Geographica Helvetica 1976 - Nr. 2 CA. Burga

Frühe menschliche Spuren in der subalpinen Stufe des Hinterrheins

Ur- und frühgeschichtliche Funde in Form von gadin). Im 6. vorchristlichen Jahrhundert erfolg¬ Siedlungsplätzen, Grabfeldern, Einzelgräbern te von Osten der Zustrom des eisen zeitlichen mit und ohne Beigaben, Streufunden und Scha¬ Rätervolkes ins Rheingebiet und Engadin so¬ lensteinen in Alt Fry Rätien geben unter ande¬ wie die Kelteninvasion vom Tessin ins Misox rem Auskunft über die Erstbesiedlung der Al¬ nordwärts bis ins Bündner Oberland. Im Rah¬ pentäler durch den Menschen. W. BURKARThat men einer Diplomarbeit am Geographischen In¬ zur Erhellung der Ur- und Frühgeschichte Rä- stitut der Universität Zürich lieferte eine tiens durch Deutung und Sicherstellung zum zwecks Datierung von spätglazialen Moränen¬ Vorschein gekommener Funde sowie durch Gra¬ wällen am Lai da Vons (1991 m) durchgeführte bungsarbeiten ganz wesentliche Beiträge von Pollenanalyse überraschenderweise auch Hin¬ internationalem Rang geleistet. Im Zuge des weise zur ersten menschlichen Besiedlung des Nationalstrassenbaus wurden besonders in der Hinterrheingebiets, die nun im folgenden näher Mesolcina weitere ur- und frühgeschichtliche beschrieben und gedeutet werden sollen. Im Funde getätigt (ERB & SCHWARZ 1969). *) Aus Pollendiagramm des Lai da Vons treten die er¬ der Jungsteinzeit sind im und Rhein- sten menschlichen Spuren in etwa 140 cm Tiefe wald bisher keine Funde gemacht worden. Auf auf im Jüngeren Atlantikum (Pollenzone VII), dem Petrushügel bei Cazis wurde 1930 von also zu Beginn der Jungsteinzeit um 2820 v. BTJRKART die einzige neolithische Siedlung im Chr. (vgl. Abb. 2). Hier erreicht die Getreide¬ Kt. Graubünden entdeckt. *) Es handelt sich hier kurve mit 4% ein erstes Maximum (festgestellt um eine befestigte Höhensiedlung von etwa wurden u. a. Pollen von Roggen) bei 84% Nicht¬ 2000 v. Chr., deren Bewohner Jagd, Viehzucht baumpollen. Erstmals treten Holzkohlestück¬ und Feldbau sowie Handel mit Steinbeilen und chen auf. Der Spitzwegerich, der "Fusstritt -Meissein längs des Rheins betrieben (ERB & des Weissen Mannes", ein besonders für Nord¬ SCHWARZ 1969, TSCHUMI O., 1947). Gräberfel¬ europa herangezogener Kulturzeiger, setzt der und Einzelbestattungsplätze in , Do¬ wenig tiefer bei 155 cm ein. In 150 cm Tiefe natz, Lohn, Mathon, Wergenstein, Patzen, Zillis, fand sich zudem ein nicht näher bestimmbares und Bärenburg sowie das frühbronze- Getreidekorn. Funde von Pollenkörnern des zeitliche Kuppelgrab von Donath, dem ältesten Leins, die erstmals in 170 cm auftreten, wer¬ bronzezeitlichen Fund Graubündens, lassen auf den ebenfalls in 150 cm Tiefe häufiger. Der eine frühbronzezeitliche Besiedlung des Schams Lichtungszeiger Selaginella Selaginoides schliessen, während das obere Hinterrheinge¬ (Moosfarn) steigt an auf Werte von über 100% biet bis zu Beginn der Römerzeit nur Durch¬ der Pollensumme I. Rodungszeiger, wie zun- zugsland war (ERB & SCHWARZ, 1919, MANI B. gen-und röhrenblütige Körbchenblütler, Wege¬ 1958). rich sowie alle Farnsporen-Kurven steigen Als mittelbronzezeitlich werden Funde eines synchron mit deutlichem Knick an (Aus Abb. 2 Beiles bei -Bad bei Andeer, einer etwas nicht ersichtlich, da nur das Hauptdiagramm jüngeren Schmucknadel in der Nähe des Lai da des Postglazials hier abgebildet ist. Vollstän¬ Vons und zweier Waffen bei Splügen bezeichnet diges Diagramm in:BURGA C. A. 1975, unver¬ (ERB & SCHWARZ, 1969). Aus der Aelteren Ei¬ öffentlichtes Manuskript Universität Zürich). senzeit fehlen zwischen der Via Mala und San Zudem tritt in ca. 140 cm Tiefe eine sandige Bernadino jegliche Spuren. Jungeisenzeitliche Torflage auf, die auf verstärkte Erosion wäh¬ Funde wurden im Schams und im ge¬ rend einer Rodungstätigkeit hindeuten kann. macht (ERB & SCHWARZ, 1969). (Vgl. Abb. 1) Der Nichtbaumpollengipfel in 142 cm Tiefe wur¬ de mit 4770 + 90 Jahre vor heute radiomet¬ Nach der von W. BURKART (1953) Darstellung risch datiert. drangen um 2000 v. Chr. erstmals Menschen vom Rheintal hinauf nach Rätien. Um 1700 v.Chr. fand die Einwanderung der frühbronzezeitlichai C. A. Burga, dipl. nat. Assistent an der Bota¬ Menschen aus dem Donauraum in einige Alpen¬ nischen Anstalt der Universität Basel, Schön- täler Bündens statt (Lugnez, Oberhalbstein, En¬ beinstr. 6, 4056 Basel.

