungsborner Kolloquium. Akademie-Verlag, Berlin 1977 Tembrock, G., E. Geißler u. W. Scheler (Hrsg.): Philosophische und ethische Probleme der modernen Verhaltensforschung. VI. Kühlungsborner Kolloquium. Akademie-Verlag, Berlin 1978 Geißler, E. u. W. Scheler (Hrsg.): Darwin Today. VIII. Kühlungsborner Kolloquium. Abh. d. Akad. d. Wiss. d. DDR, Aka- demie-Verlag, Berlin 1983 Ruckpaul, K., W. Pfeil u. W. Scheler: Molekulare Evolution von Eiweißmo- lekülen. In: H. Hörz und C. Nowinski (Hrsg.): Gesetz - Entwicklung - In- formation. Zum Verhältnis von philosophischer und biologischer Entwicklungstheorie. Akademie-Verlag, Berlin 1979, S. 89 Scheler, W.: Philosophische und ethische Probleme der Molekularbiologie. In: Geißler, E., A. Kosing, H. Ley u. W. Scheler (Hrsg.): Philosophische und ethische Probleme der Molekularbiologie. III. Kühlungsborner Kolloquium. Akademie-Verlag, Berlin 1974 Scheler, W. u. E. Geißler: Genetic Engineering und der Mensch. In: Geißler, E. u. W. Scheler (Hrsg.): Genetic engineering und der Mensch. VII. Küh- lungsborner Kolloquium 1979. Akademie-Verlag, Berlin 1981, S. 1-23.

Wissenschaftsgeschichte Scheler, W.: Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissenschaften der DDR. Abriss der Genese und Transfor- mation der Akademie. Karl Dietz Verlag, Berlin 2000, 480 S. Hartung, W. u. W. Scheler (Hrsg.): Die Berliner Akademie nach 1945. Zeit- zeugen berichten. Abhandlungen der Leibniz-Sozietät, Bd. 6, Trafo-Ver- lag Berlin 2001, 229 S. Auswahl bibliographischer Daten 113

Scheler W. u. P. Oehme: Zwischen Arznei und Gesellschaft. – Zum Leben und Wirken des Friedrich Jung. Abhandlungen der Leibniz-Sozietät, Bd. 8, Trafo-Verlag Berlin 2002, 219 S. Scheler, W., H. David u. L. Rohland (Hrsg.): Planung und Selbstbestimmung in der Forschung – Erfahrungen aus der DDR. Dokumentation der 8. Wissenschaftlichen Arbeitstagung. Berlin 17.11.2001. Veröff. Med. Ges. 2002; 8: (Heft 39), 103 S. Scheler, W.: Die Akademie und die naturwissenschaftlich-technische For- schungspolitik der DDR. Bemerkungen zur Entwicklung bis 1957. In: Sit- zungsberichte der Leibniz-Sozietät Jg. 1996, Bd. 15, H. 7-8, S. 125-145 Scheler, W.: Zur gesellschaftlichen und staatlichen Integration der Akademie der Wissenschaften der DDR. In: Hartung, W. u. W. Scheler (Hrsg.): Die Berliner Akademie nach 1945. Zeitzeugen berichten. Abhandlungen der Leibniz-Sozietät, Bd. 6, Trafo-Verlag Berlin 2001, S. 41-61 Scheler, W.: Zur Planung und Organisation der biowissenschaftlichen For- schung in der DDR. In: Scheler, W., H. David u. L. Rohland (Hrsg.): Pla- nung und Selbstbestimmung in der Forschung – Erfahrungen aus der DDR. Dokumentation der 8. Wissenschaftlichen Arbeitstagung. Berlin 17.11.2001. Veröff. Med. Ges. 2002; 8: (Heft 39) S. 5-27 Scheler, W.: Zum 125. Geburtstag von Professor Dr. Albert Eulenburg. Arzneimittel-Forsch. 15, 948 (1965) Scheler, W.: Einführung zu zwei Reden von Rudolf Virchow 1854. In: Ch. Kirsten u. K. Zeisler (Hrsg.). Dokumente der Wissenschaftsgeschichte. Akademie-Verlag, Berlin 1986, S. 7-12 Scheler, W.: Johannes Stroux - der Wissenschaft und dem Humanismus ver- pflichtet. Zum 100. Geburtstag von Johannes Stroux. In: Sitzungsberichte der AdW der DDR 5 G, 5-10 (1987). Altertumsforscher – Wissenschafts- organisator – Humanist. Akademie-Verlag, Berlin 1987 S. 5-10 Scheler, W.: Aufgaben der Wissenschaft bei der weiteren Entwicklung der be- dienarmen Produktion. In: Wiss. Z. der Techn. Univ. Karl-Marx-Stadt 29, (1987) S. 80-92 114 Werner Scheler

Scheler, W. (Hrsg.): Akademie der Wissenschaften der DDR. Akademie-Ver- lag, Berlin 1987. Scheler, W.: Zum 70. Geburtstag von Heinz Bethge. In: Sitzungsberichte der AdW der DDR 10 N, 5-8 (1990). Akademie-Verlag, Berlin 1990. Elektro- nenmikroskopie und Festkörperphysik Scheler, W.: Die Akademie der Wissenschaften der DDR zwischen Oktober 1989 und Juli 1990. In: Akademie der Wissenschaften der DDR und Koordinierungs- und Ab- wicklungsstelle für die Institute und Einrichtungen der ehemaligen Aka- demie der Wissenschaften der DDR (KAI-AdW). Jahrbuch 1990/91. Akademie-Verlag, Berlin 1994 S. 539-548 Scheler, W.: Zur Kompatibilität von Akademie und Forschungsinstitution. In: Akademiegedanke und Forschungsorganisation im 20. Jahrhundert. Ma- terialien des Wissenschaftlichen Kolloquiums zum Leibniz-Tag 1994. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Jg. 1995, Bd. 3, H. 3, S. 43-47 Scheler, W.: Die Akademie und die naturwissenschaftlich-technische For- schungspolitik der DDR. Bemerkungen zur Entwicklung bis 1957. In: Sit- zungsberichte der Leibniz-Sozietät Jg. 1996, Bd. 15, H. 7-8, S. 125-145 67(2004), 118–120 Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät

Werner Scheler

Athineos Philippu: Geschichte und Wirken der pharmakologi- schen, klinisch-pharmakologischen und toxikologischen Institute im deutschsprachigen Raum. 1032 Seiten, 95 Abbildungen, zahlreiche Tabellen und Zeittafeln. Berenkamp Buch- und Kunstverlag, 2004.

Als ich vor einiger Zeit beiläufig hörte, dass ein emeritierter Kollege aus Ös- terreich die Absicht habe, eine Geschichte der pharmakologischen Institute im deutschsprachigen Raum herauszugeben, gab ich diesem Unternehmen wegen seines Umfangs und seiner Komplexität wenig Chancen. Erfreulicher- weise täuschte ich mich. Athineos Philippu, vormaliger Innsbrucker Pharma- kologe, brachte das organisatorische Kunststück fertig, genügend Kollegen aus den einschlägigen Instituten für die Ausarbeitung von Beiträgen zu ge- winnen. In der Regel handelt es sich bei den Autoren um Emeriti, Ordinarien, Leiter und Mitarbeiter pharmakologischer Einrichtungen, meist mit langjäh- riger Verbundenheit mit der Institution über die sie schrieben. In dem 1032 Seiten umfassenden Sammelwerk geben rund 150 Einzelbe- richte Auskunft über die Vorgeschichte, die Bildung, die akademische Gene- se, die Personalgeschichte und die fachlich-wissenschaftliche Entwicklung fast aller universitärer, außeruniversitärer und industrieller pharmakolo- gischer, klinisch-pharmakologischer und toxikologischer Einrichtungen im deutschsprachigen Raum. Auf gewisse Lücken (Breslau, Königsberg, Straß- burg) weist der Verfasser hin. Vielleicht gibt es noch andere, so fehlt z.B. auch ein Beitrag über die Veterinärpharmakologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Sehr verdienstvoll erscheint mir vor allem auch das gesamte Kapi- tel über die Geschichte der Arzneimittelforschung und Pharmakologie inner- halb der pharmazeutischen Industrie, galt doch Deutschland einmal als „Apotheke der Welt“. In den Beiträgen der Unternehmen wird sichtbar, wel- che Arzneimittel aus den Laboratorien ihrer Werke hervorgingen und wie be- deutsam deren Beitrag für die medikamentösen Erfolge der Medizin war und ist. Ganz deutlich zeigt sich in diesen Berichten auch, wie gerade auf dem A. Philipu, Geschichte und Wirken der ... Institute ... 119

