Iranica Antiqua, vol. XXX, 1995

DIE EROBERUNG VON NISIBIS UND KARRHAI DURCH DIE SASANIDEN IN DER ZEIT KAISER MAXIMINS (235/236 N. CHR.)

VON

Erich KETTENHOFEN

Dem Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, verdanken wir Grundzüge der Geschichte des sasanischen Reiches, die vor wenigen Jahren publiziert wurden1. Er hat dort einen wertvollen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand gegeben2. Im ersten Kapitel, das die Anfänge des Säsänidenreiches schildert, beruft sich der Jubilar auf mein 1982 erschienenes Beiheft zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients und datiert eine mögliche Einnahme von Nisibis und Karrhai (Carrhae) in die Zeit 235/363. Das Quellenmaterial zur Einnahme der beiden Städte soll hier vorgestellt und interpretiert werden. Unstrittig ist, daß die beiden nordmesopotamischen Städte Nisibis und Karrhai, heute im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien gelegen ( bzw. Altınba≥ak), in der Regierungszeit des Kaisers C. Iulius Verus Maximinus (Febr./März 235 — Mitte April [?] 2384 von den Sasaniden eingenommen wurden5. In der Chronographie des Georgios Synkellos (681) aus dem frühen 9. Jh. lesen wir, daß Gordian (III.) auf seinem Zug

1 Darmstadt 1990. 2 Zur Zielsetzung der Grundzüge vgl. Schippmann 2 Anm. 1. 3 E. Kettenhofen. Die römisch-persischen Kriege de 3. Jahrhunderts n. Chr. nach der Inschrift Sahpuhrs I. an der Ka{be-ye Zartost (SKZ), B TAVO B 55, Wiesbaden 1982, 132; vgl. Schippmann 18 mit Anm. 38: K. hält es für möglich, daß die Sasaniden in der Zeit 235/36 die wichtigen Städte Nisibis und Karrhae eroberten. 4 Vgl. D. Kienast. Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiser- chronologie, Darmstadt 1990, 183-185. 5 Vgl. E. Kettenhofen, Einige Überlegungen zur sasanidischen Politik gegenüber Rom im 3. Jhr. n. Chr. The Roman and Byzantine Army in the East, Proceedings of a colloqium held at the Jagiellonian University, Kraków in September 1992. Edited by E. Dabrowa, Kraków 1994, 99-108. Aus den Texten bei Synkellos und Zonaras allein läßt sich das Datum des Frühjahrs 238 nicht erschließen, wie dies bei J. Wiesehöfer zu lesen ist (Die Anfänge sassanidischer Westpolitik und der Untergang Hatras. Klio 64. 1982 [437-447], 447 Anm. 87). Korrekt hingegen: J. Sturm, Nisibis (1), RE XVII 1, 1936 [714-757], 738. 160 E. KETTENHOFEN die Städte Nisibis und Karrhai für Rom zurückgewann, die von den Persern unter Maximinus, dem »Moesier«, erobert worden waren6; der Wortlaut bei Ioannes Zonaras in seinen Annalen (XII 18 [P I 623]) weicht davon nicht stark ab7. Die weitgehende Übereinstimmung8 im Wortlaut legt eine gemeinsame Quelle nahe, und Loriot hat in seinem vorzüglichen Forschungsbericht mit Recht Dexippos in ihr gesehen9. Der Autor der Vita der Gordiani tres im Corpus der Scriptores Historiae Augustae sagt dage- gen lediglich, daß die Städte Carrae und Nisibis (in dieser Reihenfolge) sub Persarum imperio waren, als Gordian sie zurückeroberte (SHA, Gd. 26,6)10. Erlaubt die Quellenlage eine präzisere Datierung? Die Textemendation Bellezzas, die die Geschehnisse in die Zeit des Kaisers M. Clodius Pupienus Maximus (238) datierte11 (êpì Mazimínou → êpì Mazímou), hat in der modernen Forschung — mit Recht — keinen Anklang gefunden12. Überprüft man die moderne Literatur, so hat sich

6 kaì Nísibin kaì Kárrav ârqeísav üpò Pers¬n êpì Mazimínou toÕ MusoÕ ¨Rwmaíoiv üpétazen (A.A. Mosshammer, Georgii Syncelli Ecloga Chronographica, BT, Leipzig 1984, 443, Z. 5-6). Ohne Erwähnung in dem materialreichen Beitrag von S. Lloyd/W. Brice, , AnatStud 1, 1951, 77-111 sowie bei W. Cramer, Harran, RAC XIII, 1985, 634- 650. Die Datierung in die Regierungszeit des Maximinus hat J.B. Segal, Edessa, »The Blessed City«, Oxford 1970, 110 nicht beachtet (Ardashir captured Nisibis and Harran in 233). 7 kaì Nísibin kaì Kárav ¨Rwmaíoiv aŒqiv êpanesÉsato, üpò Pers¬n êpì Mazimínou üfarpasqeísav: Ioanni Zonarae annales ex rec. M. Pinderi, II, CSHB, Bonn 1844, S. 581, Z. 21-22. 8 Schon bemerkt bei C. de Boor, Römische Kaisergeschichte in byzantinischer Fassung, ByzZ 1, 1892 [13-33], 27. Die Schlußfolgerungen de Boors teile ich hingegen nicht. 9 X. Loriot, Les premières années de la grande crise du IIIe siècle: De l’avènement de Maximin le Thrace (235) à la mort de Gordien III (244), ANRW II 2, Berlin/New York 1975 [657-787], 717 Anm. 471. Vgl. auch mein Beiheft (hier Anm. 3) 21 Anm. 14. 10 Die Diskussion um die nur in der Historia Augusta (Gd. 26, 5-6) vorausgesetzte Einnahme von Antiocheia durch die Sasaniden muß hier unterbleiben. Vgl. dazu mein Beiheft (hier Anm. 3) 22 Anm. 16. Weitere Literatur nennt E. Merten: Stellen- bibliographie zur Historia Augusta, Antiquitas IV 2, 3, Bonn 1986, 73. 11 Vgl. Kienast (hier Anm. 4) 190-191. Die bis heute nicht abgeschlossene Kontroverse um die präzisen Daten des Sechskaiserjahres 238 soll hier nicht behandelt werden: die mir zuletzt bekannte Studie stammt von M. Peachin. Once More A.D. 238, Athenaeum 57, 1989, 594-604 [noch nicht bei Kienast berücksichtigt]: Proklamierung im Spätapril/Anfang Mai: Ermordung Anfang August. Peachin nennt auch die frühere Literatur. 12 Vgl. A. Bellezza, Massimino il Trace, Istituto di Storia antica dell’Univ. di Genova 5, Genova 1964, 52 Anm. o. Dagegen vor allem: S. Mazzarino, La tradizione sulle guerre tra Shabuhr I e l’Impero romano: »prospettiva« e »deformazione storica«, AAntHung 19, 1971 [59-82], 70 mit Anm. 55 (mit problematischer Interpretation des Reliefs von Darabgird). Auf Bellezza (und Bersanetti) stützt sich wiederum M.G. Angeli Bertinelli, Roma e l’Oriente, Problemi e Ricerche di Storia antica 7, Roma 1979, 109 mit. Anm. 240. EROBERUNG VON NISIBIS 161 dennoch eine communis opinio für das Jahr 238 herausgebildet13. Die text- liche Grundlage bieten zwei Stellen aus dem Werk des griechischen Historikers Herodian, der um 250 sein acht Bücher umfassendes Werk Metà Márkon basileíav ïstoríai verfaßte14. Prüfen wir zuerst die bei- den Textstellen: Als Beleg für die Verluste, die Ardasir I. im Kampf gegen das römische Heer während des Feldzuges des Severus Alexander erlitt, dient der Hinweis, daß die Barbaren drei oder vier Jahre lang Ruhe hielten und nicht zu den Waffen griffen (Hdn. VI 6,6)15. Als weiterer Beleg dient eine Bemerkung in einer Rede, in der Kaiser Maximinus seine Truppen zum Kampf gegen die Gordiane anstachelte, und die Herodian in wörtlicher Rede wiedergibt (VII 8,4 — 8). Die Perser, so vernehmen wir dort, ver- halten sich nach ihren früheren Invasionen16 Mesopotamiens ruhig und sind zufrieden, wenn sie ihr Land in Frieden behalten können (VII 8,4)17. Die klassisch gewordene Argumentation bot Ensslin, für den nur das Jahr 238 in Frage kam, da im ersten Frühling 238 ... noch keine alarmierenden Nachrichten nach Sirmium gelangt waren18. Der Sasanidenkönig muß also im Frühjahr 238 den Feldzug begonnen haben. Terminus ad quem ist

13 Eines der jüngsten Beispiele: D.S. Potter, Prophecy and History in the Crisis of the Roman Empire. A Historical Commentary on the Thirteenth Sibylline Oracle, Oxford 1990, 35 sowie 191. 14 Erstmals erwogen von G. Alföldy, Herodians Person, AncSoc 2, 1971, 204-233, jetzt (mit Nachträgen) in: Die Krise des Römischen Reiches. Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtsbetrachtung, HABES 5, Stuttgart 1989, 240-272. Viele stimmten ihm in der Folge zu, so F. Gasco la Calle, La patria de Herodiano, Habis 13, 1982 [165-170], 165 Anm. 2, zuletzt A. Lippold, Kommentar zur Vita Maximini Duo der Historia Augusta, Antiquitas IV 3,1, Bonn 1991, 59. 15 de⁄gma dè toÕto oû mikròn t±v t¬n barbárwn kakÉsewv êt¬n goÕn tri¬n Æ tettárwn ™súxasan oûdˆ ên ºploiv êgénonto. Den griechischen Text zitiere ich nach: Herodian in two Volumes, II. Books V-VIII with an English Translation by C.R. Whittaker, LCL 455, London/Cambridge (Mass.) 1970. Deutsche Übersetzung: Herodian’s Geschichte des römischen Kaiserthums seit Marc Aurel. Deutsch von A. Stahr, Stuttgart 1858, 173. 16 Vgl. hier Anm. 51. 17 Pérsai te oï pálai Mesopotamían katatréxontev nÕn ™suxáhousin, âgapjt¬v ∂xontev tà ëaut¬n. Zu beachten ist als literarischer Kontrapunkt VI 2,1 ([Ardasir] oûx ™suxáhei... Mesopotamían te katatréxei) im Brief der »Statthalter von Syrien und Mesopotamien«, in dem sie Alexander Severus über die »Einforderung des Achämenidenerbes durch Ardasir« informieren. 18 W. Ensslin, Zu den Kriegen des Sassaniden Schapur I., SBAW. Phil.-hist. Kl. 1947,5, München 1949, 9 Anm. 3. 162 E. KETTENHOFEN selbstredend der Tod des Kaisers, den Ensslin in den Mai 238 datierte19. Auf die Interpretation Ensslins haben sich in der Folgezeit viele Forscher berufen, so etwa Maricq und Chaumont20. Für Felix bietet auch die Notiz aus dem sechsten Buch Herodians keine Probleme: Die Perser hielten drei oder vier Jahre Ruhe — d.h. bis 23821. Überprüft man die verfügbaren Daten, so wird man stutzig: nach Hdn. VI 6,2 verbrachte Severus Alexander den Winter 232/233 bereits wieder in Antiochien, bevor er nach Rom zurückkehrte22. Wenn nun die Kampfhandlungen bereits im Jahre 232 ihr Ende fanden und addiert man die von Hdn. VI 6,6 genannten »drei oder vier Jahre«, so errechnet man 235 oder 236! Selbst wenn die Kämpfe sich bis ins Jahr 233 hingezogen haben sollten oder der Waffenstillstand erst im Jahre 233 erfolgt sein sollte23, ergäbe dies 236 oder 237, nicht jedoch 23824! Man könnte nun einwenden, daß nach Hdn. VI 2,1 die Briefe der Statthalter von Syrien und Mesopotamien den Kaiser erst im 14. Regierungsjahr, also 235, erreichten mit der inzwischen heftig diskutierten »Einforderung des Achämenidenerbes durch Ardasir«25; das hieße, daß

19 Ensslin 9. In seinem Beitrag in der Cambridge Ancient History XII (1939) 130 datierte Ensslin noch »im letzten Jahr des Maximinus Thrax«. Auch dies wurde oft wie- derholt, so von G. Pugliese Carratelli, Res Gestae Divi Saporis, ParPAss 2.1947 [209- 239.356-362], 218 und A. Balil, C. Iulius Verus Maximus [sic] »Thrax«, BolRealAcadHist 157, 1965 [83-171], 104. 20 A. Maricq, Les dernières années de Hatra: L’alliance romaine, 34, 1957 [288- 296] 295 Anm. 5 = Classica et Orientalia, IFAB. Publications hors Série 11, Paris 1965 [17-25], 24 Anm. 5 und M.-L. Chaumont, L’Arménie entre Rome et l’Iran, I, ANRW II 9, 1, Berlin/New York 1976 [71-194], 166 Anm. 531 (mit jeweiliger Berufung auf Ensslin). Vgl. auch Loriot (hier Anm. 9) 717 Anm. 471. 21 W. Felix, Antike literarische Quellen zur Außenpolitik des Sasanidenstaates. 1. Bd. (224-309), ÖAW. Phil.-Hist. Kl. SB 456 = Veröffentlichungen der Iranischen Kommission 18, Wien 1985, 37. 22 Vgl. H. Halfmann, Itinera principum. Geschichte und Typologie der Kaiserreisen im Römischen Reich, HABES 2, Stuttgart 1986, 232. 23 So etwa Alföldy (hier Anm. 14) 209 Anm. 20 = (1989) 245 Anm. 20. 24 Dies sei in aller Deutlichkeit gegen Harmoniserungsversuche wie die von Felix (hier Anm. 21) gesagt. Auch bei Potter (hier Anm. 13) 191 Anm. 5 ist die Tendenz allzu deut- lich, wenn er — bei Hnd. VI 6,6 — von »Ereignissen in den Jahren 233/4« spricht. 25 Angespielt ist auf meinen Aufsatz in OLP 15, 1984, 177-190. Vernichtende Kritik habe icht zuletzt durch J. Wolski erfahren: Sur l’authenticité des traités romano-perses, IA 27, 1992, 169-187. Vgl. auch schon J. Wiesehöfer, Iranische Ansprüche an Rom auf ehemals achai- menidische Territorien, AMI N.F. 19, 1986, 177-185 sowie G. Gnoli, L’inscription de Sabuhr à la Ka{be-ye Zardost et la propagande sassanide, in: Histoire et cultes de l’Asie Centrale préis- lamique. Actes du Colloque international du CNRS (Paris, 22-28 novembre 1988) sous la direc- tion de P. Bernard et F. Grenet, Paris 1991, 57-63. Unterstützung fand ich hingegen bei Potter (hier Anm. 13) 370-380 in seinem Appendix Alexander Severus and Ardashir. EROBERUNG VON NISIBIS 163 der Perser — wie der Germanenkrieg des Severus Alexander in das Jahr 235 zu datieren seien. Von diesem Datum aus gerechnet ergibt sich für die Notiz in Hdn. VI 6,6 das Jahr 238 oder 23926. Daß der Beginn des Perserkrieges nicht in das 14. Jahr Alexanders datiert werden kann, ist offenkundig. Cassola hat deshalb in VI 2,2 den Text emendiert zu [tes- sareskai] dekátwç ∂tei27, was das korrekte Datum 231 ergäbe. Das Dilemma bleibt: beläßt man es beim — bereits korrupten28 — Text (= 14. Jahr; das 4. Jahr ist in der Tat sinnlos), so ist zwar des Datum 238 zu »ret- ten« und auch VI 6,6 ist mit VII 8,4 in Übereinstimmung zu bringen, doch wirft dann die unsinnige Chronologie (Perser- und Germanenkrieg im Jahr 235) ein bedenkliches Licht auf das Zeugnis des griechischen Historikers und Zeitgenossen der Ereignisse29. Akzeptiert man dagegen die Emendation Cassolas, so wäre zwar das Datum des Beginns des Perserkrieges korrekt, doch lassen sich nun die oben zitierten Textstellen aus dem Werk Herodians nicht mehr miteinander vereinbaren. Alföldy hat in den Nachträgen zu dem 1971 publizierten Aufsatz Cassius Dio und Herodian über die Anfänge des neupersischen Reiches die Emendation

26 So in der Tat G.M. Bersanetti, Studi sull’imperatore Massimino il Trace, Roma 1940, 95 Anm. o. 27 F. Cassola, Note critiche al testo di Erodiano, RAAN 37, 1962 [139-143], 142 (irrige Angabe bei Whittaker [hier Anm. 15] 88 Anm. 1, der mit »einigen Zögern« die Emendation Cassolas in seine Ausgabe übernommen hat). 28 Zur Textkorruptel g → ig sowie d → id vgl. Dändliker, Die drei letzten Bücher Herodians, in: M. Büdinger (Hrsg.), Untersuchungen zur römischen Kaisergeschichte, III, Leipzig 1870, 215 Anm. 2. Skeptisch war J. Blaufuss, Ad Herodiani rerum Romanarum scriptoris libros V. et VI. observationes, Diss. Erlangen 1893, 58. Vgl. jetzt Whittaker (hier Anm. 15) 88, Note 2. 29 Sollte Herodian beabsichtigt haben, die Innenpolitik des Kaisers als tadellos heraus- stellen zu wollen und er daher das Negative seiner Regierung (mit dem Perser- und dem Germanenkrieg) auf das 14. Jahr »verkürzt« haben (so W. Widmer, Kaisertum, Rom und Welt in Herodians META MARKON BASILEIAS ISTORIA, Diss. Zürich 1967, 62- 63), so würfe dies ein nicht weniger bedenkliches Licht auf den griechischen Historiker. F. Kolb hat daher mit Recht die Möglichkeit bewußter Fälschung von Fakten bei Herodian betont (Literarische Beziehungen zwischen Cassius Dio, Herodian und der Historia Augusta, Antiquitas IV 9, Bonn 1972, hier 161 Anm. 772). Ob man Herodian als eine »erstklassige Quelle zum Studium der Krise des römischen Reiches im 3. Jh. u. Z.« anse- hen darf, ist eine davon zu trennende Frage (so A.I. Dovatur, Obzor novejsich rabot po »istorii« Geordiana, VDI 1975 [1] [205-217], 217). Die »chronologisch-geographischen Irrtümer« würden durch die Wahrnehmung des »moralischen Aspektes der Geschichte« ausgeglichen, urteilen A.M. Gonzalez-Cobos Davila/L. Gonzalez-Cobos Davila, Fuentes de Herodiano, Studia Zamorensia Philologica 7. 1986 [367-381], 367. 164 E. KETTENHOFEN

Cassolas nicht für notwendig erklärt, verständlich, da nach Alföldy Herodian über die Chronologie der Regierungszeit Alexanders nicht genau Bescheid wußte30. Mit der Zustimmung zu Alföldys Urteil ist die Frage nach der histori- schen Glaubwürdigkeit des griechischen Autors aufgeworfen. G. Martinelli, die vor einigen Jahren einen Forschungsbericht über Herodian vorgelegt hat, bemängelte die unpräzise Chronologie, u.a. in VI 6,631. Das ist jedoch nicht der einzige Mangel. Daß der Historiker bei der Rekonstruktion des historischen Geschehens nicht auf diesen Autor ver- zichten kann, liegt weniger in dessen Zuverlässigkeit begründet als in der Tatsache, daß sein Geschichtswerk das einzige vollständig erhaltene aus dem 3. Jh. bildet. Eine Durchsicht etwa des 1. Kapitels des 6. Buches, das der Innenpolitik des letzten Severerkaisers gewidmet ist, belegt die Oberflächlichkeit der Darstellung32; für die kriegerische Auseinander- setzung mit den Sasaniden bietet der entsprechende Abschnitt in Winters Dissertation33 einen trefflichen Beleg, zeigt er doch, daß sich Herodians Bericht nicht für eine historisch brauchbare Rekonstruktion der Geschehnisse verwenden läßt34. So bleibt das Resultat des Krieges diffus:

30 RhM 114, 1971, 360-366= (1989 [hier Anm. 14]) 229-237, hier 236. 31 G. Martinelli, L’ultimo secolo di studi su Erodiano, Accademia Ligure di Scienze e Lettere. Collana die Studi e Ricerche 7, Genova 1987, 17 mit Anm. 36. Vgl. auch Whittaker (hier Anm. 15) 121 Anm. 2. Die ungenaue Chronologie bemängelt auch A.I. Dovatur im Vorwort seiner russischen Herodian-Übersetzung, VDI 1972 (1) [237-257], 242, während sie für J.J. Torres Esbarranch von geringerem Belang ist (Herodiano. Historia del Imperio Romano después de Marco Aurelio. Traduccion, introduccion y notas, Biblioteca Clasica Gredos 80, Madrid 1985, bes. 46-48). