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OLYMPIA In dünner Luft Viele Expertentipps der Olympischen Spiele erfüllten sich nicht. Favoriten stürzten ab, Unbekannte stiegen auf, der Wintersport scheint unberechenbar. Nirgendwo ist das so gut zu beobachten wie beim Skispringen. Von Alexander Osang

RAUCHENSTEINER Mannschafts-Olympiasieger Schmitt, Hannawald, Hocke, Uhrmann: „Der Ski lebt“

achdem seinen Es stimmte, es passte. Er machte sein schwenkte die deutsche Fahne, in der letzten olympischen Sprung gelan- Zeug. Alle wussten das. nächsten starrte er verloren in die Ergeb- Ndet hatte, riss er die Arme in die Es war eine bedrückende Situation. Die nisliste. Er war 14. und hatte gewonnen. Höhe. Er ballte die Fäuste und schrie ir- Zuschauer im Auslauf beklatschten den Die alten Antworten funktionierten nicht gendwas in den hellblauen Morgen. Er Deutschen artig, wie einen alten Mann, mehr, seine Gefühlswelt schien in Unord- schien sich zu freuen, die Frage war aller- der an einem Trick scheitert, den er früher nung geraten zu sein. dings, worüber. als Junge immer gut konnte. Sven Hannawald ist als erfolgreichster Wie schon im ersten Durchgang des Später sagte Hannawald, er habe sich deutscher Skispringer aus Mannschaftswettbewerbs war er zehn Me- gar nicht richtig gefreut, denn wenn er sich zurückgekehrt, er hat eine Goldmedaille ter kürzer gesprungen als die Besten. Er richtig freue, fliege ihm „der Arm weg“. und eine Silbermedaille gewonnen. Aber hätte eigentlich traurig sein müssen. Die Dann war auch von einer plötzlich aufge- die Frage ist, ob er dabei seinen Schwung Fäuste des deutschen Skispringers aber tauchten Muskelentzündung im Schienbein verloren hat, der ihn bislang so leicht durch verharrten noch über seinem Kopf, als die die Rede, die ihn behindert habe. Und von den Winter trug. Punkte auf der Anzeigetafel ihm sagten, der Freude über den Mannschaftserfolg, Der Schwung ist etwas, das man schwer dass jeglicher Jubel unangebracht war. Ei- zu dem er, trotz der Muskelentzündung, beschreiben kann. Bundestrainer Reinhard nen Moment schien es so, als wolle er den habe beitragen können. Sven Hannawald Heß nennt ihn auch den „Lauf“. Klar ist, Zuschauern und auch sich selbst zeigen, wiederholte die Floskel: „Ich mache mein dass Hannawald ihn hatte, als er nach dass ihm nichts, auch kein noch so kurzer Zeug“ wie ein Stoßgebet. In einer Sekun- Amerika reiste. „Der Sven kann in diesem Sprung die Stimmung verderben könne. de hüpfte er wie verrückt in die Höhe, Winter sogar den Absprung verpassen und

