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und Michael

«She was a Michael inspired being» Ita Wegman und der Anbruch des Michael-Zeitalters

as einzige Buch, das Ita Wegman nach dem Erschei- [Michael] befreit die Gedanken aus dem Bereich des Dnen ihres medizinischen Grundlagenwerkes mit Kopfes; er macht ihnen den Weg zum Herzen frei; er (Grundlegendes für eine Erweiterung der Heil- löst die Begeisterung aus dem Gemüte los, so dass der kunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen ... Dor- Mensch in seelischer Hingabe leben kann an alles, was nach1 1925) selbständig herausgab, erschien 1929 im sich im Gedankenlicht erfahren lässt. Das Michaelzeit- Orient-Occident-Verlag und trug den Titel: Aus Michaels alter ist angebrochen. Die Herzen beginnen, Gedanken Wirken. In einem ihrer Notizbücher schrieb Ita Wegman: zu haben; die Begeisterung entströmt nicht mehr bloß Wir befinden uns im Michael-Zeitalter und wir wollen, mystischem Dunkel, sondern gedankengetragener See- um Michaels Wirken ganz erfassen zu können, alle die lenklarheit. Dies verstehen, heißt, Michael in sein Gemüt Bausteine zusammentragen, die von Rudolf Steiner uns aufnehmen. Gedanken, die heute nach dem Erfassen des gegeben wurden. Er gab sie uns, um uns aus unserem Geistigen trachten, müssen Herzen entstammen, die für Schlaf, in dem wir uns befinden, zu erwecken, um uns zu Michael als den feurigen Gedankenfürsten des Weltalls 5 zeigen die Aufgaben, die uns obliegen. Es wird immer schlagen. mehr und mehr uns klar werden müssen, wie tief wir mit Rudolf Steiner beschrieb es als eine in der Gegenwart Michael verbunden sind, wie Anthroposophie ein Micha- anbrechende Zukunftsaufgabe der Menschheit, den Weg els-Impuls ist, der durch Rudolf Steiner vertieft, von allen aus der (technologisch materialisierten) Ahriman-Sphäre Seiten beleuchtet, aus der geistigen Welt geholt und auf herauszufinden, mit Hilfe des Christuswesens. Das «Bild Erden für die Menschen in ihrem Gegenwartsbewusst- Michaels» ermögliche, so Steiner, diesen Weg in Freiheit sein verständlich gemacht wurde.1 zu gehen, aus der freien Kraft des Menschenherzens Oft sprach Ita Wegman von den «Aufgaben, die uns («Mehr als irgendein anderer Kampf ist dieser [Michaels-] obliegen», und setzte trotz widriger Zeitumstände alles Kampf in das menschliche Herz gelegt. Da drinnen ist er ver- dafür ein, sie einer Lösung entgegenzuführen. Am 19. Ju- ankert, verankert seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhun- 6 li 1924 hatte Rudolf Steiner in Arnheim gesagt: derts.» ) Von dem Gelingen dieses michaelischen Weges Entscheidend muss dasjenige werden, was Menschen- machte Rudolf Steiner den Fortgang der menschlichen herzen mit dieser Michael-Angelegenheit der Welt im Zivilisation abhängig, am Anfang eines 20. Jahrhunderts, Laufe des 20. Jahrhunderts tun. Und im Laufe dieses 20. dessen Zerstörungen schließlich ein weltgeschichtlich Jahrhunderts, wenn das erste Jahrhundert nach dem En- nie gekanntes, unvordenkbares Ausmaß annehmen soll- de des Kali Yuga verflossen sein wird, wird die Mensch- ten, von den Konzentrationslagern der Nationalsozialis- heit entweder am Grabe aller Zivilisation stehen oder am ten bis zu Hieroshima und Tschernobyl. Anfange desjenigen Zeitalters, wo in den Seelen der Men- Ita Wegman, so Liane Collot d’Herbois, war ein 7 schen, die in ihrem Herzen Intelligenz mit Spiritualität Mensch des Herzens , mit einer «anderen Denkweise» verbinden, der Michael-Kampf zugunsten des Michael- und voller Initiative. Sie lebte und arbeitete aus der Mi- Impulses ausgefochten wird.2 chaels-Dimension ihrer wesenhaften Herzkräfte («she Ita Wegman, so Liane Collot d’Herbois, stand unter was a person who, through the openness of the heart, had a der Inspiration Michaels, «was a Michael inspired being»3. soul that was much greater and higher and wider and deeper Ohne dass dies Liane Collot d’Herbois bekannt war, hat- than the soul of the average human being»8), in Liebe zu te auch Rudolf Steiner – unter Verwendung ihres Myste- ihren Aufgaben und mit nachdrücklicher Selbstlosig- rien-Namens – über Ita Wegman in einer persönlichen keit in deren Erfüllung. In den letzten drei Jahren, die Niederschrift vermerkt: «Mysa steht unter Mikael – ver- sie gemeinsam in Ascona verbrachten, erlebte Liane klärt»4. Collot dann eine Beschränkung von Wegmans äußeren Aktivitäten, eine «Verintensivierung nach innen» (Hil- Michael, dessen Herrschaft Ende des 19. Jahrhunderts auf ma Walter) und eine gesteigerte Hinwendung zur Erden erneut angebrochen war, leitet nach Rudolf Steiner Christus-Wesenheit. Für Liane Collot d’Herbois war «geistige Sonnenkräfte» in die menschliche Entwicklung. Wegmans ganzer Weg Erweis und beispielhaftes Zeug- Er ermöglicht die Entfaltung einer spirituellen Intelligenz nis dessen, was Rudolf Steiner mit den Worten be- aus den Kräften des menschlichen Herzens, das er dem schrieben hatte: Licht bereitet. In der Zeit seines Krankenlagers schrieb Wenn der Mensch die Freiheit sucht, ohne Anwandlung Rudolf Steiner im Herbst 1924: zum Egoismus, wenn ihm Freiheit wird reine Liebe zur

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auszuführenden Handlung, dann ckes, ihre Eigenständigkeit und Ini- hat er die Möglichkeit, sich Michael tiativkraft. zu nahen; wenn er in Freiheit wirken Ihre Biographie hatte Ita Wegman will bei Entfaltung des Egoismus, dann nach Mitteleuropa und zu Ru- wenn ihm Freiheit wird das stolze dolf Steiner geführt, nach Berlin und Gefühl, sich selber in der Handlung in den Aufbau der anthroposophi- zu offenbaren, dann steht er vor der schen Bewegung. Ita Wegman erleb- Gefahr, in Ahrimans Gebiet zu ge- te und erkannte Rudolf Steiner pri- langen. […] Michael geht mit allem mär im Bereich seines esoterischen Ernste seines Wesens, seiner Hal- Wirkens – und sie stellte sich bedin- tung, seines Handelns in Liebe gungslos an seine Seite, als Rudolf durch die Welt. Wer sich an ihn hält, Steiner ihre Unterstützung benötig- der pfleget im Verhältnis zur Außen- te, so in München 1907 und in ge- welt der Liebe. Und Liebe muss im steigerter Weise nach dem Brand des Verhältnis zur Außenwelt sich zu- .10 Ita Wegmans «Mut nächst entfalten, sonst wird sie des Heilens» bestimmte die ge- Selbstliebe. schichtliche Stunde ihres Wirksam- Ist dann diese Liebe in der Michael- werdens an Rudolf Steiners Seite; die- Gesinnung da, dann wird Liebe zum se Wirksamkeit entfaltete sich ab andern auch zurückstrahlen können Ende 1922 im Angesicht der miter- ins eigene Selbst. Dieses wird lieben lebten Zerstörung und in therapeuti- können, ohne sich selbst zu lieben. scher Gesinnung. Eigentlich sei er

Und auf den Wegen solcher Liebe ist Arnheim, 1892 nun ein «Leichnam», sagte Rudolf Christus durch die Menschenseele zu Steiner Ita Wegman nach dem zer- finden. störenden Brandanschlag auf das Wer sich an Michael hält, der pfleget im Verhältnis zur Goetheanum11 und in schwer umkämpfter geistiger Außenwelt der Liebe, und er findet dadurch das Verhält- Situation12; später schrieb er ihr die Zeilen: nis zur Innenwelt seiner Seele, das ihn mit Christus zu- sammenführt.9 Stütze sollen mir sein Ita Wegman setzte sich lebenslang mit all ihrer Kraft Dein Verständnis für die Ausbreitung der Anthroposophie in entscheiden- Deine Liebe und die Treue den Zivilisationsgebieten ein – als dem (so Wegman) zen- tralen christlichen Impuls der Moderne, dem sie sich in Ich seh’ erwachsen michaelischer Weise, in Liebe zur Welt und in kämpferi- Aus deinem Verständnis schem Elan, verbunden wusste («Michael ist ein kräftiger Das Licht, das mir leuchtet Geist, und Michael kann nur mutvolle Menschen, inner- lich mutvolle Menschen vollständig brauchen.» Weg- Ich seh erwachsen man). Ita Wegman bewegte sich auf den Bahnen des Her- Aus deiner Liebe zens und ihres wirkkräftigen Willens; dann führte sie ihr Die Wärme, die mich segnet biographischer Weg immer mehr zur Christus-Realität, in der Innenwelt ihrer Seele. «Wer sich an Michael hält, der Ich seh erwachsen pfleget im Verhältnis zur Außenwelt der Liebe, und er findet Aus deiner Treue dadurch das Verhältnis zur Innenwelt seiner Seele, das ihn mit Die Luft, die mich belebt.13 Christus zusammenführt.» Auch Liane Collot d’Herbois, die diese Worte Rudolf Stei- Ita Wegman war zu Rudolf Steiner von der «Insel der 100 ners nicht kannte, schrieb einmal über Ita Wegman in Vulkane gekommen», aus Java, wo sie an einem Mars-Tag prinzipieller Wendung: «Air – Frau Dr. Wegman created air; und an einem Ort zur Erde gekommen war, der den Na- air radiated with sunlight. She created movement: one could men «Parakanteros» trug – der Weg, der geradeaus führt. be carried in her movement – because of this movement being Bereits im Kindesalter hatte ihre Umwelt Ita Wegmans there, one had the feeling that everything was possible. […] Organisationsgabe und Führungsnaturell kennengelernt, Then there was enthusiasm, she carried it like a flame with die Glut ihres unverwandten, oft herausfordernden Bli- her and fired others with it.»14

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Ita Wegmans Aufbauarbeit für die anthroposophisch-me- d’Herbois), im Anbruch des «Michael-Zeitalters» und sei- dizinische Bewegung war unermüdlich. Sie betrachtete es nen Entscheidungsprozessen, über die Rudolf Steiner mit Rudolf Steiner als wesentliches Charakteristikum ei- auch auf der Weihnachtstagung deutliche Worte sprach. ner «Michaels»-Epoche, alles für die kosmopolitische Am vorletzten Tag der Zusammenkunft ließ Rudolf Stei- Ausbreitung des entscheidenden geistigen Zeit-Impulses ner Lilly Kolisko über ihre Substanzforschungen umfäng- zu tun, und setzte dafür ihre ganzen Kräfte ein. Noch in lich vortragen, betonte ihre «selbstlose» Arbeitshaltung späteren Briefen schrieb sie: «Wir können natürlich nicht und die Bedeutung ihrer experimentellen Studien (die er eine so gewaltige Bewegung, der wir vorstehen, ohne Op- im Sinne eines «Biologischen Instituts am Goetheanum», fer vorwärtsbringen. Ich weiß noch ganz genau, wie Dr. mit Sitz in , der Hochschule integrierte) – und Steiner recht ernst zu mir sagte, unsere Bewegung kann sagte dann in prinzipieller Wendung: nur durch die größten menschlichen Opfer zum Fort- […] Diese Versuche alle, sie sind im Grunde genom- schreiten gebracht werden. Ohne diese Opfer verfällt sie men gerade vor dem anthroposophischen Blicke Einzel- sofort Ahriman und Luzifer.»15 «Nur durch Opferarbeit heiten zu einer Gesamtheit, zu einer Gesamtheit, die kann man das Geistige herunterholen und dieses Geisti- eigentlich heute wissenschaftlich so dringend wie mög- ge verbinden mit dem, was auf dem physischen Plan ge- lich gebraucht wird. Und wenn unsere Arbeit so fortgeht, schehen muss.»16 Die von Rudolf Steiner noch 1923/24, wie sie bisher geleistet worden ist in unserem For- in seiner letzten Lebenszeit, ermöglichte Weihnachtsta- schungsinstitut, dann werden wir vielleicht in fünfzig, gung und die Neubegründung der Allgemeinen Anthro- fünfundsiebzig Jahren zu demjenigen kommen, zu dem posophischen Gesellschaft erlebte Ita Wegman als den eigentlich gekommen werden muss: dass sich viele Ein- zentralen Michael-Einschlag der Gegenwart, als eine «Mi- zelheiten zu einer Gesamtheit verbinden. Diese Gesamt- chaelstagung», auf der ein esoterischer Vorstand «mit Mi- heit wird dann von einer großen Tragweite sein nicht nur chaelsimpuls» bestimmt wurde, für ein künftiges, zweites für das Erkenntnisleben, sondern für das gesamte prakti- Goetheanum als einer «Michaelsburg» (in der «die Mi- sche Leben. – Man hat gar keine Vorstellung heute, wie chaelsschüler sich zusammenfinden und zusammen- tief in alles praktische Leben diese Dinge eingreifen kön- kommen können, um Michaelsbotschaft zu hören»17) – nen, eingreifen können in die Erzeugung von den Men- und mit einer esoterischen Schule, die von Rudolf Steiner schen notwendigen Produkten, eingreifen können aber in direkter Weise als Fortsetzung der übersinnlichen Un- namentlich in die Heilmethode und ähnliches. – Nun terweisungen Michaels bezeichnet wurde. Ita Wegman können Sie ja sagen: Die Fortschritte der Menschheit sind erlebte mit Rudolf Steiner den Kampf um das Geltend- immer langsam vonstatten gegangen, und es wird ja machen dieser Spiritualität angesichts zerstörerischer auch auf diesem Gebiete nicht anders sein. – Es könnte Kräfte und Mächte und versuchte ihm mit all ihren Kräf- aber sehr gut sein, dass bei der gegenwärtigen Bröcklig- ten bis zuletzt beizustehen.18 keit, Zerstörbarkeit der gegenwärtigen Zivilisation mit Die Ordnung der Weihnachtstagung und die ganze den fünfzig und fünfundsiebzig Jahren nicht der An- Neuausrichtung der Anthroposophischen Gesellschaft schluss gefunden würde, um noch dasjenige zu leisten, und ihrer Dornacher Hochschule sah Ita Wegman im was unbedingt geleistet werden muss.21 Kontext dieser zivilisatorischen Aufbauarbeit. Rudolf Die Arnheimer Michaels-Ausführungen Rudolf Stei- Steiner hatte die Teilnehmer der Weihnachtstagung ners, die ein halbes Jahr später erfolgten, standen damit 1923/24 am 1. Januar – am Ende der Zusammenkunft – in direktem Zusammenhang («Entscheidend muss dasje- keineswegs in ihre Zweige entlassen, sondern zu «heil- nige werden, was Menschenherzen mit dieser Michael-Ange- kräftigem Wirken» in der Welt aufgefordert.19 Für Ita legenheit der Welt im Laufe des 20. Jahrhunderts tun. Und im Wegman war deutlich, dass die ganze Dornacher Hoch- Laufe dieses 20. Jahrhunderts, wenn das erste Jahrhundert schulgründung dieser zentralen Arbeitsintention diente. nach dem Ende des Kali Yuga verflossen sein wird, wird die Die Anthroposophische Gesellschaft war kein vereinsar- Menschheit entweder am Grabe aller Zivilisation stehen oder tiger Zusammenschluss und kein sozialer Selbstzweck; sie am Anfange desjenigen Zeitalters, wo in den Seelen der Men- sollte vielmehr ein dienstbares Instrument für das Wirk- schen, die in ihrem Herzen Intelligenz mit Spiritualität ver- samwerden der Anthroposophie in der Welt werden. binden, der Michael-Kampf zugunsten des Michael-Impulses Auch waren die Dornacher Klassenstunden keinesfalls ausgefochten wird.») mit der Hochschule identisch – die esoterische Arbeit sollte sich vielmehr in den Lebensfeldern bewähren Nach Rudolf Steiners Tod am 30. März 1925 setzte Ita und über die Hochschulfakultäten («Sektionen») in die Wegman direkt bei der Besinnung auf Michael an. Sie Fachgebiete getragen werden – in Forschung, Lehre und schrieb – nach inneren Erlebnissen und in für sie unge- Praxis.20 «Alles geschah um der Arbeit willen» (Liane Collot wohnter Weise – noch im Mai 1925 drei Aufsätze über

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Michael und die Anthroposophie, in denen sie die Mit- Aufgaben aufgegriffen würden, und lebte für sie – «Ich glieder der Allgemeinen Anthroposophischen Gesell- möchte doch gern diese Stimmung bei uns allen wachrufen, schaft eindringlich bat, die Michaels-Botschaft Rudolf dass wir nicht nur das tun, was wir gern möchten, sondern Steiners ganz in ihr Herz und ihren Willen aufzunehmen. dass wir das tun, was Notwendigkeiten sind und das Schick- Ita Wegman sprach von der notwendigen Durchdringung sal in der richtigen Art bejahen.»24 Ita Wegman handelte in des Erdenlebens mit der «Michaelkraft» und dem «Micha- dem Bewusstsein, dass die Zeit drängte, in zahlreichen Zi- elwillen»; die «Michaelwirkung» müsse von den Mitglie- vilisationsgebieten und in politischer Beziehung. Sie sah, dern der Anthroposophischen Gesellschaft bewusst wahr- dass der technologische Materialismus in seiner okkupie- genommen werden, sonst werde nach kurzer Zeit eine renden Art nicht nur forciert weiterwirkte, sondern wirk- «Verflachung» der Anthroposophie und eine «Ahrimani- same Realitäten schuf – in den Naturzusammenhängen sierung» der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners erfolgen. und im Sozialkontext der Menschen. Wegman erlebte die «Schwache Menschenhände», so Wegman, hüteten die Situation der auf die Menschen wartenden Elementar- durchchristete Kosmosweisheit der Anthroposophie – ei- wesen, und sprach von ökologischen Großkatastrophen ne stark werdende Intellektualität könne das Ergebnis der der Zukunft25; auch warnte sie frühzeitig vor faschisti- Arbeit Rudolf Steiners in Gefahr bringen. Mit Nachdruck schen Systemen, die die Freiheit des Individuums zer- rief Ita Wegman zur richtigen Aufnahme insbesondere stören würden. Wegmans Vorgehen war zielstrebig und auch der Karma-Vorträge Rudolf Steiners – als realem Mi- energisch – als Schwierigkeiten bei der Begründung des chaels-Gut – auf; sie sah in ihnen ein zentrales Vermächt- ersten «Sunfield»-Heimes von und Michael nis Rudolf Steiners, das Gefahren, aber auch große Chan- Wilson auftraten und diese von einem großen «Komitee» cen barg («Wenn Karma verstanden wird mit Herzens- gelöst werden sollten, war Wegman nicht nur skeptisch, und mit Haupteskräften, wenn ohne Emotion, ohne Fri- sondern schrieb in einem wegweisenden Brief an Geuter volität, in tiefem Ernst die wiederholten Erdenleben auf- vom 5. Juni 1930: genommen und verstanden werden, dann werden auch Wir haben die gleichen Schwierigkeiten in der Holle die letzten Anti-Michael-Dämonen besiegt werden kön- gehabt, im Sonnenhof gehabt, wir haben sie überall ge- nen, und es wird die Michael-Zeit mit dem kommenden habt, wir haben sie in Stuttgart gehabt in dem kleinen Christus-Ereignis ihren Fortgang finden.»22). Auch plä- Haus, aber wir sind doch überall siegreich durchgekom- dierte Ita Wegman intensiv dafür, den kosmopolitischen men, weil wir immer die spirituellen Notwendigkeiten Wirkensimpuls der Anthroposophie in seiner michaeli- auf den Vordergrund gesetzt haben. Und das weiß ich schen Ausrichtung aufzugreifen – und schrieb: ganz genau, dass nur ich im Grunde genommen diesen Ja, liebe Freunde, dann haben wir dem Michael entge- Mut aufbringen kann und auch das Durchsetzungsver- genzubringen die Bereitschaft, aus der Freiheit heraus, mögen habe, die Dinge durchzubringen. Anderen es zu ohne in Egoismus zu verfallen, in Liebe zu handeln. Wir überlassen, hat mir nie viel Glück gebracht. Und so muss müssen die Freiheit in ihrer wirklichen Größe erfassen, ich Ihnen schon sagen, dass ich schon gespannt bin da- Anthroposophie muss, noch mehr als bisher, kosmo- rauf, welche Auswirkungen das Komitee haben wird. So politisch werden, darf nicht eingekapselt werden durch recht viel Vertrauen habe ich nicht, wenn ich mir die Gruppen von Menschen oder auf einzelne Länder be- Schwierigkeiten vorstelle, die damals waren, um die heil- schränkt bleiben; sie ist für alle Menschen über die ganze pädagogische Tagung zustandezubringen. Doch ist die Welt. Das ist Michaels-Wille; er will die Liebe zur Welt heilpädagogische Bewegung für England das einzige Mit- über alle Menschen verbreitet haben.23 tel, Anthroposophie den Engländern beizubringen. Wird diese Bewegung nicht mit aller Macht unterstützt, dann In diesem Sinne arbeitete Ita Wegman nach dem Tode wird Anthroposophie in England lange noch im Baby- Rudolf Steiners weiter – mit ihrer Klinik in Arlesheim, Stadium bleiben, und gelingt es nicht, den Westen zu er- aber auch mit der Begründung heilpädagogischer Institu- wecken für Anthroposophie, dann bleibt auch die Un- te in verschiedenen Ländern, mit ihrer Beteiligung an der möglichkeit bestehen, Anthroposophie nach dem Osten großen «World Conference for Spiritual Science» im zu bringen und Mittel-Europa wird auch seine Aufgabe Sommer 1928 in London, dem internationalen Studen- dann nicht erfüllen können. Es stehen da schon große tenlager «Camp de Stakenberg» 1930 in Holland, mit Dinge auf dem Spiel. Da schweigt bei mir wirklich alles dem von ihr begründeten «Verein für soziale Hilfe» sowie Persönliche und nicht sollen Sie sagen in Ihrem Brief, Sie zahllosen weiteren, großen und kleinen Initiativen und möchten mir das nicht antun, dieses oder jenes, weil, Aktivitäten. mich persönlich treffen Sie ja nicht, aber es werden doch Ita Wegman wollte, dass die von Rudolf Steiner – im durch eine Stagnation in dieser Arbeit Michaels Intentio- Sinne und im Namen des «Michael-Christus» – gestellten nen gehemmt. Ich kann momentan nicht überschauen,

