Günther Högl, Karl-Peter Ellerbrock (Hg.)

Die 1920er Jahre zwischen Moderne und Krise

Sonderausgabe der Zeitschrift „Heimat Dortmund“ (Doppelheft 1+2/2012) im Auftrag des Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark e. V. in Verbindung mit dem Stadtarchiv Dortmund Heimat Dortmund Editorial | 5

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

unsere erste Ausgabe der Heimat Dortmund im Jahr Wirtschaftsarchivs, bedanken, die auch als Autoren zum 2012 erscheint als Doppelheft in Buchform, um dem Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben. Mein starken Umfang gerecht zu werden. Dank gilt auch allen weiteren Autorinnen und Autoren Die Herausgeber stellen in diesem Band ein breites, sowie Mitarbeitern aus Archiven, Universitäten, Fach- spannendes Themenspektrum vor, das neben bereits Be- hochschulen, Museen und städtischen Kultureinrich- kanntem auch neuere Forschungsergebnisse und -ansät- tungen. In meinen Dank schließe ich gerne auch alle ze umfasst. Der Band kann wichtige Impulse für eine sonstigen mitwirkenden Historiker/Innen, darunter interdisziplinäre Geschichte der „Moderne“ in Dort- zahlreiche Vorstandsmitglieder des Historischen Ver- mund geben. eins, mit ein, die sich tatkräftig an diesem Projekt betei- In den mythisierten „goldenen“ 1920er Jahren offen- ligt haben. barte auch die Arbeiter- und Industriestadt Dortmund Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich viele zahlreiche innovative Ansätze in der Entwicklung hin neue Erkenntnisse und Entdeckungen bei der Lektüre zur großstädtischen Infrastruktur und entfachte gerade- des breit gefächerten Panoramas der Kultur- und Sozial- zu einen Kulturboom, der für Westfalen und das Ruhr- geschichte Dortmunds in den spannenden 1920er Jahren. gebiet eine Leit- und Vorbildfunktion besaß. Die Auto- rinnen und Autoren dieses Bandes haben viel Neues, Verschüttetes und auch Verlorengeglaubtes zwischen Krieg, Revolution, Inflation und Krise zutage gefördert. Für die inhaltliche Gesamtkonzeption dieser Publika- tion möchte ich mich ganz besonders bei Herrn Dr. Adolf Miksch Günther Högl, Direktor des Stadtarchivs, und Herrn Vorsitzender des Historischen Vereins Dr. Karl-Peter Ellerbrock, Direktor des Westfälischen für Dortmund und die Grafschaft Mark

Impressum

HEIMAT DORTMUND Stadtgeschichte in Bildern und Berichten

Herausgeber: Historischer Verein für Dortmund und die Grafschaft Mark e. V. unter Mitwirkung des Stadtarchivs Geschäftsstelle: Christel Glasen, Märkische Str. 14, Zim. 407, Tel.: 0231/50-23690; Fax: 0231/50-26011 Inhaltliche Gesamtkonzeption, Koordinierung, Text- und Bildredaktion: Dr. Günther Högl, Dr. Karl-Peter Ellerbrock Realisation: Achim Nöllenheidt, Klartext Verlag Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen Gesamtherstellung: Klartext Verlag, Essen Die Zeitschrift erscheint dreimal jährlich. Das Einzelheft kostet € 5,00; das Jahresabonnement € 15,00 inkl. Versandkosten.

© Klartext Verlag, Essen 2012 ISBN 978-3-8375-0722-5 ISSN 0932-9757

Umschlagbild vorne: Ausschnitt eines von Max Aurich gestalteten Plakats mit dem Titel „Die alte Stadt im neuen Kleid“. Hinter der Reinoldikirche als Symbol des historischen Dortmund tauchen mit dem Westfalenhaus, dem Lagerhaus der Union-Brauerei und dem Wasserturm am Südbahnhof die architektonischen Zeugen einer neuen Zeit auf.

Umschlagbild hinten: Familienidylle vor der Industriekulisse der Dortmunder Union, um 1928. Aus dem fotografischen Nachlass von Erich Grisar (Stadtarchiv Dortmund) 6 | Inhalt Heimat Dortmund Heimat Dortmund Inhalt | 7

Fotomontage als Beispiel für das moderne Dortmund: Pädagogische Akademie und Arbeitsphysiologisches Institut (oben) und Westfalenhauskomplex (unten) Westfalenhalle, um 1930 (Stadtarchiv Dortmund) (aus: Das ist Dortmund, hg. vom Städtischen Verkehrs- und Presseamt Dortmund, o. J.)

5 | Editorial Hans Bohrmann Christian Kleinschmidt Gabriele Toepser-Ziegert 41 | Die Dortmunder Presse der 1920er Jahre 82 | Das „Deutsche Institut für technische 121 | Als Dortmund auf dem Weg zur Weltstadt war 8 | Autorinnen und Autoren Arbeitsschulung“ (Dinta) Der Pressezeichner Emil Stumpp beim Klaus Winter „Menschenökonomie“ und Werksgemeinschaft Dortmunder General-Anzeiger 1926–1933 9 | Dr. Günther Högl zum 65. Geburtstag 46 | Von der „Kieltante“ in den 1920er Jahren Erinnerungen an die „Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung“ Ulrike Gärtner Jochen Guckes Karl-Peter Ellerbrock 127 | lichtblicke 10 | „Aufstieg zur Großstadt“ Theo Horstmann 87 | Die Weltwirtschaftskrise von 1929: Theater und Avantgarde in Dortmund Wie Dortmunds Bürgertum die Zukunft der Stadt sah 50 | Plakate für Kommerz und Politik ein Wendepunkt in der Dortmunder Plakatkünstler in den 1920er Jahren deutschen Geschichte Hanneliese Palm Renate Kastorff-Viehmann 131 | Arbeitertheater in Dortmund 17 | „Vier Städte“ Karl-Peter Ellerbrock Günther Högl Bildung, Unterhaltung und Agitation Provinzstadt und moderne Großstadt, halbländische 57 | Die Gründung des Dortmunder Flughafens im 92 | Die Troika der Massenkultur industrielle Region und moderne Industriestadt – Spannungsfeld regionaler Interessensgegensätze Der Dortmunder Volkspark: Westfalenhalle – Ingo Grabowsky das alles war Dortmund! Stadion Rote Erde – Volksbad 137 | Kesse Nuditäten und philosophische Revuen Nancy Bodden Musik und Vergnügen im Dortmund der 1920er Jahre Peter Kroos 64 | Kraftwagen und Flaschenbier Hermann Josef Bausch 26 | großstadtarchitektur für Dortmund Neue Herausforderungen für die 99 | „Kommunismus der Kunst“ und Olge Dommer Das neue Gebäude der AOK am Königswall als Beispiel Dortmunder Brauwirtschaft „die Pflege des Guten im Menschen“ 143 | Paläste der Zerstreuung Das Engagement des Freidenkers und Pazifisten Kino und Urbanität im Dortmund der 1920er Jahre Matthias Dudde Matthias Dudde Lothar Engelberg Schücking für das Kulturleben 28 | Personalpolitik in der jungen Demokratie 69 | Kraftstoffe für Automobile in Dortmund Andrea Zupancic Die besoldeten Magistratsmitglieder in Dortmund 1918–1932 Zapf- und Tankstellen während der Motorisierung 148 | Erich Grisar – Fotografie in den G„ oldenen Zwanzigern“ in den 1920er Jahren Alois Klotzbücher Günther Högl 108 | literarisches Leben liberal-sozial: Brigitte Buberl 33 | Parteien und Kommunalpolitik zwischen Revolution, Gabriele Unverferth Dortmund in den 1920er Jahren 153 | So viele Bilder – soviel Kunst? Inflation und Wirtschaftskrise 1919–1929 75 | Zwischen Krieg und Krise Dortmunder Künstler der 1920er Jahre Die Stadtverordnetenwahlen und das politische Gefüge Rationalisierung und Mechanisierung Karl Lauschke in Dortmund im Dortmunder Bergbau 114 | literatur über die Ruhrprovinz 160 | Neue Literatur zur Dortmunder Stadtgeschichte 8 | Autorinnen und Autoren Heimat Dortmund Heimat Dortmund Dr. Günther Högl zum 65. Geburtstag | 9

Autorinnen und Autoren Dr. Günther Högl zum 65. Geburtstag

Hermann Josef Bausch Prof. Dr. Renate Kastorff-Viehmann Der vorliegende Band setzt die über viele Jahre gewach- Amt verbunden, auch Geschäftsführer des Historischen Diplom-Archivar, Stadtarchiv Dortmund Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Architektur sene vertrauensvolle Zusammenarbeit mit einem in dieser Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark. Zeit auch zum Freund gewordenen Kollegen erfolgreich Ich selbst arbeite seit 1989, als ich zunächst die Leitung Nancy Bodden Prof. Dr. Christian Kleinschmidt fort. Günther Högl hat seine akademische Heimat an der des Hoesch-Archivs und seit 1996 des Westfälischen wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stiftung Philipps-Universität Marburg, Lehrstuhl für Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, wo er 1982 Wirtschaftsarchivs übernahm, mit Günther Högl eng Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund Wirtschafts- und Sozialgeschichte bei Prof. Gerhard A. Ritter mit dem Thema „Gewerk- zusammen. Wir können auf eine Vielzahl gemeinsamer schaften und USPD. Ein Beitrag zur Geschichte der Projekte zurückblicken, in denen sich politische, wirt- Dr. Hans Bohrmann Dr. Alois Klotzbücher deutschen Arbeiterbewegung unter besonderer Berück- schafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen ehem. Direktor des Instituts für Zeitungsforschung, Leiter der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund sichtigung des deutschen Metallarbeiter-, Textilarbeiter- in nahezu idealer Weise ergänzten; erinnert sei nur an die Prof. am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Ruhestand und Schuhmacherverbandes“ promovierte. Im August Publikation zum 100-jährigen Bestehen des Dortmunder Dr. Brigitte Buberl Dr. Peter Kroos 1978 kam Günther Högl nach Dortmund und übernahm Hafens und die erste systematische Beschäftigung mit Kunsthistorikerin, Museum für Kunst und Architekt Mitglied im Vorstand des die wissenschaftliche Leitung des Forschungs- und Aus- der westfälischen Luftfahrtgeschichte anlässlich des Kulturgeschichte, Dortmund BDA Dortmund-Hamm-Unna stellungsprojekts „Widerstand und Verfolgung in Dort- 75-jährigen Bestehens des Flughafens Dortmund. mund 1933–1945“, das vom Stadtarchiv Dortmund in Günther Högl hat sich in besonderer Weise um die Olge Dommer, M.A. PD Dr. Karl Lauschke enger Kooperation mit Prof. Hans Mommsen von der Dortmunder Stadtgeschichte verdient gemacht, davon Kunsthistorikerin, wissenschaftliche Referentin am LWL- TU Dortmund, Historisches Institut Ruhr-Universität Bochum initiiert wurde. Die Ausstel- zeugt nicht zuletzt die vorliegende Publikation, an der Industriemuseum, Referat Sammlung, Dortmund lung wurde zunächst im Dortmunder Stadthaus gezeigt, sich über 20 Fachkollegen beteiligt haben. Ihre Beiträge Hanneliese Palm zwischen 1989 und 1992 neu konzipiert und in das nach sind allesamt Ausdruck der persönlichen Wertschätzung Matthias Dudde Leiterin des Fritz-Hüser-Instituts für Literatur Auflagen der Denkmalbehörde renovierte und restaurier- des scheidenden Stadtarchivdirektors. Freiberuflicher Historiker, Dortmund und Kultur der Arbeitswelt, Dortmund te ehemalige Polizeigefängnis Steinwache eingebracht, seit Herbst 1992 Mahn- und Gedenkstätte und noch Dr. Karl-Peter Ellerbrock Petra Skromny heute wichtiger Erinnerungsort an die nationalsozialisti- Dortmund, im März 2012 Direktor der Stiftung Westfälisches Bibliothekarin des Stadtarchivs Dortmund sche Schreckensherrschaft in Dortmund. Bevor Günther Wirtschaftsarchiv, Dortmund Dr. Gabriele Toepser-Ziegert Högl 1987 zum stellvertretenden Leiter des Stadtarchivs Dr. Ulrike Gärtner Leiterin des Instituts für Zeitungsforschung Dortmund und 1992 zum wissenschaftlichen Leiter der Kunsthistorikerin, Dortmund der Stadt Dortmund Mahn- und Gedenkstätte Steinwache in Dortmund berufen wurde, leitete er das Projekt „Dortmund im Dr. Ingo Grabowsky Gabriele Unverferth Wiederaufbau 1945–1960“. Seit 1995 ist Günther Högl Dr. Karl-Peter Ellerbrock wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lotman-Instituts wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stiftung Direktor des Dortmunder Stadtarchivs und, mit diesem Direktor der Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv der Ruhr-Universität-Bochum Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund

Dr. Jochen Guckes Klaus Winter Historiker, Historiker, Dortmund

Dr. Günther Högl Dr. Andrea Zupancic Direktor des Stadtarchivs Dortmund Kunsthistorikerin, Stadtarchiv Dortmund

Dr. Theo Horstmann Historiker, Dortmund 10 | „Aufstieg zur Großstadt“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund „Aufstieg zur Großstadt“ | 11 „Aufstieg zur Großstadt“ Wie Dortmunds Bürgertum die Zukunft der Stadt sah

von Jochen Guckes

Die 1920er Jahre waren nicht nur die „Goldenen Zwanziger“ – für viele Zeitge- nossen waren sie auch eine Zeit der Krisen und Umbrüche, mit unübersehbar vielen Neuerungen, die Angst machten oder zu- mindest verunsicherten. Das Symbol die- ser „modernen Zeiten“ war die Großstadt. Eine häufige Reaktion der Zeitgenossen war daher die Flucht in eine ausgespro- chene Großstadtfeindschaft. Vor allem im deutschen (Bildungs-)Bürgertum hatten solche kulturkritischen Einstellungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an Ein- fluss gewonnen. Da diese damals relativ kleine soziale Gruppe weit mehr als ande- re mit Deutungs- und Selbstdeutungsfra- gen beschäftigt war, besaß sie eine enorme gesellschaftliche Bedeutung, die über ihre zahlenmäßige Größe weit hinausging. Das galt auch in Dortmund. Und auch in Dortmund gab es Bildungsbürger, die die vermeintlichen Auswüchse der Moderne bekämpfen wollten. Ein steingewordenes Beispiel für diese Haltung stellt das Stadi- on Rote Erde dar. Es sollte nicht etwa eine Kulturkritik in Stein: Westeingang der Kampfbahn Rote Erde (Stadtarchiv Dortmund) bloße Sportanlage mit Zuschauerrängen sein, sondern vielmehr eine „Kampfbahn“ im emphatischen Sinne. Anders als bei den Sechstagerennen, die kurze Zeit spä- ter in der neuen Westfalenhalle als Ver- gnügungsevents zu Kassenschlagern wer- nieder. In einer Vorstellung seines Werkes vom Eisen- und Stahlwerk Hoesch gestiftete, den sollten, ging es hier um Leibesertüch- in der renommierten Architekturzeit- 3,20 m hohe Steinplastik Aufstellung, darstel- tigung im Dienste der Volksgesundheit. schrift „Bauwelt“ schrieb er 1926: Von al- lend einen sportgestählten Jüngling, der die Diese inhaltliche Auffassung des zuständi- lem überflüssigen Beiwerk wurde mit Absicht ihn umwindende Schlange der Krankheit, der gen Baustadtrates Hans Strobel schlug abgesehen. Nur über dem Eingang fand eine Genußsucht und Unnatur abwehrt: ‚Sieg über Blick auf den Körner Platz und das neue Kellerhochhaus der Dortmunder Union-Brauerei, um 1930 (Westfälisches Wirtschaftsarchiv) sich auch in der dekorativen Gestaltung von dem Bildhauer Heinr. Bayer entworfene, den Großstadtsumpf‘. 12 | „Aufstieg zur Großstadt“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund „Aufstieg zur Großstadt“ | 13

Fortschrittsorientierung stieg zur Industrie-Großstadt. Das änder- ten die Angehörigen des kleinen bürgerli- geduldet werden, daß unsere Stadt einen der- im bürgerlichen Milieu te alles. Es bildete sich eine gänzlich neue chen Milieus den Ansprüchen bürgerli- artig vernachlässigten und unfertigen Ein- Sozialstruktur heraus. Das alte Stadtbür- cher Lebensführung zu genügen, insbe- druck macht, wie dies an so vielen Punkten gertum wurde zur kleinen Minderheit, sondere angesichts der regen Konkurrenz, leider der Fall ist. Die Voraussetzungen für eine weitere zwischen zahllosen Arbeitern mit ihren die die deutschen Kommunen sich unter- Ausbreitung solch einer kulturkritischen Familien einerseits und wenigen einfluss- einander machten. Ihr Ziel war es, alle At- Urbanität durch Modernität Haltung waren zunächst auch in Dort- reichen Wirtschaftsbürgern sowie haupt- tribute einer „bürgerlichen“ Stadt auch in und Technik mund vorhanden gewesen: Auf die mittel- sächlich technisch orientierten Bildungs- Dortmund vorweisen zu können, vor al- alterliche Blütezeit als Reichs- und Han- bürgern andererseits. Dadurch traten neue lem Kultur- und Geselligkeitseinrichtun- sestadt war ein langanhaltender politi- Deutungskulturen in den Vordergrund, gen sowie ein Stadtbild mit imposanten Die ständige Rede vom notwendigen Auf- scher, wirtschaftlicher und kultureller andere Sichtweisen auf Kultur und Gesell- „Monumentalbauten“. In der aufstreben- stieg zur Großstadt verweist zugleich dar- Abstieg gefolgt, und das Dortmunder schaft. Urbanisierung und Industrialisie- den Industriestadt bedeutete das meist auf, dass die Realität häufig anders aussah: Stadtbürgertum war im Großen und Gan- rung hatten im Ruhrgebiet einen ganz ei- Auf- und Neubau, nur selten hingegen Trotz der großen Einwohnerzahl schien zen kein Hort der Innovation, sondern genen Typus von Stadt geschaffen, der sich Bewahrung des Alten und der Traditio- die „Halbmillionenstadt“, die Dortmund eher traditionsverhaftet und selbstgenüg- von alten Bürgerstädten grundlegend un- nen. mit den beiden großen Eingemeindungen sam. Genau in solchen kleinstädtischen terschied. Aber auch in diesem ganz und Diese Grundkonstellation des ausge- 1928 und 1929 geworden war, eben doch Milieus waren die Kulturkritiker beson- gar unbürgerlichen Umfeld einer proleta- henden 19. Jahrhunderts wurde auch kein wirklich urbaner Ort zu sein. Das sa- ders stark vertreten. Dann aber begann in risch geprägten Massengesellschaft mit durch den Verlust der politischen Macht hen auch schon zeitgenössische Kritiker der Mitte des 19. Jahrhunderts der Auf- nur wenig kulturellen Angeboten versuch- des Bürgertums an die Arbeiterparteien so, etwa der Journalist Georg Schwarz nach 1918 nicht wesentlich verändert und oder, mit Blick auf das gesamte Revier, dauerte in den 1920er Jahren an. Die sein Kollege Erik Reger. Solche Zweifel, Großstadtverkehr: Am Burgtor (aus: Max Paul Block, Der Gigant an der Ruhr, 1928, S. 10) Mehrheit der kommunalen Eliten war ge- gepaart mit dem ständig manifestierten radezu zwangsläufig dem Fortschritt und ernsten Willen zur Großstadtwerdung, ver- der Großstadt gegenüber positiv einge- ließen die Stadt übrigens bis in die Zeit stellt. Die Dominanz der Industrie tat ihr nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr: Übriges dazu. Bilder von Alt-Dortmund Auch im Wiederaufbau nach 1945 hieß es und Alt-Westfalen wurden immer mehr beim damaligen Presseamtschef Willy zu nostalgischen Referenzen im alten Weinauge noch programmatisch: „Von der Mittelstand der Händler und Handwer- großen Stadt zur Großstadt“. ker, Gegenwart und Zukunft hingegen Gleichwohl waren Urbanität und Mo- gehörten der Industriewelt im Ruhrgebiet, dernität schon in den 1920er Jahren im die in aller Regel den Bezugsrahmen für Ruhrgebiet deutlich spürbar – weniger die Dortmunder Bürger abgab. Für die zwar als in Metropolen oder traditionsrei- Arbeiterschaft mit ihrer klaren Fort- chen Zentren des Bürgertums, aber in den schrittserwartung und Moderneorientie- Die Überbleibsel des „Alten Dortmund“ neben dem Neuen: Westfalenhaus, um 1932 alten Hellwegstädten doch mehr als aus- rung galt dies umso mehr, ebenso wie für (Stadtarchiv Dortmund) wärts vermutet. Das augenfälligste Ele- den neuen Mittelstand der Angestellten, ment war hier die moderne Massengesell- die von den Möglichkeiten der Großstadt schaft, die das glatte Gegenteil zur klein- am meisten profitierten. In einer städti- städtischen Atmosphäre der vorindustriel- schen Werbeschrift schrieb Stadtbaurat len Zeit darstellte. Die Anonymität der Wilhelm Heinrich Delfs 1927 folgerich- Schönheit dieser Gegend, die in der Auswir- wurden verklärt und zu Opfern für die Na- Großstadt prägte Dortmund ganz ohne tig: Die Fliegeraufnahme von Dortmund kung dieser unerhörten Arbeitsenergie einer- tion stilisiert, die proletarische Vergnü- Zweifel, jedenfalls in der Innenstadt. Dort zeigt das, was Dortmund ist und sein will, seits und in den monumentalen Bauwerken gungskultur fand in den etwas derberen waren auch die klassischen Attribute der die Stadt der Kohle und des Eisens. Von Hei- und in den herrlichen Parks und Wäldern an- Trinkgewohnheiten des Dortmunder Bür- Moderne zu bestaunen: Licht, Lärm und mat oder der Ablehnung von Großstadt dererseits liegt und als Gesamtheit untrenn- gertums einen Niederschlag, und die städ- Verkehr, und zwar nicht nur der Industrie- und Industrie war dort keine Rede. In ei- bar miteinander verbunden ist, nur verste- tebauliche Situation wurde vor allem als anlagen, sondern auch der Geschäfte und nem Presseartikel über Dortmund hen, wenn man innerlich im Rhythmus der Herausforderung aufgefasst: Nur ein noch Vergnügungseinrichtungen. schwärmte der Chef des Presseamtes, Arbeit mitschwingt. Ist man aber zu diesem mehr an Großstadt, ein mehr an Urbanität Zusammen mit neuartigen Hochhäu- Gerhard Wagner, sogar geradezu von der Gleichklang gekommen, dann muß man die könne das Ziel sein, so der Tenor zahlrei- sern und einem immer schnelleren Tempo Schönheit der Industrie: „Land ohne Bae- grandiose Schönheit des Industriegebietes ver- cher Artikel in der bürgerlichen Dort- des städtischen Alltags wurden sie in der deker“ ist das Industriegebiet neulich einmal stehen. Klassische Kulturkritik war in einer munder Zeitung. Am 4. November 1927 Presse gefeiert. Unter der Überschrift genannt worden. Tatsächlich ist es für die solchen Stadt weder sinnvoll noch wirk- etwa hieß es dort unter der Überschrift „Dortmund, die Stadt der Turmhäuser“ meisten Deutschen völliges Neuland. Viel- lich möglich. Sie blieb die Überzeugung „Notwendige Wandlungen im Dortmun- hieß es am 17. August 1929 in der Dort- leicht, daß dieser oder jener einmal nachts die- einer absoluten Minderheit, die in Dort- der Stadtbild II“: Wir haben als größte Stadt munder Zeitung: Deutschland ist im Be- se Gegend durcheilt und das gewaltige Schau- mund nur wenig Einfluss hatte. Zu deut- Westfalens die Pflicht, dafür zu sorgen, daß griff, sich zu amerikanisieren. Wir haben ein spiel des flammenden Himmels erlebt, mit je- lich war die Notwendigkeit, sich mit den das Äußere unserer Stadt demjenigen ent- verschärftes Tempo in jeder Lebensäußerung nem inneren Schauder, den unverstandene Gegebenheiten der Industriestadt positiv spricht, was man sich unter dem Begriff einer angenommen. Schneller braust der Verkehr Urgewalt auszulösen pflegt. Der unnennbare zu identifizieren, auch und gerade mit ih- wirklichen Großstadt denkt. Wir sind die durch Stadt und Land. Heftiger ist der Wir- Rhythmus aber, der hier im hastigen Tag und ren negativen Seiten, die andernorts die Metropole Westfalens, also einer der reichs- bel der Arbeit und des Genusses. Der Sportbe- in der nimmerruhenden Nacht ist, zieht jeden Grundlage der Großstadtkritik bildeten. ten und wichtigsten Provinzen des Reiches, trieb vollends weist eine gesteigerte Intensität einzelnen in seinen Bann. Man kann die Umweltverschmutzung und Lärm etwa vielleicht sogar Europas. Es kann nicht länger auf. Gilt das vorstehende schon für unser Va- 14 | „Aufstieg zur Großstadt“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund „Aufstieg zur Großstadt“ | 15

