Grundwissen der Geschichte des Kōdōkan-Jūdō in Japan
von Wolfgang Dax-Romswinkel
Teil 1: Koryū-Bugei: die klassischen Kriegskünste Japans
JIGORō KANō hat mit seinen Schülern und Mitarbeitern ab 1882 das Kōdōkan-Jūdō entwickelt. Die Wurzeln des Kōdōkan-Jūdō liegen in den klassischen japanischen Kriegskünsten, den so genannten koryū-bugei, die über Jahrhunderte entwickelt und ver- feinert worden waren. Weil Kenntnisse über die koryū-bugei beim Verständnis der Jūdōgeschichte und des Jūdō hilfreich sind, sollen zu Beginn dieser Artikelreihe ihre wichtigsten Eigenheiten, ihr Aufstieg und ihr Niedergang im Kontext der geschicht- lichen Ereignisse skizziert werden. Naturgemäß kann die Darstellung in diesem Rahmen allerdings nur sehr komprimiert und verallgemeinernd sein. Für ein vertiefendes Studium muss daher auf separate Fachliteratur zurückgegriffen werden.
Historischer Kontext Konsequent sicherte das Gerber, Totengräber, Henker z.B. kenjutsu (Schwertkampf), Shōgunat seine Macht ab und oder Prostituierte. kyūjutsu (Bogenschießen), Wie alle anderen Länder der Japan erlebte eine rund 250-jäh- Die Samurai stellten etwa bōjutsu (Kämpfen mit dem Erde hat auch Japan eine von rige relativ friedliche Periode. 5 % der Bevölkerung und Langstock) aber auch Schwim- Kriegen gezeichnete Geschich- Strikte Kontrolle der Ein- und nahmen in der Regel Verwal- men und weitere Disziplinen te. Vor allem im 15. und 16. Ausreise nach Japan und des tungsaufgaben - ähnlich unseren gehörten. Jūjutsu, das alternativ Jahrhundert gab es viele interne Handels mit ausländischen heutigen Beamten - wahr. Die z.B. auch yawara oder tai-jutsu Machtkämpfe zwischen weitge- Mächten führten zu einer Zugehörigkeit zu einem Stand genannt wurde, war eine dieser hend autonomen Territorien, da sehr starken Abschottung des hatte übrigens nicht unbe- Formen. Es bezeichnete in der es keine starke Zentralregierung Inselreiches. Zahlreiche Gesetze dingt etwas mit persönlichem Regel das Kämpfen ohne oder mehr gab. Man nennt einen Teil und die Ständegesellschaft nach Wohlstand zu tun. Es gab z.B. nur mit leichten Waffen gegen dieser Zeit nicht umsonst die konfuzianischer Lehre bestimm- verarmte samurai genauso wie einen unbewaffneten oder einen „Zeit der streitenden Reiche“ ten die Staatsordnung. reiche Händler. bewaffneten Gegner. Jūjutsu (Sengoku-Periode, 1477 bis diente in erster Linie als Ergän- 1573). Die Ständeordnung der Entwicklung und Systema- zung zum Waffenkampf, insbe- In der Schlacht von Seki- Edo-Zeit tisierung der Kampfkünste sondere zum Schwertkampf. gahara konnte IEYASU TOKUGA- durch die ryū-ha Das Spektrum der Tech- WA im Jahr 1600 die militä- Der gesellschaftliche Stand niken ohne Waffen umfasste rische Vorherrschaft in Japan eines Menschen hing nicht Während der Jahrhun- Wurftechniken, Gelenkhebel erkämpfen. Er ließ sich vom von seinen Leistungen oder derte, in denen Kriege geführt aller Art (auch an Genick, Kaiser (jap. tennō) mit allen seiner Ausbildung ab, son- wurden, entwickelten sich Händen, Fingern, Beinen und Machtbefugnissen ausstatten dern praktisch allein von der zahlreiche Formen des Kampfes Füßen), Würgetechniken sowie und 1603 zum shōgun ernen- Herkunft. An der Spitze standen mit und ohne Waffen, aber Schläge, Stöße und Tritte. nen. Die Hauptstadt wurde von das Kaiserhaus, der Tokugawa- erst ab Mitte des 16. Jahrhun- Würfe waren oftmals mit Kyōto nach Edo (dem früheren Clan und die etwa 260 Fürsten derts wurden diese zunehmend Hebeln oder Schlägen/Stößen Namen von Tōkyō) verlegt, (jap. „daimyō“). Es folgte der formalisiert und durch die gekoppelt und hatten nicht weswegen die nachfolgende Kriegerstand, die samurai, ryū-ha strukturiert überliefert. unbedingt das Ziel, den Gegner Periode auch Edo-Zeit (1603 bis denen als einzige erlaubt war Eine ryū ist eine Schule oder in auf den Rücken zu werfen, 1868) genannt wird. Da wäh- Schwerter zu tragen. Geordnet etwas anderer Übersetzung ein denn auf dem Schlachtfeld war rend dieser gesamten Zeit die nach Leistung für die Produk- Stil, ha bezeichnet einen Zweig das Ausschalten des Gegners Tokugawa-Familie den Shōgun tion lebensnotwendiger Güter, oder eine Linie. Die ryū-ha sind wichtiger als ihn kontrolliert zu stellte, nennt man die Zeit auch kamen danach die Bauern, die also die Stile/Schulen und ihre werfen. Eine Besonderheit war das „Tokugawa-Shōgunat“. Handwerker und als niedrigs- Zweige. der Nahkampf in Rüstungen, Der tennō war zwar offiziell ter Stand die Händler. Noch Insgesamt lassen sich das yoroi-kumi-uchi, das z.B. in Staatsoberhaupt, faktisch aber darunter waren Menschen mit 18 Hauptformen der Krieg- der Kitō-ryū gelehrt wurde. nur noch auf repräsentative Berufen, die nach buddhisti- künste unterscheiden, die Aufgaben beschränkt. scher Lehre unrein waren wie bugei-jūhappan, zu denen
Abwehr eines Faust- schlages in der Takenouchi-ryū (aus Daigo T., Wurf- techniken des Kōdōkan Jūdō, S. 30-31)
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Gründung der Schulen das für die Weitergabe der Die Kampfkünste sollten - das „Innere“ - ihrer Kunst Lehre verantwortlich war und neben praktischen Fertigkeiten möglichst geheim zu halten, um Die Umstände, die zur auch den Nachfolger bestimm- des Kämpfens auch mentale nicht im Kampf gegen Vertreter Gründung der einzelnen Schu- te. Die Unverfälschtheit der Fähigkeiten und charakterliche anderer ryū einen Nachteil zu len geführt haben, sind oft mit Lehre legitimierte sich über eine Stärke vermitteln, womit den haben. Legenden verbunden und die ungebrochene Linie („Traditi- koryū-bugei auch ein erheb- Bevor ein Schüler ange- Grenze zwischen Dichtung und onslinie“ oder „Übertragungs- licher erzieherischer Wert nommen und in die Kunst ein- Wahrheit ist vielfach nicht mehr linie“) bis zum Gründer der zukam. geweiht wurde, musste er einen auszumachen. Das Spektrum Schule. Wurde von der Lehre Eid leisten, dass er die Geheim- reicht von Mythen - z.B. einer abgewichen, wurde sie ergänzt Die Stufen der Ausbildung nisse der jeweiligen Schule göttlichen Eingebung auf einer oder mit Lehren anderer ryū und das Lizenzierungssystem nicht nach außen tragen und einsamen Wanderschaft - über vermischt, so bedeutete dies (menkyo) dass er die Kunst nicht ohne das Beobachten eines Weiden- in der Regel den Beginn eines Erlaubnis unterrichten wird. baums im Sturm, der flexibel neuen Zweiges (ha) oder sogar Die Schüler wurden Manche Schüler, die uchi-deshi nachgibt und deshalb nicht die Gründung einer neuen ryū. schrittweise und systematisch oder „inneren Schüler“, lebten knickt, bis hin zum legendär- in verschiedene Lernstufen im Haus des Meisters. Die soto- en chinesischen Einwanderer Kata, densho und kuden: das eingeführt. Die Lerninhalte deshi („äußere Schüler“) kamen namens GEMPIN, der im 17. Curriculum einer ryū waren zu diesem Zweck je nur zum Unterricht ins dōjō. In Jahrhundert chinesische Kampf- nach Schule in Stufen wie z.B. der Praxis bedeutete dies oft, formen nach Japan mitgebracht Das technische Programm Grundlagen (shoden), fortge- aber nicht zwingend, dass nur haben soll. war in den kata der ryū forma- schrittene Techniken (chūden) besonders geeignete Schüler Als eine der ältesten heute lisiert. Sie sicherten eine weit- und „innere“ oder „geheime“ uchi-deshi werden konnten und noch existierenden Schulen, die gehend unverfälschte Überlie- Techniken (okuden) eingeteilt. diese aufgrund der ständi- jūjutsu gelehrt hat und noch tut, ferung der Techniken von einer Darüber hinaus gab es wie oben gen Nähe zum Meister eine wird immer wieder die 1532 Generation zur nächsten. In den erwähnt noch die letzte und intensivere Betreuung erfahren gegründete Takenouchi-ryū kata spiegelte sich das Wesen höchste Stufe, das kuden, die konnten als die soto-deshi. genannt. Wichtige Schulen für der jeweiligen Schule wieder mündlichen Lehren, die über Das Rangsystem und die die Entstehung des Kōdōkan- und sie prägten wesentlich die die okuden hinaus gehende schrittweise Einführung in die Jūdō sind Kitō-ryū und Tenjin- Identität der Schule. Kata waren Erklärungen enthielten. Lehrinhalte einer ryū, die erst shin’yō-ryū, die JIGORō KANō also unter anderem auch zum Analog dem Ausbildungs- am Ende der Ausbildung die jeweils gelernt hat. Weitere Zwecke der Überlieferung ge- stand gab es für Schüler wesentlichen Prinzipien und bekannte Schulen sind z.B. nau festgelegt und ein präzises verschiedene formale Ränge Zusammenhänge erkennen Yōshin-ryū oder Sekiguchi-ryū. Üben war Voraussetzung für in meistens fünf Stufen, das ließen, sorgte dafür, dass nur Die meisten Schulen entstanden den Fortbestand der Lehre über sogenannte menkyo-System loyale Schüler zu wirklichen während der Edo-Zeit durch Generationen. (von jap. menkyo=Lizenz, Er- Experten heranreifen konnten. eine Synthese verschiedener Neben den kata gab es die laubnis). Je nach Rang wurden bereits existierender Schulen. schriftliche und die mündliche die Schüler unterschiedlich tief Der Niedergang des samurai- Insgesamt wurden mehrere hun- Überlieferung. Jede Schule in die Techniken, Prinzipien Standes und der koryū-bugei dert - einige Quellen sprechen hatte Schriftrollen (jap. densho), und Geheimnisse der Schule von bis zu 2.000 - verschiedene in denen z.B. das technische eingeweiht. Die höchste Stufe, Der Niedergang der koryū- Schulen während der Edo-Zeit Programm, wichtige Prinzipien, das menkyo-kaiden, wurde nach bugei wurde eingeleitet, als der gezählt. Verhaltensregeln und die der Übermittlung der kuden amerikanische Commodore Per- Später nannte man die Geschichte der Schule nieder- erreicht. Es war die Bestäti- ry 1853 mit vier Kriegsschiffen bis zum Ende der Edo-Zeit geschrieben war. Da - wie noch gung, dass die Lehre der Schule die Bucht von Tōkyō erreichte entstandenen Stile koryū-bugei zu erläutern sein wird - jede ryū vollständig übertragen worden und dem Shōgunat mehr als oder koryū-bujutsu, also die auf eine weitgehende Geheim- war und berechtigte zur selbst- deutlich vor Augen geführt „alten“ Kriegskünste (von haltung ihres Systems wert ständigen Lehre der Kunst. wurde, wie sehr Japan den west- ko=alt, ryū=Schule/Stil, bugei/ legte, wurden die „geheimen Das menkyo-kaiden wurde lichen Mächten, insbesondere bujutsu=Kriegskunst). Lehren“ nur mündlich weiter- durch eine Urkunde bescheinigt aufgrund der Waffentechnik, gegeben. So hatte jede Schule und war auch mit der Aushändi- unterlegen war. Nachdem Japan Formalisierung der Lehrin- ihre kuden (von ku=Mund, gung einer Abschrift der densho 1854 zur Öffnung seiner Häfen halte und strukturierte Über- den=Überlieferung). Oft wurde verbunden. für den Handel mit den USA lieferung in den densho eine Geheimspra- gezwungen worden war, hat che verwendet, die nur mit Hilfe Sicherung der Vertraulichkeit die Shōgunats-Regierung um Die Lehre einer ryū sollte der kuden entschlüsselt werden der Lehre militärisch zu erstarken und unverfälscht vom Gründer auf konnte, so dass Unbefugte sie letztlich eine Kolonialisierung die nachfolgenden Generationen nicht verstehen konnten. Die ryū-ha versuchten wie zu verhindern 1856 hastig das übertragen werden. Es gab stets oben bereits an einigen Stellen Kōbusho gegründet, eine Mi- nur ein Oberhaupt einer Schule, angedeutet den Wesenskern litärakademie zur Ausbildung
(mit freundlicher Genehmigung des Verlags Dieter Born)
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von Offizieren in moderner und ihre traditionelle Tracht zu der langen Friedensperiode gelten die Strukturen für die Kriegsführung (z.B. Artillerie), tragen. (Anmerkung: Der Film während der Edo-Zeit aufgrund noch aktiven koryū unverändert wo ergänzend auch verschie- „The last Samurai“ greift diese mangelnder Praxis ihre Fähig- fort. dene ryū unterrichtet wurden. Thematik auf, jedoch mit sehr keiten auf dem Schlachtfeld Dort wurde bereits großer Wert großer „künstlerischer Frei- verloren hatten. Diese Aussage Glossar auf freie Übungsformen - Vor- heit“). ist sehr pauschal und schlecht Bō: japanischer Langstock formen des heutigen randori - Die Lehrer der alten überprüfbar. Unbestritten ist, Bōjutsu: Kampftechnik(en) mit gelegt. Derartige Übungsformen Schulen mussten sich andere dass es keine Fortschritte in dem Langstock gab es zwar schon vorher, Beschäftigungen suchen oder der Waffentechnologie gab und Bu: Krieg, kriegerisch, jedoch lag der Schwerpunkt des ihre Schulen für bürgerliche dass einige ryū, wie z.B. Kitō- militärisch Bushi: Krieger Übens in den ryu-ha traditionell Kunden öffnen. Die Reputation ryū, ihr System zunehmend Bugei: Kriegerische Künste, hauptsächlich auf kata. der traditionellen Kriegskünste auch als Erziehungssystem s.a. Bujutsu Das Shōgunat musste war allerdings so nachhaltig verstanden. Bujutsu: Kriegskunst, Kampfkunst allerdings bald erkennen, dass ramponiert und zwar sowohl in Den: Überlieferung, s.a. die traditionellen Kampfkünste ihrem praktisch-kriegerischen (3) Die Begriffe budō und Okuden, Kuden, Densho das japanische Militär nicht als auch ihrem erzieherischen bushidō wurden im Text be- Deshi: Schüler (Soto-deshi = wusst vermieden, da beide Be- äußerer Schüler, Uchi- weiter brachten. Der Unterricht Wert, dass dies nur von äußerst Deshi = innerer Schüler) im jūjutsu und im Bogenschie- mäßigem Erfolg gekrönt war griffe erst nach der Meiji-Res- tauration in den Mainstream der Edo: alter Name von Tōkyō ßen (kyūjutsu) wurde bereits und man durchaus von einem Ryū: Schule, Stil, Strömung, im 1862 wieder eingestellt und Siechtum der ehemals stolzen japanischen Sprache Eingang übertragenen Sinn auch das Kōbusho 1866 schließlich ryū-ha sprechen kann. Daran fanden und dort rückwirkend „kriegerische Tradition“ aufgelöst. änderte auch ein zwischenzeit- romantisierend eine ideologisch Ryū-ha: Schulen einschließlich intendierte Bedeutungszuwei- ihrer Zweige (Ha = Das Ende des Shōgunats licher Popularitäts-Boom nichts, Zweig) wurde dann aber doch nicht als Vertreter verschiedener sung erfahren haben, die sie während der Edo-Zeit so nicht Jūjutsu: zumeist waffenlose durch eine westliche Macht Schulen Schaukampfspektakel Kampftechniken gegen herbei geführt, sondern durch organisierten. Die Bürger in den hatten („invented tradition“) unbewaffnete oder leicht kaisertreue Samurai, die die Ar- Städten nahmen dies lediglich - oder anders ausgedrückt: beide bewaffnete Gegner Begriffe existierten zwar, waren Kenjutsu: jap. Schwertkampf, Vor- mee des Shōguns 1867 schlugen als amüsante Unterhaltung und läufer des heutigen Kendō und Kaiser Meiji daraufhin die als anachronistisches Überbleib- aber mit etwas anderen Inhalten belegt, als später daraus ge- Koryū: alte Schulen (Gründung in politische Macht übernehmen sel einer alten Zeit wahr. der Edo-Zeit oder davor) konnte („Meiji-Restauration“ macht wurde. Kuden: mündliche Überlieferung Kyūjutsu: jap. Bogenschießen, 1868). Kaiser Meiji schaffte Persönliche Anmerkungen des (4) JIGORō KANō hatte sich vor allerdings in der Folge das Stän- Verfassers Vorläufer des heutigen allem ab den 1920er Jahren Kyūdō desystem ab und beschnitt die stark dafür eingesetzt, dass Okuden: Übertragung der „inneren Privilegien der Samurai. Das (1) Die Darstellungen über die ryū-ha können wie einleitend die Koryū erforscht und als Lehre“ einer Ryū endgültige Ende des Samurai- Kulturgüter Japans erhalten Densho: Überlieferungsschriften Standes wurde durch die blutige geschrieben aufgrund der Samurai: Aus den Bushi (Kriegern) Vielzahl der Schulen nur von bleiben. Zu diesem Zweck Niederschlagung der Satsu- wurde die Kobudō-kenkyū-kai, entstandener Stand im ma-Rebellion 1877 besiegelt, allgemeiner Natur sein und Feudalsystem keinen Anspruch auf Allge- eine spezielle Studiengruppe am Shōgun: oberster Befehlshaber, bei der rund 40.000 Samurai Kōdōkan, gegründet. politischer Herrscher gegen die kaiserliche Armee meingültigkeit besitzen, da es durchaus Unterschiede gab. während der Edo-Zeit rebellierten und am Ende nur (5) Einige koryū existieren Taijutsu: andere Bezeichnung für ca. 400 von ihnen überlebten. (2) Es wird in verschiedenen heute noch. Oben wurde bei den Jūjutsu Auslöser war das Verbot für die Schriften immer wieder betont, Darstellungen zwar die Vergan- Tennō: japanischer Kaiser genheitsform gewählt, jedoch Yawara: andere Bezeichnung Samurai, öffentlich Schwerter dass die ryū-ha aufgrund für Jūjutsu
Literatur (Auswahl)
Klassischer DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Waffengebrauch Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, in der Tenshin- 2009 hyōhō-sōden- kukami shin-ryū DONN F. DRAEGER: The Martial Arts and Ways of Japan, Volume I: (mit freundlicher Classical Bujutsu, Weatherhill, 1973, Genehmigung des 1996) Verlags Dieter Born) KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2007
NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon- Verlag, 2003
SKOSS, DIANE (Hrsg.): Koryu Bujut- su: Classical Warrior Traditions of Japan, Koryu-Books 1997
WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires of Jigoro Kano, Trafford-Verlag, 2008
ZÖLLNER, REINHARD: Geschichte Japans: von 1800 bis zur Gegenwart, Schöningh, 2009
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Grundwissen der Geschichte des Kōdōkan-Jūdō in Japan
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Teil 2: JIGORō KANō lernt Jūjutsu
Familiärer Hintergrund und gespielt. Zu seinen weiteren ein dōjō verfügte. Er verwies tete nur noch kata. Das randori- Ausbildung J. KANōS sportlichen Aktivitäten zählten KANō jedoch an H. FUKUDA, Training leiteten zwei fortge- u.a. Rudern, Bergwandern und der wie YAGI ein Meister des schrittene Schüler. Weil KANō JIGORō KANō wurde am 28. Laufen. Tenjin-shin’yō-ryū war. gute Fortschritte machte und Oktober 1860 in Mikage, das Schließlich nahm KANō die beiden mit der Zeit immer heute ein Stadtteil von Kōbe Der Wunsch jūjutsu zu lernen 1877 das Training bei H. FUKU- unregelmäßiger kamen, rutschte ist, geboren. Seine Familie war DA auf, dessen Enkelin KEIKO KANō zunehmend in die Rolle äußerst wohlhabend, besaß In seinen Schilderungen FUKUDA übrigens die weltweit eines Assistenz-Trainers. Dies eine Sake-Brauerei und eine stellt sich KANō als schwäch- erste und einzige Trägerin war für ihn äußerst anstrengend, Reederei, deren Schiffe u.a. den lichen, häufig gehänselten des 9. Dan Jūdō ist und mit da rund 30 Personen mehr Sake transportierten. J. KANōs Jungen dar, der sich wie alle 97 Jahren heute noch aktiv oder weniger regelmäßig zum Vater übernahm verschiedene Kinder in dieser Situation unterrichtet. Außer KANō gab Training buchstäblich auf der Regierungsaufträge, z.B. den wünscht, stärker zu sein als es damals scheinbar nur zwei Matte standen. (Anmerkung des Bau von Befestigungsanlagen, seine „Bullys“. Dieses Klischee andere Schüler, die regelmäßig Verfassers: wenn man die über- und wurde nach der Meiji-Res- taucht im Zusammenhang mit am Training teilnahmen, sowie lieferten Schilderungen KANōs tauration Beamter im Bereich Gründern von Kampfkünsten eine Handvoll weitere, die je- liest, entsteht der Eindruck, dass Verkehr, öffentliche Bauvorha- häufiger auf und eine Verifi- doch nur unregelmäßig im dōjō der randori-Lehrer mit jedem ben und Schiffsbau. zierung ist kaum möglich. Wie erschienen. einzelnen Schüler tatsächlich Der junge JIGORō erhielt dem auch sei: etwa im Alter von H. FUKUDA hatte am randori gemacht hätte.) die beste Ausbildung, die in 13 Jahren versucht er jūjutsu zu Kōbusho (ehemalige Militäraka- der damaligen Zeit in Japan lernen und fragt im Bekannten- demie des Shōgunats) unter- Beginn des Studiums von möglich war. So besuchte er kreis seines Vaters nach, ob es richtet und vermittelte kata und Kitō-ryū unter TSUNETOSHI verschiedene Eliteschulen und ihm jemand beibringen könnte. randori. Aus dieser Zeit stammt IIKUBO hatte zusätzlich noch Privatun- Ein Bediensteter der Familie auch die Geschichte von der terricht. Schon als Kind stand zeigte ihm wohl einige Tricks, „Entdeckung“ des kata-guruma Als M. ISO im Juni 1881 Chinesisch auf dem Stunden- von einer regelmäßigen Instruk- starb, stand KANō erneut ohne durch J. KANō. plan. Als Jugendlicher besuchte tion kann aber keine Rede sein. Am 5. August 1879 nahm Lehrer da. Der Vater eines er in der Schule auch Kurse, Sein Vater war übrigens ge- Freundes aus der Baseballmann- KANō an einer jūjutsu-Vor- die in englischer oder deutscher gen die Aufnahme eines jūjutsu- führung für den damaligen schaft der Universität stellte Sprache abgehalten wurden. Trainings, da diese alte Kunst einen Kontakt zu TSUNETOSHI Präsidenten der USA, ULYSSES Dieser soziale Aufstieg war nur seiner Meinung nach unnütz sei. IIKUBO her, einen Lehrer der S. GRANDT, anlässlich von des- möglich, weil das Ständesystem Das änderte aber nichts an dem sen Japanbesuch teil. Noch im Kitō-ryū, der wie FUKUDA am kurz zuvor abgeschafft worden Wunsch KANōs, es dennoch Kōbusho unterrichte hatte und selben Monat starb H. FUKUDA war, denn J. KANō kam nicht lernen zu wollen. Notgedrungen im Alter von 52 Jahren. Seine dort für randori verantwortlich aus einer Samurai-Familie. machte er sich daher selbststän- war. Bei IIKUBO lernte KANō Frau bat KANō, das dōjō weiter Ab 1875 studierte KANō dig auf die schwierige Suche zu führen, was dieser dann auch kata (=Techniken) der Kitō-ryū Literatur, Politik und Volks- nach einem geeigneten Lehrer. tat. Jedoch fühlte er sich weder und randori. wirtschaft und machte im Jahr Weil er gehört hatte, dass viele kompetent, noch hatte er nach Zu KANōs Erstaunen 1881 einen Abschluss an Japans jūjutsu-Meister gleichzeitig eigener Aussage das Selbstver- bestand ein großer Unterschied damals einziger Universität. Chiropraktiker waren, suchte er trauen, eine eigenständige dōjō- zwischen Tenjin-shin’yō-ryū Danach schrieb er sich noch für gezielt in diesen Kreisen. Böse Leitung zu übernehmen. Über und Kitō-ryū. Ersteres beinhal- weitere Studien in Ästhetik und Zungen behaupteten damals und welchen Zeitraum er dies tat, ist tete viele Hebel, Würgegriffe, Moral ein, die er im Juli 1882 auch später, dass sie tagsüber nicht bekannt, aber lange kann Schläge, Tritte und natürlich beendete. Viele seiner Kom- die Knochen wieder einrenken es nicht gewesen sein, weil er auch Würfe, jedoch war das militonen wurden später - wie würden, die sie am Vorabend schon bald bei einem anderen Spektrum der Wurftechniken J. KANō selbst auch - äußerst ausgerenkt hatten. Lehrer ein tägliches Training der Kitō-ryū - vor allem durch einflussreiche Mitglieder der aufnahm. die vielen sutemi-waza - über- japanischen Gesellschaft und KANōS erster Lehrer HACHINO- aus reichhaltig, so dass KANō bekleideten hohe und höchste SUKE FUKUDA Fortsetzung der Studien bei sie fasziniert studierte. Positionen in Staat und Regie- Die Gründung des Kōdōkan MASATOMO ISO rung. Einer der Chiropraktiker, erfolgte 1882, noch in der Zeit, den KANō aufsuchte, war Während seiner Studien- KANō entschied sich, in der KANō bei IIKUBO lernte. Meister TEINOSUKE YAGI, der jahre betrieb KANō auch weiter Unterricht bei FUKUDAS IIKUBO wurde als Lehrer an allerdings schon lange nicht westliche Sportarten. Er hat früherem Lehrer MASATOMO ISO den Kōdōkan engagiert und z.B. als einer der ersten Japaner mehr unterrichtet hatte und auch zu nehmen. Dieser war schon unterrichtete dort regelmäßig Baseball gelernt und begeistert nicht über genügend Platz für über 60 Jahre alt und unterrich- (vermutlich ca. 3 x pro Woche).