222 der spiegel 9/2002 fliegt trotzdem weit“, sagte Heß am vierten fang der Saison fast alle Weltcupspringen chen. Axel Achten, Chef des Deutschen Tag der Olympischen Spiele. Der Trainer gewonnen. Er galt als nahezu unschlagbar. Hauses, steht minutenlang mit zwei ver- saß an einem Holztisch im Kufenstüberl Dann kam Hannawald und siegte bei allen schiedenen Bieren im Stillgestanden, weil von Park City und rang nach Worten, um vier Springen der Vierschanzentournee, er nicht weiß, ob der Innenminister lieber das Unbeschreibbare deutlich zu machen. was vor ihm keiner geschafft hatte, 50 Jah- Pils oder Weizen trinkt. Hannawald flieht „Man spürt es praktisch am Ende des re lang. Beim Weltcupspringen in Zako- über einen Nebeneingang. Er will noch ersten Flugabschnitts. So nach 20 Metern. pane pfiffen 100000 polnische Zuschauer nicht feiern, sagt er. Weil er seinen Da hat man irgendwas unter den Ski, was Hannawald aus. Er musste von zehn Body- Schwung nicht verlieren darf. „Ich brauch einen trägt“, sagt Heß und schaut ver- guards geschützt werden. Hannawald hat- ihn noch bis Ende März.“ zweifelt. „Oder man spürt nichts. Der Ski te Malysz den Schwung abgenommen. Der Bundestrainer Heß und sein Kompa- lebt dann an der Kotzgrenze, wie wir sa- Schwung kam und ging, er griff sich die gnon Wolfgang Steiert bleiben noch. Sie gen.“ Heß trug den schwarzweißen Nor- Springer, wie er wollte. Jetzt spürte ihn können im Augenblick sowieso nichts für wegerpullover des Deutschen Skiverban- eben aus der Schweiz. ihn tun. „Ich kann nur die Fahne schwen- des, der ihn weihnachtlich aussehen ließ, „Es hat mich einfach weggetragen“, sagt ken“, sagt Heß. und hatte Tränen in den Augen. Seine Ammann. „Es passt einfach alles, es ist ein Ein paar Bier später flüstert Hannawalds schweren Hände schwebten überm Knei- wunderschönes Gefühl. Ich weiß auch Heimtrainer Steiert: „Das war die kleine pentisch wie Sprungski an der Kotzgrenze. nicht. Ich kann besser springen als reden.“ Schanze. Sven hasst die kleinen. Ich sag Ih- „Wissen Sie, ich bin seit 35 Jahren Trai- Am nächsten Tag schreiben die Boule- nen ganz ehrlich: Auf der Großschanze ist ner, vorher bin ich selbst gesprungen. Aber vardzeitungen, Simon Ammann könne Sven nicht zu schlagen. Nicht in seiner ich weiß es nicht. Es ist im Kopf. Es ist da, zaubern wie Harry Potter, dem er ähnlich Form. Der kleine Ammann weiß doch gar und dann ist es wieder weg, und bei rich- sehe. Aus diesem Grund lädt ihn wohl auch nicht, was Druck ist. Das wird er vor dem tig guten Leuten kommt es auch wieder. David Letterman in seine Talkshow ein. Springen auf der Großschanze wissen. Und Der war ein toller Flieger. Ein Zauberer aus der Schweiz. Malysz’ Vorteil ist, dass der nur Polnisch Vielleicht besser als der Jens Weißflog, aber Am Abend seines ersten olympischen Er- versteht. Das schützt ihn gegen den ganzen Jens war im Kopf stärker. Dieter hat immer folgs sitzt Hannawald mit Heß und Otto Rummel. Der lässt sich immer vom Mann- so ein bisschen genervelt. Aber er explo- Schily auf der Bühne des Deutschen Hau- schaftsarzt dolmetschen. Ein ZDF-Journa- dierte, nachdem Jens zurücktrat. Martin ses von Salt Lake City. „Das ist ein guter list, der Polnisch kann, hat mir erzählt, dass Schmitt wird auch wiederkommen. Der Tag“, sagt Schily mit einem Gesichtsaus- die nur übersetzen, was gut für Adam ist.“ Martin hat es. Der war in der Vorberei- druck, als habe er das heute morgen ange- „Ich lass den Martin nicht fallen“, sagt tung so gut, besser als der Sven. Aber hier ordnet. Schily erinnert an Gott. Vor ein paar Reinhard Heß und hat schon wieder Trä- ist der Sven dann wieder vorn. Man kann Stunden hatte er, umringt von Journalisten, nen in den Augen. „Der will die Medaille es nicht erklären. Es ist verrückt.“ verkündet: „Skispringen ist auch ein schö- noch mehr als der Sven. Ich weiß doch gar OLIVER MULTHAUP / DPA MULTHAUP OLIVER OSSENBRINK FRANK BARBARA NITKE / AP NITKE BARBARA Bundestrainer Heß (mit Springer Hannawald), NOK-Gast Schmitt (l.), Shootingstar Ammann*: Der Schwung kam und ging