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was die Folgen sein können. Ich habe nur das klare Ge- nommen hatte und denen sie Wirksames entgegenzuset- fühl in mir: Raffen Sie sich zusammen […] tun Sie die Ar- zen versuchte. («Und es ist für mich die bange Frage: wie or- beit, die da zu leisten ist.26 ganisieren wir uns so als wahre Anthroposophen, um dem Ein halbes Jahr zuvor hatte es in einem ebenfalls mar- wahren Menschentum zu dienen, dass wir über den Nationa- kanten Brief Ita Wegmans über die Situation in Arlesheim lismus hinaus Geisteswissenschaft in der richtigen Art weiter geheißen: verbreiten und auch darnach leben können, weil ich es heran- Hier in der Klinik leuchtet eine kleine aber reine Flam- kommen sehe, dass die Welle, die jetzt in Deutschland ist, me, ich beschütze diese Flamme mit meinem Wesen; nicht nur bei Deutschland bleiben wird, sondern sich auf die würde diese Flamme erstickt werden, dann geht eine mi- verschiedenen anderen Länder ausbreiten wird und jedes Land chaelische Arbeit von 25–30 J. zugrunde. Gewiss, es kön- sich abkapseln wird, bis dies zuletzt – weil das natürlich gegen nen andere Konstellationen kommen, neu wieder an- alle wahre Evolution ist – zu einem allgemeinen großen Krieg gefangen werden, aber wertvolle Zeit ist doch verloren wieder entartet. Wie verhalten wir uns – und das gehört doch gegangen, würde es nicht gelingen diese Flamme leuch- auch zu unseren Aufgaben, sonst hat Anthroposophie gar kei- tend hell zu halten. – An einem Faden hängt alles; von nen Sinn, wenn wir sie nur für uns im stillen Kämmerlein uns der Wachheit einer Anzahl Menschen hängt vieles ab, ob aneignen – zu diesen großen Dingen heran, um so zu arbeiten, dieser Faden der uns mit R. St. verbindet, ganz abbrechen dass wir vielleicht manches verhüten können durch unsere wird. Gewiss, die Aufgaben [von] R. St. Individualität richtige Einstellung und durch die richtigen Taten.»30) Ita sind unendlich gross, mehr als nur eine Gemeinschaft Wegman war 1933 und in den folgenden Jahren umfas- von Menschen zu führen. Aber wenn diese Gemeinschaft send tätig und versuchte Schutz- und Emigrationsbewe- als solche ihre Ziele nicht erreicht, wird sie als Kräfte- gungen in die Wege zu leiten, für einzelne, gefährdete komplex ein ungeheures Hindernis werden für Jeden, der Menschen, für viele Kinder – und schließlich auch für die dieser Gemeinschaft angehört hat, ja in der Weltenevolu- Anthroposophie als Ganze.31 Ihre englischen Pläne, die tion zerstörende Wirkungen ausüben. Dieses Zukunfts- sie über das ganze Jahr 1933 mit hoher Dynamik, wenn bild nehmen wir gar nicht ernst. Wir denken, zu viel mit auch am Ende weitgehend «erfolglos», vorantrieb, stan- der [Anthroposophischen] Gesellschaft wollen wir nichts den in diesem Zusammenhang. Nach Clent schrieb sie zu tun haben, all zu leicht kommt dieser Gedanke in uns am 18. Dezember 1933 im vorläufigen Rückblick und in hoch. Mir hat sich gezeigt, dass solches Denken nicht der prononcierten Formulierung der von ihr verfolgten richtig ist der Wahrhaftigkeit nach. Eine Gruppe von Intentionen: Menschen muss schon das tun, was R. St. von der Gesell- Das was ich wollte und was ich als eine Rettung an- schaft verlangt hat, diese Gruppe muss untereinander so sah, war doch, dass ein lebendiger Ring entsteht von er- sich verbinden, dass sie eine vom Geist getragene Arbeit wachten Menschen, die das was an Sterbekräften vor- leisten kann, damit das Neue von dieser Gruppe in die handen ist, umgibt und von dem aus neues Leben Welt gebracht werden kann, aber nicht theoretisch, son- entstehen sollte, ein Ring, der darin besteht, dass in den dern praktisch in die Welt getragen! Das Licht, das daraus verschiedenen Ländern Festungen und Gralsburgen so- entsteht, wirkt dann schon gesundend und helfend auf zusagen entstehen, in denen Menschen wohnen, die die Menschen in der Gesellschaft und auch auf die Men- doch auch wieder so beweglich sind, dass sie von einem schen, die allmählich dann mitmachen werden. – So Ort zum andern gehen können. Dieses richtig durchge- mahnt Michael mir [mich] zu tun, dunkle Orte zu erhel- führt, habe ich betrachtet als einen neuen Michaels- len.27 Und diese dunklen Orte finde ich schon am meis- bund, durch den man in die Welt etwas Neues bringen ten in der Gesellschaft umso dunkler und schlimmer, kann, um das neue Leben, das entstehen will, möglich weil früher es da Licht war.28 zu machen. Aber das zur Ausführung zu bringen, scheint An schrieb Ita Wegman im Sep- doch auf große Schwierigkeiten zu stoßen. Schon dass tember 1930 sogar: man nicht frei die Menschen hinüberbekommt, ist Es werden schwere Zeiten kommen, aber ich glaube sa- schwierig; außerdem doch auch, dass die englischen See- gen zu dürfen und zu können, dass unsere Klinik wie ei- len für solches weit umfassendes Geschehen nicht viel ne Burg stehen wird. Hoffentlich gehören Sie zu uns. Ich Vertrauen haben. Das ist natürlich bei der englischen habe Michaels Schwert geschliffen und werde unter sei- Gediegenheit wohl schon zu verstehen, man muss damit nem Schutz leben oder sterben.29 rechnen. Nur ist das Deprimierende, dass die geistige Welt dieses Neue fordert und nicht schaut nach diesen Mit dieser inneren Haltung ging Ita Wegman auch in die nationalen Charaktereigenschaften, die im Grunde ge- ab 1933 manifesten Zerstörungsprozesse in Deutschland nommen auf der Erde entstanden sind, sodass das, was hinein, die sie – als «Michaelitin» – frühzeitig wahrge- sein muss, als Forderung dasteht und Menschen es tun

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müssen; ob es gelingen wird oder Kräften ein, in freilassender, großzü- nicht gelingen, das hängt natürlich giger und ermutigender Weise, zu- davon ab, ob wirklich genügend gleich jedoch mit einem trennschar- Menschen diese Notwendigkeit sich fen Urteil über Gehalt und Qualität: bewusst machen können. […] Ohne Ich meinerseits habe aber doch die absolute Unterstützung, nicht nur Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass finanziell, sondern auch was den die Intentionen von Dr. Steiner nicht guten Willen betrifft – durch die durchkreuzt werden und seine Im- Notwendigkeit hervorgerufen –, kann pulse, die er für die Therapie gegeben doch kein Segen ruhen auf einer hat, nicht verflachen.36 Ausbreitung. So müssen wir viel- leicht in aller Ruhe abwarten, bis Auch in der biographisch abschlies- Menschen so weit sind, diese Not- senden Ascona-Zeit (1940–1943) ver- wendigkeiten einzusehen, um sich Ita Wegman folgte Ita Wegman große Gesichts- dann auch voll und ganz damit zu punkte – obgleich die äußeren Um- verbinden. Etwas durchführen zu stände wenig Expansion gestatteten. wollen, was eventuell angesehen werden könnte als von Die ganze geistige Arbeit, die Wegman in der Casa An- meinem Willen ausgehend, möchte ich doch vermei- drea Cristoforo initiierte, betrachtete sie als Vorbereitung den, denn es ist nicht mein Wille.32 der Zukunft, in individueller wie sozialer Orientierung. Noch immer setzte Ita Wegman dabei auf eine sich re- Ihre gesamte Tätigkeit leistete Ita Wegman aus ihrer in- generierende, zu sich selbst zurückfindende und ihren neren Verbindung mit Rudolf Steiner («für mich ist immer Aufgaben verpflichtete Allgemeine Anthroposophische wesentlich die Wesenheit Rudolf Steiners und nicht die Gesell- Gesellschaft und insofern auf das Fortwirken der Weih- schaft, auch nicht einmal der Name Anthroposophie.»33). Ita nachtstagung. Ihr Nachdenken über Marie Steiner, ihre Wegman wusste viel über das Mysterium der «Wesenheit reale Verzeihung und der von ihr verfasste Brief an die Rudolf Steiners», auch wenn sie selten darüber sprach; als ehemalige Weggefährtin und Kontrahentin waren nicht einer der wenigen Menschen hatte sie mit Rudolf Steiner lediglich Ausdruck einer persönlichen Versöhnungsbe- auch persönliche Gespräche über seine Beziehung zu reitschaft, sondern die Voraussetzung für die notwendi- Christus und Michael geführt. Wenn Ita Wegman in Ar- gen Zukunftsschritte in Dornach («She was of the opinion lesheim wiederholt über Rudolf Steiner zu ihren Mitar- that if the split of the Society would continue to exist, it would beitern sagte: «Ihr seht ihn immer viel zu klein», so hatte lead to a disaster.»37 Collot d’Herbois). Ita Wegman hoffte dies einen weiten, von Wegman jedoch nur selten expli- auf die Ausbreitung einer «Herzens-Anthroposophie» zierten Hintergrund. Was Ita Wegman in Arlesheim trotz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die den Intellek- aller Zeit- und Gesellschaftsschwierigkeiten gelang, war tualismus überwinden38 und zugleich von einem Goe- die Aufrechterhaltung der medizinischen und geistigen theanum als realer Geistes-Stätte getragen werde sollte: Arbeit in ihrer Bezogenheit auf Rudolf Steiner34 («Was wir «She said that the Goetheanum, the heart of the society, must hier [in Arlesheim] tun, geht immer dahin, stets eine stär- in reality be seen as a group of people who concern themselves kere und stärkere Verbindung mit Rudolf Steiner zu ha- with the spiritual world. If people who are carriers of a spiri- ben. Trotz aller Schwierigkeiten, die in der Gesellschaft tual impulse would come together and join forces, that could geschehen, streben wir zu dieser Verbindung und nur da- work as a harmonizing impulse for the whole world.» (Liane durch ist ein Sein und eine Arbeit hier möglich.»35). Nie Collot d’Herbois39). war Ita Wegman der Auffassung, dass die durch Rudolf Ihre zivilisatorische Wirkensintention gab Ita Weg- Steiners geisteswissenschaftliche Forschung ermöglichte man dabei nie auf. Sie wollte die Aufnahme von Kriegs- Medizin in der Gegenwart bereits vollgültig – oder auch Kindern in den Sonnenhof und die Begründung einer nur zum größten Teil – verwirklicht werden konnte. Weg- dortigen Abteilung für jugendliche Straftäter noch An- man wusste, dass die in dieser Medizin veranlagten Ge- fang des Jahres 1943, drei Monate vor ihrem Tod, konnte sichtspunkte der weiteren Zukunft der Menschheit ange- sich damit jedoch nicht durchsetzen. Oft war Ita Weg- hörten und unter den gegenwärtigen Bedingungen mans Gemüt in den letzten Winterwochen von Ascona lediglich als Vorgriff lebten – daher von den anthroposo- umdüstert – «Vor ihrem Tode machte sie sich große Sorgen phisch orientierten Mediziner auch nur bedingt aufge- um das Kommende. Sie sprach zu mir von der Gabe der Pro- griffen und praktiziert werden konnten. Dennoch setzte phetie, die von der Sonne kommen wird, und man durfte an- sie sich für das bereits in der Gegenwart Mögliche nach nehmen, dass sie wusste, wovon sie sprach.» (Liane Collot

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d’Herbois40). Dennoch lebte Ita Weg- Erst viel später fiel mir ein, warum man weiterhin in positiver Weise auf gerade dies Gebet ihr ganz unmittel- die Zukunft zu, im «großen Schritt» bar aus dem Herzen gesprochen sein der Zeit und in der Liebe zur Welt musste: Ita Wegman war, in des Wor- («Sie können versichert sein, dass ich tes tiefster, weitester und höchster den kleinen Schritt nicht mitmache, Bedeutung ein Weltbürger; und ein sondern beim großen Schritt bleiben Arzt, dem das Unmögliche jederzeit will.»41). Sie lebte, so Liane Collot, möglich schien.43 einzig für diese Zukunft: Am Ende eines Kurses vor Medi- Bereits 1929 hatte Ita Wegman in ih- zinstudenten hatte Ita Wegman zwei rem Buch Aus Michaels Wirken for- Jahre nach Rudolf Steiners Tod ge- muliert: «[Es] bleibt der Menschheit sagt: auch nach dem großen Kriege noch Was kann die Zukunft uns nun als zu erfüllende Aufgabe übrig: das noch geben, werden viele von Ihnen Suchen und Betreten des Weges in fragen. Natürlich ist man berechtigt, die geistige Welt und die Gestaltung so zu fragen, aber man kann die Fra- der Menschheit in einem wahren, weltgerechten, sozialen Zusammen- ge auch anders stellen, man kann fra- Rudolf Steiner gen: wie kann ich die Zukunft gestal- hang über die ganze Erde. Michael ten? Und dann kommt die Antwort: will zu einer wahren Christuserkennt- Wenn man die Anthroposophie von Rudolf Steiner wirk- nis führen, zu einer Christuserkenntnis, die sich im mo- lich richtig in sich aufgenommen hat, bemerkt man, dass ralischen Tun darlebt, das den einzelnen zur Freiheit und der Zeitgeist, der in der gegenwärtigen Zeit die Menschen die Gesamtheit zur Harmonie führt. […] Wo wirkliches führt und lenkt, schon überall die Herzen der Menschen Freiheitserleben eintritt, da wird der Mensch auch die vorbereitet, eine neue Denkungsart anzunehmen.42 Wege finden, die ihn von alledem befreien, was ihn zum Diese neue, michaelische «Denkungsart» des Herzens unsozialen Wesen macht. Er wird durch eine spirituelle lebte in Ita Wegman, in ihrem ganzen Sein. Über ihren Erkenntnis des Menschen den Weg zum Herzen des an- Tod Anfang März 1943, inmitten des Zweiten Weltkriegs, deren finden. Gerade dadurch wird Michael das Reich ge- schrieb Dora Krück von Poturzyn: bildet, in dem er schaffen kann; denn er will zwar das Es war ein stiller klarer Märzabend, die ersten Bäume Individuelle pflegen, aber in einer einheitlich liebe- hatten zu blühen begonnen, und als ich noch ein wenig voll verbundenen Menschheit. So wird der Aufblick zum an die Luft ging, ehe die Sirenen heulen würden, dachte Geiste aus herzlicher Verbundenheit der Menschheit ich an die heranwachsende Generation, die nun, auch auch eine neue Christuserkenntnis immer mehr seelisch wenn wieder einmal Frieden einzog, sie nicht mehr in ih- zugänglich machen.»44– Ita Wegman, so Liane Collot rer Arlesheimer Klinik antreffen konnte. In jener Nacht d’Herbois, hoffte bis zuletzt auf die Regeneration der All- schlugen tatsächlich die Bomben ein, es gab die Minuten gemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und des atemlosen Wartens, ob über dem eigenen Kopf die Mau- Goetheanum, als einer «Michaelsgemeinschaft» und ei- ern hielten, wie sie im Frühling 1943 Hunderttausende ner «Michaelsburg», die für sie von zentraler Bedeutung erlebten, und auf einmal fühlte ich, dass Ita Wegman ge- war – im Hinblick auf die Vorbereitung künftiger Ent- rade diesen Hunderttausenden mit all ihrer mutigen wicklungen im Sinne des «Michael-Reiches». Zugleich Geistgewissheit und unbeirrbaren Heilerkraft nahe sein hatte sie bereits 1935 in einem Brief an Maria Röschl ge- werde, intensiver als es möglich war, solange sie, von ir- schrieben: «Alle alten Formen, auch die allerletzte Form für discher Hülle umschlossen, ihren Kranken zur Verfügung die Anthroposophie, sind gründlich kaputt gemacht, und mir gestanden hatte. kommt es jetzt so vor, als ob man nicht mehr eine Form für Einen Augenblick gab es, in dem ich sie greifbar nahe das Leben der Anthroposophie zu suchen hat, sondern dass je- glaubte lächeln zu sehen, das war, als im Keller eines der Mensch selber die Form ist, mit der sich Anthroposophie Stuttgarter Hauses, mitten im Dröhnen der Bombenflug- vereinen will. Wo dieses geschehen ist, werden Menschen sich zeuge und vor den verstummten Gesichtern der Erwach- vereinen, um ein Glied zu werden des wahren Geistverein. Die senen ein kleines Russenmädchen zu beten anfing: «Lie- Gesellschaft ist nicht mehr nötig, weil die Anthroposophie ber Gott, schütze uns, Vater und Mutter und alle in dieser schon auf Erden ist. Auf den einzelnen Menschen kommt es Stadt, schütze auch die englischen Flieger über uns, dass jetzt an […].»45 sie gesund nach Hause kommen.»

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Hochschulkurse für die ‹jungen Mediziner›. Dornach 2006. 1 Ita Wegman Archiv. 21 Rudolf Steiner: Die Weihnachtstagung zur Begründung der All- 2 Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammen- gemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24. GA 260, hänge. 6. Band. GA 240. Dornach 5 1992, S. 183 S. 212f. 3 Liane Collot d’Herbois: «Ita Wegman». In: Andreas Grunelius 22 Ita Wegman: An die Freunde, S. 39. (Hg.): Ita Wegmans Erdenwirken aus heutiger Sicht, S. 15. – 23 Ebd., S. 33. Vgl. hierzu: Peter Selg: Liane Collot d’Herbois und Ita Wegman. 24 Brief Ita Wegmans an Margarete Stavenhagen, 14.7.1932. Dornach 2008. Ita Wegman Archiv. 4 Zit. n. Peter Selg: «Ich bleibe bei Ihnen. Rudolf Steiner und Ita 25 Vgl. Ita Wegman: «Das Mysterium der Erde» (1929). Erst- Wegman. München, Pfingsten 1907. Dornach 1923–1925, S. 85 veröffentlichung in: Natura. Eine Zeitschrift zur Erweiterung (mit Faksimile-Abbildung). der Heilkunst nach geisteswissenschaftlicher Menschenkun- 5 Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze. GA 26. Dornach de. 1929/30, S. 1-6. Wiederabdruck in: Peter Selg: Die Kultur 10 1998, S. 62. der Selbstlosigkeit, S. 87ff. 6 Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammen- 26 Brief Ita Wegmans an Fried Geuter, 5.6.1930. Ita Wegman hänge. 6. Band. GA 240, S. 183 Archiv. 7 Auch Madeleine van Deventer schrieb über Ita Wegman: 27 Vgl. hierzu die von Rudolf Steiner an Ita Wegman gegebene «Eine strahlende Herzlichkeit strömte von ihr aus. In ihr Herz Meditation «Da wo das Licht / Vor grünen Dämonen / Erzit- hatte sie die Geisteswissenschaft aufgenommen und als ein tert …», in: Peter Selg: «Ich bleibe bei Ihnen. Rudolf Steiner und wärmendes Licht strahlte diese von ihr aus. Mit dem Herzen Ita Wegman. München, Pfingsten 1907. Dornach 1923–1925, nahm sie auch den andern Menschen wahr.» («Michaels S. 73 (Faksimile S. 74). Wirken einst und jetzt». Unveröffentlichtes Typoskript, o.D. 28 Brief Ita Wegmans an Nora Stein, 17.1.1930. Ita Wegman Ita Wegman Archiv, S. 12). Archiv. 8 Liane Collot d’Herbois: «A lighter Aspect of the Personality 29 Brief Ita Wegmans an Walter Johannes Stein, 20.9.1930. of Ita Wegman.» In: Hefte des Ita Wegman-Fonds für soziale Ita Wegman Archiv. und therapeutische Hilfstätigkeiten. Arlesheim 1989, S. 11. 30 Brief Ita Wegmans an D.N. Dunlop, 17.4. 1933. Ita Wegman 9 Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, S. 118. Archiv. – Zum Kontext des Briefes vgl. Peter Selg: Geistiger 10 Vgl. Peter Selg: «Ich bleibe bei Ihnen. Rudolf Steiner und Ita Widerstand und Überwindung. Ita Wegman 1933–1935, S. 15ff. Wegman. München, Pfingsten 1907. Dornach 1923–1925. 31 Ebd., v.a. S. 35ff. 11 Ebd., S. 55. 32 Brief Ita Wegmans an die englischen Freunde, 18.12.1933. 12 Zu dieser Auseinandersetzung, die mit Rudolf Steiners christli- Ita Wegman Archiv. chem Wirkensimpuls verbunden war, vgl. Peter Selg: Rudolf 33 Brief Ita Wegmans Willem Zeylmans van Emmichoven, Steiner, Maryon Buch und die Dornacher Christus-Plastik. Dor- 3.3.1939. Ita Wegman Archiv. nach 2006, S. 159ff. 34 Vgl. hierzu ausführlicher Peter Selg: Ita Wegman und Arles- 13 Zit. n. Peter Selg: «Ich bleibe bei Ihnen. Rudolf Steiner und Ita heim, S. 35ff. Wegman. München, Pfingsten 1907. Dornach 1923–1925, S. 67. 35 Brief Ita Wegmans an Josef van Leer, 23.12.1933. Ita Wegman 14 Liane Collot d’Herbois: «Ita Wegman». In: Andreas Grunelius Archiv. (Hg.): Ita Wegmans Erdenwirken aus heutiger Sicht, S. 13f. 36 Brief Ita Wegmans an Hermann Liebert, 30.10.1929. Ita Weg- 15 Brief Ita Wegmans an Eberhard Schickler, 8.2.1929. Ita Weg- man Archiv. man Archiv. Vgl. a. Peter Selg: Ita Wegman und Arlesheim. 37 Liane Collot d’Herbois: «A lighter Aspect of the Personality Dornach 2006, S. 47ff. of Ita Wegman», S. 15. 16 Brief Ita Wegmans an Ludwig Engel, 1.4.1937. Ita Wegman 38 «Frau Dr. Wegman intended to make journeys after the war Archiv. everywhere, all over the world, meet young people and give 17 Ita Wegman: An die Freunde. Arlesheim 3 1986, S. 20. in a new form, because, she said, if that 18 Vgl. Peter Selg: «Ich bleibe bei Ihnen. Rudolf Steiner und Ita Weg- new form was not found, then the war had been for nothing; man. München, Pfingsten 1907. Dornach 1923–1925, S. 72ff. this new form should be a non-intellectual form with even 19 «So, meine lieben Freunde, traget hinaus Eure warmen more heartqualities.» (Liane Collot d’Herbois: «Ita Wegman». Herzen, in den Ihr hier eingegründet habt den Grundstein In: Andreas Grunelius (Hg.): Ita Wegmans Erdenwirken aus für die Anthroposophische Gesellschaft, traget hinaus diese heutiger Sicht, S. 15). warmen Herzen zu kräftigem, heilkräftigem Wirken in der 39 Liane Collot d’Herbois: «A lighter Aspect of the Personality Welt. Und Hilfe wird Euch werden, dass erleuchtet Eure of Ita Wegman», S. 15. Häupter dasjenige, was Ihr jetzt alle wollt zielvoll führen kön- 40 Liane Collot d’Herbois: «Erinnerungen an Ita Wegman», S. 40. nen. Das wollen wir uns heute in aller Kraft vornehmen.» 41 Brief Ita Wegmans an Helen Eugster, 20.8.1942. Ita Wegman (Rudolf Steiner: Die Weihnachtstagung zur Begründung der All- Archiv. gemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24. GA 260. 42 Ita Wegman Archiv. Dornach 5 1994, S. 284) Vgl. hierzu auch: Peter Selg: Die 43 M.J. Krück von Poturzyn: Ita Wegman. Nachruf für «The Kultur der Selbstlosigkeit. Rudolf Steiner, das Fünfte Evangelium Golden Blade» (1945). Typoskript, S. 9. Ita Wegman Archiv. und das Zeitalter der Extreme. Dornach 2 2007, S. 45ff. 44 Ita Wegman: Aus Michaels Wirken. Stuttgart, Den Haag, 20 Zur differenzierten Entwicklung des Sektionsbegriffs Rudolf London 1929, S. 40/188. Steiners am Beispiel der Medizin vgl. Peter Selg: «Die Medizin 45 22.2.1935. Zit. n. Peter Selg: Geistiger Widerstand und Über- muss Ernst machen mit dem geistigen Leben». Rudolf Steiners windung. Ita Wegman 1933–1935, S. 201.

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