Gebiet der Wirkstoffforschung durch eine enge wissenschaftliche und perso- nelle Verbindung zwischen akademischer und industrieller Kompetenz die Innovation in der Arzneimittelentwicklung vorangetrieben wurde. Obwohl hier nicht die Artikel über die einzelnen pharmakologischen Ein- richtungen zu besprechen sind, sollte jedoch auf den Bericht über das Phar- makologische Laboratorium und Pharmakologische Institut der Universität Dorpat (dem heutigen estnischen Tartu) besonders hingewiesen werden, liegt doch dort die Geburtsstätte der experimentellen Pharmakologie. An der da- mals deutschsprachigen Universität lehrte der in Bautzen geborene Rudolf Buchheim von 1846-1867 und gründete das erste pharmakologische Labora- torium. Von dort breitete sich die experimentelle Erforschung der Arznei- und Giftstoffe auf die Universitäten aus, und die Pharmakologie entwickelte sich zur eigenen medizinischen Wissenschaftsdisziplin. Das Buch verdeutlicht anhand der Institutsgeschichten einige grundle- gende Tendenzen der Entwicklung des Faches. Die Pharmakologie wird bis Mitte des 20. Jahrhunderts in ihrer Einheit als Wissenschaft von den biolo- gischen und medizinischen Wirkungen von Arzneistoffen und Giften gelehrt. Bald nach diesem Zeitpunkt beginnt im universitären Bereich mit der Schaf- fung von Lehrgebieten und Lehrstühlen für Toxikologie und für Klinische Pharmakologie eine sukzessive disziplinäre Aufgliederung des Fachgebietes, die in der Folge immer häufiger durch die Schaffung gesonderter Abteilungen oder Institute ihre administrative Institutionalisierung erfährt. Dabei verhal- ten sich die einzelnen Universitäten unterschiedlich. Hinzu kommt, dass ne- ben den medizinischen und der veterinärmedizinischen Fakultäten in dieser Zeit auch die naturwissenschaftlichen Fakultäten in den Fachbereichen Phar- mazie eigene pharmakologische Lehrstühle und Institute schaffen. Der Uni- versitätsgedanke hat offenbar im Zuge der rapiden Diversifizierung und Vertiefung des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses und der Spezialisie- rung in der Forschung sowie durch den akademischen Routinebetrieb und durch die Ambitionen im Lehrkörper nach eigenständiger akademischer Po- sition seine verbindende Wirkung verloren. Die Texte der Abhandlungen sind prinzipiell chronologisch angelegt. Öf- ters – subjektiv verständlich – zeigt sich dabei eine Tendenz zeitlicher und in- haltlicher Spreizung mit Annäherung an die Gegenwart. Die Geschichte aller dieser pharmakologischen Einrichtungen wird durch die Charakterisierung der Persönlichkeiten, die an ihnen wirkten und die ihr Fachgebiet durch ihre Forschung und Lehre bereichert haben, lebendig gemacht. Ihre wissenschaft- lichen (Kurz)-Biographien, ihre Forschungsschwerpunkte und Wirkungsge- 120 Werner Scheler biete nehmen darum den Hauptteil der Ausführungen ein. Ergänzt wird dies durch Angaben über die Habilitationen während ihrer Ordinariate, durch die Wiedergabe wissenschaftlicher Genealogien und die Darstellung von „Stammbäumen“ sowie z.T. durch Angaben zum Kreis der akademischen Mitarbeiter. Im vorliegenden Werk werden die biographischen Hinweise und Daten überwiegend recht gestrafft wiedergegeben. Vergleicht man sie mit speziellen Biographien, die über verschiedene dieser Gelehrten vorliegen, fallen manche Verkürzungen, Abweichungen und Unschärfen ins Auge. Für den Wissenschaftshistoriker bietet das Werk diesbezüglich einige Ansatz- punkte tiefer zu graben. Das betrifft explizit auch die Curricula von Pharma- kologen, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus rassischen und politischen Gründen ihre akademischen Ämter verloren und dann vielfach Deutschland verließen. Mit ihrem Exodus hatte die deutsche Pharmakologie begonnen, ihre international führende Stellung zu verlieren. Philippu hatte den Autoren für die Abfassung ihrer Abhandlungen weit- gehenden Spielraum eingeräumt. In seinem Prolog erinnert er: „Der Stil der Beiträge ist unterschiedlich. Das war beabsichtigt, die Autoren sollten nur wenigen Richtlinien folgen, in der Hoffnung, dass dadurch das Werk leben- dig wird“. Die Autoren folgten dem gemäß unterschiedlichen Intentionen. Und so finden sich neben konzentrierten sachlichen Berichten teils auch Ar- tikel mit feuilletonistische Abschweifungen. Umfang und Detailliertheit der Beiträge differieren erheblich. Der fachkundige Leser wird bei ihrem Ver- gleich gewiss beurteilen können, ob hier nicht eine stärkere Systematik dem Projekt gut getan hätte – wie ich meine. Aber das ist bei einem solchen historiographischen „Patchwork“ wohl nie ganz zu erreichen. Das Buch enthält eine Reihe von Abbildungen. Gewünscht hätte ich mir pharmakologiegeschichtlich aufschlussreiche Bilder und Dokumente. Über- wiegend sind es jedoch am Ende der einzelnen Berichte Fotos der aktuellen Chefs mit ihren Mitarbeitern. Die Fachkollegen und Historiker werden ihren Blick vor allem auf das Namensregister mit etwa 5600 Eintragungen am Ende des Buches richten. Dort finden sie eine weitgehend komplette Übersicht über den Kreis der Pharmakologen des deutschsprachigen Raumes von den Anfän- gen bis zur Gegenwart. Alles in allem ist der „Philippu“ in seiner Art ein einmaliges Werk perso- nifizierter institutioneller Pharmakologiegeschichte für eine Region, in der die Pharmakologie zur Wissenschaft wurde. Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 121–130

Werner Scheler

Heinz David: „... es soll das Haus die Charité heißen ...“. – Kontinuitäten, Brüche und Abbrüche sowie Neuanfänge in der 300jährigen Geschichte der Medizinischen Fakultät (Charité) der Berliner Universität. Band 1 und 2. akademos Wissenschaftsver- lag, Hamburg, 2004.

Ziel und Anliegen des Pathologen ist es, den ursächlichen Prozessen, die zum Tode eines Menschen führten, auf den Grund zu gehen. Er ist in seiner Ar- beitsweise strenger Analytiker, Systematiker und Epikritiker. Und diesen Ar- beitsstil behält er bei, wenn er sich vom Sektionstisch abwendet und den Leichnam „Geschichte der Charité“ zu sezieren beginnt. Nur tritt anstelle von Skalpell und Mikroskop das akribische Schürfen nach historischen Zeugnis- sen aus der Vergangenheit dieser Einrichtung und der eng mit ihr verbunde- nen Medizinischen Fakultät der Berliner Universität. Die Charité selbst ist allerdings noch eine recht lebendige Institution mit all’ den Problemen, wel- che die Zeit so mit sich bringt. Aber welche Genese durchlief das als „Pest- Lazareth“ geplante Haus bis heute? Dieser Frage geht Heinz David nach, wo- bei er eine handschriftliche Marginalie des Königs Friedrich Wilhelm I. von 1727, „... es soll das Haus die Charité heißen“, als Titel seines Werkes wählt. David ist beileibe nicht der Erste, der sich der Geschichte dieser interna- tional weithin bekannten Einrichtung zuwendet. Er verweist eingangs auf diesbezügliche frühere historische Darstellungen sowie auf das Bestreben der Charité, ihre eigene Geschichte zu dokumentieren. Sie tat dies mit wechseln- dem Erfolg, erkennbar an dem viermaligen Beginn und vorzeitigem Abbruch der Charité-Annalen (1791–1795, 1850–1868, 1874–1913 und 1981–1995). David war über vier Jahrzehnte Angehöriger der Medizinischen Fakultät der Charité der Humboldt-Universität, zuletzt Ordinarius für Pathologie und von 1980 bis 1990 Dekan. Doch wie verhält es sich mit der Distanz und Ob- jektivität des Insider-Historikers, wenn er selbst lange Zeit in das Geschehen gegen Ende des 20. Jahrhunderts involviert war? Kann er das Geschehen die- ser Periode unbefangen beurteilen? Jedem Zeitzeugen, der sich der Historie 122 Werner Scheler zuwendet, bleibt nur, die eigene Geschichtswahrnehmung dem Kriterium do- kumentarischer Verifizierbarkeit strikt zu unterordnen. Diesem Gebot ver- suchte David in der vorliegenden Monographie konsequent zu folgen. Es ist ihm gelungen. Das zweibändige Werk gliedert sich chronologisch in neun Kapitel und einen zehnten Abschnitt „Schlussbilanz“, letztere für eine weiterhin existie- rende Institution wohl eher eine vorläufige Bilanz, beileibe kein Totenschein. Die ersten vier Kapitel umfassen die Zeitspannen von der Gründung bis 1900, von 1900 bis 1918, von 1919 bis 1933 und von 1933 bis 1945. Es folgt das fünfte Kapitel „Untergang und Übergang zum Neuanfang“ 1945 bis 1949. Für die Kapitel sechs bis neun setzt der Autor zeitliche Zäsuren 1949 bis 1967/68, 1968 bis 1989, 1989 bis 1990 und letztendlich für die Zeit nach 1990 bis ins beginnende 21. Jahrhundert. Der Autor verweist darauf, dass bislang der Schwerpunkt bei der Erforschung der Charitégeschichte auf der Zeit bis Ende des 19. Jahrhunderts lag. Darum sein Vermerk: „Die zusammengefasste Darstellung dieser Periode soll deshalb im Wesentlichen nur in die Gescheh- nisse des 20. Jahrhunderts einführen“. Die sich anschließenden Kapitel neh- men mit der Weimarer Zeit und der Zeit des Nationalsozialismus an Umfang und Details deutlich zu, am ausführlichsten werden die Charitégeschichte der DDR und die Prozesse der Folgeperiode behandelt. Wie geht der Autor an ein Objekt mit so komplexen Funktionen und Ver- flechtungen heran, als da sind akademische Lehre, graduale und postgraduale Ausbildung, Forschung, medizinische Versorgung/Betreuung, Struktur, Or- ganisation, materielle und finanzielle Basis, Personalstatus (Studenten, Lehr- körper, Assistentenschaft, medizinisches Personal, übrige Kräfte), äußere Verbindungen (intrauniversitär, regional, innerstaatlich, international)? Er ordnet seine Recherchen und das Material nach einem solchen systemati- schen Gliederungsprinzip, ohne sich damit strengen Zwang anzutun. Das be- trifft besonders die Kapitel acht und neun, welche Zeitspannen mit großer politischer Dynamik behandeln. Durch alle Kapitel – von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart – zieht sich wie ein roter Faden die Problematik der Bezie- hungen zwischen Macht und Charité/Medizinischer Fakultät, zwischen Fremdbestimmung und Eigenständigkeit in ihrer Entwicklung und in ihrem Wirken. Den zentralen Punkt im ersten Kapitel bildet die schrittweise bauliche und organisatorische Entwicklung der medizinischen Einrichtungen der Charité. Ihre besondere juristische Stellung resultiert aus ihrer komplexen Funktion als eine Gesundheitseinrichtung der Stadt Berlin, als Ausbildungsstätte für H. David, „... es soll das Haus die Charité heißen“ 123