terland ganz allgemein, so hat es für die Städ- Vergnügungskultur. Theater, Museen und prägte die Bilder von der Stadt. In der In- Die „Stadt der Turmhäuser“ war nicht nur einmal mehr den wenigen ausgesproche- Eleganz schien im Industriegebiet nicht te, in denen sich ein verschärfter Lebenswirbel Bibliotheken gehörten ebenso dazu wie dustriefotografie Erich Angenendts etwa ein Hirngespinst, sondern im Vergleich zu nen Nostalgikern. Stadtarchivarin Luise zu passen und auch nicht den Geschmack konzentriert, erhöhte Geltung. Für die Städte Tanzsäle, Kinos und Kneipen. Der beson- wurde die Industrietechnik sogar zum anderen ähnlich großen Städten fast schon von Winterfeld etwa bedauerte lediglich, der Menschen zu treffen. Eine gewisse unseres Industriebezirks aber, wo eiliger als dere Charakter der Industriestadt blieb Symbol für Dortmund. Technik war zu- Realität, jedenfalls für die damaligen Ver- dass der Zauber alter westfälischer Städte im Schwere und Erdverbundenheit kam im sonst irgendwo Erwerb und Verkehr pulsiert, jedoch stets spürbar: Die Werksanlagen gleich auch ein beherrschendes Thema der hältnisse. Dortmund der Gegenwart fehle. Versuche, konservativen Bürgertum besser an, zumal gilt dies alles in vielfach potenziertem Maße. der Montanindustrie prägten den Alltag Dortmund-Literatur. Die Industrielyrik diesem Manko durch neue Bauten im his- damit ja gerade kein Verzicht auf moderne Wohl keine Stadt aber ist so kräftig hiervon unübersehbar. Zwangsläufig schlugen sie des Direktors der Stadt- und Landesbiblio- Zeitgeist und Architektur torisierenden Heimatstil abzuhelfen und Bauten und repräsentative Projekte ver- ergriffen worden wie unsere Heimatstadt, die sich auch in den bildlichen Darstellungen thek, Erich Schulz, ist ein Beispiel hierfür. diese gar mit einem erzieherischen Auf- bunden war. Ein klares Bekenntnis zu mehr als alle anderen von diesem lebhaft ge- Dortmunds und in den künstlerischen Ein weiterer Indikator der Urbanität Die Wahl des Architekturstils repräsen- trag im Geiste der Kulturkritik zu verse- technischem Fortschritt, Modernität und steigerten Impuls ergriffen ist. Auseinandersetzungen mit der Stadt nie- Dortmunds waren Architektur und Städ- tierte meist recht genau die gesellschaftli- hen, waren hingegen von Vornherein zum Großstadt war nämlich das Hauptanlie- Ein weiteres untrügliches Zeichen der der. Die Technik als Inbegriff der Moder- tebau. Neue monumentale Gebäude ent- chen, politischen und kulturellen Vorstel- Scheitern verurteilt. Sie passten nicht gen der meisten Dortmunder Bürger. Urbanität in Dortmund war die Dichte an ne hatte hier einen ganz anderen, unmit- standen, und zugleich waren funktionale lungen der Verantwortlichen – sowohl der mehr in das fortschrittsorientierte Indust- Einige zentrale Bauvorhaben der 1920er Einrichtungen der Hochkultur sowie der telbareren Stellenwert als andernorts. Sie „Verkehrsplätze“ das Ziel der Stadtplaner. Architekten als auch ihrer oft kommuna- riegebiet, genauso wenig wie die Bemü- Jahre verdeutlichen dies. Sie verbanden die

Industrie-Ästhetik in Stadtbild und Fotografie: das Eisen- und Stahlwerk Hoesch (Stadtarchiv Dortmund)

len Auftraggeber. Ein Panorama der vor hungen der Heimatbewegung insgesamt. Attribute und Erfordernisse der moder- Ort präsenten Positionen ist daher sehr Das lokale Bürgertum fühlte sich von die- nen Großstadt mit einem konservativen aufschlussreich: In der Zusammenschau sem Ansatz nicht mehr repräsentiert. Die gemäßigt modernen Stil. wird deutlich, welche Variante des Zeit- weitverbreitete konservative, autoritär-na- Der bekannteste Dortmunder Bau der geistes in Dortmund dominant war. Selbst tionalistische Grundstimmung der Dort- Zwischenkriegszeit war zweifellos die letztlich nicht realisierte Projekte sprechen munder Honoratioren stand dem nicht im Westfalenhalle, ein überregionales Symbol hier eine deutliche Sprache: Sie waren Wege – sie suchte sich neue Ausdrucksfor- für die Vergnügungs- und Freizeitkultur – Wunschbilder von der Zukunft der Stadt, men. und zugleich für ihren Stellenwert in der sie zeigen, wie man sein wollte und beein- Weitaus besser wurde die Stimmung Stadt. Das zweite Schlüsselthema einer flussten bereits durch die öffentliche Dis- von Pragmatikern wie den Stadtbauräten modernen Großstadt, der Verkehr, war kussion das Image der Stadt. Walter Hartleb und Wilhelm Heinrich ebenfalls prominent vertreten. Die Neu- Die Vergangenheit als architektonischer Delfs oder dem Amtsleiter Erich Kabel bauten auf dem Dortmunder Flughafen Orientierungspunkt spielte in Dortmund getroffen. Sie bauten und planten für die repräsentierten es würdig und wurden nach 1918 nahezu keine Rolle mehr. Die moderne Industrie-Großstadt, sachlich im stolz als Beispiele für „Neue Stadtbau- erhaltenen wertvollen historischen Bau- Stil und auf der Höhe der Zeit, aber ohne kunst“ in Dortmund angeführt. Wesent- werke, allen voran die vier mittelalterli- große Visionen oder sozialpolitische An- lich wichtiger für das Stadtbild waren al- chen Kirchen, wollte man zwar weiter sprüche. Von der Avantgarde der Neuen lerdings die eigentlichen „Monumental- Moderne Architektur in Dortmund: die Empfangshalle des Flughafens, Delfs 1928 (Stadtarchiv Dortmund) schützen, als Vorbild dienten sie aber nicht Sachlichkeit war das weit entfernt. Deren bauten“ in der Innenstadt, der Erweite- 16 | „Aufstieg zur Großstadt“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund „Vier Städte“ | 17 „Vier Städte“ Provinzstadt und moderne Großstadt, halbländliche industrielle Region und moderne Industriestadt – das alles war Dortmund!

von Renate Kastorff-Viehmann

Wer während 1920er Jahre im Gebiet des heutigen Dortmunds wohnte oder die Stadt und die umgebenden Bürgermeiste- reien besuchte, der oder die konnte sehr unterschiedliche Formen städtischen bzw. industriestädtischen Lebens und damit verbunden auch verschiedene Stadt- und Siedlungsformen erfahren; außerdem fand man noch recht traditionelle ländliche Hort der Massenkultur: die alte Westfalenhalle (Stadtarchiv Dortmund) Daseinsformen in Dörfern wie Brechten, Holthausen und Groß Holthausen, eben- falls im alten Ortskern der Hellwegdörfer Asseln oder Brackel. Nach den Einge- meindungen von 1928 und 1929 lagen diese Orte alle innerhalb der Stadtgren- Blick in die Brückstraße und die Reinoldistraße um 1928 (Stadtarchiv Dortmund) rungsbau des Stadthauses etwa und mehr Projekte der lokalen Architektenschaft, 100 Jahre Dortmunder Zeitung, 4.10.1928. zen. Im Ergebnis war die Stadtgesellschaft noch das Westfalenhaus an der Hansastra- die ausführlich präsentiert und diskutiert Reger, Erik, Ruhrprovinz [1929], in: Erhard fragmentiert; man blieb vielerorts „für ße, das tatsächlich großstädtische Urbani- wurden, sollten diesem Ziel dienen. Schütz (Hg.), Die Ruhrprovinz – das Land der sich“. Aber überall, selbst in den alten so häufig in den halbländlichen „Indust- zwei Stunden Fußwegentfernung bis ins tät verkörperte. Nicht zufällig nahm es in Die Diskussionen wie die Bauten zeigen Städte. Ansichten und Einsichten in den grünen Dorflagen, prägten die Kulissen von Berg- riedörfern“ und Kolonien in den ehemali- Zentrum der Stadt. Eine in weiten Kreisen einer modernitätsbetonenden Werbebro- deutlich, welche Spielart des Zeitgeistes in Kohlenpott. Reportagen und Berichte von den bau und Stahlindustrie den Horizont. Die gen Bürgermeistereien. Dort lebte man der Arbeiterbevölkerung der Vororte ver- schüre der Stadt einen zentralen Platz ein. Dortmund dominierte: Anders als in ande- zwanziger Jahren bis heute, Köln 1987, S. 86- Gegenwärtigkeit der Industrie war nicht recht isoliert und selbstgenügsam; von ankerte, integrative kulturelle Orientie- Das galt gleichermaßen für die Beispiele ren Industriestädten wie Recklinghausen 93. zu übersehen. dort aus waren es mindestens ein oder rung gründete im Katholizismus; beson- sachlichen Bauens im neuen zweiten war hier das Selbstbild vom Fortschritts- Schulz, Erich, Mein Ruhrland, in: Stadt Dort- Obwohl es sich um eine äußerst dyna- Stadtzentrum am heutigen Rheinland- und Großstadtgedanken nicht zu trennen. mund, hg. im Verein mit dem städtischen Ver- mische Industriestadt handelte, deren damm. Die Pädagogische Akademie und Das einheimische Bürgertum entwickelte kehrs- und Presseamt vom Verkehrsverein Dort- Lärm- und Rauch-Emissionen vor kei- „Bei Mengede“ (aus: Max Paul Block, Der Gigant an der Ruhr, 1928, S. 38) das Arbeitsphysiologische Institut der daher sogar seine eigene, der Industriestadt mund e.V., Dortmund [1925], S. 94. nem Hindernis Halt machten, konnte Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft waren der angemessene Variante von Bürgerlichkeit: Schwarz, Georg, Kohlenpott: Ein Buch von der man anscheinend in Dortmund in ver- Stolz der architekturinteressierten Dort- Man wollte alles haben, was man brauchte, Ruhr, Berlin 1932. schiedenen Welten leben und sehr unter- munder. Ebenfalls von großer Bedeutung um im Vergleich mithalten zu können, aber Stadt Dortmund, Stadtplanungsamt (Hg.), Das schiedliche Lebensformen entwickeln, waren die Industriebauten im modernen unter Berücksichtigung der Gegebenheiten Neue Dortmund. Planungen für eine Großstadt, egal wie nahe alles nebeneinander existier- Stil. Wegen seines zentralen Standortes vor Ort. Damit wollte man den Anspruch 1926-1931. Quellen und Dokumente aus Dort- te und wie eng es im Raum der Stadt mit- besonders wirksam wurde der Hochkeller Heinrich Wilhelm Delfs erfüllen, zur mit munder Zeitungen, Dortmund 1994. einander verschränkt war: Manche Ein- der Dortmunder Union-Brauerei am maßgebenden Industrie-Großstadt Deutsch- Strobel, Hans, Die Dortmunder Kampfbahn wohner des alten Dortmunds (und viel- Hauptbahnhof, damals allerdings noch lands geworden zu sein. „Rote Erde“, in: Bauwelt 17 (1926), S. 1-8. leicht auch des alten Hördes, Lütgendort- ohne U. Er markierte unübersehbar die Wagner, Dr. [Gerhard], Was Dortmund den munds oder im alten Mengede) lebten enge Verbindung von Industrie und Urba- Quellen und Literatur: Fremden bietet, in: Deutsche Luftfahrt 5 (1932), recht bürgerlich und (klein-)städtisch, we- nität. Für das Selbstverständnis der inter- S. 15-20. nige waren großbürgerlich und perspekti- essierten Dortmunder Bürger ebenso auf- Aurich, Max, In Dortmund..., Dortmund 1933, Wagner, Dr. [Gerhard]/Burchartz, [Max]/Gug- visch sogar an der Kultur der Metropolen schlussreich sind schließlich die Debatten Broschüre, SLB DO, Hh 94. genberger, [Max], Dortmund, Dortmund o.J. [um orientiert. Mehrheitlich waren es proleta- über die Gestaltung zahlreicher Plätze Delfs, [Wilhelm Heinrich], Die städtebauliche 1932], Broschure. rische Existenzen, fern vom idealen mo- und Straßen der Innenstadt. Ob es um den Entwicklung Dortmunds, in: J. Buddendiek (Hg.), dernen Dortmund und abseits der faszi- Bahnhofsvorplatz, die Wälle oder den Das Buch der alten Firmen von Groß-Dortmund Weitere Nachweise finden sich in: Guckes, nierenden Kultur der „Goldenen Zwanzi- Hansaplatz ging: Stets war die Frage, wie im Jahre 1928, Leipzig 1928, S. 12-17. Jochen, Konstruktionen bürgerlicher Identität. ger“. Oft waren beengte Lebensumstände der Großstadtcharakter der Stadt zu stei- Delfs, [Wilhelm Heinrich], Neue Stadtbau- Städtische Selbstbilder in Freiburg, Dresden und in den dicht bebauten Quartieren im gern sei. Zahllose letztlich nicht realisierte kunst. Dortmund, 2. Aufl., Berlin 1928. Dortmund, Paderborn 2011. Schatten der Hochöfen anzutreffen, eben- 18 | „Vier Städte“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund „Vier Städte“ | 19

auf der Brückstraße, am Steinplatz und in das Reinoldihaus, das Kaufhaus C&A, das freien Reichs- und Hansestadt Dort- der Münsterstraße, der alten Hauptstraße Hochhaus der Stadtverwaltung an der Be- mund“ zeigen Überbleibsel einer verwin- der Nordstadt. Dortmund befand sich auf tenstraße, der Hochkeller der Union- kelten, kleinstädtischen Bebauung in der dem Weg zu einer „richtigen“ Großstadt, Brauerei („Ein Riesenbau“ hieß es am 17. Altstadt, verschieferte zwei- und zweiein- besaß jedoch kein großstädtisches Zent- Nov. 1926 dazu in der Zeitung „Tremo- halbstöckige Häuser am oberen Westen- rum. Aber schon kurz nach 1900 und dann nia“), das Gebäude der Handwerkskam- hellweg (wo um 1900 schon Straßenbahn- erneut während der 1920er und beginnen- mer, die Verwaltung der Allgemeinen schienen lagen), ein mittelalterlich wir- den 1930er Jahre wurden in der Altstadt Ortskrankenkasse am Wall oder das Ge- kendes Haus in der Wißstraße, das erst eine Reihe bemerkenswerter Projekte an- bäude der Commerz-Bank am Hansa- 1930 abgebrochen wurde, oder einen ma- gegangen und erste moderne Bauten er- platz. lerischen Häuserwinkel Ecke Hansastraße richtet: darunter die beiden Bauabschnitte Die „City-Bildung“ war voll im Gange. und Schwarze-Brüder-Straße, der bis vom Warenhaus Karstadt, der „Löwenhof“ Aber das vorindustrielle Dortmund – trotz 1907 /1908 stand. Die Aufzählung ließe und der „Fürstenhof“ im Umfeld des neu mächtiger Stadtkirchen und einzelner re- sich fortsetzen. Trotz detaillierter Flucht- errichteten Hauptbahnhofes, weitere Ge- präsentativer Steinhäuser am Hellweg linienbereinigungen, mancher Abbrüche schäftshäuser und Bürohäuser am Hell- wahrlich keine schöne Stadt – hinterließ und vieler vier- bis fünfstöckiger Neubau- weg, der Neubau der Sparkasse, das West- weiterhin seine Spuren: Abbildungen in ten aus der Gründerzeit mit Fassaden in falenhaus als erstes „richtiges“ Hochhaus, Luise von Winterfelds „Geschichte der der pompösen Stilarchitektur des Histo- rismus bewahrte die Altstadt von Dort- mund bis weit in die 1920er Jahre ihren provinziellen Charakter. Als ambitionier- Markt auf dem Hansaplatz, um 1928 (aus: Max Paul Block, Der Gigant an der Ruhr, 1928, S. 13) ter Journalist oder Architekt sah man sich weit entfernt von dem, was man unter ei- ner modernen Großstadt verstand. Freige- legte Bauflächen, die der Neubebauung harrten, verstärkten zudem den Eindruck einer Stadt im Aufbruch. Der Hansaplatz, heute ein repräsentati- Situation am Ostenhellweg in den 1930er Jahren (Stadtarchiv Dortmund) ver Stadtraum, entstand ab 1911 im Zuge des Straßendurchbruchs der Hansastraße. Damals wurde dort auch der zweite Bau- abschnitt des Warenhauses Karstadt reali- siert. Die planerischen Maßnahmen hatte ders Frauen in den berg­bau­lich geprägten sen betraf und hinsichtlich des Freizeitan- einmal die moderne Großstadt mit Hoch- der damalige Tiefbaudezernent Hermann Vororten und in den peripheren Arbeiter- gebots. Es genügte nicht, dass es in der häusern und prägnanter Großstadtarchi- Bovermann vorbereitet, dem man großes kolonien gewannen darüber ihre kulturelle Stadt ein vielfältiges Angebot an Garten- tektur in der City, daneben die in den Bau- Geschick bei diskreten Grundstückskäu- Identität. Daneben trugen viele Menschen wirtschaften, Tanzlokalen und anderen gebieten und in der Fläche funktional ge- fen zwecks Umlegung nachsagte. Bover- noch selbst erlebte oder erzählte Erinne- Vergnügungs-Etablissements gab. Ähn- gliederte zeitgemäße Stadt, drittens die in mann hatte von Verwaltungsseite aus auch rungen an vorindustrielle Lebensformen lich differenziert wie die soziale, stadt- der Realität zwar hoch problematische, in 1910 /1912 die Hochlegung der Bahntras- mit sich. Der Journalist Georg Schwarz, räumliche und stadtkulturelle Realität wa- der Fiktion jedoch fast als futuristisch zu sen (der Neubau des Empfangsgebäudes der die Realität an der Ruhr farbig und ren die Vorstellungen hinsichtlich der bezeichnende Industriestadt, die noch der am Hauptbahnhof stammt von 1912), die kritisch kommentierte – und gleichzeitig möglichen Entwicklung von Stadt und städtebaulichen Ordnung bedurfte, und planerischen Vorarbeiten für die Ausge- ohne ironische Nebentöne vom „neuen städtischem Raum. Die industriestädti- nicht zuletzt die Stadt Dortmund als er- staltung des dortigen Abschnitts des Walls Typus des Industriemenschen“ schreiben sche Zukunft schien offen – und vielver- neuerte „deutsche Heimat“ mit umfängli- sowie die Anfänge der städtebaulichen konnte –, gab 1931 in seinem Buch über sprechend, vorausgesetzt es wurde der chem Traditionsbestand. Das Eine schloss Umgestaltung der Umgebung von St. Rei- den „Kohlenpott“ folgende Lagebeschrei- richtige Weg eingeschlagen. Dabei wirk- das Andere nicht generell aus; Koexistenz noldi koordiniert. Der Abbruch der soge- bung ab: „Der provinzielle Charakter der ten mächtige Interessen; es waren vor al- schien möglich. Unabhängig davon tauch- nannten „Reinoldi-Insel“, der südlichen Menschen erschlägt den technischen lem die Sachwalter der Industrie und die ten mit den konkurrierenden Stadtmodel- Randbebauung von St. Reinoldi begann Fort­schritt der Stadt und erschwert die privaten Grundbesitzer, welche die Verfü- len sehr unterschiedliche Vorstellungen um 1910; die dortige „Friedhofsinsel“ ver- Überwindung klassenfeindlicher Bin­ gung über den Raum der Stadt bean- hinsichtlich der Ökonomie, des Machtge- schwand erst 1928. Wie gesagt, die Pro- dungen und An­schauun­gen. Die kirchli- spruchten und ausübten. Maßgeblichen füges und des Gesellschaftsbildes im da- jekte brauchten Zeit; das Zentrum von che Propaganda macht sich in ihrer politischen Einfluss besaßen ab 1919 auch mals zukünftigen Dortmund auf. Dortmund wirkte über Jahrzehnte recht Scheinheiligkeit­ diese Zustände zunutze. die Sozialdemokratie und die ihr naheste- provinziell und provisorisch. Der katholischen Bevormundung gelingt henden Gewerkschaften. Fertige, abge- Die City einer Großstadt Verständlich, dass die Architektenschaft es, das kulturelle Niveau, die Moralauffas- stimmte Entwicklungsvorstellungen hatte mehr wollte: neu bauen und modern sein. sung, das Privat- und Familienleben eines aber niemand zur Hand. Modellhaft wa- Im Umkreis der Altstadt waren seit der War doch Berlin, das „Forum des Dezen- Landes auf den Standard von 1850 zu- ren es „vier Städte“, die für Dortmund Mitte des 19. Jahrhunderts große, dicht niums“, ein großes Vorbild und „Haupt- rückzuschrauben.“ während der Jahre der Weimarer Republik bebaute Quartiere entstanden: die West- stadt“ der Neuen Sach­lichkeit. Sachlich Dortmund musste dringend moderni- zu Auswahl zu stehen schienen, und die stadt, die Nordstadt, das Ostviertel und und dynamisch handelte man fraglos auch siert werden, kulturell, architektonisch, in mehr oder weniger offensiv von Architek- südlich der Altstadt das Kreuzviertel. Ur- in Dortmund; die Neue Sachlichkeit, ab den städtebaulichen Bezügen, in den Ver- ten, Städtebauern und leitenden Verwal- banität, Dichte und Gedränge herrschten 1926 für einige Jahre eine Art „Staatspro- kehrsverhältnissen, was das Wohnungswe- tungsleuten zur Diskussion gestellt wurden: vor allem auf dem oberen Westenhellweg, gramm“, hatte jedoch vor allem in der 20 | „Vier Städte“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund „Vier Städte“ | 21

beitsstätten, Wohnstätten und Erholungs- stätten anzugehen – denn genau in diesen Bereichen sah er Defizite. Sein Programm für die funktionale Stadt formulierte er übrigens fünf Jahre bevor 1933 die im CIAM (Congrès international du ar- chitecture moderne) versammelten avant- gardistischen Architekten für die funktio- nale Stadt warben. Gleichzeitig zog Wilhelm Delfs mit dem Buch über „Neue Bauten in Dort- mund“ eine bemerkenswerte Bilanz: Schulbauten und Krankenhäuser (reali- siert wie auch geplant), das Museum am Ostwall, Flughafen, Volkspark, Sportanla- gen, Westfalenhalle und die Siedlung „Zur Sonnenseite“ in Eving (von der Dortmun- der Gemeinnützigen Siedlungsgesell- Die Pädagogische Akademie (heute Fachbereich Design der Fachhochschule) um 1930 (Stadtarchiv Dortmund) schaft errichtet) schienen endlich das Bild der Stadt zu prägen, nicht mehr die wind- schiefen Reste vorindustrieller Behausun- gen in Alt-Dortmund oder die engen Ar- beiterquartiere des 19. Jahrhunderts. (Es traf nicht allein den Umbau der Altstadt linear aufgebauten Standorts für Einrich- sei am Rande bemerkt, dass die meisten oder zeitgemäße Siedlungen an der Peri- tungen des Sports und Freizeitanlagen, von Delfs publizierten Projekte noch aus pherie. Im Rahmen des stückweisen Aus- Institute und Verwaltungen. Als Reichs- Hansastraße und Westfalenhaus um 1930 (Stadtarchiv Dortmund) der „Ära Strobel“ stammten). Delfs be- baus von Westfalendamm und Rheinland- straße 1 war diese „Dortmunder Achse“ schrieb eine moderne Stadt, deren Antlitz damm betrieb er gemeinsam mit dem Lie- Teil der neuen Ost-West-Magistrale im in den „Zügen geglättet“ und im „Aus- genschaftsdezernenten Eduard Cremer Ruhrgebiet. Bis 1930 wurden dort die druck gemildert“ werden sollte. Dies be- zielstrebig die Entwicklung eines zweiten, Westfalenhalle, die Pädagogische Akade-