93 Abb. 1: Ur-undfrühgeschichüiche Fundstellen irnDornleschg, Schams, Rheinwald und Misox sowie frühgeschichtliche Routen von Chur bis nach Mesocco (Stand 1975) (Zusammengestellt nach BURKART W. (1953), CAMINADA C. (o. J.), ERB H. und SCHWARZ G. T. (1969), MANI B. (1958) und Bündnerzeitung vom 31. Januar 1975)

Chur Ortschaften / Lokalitäten hui 1 Felsberg 2 2 Domat / Ems 3 Vogelsang 4 Reichenau / Tamins 5 Cazis 6 Präz 7 8 Urmein ¦° « 9 Hohenrätien *«?} 10 Carschenna n^ 11 Summapunt 12 Via Mala / 13 Donath *¦ BW 14 Andeer 15 Roffla ii m 16 Splügenpass 17 18 San Bernardino 19 Mesocco O/H N 20 Soazza 21 Cabbiolo L«'dJ/iV

G Grabstein mit lepontischer ~X Inschrift H 3Ä Höhle Zeichen- und Schalenstein Ur- und frühgeschichtliche Routen, z. T. römerzeit¬ lich begangen 9 km Römische Strassen und Wege, z. T. noch fraglich

94 Abb. 2: LAI DA VONS (GR) 1991m KMrd74«3o/«t2« ¦O Z 2. w Hauptdiagramm ps i-ioo\(ohn.cyP.r«c«». pi.-idophyt» 3 I ~? -I D 1 und Wnierpf Unzen) £ 5 s3 S I f 1

S

" ' i 1 1 111 um 11 I I HAUPTDIAGRAMM r^X l?E Pinus Castanea

84 7 Picea Q25 Juglans X Abies J Betula

| 5 VJOM ±B5_-9_£ EMW

2002 STRATIGRAPHIE

VI 500 0.75 Braunmoos mit Seggenwurzeln rrm i'i'i'i11 Seggenwurzeln mit Braunmoos 931 Seggenwurzeln mit Wollgras Seggenwurzeln mit Braunmoos ra und Wollgras 832 Kalkmudde mit Erbsenmuscheln 842 125 ^_ ^» Seekreide VI Blaugrauer bzw. gelbgrauer Ton m Holikohl r.T ^ 802 Blaugrauer Ton hell marmoriert 982 O O ^ Sand 2000(tt- 60j" < 64 63 0000 Silt.Ton < 60/" 1039 < 5 mm > > eckige Steinchen < 12mm J Ca Karbonat

IttS weisse und schwarze Kalke weisse, graue und gelbe Dolomite 1093 Grünschiefer Kluftquarz I