Ärzte, als klinische Basis für die Ausbildung von Militärärzten an der Mili- tärärztlichen Akademie (Pépinière, Friedrich-Wilhelms-Institut) und als aka- demische Wirkungsstätte von Professoren der Medizinischen Fakultät der Berliner Universität, wobei die Charité und die Universität unterschiedliche juristische Personen mit gesonderten Etats sind. Anhand von Dokumenten belegt der Autor die sich daraus ergebenden Kompetenz- und Rechtsstreitig- keiten zwischen den Partnern zumal sich auch das Königshaus und Majestät höchstselbst die Fragen der Charité und der Militärakademie angelegen sein lassen. Die Medizinische Fakultät beweist anlässlich der revolutionären Ereig- nisse des Jahres 1848 ihre Treue zur Monarchie und zum preußischen Staat. Lediglich Rudolf Virchow unterstützt die Aufständischen, was ihm – auf mi- nisteriellem Erlass hin – die Kündigung seiner Prosektur an der Charité und seiner Dienstwohnung einbringt. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Berliner Medizinische Fakultät durch Gelehrte wie Johannes Müller, Lucas Schönlein, Rudolf Virchow, Os- car Liebreich, Robert Koch, Emil Du Bois-Reymond und anderen, zu einem international ausstrahlenden Zentrum der medizinischen Forschung und Wis- senschaft, eine Entwicklung, die die folgenden Jahrzehnte anhält. Von den zeitweiligen Angehörigen der Fakultät werden im 20. Jahrhundert immerhin sieben Forscher – alle erst nach ihrem Weggang – mit dem Nobelpreis für Medizin/Physiologie ausgezeichnet. Konnte die Charité keinem von ihnen eine solche Perspektive bieten, dass sie den Preis noch als aktive Angehörige der Fakultät hätten erhalten können? Um den rasch gestiegenen Anforderungen aus dem Bevölkerungszu- wachs, der aufblühenden medizinischen Wissenschaft und dem gewachsenen Bedarf an ärztlichem Nachwuchs nachkommen zu können, beginnt Ende des 19. Jahrhunderts ein Neubau der Charité, der noch während des Ersten Welt- krieges um 1916 im Wesentlichen abgeschlossen wird. Gleich zu Beginn des Krieges bekundet die Medizinische Fakultät ihre Königstreue, und mehrere der Berliner Medizinprofessoren unterstützen den „Aufruf an die Kulturwelt“ führender deutscher Wissenschaftler, in welchem die Schuld Deutschlands an der Auslösung des Krieges geleugnet und die Verletzung der Neutralität Belgiens durch die deutschen Truppen gerechtfer- tigt werden. Während des Krieges ist die Charité in erheblichem Umfang in die medizinische Versorgung verwundeter Offiziere und Mannschaften ein- bezogen. 124 Werner Scheler

Ungeachtet der Probleme, die zunächst der Neubau der Charité und dann der Krieg mit sich bringen, entwickeln sich das wissenschaftliche Leben und die medizinische Forschung an den Instituten und Kliniken weiter, wovon die Gründung mehrerer medizinisch-wissenschaftlicher Gesellschaften sowie wichtige Entdeckungen und Publikationen aus dieser Zeit zeugen. Im dritten Kapitel führt der Autor eine Reihe von Zeugnissen an, aus de- nen die widersprüchliche, meist ablehnende, Haltung der Professoren, der Ärzte und Studenten zur Weimarer Republik erkennbar wird. Die Niederlage im Krieg, der Versailler „Schandvertrag“ und die miserable Wirtschaftslage im Lande bereiten unter der Intelligenz den Boden für Revanchismus und Na- tionalismus und sie bilden die Basis für die stille und offene Diskreditierung der jungen Republik. Zugleich wachsen die fremdenfeindlichen und antise- mitischen Tendenzen im Lande, so auch im Bereich der Medizinischen Fa- kultät. Die schwierigen ökonomischen Bedingungen in jenen Jahren machen um die Charité keinen Bogen. Entlassungen von Personal und Kürzungen der Mittel führen zu Einschränkungen in der Krankenversorgung und in der wis- senschaftlichen Arbeit. Hinzu kommen administrative Händel zwischen der Charité, der Universität und der Stadt Berlin um die Finanzierung der Kran- kenversorgung und der notwendigen Ausrüstungen. Viel ändert sich daran auch nicht, als der juristische Status der Charité 1930 präzisiert wird: „Eine selbständige, unter Staatsverwaltung stehende, öffentlich-rechtliche Stiftung mit eigener Rechtspersönlichkeit“. So bleiben ihre Beziehungen zur Univer- sität und zur Stadt Berlin ständige Punkte für Reibungen und Streitigkeiten. Bezüglich medizintheoretischer Fragen bezieht die Fakultät klare wissen- schaftliche Positionen, sie lehnt – auch gegenüber ministeriellen Vorstößen zur Gründung einer homöopathischen Klinik – die Homöopathie und die sog. Naturheilkunde ab, obwohl sie mit dem Chirurgen August Bier selbst einen Anhänger der Homöopathie in ihren Reihen hat. Doch auch gegen die Ein- richtung eines Ordinariats für soziale Hygiene erhebt sie Einspruch. In beiden Fällen bleibt ihr nur, die staatlichen Entscheidungen – wenn auch widerwillig – zu respektieren. Der national-konservative, antidemokratische Geist im Lehrkörper, unter den Assistenten und in der Studentenschaft erweist sich für die Demagogie des Nationalsozialismus und für die Führung Deutschlands durch einen „star- ken Mann“ mehr als offen. Schon wenige Wochen nach der „Machtergrei- fung“ Hitlers werden die ersten Gesetze zur Vertreibung der Juden aus den Universitäten und Hochschulen erlassen. Dem „Gesetz zur Wiederherstel- lung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 folgen nun serienweise neue Ge- H. David, „... es soll das Haus die Charité heißen“ 125 setze und Verordnungen zur „Arisierung“ der akademischen Bildungsstätten. Die Medizinische Fakultät erweist den neuen Machthabern ihre uneinge- schränkte Loyalität. Der Autor führt im vierten Kapitel denkwürdige Sit- zungsprotokolle der Fakultät vom März 1933 und aus den folgenden Jahren sowie weitere aufschlussreiche Dokumente an, aus denen sichtbar wird, wie willfährig die wissenschaftlich hoch angesehenen Professoren der Charité und der Fakultät sich zu Erfüllungsgehilfen des NS-Regimes machen, und wie hoch die Zahl der aus rassischen und politischen Gründen entlassenen Hochschullehrer ist. Eine diesbezügliche Gesamtübersicht enthält 162 Na- men, 110 aus klinischen und 52 aus theoretisch-experimentellen Fachgebie- ten. Eine analoge „Reinigung“ von jüdischen und politisch verdächtigen Personen erfolgt gleichermaßen unter den Assistenten und in der Studenten- schaft. Der aktive Widerstand gegen das Regime beschränkt sich auf wenige Menschen. Eine größere Zahl der Professoren der Berliner medizinischen Fakultät sind zwischen 1933 und 1945 Mitglieder der NSDAP, darunter mehrere be- reits vor der Machtergreifung Hitlers. Der Autor führt die Namen einiger Dut- zend von ihnen an, darunter verschiedene, die nach dem Kriege wegen ihrer Beteiligung an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu Haftstrafen verurteilt bzw. hingerichtet wurden, wie der Begleitarzt Hitlers Karl Brandt und der Leibarzt Himmlers Karl Gebhardt. Ferner werden bemer- kenswerte Zeugnisse über das widersprüchliche Verhalten einiger Persön- lichkeiten, wie z.B. Ferdinand Sauerbruch, während der Zeit des Nationalsozialismus angeführt. Die Fakultät erweist sich den Lehren der Ras- senhygiene und Eugenik gegenüber als anfällig, währenddessen sie die Ho- möopathie und andere unwissenschaftliche Heilmethoden weiterhin ablehnt. Die Aspekte der baulichen Entwicklung, der medizinischen Versorgung und des Lehrbetriebes treten in den dreißiger Jahren gegenüber diesen perso- nalpolitischen und organisatorischen Fragen weitgehend zurück. Weder die „Denkschrift über die zukünftige Erweiterung der Charité zum Gesamt-Uni- versitäts-Klinikum“ aus dem Jahr 1935 noch die Unterlagen über einen Neu- bau der Charité im Rahmen der Planung der Hauptstadt „Germania“ führen zu irgendwelchen Investitionen und größeren baulichen Maßnahmen. Viel- mehr schränken die Vorbereitungen auf den Krieg und dann der Zweite Welt- krieg die finanziellen und materiellen Möglichkeiten der Universität und der Charité rigoros ein. Insgesamt ein packendes Kapitel über die fast widerspruchslose Obedienz der Medizinischen Fakultät, einer traditionellen akademischen Institution, 126 Werner Scheler gegenüber einem fanatischen politischen System, ein Kapitel auch über das individuelle politische Verhaltensmuster von fachwissenschaftlich höchst an- gesehenen Gelehrten unter dem Einfluss eines stringenten Machtapparates. Am Ende des Zweiten Weltkrieges liegen viele Kliniken und Wirtschafts- gebäude der Charité und der Institute der Medizinischen Fakultät in Schutt und Asche. David: „Wie keine andere Medizinische Fakultät Preußens und des Deutschen Reiches erlebte die Berliner einen Aderlass von Wissenschaft- lern mit den daraus resultierenden Folgen für Krankenbetreuung, Lehre und Forschung. ... Von einem ‚Mekka’ der internationalen medizinischen Wis- senschaft mit Vorrangstellung und Vorbildwirkung versank die Fakultät ins Abseits ...“. Im fünften Kapitel werden anhand einer Fülle von Schriftstücken, Über- sichten, Auszügen aus Biographien und Zeitschriften die bewegten Jahre des Wieder- und Neuaufbaus der Charité und des schwierigen Neubeginns der Tätigkeit der Medizinischen Fakultät lebendig gemacht. Unter den Bedin- gungen des alliierten Besatzungsregimes in Deutschland und des in vier Sek- toren geteilten Berlin projizieren sich die teils gegensätzlichen politischen Positionen der Westmächte und der Sowjetunion auf die Gestaltung des Bil- dungswesens und der Wissenschaft, damit auch auf die Tätigkeit und die Or- ganisation der Universitäten und Hochschulen. Im Januar 1946 wird die Universität wiedereröffnet, und der Lehrbetrieb wird wieder aufgenommen. In der Charité und den übrigen medizinischen Einrichtungen sind in dieser Zeit alle Bestrebungen darauf gerichtet, die medizinische Versorgung und die materiell-technische Funktionsfähigkeit der Einrichtungen zu sichern bzw. schrittweise wieder herzustellen. Die Medizinische Fakultät setzt alles daran, den akademischen Unterricht zu gewährleisten, obwohl noch eine Vielzahl von Instituten, Kliniken und Hörsälen zerstört sind. Vieles wird improvisiert. Die Dekane der Fakultät wechseln in den Aufbaujahren zwischen 1945 und 1949 in sehr kurzen Abständen. Zum ersten und einzigen Mal in der fast 200jährigen Geschichte der Fakultät befindet sich darunter für 77 Tage eine Frau, die Pathologin Else Knake. In der Medizinischen Fakultät werden die ehemaligen Mitglieder der NS- DAP ihrer akademischen Funktionen enthoben. Fast alle der Entlassenen werden jedoch danach mit täglicher Kündigungsfrist und mit dem Mindest- gehalt für die ärztliche Versorgung wieder eingestellt. Unter den „Entnazifi- zierten“ befinden sich verschiedene Personen, die Jahre später angesehene Professoren der Charité sind. H. David, „... es soll das Haus die Charité heißen“ 127

