JUDO Grundwissen der Geschichte des Kōdōkan-Jūdō in Japan von Wolfgang Dax-Romswinkel Teil 1: Koryū-Bugei: die klassischen Kriegskünste Japans JIGORō KANō hat mit seinen Schülern und Mitarbeitern ab 1882 das Kōdōkan-Jūdō entwickelt. Die Wurzeln des Kōdōkan-Jūdō liegen in den klassischen japanischen Kriegskünsten, den so genannten koryū-bugei, die über Jahrhunderte entwickelt und ver- feinert worden waren. Weil Kenntnisse über die koryū-bugei beim Verständnis der Jūdōgeschichte und des Jūdō hilfreich sind, sollen zu Beginn dieser Artikelreihe ihre wichtigsten Eigenheiten, ihr Aufstieg und ihr Niedergang im Kontext der geschicht- lichen Ereignisse skizziert werden. Naturgemäß kann die Darstellung in diesem Rahmen allerdings nur sehr komprimiert und verallgemeinernd sein. Für ein vertiefendes Studium muss daher auf separate Fachliteratur zurückgegriffen werden. Historischer Kontext Konsequent sicherte das Gerber, Totengräber, Henker z.B. kenjutsu (Schwertkampf), Shōgunat seine Macht ab und oder Prostituierte. kyūjutsu (Bogenschießen), Wie alle anderen Länder der Japan erlebte eine rund 250-jäh- Die Samurai stellten etwa bōjutsu (Kämpfen mit dem Erde hat auch Japan eine von rige relativ friedliche Periode. 5 % der Bevölkerung und Langstock) aber auch Schwim- Kriegen gezeichnete Geschich- Strikte Kontrolle der Ein- und nahmen in der Regel Verwal- men und weitere Disziplinen te. Vor allem im 15. und 16. Ausreise nach Japan und des tungsaufgaben - ähnlich unseren gehörten. Jūjutsu, das alternativ Jahrhundert gab es viele interne Handels mit ausländischen heutigen Beamten - wahr. Die z.B. auch yawara oder tai-jutsu Machtkämpfe zwischen weitge- Mächten führten zu einer Zugehörigkeit zu einem Stand genannt wurde, war eine dieser hend autonomen Territorien, da sehr starken Abschottung des hatte übrigens nicht unbe- Formen. Es bezeichnete in der es keine starke Zentralregierung Inselreiches. Zahlreiche Gesetze dingt etwas mit persönlichem Regel das Kämpfen ohne oder mehr gab. Man nennt einen Teil und die Ständegesellschaft nach Wohlstand zu tun. Es gab z.B. nur mit leichten Waffen gegen dieser Zeit nicht umsonst die konfuzianischer Lehre bestimm- verarmte samurai genauso wie einen unbewaffneten oder einen „Zeit der streitenden Reiche“ ten die Staatsordnung. reiche Händler. bewaffneten Gegner. Jūjutsu (Sengoku-Periode, 1477 bis diente in erster Linie als Ergän- 1573). Die Ständeordnung der Entwicklung und Systema- zung zum Waffenkampf, insbe- In der Schlacht von Seki- Edo-Zeit tisierung der Kampfkünste sondere zum Schwertkampf. gahara konnte IEYASU TOKUGA- durch die ryū-ha Das Spektrum der Tech- WA im Jahr 1600 die militä- Der gesellschaftliche Stand niken ohne Waffen umfasste rische Vorherrschaft in Japan eines Menschen hing nicht Während der Jahrhun- Wurftechniken, Gelenkhebel erkämpfen. Er ließ sich vom von seinen Leistungen oder derte, in denen Kriege geführt aller Art (auch an Genick, Kaiser (jap. tennō) mit allen seiner Ausbildung ab, son- wurden, entwickelten sich Händen, Fingern, Beinen und Machtbefugnissen ausstatten dern praktisch allein von der zahlreiche Formen des Kampfes Füßen), Würgetechniken sowie und 1603 zum shōgun ernen- Herkunft. An der Spitze standen