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Ob er daneben noch ein eigenes IIKUBOS durchschaute, was A. Bennett (JIGORō KANō and viele erwarb, wie ihm möglich dōjō betrieb, ist unklar. ihn in die Lage versetzte, die the Kōdōkan, s.u.) findet sich war. Explizit erwähnt Bennett Situation für einen Konter zu auf Seite 3 ein nicht weiter die densho folgender ryūha: Im randori war KANō nutzen. Was genau passierte, referenziertes KANō-Zitat, Yōshin-ryū, Sekiguchi-ryū, Meister IIKUBO, obwohl dieser wird sich wohl nicht mehr wonach eine ganze Reihe von Tsutsumi-hōzan-ryū, Miura- schon über 50 Jahre alt war, feststellen lassen, aber wie dem Meistern verschiedener ryūha ryū, Kyūshin-ryū, Jikishin-ryū, deutlich unterlegen. Eines Ta- auch gewesen sein mag: als unmittelbar auf ihn zugekom- Seigō-ryū, Musō-ryū, Teizen- ges jedoch gelang es KANō nach KANō IIKUBO seine Entdeckung men seien, um ihm ihre Formen ryū, Kiraku-ryū, Fusen-ryū und eigener Erzählung erstmalig, erläuterte, gab ihm dieser Recht des jūjutsu näher zu bringen. Kanjin-ryū. Es ist allerdings IIKUBO zu werfen - und das und meinte, dass es besser Sie betrachteten sich selbst als unklar, ab welchem Zeitpunkt sogar mehrmals hintereinander. sei, künftig kein randori mehr Teil einer Tradition, die nicht KANō diese densho jeweils KANō hatte erkannt, dass der miteinander zu machen. mit ihnen sterben sollte, hatten besessen hat. günstigste Zeitpunkt für einen Einige Zeit später, im jedoch keine Schüler mehr, die Angriff genau dann ist, wenn Oktober 1883 erhielt J. KANō an einer Fortführung der Lehre Kurzportrait Tenjin-shin’yō- das Gleichgewicht des Gegners von IIKUBO das menkyo-kaiden interessiert waren, hofften aber, ryū für einen Moment gestört ist. der Kitō-ryū. IIKUBO unterrich- dass KANō ihr Wissen bewahren Die Schule wurde 1810 Die Berichte unterscheiden sich tete KANō danach noch bis ca. und weitergeben würde. von MATAEMON ISO durch eine aber etwas in den Details. So 1886/87 in kata. Mit der Zeit konnte KANō findet man Schilderungen, nach auf diese Weise Kenntnisse in Synthese von Yōshin-ryū und Shin-no-shintō-ryū begründet. denen KANō erkannt haben soll, Einflüsse anderer ryūha Form von Schriftrollen (densho) dass man den Gegner durch Zug und mündlichen Überlieferun- Tenjin-shin’yō-ryū umfasst nach oder Druck zu einer Reaktion Über die beiden genann- gen (kuden) erlangen, die nor- vorliegenden Informationen 124 veranlassen kann, die sich zu ten Schulen hinaus studierte malerweise „geheim“ gewesen (Haupt-)kata (=Techniken), vor einem Gleichgewichtsbruch KANō auch die Techniken und wären. Außerdem tauchten allem atemi-waza, kansetsu- nutzen lässt. Andere Darstel- Prinzipien anderer ryūha, ohne zunehmend densho in Buchlä- waza, shime-waza und nage- lungen verweisen darauf, dass aber formell Unterricht bei den und bei Antiquitätenhänd- waza, aber auch die traditionelle einem Lehrer zu nehmen. Bei Wiederbelebung (kappō). Die KANō das Timing der Angriffe lern auf, von denen KANō so
Atemi-waza der Tenjin-shin´yo-ryū. Die Aus- gangsposition erinnert an die erste Serie („ido- ri“) der heutigen kime-no-kata und war typisch Tenjin-shin’yō-ryū beinhaltete bereits im We- für die „alten Stile“ (aus: YOSHIDA, CHIHARU / ISO, sentlichen dieselben Technikkategorien wie das MATAUEMON: „Tenjin-shin’yō-ryū - Jūjutsu-gokui- heutige Kōdōkan Jūdō. Die Abbildungen zeigen kyōju-zukai [Tenjin-shin’yō-Schule - Vorlesungen Beispiele von nage-waza, kansetsu-waza, shime- und Erläuterungen in Abbildungen zum innersten waza und atemi-waza (aus: INOGUCHI, MATSUNO- Geheimnis des Jūjutsu]“, erschienen 1893 in dem SUKE: „Jūjutsu-seiri-sho. Shikatsu-jizai - Sekkot- Verlag Shûeidô, Abbildung: Archiv Dieter Born.) su-ryōhō [Werk über Jūjutsu und Physiologie. Entscheidung über Leben und Tod - Chiroprak- tische Heilverfahren]“, erschienen 1896 in dem Verlag Kaishin-shorō, Abbildung: Archiv Dieter Born)
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J. KANō demonstriert mit Y. YAMASHITA (10. Dan) eine für Kitō- ryū typische sutemi-waza (taki-otoshi) aus der ko- shiki-no-kata (aus KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō)
Darstellung der Technik ko-daore der Kitō-ryū aus dem Jahr 1888. Uke (rechts) wird von Toris linkem Oberarm/Ellenbogen über Toris linken Oberschenkel nach hinten Beispiele für Wurftechniken der Kitō-ryū: T. geworfen (aus: „Kōkoku Bujutsu Daigo (10. Dan) demonstriert eine dem seoi-oto- Eimeiroku“ (wörtl: „Authentische shi verwandte Wurftechnik der koshiki-no-kata Aufzeichnungen über die kriege- (aus DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Kōdōkan rischen Künste des Kaiserreiches“) Jūdō) aus dem Jahr 1888, Bildarchiv Verlag Dieter Born)
Schule hat sich bis heute gehal- Persönliche Anmerkungen des er später für das Kōdōkan-Jūdō vielfach zu lesende These, er ten. Das derzeitige Oberhaupt Verfassers übernommen hat. hätte J. KANō angeregt jūjutsu ist TOSHIHIRO KUBOTA, der auch zu trainieren, im Widerspruch (1) Die Kenntnisse über die (4) Es sind mehrere Lesungen Träger des 7. Dan im Jūdō ist. zu KANōs Schilderungen und jūjutsu-Lehrzeit JIGOR AN ō K ōs des Vornamens von Meister ist auch sonst in keiner Weise beruhen weitgehend auf Erzäh- IIKUBO möglich. Bekannt sind Kurzportrait Kitō-ryū belegbar. BÄLZ selbst äußert lungen KANōs selbst, die aus nur die Schriftzeichen, nicht sich ebenfalls nicht dahin- Kitō-ryū ist älter als Ten- späteren Jahren stammen. Diese aber die Aussprache. Man gehend. Man muss heute im jin-shin’yō-ryū und wurde im wurden teils von ihm, teils findet mitunter auch die Lesung Gegenteil davon ausgehen, dass 17. Jahrhundert gegründet. Es von anderen aufgeschrieben KōNEN IIKUBO. KANō bereits jūjutsu betrieben umfasste neben Waffentech- und veröffentlicht. Inwieweit (5) Mit kata-Training ist hat, als BÄLZ erstmalig damit in niken vor allem das Kämpfen hierbei Fakten und Anekdoten Kontakt gekommen ist. in voller Rüstung (yoroi-kumi- vermischt worden sind, ist nicht offensichtlich das Training der formalisierten Techniken der uchi). Bereits Anfang des 18. mit letzter Sicherheit zu sagen. Literatur (Auswahl) Jahrhunderts verwendete Kitō- Tenjin-shin’yō-ryū und der ryū teilweise die Bezeichnung (2) Die doch etwas schwie- Kitō-ryū gemeint. In den kata BENNETT, ALEX: Jigoro Kano and the jūdō anstelle von jūjutsu und rige Suche KANōs nach einem war das Charakteristikum jeder Kodokan - an innovative Response jūjutsu-Lehrer und die überlie- Schule manifestiert. Zur Bedeu- to Modernisation, Kodokan Judo focussierte stark auf erziehe- Institute, 2009 rische Werte. Die Philosophie ferte ablehnende Haltung seines tung von kata in den koryū- Vaters zeigen, wie sehr jūjutsu bugei siehe Teil 1 dieser Reihe. DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des der Schule gilt als ausgespro- Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, chen esoterisch und ist nur an Bedeutung und auch an Reputation etwa 10 Jahre nach (6) Die kata der Kitō-ryū 2009 schwer zugänglich. Kitō-ryū, wurden später von J. KANō KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag von der es eine Reihe von Zwei- der Meiji-Restauration verloren hatte. unter der Bezeichnung koshiki- Dieter Born, 2007 gen gab, ist im Sande verlaufen, no-kata in das Kōdōkan Jūdō nachdem die letzten Meister NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk (3) In den koryū-bugei übernommen. Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon- mit menkyo-kaiden spätestens dominierte zwar kata als Verlag, 2003 in den 1980er Jahren gestor- Übungsform, jedoch wurde (7) Prof. Dr. ERWIN BÄLZ, WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires ben sind. Es gibt wohl noch am Kōbusho verstärkt randori Medizinprofessor an der Kai- serlichen Universität in Tōkyō, of Jigoro Kano, Trafford-Verlag, vereinzelte Aktivitäten z.B. auf praktiziert. Da FUKUDA und hatte zweifelsfrei einen großen 2008 Schauveranstaltungen in Japan, IIKUBO am Kōbusho als Lehrer Anteil an der Revitalisierung jedoch ließ sich die Legitimität tätig waren, hat KANō bereits in der Beteiligten bislang nicht der Frühphase seiner Ausbil- der Kampfkünste während der verifizieren. dung viel randori gemacht, was Meiji-Zeit. Jedoch steht die
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Grundwissen der Geschichte des Kōdōkan-Jūdō in Japan
von Wolfgang Dax-Romswinkel
Teil 3: Bescheidene Anfänge - Gründung des Kōdōkan und des Kanō-Juku
Zeitlicher Kontext: JIGORō Die Räumlichkeiten waren Der Kōdōkan hatte in diesen KANōS Einstieg in das Berufs- alles andere als ideal, zumal es ersten beiden Jahren nur sehr leben den Erzählungen nach immer wenige Schüler und Jūdō war wieder Missstimmigkeiten mit fast gänzlich unbekannt. Außer- Nachdem J. KANō 1881 dem Priester des Tempels gab, dem wurde KANō zu dieser Zeit sein Studium der Literatur, da dieser befürchtete, das Ge- als Kampfkunstexperte in der Volksökonomie und Politik an bäude könnte durch das ständi- Öffentlichkeit kaum wahrge- der Tōkyō Universität abge- ge Fallen der Übenden Schaden nommen. Rückblickend sagte schlossen hatte, entschloss er nehmen. Außerdem wird be- er rund 45 Jahre später: „Kaum sich, einen Lehrauftrag für richtet, dass der Trainingslärm jemand wollte eine so gut wie Wirtschaft und Politik an der die Ruhe des buddhistischen unbekannte Kunst bei einem Schule für Adelige, gakushūin, Tempels gestört habe. genauso unbekannten Lehrer anzunehmen. 1885 wurde er lernen.“ Geschäftsführer und 1886 Kon- Das zweite Dōjō im Lagerhaus Um wenigstens mit den rektor der Schule. Trainingszeiten den Bedürfnis- Im Frühjahr 1882 gründete Im Februar 1883 bezog sen der bescheidenen Teilneh- er außerdem eine Sprachschule der Kōdōkan daher ein neues merschar gerecht zu werden, für Englisch, das Kōbunkan, Quartier in Minami-Jinbō-chō, gab es feste Öffnungszeiten des an der junge Japaner bis zur wo KANō ein Lagerhaus anmie- Dōjō, wobei die Schüler jeder- Porträt von Jigorō Kanō um 1882 Schließung 1889 primär in tete und zu einem Dōjō ähnlich zeit kommen konnten. Training englischer Sprache, durch die bescheidener Größe umfunk- war sonntags von 7:00 bis verwendeten Lehrwerke gleich- tionierte. Dieses Dōjō hatte 12:00 Uhr und an allen anderen an. Das als Trainingsraum zeitig aber auch in englischer außerdem den Nachteil, dass Tagen von 15:00 bis 19.00 Uhr. genutzte Zimmer diente gleich- Kultur und Philosophie unter- Säulen im Raum standen, was Zu diesen Zeiten musste er im zeitig als Studier-, Schlaf- und richtet wurden. Dieser Unter- natürlich ein Verletzungsrisiko Prinzip jeweils anwesend sein. Empfangszimmer und hatte eine richt wurde durch angestellte darstellte. Besonders sonntags morgens Fläche von rund 20 qm. Lehrer erteilt. passierte es wohl häufiger, dass Parallel zu diesen beruf- lichen Aufgaben studierte J. KANō noch etwa für ein Jahr lang Moral und Ästhetik an der kaiserlichen Universität. Im Jahr 1882 gründete er den Kōdōkan und kurz darauf das Kanō-juku, ein eng mit dem Kōdōkan verbundenes Internat, das bis 1919 bestand. Aus heutiger Sicht mutet dieses Programm geradezu unheimlich an und es kann mit Sicherheit angenommen wer- den, dass der Tagesablauf nur durch extreme Selbstdisziplin zu bewältigen war.