Hauptstadt ihren Ausdruck gefunden. Vor auswärtigen Besuchern gerne anerkannt diesem Hintergrund wurde Mitte der wird, ein völlig neues, modernes Antlitz Die Westfalenhalle (aus: Max Paul Block, Der Gigant an der Ruhr, 1928, S. 19) 1920er Jahre in den Dortmunder Tages- bekommen hat.“ In der Tat waren ver- zeitungen eine Debatte über den Umbau schiedene Bauvorhaben zum Abschluss der Altstadt losgetreten: „Wer des öfteren gebracht worden (darunter das Westfalen- Fremde vom Hauptbahnhof abholt, wel- haus) und endlich die letzten Altbauten che noch nicht in Dortmund waren, dem („Schandflecke!“) am Hansaplatz gefallen. wird der überaus peinliche Eindruck nicht entgehen, welcher die Umgebung des Die funktionale Stadt Hauptbahnhofes auf jeden Besucher macht“, konnten die Dortmunderinnen Der Enthusiasmus, der in der kurzen Zeit- und Dortmunder am 11. Januar 1925 in spanne von 1927 bis 1931 wirkte, war der Dortmunder Zeitung lesen. Die Re- nicht zuletzt der Zustimmung und der dakteure schrieben von Missgriffen und Energie zu verdanken, mit der Wilhelm über Schandflecke; Architekten lancierten Delfs, der Amtsnachfolger von Hans Stro- Alternativ-Entwürfe und Mitglieder des bel, ans Werk ging. Als Stadtbaurat zu- B.D.A. (Bund Deutscher Architekten) ständig seit 1925 für den Hochbau, ab holten sich Ende 1926 mit Cornelius Ende 1927 auch für die Stadterweiterung Gurlitt einen renommierten Städtebauer (und 1931-1937 für alle Technischen Äm- als Zeugen gegen eine ihres Erachtens ver- ter), hatte Delfs sich besondere Meriten fehlte Entwicklung in der Altstadt. Die Dr.-Ing. Wilhelm Delfs (1885-1958) beim Bau der Westfalenhalle verdient. Kritik galt ganz konkret Hans Strobel als (Stadtarchiv Dortmund) 1928 gab er in der Reihe „Neue Stadtbau- zuständigem Dezernenten und den von kunst“ einen Band mit dem Titel „Neue ihm zu verantwortenden Planungen. Im Bauten in Dortmund“ heraus. Es war eine Herbst 1927 endete seine Amtszeit in ei- Art Programmschrift, in der er Planungs- ner Art Coup. Die Schleusen schienen ge- Am 29. Januar 1931, also mitten in der erfordernisse klar benannte. Delfs war ein öffnet, alle Widerstände erledigt; das Um- Weltwirtschaftskrise, bemerkte die Dort- Realist, der die Machtverhältnisse akzep- bautempo in der „Halbmillionenstadt“ munder Zeitung, „daß ein überaus energi- tierte und die stadträumliche Wirklichkeit konnte nach Strobels erzwungener De- scher Zug zu modernen Bauformen im nicht ignorierte: Er versprach eine plan- mission schier „atemlos“ machen – glaubt besten Sinne des Wortes durch unsere mäßige Stadterweiterung und Sanierung man der Berichterstattung in der Presse. Stadt geht, die stellenweise, wie dies ja von unter den Aspekten Verkehrsstätten, Ar- 22 | „Vier Städte“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund „Vier Städte“ | 23

sondern von Industrieanlagen und Glei- her konzentrisch aufgebaute innere Stadt sen. Hinzu kam ein ausgedehntes System (die Altstadt und die umgebenden Innen- von schier unüberwindlichen Mauern und stadtbezirke), in die sich von Norden her Zäunen, die diese Anlagen umgaben und die mächtigen Keile der Industrie scho- jeglichen Zutritt verhinderten. Wollte ben. Letztere konnten sich potenziell in Mann oder Frau aus den nördlichen die nördlich anschließenden Landgebiete Landgebieten und Vororten zu Fuß in die weiter ausdehnen. Als relativ kleines Un- Stadt gehen oder dorthin mit dem Fuhr- terzentrum war Hörde gekennzeichnet; werk oder dem Kraftwagen fahren, musste daneben vermerkte das „Stadtschema“ im er oder sie zunächst einen ausgedehnten Außenbereich eine Vielzahl von Vororten, Industriegürtel durchqueren – um 1900 die mit Bergbau und Industrie gewachsen ebenso wie 1930. Nördlich des Hellwegs waren. Noch nicht Stadt, aber auch nicht fanden sich nur sechs oder sieben Straßen- mehr Land, im Raumbild eher chaotisch zugänge, die in die Innenstadtbezirke denn malerisch, waren sie charakteristisch führten. Ähnlich dunklen Korridoren für die damalige polyzentrische Raum- durchschnitten drei oder vier von ihnen struktur. Die Verbindungen der Vororte die Werksgelände (welche Gefühle eine untereinander und zur inneren Stadt soll- solche Straße während der Durchfahrt zu ten mittels eines Netzes von Verkehrswe- erzeugen vermag, das lässt sich heute noch gen funktionieren. auf der unteren Huckarder Straße erleben, Wer sich weder um funktionale Defizite wo diese das Gelände der „Union“ quert). noch um gravierende Umweltbelastungen Da die Flächennutzungen über Rechts- scherte, den interessierten die stadträumli- titel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts chen Gegebenheiten und die funktionalen weitgehend vorgegeben waren, konzent- Defizite wenig. Er konnte stattdessen ver- rierte sich die planende Verwaltung wäh- sucht sein, die Industrie und die Industrie- rend der 1920er Jahre auf städtische Bau- stadt in ihren riesigen Dimensionen zu maßnahmen sowie auf eine Verbesserung preisen: „Schon vom Zuge aus sieht man der Verkehrsverhältnisse, um eine belast- die Riesensilhouette des Eisen- und Stahl- bare Vernetzung sowohl der Industries- werks Hoesch in seinen gigantischen tandorte als auch der Siedlungsbereiche Hochöfen, Walzwerken und Gießereien“, herzustellen und um perspektivisch die bemerkte der bereits zitierte Georg fehlenden Nord-Süd- und West-Ost-Ver- Schwarz. Die Anlagen der Industrie konn- bindungen auszubauen. Es war insofern ten gleichzeitig beeindrucken und ängsti- konsequent, dass der bis 1928 amtierende gen, denn im Revier erlebte man den real Tiefbaudezernent Walter Hartleb als gewordenen Futurismus. Felix Beielstein Nachfolger von Hermann Bovermann eng nahm den Topos im Buch „Rauch an der mit den Verkehrsplanern des Siedlungs- Ruhr“ auf, das 1932 als bester Ruhr-Ro- verbandes Ruhrkohlenbezirk zusammen- man preis­gekrönt wurde. Der Text erzählt arbeitete und besondere Erfolge hinsicht- von gigantischer Technik und vom Futu- lich der Asphaltierung von vorhandenen rismus in der Industrieprovinz. Die Prota- Stadtstraßen aufweisen konnte. gonisten, die Industrie-Erben Paul und Aber egal wie wichtig die asphaltierte Annemi erleben beides auf einer rasenden Straße für den wachsenden Kraftwagen- Autofahrt durch das nächtliche Revier Die Dortmunder Union in Höhe der Dorstfelder Brücke (Stadtarchiv Dortmund) verkehr war, so ließ sich allein über ein und werden mit dem Schauspiel der in- Straßennetz die Stadt nicht als ein aufein- dustriellen Produktion konfrontiert: ander bezogenes funktionales Gefüge be- „Plötzlich knallt glühendes Licht gegen greifen. In diese Lücke stieß der Architekt den Himmel – Signale schießen auf, Pfiffe und Stadtplaner Ernst Kabel, der als Lei- – stoßende Lastzüge rangieren in einem mie, das Arbeitsphysiologische Institut der Stadtentwicklung in großen Zügen, ohne Die Industriestadt: Zentrum lagen die Altstadt und die umge- ter der Baupolizei seit 1927 im Dezernat riesi­gen Werksbahnhof. Hinter den Schie- Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, das neue jegliche Romantik (sieht man von der real und futuristisch benden Innenstadtbereiche, eingeklemmt von Wilhelm Delfs arbeitete. Unter dem nen wachsen ´Winderhitzer´, drei, vier rie- Stadion, der Volkspark, eine große Kaser- vierreihigen Allee mit Promenade ab) ent- zwischen den drei großen Stahlstandorten, Eindruck der Eingemeindungen von 1928 sige Türme aus Stahl; dahinter der eisen- ne und der Hauptfriedhof errichtet, noch lang einer Au­to­straße von fast amerikani- der Union im Westen, dem Eisen- und legte Kabel 1929 sowohl ein „Stadtsche- gepanzerte Hochofen. Turbinen schicken ergänzt um Villen und um Verwaltungs- schem Zuschnitt. Die Westfalenhalle, eine Und in der Tat war die räumliche Struktur Stahlwerk Hoesch im Nordwesten und ma“ vor, das die räumliche Realität in ih- brausenden Ton in die Nacht, die zittert gebäude der Privatwirtschaft. Nahe der Ingenieurkonstruktion aus Holz, da­mals der Stadt äußerst problematisch: In den dem Werk Phönix und dem Hörder Ver- ren funktionalen Bezüge darstellte, als von der nebeligen Glut ihrer tausend Feu- Kreuzung mit der Lindemannstraße wur- die größte Veranstaltungs-Halle im Wes- Außenbereichen gab es eine Vielzahl von ein im Süden. Außerdem schnürten aus- auch einen daraus abgeleiteten Baustufen- er“. Eine vollständig mechanisierte Welt, de ebenfalls um 1930 das Versorgungsamt ten, stieg zum Symbol der neuen Freizeit- Dörfern, Kolonien, Industriedörfern und gedehnte Bahnanlagen, der Hafen im plan (Beides wurde bis 1932 unter Be- wie sie zwanzig Jahre zuvor in den Visio­ gebaut und ein neues Polizeipräsidium kultur auf. Fördertürme und Hochöfen, ehemals selbstständigen Gemeinden in Nordwesten und die Zechen Fürst Har- rücksichtigung des 1929 eingemeindeten nen der Futuristen der ersten Generation geplant. Alles im architektonischen Aus- die das alte Revier repräsentieren, sah man ehemaligen Bürgermeistereien, die funkti- denberg und Minister Stein im Norden Landkreises Hörde überarbeitet). Das aufgeleuchtet hatte, die war offenbar im druck ganz sachlich, gut erschlossen und nur in der Ferne. Was aber fehlte, das war onal und verkehrlich nur unzureichend auf die Innenstadtbezirke weiter ein. In der „Stadtschema“ von 1929 traf folgende Ruhrgebiet zu besichtigen. Zechen-Seil- mit dem Kraftwagen, dem modernen der General-Bebauungsplan für die funk- Alt-Dortmund mit seinen großen Stadt- Nordstadt lebte man ähnlich wie auf einer Aussagen zum funktionalen Gefüge Dort- bahnen, Fördertürme mit rotierenden Transportmittel, zu erreichen. Es war tional gegliederte Industriestadt. erweiterungsgebieten bezogen waren. Im Halbinsel, aber nicht von Wasser umgeben munds: In der Mitte die vom Grundsatz Seil­scheiben, großvolumige Gichtgas- 24 | „Vier Städte“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund „Vier Städte“ | 25

Sanierung und Abbruch rückständiger ausgestattet mit den Kompetenzen der Viertel; die industriestädtische Realität Stadtgestaltung, nicht nur mehrmals kriti- verleitete ihn nicht dazu, für wirtschaftli- sierend und korrigierend in ihre Entwürfe chem Städtebau oder rationalistischer Pla- eingegriffen hatte sondern auch als Kon- nung einzutreten. Er liebte das schöne, kurrent aufgetreten war. handwerkliche Detail und das bodenstän- Trotzdem war Hans Strobel äußerst dige Bauen. überrascht, als auf der Ratssitzung am 20. Hans Strobel erzählte mit seinen Projek- Juni 1927 ohne weitere Debatte der An- ten und Bauten von Harmonie und Hei- trag der bürgerlichen Arbeitsgemein- mat, von Gemeinschaft, Geschichte und schaft, die dritte Stadtbauratsstelle – also Zufriedenheit. Verständlich, dass ihm dies seine Stelle – einzusparen, mit Unterstüt- im anschaulich illustrierten Entwurf und zung des Zentrums und der „Rechtskom- im realisierten Einzelprojekt weitaus besser munisten“ aber gegen die Stimmen der gelang als im abstrakten städtebaulichen Sozialdemokraten angenommen wurde. Plan. Einen Vorschlag zur sachlichen Ord- Strobel kämpfte um sein Amt, musste aber nung des gesamtstädtischen Gefüges legte schließlich aufgeben. Seiner Popularität in Hans Strobel nicht vor, obwohl dies im Zu- der Stadt tat der Rauswurf keinen Ab- sammenhang mit den anstehenden Einge- bruch. Auf Seiten der Auftraggeber waren meindungen von 1928 besonders dringlich Strobels Ideen zur Stadterweiterung je- gewesen wäre. Ein General-Bebauungsplan doch kaum mehr gefragt: Das moderne für Dortmund wurde zwar mehrfach ange- Dortmund um 1930 sollte eine gut funk- kündigt, wurde aber während seiner Amts- Hans Strobel (1881-1953) tionierende Industriestadt mit leistungs- zeit genauso wenig fertig gestellt wie eine (Stadtarchiv Dortmund) fähigem Zentrum, gutem Verkehrsnetz, abgestimmte Verkehrsplanung; selbst ein angemessenen Wohnsiedlungen, gut er- Freiflächen vernetzender Plan für ganz reichbaren Freizeiteinrichtungen und Dortmund wurde nicht erarbeitet. Die In- neuen Bauten in der Haltung der Neuen teressenvertreter von Industrie und Grund- Sachlichkeit sein, ganz und gar dem Tat- besitzen im Rat der Stadt schnaubten; begriff orientierten integrativen Projekte sächlichen zugewandt und nicht der Uto- Strobels Dezernenten-Kollegen Hartleb aus seiner Feder, das schien um 1926/1927 pie von „Land und Leuten“ verbunden. und Delfs machten Politik gegen ihn. Was nur noch ein Planungshindernis – und viel um 1914/1915 und wieder nach dem Ende zu teuer angesichts der anstehenden Aufga- Auf dem Gelände des Eisen- und Stahlwerks Hoesch (aus: Max Paul Block, Der Gigant an der Ruhr, 1928, S. 302) des Ersten Weltkrieges für ihn gesprochen ben. Auch manche Architekten hatte sich Quellen und Literatur: hatte, nämlich die versöhnlichen, am Volks- Hans Strobel zu Feinden gemacht, da er, Max Paul Block, Der Gigant an der Ruhr, 1928 Wilhelm Delfs, Neue Bauten in Dortmund, Ber- lin, Leipzig, Wien 1928 Rohre und das Netz der Werksbahnen faszinierend wirken, in der Nähe erlebt des Architekten und des Städtebauers Entwurf zur Bebauung entlang der Straße Lange Reihe, 1919, Architekt Hans Strobel Renate Kastorff-Viehmann, Ursula v. Petz, machten auch in Dortmund ständige Be- war er oftmals belastend. Die Bewohner wollte er harmonisieren und fürs „Volk“ (aus: Hans Strobel, Dortmund – Bilder und Worte über Sein und Werden der Stadt, Dortmund 1929, S. 115) Manfred Walz, Stadtentwicklung Dortmund: Die wegung im Raum sichtbar und hörbar. der Quartiere in der Nachbarschaft der arbeiten: Deshalb gab er den Anstoß zur moderne Industriestadt 1918-1946, Dortmund Diese neue Welt bot nicht nur Eindrücke Hochofenwerke und Kokereien litten un- Gründung der Dortmunder Gemeinnüt- 1995 von gigantischer Technik und Mechanik; ter dem Nebel und dem Gestank der Ab- zigen Siedlungsgesellschaft, deshalb Renate Kastorff-Viehmann und Yasemin Utku, sie betörte auch die Sinne: aber nicht mit gase. Verständlich, dass viele Zeitgenossen plante er den Volkspark mit dem benach- Stadtbaurat Hans Strobel – Dortmund, Dort- lieblichen Düften und sanf­ten Gesängen, den provozierenden Bildern von der me- barten Schwimmbad und der „Kampfbahn mund 1998 son­dern mit Rauschen, Dröhnen und Si- chanisierten Welt in der Industriestadt Rote Erde“, deshalb wies er Flächen für Renate Kastorff-Viehmann und Manfred Walz, renengeheul, mit der Musik des Eisens, äußerst distanziert gegenüber standen – Kleingärten aus und entwarf die Sozial- Die Stadt, der Stahl und der leere Raum, in: Karl- mit den zischenden Flammen der Gicht- auch in Dortmund. Sie wollten in einer siedlung „Zur Sonnenseite“ in Eving mit Peter Ellerbrock, Gisela Framke und Alfred gase am Nachthimmel und mit den bizar- friedlichen, ruhigen Welt leben und fan- Torbau, Turm und Haussprüchen, ähnlich Heese, Stahlzeit in Dortmund, Münster 2005 ren Löschwasser-Dampfpilzen. den einen wichtigen Verbündeten in Hans einer idealen kleinen Stadt. Obwohl er als Karl Neuhoff, Das „sündige“ Dortmund. Ein Strobel, der von 1915 bis 1927 als Stadt- Städtebauer zeitgemäß arbeitete, besaß Streifzug durch das Dortmunder Vergnügungsle- Dortmund – eine neue Heimat baurat für die Stadtentwicklung bzw. die Strobel eine große Neigung zur Bautradi- ben vergangener Jahrzehnte, Dortmund o. J. „Stadterweiterung“ zuständig war. Strobel tion, zu deutscher Geschichte und zum Georg Schwarz, Kohlenpott. Ein Buch von der Die reale Industriestadt war fern vom Le- sah sich im Einklang mit der Stadtspitze bodenständigen Bauen. Dortmund als his- Ruhr, Berlin 1931 bensgefühl der Futuristen. Die Lebensfor- und den Volksparteien und versprach, torischer Stadt erwies er immer wieder Stadtplanungsamt Dortmund (Hrsg.), Das men der Arbeiterbevölkerung im Industri- Dortmund dem Industrialismus zum seine Referenz. Seine Ideen und seine Neue Dortmund, Planungen für eine Grosstadt alismus wurden als ´entfremdet´ bezeich- Trotz zur Heimat aller Bewohner und Be- Bauten überforderten niemanden; seine 1926-1931, Dortmund 1994 net; kulturelle Verwahrlosung wurde wohnerinnen zu machen. Projekte wurden von vielen Menschen in Hans Strobel (Bearbeiter), Dortmund – Bilder diagnostiziert. Und noch mehr: Die In- Hans Strobel zählte 1914, als er nach Dortmund verstanden. Denn funktionale und Worte über Sein und Werden der Stadt, dustriestadt galt Konservativen als poli- Dortmund kam, zu den jungen, ehrgeizi- Modernität bedeutete für Hans Strobel Dortmund 1920 tisch instabil. Ihr Stadtbild war in weiten gen Städtebauern, deren Entwürfe viel nicht zwingend avantgardistische oder fu- Luise v. Winterfeld, Geschichte der Freien Teilen ungeformt. Der Gigantismus der beachtet und häufig publiziert wurden. Er turistische Bauform; die Berücksichtigung Reichs- und Hansestadt Dortmund, Dortmund Industrie konnte aus der Ferne betrachtet trat für Reformen ein. Mit den Mitteln der „Volksgesundheit“ hieß für ihn nicht 1981 (1. ed. 1934) 26 | Großstadtarchitektur für Dortmund Heimat Dortmund Heimat Dortmund Großstadtarchitektur für Dortmund | 27