mit und ohne Waffen, aber Schläge, Stöße und Tritte. nen. Die Hauptstadt wurde von das Kaiserhaus, der Tokugawa- erst ab Mitte des 16. Jahrhun- Würfe waren oftmals mit Kyōto nach Edo (dem früheren Clan und die etwa 260 Fürsten derts wurden diese zunehmend Hebeln oder Schlägen/Stößen Namen von Tōkyō) verlegt, (jap. „daimyō“). Es folgte der formalisiert und durch die gekoppelt und hatten nicht weswegen die nachfolgende Kriegerstand, die samurai, ryū-ha strukturiert überliefert. unbedingt das Ziel, den Gegner Periode auch Edo-Zeit (1603 bis denen als einzige erlaubt war Eine ryū ist eine Schule oder in auf den Rücken zu werfen, 1868) genannt wird. Da wäh- Schwerter zu tragen. Geordnet etwas anderer Übersetzung ein denn auf dem Schlachtfeld war rend dieser gesamten Zeit die nach Leistung für die Produk- Stil, ha bezeichnet einen Zweig das Ausschalten des Gegners Tokugawa-Familie den Shōgun tion lebensnotwendiger Güter, oder eine Linie. Die ryū-ha sind wichtiger als ihn kontrolliert zu stellte, nennt man die Zeit auch kamen danach die Bauern, die also die Stile/Schulen und ihre werfen. Eine Besonderheit war das „Tokugawa-Shōgunat“. Handwerker und als niedrigs- Zweige. der Nahkampf in Rüstungen, Der tennō war zwar offiziell ter Stand die Händler. Noch Insgesamt lassen sich das yoroi-kumi-uchi, das z.B. in Staatsoberhaupt, faktisch aber darunter waren Menschen mit 18 Hauptformen der Krieg- der Kitō-ryū gelehrt wurde. nur noch auf repräsentative Berufen, die nach buddhisti- künste unterscheiden, die Aufgaben beschränkt. scher Lehre unrein waren wie bugei-jūhappan, zu denen Abwehr eines Faust- schlages in der Takenouchi-ryū (aus Daigo T., Wurf- techniken des Kōdōkan Jūdō, S. 30-31) 28 5/2010 der budoka JUDO Gründung der Schulen das für die Weitergabe der Die Kampfkünste sollten - das „Innere“ - ihrer Kunst Lehre verantwortlich war und neben praktischen Fertigkeiten möglichst geheim zu halten, um Die Umstände, die zur auch den Nachfolger bestimm- des Kämpfens auch mentale nicht im Kampf gegen Vertreter Gründung der einzelnen Schu- te. Die Unverfälschtheit der Fähigkeiten und charakterliche anderer ryū einen Nachteil zu len geführt haben, sind oft mit Lehre legitimierte sich über eine Stärke vermitteln, womit den haben. Legenden verbunden und die ungebrochene Linie („Traditi- koryū-bugei auch ein erheb- Bevor ein Schüler ange- Grenze zwischen Dichtung und onslinie“ oder „Übertragungs- licher erzieherischer Wert nommen und in die Kunst ein- Wahrheit ist vielfach nicht mehr linie“) bis zum Gründer der zukam. geweiht wurde, musste er einen auszumachen. Das Spektrum Schule. Wurde von der Lehre Eid leisten, dass er die Geheim- reicht von Mythen - z.B. einer abgewichen, wurde sie ergänzt Die Stufen der Ausbildung nisse der jeweiligen Schule göttlichen Eingebung auf einer oder mit Lehren anderer ryū und das Lizenzierungssystem nicht nach außen tragen und einsamen Wanderschaft - über vermischt, so bedeutete dies (menkyo) dass er die Kunst nicht ohne das Beobachten eines Weiden- in der Regel den Beginn eines Erlaubnis unterrichten wird. baums im Sturm, der flexibel neuen Zweiges (ha) oder sogar Die Schüler wurden Manche Schüler, die uchi-deshi nachgibt und deshalb nicht die Gründung