Gründung des Kōdōkan: das erste Dōjō im Eishijo-Tempel Im Mai 1882 eröffente J. KANō sein eigenes Dōjō und gab ihm den Namen Kōdōkan, was wörtlich „Halle zum Studium des Weges“ bedeutet. Hierzu mietete er Räume im Eishōji-Tempel im Tōkyōter Geburtsstätte des Kōdōkan: Der Eishōji heute. Links neben dem wieder neu errichteten Hauptgebäude befindet Stadtteil Shitaya Kita-Inarichō sich ein noch original erhaltenes Seitentor und links daneben der „Jūdō-Gedenkstein“ (siehe nächste Seite). Foto: Dieter Born
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Ruf geraten, so dass KANō sich Von den ca. 20 Schülern im davon absetzen wollte. Anderer- ersten Jahr haben aber nur neun seits wählte er einen schon vor- diesen Eid auch tatsächlich ge- handenen Begriff, um nicht den leistet. Der erste war TSUNEJIRō Anschein zu erwecken, etwas TOMITA, der dadurch offiziell vollkommen Neues geschaf- als erster Schüler des Kōdōkan fen zu haben. Zu guter Letzt gilt. Die bedeutendsten Schüler wollte KANō bereits mit der der Anfangszeit waren neben Namensgebung den persönlich- ihm SAKUJIRō YOKOYAMA, SHIRō keitsbildenden Anspruch seines SAIGō und YOSHITSUGU YAMA- Systems zum Ausdruck bringen. SHITA, die später als die shi- Die vollständige Bezeich- tennō („vier Himmelskönige“) nung seines Systems lautet des Kōdōkan für die Entwick- übrigens Nihon-den-Kōdōkan- lung des Jūdō von zentraler Jūdō. Bedeutung werden sollten. Die meisten Schüler der Die ersten Schüler und der Anfangszeit brachten übrigens Kōdōkan-Eid Erfahrungen aus anderen Schu- len des Jūjutsu mit. Zur Aufnahme in den Kōdōkan musste in der Gründung des Kanō-juku Tradition der ryūha ein Eid („Kanō-Internat“) geleistet und auf einer Schrift- rolle unterzeichnet werden. Kurz nach Gründung des Die Eidesformel enthielt die Kōdōkan gründete J. KANō ein typischen Elemente der koryū Internat, das nicht nur räumlich („alte Schulen“), z.B. dass man eng mit dem Kōdōkan verbun- keine Geheimnisse der Schule den war. Tägliches Training anderen visuell oder verbal zu- war Pflicht für alle Schüler. gänglich machen und auch das Die Schüler rekrutierten sich Erlernte nicht ohne Erlaubnis teilweise aus Kindern von unterrichten wird. Freunden und Verwandten, es waren jedoch auch andere
„Jūdō-Gedenkstein“ im Innern des Tempelgeländes mit der Aufschrift: „Kōdōkan-Jūdō hasshō no chi“ (wörtlich: „Ort, an dem das Kōdōkan-Jūdō entstanden ist“) Foto: Dieter Born
er schon einmal alleine im Dōjō geben und auf diese Weise auf Schüler wartete. Wenn J. widerstehen, während starre KANō anderweitige Verpflich- Äste anderer Bäume abbrechen. tungen hatte, ließ er sich von Dies hat weder etwas mit sanft Schülern wie z.B. SHIRō SAIGō noch mit kraftlos zu tun. vertreten. Das Training muss in Ausgehend von der Devise Anbetracht dieser Rahmenbe- „das Weiche und Flexible kon- dingungen äußerst individuell trolliert das Harte und Starre“ gewesen sein. (jap.: jū yoku gō o sei suru In der Folge zog der wurde jū zum namensgebenden Kōdōkan noch mehrfach um, Leitgedanken des Jūjutsu. und mit der Zeit, als sich mehr KANō ersetzte das jut- Schüler anmeldeten, wurden su (japanisch für Fertigkeit, auch größere Dōjō bezogen. Technik) durch dō, was soviel wie (Lebens-)Weg, Pfad oder Warum benutzt Kanō den Prinzip bedeutet. Den Begriff Begriff Jūdō? Jūdō gab es allerdings schon vorher, wurde aber nur sehr Jūdō wird häufig mit selten benutzt. Das früheste (be- „sanfter Weg“ übersetzt. Jedoch kannte) Auftreten des Terminus ist diese Begriffswahl mehr Jūdō finden wir zu Beginn des als unglücklich. Jū bedeutet 18. Jahrhunderts in der Kitō-ryū etwa „weich“, „nachgebend“ und in der Jikishin-ryū, die sich oder „flexibel“. Das klassische, aus Kitō-ryū abgespalten hatte. immer wieder aufgeführte Bei- Die Gründe für diese Be- spiel ist das des Weidenbaums, griffswahl waren dreierlei. Zum dessen Äste einem Sturm oder einen waren Jūjutsu und einige Die Trainingsjacke von Jigorō Kanō, die im Museum des Kōdōkan ausge- unter einer Schneelast nach- seiner Vertreter in schlechten stellt ist
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dabei, die sich direkt an KANō alle Schüler unabhängig davon, gehen, das KANō im Jahr 1889 Die shi-tennō („vier Himmels- gewendet hatten. Einige Schüler aus welcher sozialen Schicht erstmals öffentlich vorstellte. könige“) des Kōdōkan stammten aus wohlhabenden sie stammten, gleich behandelt Verhältnissen und bezahlten wurden. (3) Etwa 15 Jahre nach der eine Art Schulgeld, während Meji-Restauration befand sich diejenigen, die aus schwierigen Kurze Zusammenfassung Japan im Spannungsfeld zwi- Verhältnissen kamen, davon schen Tradition und Moderne, befreit waren. Das Kōdōkan-Jūdō ent- was sich auch in KANōs Wirken Als Motivation zur wickelte sich also aus äußerst zu Beginn seiner Laufbahn spie- Gründung des Kanō-juku gab bescheidenen Anfängen. Der gelt. Einerseits gründet er eine Kōdōkan musste mehrfach Sprachschule für Englisch und KANō an, dass er die kritiklose Übernahme alles Westlichen umziehen und die Dōjō waren legt Wert auf eine von Herkunft bedauerte und er dagegen wir- jeweils klein und keinesfalls und Wohlstand unabhängige ken wollte. Außerdem stellte er ideal. Die Schülerzahlen waren Gleichbehandlung aller Schüler, „Verweichlichungstendenzen“ sehr gering und es war ein was in vollkommenem Gegen- fest, die der Herausbildung großes Engagement nötig, um satz zur „alten“ Ständegesell- eines starken Charakters entge- den Betrieb aufrecht zu halten. schaft Japans war. Andererseits genstehen würden. Gemeinsam Leben, Lernen und gründet er das Kanō-juku, um Trainieren war eng miteinan- westliche Tendenzen in Verhal- TSUNEJIRō TOMITA Tagesablauf und Regeln im der verflochten. Ein Teil der ten und Erziehung nicht zu sehr Kanō-juku Schüler lebte im Kōdōkan und dominant werden zu lassen, genoss eine umfassende Erzie- und führt Regeln ein, die er aus Die Regeln am Kanō-juku hung durch KANō. Ein sparta- buddhistischer Tempeltradition waren sehr strikt und das Leben nischer, streng reglementierter übernommen hat. spartanisch. Jeden Morgen und ritualisierter Lebensstil war einer der Schüler für den wurde als wertvoll für die Cha- Literatur (Auswahl) Weckdienst verantwortlich, der rakterbildung betrachtet. BENNETT, ALEX: Jigorō Kanō and the Punkt 4:45 Uhr zu erfolgen hat- Kōdōkan - an innovative Response te. Danach wurden die Räume Persönliche Anmerkungen des to Modernisation, Kōdōkan Jūdō des Hauses gereinigt, der Weg Verfassers Institute, 2009 im Garten gefegt und die Straße DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des vor dem Kōdōkan von liegen- (1) Auch für diesen Zeitab- Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, gebliebenem Abfall befreit. Die schnitt gilt, dass die Quellen 2009 zu großen Teilen auf späteren Zeiten für das Lernen waren KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag strikt festgelegt, im Anschluss Erzählungen KANōs und ihren Dieter Born, 2007 an das Lernen wurde trainiert. Mitschriften beruhen. Somit ist eine rückwirkend idealisierte NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk Das Leben war hart. Die Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon- Schüler durften z.B. keine Einfärbung eher wahrscheinlich Verlag, 2003 als ausgeschlossen. SAKUJIRō YOKOYAMA Holzöfen verwenden, keine ei- WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires genen Lebensmittel kaufen oder (2) Es wäre sicherlich falsch, zu of Jigorō Kanō, Trafford-Verlag, mitbringen, ihre Eltern nicht sagen, dass J. KANō 1882 das 2008 ohne Genehmigung besuchen spätere Kōdōkan-Jūdō schon und das Kanō-juku nur in Grup- „erfunden“ bzw. entwickelt hät- pen oder nur mit einer Ausnah- te. Vielmehr muss man davon megenehmigung verlassen. ausgehen, dass dort in den An- Es wurde viel Wert auf fangsjahren eine Mischung aus Nachtrag zu Teil 2 gemeinsame Aktivitäten gelegt. Tenjin-shin’yō-ryū und Kitō-ryū In der vorigen Ausgabe Besucher wurden gemeinsam gelehrt worden ist. hat sich der Fehlerteufel ein- empfangen und verabschiedet. Erst um 1884 begann KANō geschlichen und da das Heft Das eher karge Essen wurde mit der Entwicklung eigener schon im Druck war, konnte stets gemeinsam eingenommen. kata. Bis dahin wurden kata dieser nicht mehr korrigiert Alle Gemeinschaftsfunkti- der Tenjin-shin’yō-ryū und der werden. Der 18. Präsident der onen wurden von den Schülern Kitō-ryū unterrichtet. Zudem USA hieß Ulysses S. Grant reihum übernommen, so dass war T. IIKUBO - KANōs Lehrer (nicht „Grandt“) und war zur sich jeder in den Dienst der in Kitō-ryū - immer noch am Zeit seines Japanbesuches Gemeinschaft stellen musste. Kōdōkan als Lehrer tätig und 1879 schon nicht mehr im SHIRō SAIGō Diesen ritualisierten Lebensstil unterrichtete dort sowohl kata Amt, das er ein Jahr zuvor ab- hatte KANō vom Tempelle- als auch randori. geben musste, da die Verfas- ben buddhistischer Mönche Man muss daher von einer flie- sung keine dritte Amtsperiode übernommen. KANō legte ßenden Entwicklung zum heute zuließ. besonderen Wert darauf, dass bekannten Kōdōkan-Jūdō aus-
Kōdōkan-Jūdō YOSHITSUGU YAMASHITA
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Teil 4: Ziele des Kōdōkan-Jūdō in den Gründungsjahren
Vorbemerkung matisierung der Techniken, der Ereignisses zu einer der bedeu- Übungs- und Lehrmethoden, tendsten Quellen für historische JIGORō KANō gelang es, mit der Wettkampfregeln usw. be- Betrachtungen macht. Eine na- dem Kōdōkan-Jūdō ein faszi- fassen werden, soll dann immer hezu vollständige Übersetzung nierend stringentes System aus wieder auf diese Ziele Bezug dieses Vortrags befindet sich Zielen, Inhalten und Methoden genommen werden. im Anhang der Dissertation von zu entwickeln und in jahrzehn- KANō sah in Jūdō ein ANDREAS NIEHAUS (s. Literatur- telanger Arbeit zu verfeinern. beträchtliches erzieherisches hinweise). Alle nachfolgenden Die drei ersten Teile dieser Potenzial und setzte es bereits KANō-Zitate sind dieser Über- Artikelserie folgten einem ab 1882 als Erziehungsmittel setzung entnommen. chronologischen Aufbau bis in im Kanō-juku ein (vgl. Teil 3 die Anfangszeit des Kōdōkan. dieser Serie). Nachdem in der Die drei Zieldimensionen des Mit diesem vierten Teil setzt ersten Hälfte der 1880er-Jahre Kōdōkan Jūdō eine neue Struktur ein, in der in Japan eine Diskussion über jeweils Einzelaspekte herausge- die Aufnahme traditioneller Lassen wir gleich zu griffen und in ihrer Entwicklung Kampfkünste in das schulische Beginn JIGORō KANō zu Wort dargestellt werden. Curriculum einsetzte, erhielt kommen: „Das, was ich als Die Grundlage hierfür Jūdō bezeichne, beinhaltet drei J. KANō am 21. Mai 1889 die bilden die ursprünglichen Ziele Ziele: Leibesübung, Kampf und Gelegenheit, vor der Groß- JIGORō KANō im Alter von 28 Jah- des Kōdōkan-Jūdō wie sie 1889 japanischen Gesellschaft für ren, ungefähr zu der Zeit, in der Moral.“ Hiermit verweist KANō von JIGORō KANō der Öffent- er die beschriebenen Ziele des unmissverständlich auf drei Erziehung einen Vortrag mit Kōdōkan-Jūdō vorgestellt hat. lichkeit vorgestellt wurden Demonstration über „Jūdō im Zieldimensionen. Was versteht und auf den folgenden Seiten allgemeinen sowie seinen Wert er jeweils darunter? beschrieben werden. In den für die Erziehung“ zu halten. auf der damaligen Entwick- kommenden Folgen, die sich Bei dieser Gelegenheit lungsstufe ausführlich vor, was mit der Entwicklung und Syste- stellte er das Kōdōkan-Jūdō die Aufzeichnungen dieses
Training im Kōdōkan um die Jahrhundertwende - Das Gemälde von SHŪZAN HISHIDA zeigt J. KANō, der das Training von einer leicht erhöhten Position aus beobachtet (Quelle: Kōdōkan-Jūdō, Verlag Dieter Born).
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Jūdō als Leibesübung „Es bedeutet das Trainieren konkreter: Zeitgeist an und erläutert im von Techniken, mit denen man Folgenden den Beitrag des Jūdō Nützliche Fähigkeiten zu einen Menschen töten, verletzen „Beim Randori im Jūdō trainie- zur Schulung des Intellekts. erwerben ist für KANō ganz oder festhalten kann, oder, ren in den meisten Dōjō sowohl allgemein das oberste Ziel wenn man selbst angegriffen Fortgeschrittene und Anfänger „Beobachtung“: Beim Jūdō übt jeder Erziehung. Da für ihn wird, sich zu verteidigen.“ als auch Gleichrangige mitein- man nicht (nur) für sich allein, vollkommen außer Frage steht, ander. Ganz natürlich nimmt sondern muss auch Andere be- dass jeder Mensch körperliche Den Widerspruch, auf der man so eine anleitende Position obachten, damit man verstehen Fähigkeiten für die Bewältigung einen Seite die Gesundheit ein, eine Position, in der man kann, wie Techniken funktio- des Alltags benötigt, sind Lei- entwickeln zu wollen, auf der angeleitet wird oder eine, in nieren. Beobachten zu können, besübungen für ihn essenzieller anderen Seite jedoch Techniken der man gleichberechtigt ist ist eine Grundvoraussetzung Bestandteil von Erziehung. Im üben zu lassen, die im Extrem- (...) Wer die Pflichten eines für den Fortschritt im Jūdō und Detail fordert er fall sogar eine tödliche Wirkung Lehrers übernimmt, kann bei wird durch Jūdō gefördert. haben können, löst er durch eine verschiedenen Fällen und bei - eine angemessene, harmoni- entsprechende Übungsmethodik unendlich vielen Gelegenheiten „Erinnerung“: Beobachtungen sche Entwicklung der Musku- auf, bei der die „gefährlichen lehren, dass die Menschen sich alleine nützen aber nicht viel, latur, Techniken“ nicht in offenen füreinander bemühen und sich wenn man sich nicht erinnert. - die Gesunderhaltung des Situationen des freien Übens gegenseitig freundlich behan- Das Erinnerungsvermögen Körpers, (Randori), sondern nur in deln müssen.“ ist also eine weitere wichtige - die Entwicklung von Kraft abgesprochenen Situationen Voraussetzung zum Jūdō, das sowie (Kata) trainiert werden. Nähere Auch wenn KANō den somit eine Gedächtnisschulung - die Entwicklung von Gelen- Erläuterungen hierzu werden in Grundsatz jita-kyoei - meist darstellt. kigkeit. den kommenden Artikeln über übersetzt als „Prinzip des ge- genseitigen Helfens und Wohl- „Überprüfung“: Aber was nüt- In späteren Vorträgen die „Kōdōkan-Methoden“ und zen Beobachtung und Erinne- ihre Entwicklung folgen. ergehens“ - erst Jahrzehnte spä- und Schriften betont KANō ter ausformuliert und ins Jūdō rung ohne praktische Umset- häufig, dass eine übermäßi- Jūdō und „Moral“ eingeführt hat, wird durch diese zung? KANō erläutert: „Eine ge Ausbildung bestimmter Erklärung deutlich, dass die Situation muss man reiflich Muskelgruppen bei gleich- KANō erklärt: „Das, was ich entscheidenden Grundgedanken überdenken, das Ergebnis an zeitiger Vernachlässigung als System der Moral bezeich- bereits in der Frühphase des der Wirklichkeit erproben, sie anderer Muskeln unbedingt ne, umschließt (...) drei Punkte: Jūdō am Ende des 19. Jahrhun- nochmals durchdenken und er- verhindert werden muss. Die Die Ausbildung der Moral, die derts klar entwickelt waren. neut erproben. Damit wird eine Begriffe „Funktionstüchtigkeit“, Ausbildung des Verstandes und Gewohnheit ausgebildet, nicht „Balance“ und „Harmonie“ die Theorie des Kampfes, die Ausbildung des Verstandes mit dem gewöhnlichen ober- treffen seine Vorstellungen von auf die verschiedenen Dinge in flächlichen Denken zufrieden einem idealen Körper wohl am der Welt angewendet werden KANō stellt in den Raum, zu sein, sondern gründlich über besten. „Vielseitigkeit“ statt kann (...).“ Der Begriff „Moral“ dass „Menschen, die wir als die Dinge nachzudenken“. „Einseitigkeit“, „Interesse“ statt taucht hier etwas missverständ- tüchtig bezeichnen“, ihren „Eintönigkeit“ sind daher auch lich doppelt auf, nämlich einmal Verstand meistens durch die „Phantasie“: Eine besondere seine wichtigsten Maximen bei als Oberbegriff und einmal als Kampfkünste ausgebildet Bedeutung kommt für KANō der der Übungsgestaltung. Konkretisierung. Als Oberbe- hätten. Auch damit knüpft er - Phantasie zu: „Selbst wenn man Die im Rahmen der Lei- griff wäre vielleicht „geistig- wiederum ohne weitere Erläute- verschiedene Ideen zur Lösung besübungen erlernten Bewe- moralische Entwicklung“ etwas rung oder Begründung - an den eines Problems hat, so kann gungen sollen darüber hinaus glücklicher. auch einen praktischen Nutzen haben. KANō führt als Beispiel Ausbildung von Moral Die Bilder von YOSHITSUGU YAMASHITA (später 10. Dan), entstanden 1904 das Abrollen an, sollte man Zur Mitte der Meiji-Zeit auf einer USA-Reise, geben einen kleinen Einblick in das Jūdō der Jahr- auf einem Wagen sitzen, wenn hundertwende: dieser umstürzt. Ein weiteres (1868 bis 1912), also dem Beispiel ist die Fähigkeit rasch Zeitpunkt des Vortrags im Jahr ausweichen zu können, wenn 1889, begann das nationale ein Gegenstand auf jemanden Selbstbewusstsein Japans deut- herunterfällt, oder Fallen zu lich zu erstarken. Man besann können, wenn man auf einer sich wieder auf eigene Tradi- Leiter fehltritt. tionen und kulturelle Werte, wenngleich diese mitunter idea- Jūdō und „Kampf“ lisiert wurden, wie zum Beispiel der Bushidō. Zu J. KANōs pädagogischen KANō greift diesen Zeitgeist Überzeugungen - ganz im auf und stellt Jūdō in den Sinne des Erwerbs nützlicher Dienst einer Patriotismus-Er- Fähigkeiten - gehörte, dass je- ziehung. Er sagt: „Wollen wir der Mensch über grundlegende der nachfolgenden Generation Fähigkeiten verfügen sollte, lehren, das Japanische an Japan sich und andere im Bedarfsfall wertzuschätzen, dann müssen verteidigen zu können. Aufgabe wir irgendwie den Geist der der Erziehung sei es, diese Kampfkünste in die Köpfe der Fähigkeiten zu vermitteln. Er heutigen Jugend bringen.“ erläutert das „Jūdō-System Was er darunter genau ver- des Kampfes“ mit folgenden steht, führt er zwar nicht weiter Worten: aus, jedoch wird er an einem Beispiel aus dem Training Selbstverteidigung
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man keine gute Lösung finden, und vor allem überzeugendes jeden Preis“, mitunter muss eine Erweiterung der Jūdō wenn die Einfälle nur zögerlich Konzept kognitiver Fähigkeiten man auch abwarten können, -Prinzipien selbst noch weiter ins Herz fließen“. vor, die durch Jūdō-Training dann aber umso entschlossener ausgearbeitet hat. entwickelt werden sollen. handeln (3). Bei all dem darf „Sprache“: KANō ist sich man niemals die Grenzen Persönliche Anmerkungen des darüber bewusst, dass Sprache Die Anwendung der Theorien aus den Augen verlieren (4): Verfassers beim Verständnis von Jūdō des Kampfes im täglichen Grenzen in der Anwendung von besonderer Wichtigkeit Leben von Techniken, bzw. Grenzen (1) In der Wissenschaft ist ist. Nach seiner Überzeugung im allgemeinen Umgang mit allgemein anerkannt, dass verbessert Lehrtätigkeit die KANō war der Überzeugung, anderen Menschen. KANō in seinem erzieherischen Fähigkeit, komplizierte Dinge dass sich die Lektionen, die Den letzten Punkt (5) Denken vor allem von HERBERT verständlich darzustellen. Er man durch das Training des SPENCERS (1820-1903) Werk beschreibt KANō schließlich als kokettiert sogar gegenüber dem Kämpfens lernt, auf Situationen das „Mysterium des Jūdō“: „Im „Education: Intellectual, Moral Publikum und sagt: „Unter außerhalb des Dōjō übertra- Sieg nicht stolz zu sein, in der and Physical“ (Vier Essyas, die Ihnen gibt es sicherlich einige gen lassen und man daraus Niederlage nicht aufzugeben. In bereits 1880 auf japanisch vor- Kritiker, die sagen: Obwohl der für den Alltag Nutzen ziehen der Sicherheit nicht nachlässig lagen) beeinflusst war. Dieses Sprecher selbst ein Meister im kann. Die wichtigsten Lehren zu werden und in der Gefahr wiederum setzt sich intensiv Range eines Shihan des Jūdō des Kampfes sind für ihn (frei nicht die Nerven zu verlieren.“ mit der Pädagogik PESTALOZZIS ist, warum spricht der dann so übersetzt und vom Verfasser (1746-1827) auseinander und schlecht? Diesen möchte ich formuliert): Zusammenfassung erinnert stark an Kopf („intel- entgegenhalten, dass ich eigent- lectual“), Herz („moral“) und (1) Beachte die Beziehung lich noch schlechter spreche, KANō stellt Jūdō 1889 als Hand („physical“). Das Werk zwischen Dir und Deiner Um- aber durch das Jūdō-Training ein umfassendes Erziehungs- SPENCERS ist im Internet frei schon Fortschritte gemacht gebung system vor, das die Bereiche verfügbar. habe.“ (2) Komme Deinem Gegner Leibesübungen, Kampf/Selbst- zuvor verteidigung und geistig-mora- (2) Das öffentliche Interesse „Große Kapazität“: Die kom- (3) Überlege reiflich - handle lische Erziehung als seine drei an den traditionellen Kampf- plexeste kognitive Fähigkeit, entschlossen Säulen nebeneinander stellt. künsten Japans begann etwa 10 die nach KANō durch Jūdō (4) Kenne die Grenzen Jahre nach der Meiji-Restau- Jahrzehnte später, als KANō ausgebildet werden soll, nennt (5) Sei bescheiden im Erfolg - wieder einmal den Unterschied ration (1868) langsam wieder er die „Große Kapazität“. Damit akzeptiere einen Misserfolg mit zwischen Jūjutsu und Jūdō zuzunehmen, nachdem eine ist zum einen gemeint, Neuem Anstand und Würde erklärte, brachte er es prägnant Schwerteinheit der Polizei gegenüber aufgeschlossen zu erfolgreich an der Niederschla- Zu (1) kommt es darauf an, auf den Punkt: „Die Substanz sein (KANō: „wer seine eigene gung aufständischer Samurai sich stets über eigene und des der Erziehung (Anm.: beim Meinung zu stark beschützt, Jūjutsu) war das Lehren der beteiligt war. Das Interesse ging kann keine Fortschritte ma- Gegners Stärken und Schwä- daher naturgemäß vorrangig chen sowie über die besonderen Technik. Im Kōdōkan wurde chen“), zum anderen ist es die die Lehre begründet, dass das von Sicherheitskräften aus. Die Fähigkeit, Dinge von unter- Umstände der Situation Klarheit Polizei von Tōkyō begann zum zu verschaffen und daraus eine Lehren des Weges die Substanz, schiedlichen Standpunkten aus und die Technik die Anwen- Beispiel ab 1879 das japa- betrachten und verschiedene Strategie zu entwickeln - im nische Fechten und ab 1883 das dung des Weges ist“ (NIEHAUS, Theorien zu einer Synthese Kampf wie im täglichen Leben. Jūjutsu wieder zu fördern. Initiative zu ergreifen und das S. 306). bringen zu können, ohne sie zu Seine Überlegungen haben vermengen. Heft des Handelns in die eigene (3) Aus Sicht der Leibeser- Hand zu nehmen, drückt Punkt selbst nach 120 Jahren nichts ziehung fanden Kenjutsu und KANō stellt also im Jahr (2) aus. Das bedeutet jedoch von ihrer Aktualität verloren, Jūjutsu in Prof. ERWIN VON 1889 ein hierarchisch gestuftes nicht „agieren/angreifen um auch wenn er sie später durch BAELZ einen großen Fürspre- cher für die Einführung in den allgemeinen Schuluntericht. Die diesbezügliche Diskussion wird Selbstverteidigung Gegenstand eines separaten mit Atemi-waza Artikels (Arbeitstitel: „Der Weg des Kōdōkan-Jūdō in die Erziehungsinstitutionen“) dieser Reihe sein.