Großstadtarchitektur für Dortmund das komplett mit Glasbausteinen verklei- dete Haupttreppenhaus, das ab dem ersten Obergeschoss über dem Haupteingang Das neue AOK-Gebäude am Königswall als Beispiel etwa einen Meter vor die Fassade trat. Den oberen Abschluss bildete hier ein Fahnen- mast. Im hoch gelegenen Erdgeschoss la- gen zwei große Kassenhallen getrennt für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, im Sou- terrain befanden sich ausgedehnte Bäder- von Peter Kroos anlagen. Neben Verwaltungsräumen wa- ren in den Obergeschossen ursprünglich Untersuchungs- und Behandlungszimmer untergebracht. Die großen, hallenartigen Räume, in de- nen einst Trinkbrunnen und medizinische Mit Einführung der Sozialversicherungs- Geräte zur Behandlung und Prophylaxe gesetze 1883 durch standen, ließen sich in der Nachkriegszeit kam es im Deutschen Reich zur Grün- hervorragend zu großen Beratungsberei- dung von Krankenkassen. Die Allgemeine chen für die Krankenkasse umgestalten. Ortskrankenkasse ist eine der ältesten Schade, dass die einst Licht durchfluteten Innenhof mit Blick auf Glasdach Schalterhalle Krankenkassen Deutschlands. Damals wie Hallen heute kaum ohne Kunstlicht aus- heute verstand man sich nicht nur als kommen. Die Existenz der ehemaligen Krankenversicherung, sondern schrieb Oberlichter ist durch viele Lagen von auch den Aspekt der Gesundheitsfürsorge Dachpappe bei einem Blick aus den obe- groß. Dies hatte unmittelbaren Einfluss ren Etagen in die Höfe immer noch er- auf das Raumprogramm für einen Archi- kennbar. Es überrascht dennoch, dass das tektenwettbewerb zum Neubau der AOK Gebäude noch viel originale Bausubstanz am Dortmunder Königswall. auch im Inneren zeigt. In den Treppen- An dem 1928 ausgelobten Wettbewerb häusern finden sich als zeittypische Innen- unter Dortmunder Architekten beteiligte raumgestaltungen bunte Majolika-Fliesen sich die Architektensozietät Flerus und und Messinghandläufe. Konert gleich mit zwei Entwürfen, was Der elegante Schwung und die exakte damals nicht unüblich war. Im Preisge- Traufhöhe des AOK-Gebäudes wurden in richt saßen u.a. Fritz Becker aus Düssel- den 1990er Jahren von Eckhard Gerbers dorf und Stadtbaurat Delfs. Neben dem Harenberg City-Center aufgenommen Siegerentwurf errang das Team noch einen und fortgeführt. Insofern stellt diese Partie dritten Rang. Die Arbeit von Franz und des heutigen Königswalls eine bemerkens- Franzius kam auf den zweiten Platz, der wert harmonische Abfolge von Bauten Entwurf von Pinno und Grund wurde Hauptansicht unterschiedlicher Architekturauffassun- angekauft. Jean Flerus (1885-1975) und (alle Bilder aus: Paul Joseph Cremers, Jean Flerus, Josef Konert (Hg.): Flerus und Konert, Berlin/Leipzig/Wien, 1931) gen und Bauzeiten dar. Bis der Neubau für Rückansicht Haupttreppenhaus mit Majoliken Josef Konert gehörten lange Zeit zu den die AOK NordWest auf der Stadtkrone bekanntesten und einflussreichsten Archi- Ost bezogen werden kann, fristet das Ge- tekten in Dortmund. Das Büro realisierte bäude nach dem Auslaufen eines Erb- zahlreiche Wohnungsbauten, Kirchen und pachtvertrages noch ein Gnadendasein. Verwaltungsbauten. Einige Dortmunder Mitglieder des BDA, Bund Deutscher Ar- che Neuordnung und die großen Einzel- Zugegeben: Die rückwärtigen Gebäude- Architekten der jüngeren Generation chitekten, ab den späten 1920er Jahren bauten Platz zu schaffen. Der Neubau für teile zur heutigen Brinkhoffstraße können (u.a. Herwarth Schulte) fanden hier ihre eine zusammenhängende städtebauliche das EPA-Kaufhaus am Körner Platz (um heute nicht mehr überzeugen. Spätestens Erstanstellung. Nach dem 2. Weltkrieg Planung für die Dortmunder Innenstadt 1930) lag nicht weit von dem Baugrund- das Aufbringen einer cremefarbenen Plat- trennten sich die Wege der beiden Archi- einforderten. Jedoch wurden vorwiegend stück für die Krankenkasse entfernt. tenverkleidung in den 1980er Jahren hat tekten. Jean Flerus baute weiterhin viel für Einzelprojekte realisiert, wie beispielswei- Der mit Muschelkalk verkleidete Bau hier letzte Qualitäten zerstört. Aber die die Kirche, aber auch Verwaltungsbauten se das Westfalenhaus von Jacob Koerfer der Krankenkasse zeichnet bis heute ele- ehemals vorhandenen, großstädtischen und Geschäftshäuser, die Spur von Josef (1928-29) oder das Reinoldihaus von gant den Schwung der anliegenden Straße Qualitäten des AOK-Gebäudes zum Wall Konert verliert sich hingegen rasch. Emil Pohle (1930-31). In den frühen nach. Alle Fenster sind als Lochfenster könnten mit nur wenigen, behutsamen Das schließlich im Mai 1931 einge- 1920er Jahren war an dem damals noch hart aus der Fassade geschnitten. Durch Retuschen wieder herausgearbeitet wer- weihte Gebäude der Allgemeinen Orts- Schmiedingstraße genannten Abschnitt eine schmale Ausbildung der Fensterpfei- den. Hierin wird in den kommenden Jah- krankenkasse war eines der größten, das in des heutigen Walls neben dem Bauplatz ler wirken die Fenster jedoch zu horizon- ren nach Auszug der AOK eine große den 1920er Jahren in der Dortmunder In- für die AOK ein Verwaltungsgebäude für talen Bändern zusammengefasst. Die Chance und Herausforderung liegen. Eine nenstadt realisiert wurde. Zahlreiche Dis- die Emschergenossenschaft errichtet wor- hochrechteckigen Öffnungen der Regel- städtebaulich einfache Arrondierung des kussionen in den zeitgenössischen Dort- den (Alfred Fischer, um 1923). Das Ge- geschosse waren durch schlanke, stählerne gesamten Ensembles unter Würdigung munder Zeitungen belegen, dass die Dort- lände war zuvor großflächig weitgehend Fensterprofile einfach senkrecht geteilt. der beiden 1920er Jahre Bauten wäre für munder Architektenschaft, vor allem die abgeräumt worden, um für die städtebauli- Als kompositorisches Gegengewicht wirkte Dortmund ein wunderbares Signal. Schalterhalle mit Brunnen 28 | Personalpolitik in der jungen Demokratie Heimat Dortmund Heimat Dortmund Personalpolitik in der jungen Demokratie | 29

Boldt, Dr. Eduard Cremer, Dr. Wilhelm denburg, Sachsen und Berlin. Nur Stadt- Am 4. Juli 1919 entschied der Wahlaus- Personalpolitik in der Fluhme, Dr. Albert Ruben und Gerhard baurat Strobel war in der Oberpfalz im schuss der Stadtverordnetenversammlung Tschackert sowie den Stadtbauräten Her- Königreich Bayern geboren worden. Nach diese Stelle mit dem offenen Qualifikati- mann Bovermann, Friedrich Kullrich und der Ausbildung fanden die Juristen und onshinweis, dass die Bewerber schon län- jungen Demokratie Hans Strobel. Diese Zusammensetzung Ingenieure bei den Stadtverwaltungen gere Zeit in einer größeren Kommunal- von acht Juristen und drei Ingenieuren eine Anstellung. Der Weg in den Dort- verwaltung tätig gewesen sein sollten, aus- verdeutlicht, dass sich in Dortmund die munder Magistrat führte oft über Stadt- zuschreiben. Die Anzeige erschien in ju- Die besoldeten Magistratsmitglieder in Dortmund 1918–1932 universitäre Ausbildung als ein Qualifika- ratsstellen in kleineren Städten. Mit Blick ristischen und kommunalpolitischen tionsmerkmal durchgesetzt hatte. Der all- auf die letzte Stelle vor dem Wechsel nach Fachzeitungen, wie das Preußische Ver- gemeine Ausbau der Leistungsverwaltun- Dortmund dominierte auch bei dieser re- waltungsblatt und die Deutsche Gemein- gen im Kaiserreich, in den Ländern und in gionalen, beruflichen Herkunft Preußen. dezeitung, und in den überregionalen den Kommunen brachte vor allem für die Darüber hinaus war der Dortmunder be- deutschen Tageszeitungen. Dabei wurden Juristen neue Karrierewege. Die Zahl der soldete Magistrat evangelisch, nur Stadtrat die Parteiinteressen berücksichtigt: Die Jurastudenten an den preußischen Univer- Cremer bildete hier eine katholische Aus- Kölnische Zeitung und die Frankfurter von Matthias Dudde der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Sozialdemokratische Partei Deutschlands sitäten war von rund 1.300 im Sommerse- nahme. Zeitung standen der liberalen Deutschen wuchs die Zahl der besoldeten Magistrats- (SPD) mit gut 40 Prozent der Stimmen mester 1870 auf über 6.200 im Winterse- Demokratischen Partei (DDP) nahe, die mitglieder. Um im Sinne der kommunalen gefolgt von der Zentrumspartei mit gut 30 mester 1904/05 gestiegen. Die ersten acht Stärkung der kommunal- Kölnische Volkszeitung dem Zentrum, die Selbstverwaltung das Ehrenamt nicht zu Prozent der Stimmen wurden die mit Ab- Jurastudentinnen begannen erst im Win- politischen Erfahrung Tägliche Rundschau der Deutschen schwächen, stieg parallel dazu auch die stand stärksten Fraktionen. Dieses Macht- tersemester 1908/09. Das Studium der Volkspartei (DVP) und der Vorwärts der Zahl der unbesoldeten Mitglieder. Darü- gefüge blieb bei kleineren prozentualen Rechts- und Staatswissenschaften endete SPD. Einen Monat später konnte der ber hinaus konnte sich die Zahl der Einbußen auch bei den folgenden Kom- nach mindestens drei Jahren mit der ersten Diese personelle Konstellation blieb je- Wahlausschuss schließlich 64 Bewerbun- Magistratsmitglieder auch nach kommu- munalwahlen erhalten. Damit waren in juristischen Staatsprüfung, dem „Referen- doch nicht lange erhalten. Schon im Janu- gen sichten. Die beiden stärksten Fraktio- Die Stadt Dortmund verfügte am Ende nalpolitischen Entscheidungen erhöhen, der Dortmunder Kommunalpolitik die le- darexamen“. Dem schloss sich eine Refe- ar 1919 reichte Stadtrat Boldt sein Pensi- nen SPD und Zentrum, die bisher keinen der preußischen Monarchie 1918 über beispielsweise um Vertreter von einge- gitimen Interessen aller Bevölkerungs- rendarausbildung an, in der die jungen onsgesuch ein und wechselte im Herbst als Vertreter im besoldeten Magistrat hatten, eine ausdifferenzierte Leistungsverwal- meindeten Orten in die städtischen Re- gruppen entsprechend ihrer Größe reprä- Gerichtsreferendare in den verschiedens- Regierungsrat zum Finanzamt Göttingen. erhoben ihren Anspruch auf einen Beset- tung mit einem hierarchischen Amtsauf- präsentationsgremien zu integrieren. Die sentiert. Dies bedeutete eine Chance, die ten gerichtlichen Einrichtungen, bei- Die Wiederbesetzung dieser Stadtratsstel- zungsvorschlag. Angesichts der gestiege- bau in einer Dezernatsstruktur. An ihrer Einrichtung einer Magistratsstelle und gleichwertige Berücksichtigung dieser In- spielsweise Amtsgericht, Landgericht und le war der Auftakt für insgesamt sechs- nen Arbeitsbelastung schlug der Aus- Spitze stand als kollegialer Gemeindevor- ihre personelle Besetzung nahm die Stadt- teressen im Verwaltungshandeln zu instal- Staatsanwaltschaft arbeiteten, und die sie zehn Personalentscheidungen für den be- schuss der Stadtverordnetenversammlung stand der Magistrat, dem zwei grundsätz- verordnetenversammlung vor. Die Wahl- lieren. In diesem lokalen Demokratisie- mit der zweiten juristischen Staatsprü- soldeten Magistrat bis 1932: Elfmal be- vor, eine weitere Stelle zu schaffen und die lich unterschiedliche Aufgaben bei der periode der Bürgermeister und der besol- rungsprozess hatte der besoldete Magist- fung, dem „Assessorenexamen“, abschlos- setzten die Stadtverordneten eine Stelle beiden neuen Stellen mit dem Sozialde- Verwaltung der Stadt oblagen. Er führte deten Mitglieder umfasste zwölf Jahre, die rat eine zentrale Stellung. Die lange sen. Als Gerichtsassessoren strebten sie mit einer neuen Person und fünfmal wur- mokraten Anton Bredenbeck und dem die Gesetze, Verordnungen und Verfügun- der unbesoldeten Mitglieder sechs Jahre. Wahlperiode von zwölf Jahren und beam- nun auf die neu entstehenden Verwal- de ein Stadtrat am Ende seiner Wahlperi- Zentrumsmann Wilhelm Kaiser zu beset- gen der vorgesetzten Behörden aus und Formale Vorgaben für die berufliche Qua- tenrechtliche Bestimmungen verhinderten tungsstellen. Eine Promotion gehörte ode wiedergewählt. In dieser Zeit verän- zen. Gegen die heftige Kritik der Deut- war im hierarchischen preußischen Staats- lifikation gab es nicht, jedoch mussten die einen unmittelbaren personellen Wechsel. nicht zum Anforderungs- und Ausbil- derte sich auch die Anzahl der Stellen. schen Volkspartei (DVP) wurden beide aufbau das ausführende Organ der unters- Gewählten staatlich bestätigt werden. In SPD und Zentrum mussten somit über dungsprofil, verbesserte jedoch die Positi- Aufgrund der gestiegenen Aufgaben in- am 22. September 1919 gewählt. Die An- ten Staatsebene. Zugleich bereitete er die Dortmund umfasste der Magistrat im No- einen längeren Zeitraum ihre Macht- und on gegenüber den Konkurrenten. Ge- folge des Krieges erweiterte die Stadtver- griffe wandten sich hauptsächlich gegen Beschlüsse der Stadtverordnetenversamm- vember 1918 zehn besoldete und siebzehn Repräsentationsansprüche im besoldeten burtsständische Beschränkungen für ein ordnetenversammlung 1919 den besolde- Bredenbeck, der keine höheren Bildungs- lung vor und führte sie aus. Er erfüllte da- unbesoldete Mitglieder. Magistrat umsetzen. Diese Zeit war be- Studium gab es nicht mehr. Die Gerichts- ten Magistrat um zwei auf zwölf Stellen. abschlüsse vorweisen konnte und damit mit die Aufgaben aus der kommunalen Im revolutionären Wechsel zur Repub- gleitet von einer Ausweitung der kommu- assessoren, die sich ihr Studium finanziert Ab 1927 wurden Einsparungen getätigt, für die DVP als fachlich ungeeignet galt. Selbstverwaltung. Als „primus inter pares“ lik hatte auch in Dortmund ein Arbeiter- nalen Aufgaben und des Verwaltungsap- hatten, konnten verstärkt aus der mittleren sodass die Stelle des dritten Stadtbaurates In der Debatte machte vor allem die SPD- leitete und beaufsichtigte der Bürgermeis- und Soldatenrat die Macht übernommen, parates. Vor allem die sozialen Aufgaben und auch vereinzelt aus der unteren Sozi- wegfiel und die zwischen 1931 und Januar Fraktion, aber auch das Zentrum, die ver- ter den Geschäftsgang der Verwaltung der aber im besoldeten Magistrat keine nach dem Ersten Weltkrieg brachten neue alschicht stammen. Mit einem Großteil 1933 frei gewordenen Stellen nicht wie- änderten Auswahlgrundsätze deutlich. und repräsentierte die Stadt. Auch wäh- personellen Veränderungen vornahm. Mit städtische Ämter mit starker Bürgerfre- der sie wählenden Stadtverordneten, die derbesetzt wurden. Auf diese Weise ver- Gegen die Festigung des formalen Bil- rend der Weimarer Republik blieb die Ge- der „Verordnung über die anderweitige quentierung. Welche Antworten fanden unter den Bedingungen des Dreiklassen- kleinerte sich der besoldete Magistrat auf dungsprivilegs setzten sie als Stellenanfor- meindeverfassung Ländersache. Initiati- Regelung des Gemeindewahlrechts“ vom die Dortmunder Parteien mit der perso- wahlrechts ihre Mandate erhalten hatten, sieben Stadtratsstellen. derung die Vorstellung, dass nicht allein ven zur Vereinheitlichung auf Landes- 24. Januar 1919 änderte die neue Regie- nellen Besetzung des besoldeten Magist- verband sie die gleiche soziale Stellung. Die Neubesetzung der durch Boldt frei- juristisches Fachwissen, sondern auch und Reichsebene scheiterten, sodass in rung des jetzt republikanischen Freistaats rats auf diese Prozesse? Welche personal- Neben der dominierenden Gruppe der Ju- gewordenen Stelle folgte in weiten Teilen praktisches Wissen und große Erfahrung Dortmund die „Städteordnung für die Preußen die Städteordnung. Demnach politischen Charakteristika sind in der risten umfasste der besoldete Magistrat dem alten Auswahlmuster. Der am 2. Juni wichtige Voraussetzungen seien. Auf die- Provinz Westfalen“ vom 19. März 1856 in sollten bis zum 2. März 1919 Kommunal- Auswahl und Zusammensetzung des mit den Stadtbauräten auch Ingenieure, 1919 gewählte Dr. Hans Neikes war Jurist ser Grundlage war Bredenbeck in die en- Kraft blieb. In der Zusammensetzung des wahlen nach dem Grundsatz der Verhält- Dortmunder besoldeten Magistrats zu er- die nach dem Besuch einer Technischen und hatte als Beigeordneter der Stadt gere Wahl gekommen. Im katholischen Magistrats unterschied die Städteordnung niswahl abgehalten werden. Frauen und kennen? Universität die Prüfungen zum Regie- Oberhausen seit 1910 kommunale Ver- Nottuln geboren, war er zunächst Berg- zwischen dem Ehrenamt und den Berufs- Männer, die das 20. Lebensjahr vollendet rungsbaumeister ablegten. Bei der regio- waltungserfahrungen gesammelt. Als ge- mann. Als Zeitungsredakteur hat er später beamten. Neben dem Bürgermeister wa- hatten, waren berechtigt an den ersten all- Der besoldete Magistrat 1918: nalen Herkunft der Mitglieder des Dort- bürtiger Kölner war er jedoch katholisch. die Dortmunder Kommunalpolitik ken- ren ein ehrenamtlicher Beigeordneter und gemeinen, unmittelbaren und geheimen akademisch, bürgerlich, munder besoldeten Magistrats dominierte Da er parteilos war, wurde er, wie auch nengelernt und begleitet. 1909 gehörte er eine Anzahl an ehrenamtlichen Stadträten Wahlen in Dortmund teilzunehmen. Die preußisch und evangelisch Preußen: Köttgen, Fluhme und Bover- Cremer, nicht als Dezernent der Zent- zu den ersten drei SPD-Abgeordneten im vorgesehen. Nach Bedarf konnte der Ma- Kommunalwahl veränderte die Mehr- mann waren bezogen auf das heutige rumspartei angesehen. Die Entscheidung Dortmunder Stadtparlament. Nach dem gistrat um einen oder mehrere besoldete heitsverhältnisse im Stadtparlament von Stadtgebiet, gebürtige Dortmunder. Der aufgrund der gestiegenen Arbeitsbelas- Krieg war er Mitglied des Dortmunder Mitglieder, wie zum Beispiel um den Grund auf. Die rechten Parteien, die zuvor Zu Beginn des Jahres 1919 bestand der Essener Eichhoff kam ebenfalls aus dem tungen vor allem im Dezernat für Armen- Arbeiter- und Soldatenrats. Bedeutend Kämmerer, den Baurat oder den Rechtsrat, unter den Bedingungen des Dreiklassen- besoldete Magistrat aus Oberbürgermeis- „Ruhrgebiet“. Von den weiteren Stadträ- wesen eine weitere besoldete Magistrats- geringer fiel die Kritik der DVP an Kaiser erweitert werden. Im Zuge der Ausbil- wahlrechts nahezu Zweidrittel der Sitze ter Dr. Ernst Eichhoff, Bürgermeister Dr. ten stammten je einer aus den preußischen stelle einzurichten, eröffnete die Möglich- aus. Kaiser stammte aus Medebach im dung der Leistungsverwaltung während errungen hatten, verloren ihre Macht. Die Emil Köttgen, den Stadträten Dr. Walter Provinzen Rheinland, Westfalen, Bran- keit neue Auswahlkriterien einzuführen. Kreis Brilon und hatte sein philologisches 30 | Personalpolitik in der jungen Demokratie Heimat Dortmund Heimat Dortmund Personalpolitik in der jungen Demokratie | 31