Im August 1945 wird die Charité der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DZV) in der Sowjetischen Besatzungszone unterstellt – später auch die Universität. Diese Maßnahme erweist sich als eine entscheidende Weichenstellung bezüglich der gesellschaftlichen Stellung und Funktion bei- der Einrichtungen. Die sowjetische Militäradministration wie auch die DZV greifen mit Erlassen, Verordnungen und aktuellen Entscheidungen in das aka- demische Leben ein, wie z.B. bei der Zulassung von Studenten zum Studium oder bei der Bestallung bzw. Entlassung von Hochschullehrern, was mehrfach zu Protesten und Unruhen führt. Die Medizinische Fakultät bildet dabei einen Sammelpunkt des Widerstandes. Die konservativen Kräfte wenden sich be- sonders gegen die bevorzugte Zulassung von Arbeiter- und Bauernkindern und die Ablehnung von Studienbewerbern aus Akademikerkreisen sowie ge- gen die Betätigung von Parteien, speziell der SED, an der Universität. Die Spannungen nehmen weiter zu, und im April 1948 erteilt der Oberkomman- dierende der US-Streitkräfte in Deutschland den Befehl zur Errichtung einer Universität in den Westsektoren , die Ende des Jahres eröffnet und 1949 dem Senat von Westberlin unterstellt wird. 7 % der Studenten und 7 Pro- fessoren wechseln an die Freie Universität. Die Medizinische Fakultät der Universität, die ab 1949 den Namen der Gebrüder Humboldt trägt, sieht sich in dieser Zeit extremen Anforderungen gegenüber, um unter den komplizierten äußeren materiellen, finanziellen und personellen Bedingungen den medizinischen Versorgungs- und Lehrbetrieb durchführen zu können. Sowohl die Protokolle der Fakultätssitzungen als auch die Berichte und Eingaben, welche der Autor anführt, legen Zeugnis über eine dramatische und turbulente Periode der Berliner Universitätsmedi- zin ab, in der sie an die Grenzen ihrer Existenz gerät. War mit der Bildung der Freien Universität bereits eine einschneidende Trennung im Berliner Hochschulbereich geschehen, so folgt noch 1949 mit der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik nun auch die politische Spaltung Nach- kriegsdeutschlands. Im Gefolge dieser Ereignisse macht sich für die Hum- boldt-Universität und die Charité eine Präzisierung ihrer juristischen Stellungen erforderlich. Doch es dauert noch bis 1957, bis alle klinischen und medizinisch-theoretischen Institute zu einer verwaltungsmäßigen Einheit in- nerhalb der Universität zusammengefasst werden und damit eindeutige ad- ministrative Zuständigkeiten festliegen. Bezüglich ihrer Aufgaben der medizinischen Versorgung fungieren die Einrichtungen der Medizinischen Fakultät als Teil des staatlichen Gesundheitswesens der DDR, das vom ent- 128 Werner Scheler sprechenden Ministerium geleitet wird, bezüglich der akademischen Lehre und Ausbildung untersteht sie der Universität und damit der staatlichen Auf- sicht des Staatssekretariats (später Ministeriums) für Hoch- und Fachschul- wesen. Zwischen 1949 und 1989 kommt es zur etappenweisen personellen, baulichen, materiell-technischen und – vor allem – wissenschaftlichen Kon- solidierung des medizinischen Bereiches der Universität. Im sechsten und im siebenten Kapitel wird dieser Prozess anhand zahl- reicher Belege eindrucksvoll nachgezeichnet. Es handelt sich dabei um eine an Problemen und Widersprüchen reiche Entwicklung im Spannungsfeld zwischen zentralen ideologischen Orientierungen, gesundheits- und wissen- schaftspolitischen Entscheidungen des Staates sowie Eigeninitiativen der Fa- kultät und Aktivitäten ihrer einzelnen Mitglieder. In den 50er Jahren werden an der Universität und in der Charité hauptamtlicher Funktionäre der SED, des FDGB und der FDJ eingesetzt. Damit beginnt eine zunehmende Politisie- rung der Tätigkeit an den Einrichtungen. Sowohl diese Maßnahmen als auch der ideologische Einfluss aus dem Westen und die von dort betriebene Ab- werbung von Ärzten und medizinischem Personal fördern die „Republik- flucht“, die sich bis zum 13. August 1961 dramatisch verstärkt. Im Gefolge der politischen Maßnahmen der DDR-Regierung zur Grenz- schließung nach Westberlin kommt es zu einer nahezu katastrophalen Situa- tion an der Charité, die zu diesem Zeitpunkt noch 166 Westberliner beschäftigt. Am 13.9.1961 notiert der Dekan in einem Aktenvermerk: „Nach dem letzten Stand sind im Bereich der Charité und der theoretischen Institute 53 Ärzte republikflüchtig und 52 andere Mitarbeiter. Von den 33 westberliner Ärzten haben 16 gekündigt“. Mit einem Schlag stehen einzelne Stationen vor der Schließung. Nur mit größten Anstrengungen gelingt es, die medizinische Versorgung der Patienten und den Unterricht aufrecht zu erhalten. Es dauert Jahre, bis die Auswirkungen der Grenzschließung und der „Störfreimachung“ überwunden sind. Auch in der folgenden Zeit greifen in der Tätigkeit und der Entwicklung der Charité zentrale staatliche Direktiven und Beschlüsse und wissenschaft- liche Autonomie ineinander. Mehrere Professoren der Fakultät sind in den ge- sundheitspolitischen, den wissenschaftsleitenden und forschungskoordinierenden Gremien der DDR vertreten und nehmen Ein- fluss auf die Gestaltung des Gesundheits- und Hochschulwesens sowie auf die Planung und Leitung der Wissenschaft. Beispielhaft zeigt sich dies im System der medizinischen Forschung oder bei der Durchführung der dritten H. David, „... es soll das Haus die Charité heißen“ 129