Hannawald gewann gleich zum Anfang ner Sport.“ Der Sprecher des NOK, Klaus nicht, ob der bei den nächs- der Olympischen Spiele auf der kleinen Angermann, schiebt Sven Hannawald das ten Olympischen Spielen noch springt.“ Schanze Silber. Der bis dahin kaum be- Glückwunschtelegramm von Johannes Rau Hannawalds Schwung trug ihn auch von kannte Schweizer Simon Ammann schlug zu und sagt: „Lies das vor, Sven.“ der Großschanze. 132,5 Meter flog er im ihn ganz knapp. Das US-Magazin „Sports Hannawald gehorcht. Später wird der ersten Durchgang ins Tal. Er schien selbst Illustrated“ hatte in seiner Olympiapro- Nordisch Kombinierte überrascht zu sein. Ammann flog genauso gnose den Polen Adam Malysz auf der klei- von Angermann dafür gemaßregelt, dass er weit und im zweiten Durchgang sogar nen Schanze auf Platz eins gesetzt, Hanna- keine Medaille gewonnen hat. Ackermann noch einen halben Meter weiter. Hanna- wald auf zwei. Für die große Schanze tipp- sucht nach Gründen, findet aber keine. Der wald aber stürzte im zweiten Durchgang in ten sie es umgekehrt. Einen Ammann gab Innenminister erklärt, es sei nicht so den Schnee. Alle sahen es, doch die deut- es in den „Sports Illustrated“-Tipps nicht. schlimm. „Dafür hat ja Claudia Pechstein sche Mannschaft protestierte gegen die Ammann hüpft am Ende durchs Tal, als gewonnen. Mit Weltrekord“, sagt Schily. Wertung und bestellte die Videoaufzeich- sei irgendetwas mit ihm passiert, was er „Die ist auch beim Bundesgrenzschutz.“ nung von Hannawalds Sprung. Erst dann noch nie erlebt habe. Er hat noch kein ein- Ackermann scheint nicht erleichtert zu sein. konnten sie glauben, dass es wirklich pas- ziges Weltcupspringen gewonnen, und jetzt Angermann fragt Schily, ob er auch siert war. ist er hier Olympiasieger. Schlittschuh läuft. „Ja, auf dem Grune- „Wir haben es hier mit dünner Luft zu Malysz wird Dritter. Was ist sein Ge- waldsee“, sagt Schily. Die Funktionäre la- tun“, sagt Heß am Abend, seine Springer heimnis? schweigen. „Ich bin früh schlafen gegangen“, sagt * Zweites Bild: mit Thüringens Ministerpräsidenten Bern- Am nächsten Tag sitzt Hannawald in ei- Malysz. Dann schweigt er. Er hat am An- hard Vogel; rechts: in der „David Letterman Show“. ner kleinen Holzhütte in Park City. Er

der spiegel 9/2002 223 trinkt Tee und wirkt sehr ruhig verließ ihn der Schwung. Schmitt und sehr zerbrechlich. sprang in dieser Saison immer ein Er hat in seiner Karriere viel ge- bisschen hinterher. Er redete von tan, um den Schwung zu halten. Er Knieschmerzen, und sein Trainer hat abgenommen und zugenom- hörte ihm ungläubig zu. Jetzt fliegt men und wieder abgenommen. Er er, 131,5 Meter weit. Es ist fast so, wollte fliegen. Im letzten Jahr hat- als beflügele ihn das Pech von te er einen Zusammenbruch. Er hat Hannawald. danach die Skifirma gewechselt. Er „Es war wieder da, der alte hat wieder zugenommen und seine Schmitt“, sagt Martin Schmitt spä- Muskeln trainiert. Weil, wie er sagt, ter. Er redet von sich als Springer „der Trend zu athletischen Sprin- in der dritten Person. Der Sprung gern geht“. Der Trend macht, was ist etwas Fremdes. Etwas, dass er will. Bei Olympia ließ er Am- man nicht beeinflussen kann. Heß mann gewinnen. Einen Floh. Es ist sagt, er habe immer an Martin ge- die Schanze, sagt Hannawald. Sie glaubt. Steiert spricht von einem sei altmodisch. ein bisschen weicheren Ski, aber „Ich komme mit einer Ge- er scheint selbst nicht dran zu schwindigkeit ins Tal, die mich glauben. Am Ende erinnern sie noch fünf, sechs Meter weitertra- alle an Voodoozauberer. gen würde“, sagt er. „Aber das er- „Ich glaube, für mich sind die laubt das Schanzenprofil nicht. Ich Olympischen Spiele einfach zu muss früher landen, die über- früh gekommen“, sagt Schmitt. schüssige Kraft drückt mich in die „Hat er sein Knie denn nicht Knie. Deswegen bin ich gestürzt.“ gespürt?“ Oh doch, sagt er. „Ja, Hannawald sagt: „Ammann fällt das Knie. Ja, es hat ein bisschen wie ein Blatt auf diesen steilen gezogen.“ Hang.“ Er versucht, so sachlich Sein zweiter Sprung ist wieder wie möglich zu erklären, woran es eher durchschnittlich. Aber einen liegt. Es gibt Gründe. Es ist nicht hatte er. Es hat für die Goldme- übernatürlich. daille im Mannschaftsspringen ge- Ein paar Stunden später taucht reicht. Es ist wieder ein guter Tag. die Nachricht auf, das IOC wolle Für die letzten Tage sind die ihn sperren, weil in Deutschland Springer aus ihren Chalets ins