Studium mit der Promotion abgeschlos- ging er als Oberbürgermeister nach Har- devertreter in Barop und ab 1911 hatte er sen. Seit 1911 war der Katholik als Stadt- burg. Beide SPD-Vorschläge für die einen Sitz im Dortmunder Stadtparla- schulrat in der Dortmunder Verwaltung Nachfolge Neikes zeigten die zahlreichen ment. tätig. Bredenbeck und Kaiser wurden mit Optionen der Partei auf. Neben den erfah- den Stimmen von SPD und Zentrum ge- renen, älteren Kommunalpolitikern ver- SPD gewinnt die Position wählt. fügte sie jetzt auch über junge, auswärtige des Zweiten Bürgermeisters Als Bürgermeister Köttgen im Oktober Akademiker, die während des Krieges und 1919 die Wahl zum Oberbürgermeister im Laufe der Jahre 1919/20 Verwaltungs- der Stadt Düsseldorf annahm, war die erfahrungen in besoldeten Stadtratsstellen Im April 1925 wechselte Bürgermeister symbolhafte Stelle des Zweiten Bürger- in Kleinstädten gesammelt hatten. Fischer als Geschäftsführer zur Vereinigte meisters neu zu besetzen. Bei dieser Wahl Im besoldeten Magistrat waren 1918 die Elektrizitätswerke Westfalen GmbH, an arbeitete das bürgerliche Lager zusammen beiden Stadtbauräte Kullrich und Bover- der die Stadt Dortmund beteiligt und und entschied sich für den erfahrenen mann die ältesten Mitglieder. Bovermann Oberbürgermeister Eichhoff Vorsitzender Verwaltungsbeamten und Juristen Dr. war bis 1924 gewählt, ging jedoch auf ei- des Aufsichtsrats war. Damit stand wieder Maximilian Fischer. Fischer war evange- genen Wunsch mit 65 Jahren zum 1. Juli die symbolhafte Neubesetzung der Zwei- lisch, stammte aus dem rheinischen Vel- 1922 in den Ruhestand. Sein Nachfolger ten Bürgermeisterstelle an. Der Vorstand bert und war Mitglied der DDP. Nach im Tiefbauamt wurde der gebürtige Dort- der Stadtverordnetenversammlung be- seinem Assessorexamen 1911 hatte er kur- munder, Dipl. Ing. Walter Hartleb, der seit schloss, die Stelle nicht öffentlich auszu- ze Anstellungen beim Hagener Oberbür- 1913 in der Dortmunder Verwaltung tätig schreiben. Die Fraktionsgemeinschaft von germeister und späteren DDP Mitglieds war. 1923 scheiterte die Wiederwahl des DVP und DNVP brachten den Katholi- Willi Cuno in Hagen und bei der Stadt- 64 Jahre alten Kullrichs in der Stadtver- ken Stadtrat Cremer vermutlich mit der verwaltung in . 1914 wur- ordnetenversammlung. In dieser Zeit der Hoffnung ins Gespräch, mit dem Vor- de er zweiter Beigeordneter in der Stadt Besetzung Dortmunds durch französische schlag das Zentrum auf die bürgerliche Dr. Paul Hirsch gehörte 1908 zur ersten SPD- Dr. jur. Maximilian Fischer wurde 1920 Zweiter Der Sozialdemokrat Dr. jur. Walter Dudek gehörte Buer und war zwei Jahre später als Stadtrat Truppen wurde die Stelle im Hochbauamt Seite zu ziehen. Sie zogen den Vorschlag Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus. 1919/20 Bürgermeister. Von 1925 bis 1930 war er Geschäfts- ab 1922 dem besoldeten Magistrat in Dortmund an und war er preußischer Ministerpräsident und von 1925 bis führer der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen wechselte 1925 als Oberbürgermeister nach Harburg. zurück nach Charlottenburg gewechselt. nicht wiederbesetzt. Vertretungsweise jedoch zurück und unterstützten stattdes- 1932 Zweiter Bürgermeister in Dortmund. GmbH, Dortmund. Auch bei den Wiederwahlen der Stadträte wurde Dr.-Ing. Wilhelm Delfs tätig. Delfs sen den Zentrumskandidaten Stadtrat Cremer und Ruben 1921 sowie des Ober- stammte aus dem schleswig-holsteini- Kaiser. Die SPD gab ihren Kandidaten bürgermeisters Eichhoff 1922 kam die schen Lauenburg und war seit 1921 städti- Paul Hirsch erst mit der Versendung der Mehrheit der bürgerlichen Parteien zum scher Baurat in Krefeld. Im Jahr darauf Tagesordnung zur Stadtverordnetenver- Tragen. wechselte er nach Dortmund, wo er im sammlung bekannt. Hirsch besaß ein ho- Im Mai 1921 gelang Neikes der Sprung März 1923 als Magistratsbaurat auf Le- hes Ansehen. In Prenzlau in der Ucker- auf die Oberbürgermeisterstelle in Saar- benszeit angestellt wurde. Die Stadtver- mark geboren hatte er in Berlin Medizin, brücken. Für seine Nachfolge akzeptierten ordneten wählten ihn am 20. April 1925 Sozialwissenschaften und Nationalökono- alle Fraktionen das Vorschlagsrecht der zum Stadtbaurat. Mit Hartleb und Delfs mie studiert. Fachlich wandte er sich der SPD. Aus dem Auswahlverfahren ging entschieden sich die Stadtverordneten für Kommunalpolitik zu und konnte hier dann je ein Kandidat der SPD, des Zent- Kandidaten, die bereits über praktische zahlreiche Fachpublikationen vorweisen. rums und der DVP hervor. Alle drei Kan- Arbeitserfahrungen in der Dortmunder Politisch war er seit 1899 Stadtverordneter didaten waren studierte Juristen und er- Bauverwaltung verfügten. der SPD in Charlottenburg und gehörte füllten damit das Kriterium eines hohen Am Wahltag von Delfs 1925 führten die 1908 der ersten sozialdemokratischen Bildungsabschlusses. Gegen die erfolgrei- Stadtverordneten zwei weitere Wahlen Fraktion im preußischen Abgeordneten- che Wahl des SPD-Kandidaten im Sep- durch. Nach dem Tod von Stadtrat Tsch- haus an. Als Fraktionsvorsitzender über- tember 1921 legten die DVP und das ackert im Dezember 1923 und dem Weg- nahm er in der revolutionären Umbruch- Zentrum wegen formaler Fehler bei der gang von Stadtrat Dudek mussten zwei phase den geteilten Vorsitz im Rat der Durchführung der Wahl Einspruch ein. offene Stellen neu besetzt werden. Nach- Volksbeauftragten des Landes Preußen. Die Angelegenheit wurde lange und stark dem mit Delfs ein Mitglied der Deutsch- Nach den ersten demokratischen Wahlen diskutiert. Diese Zeit nutzte die SPD- nationalen Volkspartei (DNVP) in den zum Abgeordnetenhaus wurde er im März Fraktion, um einen alternativen Kandida- besoldeten Magistrat gewählt wurde, fan- 1919 erster Ministerpräsident des Frei- ten zu suchen. In der Sitzung der Stadt- den in den beiden anderen Wahlen die staats Preußen. Ein Jahr später trat er zu- verordnetenversammlung am 19. Dezem- SPD und das Zentrum wieder zusammen: rück und blieb bis 1921 parlamentarischer ber 1921 schlug sie den erst 31-jährigen Der gewählte Zentrumskandidat war der Staatssekretär im preußischen Ministeri- Dr. jur. Walter Dudek vor, der anschlie- Jurist Dr. Hermann Ostrop. Der Katholik um für Wohlfahrt. Ab April 1921 war er ßend mit sehr großer Mehrheit gewählt Ostrop stammte aus dem münsterländi- Zweiter Bürgermeister in Charlottenburg. wurde. Dudek stammte aus der Stadt Al- schen Buldern und war seit Sommer 1921 Politisch hatte er sich stark für die Zusam- tenburg, die im staatlich eigenständigen Magistratsassessor bei der Stadt Bochum. menlegung der Städte zu Groß-Berlin Herzogtum Sachsen-Altenburg lag. Seit Der gewählte SPD-Kandidat Gottlieb eingesetzt. Dies machte ihn wichtig für Der Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion in der Dr. jur. Eduard Cremer war 24 Jahre lang Mitglied Dr. phil. Wilhelm Kaiser wurde 1919 als Mitglied 1915 hatte er in kleinen Kommunen lei- Levermann war in (Dortmund-)Barop ge- Dortmund und den anstehenden Einge- Stadtverordnetenversammlung Anton Bredenbeck des besoldeten Magistrats in Dortmund. Im Januar der Zentrumspartei in den besoldeten Magistrat in tende Verwaltungsstellen innegehabt, zu- boren und, wie Bredenbeck, Bergmann. meindungsprozess im Rahmen der gesetz- wurde 1919 in den besoldeten Magistrat gewählt. Nach 1933 wechselte er als Generaldirektor zu Dortmunder Dortmund gewählt. letzt als Erster Beigeordneter der Stadt Als Bürovorsteher des Konsum- und lichen kommunalen Neuordnung des seiner zwölfjährigen Amtszeit ging er in den Versorgungsunternehmen. (alle Fotos: Stadtarchiv Dortmund) Fürstenwalde an der Spree. Dortmund Sparvereins Dortmund-Hamm hatte er rheinisch-westfälischen Industriegebiets. Ruhestand. sollte jedoch nur eine Station auf seinem begonnen, einen anderen beruflichen Weg Mit der Benennung von Hirsch gelang der Karriereweg werden. Zum 1. Januar 1925 einzuschlagen. Seit 1908 war er Gemein- SPD eine Überraschung. Zusammen mit 32 | Personalpolitik in der jungen Demokratie Heimat Dortmund Heimat Dortmund Parteien und Kommunalpolitik 1919–1929 | 33 der DDP und den Stadtverordneten der den von Bredenbeck und Kaiser zu Ende. verbesserte sich 1927/28 weiter zugunsten Parteien und Kommunalpolitik zwischen Demokrati- Kommunistischen Partei Deutschlands Während der 54-jährige Kaiser wiederge- der SPD. Von den jetzt elf besoldeten wurde Hirsch am 22. Juli 1925 knapp mit wählt wurde, ging der 63 Jahre alte Bre- Magistratsmitgliedern waren vier Sozial- 36 Stimmen zu 31 Stimmen für Kaiser ge- denbeck in den Ruhestand. Seine Stelle demokraten. Hatte sich damit bei den wählt. In der Öffentlichkeit wurde die Ent- blieb genauso offen, wie diejenige von Neuberufungen das demokratische Aus- sierung, Inflation und Weltwirtschaftskrise 1919–1929 scheidung emotional debattiert. Vor allem Bürgermeister Hirsch, der 1932 aus ge- wahlverfahren durchgesetzt, so hatte die Entscheidung der DDP aus dem bür- sundheitlichen Gründen vorzeitig um sei- gleichzeitig die kirchliche Konfession als gerlichen Lager auszuscheren, wurde von ne Versetzung in den Ruhestand bat. Auswahlkriterium an Bedeutung verloren. Die Stadtverordnetenwahlen und das politische Gefüge in Dortmund der bürgerlichen Dortmunder Zeitung und Schließlich endete im Januar 1933 die Die christlichen Konfessionen teilten sich dem Zentrumsblatt Tremonia scharf kriti- Wahlperiode von Cremer. Er stellte sich in fünf evangelische und vier katholische siert. An der Person kritisierten sie vor al- nicht der Wiederwahl, sondern wechselte Mitglieder auf, wobei über ein Magistrats- lem sein Alter. Hirsch war zum Zeitpunkt als Generaldirektor zur Dortmunder Was- mitglied keine religiösen Informationen der Wahl 56 Jahre alt. Sein jüdischer Glau- serwerke GmbH und zur Dortmunder vorliegen. Vor allem die SPD war in religi- be spielte in der Debatte keine Rolle. Gaswerk AG. Unter nationalsozialisti- öser Hinsicht ungebunden und benannte scher Herrschaft mussten Oberbürger- neben einem Katholiken auch einen Juden von Günther Högl Reduzierung der besoldeten meister Eichhoff im August 1933 und und einen Freidenker. Mit Stadtrat Dudek Magistratsstellen Stadtrat Ruben, dessen Amtszeit im Mai und Stadtbaurat Bronner war die SPD 1933 auslief, in den Ruhestand gehen. auch die einzige Partei, die Kandidaten Stadtrat Levermann wurde aufgrund des durchsetzte, die außerhalb von Preußen 1927 strichen die Stadtverordneten die Gesetzes zur Wiederherstellung des Be- aufgewachsen und erste Verwaltungser- dritte Stadtbauratsstelle aus finanziellen rufsbeamtentums aus dem Amt entlassen. fahrungen gesammelt hatten. Ein weiteres Gründen. Strobel schied am Ende seiner Die Stadträte Delfs, Fluhme, Kaiser und Alleinstellungsmerkmal hatte sie in Dort- Die sich an die Revolution von 1918/19 Wahlperiode aus und siedelte sich als frei- Ostrop verblieben in ihren Ämtern. Nach mund, in dem sie mit den Stadträten Bre- und die Demokratisierung des Deutschen beruflicher Städtebauer und Architekt in dem Zweiten Weltkrieg waren Lever- denbeck und Levermann erfahrene Kom- Reiches anschließenden nachrevolutionä- Dortmund an. 1928 nahm Stadtbaurat mann, Kaiser und Delfs wieder besoldete munalpolitiker für den besoldeten Magist- ren 1920er Jahre der Weimarer Republik Hartleb den Ruf auf den Lehrstuhl für Dezernenten, die schließlich in den Jahren rat stellte. Im Vergleich mit anderen Städ- lassen sich unterteilen in Zeiten der politi- Städtebau und städtischen Tiefbau an der 1951/52 in den Ruhestand gingen. ten zum Beispiel Bochum ist auffallend, schen und wirtschaftlichen Krisen der Technischen Universität Breslau an. Sein Die Jahre 1925 bis 1927 waren die letz- dass die Zentrumspartei ihrerseits nicht Jahre 1920 bis 1923/24 sowie der schein- Nachfolger wurde der Sozialdemokrat ten Jahre, in denen der besoldete Magist- auf Vertreter aus der katholischen Arbei- baren wirtschaftlichen Prosperität und po- Emil Bronner, der in Karlsruhe im Groß- rat zwölf Mitglieder umfasste. Bei fünf terbewegung zurückgriff. Dieser Verzicht litischen Stabilität der Jahre 1924/25 bis herzogtum Baden geboren worden war. Er Mitgliedern fiel die erste Berufung in das kann als ein Signal in das evangelische 1929, die als die „Goldenen Zwanziger“ studierte an der dortigen Technischen Gremium noch in die Zeit der preußi- Dortmunder Bürgertum angesehen wer- Jahre in die deutsche Geschichte einge- Universität und kam 1906 in der Stadtver- schen Monarchie. Von ihnen und von den, das bei der Bürgermeisterwahl 1925 gangen sind. Die Stadtverordnetenwahlen waltung Karlsruhe unter, wo er zum Leiter Stadtbaurat Hartleb liegen keine Informa- hätte belohnt werden können. Hier sorgte und das politische Gefüge Dortmunds in des Tiefbauamtes aufstieg. Schon 1931 tionen über eine Parteimitgliedschaft vor. jedoch die DDP dafür, dass der fachlich der Weimarer Zeit werden auf dem Hin- verstarb Bronner. Angesichts der Wirt- Von der anderen Hälfte des Magistrats ge- qualifiziertere Paul Hirsch gewählt wurde tergrund der wirtschaftlichen und politi- schaftskrise blieb seine Stelle unbesetzt. hörten drei der SPD, zwei dem Zentrum und damit auch dieses symbolhafte Amt schen Gesamtrahmenbedingungen unter 1931 gingen die zwölfjährigen Wahlperio- und einer der DNVP an. Dieses Verhältnis an die SPD ging. Einbeziehung des politischen Handelns des Magistrats (vgl. den Beitrag von Mat- thias Dudde in diesem Heft) sowie der jeweiligen parteipolitischen Konstellation der Stadtverordnetenversammlung skiz- ziert.

Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

Der mit der Revolution von 1918/19 ver- bundene tiefe politische und wirtschaftli- che Einschnitt war für das Dortmunder Parteiengefüge zunächst von relativ gerin- ger Bedeutung, da im Großen und Gan- zen die Parteienstruktur der Kaiserzeit, abgesehen von kleineren Modifikationen, in die Anfangsphase der Weimarer Repu- blik übernommen worden war. Von nach- haltiger Bedeutung war dagegen die 1919 mit den Nationalversammlungswahlen beginnende Wählerdemokratie mit der Einführung des Allgemeinen Wahlrechtes Sitzordnung Stadtverordnete 1919 34 | Parteien und Kommunalpolitik 1919–1929 Heimat Dortmund Heimat Dortmund Parteien und Kommunalpolitik 1919–1929 | 35

und des damit verbundenen Frauenwahl- setzt worden waren. Verlierer der rasenden rechtes, was dazu führte, dass sich nicht Geldentwertung waren alle, die über keine nur die Zahl der Wahlberechtigten erheb- größeren Sachwerte, sondern nur über Er- lich steigerte, sondern auch die politischen sparnisse verfügten: Mittelstand, Hand- Mehrheitsverhältnisse entscheidend ver- werker, Beamte, Angestellte und Arbeiter. änderten. In diesem Zusammenhang hat der Poli- Bei den Wahlen zur Nationalversamm- tikwissenschaftler Hans Graf in einer Stu- lung am 19. Januar 1919 waren in Dort- die von 1958 auf die prinzipielle Krisen- mund für die SPD 46,5 %, für die Zent- empfindlichkeit der Dortmunder Partei- rumspartei 25,4 % der Stimmen abgege- enstruktur im Vergleich zu anderen Groß- ben worden. Das Wahlbündnis DVP/ städten im Deutschen Reich hingewiesen. DNVP (Deutsche Volkspartei/ Deutsch- Er behauptet mit Recht, dass Krisenwah- nationale Volkspartei) erreichte in Dort- len zu einem „Linksrutsch“ und damit zu mund 15,8 %, die liberale DDP (Deutsche einem Anschwellen der äußersten Linken, Demokratische Partei) 9,0 % der Stim- ab 1924 zu einem Anschwellen der KPD men. Die links von der SPD stehende auf Kosten der SPD geführt haben. Ist die USPD (Unabhängige Sozialdemokrati- katholische Zentrumspartei in Dortmund sche Partei) verzeichnete in Dortmund von 1919 bis 1929 immer ein stabiler de- nur schwache 3,3 %. Die ersten demokra- Ernst Mehlich (1882-1926), Stadtverordnetenvorsteher Dr. Ernst Eichhoff (1873-1941), Oberbürgermeister in Fritz Henßler (1886-1953), Stadtverordnetenvorsteher Lambert Lensing (1889-1965), stellv. Stadtverordneten- mokratischer Faktor im Stadtparlament tischen Stadtverordnetenwahlen vom 2. von 1919 bis 1924, Oberbürgermeisterkandidat der Dortmund von 1910-1933 seit 1924, Mitglied des Deutschen Reichstages ab 1931 vorsteher, Fraktionsvorsitzender der Zentrumspartei, geblieben, so lässt sich das Wechselspiel März 1919 in Dortmund, die auf Anord- SPD 1922 Verleger der Zeitung „Tremonia“ zwischen radikalen und gemäßigten Par- nung der seit Anfang 1919 amtierenden teien im rechten Parteienspektrum (sozialdemokratischen) Preußischen Re- schwieriger ausloten, zumal der Rechtsra- gierung durchgeführt wurden, markieren dikalismus bis etwa 1930, dem ersten Auf- mit dem Beginn der Wählerdemokratie verteilten sich demnach wie folgt: SPD 33, gegenüber seinem Gegenkandidaten, dem 1918/19 innerhalb der Parteiorganisation Die Stadtverordnetenwahlen treten der NSDAP auf lokalpolitischer einen der wichtigsten Abschnitte der Poli- Zentrum 24, DVP 11, DDP 4, Partei der Sozialdemokraten Ernst Mehlich, als zu einer der Leitfiguren der jungen De- vom 4. Mai1924 im Zeichen der Bühne, aus Krisenzeiten wenig Wählerpo- tik- und Sozialgeschichte der Städte und Angestelltenverbände 4 sowie DNVP 2. Oberbürgermeister bestätigt. mokratie in Dortmund geworden. Seit politischen und wirtschaftlichen tential requirieren konnte. Gemeinden. Die damals relativ geringe In der ersten Sitzung der neu gewählten An der Spitze der Dortmunder Stadt- Ende 1924 Stadtverordnetenvorsteher Krisenanfälligkeit Dortmunds Wie sehr sich die politischen und wirt- Wahlbeteiligung in Dortmund von 50 Stadtverordnetenversammlung wurden verwaltung prägte Eichhoff die Kommu- und ab 1930 Reichstagsabgeordneter schaftlichen Krisen der Jahre 1923/24 auf Prozent mag für 1919 etwas überraschen, Ernst Mehlich zum Vorsteher und Lam- nalpolitik Dortmunds in den Jahren 1919 stand er auch nach der Machtergreifung das politische Gefüge der Stadt auswirk- wird aber verständlich, wenn man die bert Lensing (Zentrum) zu dessen Stell- bis 1929 entscheidend und gilt als Vorrei- der Nationalsozialisten für die freiheitli- Die politische und wirtschaftliche Krise ten und im Wesentlichen den radikalen 1918/19 noch aktuellen und turbulenten vertreter gewählt. ter für zahlreiche kommunale Großpro- che Demokratie und den Parlamentaris- hatte die Weimarer Republik in den Jah- Parteien zugute kamen, offenbarte sich in Auseinandersetzungen zwischen Wähler- Der Sozialdemokrat Ernst Mehlich jekte in dieser Zeit. Unter seiner umsichti- mus ein, wofür ihn die Nationalsozialisten ren 1919 bis 1923/24 ständig begleitet. den Dortmunder Stadtverordnetenwahlen demokratie und Rätebewegung mit einbe- (1881-1926), von Beruf selbständiger gen und von allen demokratischen Politi- mit über acht Jahren Gefängnis- und Nach der Revolutionszeit von 1918/19 vom 4. Mai 1924, die noch ganz im Zei- zieht, die bei Anhängern der sozialisti- Buchdrucker, ab 1910 Redakteur bei der kern geschätzten Amtsleitung entwickelte Konzentrationslagerhaft bestraften. Als hatten sich in weiten Bevölkerungskreisen chen der Krise standen. schen Rätebewegung und der soeben ge- Dortmunder „Arbeiter-Zeitung“, hatte sich die Stadt nach der politischen und 1946 gewählter Oberbürgermeister von die Hoffnung auf eine durchgreifende De- Für die Dortmunder SPD als stärkste gründeten Kommunistischen Partei sich als klassischer Vertreter der „Arbeite- wirtschaftlichen Krisenzeit der Jahre 1919 Dortmund galt er bis zu seinem Tod im mokratisierung von Gesellschaft und Mi- „Regierungspartei“ im Stadtparlament en- (KPD) zur Wahlenthaltung geführt hat- raristokratie“ (Buchdrucker, Schriftsetzer, bis 1924 zu einer urbanen, gleichzeitig in- Jahr 1953 über alle Parteigrenzen hinweg litär sowie Sozialisierung der Wirtschaft deten diese Wahlen mit dem Fiasko von ten. Die Kommunalwahlen vom 2. März Redakteure) des ausgehenden 19, Jahr- dustriegeprägten Großstadt, die wiederum als der „Parlamentarier“ schlechthin. Lam- nicht erfüllt. Die Abwehrhaltung der alten 17,2 % (11 Sitze), während die erstmals 1919 ergaben für die Mehrheitssozialde- hunderts gemäß des Leitbildes „Wissen ist durch eine stringent vorangetriebene Ge- bert Lensing jun. (1889-1965), alteinge- Eliten des Kaiserreichs gegenüber der jun- bei Stadtverordnetenwahlen kandidieren- mokratie 41,6 %, trotz oder wegen des Macht“ seines Vorbildes Wilhelm Lieb- meindereform und Eingemeindungspoli- sessener Verleger des Dortmunder Presse- gen Republik und der mangelnde Konsens de KPD mit 29,4 % (20 Sitze) zum einzi- Wahlboykotts ihrer Schwester- und Kon- knecht für eine verstärkte sozialdemokra- tik in den Jahren 1927 bis 1929 seine organs „Tremonia“ und wie sein Vater der politischen Parteien bildeten eine gen Mal in der Geschichte Dortmunds kurrenzpartei USPD, während das katho- tische Arbeiterbildung in Partei und Ge- Grenzen erheblich ausdehnte. So zählte führendes Mitglied der Zentrumspartei, schwere Hypothek für die nächsten Jahre. vorübergehend die stärkste Fraktion in der lische Zentrum seine ohnehin starke Posi- werkschaften eingesetzt, bevor er 1918/19 Groß-Dortmund 1929 schon 540.000 nach 1945 Mitbegründer der westfäli- So führten die turbulenten Krisenjahre Stadtverordnetenversammlung stellen tion in Dortmund auf 30,2 % der Stim- Vorsitzender des Dortmunder Arbeiter- Einwohner (1907: 193.000). schen CDU und Mitglied des Parlamen- von 1919 bis 1923/24, geprägt vom Kapp- konnte. Das Zentrum war mit 20,7 % (14 men auszubauen vermochte und damit das und Soldatenrates geworden war. Als wichtige Persönlichkeiten der Sozi- tarischen Rates, bestimmte nach dem Tod Putsch, den Märzunruhen und bürger- Sitze) zweitstärkste Fraktion im Stadtpar- Wahlbündnis DVP/DNVP (16,8 %) und aldemokratie, zumeist in Personalunion des Parteivorsitzenden August Bickhoff kriegsähnlichen Auseinandersetzungen lament geblieben, während DNVP, der DDP (6,3 %) klar auf Distanz hielt. Politisches Führungspersonal mit der in Dortmund sehr starken gewerk- (1922) die Richtlinien der Dortmunder von 1920/21 sowie die Begleiterscheinun- Christlich Soziale Reichspartei und DVP Hauptverlierer dieser ersten demokrati- schaftlich organisierten Bergarbeiter- und Zentrumspartei, die auch von später pro- gen der Französischen Besetzung Dort- zusammen 17 Sitze auf sich vereinigen schen Wahl in Dortmund war die DVP, Oberbürgermeister von Dortmund und da- Metallarbeiterbewegung sowie der „Ar- minent werdenden Politikerinnen und Po- munds 1923/24 („Ruhrkampf“) zu einer konnten. Aufgrund von Agitationspolitik die kaisertreue Partei der Unternehmer mit Vorsitzender des Magistrats blieb wei- beiterpresse“ verbunden, sind für die Zeit litikern wie Helene Wessel (von 1915- Hyperinflation, an deren Ende 1924 fast und einiger antiparlamentarischer „Hap- und Industriellen, die von über 50 Manda- terhin in der gesamten Zeitphase der Wei- nach 1919 u.a. aufzuführen: Konrad Hae- 1928 Sekretärin der Zentrumspartei in 90 Prozent der erwerbstätigen Bevölke- penings“ der erstarkten KPD-Fraktion ten aus der Kaiserzeit nur mehr 11 Sitze in marer Republik der bürgerlich-konservati- nisch, Ernst Mehlich, Franz Klupsch, Max Hörde) und Johannes Gronowski (ab rung Dortmunds arbeitslos waren. Um die boykottierten SPD, Zentrum und die an- die erste Republik retten konnte. Nur 23 ve, der DVP nahe stehende evangelische König, Heinrich und Wilhelm Hans- 1921, später westfälischer Oberpräsident) politische Stabilität im Inneren des Rei- deren bürgerlichen Parteien die Sitzungen Stadtverordnete aus der Kaiserzeit konn- Verwaltungsjurist Dr. Ernst Eichhoff, weil mann, Fritz Husemann sowie insbesonde- getragen wurde. Unter der Führung eines ches zu gewährleisten, war die Inflation in des Stadtparlamentes, wodurch sich der ten sich im Stadtparlament behaupten, der bürgerliche Block in der Stadtverordne- re die langjährige Symbolfigur für die bürgerlich konservativen Stadtoberhaup- Kauf genommen und die Notenpresse an- preußische Innenminister veranlasst sah, während zusätzlich 55 neue Mitglieder in tenversammlung noch über eine winzige Weimarer Zeit, Fritz Henßler (1886- tes dominierten SPD und Zentrum, so- gekurbelt worden, zumal die Reparations- die Stadtverordnetenversammlung aufzu- das neue Gremium gewählt worden waren, Mehrheit verfügte. Mit dieser kleinen 1953). Letzterer, wie Ernst Mehlich ge- wohl in er Stadtverordnetenversammlung leistungen der Alliierten – ein Relikt des lösen und Neuwahlen anzuordnen. Diese darunter erstmals 8 Frauen. Mehrheit von einer Stimme wurde Ernst lernter Schriftsetzer und seit 1911 Redak- als auch im Magistrat die kommunalpoli- Versailler Vertrages von 1919 – auf astro- erfolgten unter anderen wirtschaftlichen Die 78 Sitze der ersten demokratische Eichhoff bei der turnusgemäßen Neuwahl teur bei der Dortmunder „Arbeiter-Zei- tischen Entscheidungsprozesse der Jahre nomische 123 Milliarden Goldmark, und politischen Voraussetzungen als die gewählten Stadtverordnetenversammlung – nach 12 Jahren Amtszeit – im März 1922 tung“, war im Zuge der Revolution von 1919 bis 1929/30. Sachleistungen nicht inbegriffen, festge- Wahlen vom Mai 1924. 36 | Parteien und Kommunalpolitik 1919–1929 Heimat Dortmund Heimat Dortmund Parteien und Kommunalpolitik 1919–1929 | 37

Ein Neubeginn: Die Stadtverordne- facto bei den Wahlen zur Stadtverordne- Wahlkampfes, der auch auf Schlepper- tenwahlen vom 7. Dezember 1924 tenversammlung dennoch eine völlig an- dienste für Wähler nicht verzichtete, wur- im Zeichen des Aufschwungs? dere Ausgangsituation. Die Dezember- de eine hohe Wahlbeteiligung von rund 80 wahlen 1924 waren außerdem im Vorfeld % erreicht (Kommunalwahl vom 4. Mai von einem bisher nie gekannten aktiven 1924 ca. 50 %), die letzten Endes wieder Den Stadtverordnetenwahlen vom 7. De- Wahlkampf geprägt. Noch in den letzten den Regierungsparteien der „Weimarer zember 1924 lagen verbesserte Konditio- Stunden vor dem Schließen der Wahllo- Koalition“, der SPD und der Zentrums- nen zugrunde als bei den vorausgegange- kale fuhren Lastkraftwagen der nun stär- partei, zugute kam. nen Krisenwahlen. Seit Oktober 1924 ker auftrumpfenden radikalen Parteien Auf dem Hintergrund der Verbesserung waren Dortmund und Umgebung von der durch die Stadt und verteilten stoßweise der wirtschaftlichen Gesamtlage hatten Besetzung durch französische Truppen Propagandamaterial unter die Passanten. sich mit der Dezemberwahl von 1924 wie- geräumt. Auf Reichsebene hatte ein inter- Motorradfahrer- und Radfahrerkonvois der die politischen Verhältnisse stabilisiert nationales Abkommen – der Dawes Plan warben für die jeweils favorisierten Par- und der Sozialdemokratie und dem Zent- vom 16. August 1924 – zur Anpassung der teien. Die Sozialdemokratie in Verbin- rum die absolute Mehrheit der Sitze im Reparationszahlungen des Deutschen dung mit dem Reichsbanner, einer Stadtparlament eingebracht. Mit 27,9 % Reiches geführt. Mit einer in dem Ab- Schutzformation der Weimarer Republik, wurde die SPD vor dem Zentrum (23,5 kommen festgelegten amerikanischen Ka- schickte in Dreierreihen geordnet „leben- %) wieder zur stärksten Partei in Dort- pitalanleihe von 800 Millionen RM wur- de Plakatsäulen“ durch die Stadt, wäh- mund und stellte mit Fritz Henßler auch den die negativen inflationären und politi- rend die KPD insbesondere im Dort- den Stadtverordnetenvorsteher. Die KPD, schen Auswirkungen der Jahre 1923/24 munder Norden einen klassenkämpferi- traditionell überdurchschnittlich stark im weitgehend verbessert, wenn sich das auch schen Wahlkampf mit Agitationstheater Dortmunder Norden, erzielte 17,7 %, die nicht besonders auf die Arbeitslosenzah- und anderen populären Aktionen wie DNVP 13,3 %, die DNVP 5,9 % und die len der monostrukturierten Industriestadt beispielsweise „Rollerbrigaden“ von Kin- liberale Deutsche Demokratische Partei Dortmund ausgewirkt hatte. dern führte. (DDP) 5,3 % der abgegebenen Stimmen. Die neuen politischen und wirtschaftli- Durch diese unterschiedliche, kreative Die erstmals in Dortmund kandidierende chen Rahmenbedingungen ergaben de Form eines erstmals modern geführten „Nationalsozialistische Freiheitspartei“ – ... und KPD-Rollerbrigade am Borsigplatz, um 1930

Wahlkämpfe: SPD-Lautsprecherwagen 1928 ... die Vorläuferin der NSDAP – erhielt mit dem Volkspark mit der Kampfbahn Rote bei den ebenfalls am 20. Mai 1928 stattge- knapp über 1.000 (0,8 %) Stimmen noch Erde und dem Volksbad, dem Flughafen fundenen Stadtverordnetenwahlen in kein Mandat im Stadtparlament. zahlreiche Behörden- und Wohnungsbau- Groß-Dortmund das Bekenntnis zu den Mit dem Ergebnis der Stadtverordne- ten, wissenschaftliche Institute wie das demokratischen Regierungsparteien noch tenwahlen vom Dezember 1924 waren Kaiser-Wilhelm Institut für Arbeitsphy- wesentlich deutlicher aus als bisher. Die die Voraussetzungen für eine künftige siologie und die Pädagogische Akademie Sozialdemokratie erreichte 35,0 % der stabile und seriöse Kommunalpolitik ge- sowie als Landmarke der Moderne, 1929 Wählerstimmen und führte damit das po- währleistet, zumal Sozialdemokratie und das „Westfalenhaus“. litische Spektrum vor der Zentrumspartei Zentrumspartei in Dortmund besser ko- Ausdruck der politischen und wirt- (19,1%) an. Als dritte Kraft hatte sich – operierten als auf Reichsebene. schaftlichen Konsolidierung waren die eine Dortmunder Besonderheit – mit 13,6 Reichstagswahlen und Stadtverordneten- % eine „Kommunale Einheitsliste“, beste- Auf dem Weg zu Groß-Dort- wahlen vom 20. Mai 1928. In Dortmund hend aus DVP, DNVP, DDP und Volks- mund: Die Stadtverordneten- konstatierte man die bisher friedlichste rechtspartei etabliert und damit die KPD wahlen vom 20. Mai 1928 Reichstagswahl, die gleichzeitig mit (13,3 %) überflügelt. Die extreme Rechte, Landtagswahlen und – aufgrund der 1928 repräsentiert durch die NSDAP, spielte erfolgten Eingemeindungen nach Dort- mit 0,6 % in Dortmund 1928 noch keine Zu Beginn des Jahres 1925 war auch in mund – mit neuen Stadtverordnetenwah- Rolle. Dortmund eine politische und wirtschaft- len verknüpft war. Mit der Stadt Dort- Zu den 1928 eingemeindeten neuen liche Konsolidierungs- und Stabilisie- mund waren im April 1928 die Stadt Hör- Stadtteilen gesellten sich am 1. August rungsphase eingetreten, wobei Oberbür- de und die Gemeinden Oespel, Kley, Lüt- 1929 bei der Integration des Landkreises germeister Eichhoff als Vorsitzender des gendortmund, Bövinghausen, Kirchlinde, Hörde nach Dortmund noch neun Ge- Magistrats gemeinsam mit der Stadtver- Marten, Westerfilde, Bodelschwingh, Brü- meinden im Süden von Dortmund: Apler- ordnetenversammlung, bestehend aus der ninghausen, Mengede, Nette, Ellinghau- beck, Barop, Berghofen, Kirchhörde, „Weimarer Koalition“ – SPD, Zentrum sen, Holthausen, Brechten, Kirchderne, Schüren, Sölde, Somborn, Syburg und und Demokratische Partei – dafür sorgte, Derne, Grevel, Lanstrop, Kurl, Husen As- Wellinghofen. Dortmund war damit nach dass ab 1925 in Dortmund zahlreiche seln und Wickede des Landkreises Dort- Groß-Berlin zur flächengrößten Stadt des spektakuläre Bauvorhaben und Weichen- mund vereinigt worden. Damit hatte sich Deutschen Reichs geworden und verkör- stellungen für den späteren Wirtschafts- Dortmund um 135.000 auf 465.000 Ein- perte quasi den neuen Typus einer „aufge- standort Dortmund realisiert wurden. wohner vergrößert. Nicht zuletzt aufgrund lockerten Industriegroßstadt“. Das neue Dazu zählten neben der Westfalenhalle, des neuen Eingemeindungspotentials fiel Groß-Dortmund umfasste jetzt 27.152 38 | Parteien und Kommunalpolitik 1919–1929 Heimat Dortmund Heimat Dortmund Parteien und Kommunalpolitik 1919–1929 | 39

Wahlkampfveranstaltung und letzte kirchliche Großveranstaltung vor der Machtergreifung mit Ex-Reichskanzler Heinrich Brüning, Großkundgebung der KPD in der Westfalenhalle, Ende 1932 Juli 1932 in Dortmund, Stadion Rote Erde

Hektar und die Rekordeinwohnerzahl von Wilhelm Hansmann (1886-1963), durch- Die Wahlen zur Stadtverordnetenver- Großindustriellen Albert Vögler ange- taschen umgürtet taten sich sehr wichtig – bis Ende des Jahres auch das Deutsche 541.667 Personen. gesetzt werden mussten, hatte sich neben sammlung vom 17. November 1929 selbst führten DVP (13,6 %) – ein wahres De- wurden aber von besonnenen Elementen er- Reich erfasste, führte bis 1931 zu einer Die große Eingemeindungswelle von der Sozialstruktur auch die politische waren in Dortmund recht ruhig verlaufen. saster erlebte. Die Deutsche Demokrati- freulicher Weise über die Schulter angesehen! faktischen Aufhebung der kommunalen 1928 und 19929 waren für die Großstadt- Landschaft der neuen Westfalenmetropo- Die Wahlbeteiligung von 65 Prozent war sche Partei (DDP), die eine langjährige, Selbstverwaltung. Die schlechte konjunk- werdung Dortmunds von grundsätzlicher le etwas verschoben. Somit wurden am 17. nicht gerade überdurchschnittlich ausge- zum Teil starke linksliberale Tradition in Im Vergleich zu anderen Städten des turelle und krisenhafte Entwicklung hatte Bedeutung, kommunalpolitisch getragen November 1929 neue Stadtverordneten- fallen. Der Dortmunder General-Anzei- Dortmund aufzuweisen hatte, verabschie- Ruhrgebiets scheint das Spektrum der ohnehin schon die finanziellen Möglich- insbesondere durch Oberbürgermeister wahlen notwendig. ger (Ausgabe 18.11.1929) berichtete von dete sich mit 1,8 % in Dortmund quasi aus klassischen Weimarer Parteien – mit Aus- keiten der Städte und Gemeinden einge- Ernst Eichhoff und den seit 1925 (bis erheblicher Wahlmüdigkeit der Bevölke- der Parteienlandschaft, was besonders in nahme vielleicht der relativ zunehmenden schränkt. Infolge der verringerten Steuer- 1932) in Dortmund agierenden Bürger- Die Stadtverordnetenwahlen rung an einem regnerischen, trüben Sonn- der linksliberalen Presse und hier im Schwäche der ursprünglich linksliberalen einnahmen des Reiches fielen die Zuwen- meister Paul Hirsch. Dr. Paul Hirsch vom 17. November 1929 im tag und vom ersten Schneefall des Jahres. Dortmunder General-Anzeiger diskutiert Deutschen Demokratischen Partei – bis dungen an die Kommunen immer niedri- (1886-1940) war bereits vor dem Ersten neuen Groß-Dortmund Abgesehen, dass es im Dortmunder Nor- wurde. Zum ersten Mal machten die 1933 der Weimarer Republik überdurch- ger aus. Die seit 1929 immens steigende Weltkrieg einer der produktivsten kom- den etwas lebhafter zugegangen sei, ist in bürgerlich rechts orientierte Reichspartei schnittlich stark die Treue gehalten zu ha- Zahl der aus der Arbeitslosenversicherung munalpolitischen Autoren der Sozialde- den Kommentaren lediglich von einer des deutschen Mittelstandes (Wirt- ben. Die politische Präsenz insbesondere Ausgesteuerten bürdete den Städten und mokratie gewesen und galt zudem und als Die Wahlen vom 17. November 1929 gel- „Krise der Selbstverwaltung“ und von schaftspartei: 5,1 %) und der ebenfalls der Sozialdemokratie, des Zentrums und Gemeinden Fürsorgelasten auf, die ihre Fachmann für kommunale Gebietsrefor- ten in der Politik- und Stadtgeschichte einer „Schönwetterdemokratie“ die Rede. politisch rechts angesiedelte Evangelische des Linksliberalismus drückt sich nicht Finanzquellen bei weitem überstiegen. men. Als Abgeordneter des Preußischen Dortmunds als die einzigen demokrati- Die SPD blieb auch bei dieser Wahl nach Volksdienst (3,5%) auf sich aufmerksam. zuletzt durch die für eine Großstadt wie Mit dem Regierungsantritt des Zent- Landtages, ehemaliger Preußischer Minis- schen Wahlen, die auf dem Gebiet der wie vor mit 33,3 % der Stimmen und Die NSDAP (Nationalsozialistische Deut- Dortmund nie mehr erreichte Vielfalt und rumspolitikers und neuen Reichskanzlers terpräsident, bis 1924 Bürgermeister von heutigen Stadt Dortmund vor 1945 statt- 30 Ratssitzen stärkste Stadtverordneten- sche Arbeiterpartei) zog im November Qualität von Presserzeugnissen, wenn Heinrich Brüning vom 28. März 1930, der Berlin-Charlottenburg, machte Hirsch gefunden haben. Das politische Kräftever- fraktion. Das Zentrum hielt sich mit 22,5 1929 mit 1,8 % der Wählerstimmen erst- auch vorwiegend der jeweiligen politisch ein bürgerliches Kabinett ohne parlamen- seine vielfältigen Beziehungen zur Preußi- hältnis der Parteien in der Stadtverordne- % stabil und erhielt 19 Sitze im Stadtpar- mals mit einem Stadtverordneten, dem orientierten Klientel verpflichtet, aus, die tarische Mehrheit anführte, wurden die schen Regierung in Berlin für die Stadt tenversammlung hat sich nach dieser Wahl lament. Die Kommunisten, die in ihren Schlosser Heinrich König, in das Dort- von der „Westfälischen Allgemeinen Gemeinden immer mehr unter die Kuratel Dortmund nutzbar. Es wird seiner Initia- über die gesamte Endphase der Weimarer Wahlkampf hauptsächlich gegen den munder Stadtparlament ein. Die „Haken- Volks-Zeitung“ (SPD), der „Tremonia“ der Länder gestellt. Brüning reagierte auf tive und seinen guten Kontakten zuge- Republik nicht mehr verändert und ist Youngplan (Reparationsverhandlungen kreuzler“ tauchen in der Dortmunder (Zentrum), der „Dortmunder Zeitung“ den 1929 erfolgten Zusammenbruch von rechnet, dass die Pädagogische Akademie, nach 1945 von der britischen Militärregie- bzw. Reparationszahlungsplan betr. das Presse noch nicht nachhaltig auf, außer in (DVP), dem „Westfälischer Kämpfer“ Wirtschaft und Staatshaushalt mit Steu- das Arbeitsphysiologische Institut und die rung als politisch proportionaler Demo- Deutsche Reich 1929/1930) auf Reichse- einem Stimmungsbild vom Wahltag im (KPD) bis hin zum parteiunabhängigen, ererhöhungen, Gehaltskürzungen, Entlas- Augenklinik nach Dortmund geholt wer- kratisierungsmaßstab angesehen worden. bene agitiert hatten und lokalpolitische General-Anzeiger (18.11.1929), in dem es tendenziell linksliberalen Dortmunder sungen im öffentlichen Dienst, Renten- den konnten. Im Zuge der massiven Ein- Die erste von der Militärregierung einge- Akzente vernachlässigten, kamen auf 11,6 heißt: „General-Anzeiger“, der größten Tages- kürzungen, Kürzung von Arbeitslosenhilfe gemeindungen, die, was die Stadt und den setzte Stadtverordnetenvertretung nach % (10 Mandate), während die „Kommu- Hakenkreuzplakate wurden an allen Ecken zeitung außerhalb , reichten. und extremer Sparpolitik. Landkreis Hörde anbetrafen, gegen den dem Krieg vom 14. Dezember 1945 orien- nale Einheitsliste“, bestehend aus DVP, und Enden vor allem in der Nähe von Wahl- Die sich infolge des Börsencrashs vom Die von ihm durchgesetzten „Notver- erbitterten Widerstand des „roten Land- tierte sich an dem politischen Kräftever- DNVP, DDP und Volksrechtspartei – mit lokalen angepinkelt. Hakenkreuzler in voller 24. Oktober 1929 in den Vereinigten Staa- ordnungen“ von 1930/1931gelten heute rats“ von Hörde, des Sozialdemokraten hältnis der Parteien von 1929. Ausnahme der von dem Dortmunder Ausrüstung mit Sturmriemen und Patronen- ten zuspitzende Weltwirtschaftskrise, die als mitverantwortlich für das Ende der 40 | Parteien und Kommunalpolitik 1919–1929 Heimat Dortmund Heimat Dortmund Die Dortmunder Presse in den 1920er Jahren | 41 Die Dortmunder Presse in den 1920er Jahren

von Hans Bohrmann Fahrt auf. In der Bismarck-Zeit sind dann land und vom Märkischen Kreis mit Ne- bis zum Ersten Weltkrieg die auch für die benausgaben für Dortmunder Bezirke ein- nächsten Jahrzehnte wichtigsten Blätter pendelten und so Insertionsmöglichkeiten entstanden. für die Geschäfte vor Ort boten, die für die Die Geschichte der periodischen Presse kleinen Inserenten bezahlbar waren. Die geht insgesamt mehr als 400 Jahre zurück. Blütezeit der Dortmunder regional, teilweise auch weit über Dort- Die ältesten Erscheinungen sind von 1609 Presselandschaft: mund hinaus verbreiteten Titel unterhiel- überliefert, beide in deutscher Sprache. Die 1920er und 1930er Jahre ten gegliederte Redaktionen, die gemessen Überblickt man die Entwicklung seitdem, an Redaktionsgrößen in der zweiten Hälf- sind unschwer verschiedene Stufen zu un- te des 20. Jahrhunderts eher klein, aber für terscheiden. Ganz grob gesprochen kann Wenn in der Pressegeschichtsschreibung die Weimarer Zeit beachtlich waren. Sie die vorindustrielle von der industriellen Dortmunds nach einer Achsenzeit gefragt wurden lediglich in den reichsweit von und der postindustriellen Phase unter- wird, in der sich die positiven Attribute Berlin aus verbreiteten Zeitungen über- schieden werden. Diese Dreiteilung passt klassisch zusammen präsentieren, dann troffen. In den Dortmunder Redaktionen auf die Presse in Dortmund ganz gut, de- kommen als Antwort nur die 1920er Jahre arbeiteten ständig mehr als ein Dutzend ren Vorgeschichte wenig vielfältig ist und und der Anfang 1930er Jahre in Frage. Die fest angestellter Mitarbeiter. erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- Pressestruktur Dortmunds und seiner Die Dortmunder Zeitung (Verlag C.L. NSDAP-Großkundgebung mit Adolf Hitler, Westfalenhalle, 17. Februar 1933 derts beginnt. Ursache für das späte Auf- Umgebung war in dieser Zeit ungewöhn- Krüger, gegr. 1874, mit Vorläufern 1828) tauchen von Zeitungen in Dortmund war lich stark ausgeprägt. Neben den großen im Verlag Krüger, artikuliert sich als „bür- die geringe Bevölkerungszahl von wenigen Zeitungstiteln, welche die Gesamtstadt gerlich“. Chefredakteur war Robert Roh- Tausend Einwohnern und die damit ein- auch mit entsprechenden Anzeigen abde- de. Das Blatt steht politisch der DVP hergehende geringe wirtschaftliche Po- cken und das politische Spektrum abbil- nahe, vorübergehend auch nationalliberal Weimarer Republik. Die finanzielle Aus- musste. Die Stadtführung verlor im Ver- sowie Verhaftungen von gewählten Stadt- tenz. Die Dortmunder Pressegeschichte den, steht eine erhebliche Anzahl kleinerer orientiert, d.h. mit der DNVP sympathi- trocknung der Kommunen und die Zer- lauf der Wirtschaftskrise mangels finanzi- verordneten nicht mehr als demokratisch nimmt erst mit der Industrialisierung Lokalblätter, die teilweise vom Münster- sierend. Überliefert ist bisher nur eine An- schlagung ihrer Selbstverwaltung in der eller Ressourcen vollends jeglichen Hand- zu bezeichnenden Reichstagswahlen vom Endphase der Weimarer Republik führten lungsspielraum, während die KPD und 5. März 1933 und den darauf folgenden dazu, dass sich auf dem Hintergrund der nun auch die Nationalsozialisten in Dort- Stadtverordnetenwahlen in Dortmund vom General-Anzeiger, Werbung 1928: 250.000 Auflage weltweiten Konjunkturkrise die Massen- mund stärkeren Zulauf erhielten. Ende 12. März 1933 gelang es der NSDAP zwar (Stadtarchiv Dortmund) arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit 1932 nahmen beispielsweise über 50.000 mit 27,0 % (Reichsdurchschnitt: 43,9 %) der Menschen verschärften. Allein die Besucher an einer Großkundgebung der bzw. bei den Kommunalwahlen mit 30,2 % radikalen politischen Parteien und deren KPD in der Westfalenhalle mit dem zur stärksten politischen Kraft in Dort- Exponenten gewannen in dieser Phase zu- Hauptredner Ernst Thälmann (MdR) teil. mund zu werden, aber der rechtsradikalen nehmend an Anhängerschaft. Diese ver- Im Zuge der anhaltenden Wirtschafts- Partei standen hier immer noch der Block heerende Entwicklung machte nach ei- krise mündete die politische Krise in die der SPD (19,8 %) und des Zentrums (19,4 nem relativ politisch stabilen Jahr 1929 die Machtergreifung Adolf Hitlers, der sich %) gegenüber, während die KPD (18,2 %) Wahlerfolge der NSDAP ab 1930 erst auf einer NSDAP-Großkundgebung am und deren Funktionsträger bereits national- möglich. 17. Februar 1933 in der Dortmunder sozialistischen Verfolgungen und Terror- Im Verhältnis zu vielen Städten im Westfalenhalle seiner begeisterten Anhän- maßnahmen ausgesetzt waren. Das Ende Werbeschild des „Dortmunder General-Anzeigers“ Deutschen Reich verschlechterten sich in gerschaft präsentierte. der Weimarer Republik, das Ende Demo- (Stadtarchiv Dortmund) Dortmund aufgrund der wirtschaftlichen Die letzte große Massenkundgebung kratie und der Beginn der nationalsozialis- Monostruktur die wirtschaftlichen und der SPD und der „Eisernen Front“ fand tischen Diktatur waren damit, wenn es sozialpolitischen Rahmenbedingungen vor etwa 30.000 bis 40.000 Anhängern auch viele Zeitgenossen und Parlamentari- nach 1930/1931 zunehmend. Für die wirt- der sozialen Demokratie am 26. Februar er noch nicht wahrhaben wollten, besiegelt. schaftlich monostrukturierte Stadt Dort- 1933 in und um die Westfalenhalle statt. mund kam erschwerend dazu, dass das Im Vorfeld der letzten Reichstags- und Quellen und Literatur: Gros der Arbeitslosen aus Männern be- Stadtverordnetenwahlen der Weimarer stand, da sich Schwerindustrie und Berg- Republik stand die Veranstaltung unter Graf, Hans, Die Entwicklung der Wahlen und poli- bau vorwiegend aus männlichen Arbeits- dem Motto „Volksrecht über Herrenrecht tischen Parteien in Groß-Dortmund, 1958 kräften rekrutierten. Bei einer Gesamtbe- – gegen Hitler“. Versammlungsleiter war Högl, Günther, Das 20. Jahrhundert. Urbanität völkerung von 525.000 (1932) ergab sich der führende SPD-Vertreter Dortmunds und Demokratie, in: Geschichte der Stadt Dort- für Dortmund, dass zeitweilig 40 % der und Reichstagsabgeordnete Fritz Henß- mund, hrsg. v. Stadtarchiv, Dortmund 1994. Bevölkerung aus öffentlichen Mitteln un- ler. terstützt werden mussten, was für die Stadt Bei den wegen der zunehmenden Terror- Sämtliche Abbildungen dieses Beitrags: zum sozialpolitischen Kollaps führen und Gewaltakte der Nationalsozialisten Stadtarchiv Dortmund 42 | Die Dortmunder Presse in den 1920er Jahren Heimat Dortmund Heimat Dortmund Die Dortmunder Presse in den 1920er Jahren | 43

gabe über die Höhe der Auflagenzahlen: Funktionen von Verleger, Drucker und immer die stärkste Fraktion im Stadtpar- 1930 waren dies 36.500 Exemplare. Redakteur waren oft nicht getrennt, wie es lament. Zur Durchsetzung kommunalpo- Der General-Anzeiger (gegr. 1887) er- noch für die Geschichte der Presse vor litischer Ziele war sie jedoch in der Regel zielt durchgängig die höchste Auflage aller 1848 typisch war. Der Derner Lokalanzei- auf die Unterstützung der Zentrumsfrak- Dortmunder Blätter und wirbt damit, die ger, die Lütgendortmunder Amtszeitung tion und in den meisten Fällen auch auf höchste Auflage der Zeitungen außerhalb (Druckerei Wulff ), der Dortmund-Men- die des Oberbürgermeisters angewiesen. Berlins zu erzielen. Er erreicht bereits vor geder Lokal-Anzeiger (Verlags Arnold), Die sich im Besitz der SPD befindliche dem Ersten Weltkrieg mehr als 100.000 der Martener Anzeiger, die Martener Zei- Westfälische Allgemeine Volkszeitung Exemplare, die nach dessen Ende rasch tung, Martener Anzeiger, das Barop- war stark bis in die letzten Tage der Wei- wieder erreicht und schon Mitte der zwan- Hombrucher Volksblatt (Verlag May), das marer Republik hinein in Dortmund prä- ziger Jahre deutlich übertroffen werden, Hellweg – Märkische Volksblatt (Verlag sent. Der linksliberale General-Anzeiger Ab 1929 wird von 250.000 Stück gespro- May) in Wickede und die beiden Hörder war weit auflagenstärker und populärer, chen. Der General – Anzeiger, an dessen Zeitungen: Hörder Volksblatt und Hörder sogar bei vielen Anhängern der SPD. Er Verlag Krüger und überwiegend der Blatt- Volksfreund (Verlag Lensing).Deren Ver- entwickelte zunehmend ein linksliberales, macher Karl Richter (1880–1931) betei- lage waren teilweise untereinander ver- pazifistisches und sogar sozialpolitisch ligt sind, hat keine Parteibindung und bunden, erschienen in Weimarer Zeit ge- nennt sich demokratisch und republika- legentlich mit leicht modifizierten Titeln. nisch). Sie bezeichneten sich bis auf den Hörder Die Tremonia (gegr. 1875) im Verlag Volksfreund, der politisch dem Zentrum Lensing ist seit Gründung im Kultur- verpflichtet war (und zur Tremonia Grup- kampf gegen Bismarck ein Zentrumsblatt. Fritz Henßler, in den 1920er Jahren Chefredakteur der pe gehörte), als neutral oder parteilos. Ihre Auflage stieg von 30.000 vor dem WAVZ, nach 1945 Lizenzträger der Westfälischen Nach der Eingemeindung 1929 erzielten Ersten Weltkrieg bis auf 50.000 Exempla- Rundschau (Stadtarchiv Dortmund) die Hörder Blätter dabei die höchsten re an. Chefredakteur war Dr. Joseph Hoff- Auflagen der Vorortzeitungen und lagen mann. Die publizistische Wirksamkeit bei 10.000 Stück; die anderen lagen deut- war aber entscheidend größer, weil die ebenfalls von Essen). In den Handbüchern lich unter 5.000 Exemplaren. Das ent- zahlreichen kleinen Zentrumszeitungen wird lediglich für den ab 1930 in Dort- sprach dem Bild, das die Zeitungen überall im Münsterland ihren Mantel übernah- mund populären Westfälischen Kämpfer in Deutschland, auf dem Lande und in men (Zeno-Zeitungsgruppe). Die Westfä- (KPD) eine Auflage angegeben, die jedoch den kleinen Städten boten. Es war jene lische Allgemeine Volks Zeitung (WAVZ) deutlich unter 20.000 Exemplaren lag. Kleinpresse, die allein durch die Zuliefe- der Sozialdemokratie konnte ab 1890 (mit rung des (politischen) Mantels, oft zu be- Vorläufern 1878, dann verboten; Verlag Kleinere Zeitungen in sonders günstigen Konditionen – aus Gehrisch), als das Sozialistengesetz nicht Dortmund und Hörde durchsichtigen Gründen – von dem natio- verlängert wurde, erscheinen. Chefredak- nalkonservativen Hugenberg-Pressekon- teur war in der Weimarer Zeit der promi- zern bedient wurde. Der nationalsozialisti- nente Dortmunder Sozialdemokrat Fritz Die kleinen Dortmunder Zeitungen wa- schen Politik entstand damit ein einfluss- Henßler, der die NS-Verfolgungen und ren Vorortzeitungen, die überwiegend von reicher Vorreiter. Eine Konkurrenz zu den „Der Kämpfer“, letzte Ausgabe vom 20. Februar 1933 (Institut für Zeitungsforschung) Dr. Jakob Stöcker, Chefredakteur des General- langjährige Konzentrationslagerhaft über- Alleinredakteuren gestaltet wurden. Die großen Zeitungen auf dem Dortmunder Anzeigers bis 1933 (Stadtarchiv Dortmund) lebte und nach dem Zweiten Weltkrieg Oberbürgermeister der Stadt Dortmund wurde. Die Auflage der WAVZ wird seit der Werbeaktion für die Zeitung „Der Kämpfer“ in Dortmund-Wellinghofen, 1932 (Stadtarchiv Dortmund) Markt stellten diese Presserzeugnisse zu- und ab 1929 Dr. Jakob Stöcker (1886- links von der SPD positioniertes Profil, Vorweltkriegszeit mit 25.000 Exemplaren nächst nicht dar, sondern bildeten viel- 1969). Der Mitverleger Karl Richter und grenzte sich aber eindeutig von der KPD angegeben, sinkt bis zur Mitte der 1920er mehr die lokale Ergänzung zur weit gefä- Stöcker waren über Dortmund hinaus be- ab. Der General-Anzeiger zog prominente Jahre wohl auf unter 20.000, um gegen cherten Presselandschaft der Weimarer kannte Journalisten. Journalisten und Autoren (Helmut von Ende der Weimarer Republik mit 30.000 Zeit, auf die viele Bürger wert legten. Die Tremonia lieferte den überregiona- Gerlach, Alfons Goldschmidt, Otto Leh- Exemplaren wieder deutlich anzusteigen. Für die regional und überregional gut len politischen Mantel für die zahlreichen mann-Rußbüldt, Prof. Ludwig Quidde, Die politischen Flügelparteien, die we- nachgefragten Zeitungstitel, die, wie im kleinen Zeitungen (Zentrumsblätter der Erik Reger u. a.) aus ganz Deutschland an, der auf Reichsebene, noch im Dortmunder Deutschen Reich üblich, überwiegend im ZENO Gruppe) im Münsterland, die dort die regelmäßig für Beiträge – auch Leitar- Rat kooperationsfähig waren – NSDAP Abonnement verkauft wurden, kann fest- unter eigenen Titeln erschienen. Auch sie tikel – gewonnen werden konnten. Sie be- und KPD – gaben in Dortmund keine gestellt werden, dass der Umfang des An- beschäftigten profilierte Journalisten, de- trachteten das Blatt als wichtiges, auch selbstständigen Blätter heraus. Für die zeigenteils ertragreich war und sich die ren Ruf über Dortmunds Grenzen hinaus überregional gehörtes Forum. Darunter NSDAP in Dortmund gilt, dass Sie bei jeweiligen Redaktionen deshalb mehr und reichte. Die Zentrumspartei war im Dort- auch der Pressezeichner Emil Stumpp den Kommunalwahlen von 1920 bis 1929 gut bezahlte Mitarbeiter leisten konnten. munder Rat und Magistrat sehr gut ver- (1886-1941), dessen Atelier die ganze ohnehin keine Rolle spielte. Die Zeitun- In den 1920er Jahren war die Verbreitung netzt und stützte Oberbürgermeister Zeit in Berlin blieb, der aber Dortmund gen der beiden Parteien pendelten mit Ne- dieser Blätter über Dortmund hinaus be- Eichhoff (DVP), der von 1910 bis 1933 als seine Zeitungs- Heimat ansah, was die benausgaben von außerhalb ein: National- achtlich. Der General-Anzeiger war ein amtierte. Die Sozialdemokratie stellte in zahlreichen Dortmunder Stadtansichten Zeitung (gegr. 1931, NSDAP-nahe, von Blatt für Westdeutschland, das bis ins der Arbeiter- und Industriestadt Dort- und Zeichnungen zu Dortmunder Ereig- Essen), die Rote Erde (NSDAP-Gaublatt Rheinland und über das Münsterland bis mund in ständiger Konkurrenz mit der nissen aus seiner Feder belegen (vgl. den für Westfalen Süd von Bochum) und des zur holländischen Grenze gekauft wurde. KPD bei den Kommunalwahlen – ausge- Beitrag von G. Toepser-Ziegert in diesem Westfälischen Kämpfers (gegr. 1923, KPD, Chefredakteure waren Carl von der Heydt nommen die Krisenwahl vom Mai 1924 – Heft). 44 | Die Dortmunder Presse in den 1920er Jahren Heimat Dortmund Heimat Dortmund Die Dortmunder Presse in den 1920er Jahren | 45

Presseversorgung in Dortmund wieder in Gang zu setzen. Die Folgen der Zeitungs- politik der Nationalsozialisten einerseits und die für Zeitungsverlage desaströsen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs ande- rerseits erzwangen rasche Entscheidun- gen. 1933 war die Westfälische Allgemei- ne Volks Zeitung von den Nationalsozia- listen verboten und deren Redaktionsräume geschlossen worden. Im April 1934 war das (sehr kleine) NSDAP Gaublatt (des Gaus Westfalen Süd, Rote Erde) von Bo- chum nach Dortmund verlegt und mit dem beschlagnahmten General-Anzeiger zur (nationalsozialistischen) Westfälische Landeszeitung Rote Erde vereinigt wor- den. Den bisherigen Lesern von WAVZ und General-Anzeiger konnte das neue „braune“ Blatt nicht gefallen. Das Verbrei- tungsgebiet der Westfälischen Landeszei- Druckereigebäude des General-Anzeigers in der Bremerstraße, 1930 (Stadtarchiv Dortmund) Karoline Urstadt (1903-1944), Journalistin, Schriftstellerin, tung blieb begrenzt, weil das Dortmunder Einweihung des Rundfunksenders Dortmund 1925 (Stadtarchiv Dortmund) Lithographie E. Stumpp (Institut für Zeitungsforschung) Gau-Blatt (gemäß der lokal begrenzten Einteilung der NS-Gaue) schnell an die Verbreitungsgebiete anderer Gaublätter Das Feuilleton im General-Anzeiger alle Zeitungen sozialistischer und demo- weite Teile Westfalens und sogar des stieß. Zeitung, die auch in Dortmund verbreitet und seines unmittelbaren Umlandes be- (Redaktion „Frl. Dr. Karoline Urstadt“) kratischer Prägung verboten. Nach 1933 Rheinlands mit abdeckte. Nicht von unge- Während des Zweiten Weltkriegs waren wurde. Bereits bevor es in Dortmund zur schäftigt. Die Westfälische Rundschau, konnte breiten Raum beanspruchen und und vor allem ab Kriegsbeginn 1939 wur- fähr hieß der Berufsverband der Zeitungs- auch die Dortmunder Blätter kriegsbe- Lizenzierung der Westfälischen Rund- die in die Fußstapfen des 1933 verbotenen gerade weil die Kernredaktionen viel klei- den die lokalen Blätter fusioniert oder ver- verleger (mit Vorort in Bochum) Nieder- dingt im Umfang ausgedünnt und zusam- schau kam, war in Münster unter dem General-Anzeigers hätte treten können, ner waren, als wir es heute gewohnt sind, schwanden ganz vom Markt. Die natio- rheinisch – Westfälischer Zeitungsverle- mengefasst worden. Die Zeitungsrotati- Titel Westfälische Nachrichten ein Nach- wurde zwar vom Münsterland bis ins Sie- wurden Fachkenner aus der Stadt von au- nalsozialistische Pressepolitik ließ mit ih- ger Verein. Die Zwischenkriegszeit war onsmaschinen waren fast alle dem Bom- folgeblatt des dortigen Westfälischen gerland mit Nebenausgaben verbreitet, ßerhalb der Redaktion zur Mitarbeit her- ren Presseanweisungen keine Zeitung un- deutschland- und europaweit eine Medie- benkrieg zum Opfer gefallen. Lediglich Anzeigers (Zentrum) im Traditionsverlag aber das Rheinland, wo man den General- angeholt, die das Profil des ganzen Blattes kontrolliert. Ziel war es, vor allem die nepoche, in der unbestreitbar die Zeitun- aus dem Druckhaus Bremer Straße konn- Aschendorff erschienen. Die Westfäli- Anzeiger früher auch gern gelesen hatte, so bestimmten, wie es heute bei überregio- überregionale Presse im Sinne der Partei gen publizistisch den Ton angaben. In ten einige Maschinen des General-Anzei- schen Nachrichten waren mit ihrem Man- wurde nun bereits von anderen Lizenzzei- nal verbreiteten Blättern üblich ist. Für auszurichten und, wenn möglich, in wirt- Weltstädten wie Frankfurt, Berlin und gers unter den Trümmern geborgen und tel zur Stelle, als nach der Lizenzfreigabe tungen bedient. Selbst in Dortmund Dortmund ist das für die Bauberichter- schaftliche Abhängigkeit des Parteikon- Zürich erschienen Zeitungen drei Mal am wiederhergestellt werden. (1949) die münsterländischen Zeno-Zei- konnte die Westfälische Rundschau bis stattung (Hochbau, Tiefbau) und archi- zerns Eher Verlag (München, Berlin) und Tag. Auch in Dortmund gab es, u.a. beim Da aber hatten die Besatzungsmächte tungen wieder erschienen. Die Ruhr heute keine Marktführerschaft mehr ge- tekturbetonte Stadtentwicklung, insbe- seiner unter anderen Namen firmierenden General-Anzeiger, Morgen- und Abend- schon in Oelde, wo das Druckhaus der Nachrichten als Nachfolger der Tremonia winnen. sondere was die Bauten der Moderne an- Töchter zu bringen. und Sonntagausgaben. „Glocke“ erhalten geblieben war, den hatten in Dortmund das Nachsehen. Sie Zeitungstitel sind langlebig. Der Verlag betrifft, nachzuweisen. In den 1920er Jahren stand Dortmund Das Radio (Hörfunk) war erst in den Westfälischen Kurier in vielen Lokalsaus- waren angesichts des sehr späten Lizen- der Westfälischen Rundschau hat den Ti- Im April 1933 fiel mit dem Diebstahl für eine ganz klare Zeitungssignatur, die Kinderschuhen und die Wochenschau, die gaben auf den Weg gebracht. In Bochum, zierungstermins damals noch mit der tel Dortmunder Generalanzeiger gekauft, des Dortmunder General-Anzeigers die seit dem Ersten Weltkrieg als visuelle und später in Essen, erschien bereits die Ruhr Konsolidierung des Dortmunder Marktes wohl um das neue Erscheinen eines Blat- letzte Bastion der freien Presse. Die Nati- Anfang der dreißiger Jahre audiovisuelle tes unter dem Traditionstitel zu verhin- onalsozialisten „beschlagnahmten“ in ei- Sonderdruck der NSDAP über die Zwangsfusion von Nachrichtenübermittlerin auftrat (geknüpft dern. Ebenso haben die Ruhr Nachrich- ner Nacht- und Nebelaktion des populärs- Roter Erde und General-Anzeiger (Stadtarchiv Dortmund) an Vorführungen von Spielfilmen im Zerstörtes Druckereigebäude des General-Anzeigers, Bremerstraße 1945 (Stadtarchiv Dortmund) ten, selbst im Verlag Lensing die Tradition te Presseorgan der Weimarer Zeit in Dort- Kino) stellte keine effektive Konkurrenz der Tremonia forttragend den Titel „Dort- mund und fusionierten die Zeitung mit zur Presse dar. munder Zeitung“ (aus dem Verlag Krüger) dem NSDAP-Blatt „Rote Erde“ (später für den Lokalteil übernommen. Das sind Westfälische Landeszeitung Rote Erde). Wendepunkt in der Presseland- die beiden großen auf dem heutigen Dort- Die Zwangsübernahme der Zeitung schaft Dortmunds nach 1945 munder Zeitungsmarkt. Die WAZ hat in hatte neben ideologischen Gründen auch Dortmund auflagenmäßig nie eine Rolle wirtschaftliche Hintergründe, zumal der gespielt, nachdem die Lokalredaktion in General-Anzeiger mit einer Auflage von Darüber, wann die industrielle Periode in den letzten Jahren stark reduziert worden 250.000 Exemplaren, hergestellt auf zwei Dortmund endete, kann gestritten werden. ist. Wie es im Zeitalter des Internets und modernen Rotationsmaschinen, dem NS- War es mit dem Ende von Kohle, Stahl den damit verbundenen Verlusten bei An- DAP-Parteiblatt Rote Erde mit einer und Bier? Wenn man auf den Zeitungss- zeigeneinnahmen in der Presselandschaft Auflage von 30.000 klar den Rang abge- tandort Dortmund schaut, liegt der Wen- weitergeht, lässt sich kaum voraussehen. laufen hatte. depunkt in der frühen Nachkriegszeit. Die Festhalten lässt sich jedoch als Fazit, dass Zum Ende der Weimarer Zeit hatten Alliierten haben beim Wiederaufbau der Dortmund als Standort von Zeitungen in die großen Blätter kaum Einbußen zu ver- Presse Strukturentscheidungen getroffen, der postindustriellen Zeit deutlich an pub- zeichnen. Infolge der Machtübernahme die sich als dauerhaft erwiesen und zu- lizistischer aber auch zeitungsindustrieller der Nationalsozialisten wurden sukzessive nächst das vorrangige Ziel hatten, die Kraft eingebüßt hat. 46 | Von der „Kieltante“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund Von der „Kieltante“ | 47

den Reichstag, dem er dann bis zu seiner Von der „Kieltante“ Auflösung angehören sollte. Von 1946 bis zu seinem Tode 1953 war Henßler Ober- bürgermeister von Dortmund. Erinnerungen an die „Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung“ Der Weg von den Wohnungen Meh- lichs und Henßlers in der Nordstraße bis zur Redaktion war kurz, da die Zeitung längst von der Lindenstraße in die im Ar- beiterstadtteil „Nordstadt“ gelegene Kiel- von Klaus Winter gert. Die jahrelangen schweren Repressali- digte sich dieser Verpflichtung durch ei- straße, Haus Nr. 5, umgezogen war. Von en gegen jedwede Form sozialdemokrati- nen diplomatisch formulierten Artikel. Kielstraße leitete sich auch der Spitzname schen Wirkens waren damit zwar beendet, Nach der Kaiserzeit firmierte die Zei- der SPD-Zeitung ab: „Kieltante“ doch die ersten Schritte fielen den bis dato tung im Untertitel zunächst als „Amtli- Von idealen Verhältnissen für die Er- Als die sozialdemokratische „Westfälische Unterdrückten sehr schwer. Georg Trem- ches Organ sämtlicher Arbeiter- und Sol- stellung einer Tageszeitung konnte Ende Allgemeine Volks-Zeitung“ im November pa, der am Entstehen der neuen Zeitung datenräte in den Reichstagswahlkreisen der 1920er Jahre auch an der Kielstraße 1930 etwas verspätet eine Sonderausgabe großen Anteil hatte, erinnerte sich später Münster-Coesfeld, Ahaus-Tecklenburg“, nicht mehr die Rede sein. Der Platzmangel anlässlich ihres vierzigjährigen Jubiläums an das mühselige Sammeln der Gelder zur später dann als „Sozialdemokratisches Or- war zum Schluß grotesk zu nennen. Ganz – und des sechzigjährigen Bestehens ihrer Bildung des finanziellen Grundstocks für gan für die Kreise Dortmund-Hörde, abgesehen davon, daß gar keine Ausdeh- Parteiorganisation – veröffentlichte, trug eine eigene Zeitung durch den Verkauf Hamm-Soest, Arnsberg-Olpe, Lüding- nungsmöglichkeit bestand, mussten dringend sie bereits ihren vierten Namen: Ursprüng- von Anteilsscheinen im Wert von 1 Mark hausen-Warendorf“ und schließlich ab notwendige Maschinen, die den Betrieb leis- lich erschienen war sie unter dem Titel und an die total verräucherte Scheune in 1921 „für die Stadt- und Landkreise Dort- tungsfähig erhalten sollten, dort unterge- „Westfälische Freie Presse“, änderte diesen der Lindenstraße, die als Druckerei ge- mund und Hörde“. 1922 war sie Publikati- bracht werden, wo gerade Platz war. Ma- Namen aber bereits nach zwei Jahren in mietet wurde, wo jedoch zu allererst ein onsorgan der freien Gewerkschaften, ab schinen gleicher Gattung waren in verschie- „Rheinisch-Westfälische Arbeiter-Zei- Fußboden verlegt und ein Fundament für 1925 des Arbeitersportkartells und ab denen Stockwerken untergebracht. Wieder tung“. Von 1902 bis 1917 hieß sie „Arbei- die Druckerpresse gemauert werden muss- 1926 der Reichsbanner-Organisation. andere Maschinen waren so eng aneinander ter-Zeitung“ und von da ab „Westfälische te. Doch gelang es nach Überwindung Während der Ruhr-Besetzung 1923/24 gestellt, daß ein einwandfreies Arbeiten eine Allgemeine Volks-Zeitung“ (WAVZ). In zahlreicher Schwierigkeiten, die ersten war die WAVZ wie viele andere Zeitungen glatte Unmöglichkeit war. Erst durch den der letzten Ausgabe der „Arbeiter-Zei- 150 Exemplare fristgerecht zu einer Ver- im besetzten Gebiet zeitweise verboten. Erwerb des Grundstückes Nordstr. 22 und tung“ (28.09.1917) wurde der erneute Na- sammlung in das Restaurant „Reichshal- weitgreifenden Umbauarbeiten konnte menswechsel so begründet: Durch diesen len“ am Westenhellweg zu liefern. Mehlich und Henßler eine Verbesserung erzielt werden. Titel kommt auch äußerlich zum Ausdruck, In der Folgezeit etablierten sich die Die Betriebsvergrößerung hatte keine daß unser Blatt ein Organ sein soll für die „Westfälische freie Presse. Organ für die 1926 verunglückte der Chefredakteur Ernst Erhöhung der – gemessen am Einzugsbe- weitesten Volkskreise, für alle Bedrückten und Interessen des arbeitenden Volkes“ und Mehlich im Alter von 44 Jahren tödlich. reich – doch vergleichsweise geringen Bedrängten, die bekanntlich nicht nur unter ihre Nachfolger. So konnte die „Arbeiter- Mehlich, ein gelernter Buchdrucker, der Auflagenzahlen zur Folge, wie aus den den Arbeitern zu finden sind. Selbstverständ- Zeitung. Sozialdemokratisches Organ für 1910 seine Tätigkeit für die Zeitung aufge- nachstehenden Zahlen hervorgeht: lich bleibt unser Blatt unter dem neuen Titel das östliche industrielle Ruhrgebiet. Pub- nommen hatte, zählt zu den prominenten das freie und unbestechliche Organ der Arbei- likationsorgan der freien Gewerkschaften“ Kämpfern der Arbeiterbewegung im östli- 1926: 23.500 terschaft, mutig und hoffnungsfreudig wird es damit werben, dass die SPD in den sechs chen Ruhrgebiet. 1919 hatte er in Dort- 1928: 28.000 Kielstraße Nr. 5, Redaktion der „Westfälischen Allgemeinen Volkszeitung“ und Volksbuchhandlung in bewährter Weise den Kampf weiter kämp- Reichstagswahlkreisen Westfalens, die im mund den Arbeiter- und Soldatenrat als 1930: 35.000 fen, der zur Befreiung und zum Sozialismus Verbreitungsgebiet der Zeitung lagen Vorsitzender geführt und wurde auch zum 1931: 38.000 führen wird. (Dortmund-Hörde, Hamm-Soest, Arns- Vorsteher der Stadtverordnetenversamm- 1932: 34.000 berg, Lüdinghausen, Münster, Tecklen- lung gewählt. 1920 war er Protokollführer nach einigen Stunden war das möglich. In- vom Verfasser dieses Beitrags entdeckt Entwicklung der Zeitung burg), bei der Wahl am 12. Januar 1912 bei der Aushandlung des sogenannten Der für 1932 festzustellende deutliche zwischen aber war das Unheil schon gesche- wurde. Es handelt sich um eine Aufnahme stolze 67.693 Stimmen erhalten hatte. „Bielefelder Abkommens“, durch das der Rückgang bei der Auflagenhöhe kann al- hen. Der bedauernswerte Geisteskranke hatte des Hauses Kielstraße 5, fünf Innenan- Das Titelblatt der erwähnten Jubiläums- Zu den Erfolgen gesellten sich häufig Reichsregierung nach der Niederschlagung lerdings auch eine Folge der zunehmen- mittlerweile einen Artikel aufgesetzt und sichten desselben sowie ein weiteres Foto. nummer der WAVZ wird fast ganzseitig schwierige, wohl auch die Existenz bedro- des Kapp-Putsches als Gegenleistung für den politischen Radikalisierung gewesen zum Druck gegeben. Obwohl die Fotos im klassischen Postkar- gefüllt durch ein grafisches Potpourri, das hende Situationen. Bereits sechs Wochen einen Waffenstillstand verschiedene Zuge- sein. Wie die WAVZ angegriffen wurde, Das Ende der WAVZ näherte sich. Als tenformat abgezogen wurden, handelt es einen weiten Bogen spannt von dem nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges ständnisse abgerungen wurden. zeigt dieses Zitat aus der nationalsozialis- in Berlin das Reichstagsgebäude brannte, sich zweifellos um Aufnahmen privaten heimlichen Verteiler sozialdemokratischer wurde gegen die „Arbeiter-Zeitung“ die Mehlichs Nachfolger als Chefredakteur tischen Zeitung „Rote Erde“ (02.09.1931): nutzten die Nationalsozialisten das Ereig- Charakters. Dass die Bilder zu einer Serie Flugblätter oder Zeitungen, der auf der sogenannte Vorzensur verhängt. Da die wurde dessen langjähriger Freund Fritz Am vergangenen Sonntag abend ist aus der nis, um alle sozialdemokratischen Zeitun- gehören, geht aus der einheitlichen Be- Hut vor der preußischen Polizei sein Haltung der Zeitung wiederholt den Wi- Henßler, der 1910 als Schriftsetzer nach Nervenheilanstalt Aplerbeck ein Irrer und gen und Zeitschriften für zunächst zwei schriftung auf der Rückseite klar hervor. musste (1878), bis zu Ansichten der mo- derstand der Militärspitzen hervorrief, Dortmund gekommen war und 1912 die vollkommen geistig Verblödeter unbefugter- Wochen zu verbieten. Aus dem vorläufigen Die Nummerierung zeigt allerdings, dass dernisierten und erweiterten Betriebsge- wurde ihr Erscheinen mehrfach verboten. Stelle des „politischen Redakteurs“ bei der weise entsprungen. Der Bedauernswerte irrte Verbot wurde ein endgültiges. Auch in diese Serie heute nicht mehr vollständig ist. bäude an der Kiel- und Nordstraße (1930). Eine aus der Feder Fritz Henßlers stam- „Arbeiter-Zeitung“ übernommen hatte, längere Zeit in den Dortmunder Straßen Dortmund erschien eine sozialdemokra- Das Haus Kielstr. 5 ist im Hochformat Er erinnert an Schwerpunkte eines be- mende kritische Beurteilung der im welche Aufgabe ihm bereits im ersten Jahr umher, wo ihm die Polizei schon auf den Fer- tisch ausgerichtete Tageszeitung erst wieder dargestellt, der Fotograf stand leicht ver- wegten Zeitungslebens. Kriegsverlauf erfolgten Torpedierung ei- Gefängnisstrafen einbrachte. Wie Meh- sen war. Er verschwand dann in der Redak- nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. setzt auf dem gegenüberliegenden Bürger- 1890 ist das Gründungsjahr der Zei- nes zwar zivilen, aber bewaffneten briti- lich, mit dem er im selben Haus in der tion der „Westfälischen Volkszeitung“ in der steig. Über den Schaufenstern ist der tung. In diesem Jahr wurde die Gültigkeit schen Schiffs durch die deutsche Marine Nordstraße wohnte, betätigte auch Henß- Kielstraße. Infolge der dort herrschenden Bilder aus den 1920er Jahren Schriftzug „Westf. Allg. Volks-Zeitung“ des „Gesetzes gegen die gemeingefährli- („Lusitania-Affäre“) veranlasste die mili- ler sich in der Kommunalpolitik, wurde muffigen Barmat-Atmosphäre mußte die Po- klar zu lesen, dagegen findet sich unter- chen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ tärische Führung, von der Zeitung eine 1929 in den Westfälischen Provinzialland- lizei sich erst mit den nötigen Gasmasken Aus den 1920er Jahren stammt eine kleine halb von Dach und Regenrinne sowohl in („Sozialistengesetz“) nicht mehr verlän- Klarstellung zu verlangen. Henßler entle- tag gewählt und am 14. September 1930 in versehen, um den Irren einzufangen. Erst Serie von Fotografien, die Anfang 2011 der rechten wie der linken Haushälfte gut- 48 | Von der „Kieltante“ Heimat Dortmund Heimat Dortmund Von der „Kieltante“ | 49