einer neuen ryū. schrittweise und systematisch oder „inneren Schüler“, lebten knickt, bis hin zum legendär- in verschiedene Lernstufen im Haus des Meisters. Die soto- en chinesischen Einwanderer Kata, densho und kuden: das eingeführt. Die Lerninhalte deshi („äußere Schüler“) kamen namens GEMPIN, der im 17. Curriculum einer ryū waren zu diesem Zweck je nur zum Unterricht ins dōjō. In Jahrhundert chinesische Kampf- nach Schule in Stufen wie z.B. der Praxis bedeutete dies oft, formen nach Japan mitgebracht Das technische Programm Grundlagen (shoden), fortge- aber nicht zwingend, dass nur haben soll. war in den kata der ryū forma- schrittene Techniken (chūden) besonders geeignete Schüler Als eine der ältesten heute lisiert. Sie sicherten eine weit- und „innere“ oder „geheime“ uchi-deshi werden konnten und noch existierenden Schulen, die gehend unverfälschte Überlie- Techniken (okuden) eingeteilt. diese aufgrund der ständi- jūjutsu gelehrt hat und noch tut, ferung der Techniken von einer Darüber hinaus gab es wie oben gen Nähe zum Meister eine wird immer wieder die 1532 Generation zur nächsten. In den erwähnt noch die letzte und intensivere Betreuung erfahren gegründete Takenouchi-ryū kata spiegelte sich das Wesen höchste Stufe, das kuden, die konnten als die soto-deshi. genannt. Wichtige Schulen für der jeweiligen Schule wieder mündlichen Lehren, die über Das Rangsystem und die die Entstehung des Kōdōkan- und sie prägten wesentlich die die okuden hinaus gehende schrittweise Einführung in die Jūdō sind Kitō-ryū und Tenjin- Identität der Schule. Kata waren Erklärungen enthielten. Lehrinhalte einer ryū, die erst shin’yō-ryū, die JIGORō KANō also unter anderem auch zum Analog dem Ausbildungs- am Ende der Ausbildung die jeweils gelernt hat. Weitere Zwecke der Überlieferung ge- stand gab es für Schüler wesentlichen Prinzipien und bekannte Schulen sind z.B. nau festgelegt und ein präzises verschiedene formale Ränge Zusammenhänge erkennen Yōshin-ryū oder Sekiguchi-ryū. Üben war Voraussetzung für in meistens fünf Stufen, das ließen, sorgte dafür, dass nur Die meisten Schulen entstanden den Fortbestand der Lehre über sogenannte menkyo-System loyale Schüler zu wirklichen während der Edo-Zeit durch Generationen. (von jap. menkyo=Lizenz, Er- Experten heranreifen konnten. eine Synthese verschiedener Neben den kata gab es die laubnis). Je nach Rang wurden bereits existierender Schulen. schriftliche und die mündliche die Schüler unterschiedlich tief Der Niedergang des samurai- Insgesamt wurden mehrere hun- Überlieferung. Jede Schule in die Techniken, Prinzipien Standes und der koryū-bugei dert - einige Quellen sprechen hatte Schriftrollen (jap. densho), und Geheimnisse der Schule von bis zu 2.000 - verschiedene in denen z.B. das technische eingeweiht. Die höchste Stufe, Der Niedergang der koryū- Schulen während der Edo-Zeit Programm, wichtige Prinzipien, das menkyo-kaiden, wurde nach bugei wurde eingeleitet, als der gezählt. Verhaltensregeln und die der Übermittlung der kuden amerikanische Commodore Per- Später nannte man die Geschichte der Schule nieder- erreicht. Es war die Bestäti- ry 1853 mit vier Kriegsschiffen bis zum
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