zwei unerlaubte Werbespots lie- / REUTERS JUERGEN SCHWARZ olympische Dorf umgezogen, sie fen. Sein Manager Werner Heinz Skispringer Hannawald in Park City: Stein oder Feder waren Ski fahren und einkaufen. sagt am Telefon, dass er da einen Der Pressesprecher der Skisprin- Fehler gemacht habe. „Es gibt ja auch Wer- Hannawald sagt, dass sein Fokus immer ger sagt, dass es nicht so einfach ist, die bespots für Schmitt und die Hilde Gerg“, kleiner wird. Ihn erreiche nicht, dass der Jungs solange bei Laune zu halten. Seine sagt Heinz. „Aber die haben sich das ge- amerikanische Stadionsprecher in seinen Augen liegen tief, er blinzelt oft. Manchmal nehmigen lassen. Ich hab das vergessen. Sprung hineinquatsche. „Skispringen ist zu scheint er sich zu fragen, ob es eher gut für Ich wusste nur, dass wir keine Werbung 98 Prozent eine Sache des Kopfes“, sagt er. ihn ist, dass 11,87 Millionen Deutsche Ski- am Mann machen dürfen. Tut mir Leid.“ Am Abend vor dem Mannschaftssprin- springen gucken. Oder nicht. Hannawald war nicht direkt sauer, sagt gen sitzt im „Öster- Schmitt wirkt entspannt. Er sitzt in der Heinz. Aber auch nicht froh. Heinz glaubt reicher-Haus“ von Salt Lake City und be- VIP-Lounge des olympischen Eishockey- trotzdem, dass Olympia „insgesamt die trinkt sich. Goldberger hat heute Nach- stadions und beschreibt den einen guten Werbewirkung vom Sven noch positivieren mittag erfahren, dass er nicht im Team ist. Sprung, den er hatte. Unten in der Halle wird“. Er ist schon fast 30, sieht aber immer noch verliert die deutsche Eishockey-National- Trainer Heß sagt: „Wir können die Ma- aus wie ein Kind. Er ist nicht wütend, er ist mannschaft gerade gegen Amerika. nager ja heutzutage nicht in den Skat traurig. „Der Ski lebt“, sagt er. „Es ist Bewe- drücken. Leider.“ „Ich weiß nicht, was es ist. Ich bin nicht gung drin. Man fällt nicht, man fliegt. Ja, so Nachdem Hannawald die Vierschanzen- gut. Die Anlage hier ist wunderbar, aber kann man es sagen. Aber ich hatte nur den tournee gewonnen hatte, legte Manager ich fliege nicht. Es ist furchtbar, ich spüre einen Sprung. Beim zweiten war ich zu Heinz dem Trainer Heß eine Liste mit 16 nichts unter den Ski. Entweder du bist ein spät dran. Kein Druck, kein Leben. Es ist, Terminen auf den Tisch. Heß sagte, das Stein oder eine Feder. Ich bin ein Stein.“ als würde man ins Leere treten. Man gehe nicht in der Olympiavorbereitung. Er trinkt sein Glas aus, ein Mann in ei- braucht mindestens zwei gute Sprünge, um Heinz sah das ein, aber nach drei Tagen nem klein karierten Jackett und einer den Schwung zurückzuholen. Besser noch stand er wieder in der Tür und bat, wenigs- Goldrandbrille füllt es wieder. Irgendje- zwei gute Wettkämpfe. Ich weiß also tens die Einladung zu „Wetten, dass …?“ mand füllt es immer. nichts“, sagt Schmitt und lacht. zu berücksichtigen. Hannawald wollte da „Stein oder Feder“, sagt Goldberger. Am nächsten Tag packen sie die Koffer. unbedingt hin. „So eine Chance bekomme Sein Blick ist rein. Er weiß, dass er nichts Sie fliegen nach Hause und dann gleich ich nie wieder im Leben“, sagt Hannawald. tun kann. Gar nichts. Vielleicht stürzt er ab weiter nach , wo am kommenden Wo- Heß erlaubte es ihm, aber verstehen kann wie der große Matti Nykänen, weil sie das chenende Weltcupspringen stattfinden wer- er die Jungs nicht. Schicksal spüren wie kein anderer Sportler. den. Da wird man sehen, wer den Schwung „Es sind andere Typen, als wir waren“, Es nimmt sie mit und trägt sie. Oder es hat. Eine Reihe weiter sitzt Sven Hanna- sagt er. „Wir mussten mal raus, um die lässt sie fallen. Stein oder Feder sein. wald und schaut geistesabwesend auf die Häuser ziehen. Sven und Martin sind eher Am nächsten Morgen fliegt Martin Eisfläche. Es sieht schlecht aus fürs deut- still und zurückgezogen. Manchmal kom- Schmitt plötzlich wieder. Drei Jahre lang sche Eishockey. Er darf sich jetzt nicht die me ich an die nicht heran.“ war er der beste Springer der Welt. Dann Stimmung verderben lassen. ™

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