Hochschulreform, die mit der traditionellen Universitätsstruktur bricht, oder bei den Bestrebungen zum Ausbau der Charité. Ausgehend von einer kritischen Analyse über den Zustand und die per- spektivische Entwicklung der Charité Ende der 60er Jahre entwickelt die Fa- kultät Pläne für die komplette örtliche Verlagerung und einen Neubau des Charitékomplexes. Sie werden dann aber zugunsten einer Rekonstruktion der bestehenden Gebäude und eines Hochhaus-Neubaues am bisherigen Standort aufgegeben. 1982 wird der Neubau für das „Zentrum für die operativen Dis- ziplinen“ übergeben. Es folgen weitere Neubauten und Rekonstruktionen von Einrichtungen der Fakultät. Damit verbessern sich die Bedingungen für die medizinische Versorgung sowie für Forschung und Lehre nachhaltig. Profes- soren und Mitarbeiter tragen durch ihre Forschungsleistungen zum wiederer- starkenden internationalen Ansehen der Charité bei. Das achte Kapitel dokumentiert die politischen Aktivitäten, die medizi- nischen und wissenschaftlichen Konzeptionen, die Vorschläge zur Reorgani- sation von Lehre und Forschung und die Reaktionen seitens der Universitätsbehörden und der Charité sowie verschiedener Persönlichkeiten während des gesellschaftlichen Umbruches in der DDR in den Jahren 1989/ 90. Sie zeigen die ernsthaften, teils auch illusionären, Bemühungen um eine Neubestimmung der Stellung und Aufgaben der Charité in einer Phase, in der sich die bisherigen administrativen und akademischen Strukturen auflösen und „basisdemokratische“ Elemente, wie Initiativgruppen, Runder Tisch, Charité-Parlament gesellschaftliche Aufgaben und quasi-administrative Funktionen übernehmen. Dabei erfolgt bereits in dieser Zeit von bundesdeut- scher und westberliner Seite schon eine aktive Einflussnahme auf das Ge- schehen in der DDR, so auch an der Medizinischen Fakultät, und die dortigen Medien berichten in verleumderischer Weise über die Charité. Westliche Pro- paganda sowie eine interne Kampagne der Verdächtigungen und Diskreditie- rung der leitenden Persönlichkeiten an der Charité schaffen das Klima für den nach 1990 erfolgenden politisch motivierten rigorosen Elitenwechsel. Das achte Kapitel gibt eine erste kompakte Darstellung dieser kurzen, turbulenten und doch so entscheidenden Periode, die zudem durch wichtige, bisher unver- öffentlichte Dokumente und durch die Zeitzeugenschaft des Autors besonde- re Authentizität besitzt. Das neunte Kapitel, welches sich mit der Geschichte der Charité seit 1990 befasst, hebt sich dadurch von den übrigen ab, weil die seitdem in Gang be- findlichen konzeptionellen und strukturellen Entwicklungen noch immer im Fluss sind. Eingehend belegt der Autor die massiven administrativen, perso- 130 Werner Scheler nellen und organisatorischen Veränderungen in der Berliner Universitätsm- edizin während der 90er Jahre, ein erneutes bezeichnendes Exempel für die Abhängigkeit der Charitéentwicklung von der äußeren politischen Konstella- tion. Die „alte“ Charité in der Mitte Berlins mit der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität befindet sich – das belegen die angeführten Mate- rialien – in einem Prozess der Neustrukturierung unter Fusion bzw. Assozia- tion mit den medizinischen Einrichtungen der Freien Universität und anderer Klinika. Welches Gebilde sich daraus als Resultante unterschiedlicher poli- tischer Interessen des Bundes und der Hauptstadt, finanzieller Bedingungen, territorialer Gegebenheiten und interner wissenschaftlich-konzeptioneller Auseinandersetzungen formiert, wird sich noch herausstellen. Die von Heinz David vorgelegte Monographie über die Geschichte der Charité zeugt von profunder Erschließung und Bearbeitung des Materials, und sie besitzt ihren besonderen Wert in der durchgängigen sachlichen Dar- stellung ihrer historischen Entwicklung von der Gründung bis zur Gegenwart. Mit ihrer Dokumentation bildet sie eine Fundgrube von historischen Sachver- halten, und sie liefert in reichlichem Maße Ansatzpunkte für weitergehende Recherchen zu bestimmten Abschnitten ihrer Geschichte und zu den Biogra- phien der an der Medizinischen Fakultät wirkenden Gelehrten. Höchst lehr- reich ist die Geschichte der Charité als Prototyp einer universitären Bildungs- und Wirkungsstätte, die sich im Spannungsfeld unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Determinanten und akademischer Selbstbestimmung und Selbstorganisation entwickelt. Heinz David hat mit dieser Monographie sich selbst und seiner früheren Wirkungsstätte ein bleibendes Zeugnis ausgestellt. Das quellen- und doku- mentenreiche Werk kann allen an der Wissenschafts- und Medizingeschichte sowie zeitgeschichtlich Interessierten bestens empfohlen werden. Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 115–117

Gisela Jacobasch

Moritz Mebel, Gottfried May, Peter Althaus: Der komplette Nie- renersatz!? Aufbau und Entwicklung der Nierentransplantation in der DDR. 252 S. Pabst Science Publishers, Lengerich, 2003.

Ende 2003 erschien bei Pabst Science Publishers von M. Mebel, G. May, P. Althaus unter der Mitarbeit früherer Arbeitskollegen der Autoren eine Chro- nik über den Aufbau und die Entwicklung der Nierentransplantation in der DDR unter dem Titel „Der komplette Nierenersatz!?“. Sie gibt dem Leser ei- nen interessanten Einblick in die Strategie zur Entwicklung von Dialyse- und Nierentransplantationszentren in der DDR und deren Umsetzung. Organisa- tionsschemata, statistische Angaben, Beispiele zur Entwicklung von Dialyse- geräten und OP-Technikzubehör sowie die Skizierung von Aufgaben, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Chronische Niereninsuffizienz“ zu lösen waren, machen die ergriffenen Maßnahmen in den einzelnen Etappen beim Aufbau eines über das ganze Land verteilten Netzes von Dialyse- und Nieren- transplantationszentren gut nachvollziehbar. Dabei werden Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, nicht ausgespart. Diese Dokumentation von 152 Seiten und einem (nicht ganz ausgewogenen) fast 100 Seiten umfassenden Anhang, ist nicht nur für Ärzte, Medizinstudenten und Personen, die an Wis- senschaftsgeschichte interessiert sind, zu empfehlen sondern auch allen Le- sern, die sich Gedanken machen über Fragen zum Umgang mit chronischen Erkrankungen und den wichtigen damit verbundenen Arzt-Patienten-Bezie- hungen. Die Autoren, medizinische Spitzenkräfte, informieren anschaulich darüber, wie nach der ersten Nierentransplantation durch Sir Roy Calne 1963 in Cambridge, auch in der DDR systematisch die Entwicklung von Dialyse und Nierentransplantationszentren in Angriff genommen wurde. Aufgezeigt werden 40 Jahre Medizingeschichte zur Therapie der chronischen Nierenin- suffizienz. Anschaulich wird hervorgehoben, wie wichtig für einen therapeu- tischen Erfolg die Wiedereingliederung des Patienten in den Beruf und in das gesellschaftliche Leben ist. 116 Gisela Jacobasch

Die wissenschaftlichen Ergebnisse verdeutlichen, dass wir bisher nicht in der Lage sind, die Funktion hochdifferenzierter Organe durch künstliche zu ersetzen. Die Entwicklung des Dialyseverfahrens war für das Überleben Nie- ren kranker Patienten wichtig, da toxisch wirkende Verbindungen aus dem Organismus entfernt werden können. Der gleichzeitig damit verbundene Ver- lust von physiologisch wichtigen Substanzen aus dem Plasma, da ihre Rück- resorption wie bei einer intakten Niere nicht möglich ist, zeigt die Grenzen des Verfahrens auf. Die daraus resultierenden Konsequenzen manifestieren sich besonders drastisch im Kindesalter. Folgerichtig wurden deshalb für Kinder gesonderte Dialyse- und Nierentransplantationszentren eingerichtet, wodurch zugleich bessere Möglichkeiten für eine notwendige Kinder spezifische inter- disziplinäre Zusammenarbeit erreicht wurden. Weiterhin ließ sich in einer sol- chen Organisationsform die schulische Weiterbildung und Kommunikation der erkrankten Kinder untereinander wesentlich besser organisieren. Das Therapieziel bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz ist in bleibt vorläufig die Nierentransplantation, durch die ein nahezu normales Le- ben ermöglicht werden kann. Es ist wichtig zu wissen und zu verstehen, wie viel ethische, rechtliche, soziale, familiäre, medizinische und organisato- rische Aufgaben zu lösen sind, damit eine Organtransplantation erfolgreich gelingt. Der Einsatz dafür ist gerechtfertigt; denn für zahlreiche Patienten gibt nur die Organtransplantation eine Chance zum Leben. Darüber sollte jeder Mensch sich ausreichende Kenntnisse aneignen, um dieses Wissen in die ei- gene Entscheidung mit einbeziehen zu können, ob man einem Patienten die Chance zum Weiterleben einräumen will oder nicht. Die Entscheidung dar- über sollte man zu Lebzeiten treffen und nicht nach dem Tode emotional überforderten Angehörigen unter Zeitnot überlassen. Die unter Anlage 5 ab- gedruckte Verordnung über die Durchführung von Organtransplantationen aus dem Gesetzblatt der DDR von 1975 bietet eine gute Diskussionsgrundla- ge für eine zeitgemäße einheitliche gesetzliche Regelung in ganz Europa. Dieses Problem ist von großer Aktualität. Die in der DDR praktizierte Wider- spruchsregelung bewährte sich und ist nach wie vor zu empfehlen. Sie bein- haltet, dass jeder Verstorbene ein potentieller Organspender sein kann, sofern er nicht eine andere Entscheidung schriftlich fixiert hat. Es gilt zu verhindern, dass Organe eine Handelsware werden und arme Menschen den Markt zu fül- len haben. Vielmehr sollten vom Staat Kliniken verbindlichere Auflagen er- teilt werden, die bereits vorhandenen Möglichkeiten zur Organbereitstellung verantwortungsvoller und engagierter zu nutzen. Außerdem sollte von Ärzten eine Signalwirkung für die gesetzliche Durchsetzung einer Widerspruchslö- M. Mebel, G. May, P. Althaus, Der komplette Nierenersatz!? 117 sung in ganz Europa ausgehen. Sie sollten am kompetentesten vorhandene Ängste ausräumen können. Diese Frage berührt jeden Menschen. Darüber nachzudenken und zu eigenen Entscheidungen zu kommen, liefert das kleine Buch die erforderlichen Voraussetzungen. Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 67(2004), 131–140