Literatur (Auswahl)
BENNETT, ALEX: Jigorō Kanō and the Kōdōkan - an innovative Response to Modernisation, Kōdōkan Jūdō Institute, 2009
DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2009
KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2007
NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk Bildquelle: YOSHITSUGU YAMASHITA Photograph Album Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon- (PH 006). Special Collections and University Archives, Verlag, 2003 W.E.B. Du Bois Library, University of Massachusetts WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires Amherst of Jigorō Kanō, Trafford-Verlag, 2008 De-ashi-barai
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Grundwissen der Geschichte des Kōdōkan-Jūdō in Japan
von Wolfgang Dax-Romswinkel
Teil 5: Die technischen Prinzipien des Kōdōkan-Jūdō im 19. Jahrhundert
Vorbemerkung nach diesen Prinzipien. Seine zahlreiche weitere Variationen In der Literatur finden sich große Stärke war es, komplexe gibt. viele derartig vereinfachte Wer Jūdō betreibt, kommt Gebiete zu strukturieren, zu J. KANō vermied esoterische Erklärungen, die sich mehr an früher oder später mit dem systematisieren und leicht Erklärungen und bemühte Laien oder Anfänger richten Begriff „Prinzip“ oder im Plural verständlich zu formulieren. sich stets um konkrete, leicht als an Fachkundige. Auf diese mit „Prinzipien“ in Berührung. Bevor es KANō aber gelang, verständliche Formulierungen Weise entstand wohl auch der Die Erläuterung der „Jūdō-Prin- Seiryoku-zenyō und Jita-kyōei wie die im Folgenden vom Ver- Leitsatz „Siegen durch Nach- zipien“ ist Teil des Dan-Prü- als umfassende Prinzipien nicht fasser frei wiedergegebene: geben“. fungsprogramms des DJB. Was nur des Jūdō, sondern als Uni- Etwas allgemeiner lautet die bedeutet „Prinzip“ im Kontext versalprinzipien zu formulieren, „Angenommen mein Gegner Standarderklärung für jū-no-ri, der japanischen Kampfkünste musste er viele „Puzzlesteine“ hat eine Stärke von 10 und mei- dass die eigene Kraft/Bewegung genau? mühsam zusammensetzen. Um ne eigene Stärke hat den Wert nicht unmittelbar gegen die diese Entwicklungsgeschichte 7. Wenn er mich mit all seiner Kraft/Bewegung des Geg- Das Verhältnis von Technik Kraft stößt, werde ich umfallen, (waza) und Prinzip (ri) geht es in dieser und in der ners gerichtet, sondern diese nächsten Folge. da seine Kraft um 3 Einheiten stattdessen im Richtungsverlauf Konkret ausgeführte größer ist als meine. Weiche ich weiter- bzw. umgeleitet und Techniken sind als Ereignisse Jū-no-ri aber im Moment seines Angriffs schließlich gegen ihn gewendet zurück, so wird er, da er einen „materiell“, das soll heißen, Das jū gibt dem Jūjutsu und wird. Hierbei kommt es zu einer man kann die wirkenden Kräfte Widerstand erwartet, der aber Addition beider Kräfte/Bewe- dem Jūdō einen Teil seines nicht erfolgen wird, nach vorne und ausgeführten Bewegungen Namens. Jū wird häufig mit gungsimpulse, die als Summe - das „Was“ der Aktion - beob- stolpern und sein Gleichgewicht auf den Gegner wirkt und ihn „sanft“ übersetzt, aber „weich“, für einen Moment verlieren, achten und messen. Prinzipien „nachgiebig“, „flexibel“ oder kontrolliert. Diese Synthese sind dagegen „immateriell“. Sie während ich selbst mein Gleich- der Kräfte/Bewegungsimpulse „anpassungsfähig“ würde gewicht behalte. In diesem Zu- beschreiben das „Warum“, also es besser treffen. In alten nennt man im Japanischen riai. die nicht direkt beobachtbaren stand wird mein Gegner nicht Durch die vielen sich offen- Jūjutsu-Stilen wurde jū oft mit mehr mit seiner ganzen Kraft Ideen und Wirkungszusammen- bildhaften Vergleichen aus der sichtlich an Laien und Anfän- hänge, die erst in der konkreten kämpfen können. Seine Stärke ger richtenden Erläuterungen Natur oder mit esoterisch anmu- ist vielleicht auf 3 gefallen. Ich Ausführung eine Gestalt tenden Beschreibungen, zumeist kommt der mentale Aspekt von bekommen („sich materialisie- dagegen besitze immer noch jū-no-ri in der Jūdō-Literatur mit taoistischem Hintergrund, eine Stärke von 7 und kann ihn ren“) und dadurch schließlich erklärt. deutlich zu kurz. Jū bedeutet in beobachtbar und messbar wer- nun sogar mit nur der Hälfte diesem Kontext stets, auch geis- Es gibt den berühmten Leit- meiner Kraft besiegen.“ (siehe den. Technik und Prinzip sind spruch aus dem chinesischen tig flexibel und anpassungsfähig zwei Seiten derselben Medaille. z.B. in Kōdōkan-Jūdō, Verlag zu bleiben und nicht z.B. starr Klassiker San Lüe: „Das Wei- Dieter Born). Prinzipien sind das Fundament che kontrolliert das Harte“ (jū an einer Strategie festzuhalten. konkreter Technik oder anders yoku go sei suru), von dem es ausgedrückt: Techniken bringen Kuzushi Prinzipien zur praktischen Es ist leicht einsichtig, dass Anwendung. es einfacher ist, jemanden zu Prinzipien, verstanden als werfen, der sein Gleichgewicht immaterielle Basis einer ma- nicht mehr vollständig kontrol- teriellen Welt, verleihen nach lieren kann, als jemanden, der taoistischer Philosophie dem die volle Kontrolle über seinen Universum Ordnung und geben Körper hat. der Welt Struktur (Anmerkung: Bereits in seinem Vortrag das japanische Dō (拢) ent- von 1889 (vgl. Teil 4) erläutert spricht exakt dem chinesischen KANō, dass man einen Gegner Tao/Dao). Diese Denkweise umso leichter werfen kann, je beeinflusste zum Beispiel Kitō- kleiner die Fläche ist, die sein ryū und Jikishin-ryū, also jene Körpergewicht trägt. Wichtig alten Jūjutsu-Stile, die als erste sei es also, den Gegner vor einer die Bezeichnung Jūdō verwen- eigentlichen Wurfaktion durch det haben. geschicktes Manövrieren dazu J. KANō, der vor der zu bringen, sein Gewicht ent- Entwicklung des Kōdōkan- weder auf die Fußballen, auf die Jūdō Kitō-ryū gelernt hatte, Fersen oder auf einen Fuß - und war zeitlebens auf der Suche J. KANŌ erklärt Kuzushi
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auf diesem wiederum ebenfalls (Kuzushi) in Wurfposition. Angriffsaktion, bei der man nur auf einen möglichst kleinen Bei der konkreten Umset- schlicht angreift, bevor der Teil wie z.B. die Außenkante zung des Kuzushi kommt der Gegner dies tut. Hierbei können - zu bringen. optimalen Distanz (jap. Ma-ai) beide Aktionen durchaus Dieses grundsätzliche und der „günstigen Gelegen- zeitlich fast zusammenfallen, Prinzip kann in alle Richtungen heit“ (jap. Debana) eine beson- jedoch kommt Tori mit seinem (vorwärts, rückwärts, seitwärts dere Bedeutung zu. Angriff Ukes Angriff – auch und beliebig dazwischen) wenn es nur ein Wimpernschlag Anwendung finden und führte Shizentai - Prinzip der natür- ist - zuvor. zur Entwicklung des happō- lichen Haltung Idealerweise fallen „Ent- no-kuzushi-Systems: den acht Natürlichkeit in den Be- schluss“ und „Umsetzung“ Richtungen des Gleichgewichts- wegungen ist für KANō eines eines Angriffs zeitlich zusam- brechens. der wesentlichen Prinzipien men („überlege reiflich, handle KANō erkannte, dass es un- des Jūdō und eine wichtige entschlossen“). Mitunter ergibt abhängig von der Richtung drei Voraussetzung für erfolgreiches sich aber eine zeitliche Lücke, verschiedene Methoden gibt, Kämpfen. Hierzu gehören eine wenn eine Abgriffsabsicht das Gleichgewicht des Gegners Standposition und eine Körper- schon getroffen, jedoch die zu stören: haltung, die freies Reagieren Umsetzung in die Angriffs- auf jede denkbare Aktion des bewegung noch nicht erfolgt (1) eine eigene Angriffsaktion ist. Wenn Tori genau in dem Gegners ermöglicht - wobei J. KANŌ in Shizentai von Tori, mit der er Uke zuvor Moment angreift, in dem Uke kommt, man selbst jederzeit sein eigenes Gleichgewicht behalten bereits mental auf Angriff (2) eine Weiterleitung/Weiter- eingestellt ist, aber mit der muss, während man versucht, uns in Richtung der Schwan- führung einer Aktion von Uke, Angriffsbewegung noch nicht das Gleichgewicht des Gegners kungen aus dem Gleichgewicht (3) die Provokation einer Re- begonnen hat, so nennt man zu stören. zu bringen. Wer sich zentriert aktion von Uke durch Tori, die dieses Timing sensen-no-sen. Im Randori der meisten der bewegt und einem Zug oder Tori wiederum im Sinne von Die dritte Form der Angriffs- alten Jūjutsu-Stile wurde vor- Druck zunächst durch korrektes Punkt (2) weiterführen kann. initiative ist go-no-sen, oder die nehmlich in Jigotai gekämpft. Shintai und Tai-sabaki „späte Initiative“. Gemeint ist, Heutzutage wird Kuzushi In dieser Haltung ist der Kör- nachgibt, bevor er die Bewe- dass Uke seine Angriffsbewe- häufig als eine von drei Wurf- perschwerpunkt abgesenkt und gung in eine andere Richtung gung bereits begonnen hat, Tori phasen betrachtet, dem das der Stand mit gebeugten Knien lenkt, ist schwerlich aus dem aber kontert. Tsukuri („Wurfeingang“) und breitbeiniger als in der natür- Gleichgewicht zu bringen. das Kake („Wurfabschluss“) lichen Stellung, dem Shizentai. Zur weiteren Entwicklung der AN Die drei Möglichkeiten der jeweils folgen würden. K ōs Eine Ausnahme stellte jedoch Prinzipien des Kōdōkan-Jūdō ursprüngliches Konzept bestand der TAKENAKA-Zweig von Kitō- kämpferischen Initiative jedoch nur aus zwei Phasen, ryū dar, jener Jūjutsu-Stil, den (Mitsu-no-sen) KANō versuchte schrittwei- nämlich Tsukuri („Wurfvorbe- KANō ab 1881 gelernt hatte. se, Jū-no-ri in seiner Bedeutung Eine der Theorien des reitung“) und Kake. Kuzushi In diesem Stil kämpfe man bzw. Interpretation zu erweitern Kampfes, die im letzten Teil be- betrachtete er als Teil - oder üblicherweise in der natürlichen und daraus ein allumfassendes schrieben wurden, ist „Komme noch prägnanter als Prinzip Stellung (in Kitō-ryū „Hontai“ Prinzip zu generieren. Kuzushi, Deinem Gegner zuvor“ und ver- - des Tsukuri. genannt). Shizentai, Shintai, Tai-sabaki weist auf die zeitliche Abfolge Der gesamte Vorgang der Jigotai ermöglicht zwar ei- - deren Bedeutung für die An- von Aktionen beider Gegner. Wurfvorbereitung - und nicht nen stabilen Stand, aber nicht in wendung von jū offensichtlich „Sen“, manchmal auch als nur der „Eingang“ - wurde von dem Maß schnelle Reaktionen waren - betrachtete er hierfür sen-no-sen bezeichnet, ist eine KANō also als Tsukuri bezeich- wie Shizentai. Ein Kämpfer als Komponenten von Jū-no- net. Das Tsukuri schließt damit jedoch, der stets reaktionsbe- zwei wichtige Funktionen ein: reit ist und den Angriffen des Tori bringt sowohl sich selbst Gegners ausweichen und ihnen J. KANŌ und („Wurfeingang“) als auch Uke dadurch die Wirkung nehmen K. MIFUNE (10. Dan) in per- kann, ist einem schwerfälligen fektem Jigotai Gegner überlegen und wird Möglichkeiten finden, dessen Gleichgewicht zu brechen. Shintai und Tai-sabaki - Prinzipien des Bewegens Shizentai ist eng verknüpft mit dem „richtigen“ Fortbewe- gen auf der Matte, dem Shintai („gehen“) und dem Tai-sabaki („sich drehen“). Der Körper sollte hierbei stets aufrecht ge- halten werden, die Füße in der Nähe der Matte bleiben und der Oberkörper zentriert über der Stützfläche gehalten werden. Pendeln oder wippen des Ober- Gleichgewicht und Schwerpunkt körpers sind unter allen Um- (aus KANŌ, JIGORŌ: Kōdōkan Jūdō, ständen zu vermeiden, weil der Verlag Dieter Born, 2007) Gegner dies nutzen könnte, um
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ri. Hieraus wird auch deutlich, (3) In den eher esoterischen deutliche Hinweise darauf, dass die breite Bevölkerung wand- dass KANō auf der Suche nach Erklärungen einiger von taois- KANō eine Präferenz für Wurf- ten. Das war in einem Land, das einer Hierarchie, vergleichbar tischem Gedankengut beein- techniken hatte. erst nach der MEIJI-Restauration einer Baumstruktur, von Prin- flusster Ryūha wie Kitō-ryū (1868) mit dem flächendecken- zipien war. und Jikishin-ryū werden jū und (6) Die immer klarere Herausar- den Bau von Schulen für die beitung und das fortschreitende Je tiefer J. KANō jedoch sein Gegenstück gō (=Härte, Bevölkerung begann, unerläss- in die Problematik eindrang, Starrheit) als gegensätzliche Verständnis der vorgenannten lich zur massenhaften Verbrei- desto mehr erkannte er, dass die Pole einer absoluten Realität Prinzipien und ihre Vermitt- tung von Ideen. lung war eine der wesentlichen vorstehenden Prinzipien nicht aufgefasst, in der das eine ohne Literatur ausreichen, alle Bereiche und das andere nicht existieren kann Voraussetzungen für die technischen Fortschritte des Aufgabenstellungen des Kämp- (Prinzip von yin und yang, auf BENNETT, ALEX: Jigorō Kanō and the fens restlos abzudecken und zu japanisch in-yō). Kōdōkan-Jūdō in der Meiji-Zeit. Kōdōkan - an innovative Response to Modernisation, Kōdōkan Jūdō erklären. (4) Das Prinzip der „kleinen (7) Jūdō war für KANō auch Institute, 2009 Zu Beginn des Jahres 1923 Fläche“ erklärt J. KANō 1889 ein Mittel der intellektuellen - rund 40 Jahre nach Gründung BRAUN, JULIAN: Der gemeinsame am Beispiel der Kitō-ryū-Kata, Schulung (vgl. Teil 4). Anhand Weg von Schwert und Pinsel, Tübin- des Kōdōkan - hatte J. KANō die die er später als Koshiki-no- der Entwicklung der Prinzipien gen 2006 Lösung dieser Fragen gefunden Kata in das Jūdō einführte. wird deutlich, wie sehr KANō und führte die Prinzipien seiryo- DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Diese Kata - so betont KANō - Jūdō als einen Forschungsge- Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, ku-zenyō und jita-kyōei offiziell repräsentiert die grundlegenden genstand betrachtete, sozusagen 2009 ins Kōdōkan-Jūdō ein. Dies Prinzipien der Wurftechniken als Material, um daran den wird Gegenstand der nächsten KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag des Kōdōkan-Jūdō. Intellekt zu schulen. Dieter Born, 2007 Folge dieser Serie sein. (5) Obwohl die beschrie- (8) KANō gehörte zu der Gene- NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk Persönliche Anmerkungen des benen Prinzipien auch auf den ration japanischer Intellektuel- Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon- Verfassers Atemi-waza und Katame-waza ler, die sich, wie z.B. auch der Verlag, 2003 übertragbar sind, geben KANōs vielleicht bedeutendste Refor- WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires (1) Der Begriff Dō in Jūdō wird of Jigorō Kanō, Trafford-Verlag, mit dem sino-japanischen Zei- Erläuterungen und die Wahl der mer YUKICHI FUKUZAWA, mit einfachen Formulierungen an 2008 chen 拢 geschrieben. Es ist das von ihm bevorzugten Beispiele Zeichen für das chinesische Tao bzw. Dao. Insofern greift die häufig anzutreffende deutsche Übersetzung mit „Weg“ eigent- lich viel zu kurz. Die Bedeutung von Dō/Dao ist vielmehr auch „Ursprung“, „Prinzip“ oder „Pfad“ und meint, dass wir Menschen im Einklang mit den Prinzipien des Universums leben sollen. (2) Bekannte Erläuterungen zu jū durch Metaphern aus der Na- tur sind zum Beispiel die Äste eines Weidenbaums, die einem Sturm widerstehen, während starre Äste anderer Bäume ab- brechen. Ähnliches lässt sich für Gräser sagen oder für Zweige unter einer Schneelast. Ein sehr anschauliches Beispiel ist das eines empfindlichen Blattes, das dem Sturm „nachgibt“ indem es vom Wind verweht, dabei jedoch nicht zerrissen wird. In die gleiche Richtung verwei- sen Vergleiche mit Wasser, das nicht gegriffen werden kann, stets flexibel bleibt, sich seinen Weg sucht und dabei große Kräfte entfalten kann. Die mentale Seite von jū wird mit Geisteszuständen wie muga-mushin (kein Selbst - kein Gedanke) u.a. in Verbindung gebracht, die als Vorausset- zung für angepasstes Agieren betrachtet werden. Derartige Konzepte finden sich zuhauf in den Koryū-bugei („alte Kriegs- Happō-no-kuzushi: Die acht Richtungen des Gleichgewichtsbrechen (aus KANŌ, JIGORŌ: Kōdōkan Jūdō, Verlag Die- künste“). ter Born, 2007)
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Teil 6: Seiryoku-zenyō und Jita-kyōei - Jūdō wird zur umfassenden Philosophie
Zeitgeschichtlicher Kontext Die zunehmende Ausrich- stoffprobleme (insbesondere besser bekannt als das chi- tung im Denken KANōs auf Eisen) u.a.m. erkannt und war nesische Tao (bzw. Dao), im Die zweite Hälfte der MEIJI- die Gesellschaft als Ganzes ist der Überzeugung, dass es einer Namen seines Systems macht Zeit, also etwa von 1890 bis wesentlich vor dem Hintergrund geistigen Erneuerung im Land JIGORō KANō deutlich, dass sein 1912, war von einem erstar- der Herausforderungen zu bedurfte. Im Jūdō sah er hierfür Jūdō nicht ausschließlich auf kenden Nationalismus und von sehen, vor denen Japan damals ein bedeutendes Medium. Fertigkeiten fixiert sein soll, außenpolitischer Aggression stand. KANō hatte Tendenzen sondern auch eine philoso- Japans geprägt. In diese Zeit der Nachlässigkeit, der Ich- JIGORō KANōs lange Suche phische Dimension hat. Dies fielen zum Beispiel der erste Sucht, mangelnder Qualität nach dem umfassenden wird auch durch die Bezeich- chinesisch-japanische Krieg einheimischer Produkte gegenü- Prinzip der gesellschaftlichen nung Kōdōkan (= Ort zum (1894/95), der russisch-japa- ber Importprodukten, Versor- Entwicklung Studium des „Dō“) deutlich. nische Krieg (1904/05) und die gungsprobleme aufgrund von Last not least üben wir alle auch Annexion Koreas (1910), das Bereits durch das Ersetzen Bevölkerungswachstum, Roh- von Jutsu (嫢) durch Dō (拢), in einem Dōjō. bereits seit 1905 japanisches Es ist schwierig, für Dō eine Protektoriat war. angemessene Übersetzung zu Nach dem Tod des MEIJI- finden. Dō steht für Ursprung Tenno (1912) begann mit der und Ende, für Weg und Prinzip Taishō-Zeit eine Phase vorü- und für die Gesetze des Univer- bergehender Liberalisierung in sums. Das Studium des Dō ist Japan. Diese Phase endete je- das Studium der Prinzipien des doch bereits wieder Ende 1926. Universums, es ist der „Weg“, Mit Beginn der Shōwa-Zeit am im Einklang mit ihnen zu leben 25. Dezember 1926 begannen und nichts zu tun, das ihnen die ersten dunklen Wolken widerspricht. des Ultra-Nationalismus am Worin besteht aber dieser Horizont aufzuziehen, die sich Weg? Wie können wir ihn im Gewitter des 2. Weltkriegs greifbar machen? Wie können so fatal entluden. wir uns ihm nähern? Gehen wir JIGORō KANō war über 25 zunächst einigen praktischen Jahre lang bis 1920 Direktor Fragen des Kämpfens nach und der Höheren Lehrerbildungs- schlagen danach eine Brücke anstalt in Tokio und somit für zur gesellschaftlichen Anwen- die Ausbildung von Lehrern dung. verantwortlich. 1909 wurde er das erste asiatische Mitglied im Grenzen von Jū-no-ri internationalen Olympischen Komitee, eine Position, die mit Der junge KANō hatte einer Reihe von längeren Aus- bereits erkannt, dass sich die landsreisen verbunden war. Prinzipien und Theorien des Nach seiner Pensionie- Kämpfens auf das gesell- rung im Jahr 1920 forcierte er schaftliche Leben als Ganzes wieder stärker die inhaltliche anwenden lassen (vgl. Teil 4: und geistige Entwicklung des Die Ziele des Kōdōkan-Jūdō Jūdō. Unter dem Eindruck in den Gründungsjahren), und einer sich wandelnden Welt versuchte, seine Gedanken - der 1. Weltkrieg war gerade zu Jū-no-ri immer weiter zu vorüber - und seiner zahlreichen verfeinern, um so daraus ein internationalen Begegnungen allumfassendes - universelles - Prinzip zu formulieren. Wie hatte KANō noch stärker als zuvor nicht nur die Entwicklung in Teil 5 bereits angedeutet, der japanischen Nation, sondern stieß er dabei auf Grenzen, auch vermehrt die Entwicklung die er nicht mehr aufzulösen internationaler Beziehungen im vermochte. Focus. Ein typisches Beispiel aus Die berühmte Statue KANōs am Eingang des Kōdōkan in Tokio der Praxis des Kämpfens ist
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eine Umklammerung durch den Im Buch „Kōdōkan Jūdō“ (s.u. Gegner. Wenn ein Körperteil Literatur) ist die Nutzung der (z.B. Handgelenk, Oberarm Hebelgesetze, deren Beachtung oder Hals) erst einmal fest manchmal sogar wichtiger sei umgriffen oder umklammert als das Nachgeben, ausdrück- ist, ist es unmöglich, der Kraft lich als Beispiel hierfür erklärt,. des Gegners nachzugeben und Auf eine etwas andere Art daraus noch selbst einen Vorteil formulierte KANō sinngemäß: zu ziehen. Derartige Situationen „Egal, was das Ziel ist, man lassen sich nicht durch „Nach- erreicht es am besten durch den geben“ lösen, die Kraft des effektivsten Einsatz seiner kör- Gegners lässt sich auch nicht perlichen und geistigen Kräfte“. gegen ihn wenden, Jū-no-ri ist Hinter dieser Formulierung als Prinzip hier „überfordert“ steht die fundamentale Erkennt- und greift nicht mehr. nis, dass alles, was Menschen Dasselbe gilt für einen weit- schaffen, auf die eine oder gehend oder sogar vollkommen andere Art „Energie“ - körper- passiven Gegner. Auch er bietet liche wie geistige - erfordert. keine Gelegenheit, seine Kraft KANō erklärt sinngemäß: „Ob gegen ihn zu richten oder seiner man ein Buch einwickelt oder Kraft nachzugeben. eines schreibt, stets wirken JIGORō KANō im Alter von etwa 70 Jahren (Bildarchiv Dieter Born) Geist und Körper zusammen.“ Entwicklung von Seiryoku- Konkrete Handlungen entste- zenyō hen also immer erst durch eine bündeln. zu Seiryoku-zenyō) zur Geltung In beiden vorgenannten möglichst optimale Verbindung Diese gegenseitige Unter- bringen. Wir erwarten von allen körperlicher und geistiger Fällen muss man, so KANōs Er- stützung drückt KANō im Motto Jūdō-Übenden, dass sie ihren kenntnis, eigene Kraft gegen die Aktivität, die mit dem Einsatz Jita-kyōei aus, das holprig, aber Körper gesund halten und kräf- Kraft des Gegners richten. Dies körperlicher und geistiger „En- treffend mit „selbst (ji 呹) und tigen, moralisch aufrecht sind sollte, so KANō, jedoch in einer ergie“ verbunden ist. Für diese andere (ta Ⅵ) gemeinsam (kyō und eine einflussreiche Rolle Weise geschehen, dass man die Dualität wählt KANō den Begriff ␀) gedeihen (ei 㪓)“ übersetzt in der Gesellschaft spielen. Wir eigene Kraft so wirkungsvoll Seiryoku, zusammengesetzt aus werden kann. Das „Gedeihen“ erwarten von Individuen und wie möglich einsetzt, bzw. nur Geist (sei 位) und Kraft (ryoku bezieht sich dabei sowohl auf von Gruppen, sich zu helfen so viel Kraft gebraucht, wie ┪). die materielle als auch auf die und Kompromisse zu schlie- unbedingt nötig ist, um die Diese Energie so sinnvoll spirituelle/kulturelle Entwick- ßen und dadurch eine alles jeweilige Aufgabe zu erfüllen. und effektiv, bzw. mit anderen lung der gesamten Gesellschaft. durchdringende Harmonie zu Worten sparsam und wirtschaft- erzeugen. Bezogen auf die Welt lich, aber auch im moralischen Erweiterung der Ziele des im Großen erwarten wir von Sinn „gut“ einzusetzen, wurde Jūdō allen, nach gemeinsamem Ge- für KANō zum allgemeinen Ideal Kalligraphie Bereits 1918 hatte KANō deihen zu streben (Jita-kyōei), menschlichen Handelns. KANō des Prinzips erläutert, dass Jūdō vereinfacht rassistische Diskriminierung drückt dies durch zenyō aus. Es Seiryoku- als Gebilde mit drei Ebenen zu überwinden und die Früchte bedeutet wörtlich „gut (zen ⠓) zenyō betrachtet werden könne. kultureller Entwicklung zu gebrauchen (yō 䞷)“. Zunächst lernt man, sich und teilen. Die essenziellen Punkte Seiryoku-zenyō bedeutet andere im Bedarfsfall zu hierfür sind: also zusammengesetzt „Geist verteidigen. Danach geht es um (sei 位) und Kraft (ryoku ┪) gut (1) Bestmöglicher Einsatz von die Kräftigung des Körpers und (zen ⠓) gebrauchen (yō 䞷)“. Körper und Geist ist die Basis die Kultivierung des Geistes Die gesamtgesellschaftliche für Selbstperfektionierung. in intellektueller und mora- Relevanz - das „Moralische“ (2) Selbstperfektionierung wird lischer Hinsicht. Mit diesen - liegt für KANō darin, „Gutes“ durch die Unterstützung anderer beiden Ebenen wiederholt und zu tun und gleichzeitig effizient in diesem Prozess komplettiert. betont er noch einmal die Ziele in jeder Beziehung zu handeln, (3) Selbstperfektionierung ist des Kōdōkan-Jūdō, wie er sie denn wer mit seiner Energie die Grundlage für das soziale bereits 1889 vorgestellt hatte haushaltet, kann am Ende Gedeihen der Menschheit.“ (vgl. Teil 4). mehr Gutes für sich und andere (aus SYD HOARE 2007, vom Nun setzt er aber noch leisten als derjenige, der sein Verfasser aus dem Englischen eine Ebene darüber, nämlich Potenzial verschwendet. Hierin übersetzt). die aktive Mitwirkung jedes liegt für KANō ein zentrales Einzelnen bei der Entwicklung 40 Jahre nach Gründung des Axiom für die Entwicklung der einer humanen Gesellschaft Kōdōkan, war die Philosophie Gesellschaft: stets sein „Bestes“ als höchstes Ziel des Kōdōkan- des Kōdōkan-Jūdō voll entwi- für die Allgemeinheit geben. Jūdō. Im Jahr 1922 verkündet J. ckelt. Das praktische Üben im Ergänzung durch Jita-kyōei KANō vor der Kulturvereinigung Dōjō war endgültig zum Mittel des Kōdōkan: der Selbstperfektionierung als Die Wirkung, die der Basis für die Entwicklung der Einzelne entfalten kann, bleibt „Wir erklären hiermit, einen Menschheit geworden. stets begrenzt. Es ist daher er- Beitrag zur Entwicklung der forderlich, dass sich Menschen Humanität in der Welt zu leis- in Gruppen - sei es in kleinem ten, indem wir das Jūdō-Prin- oder großem Maßstab - zu- zip Seiryoku-Saizen-Katsuyō sammenfinden und ihre Kräfte (Anmerkung: später verkürzt
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Kōdōkan-Jūdō wird zur allgemein Leitlinien des alltäg- Religion und Tradition auch mittels eines ideologisch (Gesellschafts-)Philosophie lichen Handelns versteht. Das würden sich von daher nicht als geprägten und verherrlichten Fundament bildeten die „fünf Grundlage für eine allgemeine Bushidō als Erziehungsmit- Der junge JIGORō KANō Theorien des Kampfes“(siehe Moralerziehung eignen. Diese tel zur Opferbereitschaft der hatte bereits erkannt, dass die Teil 4): könne nur auf Basis unwider- Jugend für die Nation, bis hin Lehren des Kampfes auf die legbarer Gesetze der Logik zu den späteren Kamikaze-Flie- Bewältigung von Situationen (1) Beachte die Beziehung erfolgen, denn nur dann würde gern, missbraucht. des täglichen Lebens übertragen zwischen Dir und Deiner Um- eine allgemeine Gültigkeit und angewendet werden kön- gebung anerkannt. nen. Die Suche nach den umfas- (2) Komme Deinem Gegner Und genau diese unwider- Literatur (Auswahl) senden Prinzipien des Kampfes zuvor legbare Logik glaubte er mit BENNETT, ALEX: Jigorō Kanō and the führte ihn zu der Erkenntnis, (3) Überlege reiflich - handle Seiryoku-zenyō und Jita-kyōei dass der Kampf seinerseits entschlossen Kōdōkan - an innovative Response gefunden zu haben. to Modernisation, Kōdōkan Jūdō universellen Gesetzen folgt. (4) Kenne die Grenzen Institute, 2009 Die Essenz des Jūdō - also (5) Sei bescheiden im Erfolg - das „wahre“ 㩣拢 - liegt in der akzeptiere einen Misserfolg mit Persönliche Anmerkungen des DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, Befolgung der Prinzipien von Anstand und Würde. Verfassers 2009 Seiryoku-zenyō und Jita-kyōei in allen Bereichen des Lebens Seiryoku-zenyō und Jita- (1) Die Anregung zu Seiryo- HOARE, SYD: Key Principles of Jūdō, kyōei kann man durchaus als ku-zenyō kam KANō, wie er 2007, Script einer Vorlesung an der mit dem Ziel der Schaffung Universität Bath einer humanen Welt. deren Weiterentwicklung be- später sagte, schon in seiner Die vormaligen technisch/ trachten. Der Weg selbst besteht Studienzeit, als er sich wun- KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2007 taktischen Prinzipien (Jū-no-ri, danach in einer lebenslangen derte, dass ein Studienkollege Kuzushi, Shizei usw.) wurden Selbstperfektionierung im vor- selbst kürzeste Pausen produk- KANō, JIGORō: Mind Over Muscle: also - ohne ihre technisch/tak- genannten Sinn. tiv nutzte und lernte, anstatt Writings from the Founder of Judo (zusammengestellt von N. MURATA), tische Bedeutung verloren diese Zeit „totzuschlagen“. Dies Verhältnis zwischen Kōdōkan- resultierte letztlich in mehr Kodansha International, Tokio zu haben - zu Prinzipien der Jūdō und Religionen Freizeit für ihn - bei gleich- NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk gesellschaftlichen Entwicklung Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon- erweitert. Konsequenterweise KANō hat das Kōdōkan-Jūdō zeitig besserer Leistung, da die Gesamtzeit besser genutzt Verlag, 2003 entwickelt KANō ein neues, er- stets unter anderem als Mittel der Moralerziehung verstanden. worden war. WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires weitertes Verständnis von Jūdō, of Jigorō Kanō, Trafford-Verlag, indem er sinngemäß schreibt: Deshalb und auch aufgrund des (2) „Zen“ (deutsch: „gut“, ge- Dō im Namen, wurde es von 2008 „Jūdō meint nicht mehr die schrieben ⠓) in Seiryoku-zenyō Kampfkunst, sondern die An- Außenstehenden teilweise als darf nicht mit der „Zen“-Leh- wendung von Seiryoku-zenyō eine Art religiöser Lehre aufge- re, z.B. im Zen-Buddhismus und Jita-kyōei in allen Berei- fasst und dargestellt. verwechselt werden. Dieses KANō selbst konstatierte, chen des täglichen Lebens“. schreibt man 䰔. dass Religionen im Sinne von Jūdō und die Entwicklung Moralerziehung ähnliche Ziele (3) KANō verwendete wie oben von Moral verfolgen würden wie das geschrieben ursprünglich den Kalligraphie Oft wird Jita-kyōei als „das Kōdōkan-Jūdō, jedoch eine Leitspruch Seiryoku Saizen des Prinzips moralische Prinzip“ von Jūdō Religion immer nur Autorität Katsuyō, den er später zu Jita-kyōei bezeichnet, jedoch greift diese gegenüber jenen habe, die Seiryoku-zenyō verkürzte. Es Betrachtungsweise deutlich zu dieser Religion angehörten. bedeutet in unmittelbarer Über- kurz. Dasselbe würde für Traditionen setzung: Geist und Kraft (seiry- gelten, deren Überlieferungen oku 位┪) maximal gut (saizen Bereits 1889 hat KANō die Entwicklung von Moral stets nur für diejenigen bindend 㦏⠓) und effektiv gebrauchen als eines der großen Ziele des seien, die in dieser Tradition (katsuyō 㿊䞷). stehen. Kōdōkan-Jūdō vorgestellt, (4) Fraglich ist, ob es überhaupt wobei er unter Moral ganz angemessen ist, von zwei Prin- zipien zu sprechen. Aus Sicht des Verfassers ist es eher ein einziges Prinzip, das durch die beiden Slogans Seiryoku-zenyō und Jita-kyōei ausgedrückt wird.
(5) KANōs Gedanken waren nicht überall willkommen, auch weil sie zunehmend gesellschaftskritisch wur- den. Während KANō mit der Betonung von Jita-kyōei nach internationaler Verständigung und Harmonie durch Jūdō und durch alle Jūdōka strebte, und er deshalb dessen internationale Verbreitung stark forcierte, wurden die Kampfkünste insbe- JIGORō KANō bei der Demonstration eines Uki-goshi (Standbild aus einem sondere von Ultra-Nationalisten Film des Kōdōkan)
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Teil 7: Die Kōdōkan-Methoden – Kata
Vorbemerkung gemeint sein. es als Einzelübung oder als der Begriff „schulmäßige Aus- Kata diente darüber hinaus Übungsfolge, vorgegeben wer- führung“ üblich, der bei aller Heutzutage werden meist schon den alten Schulen der den? Hierzu lassen sich mehrere Problematik ausdrückt, dass es Kata, Randori und Shiai Kriegskünste, den Koryū-bugei. Ebenen unterscheiden: sich um eine „Grundform“ - auf (Wettkampf) als Hauptübungs- als Mittel der Überlieferung japanisch „kihon kata“ ( ) formen des Jūdō bezeichnet. ihrer Techniken und Prinzipien - die tradierte und institutionell - handelt. Diese Dreiteilung entspricht (vgl. Teil 1 dieser Serie). In standardisierte Form Eine vom „allgemein nicht der ursprünglichen, denn diesem Sinn hat Kata auch die - die tradierte „de-facto“ Form Üblichen“ abweichende, aber Shiai wurde zunächst als eine Funktion eines Mediums. Da ohne institutionelle Standardi- dennoch über einen längeren besondere Form von Rando- es Kata für unterschiedliche sierung Zeitraum stabile individuelle ri betrachtet, worauf in den Ausbildungsstufen gab, kam - die „private“ Form eines Form, die ein Lehrer unterrich- kommenden Folgen einzugehen zusätzlich noch die Funktion Lehrers tet, entspräche der „privaten ist. Zudem propagierte JIGORō eines Lehrplans hinzu. - die ad-hoc-Form eines Lehrers Form“, während eine vom KANō Vorträge (Kogi) und Lehrer spontan ausgedachte/ent- Dialoge (Mondo) ebenfalls Kata als Methode des Übens Was ist mit diesen Ebenen gemeint? Nur für die erste wickelte Form, die die Schüler als essenzielle Lehrmethoden üben sollen, als „ad-hoc-Form“ des Kōdōkan-Jūdō, so dass es Kata im Sinne einer Ebene ist dies unzweifelhaft Methode bedeutet nicht mehr klar: hierunter fallen z.B. per bezeichnet werden kann. ursprünglich mit Kata, Randori, Was hier für eine einzel- Kogi und Mondo vier (Haupt-) und nicht weniger als das Üben Definition alle „offiziellen“ vorgegebener Aktionen, oder Kōdōkan-Kata. Was mit den ne Form erläutert wurde, gilt Methoden des Kōdōkan-Jūdō selbstverständlich auch analog gab. etwas präziser, das Üben genau anderen Ebenen gemeint ist, vorgegebener Formen von soll an einem einfachen Beispiel für ganze Folgen von Übungen. Kata: Wortbedeutung und Angriff und Verteidigung. Mit erläutert werden. Metaphern zu Kata und Ran- Sprachliches heutiger Terminologie würde Beobachtet man japanische dori: „Vokabeln, Grammatik man dies als „Üben in geschlos- Lehrer, die eine Technik wie und Aufsätze“ Der Begriff Kata, japanisch senen Situationen“ bezeichnen. z.B. ō-soto-gari unterrichten, ,wird meist als Form, Modell, Derartige Methoden des Übens wird man feststellen, dass es bei JIGORō KANō, der in der Standard oder mit ähnlichen sind uns allen von unserer ers- geringen Unterschieden sehr Frühzeit des Kōdōkan parallel Termini übersetzt. Alle drei ten Jūdō-Stunde an vertraut und große Gemeinsamkeiten gibt. eine Sprachenschule betrieb Übersetzungen sind sinngetreu. stellen ohne Zweifel praktisch Dieser „klassisch-japanische“ (vgl. Teil 3), verglich Jūdō Weniger beachtet wird jedoch überall eine Hauptmethode des ō-soto-gari entspricht dem, häufig mit dem Lernen von meist, dass Kata - wie generell Techniktrainings dar. Aller- was weiter oben mit „tradierter Sprache(n). Kata entsprach Substantive in der japanischen dings wird dies selten als Kata de-facto-Form“ gemeint ist. für ihn der Grammatik, in Sprache - je nach Kontext bezeichnet, obwohl es nichts Landesweit wird praktisch der die Regeln einer Sprache entweder im Plural oder im anderes ist. dieselbe Form unterrichtet, aber manifestiert sind. Randori Singular stehen kann. Für den keine Institution hat jemals eine dagegen verglich er mit dem Japaner ist es z.B. vollkommen Kata als Übungsinhalt entsprechende verbindliche Schreiben von Aufsätzen, also normal zu sagen: „Nage-no- Vorgabe gemacht. der freien Anwendung dieser Kata besteht aus 15 Kata“ oder Woher stammen nun die Formen, die uns Übenden, sei Früher war in Deutschland Regeln. Eines ohne das andere, „KANō entwickelte 15 Nage-no- so KANō, sei nicht möglich. Kata“. Konsequent wird daher Grammatik alleine befähige z.B. im Buch „Kōdōkan-Jūdō“ nicht zum Schreiben sinnvoller Nage-no-Kata als „Formen des Texte, genauso wie man ohne Werfens“ übersetzt. Beachtung grammatikalischer Kata: Inhalt, Methode, Medi- Regeln kaum leserliche und ver- um oder Lehrplan? ständliche Aufsätze produzieren könne. Die vielen Techniken Kata wird einerseits als des Jūdō, diese Ergänzung sei eine der Hauptübungsmethoden dem Verfasser gestattet, könnte des Jūdō bezeichnet, auf der man als das Vokabular der anderen Seite begegnet uns „Sprache Jūdō“ bezeichnen. Kata als Übungsinhalt, z.B. in Gestalt von Nage-no-Kata, Kata als Medium der Vermitt- Katame-no-Kata usw. Dies lung von Prinzipien ist kein Widerspruch, sondern Gruppenbild der Jūjutsu-Meister, die 1906 in Kyōto Nage-, Katame- und Hinter einer sinnvollen mit Kata kann je nach Kontext Kime-no-Kata festgelegt haben. In der Mitte sitzend mit Schnauzbart Anwendung von Techniken - sowohl Inhalt als auch Methode JIGORō KANō (Quelle unbekannt)
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vergleichbar mit einem Aufsatz Nach dem Zweiten - verbirgt sich also die Einhal- Weltkrieg wurde schließlich tung von Regeln und Gesetz- eine Arbeitsgruppe eingesetzt, mäßigkeiten. Dies ist mit der um eine „moderne“ Form der Dualität von sichtbarer Technik Selbstverteidigung zu entwi- und nicht-sichtbaren Prinzipien ckeln, die die Kime-no-Kata gemeint, die immer nur in ihrer ergänzen sollte. Sie erhielt den „materialisierten Form“ als Namen Kōdōkan-Goshinjutsu, ausgeführte Technik sinnlich der Suffix „no-Kata“ ist fakul- zugänglich sind (vgl. Teil 5). tativ. Sie wurde nach etwa vier Bei der Entwicklung der Jahren Entwicklungszeit 1956 Kata des Kōdōkan-Jūdō war vorgestellt. KANō darauf bedacht, solche Formen auszuwählen, die nicht Entwicklung der Taisō-no- nur als eigenständige Techniken Kata sinnvoll sind, sondern die ge- Um das Jahr 1887 entstan- eignet sind, übergreifende Prin- den erste Formen von Jū-no- zipien zu erschließen, die nicht Kata und Gojū-no-Kata, deren nur der jeweiligen Technik/ Name später zu Go-no-Kata Form, sondern auch vielen an- verkürzt wurde. Hierbei handelt deren Techniken zugrunde lie- es sich jeweils um Kata, bei gen. Mit heutiger Terminologie denen nicht geworfen, keine würde man also sagen, dass die Kleidung gefasst und auch Prinzipien des Jūdō exempla- keine Genickhebel ausgeführt risch durch die jeweiligen Kata werden. Dadurch kann man erlernt werden sollen. Die von JIGORō KANō demonstriert die fünfte Technik der Jū-no-Kata (Ago-oshi); diese Kata ohne besondere AN K ō entwickelten Kata haben entnommen aus: KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2007 Trainingskleidung unabhängig also - um bei der Sprachmeta- vom Untergrund und praktisch pher zu bleiben - die Funktion ohne Verletzungsgefahr aus- einer „Grammatik-Fibel“ des Entstehungsgeschichte der Kommission der „Dai-Nippon- führen. Dieser für die damalige Jūdō, bei der jede Technik einer Kōdōkan-Kata Butokukai“ (Großjapanischer Zeit vollkommen neue Ansatz Lektion entspricht. Verband der Kampfkünste) für Die Entwicklung der ersten diente u.a. dem Ziel, Jūdō als Die Kata des Kōdōkan-Jūdō Japan standardisiert. Details Kōdōkan-Kata erfolgte um allgemeines Erziehungssystem stellen somit Werkzeuge für hierzu werden in einem späteren 1884/85. Bis dahin wurden im zu etablieren. eine strukturierte Vermittlung Teil dieser Serie folgen. Kōdōkan die Kata der Tenjin- Go-no-Kata wurde später von Jūdō dar - von elementaren shinyō-ryū und der Kitō-ryū Entwicklung der Shobu-no- nicht mehr weiterentwickelt Grundlagen bis hin zu den phi- gelehrt. Diese empfand KANō Kata und verschwand noch vor dem losophischen Aspekten. als zunehmend ergänzungsbe- Zweiten Weltkrieg fast völlig, Kurz nach Beginn der Zuordnung von Kata zu den dürftig, so dass er eigene Kata während Jū-no-Kata auf 15 Entwicklung der Nage- und Zielen des Kōdōkan-Jūdō entwickelte. Zudem began- Techniken erweitert und relativ nen die Mitgliederzahlen am Katame-no-Kata wurde eine viel praktiziert wurde und im- erste, ebenfalls 10 Techniken Das Kōdōkan-Jūdō Kōdōkan zu steigen und KANō mer noch wird. verfolgte seit jeher drei Ziele: konnte nicht mehr alle Schüler umfassende, Selbstverteidi- In den 1920er-Jahren Kampf/Selbstverteidigung, persönlich unterweisen. Mit gungskata entworfen. Auch di- entwickelte KANō schließlich körperliche Ertüchtigung und den Kata gab er seinen älteren ese durchlebte in den folgenden noch die Seiryoku-zenyō-ko- geistig-moralische Vervoll- Schülern Hilsmittel an die Jahren mehrere Erweiterungen kumin-taiiku-no-Kata, die er kommnung (vgl. Teile 5 und Hand, die jüngeren Schüler zu und Modifikationen, bevor gerne als Standard für eine 6). Entsprechend werden diese unterrichten. sie schließlich ebenfalls von nationale Leibeserziehung in Ziele schwerpunktmäßig mit Kata wurde in der Anfangs- der „Dai-Nippon-Butokukai“ Japan etabliert hätte. Sie besteht den verschiedenen Kata ver- zeit des Kōdōkan übrigens nicht unter dem Namen Kime-no- aus den zwei Teilen „Tandoku- folgt (s.a. Anmerkung 4): in separaten Unterrichtsstunden Kata standardisiert wurde. Es renshū“ (Üben ohne Partner) vermittelt und geübt, sondern ist möglich, wenngleich nicht und „Sotai-renshū“ (Üben mit (1) Randori-no-Kata: Vorbe- sicher, dass die „Kime-shi- Partner). Der erste Teil wird vor reitung und Verbesserung des in den Pausen zwischen den Randori. ki“ - eine gut dokumentierte allem durch Atemi-waza gegen Randori, mit dem wiederum Kata, die auch als Teil in die imaginäre Gegner gebildet. Die alle drei Zieldimensionen ver- Entwicklung der Randori-no- Seiryoku-zenyō-kokumin-taiiku- Sotai-renshū bestehen aus der folgt werden Kata no-Kata (s.u.) integriert wurde „Kime-shiki“ und der „Jū-shi- - eine frühe Entwicklungsstufe ki“, einer auf 10 Techniken ver- (2) Shobu-no-Kata: Kata zum Zunächst entwickelte J. der Kime-no-Kata darstellt. kürzten Jū-no-Kata. Neben der Üben von Selbstverteidigung KANō erste Ansätze von Nage- Während des Zweiten Nage-no-Kata ist die Seiryoku- no-Kata und Katame-no-Kata. (3) Taisō-no-Kata: Kata zur Weltkriegs empfand man am zenyō-kokumin-taiiku-no-Kata Diese enthielten zunächst körperlichen Ertüchtigung Kōdōkan die Notwendigkeit die einzige Kata, bei der alle jeweils 10 Kata (=einzelne der Entwicklung einer Selbst- Aktionen sowohl rechts als auch (4) Ri-no-Kata: Kata zum Techniken), jedoch ist nichts verteidigungskata für Frauen, links ausgeführt werden, unter besseren Verständnis grundle- weiter über diese Formen die den Namen Joshi-gos- anderem um eine gleichmäßige gender Prinzipien und Theorien bekannt. In den folgenden hin-ho bekam (Joshi=Frau, Entwicklung des Körpers zu Jahrzehnten wurden beide Kata Goshin=Selbstschutz, erreichen. auf 15 Techniken erweitert Ho=Methode). Diese Kata wird und schließlich im Jahr 1906 heute allerdings so gut wie gar durch eine von KANō geleitete nicht mehr praktiziert.
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Ri-no-Kata hat zwar auch eigene Kata Zusammenfassende Übersicht der Kata des Kōdōkan-Jūdō entwickelt, jedoch wurde keine Über die „echten“ Eigenkre- seiner Kreationen zu einer ationen hinaus übernahm KANō Randori-no-kata Nage-no-Kata „offiziellen“ Kōdōkan-Kata. auch Kata aus Tenjin-shinyō- Katame-no-Kata Seine bekannteste Kata ist die ryū (Itsutsu-no-Kata) und aus Shobu-no-Kata Kime-no-Kata Nage-waza-ura-no-Kata, die Kitō-ryū (Koshiki-no-Kata) in neuerdings Eingang in das Dan- das Kōdōkan-Jūdō. Die hinter Kōdōkan-Goshinjutsu Joshi-goshin-ho* Prüfungsprogramm des DJB diesen beiden Kata jeweils ste- gefunden hat. hende Theorie ist nicht einfach Kime-shiki** zu verstehen, was insbesondere Taisō-no-Kata Jū-no-Kata Diese Kata ist ein Beispiel für die Koshiki-no-Kata gilt. Go-no-Kata* dafür, wie sich eine zunächst Die Techniken beider Kata Seiryoku-zenyō-kokumin-taiiku- „private Form“ durch Weiterga- lassen sich zwar mit den in Teil no-kata* be verfestigt („tradiert“) hat und 5 dargestellten Prinzipien des nun - da sie weltweit erstmalig Kōdōkan-Jūdō erklären, jedoch Ri-no-Kata Itsutsu-no-Kata Prüfungsinhalt bei Dan-Prü- hatten die Vorgängerschulen Koshiki-no-Kata fungen geworden ist - sogar auf des Kōdōkan-Jūdō ihre eigenen (Ju-no-Kata) dem Weg zu einer institutio- Prinzipien und Lehren (streng nellen Standardisierung zu sein genommen waren es nur andere * wird nur noch sehr selten praktiziert scheint. Betrachtungsweisen und Erklä- ** in die Seiryoku-zenyō-kokumin-taiiku-no-kata integriert rungsmodelle), die in diesen beiden Kata codifiziert wurden. Guter Unterricht bringt den bestehende Kata der Tenjin- Literatur (Auswahl) In Japan sind Itsutsu-no-Kata immanenten „Bildungsgehalt“ shinyō-ryū etwas modifiziert hat KOTANI, S. / OZAWA, Y. / HIROSE, und Koshiki-no-Kata den eines Inhalts zur Geltung und und so die Frage, ob er die Kata Y.: Kata of Kōdōkan Jūdō revised, Meistern ab 6. Dan und höher leistet damit einen Beitrag zur „geschaffen“ oder „übernom- Koyano Bussan Kaisha, 1970 vorbehalten. Bildung des Individuums. Ganz men“ hat, zu einer Frage der BENNETT, ALEX: Jigorō Kanō and the Jū-no-Kata kann ebenfalls ähnliche Gedanken verfolgte Interpretation wird. Kōdōkan - an innovative Response zu den Ri-no-Kata gerechnet to Modernisation, Kōdōkan Jūdō KANō bei der Entwicklung der werden, da sie neben der kör- Jūdō-Kata, z.B. durch Auswahl (6) Nage-, Katame- und Kime- Institute, 2009 perlichen Ertüchtigung auch das no-Kata wurden bei der Dai- exemplarischer Techniken, an DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Prinzip „Jū-no-Ri“ (vgl. Teil 5) denen übergeordnete Prinzipien Nippon-Butokukai von einem Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2009 erschließen soll. studiert werden sollten. Gremium unter Leitung von J. KANō standardisiert. Dabei flos- In dieser Zusammen- KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag Kata-Training in diesem sen auch Anregungen anderer Dieter Born, 2007 stellung wird das Wesen des Sinn geht also weit über das Jūjutsu-Schulen ein, insbeson- NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk Kōdōkan-Jūdō als ein Sys- Nachmachen von vorgegebenen dere bei Kime-no-Kata. Außer tem von Körperertüchtigung, Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon- Bewegungen hinaus, sondern diesen drei Kata wurden keine Verlag, 2003 Kampf/Selbstverteidigung und strebt nach allgemeinen Er- weiteren der Kōdōkan-Kata OTAKI, TADAO / DRAEGER, DONN F.: geistig-moralisch-intellektueller kenntnissen durch die intensive von einer anderen Organisation Schulung - oder prägnanter: die Jūdō Formal Techniques, Charles E. Auseinandersetzung mit dem standardisiert. Tuttle, 1983 Kultivierung von Körper und Konkreten. Andernfalls bliebe WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires Geist - deutlich und durch prak- Kata eine „Hülle ohne wirk- (7) KYūZō MIFUNE, 10. Dan tische Übung überliefert. und lange Jahre der höchste of Jigorō Kanō, Trafford-Verlag, lichen Inhalt“. 2008 Die Kata des Kōdōkan-Jūdō Dan-Träger am Kōdōkan, haben somit wie ihre Vorgänger (3) Von allen aufgeführten aus den Koryū-bugei auch eine Kata - außer der sehr seltenen wichtige Funktion als Medium Joshi-goshin-ho - finden sich der Überlieferung. Beschreibungen in „Kōdōkan- Jūdō“, erschienen im Verlag Persönliche Anmerkungen Dieter Born. (1) Kata sind Übungsformen (4) Die Klassifizierung der Kata und Übungsinhalte. KANō hat in den vier Gruppen Rando- zwar Kata bei Festlichkeiten ri-no-kata, Shobu-no-Kata, demonstriert bzw. demonstrie- Taisō-no-Kata und Ri-no-Kata ren lassen, aber ihr eigentlicher ist zwar üblich, aber nicht Sinn ist, neben der Überliefe- „offiziell“ vom Kōdōkan so vor- rung, die Übung und das Lernen genommen worden. - nicht die Demonstration. (5) Die offiziellen Darstellun- (2) In der (deutschen) Bildungs- gen des Kōdōkan zur Herkunft theorie wird klassischerweise der Itsutsu-no-Kata sind etwas zwischen „Bildungsinhalt“ schwammig. Tenjin-shinyō- und einem diesem Inhalt ryū wird dabei nicht erwähnt, immanenten „Bildungsgehalt“ jedoch KANō, der die KATA - je unterschieden. Kernaufgabe nach Publikation - 1887 mal der Didaktik ist die Aufschlüs- geschaffen, mal in das Jūdō selung, was das „Bildungs- eingeführt haben soll. Dem wirksame“ bzw. das für die Gedanken, dass KANō die Kata Bildung Wertvolle an einem Sukui-nage in Nage-no-Kata? Erst im Jahr 1906 wurde Sukui-nage durch geschaffen hätte, kann man nur Kata-guruma ersetzt. Diese Aufnahme zeigt Y. YAMASHITA vermutlich im Inhalt (=einer Thematik) ist. insoweit folgen, als KANō die Jahr 1904 (Quelle: www.library.umass.edu/spcoll/ead/muph006.htm)
12/2010 der budoka 43 Trainingsszene im Kōdōkan zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In dunkler Kleidung erkennen wir links S. YOKOYAMA und rechts K. MIFUNE.
Grundwissen der Geschichte des Kōdōkan-Jūdō in Japan
von Wolfgang Dax-Romswinkel
Teil 8: Die Kōdōkan-Methoden – Randori
Wortbedeutung nokori oder Nokori-ai auf. Der Begriff leitet sich von nokoru ab, was wörtlich übersetzt „übrig bleiben“ heißt. Tori griff bei dieser Übungs- Der Begriff Randori ( ) besteht aus zwei Teilen: ran ( ) und dori form an und Uke versuchte zu verteidigen und Widerstand zu leisten. ( ). Ran bedeutet Durcheinander, Unordnung oder Chaos. Dori lei- Wenn Tori mit seiner Technik nicht erfolgreich war, konnte Uke sei- tet sich von toru ab und heißt „nehmen“ oder „greifen“. Zusammen- nerseits einen Gegenangriff starten, gegen den Tori natürlich wieder gesetzt bedeutet Randori also so viel wie „ungeordnet“ oder „durch- verteidigen und kontern durfte. Irgendwann blieb im wörtlichen Sinn einander greifen“. „Einer übrig“. Aus dieser Übungsform, die zwischen Kata und Ran- In älteren Schriften findet man auch die Bezeichnung Midare-geiko. dori anzusiedeln ist, entwickelte sich das spätere Randori. Midare ist ein Synonym für ran, also eine andere Lesung des Zei- Eine weitere Zwischenform, die ebenfalls als Kata-nokori oder No- chens . (Anm.: ganz korrekt müsste man allerdings schreiben.) kori-ai bezeichnet wurde, war die Abweichung Ukes von der Reihen- Da geiko (oder alleinstehend keiko) schlicht „üben“ heißt, kommt die folge der Angriffe einer Kata, so dass er Tori mit nicht genau fest- direkte Übersetzung von Midare-geiko als „ungeordnetes Üben“ un- stehenden Situationen konfrontierte, denen Tori jeweils angemessen serer heute gängigen Übersetzung von Randori als „freies Üben“ sehr begegnen musste. Heute werden derartige Trainingsformen oft als nahe. „Auswahlreaktionstraining“ bezeichnet. Dominanz von Kata im Koryū-Jūjutsu und die Ursprünge von Auch wenn Trainingsformen, die sich von festgelegten Kata immer Randori weiter lösten, bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts bekannt waren, In den alten Schulen des Jūjutsu („Koryū-Jūjutsu“) dominierte das so wurde Randori vermutlich erst rund 100 Jahre später am Kōbusho, Üben in Form von Kata, also von vorher genau festgelegten Angrif- der Militärakademie des Shōgunats (vgl. Teil 1 dieser Reihe) populär. fen und entsprechenden Verteidigungen. Ein grundsätzliches Problem Dort wurde sogar eigens der Posten eines Randori-Verantwortlichen beim Kata-Training ist jedoch, dass die Wirksamkeit einer Technik (Randori-Sewakokoroe) geschaffen. mitunter dadurch auf der Strecke bleibt, dass Uke sich allzu bereitwil- Randori in der Jūjutsu-Ausbildung JIGORō KANōs lig fallen lässt oder schon aufgibt, bevor eine Technik wirkt. J. KANōs erster Lehrer, H. FUKUDA von der Tenjin-shinyō-ryū, war Um dem entgegenzuwirken tauchte bereits im 18. Jahrhundert in den zuvor Lehrer am Kōbusho gewesen und sein dritter Lehrer T. IIKUBO Lehrschriften der Kitō-ryū - jenem Jūjutsu-Stil, den JIGORō KANō als (Kitō-ryū) war dort sogar der Leiter für Jūjutsu (Jūjutsu-Sewakoko- zweites gelernt und gemeistert hat - eine Trainingsform namens Kata-
18 der budoka 1-2/2011 roe). Von daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass J. KANō von Anfang an neben Kata auch intensiv Randori gelernt hat. Jūdō-His- toriker führen diese Konstellation sogar explizit als Grund dafür an, dass J. KANō die wechselseitige Ergänzung von Kata und Randori als essenziell für ein ausgewogenes Jūdō-Training betrachtet hat.
KANōs Schlüsselerlebnis im Randori mit Meister IIKUBO
Ende der 1920er-Jahre erschien eine Interviewserie mit J. KANō, die unter dem Titel „Mein Leben als Jūdōka“ veröffentlicht wurde. (Anm.: Das Buch „Jūdō-Memoires of JIGORō KANō“ - s. Literatur - ist eine editierte Übersetzung dieser Artikelserie). Darin beschreibt er eine Begebenheit, die er etwa auf die Jahre 1885/86 datierte (also deutlich nach Gründung des Kōdōkan).
Meister IIKUBO war schon über 50 Jahre alt, aber immer noch so vital, dass er J. KANō im Randori regelmäßig werfen konnte. Eines Tages jedoch gelang dies zu beider Verwunderung nicht mehr. Stattdessen konnte KANō umgekehrt seinen Lehrer ein ums andere Mal werfen.
Dies war Folge einer Entdeckung, die KANō kurz zuvor gemacht hat- JIGORō KANō beobachtet von seinem Ehrenplatz aus das Training im te. Durch Zug oder Druck in eine Richtung provozierte er eine Reak- Kōdōkan tion in die entgegengesetzte Richtung, die er dann für einen Gleichge- wichtsbruch ausnutzen konnte. KANō wurde gewahr, dass der ideale Moment des Angriffs der ist, in dem der Gegner für den Bruchteil Randori verboten, z.B.: einer Sekunde sein Gleichgewicht nicht mehr kontrollieren kann. Die- se Art Wurftechniken vorzubereiten wurde zum hervorstechendsten - Handgelenkshebel, Charakteristikum der Kōdōkan-Wurftechniken und des Randori-Stils - Do-jime („Rumpfschere“), des Kōdōkan-Jūdō im Vergleich zu den damaligen Jūjutsu-Stilen. - Ashi-garami („Bein umschlingen“, letzte Technik der Katame-no- Kata), Grundideen des Randori im Kōdōkan-Jūdō - die endgültige Beschränkung von Kansetsu-waza auf das Ellbogen- Ziele des Randori gelenk. Die Ziele des Randori-Trainings unterschieden sich erwartungsge- Die im Randori verbotenen Techniken blieben aber dennoch selbst- mäß nicht von den allgemeinen Zielen des Jūdō-Trainings: verständlich Teile des Jūdō. Nur durften sie eben nicht mehr im Ran- dori angewendet werden. Sie wurden aber weiterhin in Kata geübt, - Leibesertüchtigung, wovon z.B. die zahlreichen Atemi-waza in Kime-no-Kata und der - geistig-moralische Übung, Ashi-garami in Katame-no-Kata zeugen. - Entwicklung einer grundlegenden Fähigkeit, sich und andere im Be- darfsfall verteidigen zu können. Vorrang von Nage-waza Randori als Leibesertüchtigung Für J. KANō hatten stets Nage-waza vorrang vor Katame-waza, was er unter anderem damit begründete, dass beim Ausführen von Wurf- Die Bewegungen beim Randori sind ausgesprochen vielseitig, so dass techniken mehr Muskeln beteiligt seien, als bei den Katame-waza. die gesamte Muskulatur und das Herz-Kreislaufsystem trainiert wird. Aus Sicht der Leibesertüchtigung wies KANō also dem Stand-Ran- Daneben ist Randori koordinativ äußerst anspruchsvoll. Insbesondere dori eine größere Bedeutung zu, als dem Boden-Randori. Allerdings werden Reaktionsfähigkeit, Gleichgewicht, Antizipationsfähigkeit, war zu jener Zeit die Bodenarbeit noch nicht zu ihrer späteren Blüte kinästhetische Differenzierungsfähigkeit und räumliche Orientierung entwickelt. geschult. Wie sah ein Stand-Randori damals eigentlich aus? Ein System der Leibesertüchtigung muss zwingend auch einen gu- ten Schutz vor Verletzungen bieten, so dass das Thema „Sicherheit Außer schriftlichen Überlieferungen existieren auch einige Filmauf- nahmen (z.T. auch bei YouTube) von Randori aus den 1920er- und beim Randori“ ganz oben auf KANōs Prioritätenliste stand. Neben dem obligatorischen Lernen und Trainieren der Fallschule wurden 1930er-Jahren. Beide Partner nahmen zu Beginn einen recht lockeren Techniken aus dem Randori verbannt, die ein hohes Verletzungsri- (!) Griff auf, hatten eine aufrechte Körperhaltung, und versuchten sich siko darstellen, wie zum Beispiel die Atemi-waza (Schlag- und Stoß- gegenseitig erst aus dem Gleichgewicht und dann zu Fall zu bringen. techniken). Nach und nach wurden auch weitere Techniken für das Angriffe des Partners wurden nicht durch Sperren, Losreißen oder andere „Griffarbeit“ verhindert, was eine weniger ermüdende Kör- perhaltung und weniger defensives Verteidigungsverhalten bedeute- te, als wir es im heutigen Randori oft erleben. Dadurch war auf der anderen Seite im Vergleich zu heute eine höhere Angriffsfrequenz möglich. Außerdem gab es mehr gelungene Würfe als heutzutage. Die grundsätzliche Kampfführung war meist so gestaltet, dass beide versuchten, gegenseitig den Partner auszumanövrieren und ihn durch Ziehen oder Drücken zu einer Reaktion zu veranlassen, die dann zu einem Gleichgewichtsbruch genutzt werden kann. Die Verteidigung bestand vorzugsweise in einem Ausweichen oder Blocken mit Bauch/ Hüfte („Hara“) unter Beibehaltung einer aufrechten Körperhaltung. Randori als geistig-moralische Übung Aufmerksamkeit, Beobachtung, Analysieren, Probleme lösen, neues Erproben: Randori stellt neben den körperlichen auch eine Menge Trainingsszene um die Jahrhundertwende. In der Bildmitte ist H. ISO- geistige Anforderungen, setzt aber auch eine bestimmte Haltung ge- GAI, der später (1937) gemeinsam mit H. NAGAOKA der erste lebende Träger des 10. Dan wurde. Man erkennt deutlich, dass damals noch in genüber dem Partner voraus. Bereits in seinem berühmten Vortrag kurzen Hosen und kurzärmligen Jacken trainiert wurde. Die Bedeu- von 1889 (vgl. Folge 4 dieser Reihe) erklärte J. KANō über das Ver- tung der Verlängerung der Hosenbeine und vor allem der Jackenärmel hältnis zweier Randori-Partner zueinander: im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wird in einem kommenden Artikel über die Entwicklung der Wurftechniken behandelt werden.
der budoka 1-2/2011 19 „Beim Randori im Jūdō trainieren in den meisten Dōjō sowohl Fort- geschrittene und Anfänger als auch Gleichrangige miteinander. Ganz natürlich nimmt man so eine anleitende Position ein, eine Position, in der man angeleitet wird oder eine, in der man gleichberechtigt ist. (...) Wer die Pflichten des Lehrers übernimmt, kann an den verschiedens- ten Fällen und bei unendlich vielen Gelegenheiten lehren, dass die Menschen sich füreinander bemühen und sich freundlich behandeln müssen.“
J. KANōs Vorstellungen von Randori waren also bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Entwicklung des Jūdō davon getragen, dass sich die Übenden gegenseitig im ihrem Übungsprozess unterstützen und helfen sollen. Randori und Selbstverteidigung
KANō selbst beschrieb bereits 1889 das grundlegende Dilemma, dass Techniken, die im „echten Kampf“, also für Selbstverteidigung oder den militärischen Nahkampf, wirksam sind, bei Anwendung im Ran- dori ein nicht hinnehmbares Verletzungsrisiko darstellen. In dieser
Frage musste sich KANō also zwischen dem sicherem Üben einerseits JIGORō KANō beim Randori in der Frauenabteilung des Kōdōkan (um und dem effektiven Üben der „gefährlichen Techniken“ andererseits 1930) entscheiden, was er zugunsten der Sicherheit auch tat.
Dennoch bestand KANō darauf, dass Randori einen großen Anteil an der Entwicklung von Kampffähigkeiten außerhalb des Dōjō leisten ten zu wechselnde, sondern auch die am wenigsten ermüdende. Beide soll. Außerhalb des durch Regeln geschützten Bereiches komme es Partner nehmen dieselbe Stellung ein. darauf an, stets schnell und angepasst reagieren zu können. Dazu müsse man diejenige Körperhaltung einnehmen, die am anpassungs- (2) Wurftechniken haben Vorrang. Werfen ist sowohl aus Sicht der fähigsten und flexibelsten ist - und das ist Shizentai. Nur Shizentai Leibesertüchtigung also auch als mentales Training von größerem und entsprechende Körperbewegungen („Tai-sabaki“) würden ge- Wert, weil es Wahrnehmung und Anpassung an eine größere Band- währleisten, dass man jeder Gefahr angemessen begegnen könne. breite an Situationen erfordert. Bodenarbeit zu lernen, nachdem man Außerdem, so KANō, würde eine aufrechte Körperhaltung davor die Wurftechniken gemeistert hat, versetzt in die Lage, von beidem schützen, von oben in den Nacken geschlagen und von unten gegen zu profitieren. Wer Jūdō über einen Zeitraum von mehreren Jahren das Gesicht getreten zu werden. Aufrechte Haltung im Randori ist studiert, hat ausreichend Zeit beides zu meistern. Wer sich aber auf also kein Selbstzweck aus ästhetischen oder stilistischen Gründen, eines beschränken muss, für den sollten Wurftechniken Priorität ha- sondern folgt unmittelbar aus den Anforderungen der Selbstvertei- ben. Es ist besser, sich auf eine Sache zu konzentrieren, als beides digung. ungenügend zu betreiben und Wurftechniken sollten Vorrang haben. Veränderung des Randori im ersten Viertel des 20. Jahrhun- (3) Denke immer daran, dass Randori ein Training in Angriff und derts - „Desorientierung“ des Randori Verteidigung ist. In einer Kampfkunst ist es essenziell, dass man agi- le und freie Körperbewegungen entwickelt, mit denen man Schläge Mit zunehmender Popularisierung von Wettkämpfen und einem und Tritte kontern kann und eine zweite Natur darin zu entwickeln, gleichzeitigen Mangel an qualifizierten Jūdō-Lehrern entwickelte schnell und angemessen zu reagieren. Ein Jūdō-Kampf muss als sich jedoch bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Japan immer mehr echter Kampf betrachtet werden, und das Ziel ist, diesen unmittelbar ein defensiver Kampfstil mit breitem Stand und vorgeneigtem Ober- zu gewinnen. körper. J. KANō kritisierte die Entwicklung heftig und bezeichnete sie als „Desorientierung“ des Randori. Er bestand darauf, dass das (4) Die Reihenfolge des Lernens sollte erst Tachi-waza und dann Ne- ursprüngliche Randori des Kōdōkan wieder vermehrt vermittelt wer- waza sein, wenn man beides befriedigend lernen will. Wer versucht, den sollte. zuerst Ne-waza zu meistern, wird später Probleme haben, Tachi-waza zu lernen. Fast schon zwangsläufig wurde darüber hinaus mit dem Auftauchen anderer Kampfkünste in den 1920er- und 1930er-Jahren (z.B. G. (aus „Jūdō Kyōhon“ von 1931, übersetzt ins Deutsche vom Verfasser ENNET FUNAKOSHI/Karate, M. UESHIBA/Aikidō) die Frage nach der Eignung aus einer englischen Übersetzung von A. B - s. Literatur) von Jūdō als Kriegskunst („bujutsu toshite no jūdō“) virulent. Jūdō drohte seine führende Stellung im Bereich der Kampfkünste zu ver- Literatur (Auswahl) lieren, was KANō durch vermehrte Anstrengungen - z.B. zahlreiche BENNETT, ALEX: Jigorō Kanō and the Kōdōkan - an innovative Response to Veröffentlichungen zum Thema - zu verhindern versuchte. Modernisation, Kōdōkan Jūdō Institute, 2009
Diskussion um die Integration von Atemi-waza in Randori DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2009 Einer der Kritikpunkte am Jūdō war die Vernachlässigung der Ate- KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2007 mi-waza und damit der Kampfdistanzen jenseits der „Griffdistanz“. NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon-Verlag, Atemi-waza wurden zwar weiterhin vor allem im Rahmen der Kime- 2003 no-Kata geübt, jedoch nicht im für das Kampftraining effektiveren WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires of Jigorō Kanō, Trafford-Verlag, 2008 Randori. Daher wurden gegen Ende der 1920er-Jahre Überlegungen angestellt, ob und wie Atemi-waza in das Randori integriert werden könnten. Letztlich wurde dies aber nicht realisiert. Weitere Informationen hierzu folgen in einem kommenden Beitrag zu den Atemi-waza des Kōdōkan-Jūdō.
Anstelle einer Zusammenfassung: J. KANō über die essentiellen Punkte beim Randori (1) Die fundamentale Körperhaltung ist Shizen-hontai („natürliche Grundstellung“) und muss es auch bleiben. Diese grundlegende na- Anmerkung zu den Fotos: Aufgrund der damals verfügbaren Fototechnik türliche Haltung ist nicht nur die anpassungsfähigste und am schnells- muss davon ausgegangen werden, dass alle Aufnahmen gestellt wurden.
20 der budoka 1-2/2011 Grundwissen der Geschichte des Kōdōkan-Jūdō in Japan
von Wolfgang Dax-Romswinkel
Teil 9: Die Kōdōkan-Methoden – Verbale Instruktion und Verbreitung der Lehre durch Schrifttum
Einleitung selbstironische Passage, mit der er dies zu untermauern versucht: Heutzutage werden meist Kata, Randori und Shiai als die drei Me- „Unter Ihnen gibt es sicherlich einige Kritiker, die sagen: „Obwohl thoden des Kōdōkan-Jūdō genannt. Dies entspricht jedoch nicht ganz der Sprecher selbst ein Meister im Range eines Shihan des Jūdō ist, dem Konzept JIGORō KANōs, denn einerseits war der Wettkampf (Shi- warum spricht er dann so ungeschickt?“ Diesen möchte ich entgegen ai) nichts anderes als eine Sonderform des Randori und andererseits halten, dass ich eigentlich noch schlechter spreche, aber durch das war die verbale Instruktion, also die Vermittlung durch Sprache, eine Jūdō-Training schon Fortschritte gemacht habe“ (zitiert aus Niehaus seiner Hauptmethoden. 2003, S. 345). Mündliche und schriftliche Lehre im traditionellen Jūjutsu Kōgi und Mondō: Grundformen verbaler Instruktion (Koryū-Jūjutsu) KANō unterschied zwei grundsätzliche Formen verbaler Instruktion: Wie bereits in der ersten Folge dieser Reihe erläutert, gab es schon in den Vortrag (Kōgi) und das Lehrgespräch (Mondō). den traditionellen Schulen des Jūjutsu Formen systematischer münd- licher Lehre (Kuden) und schriftlicher Überlieferung (Densho). In Vorträge wurden zu KANōs Zeit nicht nur sporadisch innerhalb von den Genuss von Kuden und Densho kamen aber nur die am weites- Übungsstunden gehalten, sondern waren fester Teil des Curriculums ten fortgeschrittenen Schüler, da die Unterweisung in den Kuden und des Kōdōkan. Die Themen der Vorträge waren überaus vielfältig. Sie die Aushändigung der Densho die letzten Schritte auf dem Weg zum waren zum Teil unmittelbar auf das Verstehen von Jūdō-Techniken Meister der Schule waren. Diese Exklusivität der Lehre diente auch bezogen, teilweise wurde aber auch über allgemeine Fragen der Le- der Vertraulichkeit der Geheimnisse der jeweiligen Schule. bensgestaltung referiert. Das Vermitteln der Techniken der Schulen (genauer: der Kata, in de- Hebelgesetze, Gleichgewicht, Physiologie, Anatomie - die physika- nen die Techniken festgelegt waren) erfolgte traditionell weitgehend lischen und biologischen Grundlagen, auf denen die Funktion der ohne verbale Erläuterungen durch Vormachen und „spüren lassen“. Techniken beruht, sollten zum besseren Verständnis der Techniken Dahinter stand auch die Idee, dass sich ein Verständnis in erster Linie „en passant“ mit vermittelt werden. Damit wurde Jūdō nicht nur zu durch praktische Erfahrungen mehr oder weniger von allein ergeben einem Gegenstand theoretischer Betrachtungen, sondern gleichzeitig würde. auch zu einem Anlass für die Vermittlung naturwissenschaftlicher Sachverhalte. KANō war davon überzeugt, dass dieses Vorgehen zu Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Methode schildert einem schnelleren Lernfortschritt sowohl in Theorie wie auch in der JIGORō KANō, der einmal seinen Lehrer H. FUKUDA nach einer Tech- Praxis führt. Mit dieser Haltung setzte er sich deutlich von den tradi- nik gefragt hatte, und dieser ihn - trotz mehrfacher Wiederholung tionellen Lehrmethoden des Jūjutsu ab. der Fragen - ohne jegliche Erklärungen daraufhin so lange mit dieser Ein Vortrag ist aber eine „verbale Einbahnstraße“. Aus diesem Technik geworfen hat, bis KANō verstand, wie sie funktioniert (vgl. Anmerkung 1). Grund führte KANō auch das Lehrgespräch (Mondō) als Methode des Kōdōkan-Jūdō ein. Andeutungsweise ist dies schon im oben aufge- JIGORō KANō über Sprache im Jūdō-Unterricht führten Zitat über die Sprache im Jūdō-Untericht enthalten, wo KANō die Notwendigkeit folgerichtigen Sprechens bei Fragen oder Erörte- Bereits in seinem berühmten Vortrag von 1889, bei dem KANō das rungen betont. Kōdōkan-Jūdō umfassend vorstellte, betonte er die Bedeutung der Sprache bei der Vermittlung: Die Lehrer waren daher angehalten, ihren Schülern Fragen zu stellen, um sich zu vergewissern, dass sie das Vermittelte auch wirklich ver- „Als nächstes komme ich zur Sprache. Sie ist bei der Schulung sehr standen hatten. Inwieweit KANō bereits daran dachte, dass der Vor- wichtig. Ob ich nun beim Randori oder bei den Kata allgemeine Me- gang der Verbalisierung von komplexen Sachverhalten allein schon thoden mit Worten erkläre, so werden mich die Zuhörer nicht verste- zu einem besseren Verständnis führen kann, ist nicht bekannt. Ver- hen, wenn ich nicht folgerichtig und leicht verständlich spreche. Es wunderlich wäre es jedoch nicht, da er ein ausgewiesener Experte in ist nicht gut, eine Technik einfach nur Schritt für Schritt in der Praxis pädagogischen Fragen war (vgl. Anmerkung 3). zu zeigen. Mitunter muss man etwas anschreiben oder erklären. Das Verstehen ist ein anderes, wenn ich die Technik nicht nur vorführe, Auf der anderen Seite sollten die Schüler - was einer Revolution in sondern sie währenddessen auch erläutere. Aber deutlich und klar den Kampfkünsten gleichkam - nicht nur Fragen beantworten, son- sprechen zu können, hat sehr viele Vorteile, ob man nun nach Punk- dern auch die Möglichkeit haben, ihren Lehrern Fragen aller Art zu ten fragt, die man nicht versteht, oder diese gegenseitig gründlich stellen, die diese dann zu beantworten hatten. erörtert. Deshalb achtet man beim Jūdōtraining darauf, folgerichtig und einleuchtend zu sprechen“ (zitiert aus Niehaus 2003, S. 345, s.a. Vielfältige Bedeutung der verbalen Instruktion Anmerkung 2). Die Lernenden waren also permanent aufgefordert, sich ihre eigenen Gedanken zu machen und im wahrsten Sinne des Wortes Jūdō zu In dieser Passage bezog sich KANō zunächst nur auf die Effizienz der Vermittlung von Techniken, jedoch war Jūdō für ihn nicht nur eine studieren. Aber nicht nur das Erlernen der Techniken sollte durch körperliche Aktivität, sondern auch ein System geistiger Schulung. In Kōgi und Mondō verbessert werden. Einer der wesentlichen Ziele des seinen diesbezüglichen Erläuterungen zum Wert des Jūdō für die Ent- Kōdōkan lag schließlich von Beginn an in der geistig-moralisch-in- wicklung des Intellekts betonte er im selben Vortrag noch ergänzend, tellektuellen Schulung, deren Bedeutung KANō immer wieder bekräf- dass durch Jūdō die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, verbes- tigte. sert würde. Prägnant ist die auf das obige Zitat unmittelbar folgende
26 der budoka 3/2011 KANō war sich darüber bewusst, dass Praxis im Dōjō alleine keinen Verbreitung der Lehre durch Schrifttum Automatismus beinhaltet, diese geistigen Ziele des Jūdō mit den Schülern zu erreichen. Von daher nahmen Verhaltensregeln außer- JIGORō KANō war aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit und seiner halb des Dōjō, Ernährungsgewohnheiten, gute und schlechte Manie- zahlreichen Ehrenämter sehr viel innerhalb Japans und auch im Aus- ren, Umgang mit anderen Menschen usw. einen breiten Raum inner- land unterwegs. Daher war er oft längere Perioden nicht in Tokyō, so halb von Kōgi und Mondō ein. In der heutigen Sprache würde man dass andere seine Lehrverpflichtungen übernehmen mussten. Außer- sagen, dass Kōgi und Mondō die Hauptsäulen der Wertevermittlung dem verbreitete sich Jūdō ab Ende der 1890er Jahre rasch innerhalb durch Jūdō waren. Japans, so dass KANō sich veranlasst sah, seine Lehren in zahlreichen Aufsätzen niederzuschreiben. Der ideale Jūdō-Lehrer JIGORō KANō hat auf diese Weise mehrere Hundert Artikel zu allen Um KANōs Anspruch an das Kōdōkan-Jūdō einzulösen, ein System möglichen Fragen von Jūdō und Erziehung, aber auch über Politik, zu einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung in körperlicher wie Alltag und Gesellschaft hinterlassen. Die Sammlung seiner kom- geistiger Hinsicht zu sein, bedurfte es entsprechend professioneller pletten Schriften umfasst mehrere tausend Seiten und ist auf japa- Jūdō-Lehrer, für deren Aus- und Weiterbildung sich KANō zeitlebens nisch seit einigen Jahren als Sammelband erhältlich. Erstaunlich we- engagierte. In einem berühmten und sehr eindringlichen Zitat mahnte nig findet sich übrigens von ihm über einzelne Techniken oder Kata er an, dass praktische Fähigkeiten alleine keinen idealen Jūdō-Lehrer des Jūdō. Auch hat er nur ein einziges Jūdō-Buch geschrieben – und ausmachen: das erst als ca. 70-Jähriger. „Der ideale Jūdō-Lehrer benötigt folgende Eigenschaften. Er Muss Die Zeitschriften litten immer wieder unter finanziellen Schwierig- Angriffs- und Verteidigungstechniken mit Hingabe trainiert haben. keiten, was KANō aber nicht davon abhalten konnte, bei Problemen Er muss selbstverständlich die waffenlosen Techniken beherrschen, stets neue Anläufe zur Finanzierung zu nehmen. Dies ist auch als aber auch Fertigkeiten mit dem Langstock und dem Schwert besit- Indiz dafür zu sehen, welche Bedeutung KANō der öffentlichen Ver- zen. Weiterhin besitzt er Kenntnisse über die Theorie des Kampfes breitung der theoretischen Aspekte des Jūdō beimaß - was einen wei- und gleichzeitig das Wissen, das er als Leibeserzieher benötigt, sowie teren gravierenden Unterschied zu den traditionellen Jūjutsu-Schulen Fertigkeiten in der Methode der Leibeserziehung. Als Erzieher hat deutlich macht. er fundierte Kenntnisse in der Moralerziehung (...) Überdies besitzt er tiefes Wissen über die Anwendung der Jūdō-Prinzipien im gesell- Ein konkretes Beispiel: Seminare für Hochgraduierte schaftlichen Leben. Ein Mensch, der diese verschiedenen Gebiete KIYOICHI TAKAGI (9. Dan) beschrieb im Jahr 1957 seine Erinnerungen beherrscht, ist ein besonders herausragender Pädagoge“ (zitiert aus an einen Unterricht mit JIGORō KANō. Seine Erinnerungen sollen zum Niehaus 2003, S. 222). Abschluss der Abhandlungen über die Methoden des Kōdōkan-Jūdō In dieser Passage wird sehr deutlich, dass dem Jūdō-Lehrer erzie- aus dem Band 2 der „Wurftechniken des Kōdōkan-Jūdō“ von TOSHIRō herische Aufgaben zukommen, die weit über das engere Vermitteln DAIGO (10. Dan) zitiert werden. von Fertigkeiten des Kämpfens hinaus gehen. Um diesen Aufgaben „Kanō-shihan hat in den ein, zwei Jahren vor seinem Tod häufig in gewachsen zu sein, benötigt er neben praktischem Können auch eine dem Forschungs-Dōjō im dritten Stock Technik-Seminare der Hoch- solide theoretische und methodisch-didaktische Ausbildung, für die graduierten durchgeführt. Wenn der Shihan selbst daran teilgenom- KANō in seiner Eigenschaft als Direktor der Höheren Lehrerbildun- men hat, hatten wir immer Angst davor, dass er sagte »So, irgend- ganstalt in Tokyō sorgte. Dort richtete er zum Beispiel dreijährige jemand erklärt jetzt irgendeine Technik!« aber zugleich waren wir Studiengänge für Jūdō-Lehrer ein, die teilweise auch im Dōjō des dann auch sehr glücklich. Denn dann stellten wir uns vor, wie es war, Kōdōkan durchgeführt wurden. Darüber hinaus setzte sich KANō auch als der Shihan jung war und er die von Kindheit an bei ihm trainie- für eine angemessene Bezahlung der Jūdō-Lehrer ein. renden Tomita und Saigo zusammengerufen und er sich intensiv um sie bemüht und mit ihnen studiert hatte.
JIGORō KANō demonstriert und erläutert eine Technik am Kōdōkan. Man sieht sehr schön, dass seine rechte Hand nicht am Ärmel gegriffen hat, sondern er mit dem Zeigefinger zum wich- tigen „Knackpunkt“ - mutmaß- lich der Gleichgewichtsbruch nach hinten über die Ferse - deu- tet. Der Blick ist zu den Schülern gerichtet. Vielen Schilderungen zu Folge war KANō ein Meister der Verbindung von mündlicher Erklärung und praktischer Demonstration.
Es gibt nur sehr wenige Aufnah- men von JIGORō KANō, die ihn in einem Jūdōgi zeigen. Er selbst bevorzugte im Dōjō traditionelle japanische Kleidung wie sie auf dem Bild zu sehen ist.
der budoka 3/2011 27 Obwohl sich die Zeiten mittlerweile geändert hatten, war aufgrund Persönliche Anmerkungen des langen Lebens des Shihans erneut eine solche Gelegenheit ge- kommen und selbst Leute wie ich und andere konnten daran teilneh- (1) Die Beschreibung der Szene findet sich u.a. in B. WATSONS „Jūdō- men, wodurch wir eine außerordentliche Freude, zugleich aber auch Memoires of JIGORō KANō“ (siehe Literatur) unter der Überschrift eine enorme Verantwortung, die damit verbunden war, spürten. „Pain is a good teacher“. Eines Abends forderte der Shihan mich auf: »Takagi, Du erklärst (2) Im Zitat wurde der vom Übersetzer gewählte Begriff „Form“ jetzt Hiza-guruma!« Da dies meine Spezialtechnik war, bin ich in die durch „Technik“ bzw. „Kata“ ersetzt. Mitte des Dōjō gegangen und habe gesagt ...“ (3) JIGORō KANō war über zwei Jahrzehnte lang Direktor der Höheren Lehrerbildungsanstalt in Tokyō, die für die Ausbildung von Mittel- Im weiteren Verlauf des Textes schildert TAKAGI seine damaligen Er- läuterungen zum Hiza-guruma und vor allem die Korrekturen und schullehrern verantwortlich war. Damit war er ein ausgewiesener Ex- perte in pädagogischen und methodisch-didaktischen Fragen. Hinweise, die er von JIGORō KANō erhielt. An dieser kurzen Passage wird in wunderbarer Weise deutlich, dass (4) Die wichtigsten Zeitschriften, in denen KANō publizierte, waren „Kokushi“, „Jūdō“, „Sakkō “ und „Yūkō-no-Katsudō“. Herausge- KANō seine Rolle als Lehrer nicht automatisch als „Top-down“-Ver- mittler gesehen hat. Er hat in diesem Beispiel erst den Schüler erklä- ber waren jeweils von KANō gegründete Vereinigungen und Gesell- ren lassen und dann eingegriffen und ergänzt - mit heutigem Sprach- schaften, die eng mit dem Kōdōkan verbunden waren. gebrauch „dort abgeholt, wo er war“. (5) Die Beschreibung von Jūdō-Techniken in diesen Magazinen oder Zusammenfassung: Kōdōkan-Methode(n) im Überblick in Büchern erfolgten in erster Linie durch hochgraduierte Meister des Kōdōkan, wie z.B. Y. YAMASHITA, H. NAGAOKA oder H. ISOGAI - dies Die gleichzeitige Vermittlung von Theorie und Praxis für alle Schüler waren die drei ersten Träger des 10. Dan in der Jūdō-Geschichte - und von Anfang an durch einen Mix von Methoden der praktischen Übung anderen. (Kata, Randori) und der verbalen Instruktion (Kōgi, Mondō) ist einer der großen Schritte vom traditionellen Jūjutsu zum Kōdōkan-Jūdō. (6) JIGORō KANōs Vorstellungen vom Jūdō-Unterricht waren sehr Theoretische Kenntnisse sollten nicht mehr nur einem kleinen Kreis idealistisch und man darf nicht den Fehler machen, zu glauben, dass von Meistern vorbehalten und „geheim“ bleiben, sondern allgemein dies alles wie beschrieben umgesetzt wurde. Im Gegenteil: In KANōs zugänglich sein. Schriften finden sich auch reichlich kritische Äußerungen zur (da- mals) aktuellen Situation - was ihn aber nicht davon abgehalten hat, Da Kōdōkan-Jūdō ein System zur körperlichen und geistigen Schu- an seinen Visionen und Idealen festzuhalten. lung sein sollte, musste es darüber hinaus auch Methoden geben, die diesen Anspruch einlösen konnten. Verbale Instruktion war auch aus Literatur (Auswahl) diesem Grund unerlässlich. Dargestellt in einer Matrix wird das Me- thodenkonzept KANōs deutlich: BENNETT, ALEX: Jigorō Kanō and the Kōdōkan - an innovative Response to Modernisation, Kōdōkan Jūdō Institute, 2009 „gebunden“ „frei“ DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Kōdōkan Jūdō, Band 1, Verlag Dieter Born, 2009 Praxis Kata Randori DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Kōdōkan Jūdō, Band 2, Verlag Dieter Theorie Kōgi (Vortrag) Mondō (Dialog) Born, in Vorbereitung
KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2007 Wichtig: So wie Kata und Randori ein Spektrum von praktischen NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon-Verlag, Übungsformen charakterisieren, beschreiben Kōgi und Mondō ein 2003 Spektrum von Kommunikationsformen bei der mündlichen Unter- weisung. Sinnvolle Zwischenformen sind jederzeit möglich. WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires of Jigorō Kanō, Trafford-Verlag, 2008 Ein wesentliches Element des Unterrichts ist nach dem Konzept KANōs die Eigenaktivität der Lernenden, die immer wieder durch den Lehrer angeregt werden soll.
JIGORō KANō 1933 in Berlin: Er gibt deutschen Übenden einige Erläuterungen zum Jūdō (aus KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2007)
28 der budoka 3/2011 Grundwissen der Geschichte des Kōdōkan-Jūdō in Japan
von Wolfgang Dax-Romswinkel
Teil 10: Die Entwicklung der Nage-waza des Kōdōkan-Jūdō
Einleitung - Der günstigste Moment anzugreifen ist der, wenn der Gegner für einen kurzen Moment sein Gleichgewicht nicht vollständig kontrol- Diese und die kommenden zwei Folgen unserer Reihe beschäftigen lieren kann. sich mit der Entwicklung und Systematisierung des technischen Re- - Der Gegner ist umso leichter zu werfen, je kleiner die Fläche ist, auf pertoires des Kōdōkan-Jūdō, namentlich mit den drei großen Tech- der sein Gewicht ruht. nikgruppen Nage-waza (Wurftechniken), Katame-waza (Halte-/ - In unterschiedlichen Stadien der Gewichtsverlagerung beim Gehen - Hebel-/Würgetechniken) und Atemi-waza (Schlag-/Stoß-/Tritttech- also bei Bewegungen des Schwerpunkts des Gegners - ergeben sich niken), die jeweils bereits in den traditionellen Jūjutsu-Stilen (Koryū- Chancen, dessen Gleichgewichtskontrolle zu stören. Jūjutsu) existierten. - Das Gleichgewicht kann am leichtesten in die Richtung gebrochen JIGORō KANō und - was nicht vergessen werden darf - hervorste- werden, in die sich der Gegner selbst bewegt oder in die er zieht oder chende Schüler wie Y. YAMASHITA, H. NAGAOKA u.v.a. - haben die schiebt. Wurftechniken des traditionellen Jūjutsu systematisch untersucht, - Durch Ziehen/Schieben/Drücken des Gegners lassen sich Reakti- verfeinert und daraus die Wurftechniken des Kōdōkan-Jūdō geformt. onen provozieren, die dann zu einem Gleichgewichtsbruch ausge- Viele Techniken wurden von den alten Schulen in modifizierter Form nutzt werden können. übernommen, einige wurden fallen gelassen, andere von Grund auf - Das Gleichgewicht kann auf die beiden zuvor beschriebenen Wei- neu entwickelt. sen in alle Richtungen - er selbst definierte mit dem Happō-no-Kuzu- shi-System acht Richtungen - gebrochen werden. Grundlegende Theorie der Kōdōkan-Wurftechniken - Durch systematische Ausnutzung der Hebelgesetze lässt sich große Kraft mit kleiner Kraft kontrollieren und überwinden. Wie schon in Folge 5 zu den technischen Prinzipien des Kōdōkan- Jūdō ausführlich erläutert, war die Entdeckung und Untersuchung Ausdifferenzierung und Verfeinerung der Wurftechniken des Kuzushi als entscheidender Teil der Wurfvorbereitung (Tsukuri) der wichtigste Meilenstein bei der Verfeinerung der Wurftechniken. Einen kleinen Einblick in die damaligen Prozesse der Technikent- J. KANō hat eine Theorie des Werfens entwickelt, die zusammenfas- wicklung gibt uns JIGORō KANō selbst. Befragt wurde er von Kazuzō send durch folgende Leitsätze charakterisiert werden kann: KUDō (später 9. Dan), der den Inhalt des Gesprächs auch niederge- schrieben und 1930 veröffentlicht hat.
KANō: »Als ich selbst früher Tenjin Shin’yō-ryū und Kitō-ryū gelernt habe, habe ich beim Randori in der Praxis solche Sachen gemacht wie den Partner durch Fegen mit dem Fuß umzuwerfen.«
KUDō: »Sensei, welches war denn dann die erste Fußtechnik (Ashi- waza), die Sie entwickelt haben? War das De-ashi-harai?«
KANō: »De-ashi-harai, Ko-soto-gari und Sasae-tsurikomi-ashi waren zusammen als erstes da.«
KUDō: »Kann man also auch sagen, dass De-ashi-harai die allererste Technik war?«
KANō: »Nein – wenn ich sage, dass De-ashi-harai, Ko-soto-gari und Sasae-tsurikomi-ashi zusammen als erstes da waren, muss ich hierzu wohl noch beträchtliche Erklärungen machen, da es sonst nicht zu verstehen ist. Wie eben schon erzählt, habe ich früher, als ich selbst Tenjin Shin’yō-ryū und Kitō-ryū gelernt habe, in dem Moment, wo sich der Partner nicht mehr in einem stabilen Zustand befand, mit dem Fuß gefegt und ihn so umgeworfen. Auch der Sensei des Dōjō hatte das so gemacht. Aber nach und nach, je länger ich trainierte, habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, ob denn nicht irgendein Prinzip dahinter stecken könne. Dabei habe ich erkannt, dass im Randori dann, wenn man den Partner schiebt oder zieht, in dem Moment, wo sich der Körperschwerpunkt des Partners beginnt von einem Fuß auf den anderen zu verlagern, dadurch, dass man diesen Fuß fegt oder sichelt, der Partner ziemlich einfach umgeworfen wer- den kann. Des Weiteren: wenn man diesen Fuß blockiert und in die entgegen gesetzte Richtung zieht, kann der Partner leicht aus dem Gleichgewicht gebracht und umgeworfen werden. (...) Auf diese Wei- se habe ich De-ashi-harai, Ko-soto-gari und Sasae-tsurikomi-ashi, ohne diese Techniken so wie heute üblich zu unterscheiden, einfach Jūdōgi in der Meiji-Zeit: Trainingsszene um die Jahrhundertwende in entsprechend der jeweiligen Situation abgeändert und angewendet. Kyōto. Man trainierte in Jacken mit kurzen Ärmeln und kurzen Hosen. (aus DAIGO, TOSHIRO: Wurftechniken des Kōdōkan-Jūdō, Band 2, in Schön zu erkennen ist auch die Einheitsgröße der Jacken. (Quelle: Bildar- Vorbereitung) chiv Dieter Born)
28 der budoka 4/2011 Die besagten Wurftechniken, so wie wir sie heute unterscheiden, entstanden demnach durch situationsgerechte Anpassung von rela- tiv einfachen und pragmatischen Wurfideen, die - wie der Hinweis auf den Sensei und die Abbildungen rechts deutlich machen - auch vorher schon bekannt waren. Die Anwendungssituationen wurden analysiert, die Techniken daraufhin verfeinert, und dabei gewonnene Erkenntnisse flossen wieder in die Theoriebildung zurück. So ergab sich eine Wechselwirkung zwischen praktischer Erprobung und der Entwicklung theoretischer Ideen, was KANō übrigens bereits 1889 darstellte. Diesem Prozess maß er sogar explizit einen hohen Wert bei der Ausbildung des Verstandes durch Jūdō bei (vgl. Folge 4: Ziele des Kōdōkan-Jūdō in den Gründungsjahren). Wenn also im Rahmen derartiger Überlegungen und Studien im De- tail ein etwas anderes Wurfprinzip erkannt wurde, führte dies zu ei- ner Ausdifferenzierung von Ursprungstechniken in unterschiedliche „neue“ Techniken, die dann auch einen neuen Namen erhielten. So entwickelten sich z.B. aus einem allgemeinen „Ashi-harai“, eine Bezeichnung, die in älteren Texten häufig auftaucht, die Techniken De-ashi-harai, Okuri-ashi-harai und Harai-tsurikomi-ashi. Die Aus- differenzierung der Hüftwürfe oder der Yoko-sutemi-waza sind wei- tere Beispiele. Ashi-waza „De-ashi-harai, Ko-soto- Erste systematische Einteilung der Wurftechniken gari und Sasae-tsuri-komi- Schon in seinem berühmten und häufiger erwähnten Vortrag von ashi waren zusammen als erstes da“: Diese Aussage 1889 stellte JIGORō KANō eine Einteilung der Wurftechniken vor. KANōS wird nachvoll- „... es gibt so viele Würfe, dass ich nicht alle erklären kann. Nimmt ziehbar, wenn man diese beiden Techniken aus der man der Zweckmäßigkeit halber eine Unterscheidung vor, kann man Tenjin Shin’yō-ryū (veröf- wohl fünf Arten unterscheiden. fentlicht 1896) anschaut. Grundsätzlich waren Bei den Handwürfen setzt man hauptsächlich die Hände ein, bei den Techniken, bei denen Hüftwürfen die Hüfte, bei den Fußwürfen die Füße. Bei den wahren Tori mit seinem linken Rückfallwürfen wirft man, indem man sich direkt nach hinten fallen Fuß Ukes rechten Fuß lässt. Bei den Seitrückfallwürfen wirft man, indem man sich seitlich von außen her angreift, fallen lässt.“ (NIEHAUS 2003, S. 284) bekannt - jedoch wurden nach KANōS Aussage erst Bemerkenswert: Bereits sieben Jahre nach Gründung des Kōdōkan später durch Variation ist die heute noch gültige Einteilung der Wurftechniken in Te-waza, des Angriffszeitpunkts und der Wurfrichtung die Koshi-waza, Ashi-waza, Ma-sutemi-waza und Yoko-sutemi-waza do- heutige Differenzierung kumentiert! der Ashi-waza erarbeitet.
Gokyō-no-waza von 1895 (Bild oben: DAIGO Bd. 1 2009, Bild unten: DAIGO Bd. 2, 2011 i.V.) Bereits in den ersten Jahren des Kōdōkan war das Repertoire an Wurf- techniken im Vergleich zu den meisten traditionellen Jūjutsu-Schulen beachtlich. Die hinter dieser Vielfalt stehende kreative Leistung kann nur als enorm bezeichnet werden. Da auch die Mitgliederzahlen ge- gen Ende des 19. Jahrhunderts stark anstiegen, gab es zunehmend die 4. Stufe (10 Techniken): Uki-otoshi, Uki-waza, Daki-wakare, Kata- Notwendigkeit, über eine systematische Vermittlung der Wurftech- guruma, Hikikomi-gaeshi, Soto-maki-komi, Tsuri-goshi, Utsuri-go- niken nachzudenken. shi, -soto-otoshi, Tawara-gaeshi Als Ergebnis dieser Überlegungen wurden 1895, nur 13 Jahre nach 5. Stufe (11 Techniken): Yoko-guruma, Yoko-wakare, Uchi-maki- Gründung des Kōdōkan, 42 Wurftechniken als „Gokyō-no-waza“ komi, Ko-uchi-gari, Ashi-guruma, Seoi-otoshi, Yoko-gake, Harai- - wörtlich: go=fünf Kyō=(Lehr-)Stufen no-waza=der Techniken tsuri-komi-ashi, Yama-arashi, -soto-guruma, Tsuri-komi-goshi - zusammengestellt. Während die bisherige Einteilung in Te-Waza, Im Gegensatz zur heute gültigen Gokyō-no-waza, die das Ergebnis Ashi-waza usw. der Funktionsweise der Techniken folgte, war der einer Überarbeitung im Jahr 1920 ist (s.u.), ist die Anzahl der Tech- Grundgedanke der Gokyō-no-waza ein methodisch-didaktischer. Die niken in den einzelnen Stufen unterschiedlich und in jeder Gruppe Wurftechniken sollten demnach ungefähr in der Reihenfolge unter- befindet sich mindestens eine Te-, Koshi-, Ashi- und Sutemi-waza. richtet werden, wie sie in der Gokyō-no-waza aufgeführt waren. Nach welchen Gesichtspunkten tatsächlich im Detail vorgegangen Veränderte Jūdōgi beeinflussen die Entwicklung der Nage-waza wurde, ist heute nicht mehr bekannt. Als sicher erscheint jedoch, dass Das Randori in der Frühzeit war offensichtlich noch nicht so kon- die Häufigkeit und Bedeutung der Anwendung im Randori ein we- sequent auf Shizen-hontai und den heute üblichen „Ärmel-Kragen- sentlicher Gesichtspunkt war. Griff“ ausgerichtet. Dies wäre so auch gar nicht möglich gewesen, Die Gokyō-no-waza von 1895 bestand aus folgenden Techniken: denn damals trainierte man noch in kurzen Hosen (siehe Bild links auf der gegenüberliegenden Seite) und vor allem in kurzärmligen Ja- 1. Stufe (7 Techniken): Hiza-guruma, Sasae-tsuri-komi-ashi, Uki-go- cken. Die Verlängerung der Ärmel und der Hosenbeine erfolgte erst shi, Tai-otoshi, -soto-gari, De-ashi-harai, Yoko-otoshi kurz nach der Jahrhundertwende um das Jahr 1907, in erster Linie zur Reduktion von Verletzungen (Hautabschürfungen!). 2. Stufe (7 Techniken): Sumi-gaeshi, -goshi, Ko-soto-gari, Koshi- guruma, Seoi-nage, Tomoe-nage, Tani-otoshi Durch die verlängerten Ärmel veränderte sich auch das Randori. Es ergaben sich mehr Gelegenheiten für Ashi-waza und Koshi-waza. 3. Stufe (7 Techniken): Okuri-ashi-harai, Harai-goshi, Ushiro-goshi, Gleichzeitig trat der Griff in den Gürtel und unter der Achsel auf Ura-nage, Uchi-mata, Obi-otoshi, Hane-goshi das Schulterblatt - ähnlich wie bei Sumi-gaeshi und Uki-waza in der Nage-no-Kata - in den Hintergrund.
der budoka 4/2011 29 Revision der Gokyō-no-waza 1920 Außerdem fällt auf, dass Techniken, bei denen der Gürtel gefasst wird (Obi-otoshi, Hiki-komi-gaeshi) und Techniken, bei denen Ukes Die Entwicklung neuer Techniken und die veränderte Bedeutung vie- Oberkörper umschlungen wird (Daki-wakare, Tawara-gaeshi) her- ler „alter“ Techniken im Randori führten zur Einsetzung einer Ar- ausgenommen wurden. Beides deutet ebenfalls auf den veränderten beitsgruppe um Y. YAMASHITA, H. NAGAOKA, K. MIFUNE u.a., die die Randori-Stil mit konsequentem „Ärmel-Kragen-Griff“ und Shizen- Gokyō-no-waza nach nur 25 Jahren einer Revision unterzogen. hontai hin. Als Ergebnis wurden acht Techniken aus der Gokyō-no-waza heraus- genommen - nicht aber aus dem technischen Repertorie des Kōdōkan Bedeutung der Gokyō-no-waza - und sechs neue Techniken eingeführt. Die „neue“ Gokyō-no-waza Die Wurftechniken sollen gemäß Kōdōkan nach wie vor ungefähr in ist bis heute, also seit über 90 Jahren (!) gültig und besteht aus fol- der Reihenfolge unterrichtet werden, wie sie in der Gokyō-no-waza genden Techniken: aufgeführt sind. Ungefähr heißt aber nicht strikt, wie es oft im Wes- 1. Stufe: De-ashi-harai, Hiza-guruma, Sasae-tsuri-komi-ashi, Uki- ten verstanden wurde, und so gibt auch es keinerlei Anzeichen dafür, goshi, -soto-gari, -goshi, -uchi-gari, Seoi-nage dass in Japan jemals besonders streng nach der Gokyō-no-waza unter- richtet worden wäre (zu dieser Diskussion siehe Anmerkung 5). Auch 2. Stufe: Ko-soto-gari, Ko-uchi-gari, Koshi-guruma, Tsuri-komi-go- ist die Gokyō-no-waza in Japan im Gegensatz zum Westen zu keinem shi, Okuri-ashi-harai, Tai-otoshi, Harai-goshi, Uchi-mata Zeitpunkt Grundlage für Kyu- oder Dan-Prüfungen gewesen. 3. Stufe: Ko-soto-gake, Tsuri-goshi, Yoko-otoshi, Ashi-guruma, Insofern kann man nur festhalten, dass als Folge der Entwicklungen Hane-goshi, Harai-tsuri-komi-ashi, Tomoe-nage, Kata-guruma im Randori die Ashi-waza und Koshi-waza populärer wurden und da- 4. Stufe: Sumi-gaeshi, Tani-otoshi, Hane-maki-komi, Sukui-nage, her vorwiegend in den unteren Stufen der Gokyō zu finden sind, wäh- Utsuri-goshi, -guruma, Soto-maki-komi, Uki-otoshi rend Sutemi-waza ausschließlich in den höheren Stufen vorkommen. Die Te-waza sind relativ gleichmäßig über die Stufen verteilt. 5. Stufe: -soto-guruma, Uki-waza, Yoko-wakare, Yoko-guruma, Ushiro-goshi, Ura-nage, Sumi-otoshi, Yoko-gake Ein weiterer Grund für die vielen Ashi-waza in den drei ersten Stufen dürfte die überragende Bedeutung der Ashi-waza für das Kōdōkan- Es ergaben sich im Einzelnen folgende Veränderungen: Jūdō und deren sehr verfeinerte Differenzierung sein.
1920 herausgenommene Techniken 1920 zugefügte Techniken Nage-waza, die nicht in der Gokyō-no-waza enthalten sind Obi-otoshi -uchi-gari Neben den Wurftechniken, die in der Gokyō-no-waza aufgeführt wa- Daki-wakare Ko-soto-gake ren, gab es immer auch weitere Techniken „außerhalb“ der Gokyō- Hiki-komi-gaeshi Hane-maki-komi no-waza, z.B. die acht im Jahr 1920 herausgenommenen Techniken -soto-otoshi Sukui-nage (jap: Habukareta-waza). Die Namen der weiteren Techniken existier- Tawara-gaeshi -guruma ten zumeist „informell“ und erst im Jahr 1954 wurde eine Kommis- Uchi-maki-komi Sumi-otoshi sion eingesetzt, um offizielle Namen festzulegen. Diese veröffentlich- Seoi-otoshi te im Jahr 1982 eine Liste von 17 neu benannten Techniken (jap. Yama-arashi Shinmeishō-no-waza), die im Jahr 1997 noch um zwei Techniken Vergleicht man die Anordnung der Techniken in den fünf Stufen, ergänzt wurde. stellt man eine Verlagerung der Ashi- und Koshi-waza in die nied- Alles in allem führt der Kōdōkan derzeit 67 festgelegte Namen von rigen Stufen und der Sutemi-waza in die höheren Stufen fest. Dies Wurftechniken (neben zahlreichen „gebräuchlichen“ Spitznamen). korrespondiert mit der gewachsenen Bedeutung der Ashi- und der Koshi-waza durch die verlängerten Jackenärmel. Persönliche Anmerkungen:
Besonders deutlich wird diese Entwicklung am Beispiel der Innen- (1) Für JIGORō KANō waren die Nage-waza gegenüber den Katame- sicheln sichtbar: -uchi-gari wurde als neue Technik gleich in die und den Atemi-waza von besonderer Bedeutung. Dies erklärte er u.a. 1. Stufe aufgenommen und Ko-uchi-gari von der 5. Stufe in die 2. damit, dass bei der Ausführung von Wurftechniken der ganze Körper Stufe nach vorne versetzt. Die relativ späte Popularisierung der In- intensiver beteiligt sei als bei den anderen Techniken, so dass ihnen nensicheln ist übrigens einer der Gründe dafür, warum der Kōdōkan aus Sicht der Leibesertüchtigung ein höherer Wert zugesprochen trotz einer späteren sehr feinen Ausdifferenzierung dieser Techniken, werden könne. Von daher erklärt sich auch, dass die Entwicklung und keine neuen Namen für Varianten mit unterschiedlichen Wurfprin- Systematisierung der Wurftechniken konsequenter und umfassender zipien festgelegt hat. erfolgte als die der übrigen Techniken.
Umklammerungen und Seoi-otoshi (1920 herausge- Greifen des Gürtels: nommen): Spezialtechnik (und persönliche Variante) Bis Anfang des 20. Jahr- von M. NANMA („Nanma- hunderts kam das Umklam- otoshi“), veröffentlicht von mern des Gegners und das I. HAJIME 1909, entnommen Greifen des Gürtels zum aus DAIGO 2009, Bd. 1 Werfen aufgrund der kurz- ärmligen Jacken häufiger vor als später, als die Ärmel verlängert wurden. Die Bilder zeigen Beispiele zu Varianten von Seoi-otoshi, Ushiro-goshi, Obi-otoshi, Tawara-gaeshi und Sumi- gaeshi. Sofern diese in der Gokyō-no-waza von 1895 enthaltenen Techniken 1920 nicht herausgenommen Ushiro-goshi (1920 von der 3. in die 5. Stufe wurden, befinden sie sich versetzt): Diese Technik wurde früher oft aus seitdem durchweg in den einer beidarmigen Umklammerung von hinten höheren Stufen. beschrieben. Das Bild wurde ebenfalls von I HAJIME 1909 veröffentlicht und aus DAIGO 2009, Bd. 1 entnommen.
30 der budoka 4/2011 (2) Die Vorgehensweise bei der Verfeinerung der Nage-waza war für zu rekonstruieren. So lassen sich zwar verschiedene interessante Auf- die Kampfkünste geradezu revolutionär: nicht die Überlieferung der fälligkeiten feststellen, deren Historizität jedoch letztlich nur vermu- Schule wurde zum alleinigen Maßstab der Lehre, sondern auch die Er- ten. Was bleibt ist die gar nicht so überraschende Erkenntnis, dass gebnisse eigener systematischer Untersuchungen nach durchaus wis- die Gokyō-no-waza das zu sein scheint, was der Kōdōkan noch heute senschaftlicher Vorgehensweise. Bemerkenswert dabei ist vor allem, darüber sagt: eine Richtlinie über die ungefähre Reihenfolge der Ver- dass JIGORō KANō seine Schüler immer wieder aufforderte, eigene mittlung der Wurftechniken. Studien anzustellen um Fortschritte zu machen. Dies korrespondiert sehr stark mit dem Ziel der Förderung des Intellekts durch Jūdō. (6) Der Umstand, dass in Japan bereits vor dem zweiten Weltkrieg zahlreiche Technikbezeichnungen „informell“ existierten - darunter (3) Obwohl das Spektrum der Wurftechniken bereits in der Frühzeit auch Bezeichnungen aus alten Jūjutsu-Stilen - führte dazu, dass mit des Kōdōkan ausgesprochen vielfältig war, nahmen die Ashi-waza den ersten japanischen Jūdō- und Jūjutsu-Lehrern (z.B. M. KAWAISHI) eine besondere Rolle ein. Sie waren bei den traditionellen Jūjutsu- auch diese Techniknamen in den Westen gelangten und sich hier ein- Schulen als „Füße des Kōdōkan“ besonders gefürchtet und waren ein bürgerten. Weil der Kōdōkan zwischen 1920 und 1982 keine weiteren Markenzeichen der Kōdōkan-Kämpfer in den damaligen Kämpfen Namen offiziell festgelegt hatte, ergaben sich logischerweise nach der zwischen Vertretern des Kōdōkan und anderer (Jūjutsu-)Schulen. Festlegung der Shinmeishō-no-waza im Jahr 1982 Diskrepanzen zu jahrzehntelang im Westen üblichen Bezeichnungen, was auch heute (4) Die überarbeite Gokyō-no-waza von 1920 wird in Deutschland noch regelmäßig zu Verunsicherungen. oft als „Gokyō-no-kaisetsu“ bezeichnet. Dem liegt ein sprachlicher Fehler zu Grunde. Kaisetsu heißt Erläuterung, Gokyō-no-kaisetsu ist Da die Jūdō-Welt im Zuge der Globalisierung (Internet, fremdspra- damit als „Erläuterung der fünf Stufen“ zu übersetzen. Genau das ist chige Bücher/DVDs, Übersetzungen usw.) international immer mehr der Titel zahlreicher Aufsätze in Japan, in denen die Gokyō-no-waza zusammenwächst, plädiert der Verfasser im Interesse einer allgemei- erläutert wurden. Irgendwann wurde wohl fälschlich der Titel dieser nen Klarheit für eine baldige Übernahme der offiziellen Kōdōkan-Be- Aufsätze mit der Zusammenstellung der Techniken verwechselt und zeichnungen in allen Dokumenten der nationalen und internationalen fortan so verbreitet. Verbände. (5) Die Gründe und die Bedeutung der Reihenfolge der Techniken Literatur (Auswahl) in der Gokyō-no-waza von 1920 ist in Jūdō-Kreisen höchst umstrit- Gerade wenn es um die Geschichte der Nage-waza geht, kommt man an dem ten. Während es Gruppierungen gibt, die hinter der Anordnung der Jahrhundertwerk „Wurftechniken des Kōdōkan-Jūdō“ von TOSHIRō DAIGO, 10 Techniken ein ausgefeiltes methodisches Konzept sehen und auch Dan, nicht vorbei. Was hier nur zusammenfassend angerissen werden konnte, verschiedene Theorien dazu anbieten, gibt es Autoren, die die Zu- findet sich in den Bänden der Trilogie für praktisch jede Technik einzeln in sammenstellung der Gokyō-no-waza im Gegenteil als vollkommen Wort und Bild anschaulich dargestellt. willkürlich ohne jeden methodischen Hintergrund betrachten. BENNETT, ALEX: Jigorō Kanō and the Kōdōkan - an innovative Response to Modernisation, Kōdōkan Jūdō Institute, 2009 Aus Sicht des Verfassers sind beide Extrempositionen nicht haltbar. DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Kōdōkan Jūdō, Band 1, Verlag Dieter Zum einen finden sich in der Literatur keinerlei tiefer gehende Be- Born, 2009 gründungen zur Anordnung der Techniken und selbst KANō hielt sich DAIGO, TOSHIRō: Wurftechniken des Kōdōkan Jūdō, Band 2, Verlag Dieter z.B. in seinen Unterrichtsempfehlungen für die Mittelschulen nicht Born, 2011 (in Vorbereitung) an Reihenfolge und Gruppenzuordnung. Dies spricht gegen eine zu- KANō, JIGORō: Kōdōkan Jūdō, Verlag Dieter Born, 2007 grunde liegende (Lehr-)Methode. NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk Kanō Jigorōs (1860-1938), Ergon-Verlag, Des Weiteren sind solche Meinungen problematisch, die eine Anord- 2003 nung der Techniken nach „Schwierigskeitsgrad“ - sei es der Wurfaus- WATSON, BRIAN N.: Jūdō Memoires of Jigorō Kanō, Trafford-Verlag, 2008 führung selbst oder der Fallübungen von Uke - sehen. Einer ganzen Reihe von einleuchtenden Beispielen stehen stets auch Gegenbei- spiele gegenüber. Andererseits gibt es so viele methodische Aspekte, Sumi-gaeshi (1920 von die man nach eingehender Beschäftigung - wenn auch in Ermange- der 2. in die 4. Stufe lung von historischen Quellen nur spekulativ - aus der Anordnung der versetzt): Die Zeichnung Techniken herauslesen kann, so dass von einer willkürlichen Zusam- aus dem Jahr 1915 zeigt die Ausgangssituation für menstellung kaum die Rede sein kann. Sumi-gaeshi in der Nage- Letztlich begibt man sich aber immer in das Reich der Spekulationen, no-Kata und stammt aus der ältesten bekannten wenn man versucht, ohne verlässliche Quellen - und die gibt es nun Beschreibung dieser einmal nicht - eine Begründung für die damals festgelegte Anordnung Kata überhaupt (von Y. YAMASHITA, H. NAGAOKA, K. MURAKAMI)