Zeitungsausgabe bzw. -verteilung, Kielstraße 5 Rotationssaal im Erdgeschoß des Gebäudes Kielstraße 5

Redaktionsraum, Kielstraße 5 Fahrbarer Zeitungsverkaufsstand und Werbung für die „Volks-Zeitung“, um 1927/28

lesbar der Name „Arbeiter-Zeitung“. Al- deren Aufgabenbereich nur Vermutungen men zeigen die Setzerei und die Rotati- erkennen. Auf dem Wagen selber kann kommunalpolitische Satire „Parlaments- gebäude der Firma Gerisch & Co. GmbH. Dort- lein das gemeinsame Auftreten der beiden angestellt werden können. Bei dem zwei- onsmaschine. Zu letzterer ist eine Ver- schwach, aber doch eindeutig im Rekla- Ulk aus dem Dortmunder roten Haus. mund. Inbetriebnahme im November 1930) Zeitungstitel – der ältere in Stuck ausge- mal fotografierten Raum wurde der Auf- gleichsaufnahme in einem Fotoalbum vor- meschriftzug „Gerisch & Co., Dortmund“ Einmaliges Nachrichtenblatt der sozialde- sowie „Vierzig Jahre Aufstieg. 40 Jahre Volks- führt, der neuere in metallenen Buchsta- nahmewinkel nur leicht geändert, so dass handen, das die Betriebsgebäude der Zei- entziffert werden. Alwin Gerisch, Berlin, mokratischen Stadtväter-Fraktion“ und zeitung – 60 Jahre Partei-Organisation. Jubilä- ben angebracht – reichen zur Identifizie- auf dem einen rechts eine Person zu sehen tung nach dem Umbau von 1930 zeigen. ist als Firmeninhaber seit etwa 1895 in 1931/32: „Das Westdeutsche Kleine Blatt“ ums-Nummer der Westfälischen Allgemeinen rung des Gebäudes beinahe aus. Ver- ist, die auf dem zweiten fehlt, während auf Das letzte Bild der Serie zeigt einen Dortmund nachweisbar: als Druckereiin- Volks-Zeitung 1890-1930“ gleichsfotos beseitigen eventuelle Zweifel der anderen links eine Person zusätzlich fahrbaren Zeitungsverkaufsstand. An haber, als Verleger des SPD-Organs und Quellen und Literatur: Gerhard Eisfeld/Kurt Koszyk: Die Presse der restlos. abgebildet ist. Leider konnte bisher keine Presseerzeugnissen lassen sich u. a. die Ti- auch als Buchhändler. In seinem Verlag deutschen Sozialdemokratie. Bonn, 1980 Von den fünf belebten Innenansichten der abgebildeten Personen identifiziert tel „Berliner Tageblatt“, „Hamburger Illus- erschienen u. a. 1925 „Wir schreiten. Ein Stadtarchiv Dortmund, Bestand 502/04, Nr. 16 zeigen drei Aufnahmen zwei Büros, über werden. Die beiden übrigen Innenaufnah- trierte“, „Die Lichtbühne“ und „Rad-Welt“ Jahrbuch für freie Menschen“, 1929 die (Ein Gang durch das neue Verlags- und Betriebs- Sämtliche Abbildungen: Sammlung des Verfassers 50 | Plakate für Kommerz und Politik Heimat Dortmund Heimat Dortmund Plakate für Kommerz und Politik | 51

dem Ersten Weltkrieg, als im Laufe der ger auch freiberuflich als Plakat- und Plakate für Kommerz und Politik Zwanziger Jahre eine vielgestaltige lokale Buchgestalter. Szene von Plakatkünstlern entstand. Hier- Die für das Ruhrgebiet so wichtige Ei- für waren mehrere Gründe ursächlich. Der sen- und Stahlindustrie sah sich nach der Dortmunder Plakatkünstler in den 1920er Jahren wirtschaftliche Aufschwung nach der Sta- Geldstabilisierung mit einer scharfen bilisierung der Währung führte zu intensi- Wettbewerbssituation konfrontiert und vierten Werbeanstrengungen der Wirt- intensivierte ihre Werbeanstrengungen schaft. Ein zeitgenössischer Kenner kons- nachdrücklich. Für Dortmund bedeutsam tatierte seinerzeit einen „Schrei nach wurde, dass die 1926 gegründeten Verei- Reklame“. Die deutlich gestiegene Nach- nigten Stahlwerke ihr mit mehreren Gra- von Theo Horstmann Kunstanstalten F. W. Ruhfus und Wil- Unter den wenigen in Dortmund täti- frage nach Dienstleistungen für Werbung fikern besetztes hauseigenes Werbeatelier helm Crüwell zwei überregional bedeu- gen Werbegrafikern der Vorkriegszeit ragt und Grafik beförderte in vielen Fällen die im Hause der Dortmunder Union ansie- tende Druckhäuser hochwertige Plakate der um 1908 zugezogene Kunstmaler Carl Gründung und Prosperität von Werbeate- delten. Die „Zentralwerbestelle Dortmund „Als man anfing, das geistige Leben in die nicht zuletzt für namhafte auswärtige Pla- Kunze (1884–1969) heraus. Kunze, über liers und Reklameagenturen. So gründete der Vereinigten Stahlwerke“, unter der Welt der Plakate zu verbannen, habe ich katkünstler. Auch gestalteten mit Ludwig dessen künstlerischen Werdegang und die Carl Kunze 1920 gemeinsam mit dem Leitung des anerkannten Plakatkünstlers vor Planken und Annoncentafeln kaum Hohlwein, Hans-Rudi Erdt oder Karl Gründe seiner Ansiedlung in Dortmund Dortmunder Maler Carl Sicke (1891– Carl Strohmeyer entwarf mit Grafikern eine Lehrstunde versäumt“. Dieses Be- Schulpig nationale Größen der Plakatgra- nichts bekannt ist, entwarf bis 1914 zahl- 1930) und seinem Bruder W. Kunze die wie Wilhelm Ludwig Lehr, Karl Schiller, kenntnis des Schriftstellers Karl Kraus aus fik Künstlerplakate für Dortmunder Un- reiche ausdrucksstarke Werbe- und Veran- unter dem Akronym der Namen ihrer In- Otto Senning und H. Flecke sämtliche dem Jahre 1909 spiegelt etwas von der ternehmen. Ein nennenswerter Kreis von staltungsplakate. Seine überlieferten Ar- haber firmierende Werbeagentur „’Kusiku’ Werbematerialien für den Montankon- bedeu­tenden Rolle wider, die das Künst- Gebrauchsgrafikern existierte in der Stadt beiten dokumentieren ein breites grafi- Internationale Werbekunst“. Die Firma Max Aurich, Selbstporträt 1928 zern. lerplakat als Medium für Werbung und aber nicht. Einem Fachbesucher aus Ber- sches Werk für Ankündigungen von Kauf- der Agentur war zugleich ihr Programm. (Slg. R. Hofrichter) Als Ergebnis dieser verschiedenen, par- Kom­muni­kation zu Beginn des 20. Jahr- lin fiel damals auf, „wie sehr man selbst in häusern, Brauereien, Metallfirmen oder Sie erhob den Anspruch, künstlerisch her- allel verlaufenden Prozesse war seit der hunderts innehatte. Die entscheidenden den dichtbevölkerten… Großstädten des Varietes. In seinen Entwürfen verschmol- ausragende Werbekunst auf internationa- Mitte der Zwanziger Jahre in Dortmund Impulse für den Auf­stieg des Plakats lie- Rhein-Ruhr-Gebietes ‚außerhalb’ der Re- zen – angelehnt an den Stil des Berliner lem Niveau zu verwirklichen. Kusiku woll- ein stattlicher Kreis rühriger Gebrauchs- ferte die Indu­stria­lisie­rung von Wirtschaft klame lebte.“ Wichtigster Grund hierfür Sachplakats und charakteristisch für das te ihren Kunden nicht nur dabei helfen, grafiker anzutreffen. Die wachsende Zahl und Gesell­schaft. Das massen­haft ge­stei­ war sicherlich die Wirtschafts- und Sozi- moderne Plakat – Fläche, Farbe, Bild und „für den zweifellos im Inlande einsetzen- Ersten Weltkrieg war Aurich als Grafiker von Akteuren in der aufstrebenden Wer- ger­te Waren­angebot musste durch Wer- alstruktur der Region mit der Dominanz Typografie miteinander zu wirkungsstar- den Konkurrenzkampf gerüstet zu sein, für die U-Boot-Propaganda tätig. Der Zu- bebranche ließ bald einen Zusammen- bung auf einem anony­men Markt bekannt der Investitionsgüterindustrie einerseits ken Eindrücken. (sondern auch) den Absatz deutscher sammenbruch des Kaiserreichs traf Aurich schluss in den bestehenden Interessenver- gemacht und ihm nach Mög­lich­keit der und relativ schwacher Konsumkraft ande- Qualitätsartikel im Auslande durch Wer- tief. bänden der Branche zu. 1926 bildete sich Charakter einer Marke ver­liehen werden. rerseits. Werbeinteressenten bot sie nur Ein „Schrei nach Reklame“ bemittel von Qualität zu unterstützen.“ Er blieb Zeit seines Lebens Monarchist eine Ortsgruppe Dortmund im Verband Das zeitgenössisch attraktivste und mo- geringe Anreize und gestattete dem Die Agentur Kusiku bestand bis etwa und zählte in der Weimarer Republik, die deutscher Reklamefachleute und seit 1927 dernste Instrument der Werbung war das Künstlerplakat lediglich begrenzte Entfal- Die Präsenz von Gebrauchsgrafikern in 1927. Die Gründe und die genauen Daten er aus voller Überzeugung ablehnte, zum besaß der Bund deutscher Gebrauchsgra- Plakat. Seine Merkmale waren und sind tungsmöglichkeiten. Dortmund änderte sich grundlegend nach ihrer Auflösung liegen im Dunkel. Wäh- äußersten rechten politischen Flügel. 1921 fiker ebenfalls eine eigenständige Orts- eindeu­tig: Es preist als öffentli­cher An- rend Carl Kunze danach als Werbegrafiker ließ sich Aurich als freiberuflicher Maler gruppe in Dortmund, deren Vorsitz Max schlag ein Pro­dukt oder ein Unter­nehmen so gut wie nicht mehr in Erscheinung trat, und Grafiker in Dortmund-Brechten nie- Aurich für viele Jahre übernahm. Beide an oder es will Interesse erwecken­ für be­ arbeitete Sicke als freier Gebrauchsgrafi- der. „Seit dieser Zeit“, so bekannte er, „ver- Gruppierungen traten im März 1928 mit sondere Ereig­nisse. Ohne an ver­bindliche ker für verschiedene Auftraggeber weiter. suche ich mit Lust und Liebe, die Absatz- der 1. Dortmunder Werbeschau erstmals Gestal­tungsregeln gebunden zu sein be- Auch die Brüder Hans, Kurt und Walter möglichkeiten der Industrie durch meine an eine breitete Öffentlichkeit, welche sich dient es sich visueller Komponenten wie Carl Kunze, Café Industrie (Institut für Zeitungsforschung) Prutz gründeten 1920 eine „Werkstatt für Arbeiten zu heben.“ Aurich entwickelte „überrascht (zeigte) von der hohen Durch- Bild, Farbe und Schrift, die – radikal redu- angewandte Kunst“, die sie bis zur Welt- sich rasch zu einem der bedeutendsten schnittsqualität der gezeigten Grafik und ziert und flächig eingesetzt – zu einer wirtschaftskrise gemeinsam betrieben. Gebrauchsgrafiker im Ruhrgebiet und von der persönlichen Mannigfaltigkeit“ kommunikativen Einheit mit Fernwir- Ausdrucksstarke Künstlerplakate zu blieb über nahezu fünf Jahrzehnte hinweg der ausstellenden Künstler. Die junge kung verschmelzen. Um die Jahrhundert- entwerfen bedurfte vortrefflicher Grafiker. künstlerisch aktiv. In Aurichs Schatten Werbebranche blühte bis zum Beginn der wende hatte die Plakatästhetik einen Die in Dortmund beheimateten Graphi- etablierte sich noch eine Anzahl weiterer 1930er Jahre, bis sie mit dem einsetzenden radika­len Moderni­sierungsschub erlebt, schen Anstalten wie F. W. Ruhfus, Wil- freier Gebrauchsgrafiker in Dortmund: konjunkturellen Abschwung die herauf- als sich Künstler des Pla­ka­tes mit dem helm Crüwell oder Fritz Busche stellten Josef Rose etwa, Heinz Geissler, Emil Et- ziehende Weltwirtschaftskrise frühzeitig An­spruch angenommen hatten, stil- und deshalb gezielt Gebrauchsgrafiker ein, um zemüller oder Paul Crone, um einige Pro- und schmerzhaft zu spüren bekam. wirkungs­volle Gebrauchs­grafik zu schaf­ ihren Kunden vorzügliche Produkte an- tagonisten der regionalen Plakatkunst zu fen. Zu den bedeutendsten Zentren der bieten zu können. Die Kunstdruckerei nennen. Plakate als Spiegel Plakatkunst in Deutschland entwickelten Wilhelm Crüwell etwa holte 1919 den Anfang der zwanziger Jahre richtete die der 1920er Jahre sich Berlin und München mit jeweils ei- Berliner Grafiker Max Aurich (1893– seit 1909 bestehende Handwerker- und genständigen Stilen. 1974) als Künstlerischen Leiter ins Haus. Kunstgewerbeschule auch eine Klasse für Als Maler ein Autodidakt, hatte Aurich Grafik ein, die entsprechende Lehrkräfte Die in den Ateliers der quantitativ wie Wenige Plakatkünstler die Berliner Plakatkunst in ihrer Hochzeit nach Dortmund zog. 1922 wurde der qualitativ ansehnlich gewordenen Dort- in Dortmund erlebt und begonnen, Plakate systematisch Münchner Grafiker Max Guggenberger munder Plakatkünstler entstandenen Pla- zu sammeln. Nach eigenem Bekenntnis (1894–1962), ein Meisterschüler von Fritz kate der Zwanziger Jahre folgten in ihren war er „durch meine Sammelwut (unheil- Helmuth Ehmcke, an die Kunstgewerbe- Darstellungs- und Ausdrucksformen den In Dortmund hingegen blieben bis zum bar) der Reklame verfallen“. Vor dem Ers- schule berufen. Die Schule richtete 1929 zeitgenössischen Tendenzen der Kunst. Beginn des Ersten Weltkriegs Plakat- ten Weltkrieg arbeitete er in Ateliers Ber- eine Fachklasse für Werbekunst ein, deren Die Plakate waren aber nicht allein auto- künstler eine eher seltene Erscheinung. liner Plakatkünstler und machte sich 1912 Leitung Guggenberger übernahm. Neben nome Kunstwerke, sondern reflektierten Zwar fertigten mit den Graphischen als Werbeberater in Berlin selbständig. Im seiner Lehrtätigkeit arbeitete Guggenber- mit den Anlässen für ihre Entstehung vie- 52 | Plakate für Kommerz und Politik Heimat Dortmund Heimat Dortmund Plakate für Kommerz und Politik | 53

Kusiku, Handwerks- und Gewerbeschau (Westfälisches Wirtschaftsarchiv)

on. Auch Max Aurich gestaltete eine Viel- zahl an Werbemitteln für Unternehmen der Montanindustrie. Hierbei nahm der Hoesch-Konzern eine herausragende Rol- le ein. Das über viele Jahrzehnte vertraute Hoesch-Logo, das große H in Fraktur- schrift, ging auf Aurichs Entwurf zurück. Das Werbeplakat für die Eisen-Spund- wand von Hoesch ist charakteristisch für die Arbeiten des Grafikers für dieses Un- ternehmen. Aurich verwendet einerseits einen illustrativen, sachlichen Stil um das Produkt in seiner Funktion zu zeigen. Er nutzt aber auch als grafisches Gestaltungs- element die von den Konstruktivisten ge- schätzte Diagonale, die der Darstellung Ausdruckskraft und Dynamik verleiht. Ein Beispiel der Werbung für ein hoch- wertiges Konsumgut ist Aurichs Plakat für den Vorax-Elektrobesen. Der Entwurf lehnt sich stark an die Gestaltung des klas- sischen Berliner Sachplakats an: Vor einer neutralen Farbfläche steht allein das be- worbene Objekt im Blickpunkt. Das Pla- kat ist gegenüber seinen Vorbildern aber modernisiert durch eine frische Typografie und die Beschränkung der Farbwahl auf die Komplementärfarben Orange und Blau. Neben den Werbeplakaten erschei- nen in den Zwanziger Jahren zahlreiche kommerzielle Ankündigungen für techni- sche, industrielle oder gewerbliche Aus- stellungen. Das beispielhafte Plakat von Kusiku für die Handwerks- und Gewerbe- schau 1925 in Dortmund verzichtete auf jede Illustration und sucht mit seinem kla- ren typografischen Ansatz eine radikale Modernität. Kusiku folgte mit der Ver- wendung der Typografie als dominantem Stilmittel den gestalterischen Prinzipien des Bauhauses. Das politische Plakat blüht

Max Aurich, Hoesch Spundwand (Westfälisches Wirtschaftsarchiv) Lockten Plakate bis zum Ersten Weltkrieg vorwiegend für kommerzielle Zwecke, fiel ihnen im demokratischen System der Wei- marer Republik eine weitere Funktion zu: Sie warben nun auch für politische Ideen le Facetten der wirtschaftlichen, kulturel- Grafiker. In den Zwanziger Jahren gewann trativ im Sinne der Neuen Sachlichkeit. und Parteien. Das politische Plakat, im Kai- len und politischen Entwicklung ihrer die Montanindustrie einen eigenständigen Ein einzelnes Produkt sollte möglichst serreich noch verboten, gewann im öffentli- Zeit. Platz unter den werbenden Industrien. Sie objektiv und präzise dargestellt werden, chen Leben der jungen Republik eine wich- Die Wirtschaftswerbung in den Dort- produzierte zahlreiche Medien – etwa industrielle Großanlagen sollten durch tige Rolle für die massenwirksame Vermitt- munder Plakaten wurde naturgemäß do- Plakate, Prospekte, Anzeigen, Kleinplaka- monumentalisierende Wiedergabe ihre miniert von Aufträgen der Schwerindust- te oder Kalender – und zielte mit ihnen Fortschrittlichkeit und Leistungsfähigkeit rie. Entwürfe für die Industrie zu erarbei- vor allem auf ein Fachpublikum. Die Ge- sichtbar machen. Erst spät wurde die Fo- ten bildete das tägliche Brot der meisten staltung der Plakate war vorwiegend illus- tografie integraler Teil der Plakatillustrati- Max Aurich, DNVP (Institut für Zeitungsforschung)