Anstelle eines Nachwortes

Werner Scheler schloss im Jahre 2000 seine Monographie „Von der Deutschen Aka- demie der Wissenschaften zur Akademie der Wissenschaften der DDR“1 mit resüm- ierenden Nachworten ab. In ihnen reflektiert er die politische und gesellschaftliche Konstellation, unter der sich sein Wirken an der Akademie als junger Assistent, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Direktor der Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin und als ihr Präsident gestaltete. Die hier wiedergegebenen und leicht gekürzten Nachworte stellen eine bezeichnende Ergänzung zu den Vorträgen seiner Kollegen und Freunde dar, sie beleuchten dabei gleichzeitig Grenzen und Spielräume des Wirkens Werner Schelers und zeigen ande- rerseits, daß sich seine Weggefährten der von ihm angemahnten Pflicht, „Erfahrenes zu vermitteln, zu wägen und zu werten“, gestellt haben. So machen diese Nachworte den Verzicht auf ein eigenes leicht. Der Herausgeber

Nachworte – Werner Scheler in seiner Monografie im Jahre 2000

„Der zeitliche Abstand zur Existenz und zum Wirken der Deutschen Akade- mie der Wissenschaften zu Berlin bzw. der Akademie der Wissenschaften der DDR ist für eine historische Betrachtung zu kurz, um ein Bild entwerfen zu können, das gegen nostalgische Verklärung wie gegen überhebliches Abwer- ten bestehen könnte. Dennoch gebieten Zeugnisrecht und Zeugnispflicht dem beteiligten Zeitgenossen, Erfahrenes zu vermitteln, zu wägen und zu werten. Genese und Wesen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften der DDR haben ihre Spezifik, geben ihr ein Si- gnum von Einmaligkeit. Der vorurteilsfreien historischen Forschung späterer Zeit bleibt es vorbehalten, ihr den gebührenden Platz in der Wissenschaftsge- schichte zuzuweisen.

1 Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissen- schaften der DDR. Abriss der Genese und Transformation der Akademie. Karl Dietz Ver- lag, Berlin 2000 132

Entstehung, Entwicklung und Tätigkeit dieser Berliner Akademie zwi- schen 1945 und 1990 fielen in eine geschichtsträchtige Periode der Weltpoli- tik. Anfangs prägten die unmittelbaren militärischen und politischen Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges die Verhältnisse in Europa und Deutschland, doch bald schon begann der ‚Kalte Krieg’ zwischen den West- mächten und der UdSSR, der bis Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre be- drohlich eskalierte. In den 70er Jahren gewann ein allmählicher, von herben Rückschlägen belasteter Entspannungsprozess an Boden, und er festigte sich bis weit in die 80er Jahre hinein. Ende 1989 / Anfang 1990 erfolgte der dra- matische Zusammenbruch der Gesellschaftsordnungen der europäischen so- zialistischen Länder, entgültig besiegelt durch die Auflösung der UdSSR. Mit Ende des Krieges geriet die Konkursmasse des Deutschen Reiches vom politischen Handelsobjekt zum imperialen Streitfall zwischen den Sie- germächten. Die aus der Aufteilung Deutschlands hervorgehenden vier Be- satzungszonen und dann ab 1949 die beiden deutschen Staaten mit der Sondereinheit (West)Berlin rangierten in diesem Geschehen als weitgehend abhängige Gebilde ihrer politischen Inauguratoren. Außen- und militärpoli- tisch blieben sie auf die Dauer an ihre ‚Schutzmächte’ gebunden. Ihr Hand- lungsspielraum war ihnen durch die jeweiligen Interessensphären der USA und der UdSSR vorgegeben. Die Akademie war von Anfang an in das Span- nungsfeld dieser generellen Ost-West-Konfrontation und der spezifischen deutsch-deutschen Kontroversen hineingestellt, und sie war den Konflikten und den Wandlungen in der politischen Arena bis zum Ende ausgesetzt. Man muss sich dieses geschichtlichen Hintergrundes bewusst sein, wenn man je- nen Weg der Akademie verfolgt und beurteilt, den sie in 45 Jahren beschritt. In der Rückschau stellt sich die Entwicklung der Akademie auf dem Hinter- grund des politischen Prozesses in Europa sowie des Geschehens in und zwi- schen beiden deutschen Staaten geradezu mit deterministischer Folge- richtigkeit dar. Schon die Stunde ihrer Wiedergeburt prägte die prospektive Entwicklung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin nachhaltig. Nach der Entwürdigung der Preußischen Akademie unter dem braunen Regime erhob sie sich mit neuem Namen aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges, er- stand sie mit neuem Ziel aus den geistigen, den wissenschaftlichen und kul- turellen Ruinen, die 1945 das einstige Land der Dichter und Denker verunstalteten. Sie erwuchs in einem verwüsteten Landstrich und in einer Zeit, in denen die Menschen um das tägliche Überleben kämpften, Ge- schöpfe, getrieben zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Verza- Anstelle eines Nachwortes 133 gen und Aufbegehren, zwischen Resignation und Entschlossenheit. Millionen Menschen hatte der verbrecherische Krieg dahingerafft, hatte die Existenzen von Abermillionen vernichtet. Die Überlebenden, betrogen und verunsichert, suchten nach einem Neubeginn. Aus den Resten dessen, was der Krieg nicht verschlungen hatte, bargen sie, was ihnen auf dem Weg in das Morgen nützen konnte. Dabei ging es nicht nur um die materiellen Güter, so bitter nötig sie auch waren, nicht nur um den Kanten Brot, ein paar Stücken Holz oder Kohlen für den Herd, einige Bretter für die zersplitterten Fenster, die letzten Maschinen unter dem Schutt der zerbombten Betriebe, es ging vielmehr und erst recht um die Freilegung verschütteter Lebensnormen, um das humanistische Erbe, um ethische Wertmaßstäbe, die Halt und Zuversicht geben konnten. In solcher Lage also fand sich 1945 die Preußische Akademie der Wissen- schaften. Sie hatte die Jahre zwischen 1933 und 1945 weder unbelastet noch unbeschadet überstanden, hatte zwischen intellektueller Verweigerung, inne- rem Widerstand und williger Botmäßigkeit gegenüber den braunen Machtha- bern laboriert, hatte sich dem Nazisystem gefügt, sich kompromittieren lassen und angesehenste Mitglieder aus ‚rassischen’ und politischen Gründen verlo- ren. So war ihr Schicksal in den Nachkriegstagen durchaus ungewiss, zumal sie auch international wegen ihrer Willfährigkeit gegenüber dem Hitler-Re- gime isoliert dastand. In dieser schwierigen Situation bedurfte es der Zuver- sicht und der Beharrlichkeit einiger politisch unbelasteter, persönlich integrer Akademiemitglieder, um nach Wegen zur Fortführung der Akademie zu su- chen und dafür Verbündete zu gewinnen. Zugleich bedurfte es jedoch auch der entschiedenen Trennung von Mitgliedern, die sich der politischen Herr- schaft angedient und versucht hatten, die Preußische Akademie auf die frag- würdigen Fährten einer ‚deutschen’ Physik oder einer noch ‚deutscheren’ Biologie mit ihrer pseudowissenschaftlichen Rassenideologie zu führen. Na- men der Akademiemitglieder Lenard oder von Verschuer, stehen hier pro- grammatisch für die politisch motivierte Indoktrination der Wissenschaft. So vollzog sich zwischen Mai 1945 und Juli 1946 ein wechselhaftes, ziel- strebiges Ringen um den weiteren Bestand der Akademie, um ihre neuen In- halte, ihren künftigen Weg, ihr Selbstverständnis, ihre gesellschaftliche Position und ihre Verantwortung bei der geistigen und materiellen Erneue- rung in Deutschland. Die Vertreter der Akademie, an ihrer Spitze Johannes Stroux, trafen bei den Repräsentanten der sowjetischen Militärbehörden und den Leitern der neugebildeten deutschen Verwaltungsstellen auf Verständnis für ihr Anliegen, die Akademie weiterführen zu wollen, zumal eine Reihe der 134 zuständigen sowjetischen Offiziere selbst Wissenschaftler und Mitglieder ih- rer Akademie waren. Schnell zeigte es sich, dass die Sowjetische Militärad- ministration sich in ihrem Entscheidungen nicht von Rachegefühlen leiten ließ, an keine „Abwicklung“ (es sollte dies zum Unwort in ihrer späteren Ge- schichte werden) der Preußischen Akademie dachte, sondern an deren Fort- führung interessiert war – auf neuer inhaltlicher und statuarischer Grundlage. Zuerst gab es noch Diskussionen zum Namen der weiterzuführenden Akade- mie. Eine Preußische Akademie konnte die neue Akademie nicht mehr sein, mit dem Potsdamer Abkommen der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges existierte Preußen de facto nicht mehr, auch wenn der Staat Preußen de jure erst am 25. Februar 1947 durch den Alliierten Kontrollrat in Deutschland auf- gelöst werden sollte. So stimmten die Akademiemitglieder dafür, sie ‚Akade- mie der Wissenschaften zu Berlin’ zu benennen. Da ihr Einzugs- und Wirkungsgebiet jedoch über Berlin hinausreichen sollte, entschloss man sich, sie ‚Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin’ zu nennen. Ausdrück- lich wurde aber von ihren Repräsentanten der Verdacht zurückgewiesen, sie würde sich mit der Bezeichnung Deutsche Akademie der Wissenschaften über die anderen Akademien in deutschen Landen erheben wollen. Mit ihrer Wiedereröffnung wurde die Akademie zugleich Erbe der Preußischen Akade- mie und zeigte sich gewillt, deren früheres überregionales Wirken zu wahren. In Anbetracht dieser konstitutionellen Grundlagen und der inhaltlichen Pro- grammatik erklärte Präsident Stroux zur Wiedereröffnung der Akademie am 1. August 1946 ausdrücklich: ,Die Berliner Akademie stellt sich in den Dienst des ganzen deutschen Volkes’. Heute wird von offiziellen Stellen gerne vergessen gemacht, dass ihre Konstituierung im Jahre 1946 gemäß Befehl der SMAD „auf der Grundlage der letzten deutschen Akademie der Wissenschaften mit dem Sitz in Berlin“ völlig legitim erfolgte, als selbstverständlich verstanden und auch von den westlichen Siegermächten respektiert wurde. Die Mitglieder der vormaligen Preußischen Akademie der Wissenschaften (mit Ausnahme der 15 aus der Mitgliederliste gestrichenen) wurden mit dem Akt der Wiedereröffnung Mit- glieder der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sie sahen mit diesem Übergang die Kontinuität ihrer Akademie und ihrer eigenen Mitglied- schaft gewahrt. Auch wurden die meisten wissenschaftlichen Unterneh- mungen der Preußischen Akademie ebenso selbstverständlich von der wiedereröffneten Akademie fortgeführt. Mit den vorausgegangenen Rechts- akten, ihrem neuen Statut, ihren personellen Bestand und allem ihrem wissen- schaftlichen und materiellen Inventar stand die Deutsche Akademie der Anstelle eines Nachwortes 135

Wissenschaften zu Berlin so von Anfang an in der legitimen Nachfolge der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Auf die Intention, als gesamtdeutsche Einrichtung wirken zu wollen, fie- len aber bereits zum Zeitpunkt des Neubeginns der Akademie erste Schatten. Am 5. März 1946, das Kriegsende lag noch kein Jahr zurück, hielt Winston Churchill im amerikanischen Fulton jene Rede, die den Kalten Krieg zwi- schen den Westmächten und der UdSSR einläutete. Nachkriegsdeutschland mit seinen vier Besatzungszonen und den vier Sektoren Berlins begann zen- traler Schauplatz des Kalten Krieges zu werden. So erfolgte die Neugeburt der Akademie an einem Scheidepunkt der Weltpolitik, in dessem Gefolge Deutschland gespalten und damit auch die eben neukonstituierte Akademie in den Widerstreit der antagonistischen politischen Kräfte einbezogen werden sollte. Ihr Wirkungsfeld wurde schon frühzeitig durch das bekannte Wort aus Bonn eingegrenzt: ,Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb’. Bildung, Werden und Gestaltung der Akademie waren zwangsläufig engs- tens mit dem geistigen, gesellschaftlichen und politischen Umbruch inmitten Europas korreliert. Wollte und konnte sich die Wissenschaft aus diesem Um- bruch heraushalten? Wollte und konnte sich eine Institution wie die Akade- mie, die durch Leibniz’ Vermächtnis ‚Theoria cum praxi’ geprägt war, in dieser Zeit des Neubeginnens vom Leben, von der Gesellschaft, isolieren? Die bitteren Lehren des erst kurz zu Ende gegangen Zweiten Weltkrieges und die Mahnungen aus seiner politischen Vorgeschichte hatten bei den meisten Wis- senschaftlern verstandesmäßige Aufgeschlossenheit und redliche Bereit- schaft geweckt, an einer neuen, alternativen Gesellschaftsordnung mitzubauen, die geeignet und bestrebt sein wollte, die Wiederholung einer sol- chen verderblichen Entwicklung auszuschließen. In ihrer Mehrzahl sahen sie in der Errichtung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung in der sow- jetischen Besatzungszone und dann im Aufbau des Sozialismus in der DDR eine derartige Alternative. Auch unter den bürgerlichen Mitgliedern der Aka- demie herrschten die Überzeugung und der Wille vor, am Aufbau der neuen Gesellschaft mitzuwirken, auch wenn manche von ihnen Zweifel und Vorbe- halte gegen bestimmte politische Akte der neuen Regierenden hatten und die zunehmende geistige, wirtschaftliche und politische Spaltung Deutschlands mit Sorge betrachteten. Im Gefolge der offiziellen Bildung zweier deutscher Staaten im Jahre 1949 legten deshalb eine Reihe westdeutscher Akademiemitglieder ihre Mitglied- schaft nieder. Ihre politische Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland 136 galt ihnen als nicht vereinbar mit dem Wirken einer deutschen Akademie, die ihre Heimstatt in einem anderen politischen System besaß. Andere Mitglieder aus der Bundesrepublik hielten sich dagegen fern, ihre Mitgliedschaft in einer wissenschaftlichen Institution von politischer Observanz bestimmen zu las- sen. Da bei der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik die Ein- heit der deutschen Nation als wesentlicher Verfassungsgrundsatz festge- schrieben wurde, und die Regierung der DDR sich noch jahrelang um die Re- alisierung dieses Zieles bemühte, sah sich das Gros der Akademiemitglieder bekräftigt, diese Politik zur nationalen Wiedervereinigung über die Bande der Wissenschaft zu unterstützen. Die Akademie pflegte in dieser Periode die wis- senschaftlichen Kontakte und gemeinsame Unternehmungen mit westdeut- schen Einrichtungen, wenngleich nicht in Form des früheren Kartells der deutschen Wissenschaftsakademien. Im Laufe der Zeit veränderten sich Charakter und Aufgaben, wissen- schaftliches Profil und personeller Bestand der Akademie. Neben der Gelehr- tengesellschaft entstand eine leistungsstarke Forschungsorganisation, deren Wirken von der Grundlagenforschung bis in die praxisbezogene Anwendung von Forschungsergebnissen reichte. Die Akademie fand sich damit zuneh- mend in die gesellschaftspolitischen und volkswirtschaftlichen Prozesse der DDR integriert. Dieser Wandel begann sich mehr und mehr auf die Haltung und die Einstellung der Mitglieder und Mitarbeiter der Akademie auszuwir- ken. Mit fortschreitender Zeit wuchs der Anteil von Mitgliedern und Ange- hörigen der Akademie, die in der DDR ihre kostenlose Schul- und Hochschulausbildung genossen hatten und die sich wissenschaftlich qualifi- zieren konnten. Ganz überwiegend identifizierten sie sich mit dem Werden der DDR, ihrer Gesellschaftsordnung, ihrer Friedens- und Sozialpolitik. Und auch gewisse Widersprüchlichkeiten im politischen Alltag der DDR, gegen die man anging, mochten nicht den Grundkonsens mit der sozialen Ordnung des Landes brechen. So war es selbst noch gegen Ende der 80er Jahre, in der ‚Wendezeit’, nur eine Minderheit unter den Akademieangehörigen, die sich von der DDR distanzierte. Die Mehrzahl von ihnen kritisierte Missstände, Differenzen zwischen humanistischen Idealen und restriktiver Wirklichkeit, und sie erwarteten Reformen. Sie wollten jedoch nicht zum Kapitalismus zu- rück, sondern strebten nach einer neuen demokratischen Gesellschaft ohne Bevormundung durch eine unfehlbare Partei. Schon in den frühen Jahren anerkannte und schätzte die Akademie die Förderung von Wissenschaft, Bildung und Kultur in der DDR. Sie sah sich in den viereinhalb Jahrzehnten ihres Wirkens gefordert und gefördert, und sie Anstelle eines Nachwortes 137 entwickelte sich zu einem wichtigen Träger der Wissenschaftspolitik des Staates. So erscheint es durchaus verständlich, dass während des politischen Umbruchs in der DDR Ende 1989 / Anfang 1990 sich die Akademie zurück- haltend und differenziert verhielt. Plenum und Präsidium der Akademie be- jahten nachdrücklich die Notwendigkeit der inneren und konzeptionellen Erneuerung im Lande wie in der Akademie selbst, kündigten aber ihr Einste- hen für die DDR – solange diese existierte – nicht auf. Mit der Formierung der DDR wurde unter Führung der SED und der Re- gierung eine einheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik entwickelt. Von ihrer räumlichen und Bevölkerungsdimension her war die DDR nicht groß genug, um noch innerhalb des Landes partikularistische regionale Wirt- schaftskonzeptionen zu verfolgen. Ihre Bevölkerungszahl entsprach etwa der des Landes Nordrhein-Westfalen, ihre Fläche war nur ein Drittel größer als die des Freistaates Bayern der BRD. So erfolgte sehr bald schon eine zentrale Lenkung und Gestaltung der Volkswirtschaft. In engem Konnex dazu erwies sich eine korrespondierende zentrale Planung und Organisation von Wissen- schaft und Forschung erforderlich. Gesamtstaatliche Strategien der Gesell- schafts- und Volkswirtschaftsentwicklung ermöglichten der Akademie, ihre Forschungsgebiete und längerfristigen Ziele auf Basis dieser gesamtstaatli- chen Strategien auszurichten sowie die Hauptrichtungen der Grundlagenfor- schung anhand der internationalen Wissenschaftsentwicklung in größeren zeitlichen Abschnitten festzulegen. Die überschaubaren Dimensionen des Wissenschaftspotentials der DDR gestatteten und forderten den Abgleich der Forschungsaufgaben der Akademie mit denen anderer wissenschaftlicher Institutionen und Einrichtungen, z.B. der Universitäten und Hochschulen, der Industrie, der Landwirtschaft und anderer gesellschaftlicher Bereiche. Die anfängliche Aufsplitterung der Forschung in eine Unsumme einzelner The- men, oft mit unterkritischer Kapazität bearbeitet, wurde durch die gemein- same prognostisch-analytische Erarbeitung wissenschaftlich aussichtsreicher Forschungsrichtungen und ihre koordinierte Bearbeitung überwunden. Zu diesem Zwecke wurden diverse Instrumentarien der Planung und Koordinie- rung der Forschung mit unterschiedlichem Erfolg angewendet. Die Dialektik von zentraler staatlicher Steuerung und Autonomie der Forschung bildete da- bei ein ständiges Spannungsfeld im Leben der Akademie. Die Akademie- und Hochschulforschung fanden in diesem Prozess zueinander, und gemeinsam wirkten sie mit der Industrie und anderen Partnern eng zusammen. In der Bestimmung ihrer Forschungsaufgaben verfügte die Akademie im Hinblick auf Grundlagenuntersuchungen über weitgehende Freiheiten, ange- 138 wandte Forschungen waren in gesamtstaatliche und wirtschaftspolitische Strategien eingebunden. Die Akademie wirkte aktiv an der Erarbeitung dieser Strategien und von längerfristigen Wissenschaftskonzeptionen mit. Sie wurde innerhalb des Landes – gemeinsam mit Universitäten und Hochschulen – zu einem wichtigen Mittler zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisprozess und Praxis. Sie schuf sich dazu ein Instrumentarium an Informations- und Orga- nisationsalgorithmen sowie ein System von technisch-technologischen For- schungs- und Entwicklungsstätten, um Ergebnisse der Grundlagenforschung auf technische und wirtschaftliche Nutzbarkeit testen und in die industrielle Anwendung überführen zu können. Hierbei war ihre Wirksamkeit teils von der allgemeinen Schwäche des zentralistisch geleiteten Wirtschaftssystems teils aber auch vom differenzierten Leistungsniveau ihrer unmittelbaren Ko- operationspartner abhängig. Die innovativen Potenzen der Akademiefor- schung für die Industrie wurden durch das Niveau ihrer Ausrüstungen sowie durch den ökonomischen und technischen Zustand der Industrie limitiert. Für zahlreiche Gebiete der industriellen, landwirtschaftlichen und gesellschaft- lichen Entwicklung schuf sie indessen wesentliche Beiträge im wissenschaft- lichen Vorlauf. – Die Akademie übte darüber hinaus auf bestimmten, wissenschaftlich fundierten und begleiteten Gebieten staatliche Hoheitsrechte aus, so bezüglich geophysikalischer Normen und Etalons. Sie unterhielt dazu die entsprechenden staatlichen Dienste und nahm am internationalen Daten- austausch teil. Schon in den ersten Jahren nach Wiedereröffnung veränderte sich der Cha- rakter der Akademie grundlegend. Durch Zuordnung und Gründung eigener Forschungsinstitute wurde sie zu einem strukturellen Verbund von Gelehrten- gesellschaft und Forschungsinstitution. Das war an sich nichts Außergewöhn- liches, fanden sich doch auch in anderen Ländern, östlichen wie westlichen, solche Formen. Das Besondere dieser Kombination erwuchs daraus, dass sich die Akademie mit ihrer Gelehrtengesellschaft als gesamtdeutsche Einrichtung artikulierte, die hinzukommenden naturwissenschaftlichen und technischen Forschungsstätten sich jedoch auf die Bedürfnisse der Region, d.h. zunächst der sowjetischen Besatzungszone und dann der Deutschen Demokratischen Republik zu orientieren hatten. So begann bereits zwischen 1947 und 1949 eine Dissoziation im Wirken der Akademie. Auf der einen Seite standen ihre Bestrebungen um die Wahrung einer gesamtdeutschen Wissenschaft und ihre Bemühungen um die gemeinsamen geisteswissenschaftlichen und edito- rischen Unternehmungen mit westdeutschen Einrichtungen, auf der anderen Seite aber befanden sich die konkreten natur- und technikwissenschaftlichen Anstelle eines Nachwortes 139

Forschungsaufgaben zum Wirtschaftsaufbau im Osten des Landes. Die Grün- dung der Bundesrepublik Deutschland im September 1949 und die daraufhin folgende Bildung der Deutschen Demokratischen Republik im Oktober fi- xierten nur mehr die divergierenden Wirkungsfelder. Und je weiter sich beide deutsche Staaten politisch und wirtschaftlich voneinander entfernten, um so spannungsreicher und widersprüchlicher wurde innerhalb der Akademie das Verhältnis zwischen beiden Vektoren ihres Strebens. Schritt für Schritt wurde die Akademie zu einem Zentrum der For- schungsarbeit der DDR ausgebaut. Den Aufgaben und Ergebnissen der For- schungsinstitute wurden staatlicherseits bald weit höheres Gewicht beigemessen als der Tätigkeit der (gesamtdeutschen) Gelehrtengesellschaft. Durch die Zusammenführung der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute in einer Forschungsgemeinschaft und deren Integra- tion in die zentrale staatliche Lenkung von Wissenschaft und Wirtschaft wur- de innerhalb der Akademie sogar eine administrative Abgrenzung der Forschung von der Gelehrtengesellschaft vorgenommen. Die Gelehrtenge- meinschaft verlor in dem Moment schließlich auch noch ihre Bedeutung als zwischendeutsches Bindeglied, als im Laufe der 60er Jahre die UdSSR ein neutrales Deutschland und die DDR-Führung die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten als reales politisches Ziel abschrieben. SED- und Staatsfüh- rung nahmen von da an Kurs auf die volle Eigenstaatlichkeit der DDR und deren internationale Anerkennung. Mit dem Statut von 1969 vollzog die Aka- demie juristisch die entgültige Abgrenzung von den letzten Resten gesamt- deutscher Optionen. So war die 1972 erfolgende Umbenennung der Akademie in ‚Akademie der Wissenschaften der DDR’ nur mehr ihre lo- gische Legitimation als nationale Akademie des Staates DDR. Mit Vollzug dieser Veränderungen wurden innerhalb der Akademie schrittweise, beson- ders dann im Verlauf der 80er Jahre, wieder engere funktionelle Bindungen zwischen Gelehrtengesellschaft und Forschungsbereichen geknüpft. Die Akademie fand zu einer neuen Einheit zurück. Die ursprünglich gesamt- deutsch intentierte Institution war nun definitiv zur Wissenschaftsakademie der DDR transformiert. Ein anderes, spezifisches Wesensmerkmal der DAW/AdW bildeten ihre Versorgungs- und Produktionseinheiten. Sie entstanden im Gefolge des be- sonderen Wirtschaftsgefüges der DDR und waren für reine Wissenschaftsein- richtungen ungewöhnlich. Die Unterordnung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Akademie unter die Prinzipien der Außenpolitik der DDR führten zu Interes- 140 senkonflikten zwischen der Internationalität des Wissenschaftsprozesses und den Doktrinen der Außenpolitik. Das bedingte deutlichen Asymmetrien und Probleme bei der Gestaltung ihrer internationalen Verbindungen. Die eingangs kommentierte Situation des Kalten Krieges verwehrte der Akademie lange Zeit normale Beziehungen zu Wissenschaftseinrichtungen westlicher Staaten. Das Allied Travel Office und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sparten keine Mühe, die DDR-Wissenschaft in dieser Richtung zu isolieren. Umso mehr drängte die Akademie zu engerer und einseitiger Zusammenarbeit mit den Wissenschaftsakademien der sozialistischen Länder. Hinzu kam im Laufe der Jahre eine immer stringentere Sicherheitspolitik der DDR, die zur selektiven Einschränkung der Reisetätigkeit von Wissenschaftlern der DDR zu Tagungen und Studienaufenthalten in westliche Staaten führte. Es mag dahingestellt bleiben, wie weit die Restriktionen tatsächlich als Reaktionen auf reale diversive Einflüsse aus dem Westen verstanden wurden, wie dies zu ihrer Begründung hieß, oder inwieweit sie Ausfluss latenter poli- tischer Unsicherheiten der Parteiführung waren. Diese Sicherheits- und Ab- grenzungspolitik gebar auch den fatalen ‚Reisekaderstatus’ und führte so zur unseligen Differenzierung der Mitarbeiter nach offensichtlichen politischen Loyalitätskriterien. Für jede wissenschaftliche Einrichtung ist der internatio- nale Informationsaustausch lebensnotwendig, für eine Akademie, die für sich in Anspruch nimmt, die Einheit der Wissenschaften zu vertreten, war er es umso mehr. Darum zeigten sich die politischen wie finanziellen Beschrän- kungen der Reisetätigkeit für die Wissenschaft abträglich. Der Bezug wissen- schaftlicher Literatur vermochte den unmittelbaren Informationsaustausch und den persönlichen Erkenntnisgewinn nur bedingt zu ersetzen. Trotz allem wurde aber erreicht, dass der Kenntnisstand über die aktuelle internationale Wissenschaftsentwicklung gewährleistet war und sich in den Forschungskon- zeptionen der Institute reflektierte. Immer wieder erwiesen sich die Vertreter der DDR bei Kontakten mit Wissenschaftlern westlicher Staaten über deren Arbeiten gut unterrichtet, während das Wissen in umgekehrter Richtung dürf- tig und mit Vorurteilen behaftet war. Nicht zuletzt dokumentierte sich dies im Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten. Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin und die Akademie der Wissenschaften der DDR sind vergangen. Entstanden auf den Ruinen des Zweiten Weltkrieges schufen sie ein Stück deutsche Wissenschaftsgeschichte in einer Zeit bedrohlichster Weltmachtpolitik, europäischer Spaltung und deutscher Zweistaatlichkeit. Die an dieser Geschichte mitschrieben, trugen in dem deutschen Lande, in dem sie lebten und wirkten, dazu bei, kulturelles Anstelle eines Nachwortes 141

Erbe zu bewahren, wissenschaftliche Erkenntnisse zu erschließen, geistige und materielle Werte zu schaffen.“