Corylum Gritiiiw ClHlNl übrig« NBP

95 Alle diese Indizien drängen zur Frage, ob nicht ren als bisher geglaubten Auftreten des Men¬ schon früher als bisher angenommen im Schams schen im Schams und vorderen Rheinwald ge¬ und vorderen Rheinwald möglicherweise jung¬ rechnet werden darf. Freilich muss dieser steinzeitliche Menschen, wenn auch nur saiso¬ Befund durch weitere Funde im Hinterrhein¬ nal, hausten. Die Holzkohlenfunde allein würden gebiet gestützt und bestätigt werden. kaum einen solchen Schluss erlauben, da be¬ kanntlich ausser dem Menschen auch der Blitz¬ LITERATUR: schlag Feuer entfachen kann. Jedoch treffen Bertogg H. 1943 Aus der Welt des rätischen hier mehrere Hinweise verschiedenartige zu¬ Heidentums in:Bündner Ka¬ sammen, die wohl eine Annahme früherer Be¬ lender 1943, S. 8-16 siedlung, wenn auch nur zur warmen Jahres¬ zeit, als berechtigt erscheinen lässt. Burga C. A. 1975 Spätglaziale Gletscherstän¬ Vorliegende Holzkohlenfunde könnten auch in de im Schams. Eine glazial¬ Zusammenhang mit Opferhandlungen an den morphologisch-pollenanaly- Quellen des Lai da Vons gebracht werden, zu¬ thische Untersuchung am mal der See an der alten TJmgehungsroute west¬ Lai da Vons (GR). Unveröff. lich der RofflaSchlucht liegt. C. CAMINADA (o. Manuskript Univ. Zürich. J. weist auf diese Form des Wasserkultus Burkart W. 1942 Das Kuppelgrab bei Donath hin, der sicher bis in die Bronzezeit zurückrei¬ Bündner Monatsblatt Dez. chen soll, wie bronzene von St. Mo¬ Votivgaben 1942. ritz, Ruis und Parpan (BERTOGG H. 1943)dies bezeugen. Es ist also wohl mehr als Zufall, 1953 Die urgeschichtliche Besied¬ dass bei Quellenfassungen und bei Wasserläu¬ lung Alträtiens. Bündner fen Bronzebeile gefunden wurden, so bei Ilanz- Schulbl. Jg.l3,Nr.2,S.67-107 St. Martin, in Pignia-Bad bei Andeer, oberhalb Bündner 1975 Nationalstrasse auf stem- Parpan und in St. Moritz (CAMINADA o. J.,ERB Zeitung zeitlichem Niveau (31.1. 75) H.briefl. Mitt. 1975). CaminadaC.o.J. Die verzauberten Täler.Die "Aber noch kann die umfassende, kritische Ur- urgeschichtlichen Kulte und und dieses alpinen Transitlan¬ Frühgeschichte Bräuche im alten Rätien. des nicht geschrieben werden"bemerkt ERB H. (1969), und viele alte Siedlungsplätze harren Decurtins C.1896 Rätoromanische Chrestoma- noch ihrer Entdeckung (BURKART W. 1953). bis 1919 thie 13 Bde. Dazu gehört auch die Deutung des geheimnis¬ Erb H. 1975 Briefliche Mitteilung vollen Kreises der Zeichen- und Schalensteine aus dem Bergeil, Prättigau, Hinterrheintal, Vor¬ Erb H. & Die San Bernardinoroute derrheingebiet und Misox, die mit Blutopfern Schwarz G.T von der Luzisteig bis in die und alten Sagen (BERTOGG H. 1943), Harz - und Mesolcina in ur- und frühge¬ Butterlichter sowie Astronomie (Kalenderstei- schichtlicher Zeit. Schriften¬ ne)(CAMINADA C. o. J. in Zusammenhang ge¬ reihe des Rhätischen Muse¬ bracht werden. ums Chur, Heft 5. Hinweise geben auch rätoro - Urgeschichtliche Mani B. 1958 Heimatbuch Schams. manische Sagen und Märchen, Sprichwörter und Anordnungen aus der Volksmedizin, die in be¬ Tschumi O. 1947 Urgeschichte der Schweiz wundernswerter Weise von DECURTINS C. Bd.l (1896 bis 1919, 13 Bde. in seiner Rätoromani¬ ANMERKUNG *fc Die bis jetzt älteste prähist. schen Chrestomathie gesammelt wurden, sowie Siedlung in GR wurde 1975 während des Natio- die Deutung von Flurnamen und Ortsbezeich¬ nalstrassenbaus im Castello Mesocco (Mesoc¬ nungen. co) entdeckt. Sie wird mit etwa 5000 Jahren vor Abschliessend sei festgehalten, dass aufgrund Chr. datiert, also Uebergang von der mittleren der oben dargelegten Fakten mit einem frühe¬ zur jüngeren Steinzeit. (BZ, Jan. 1975)

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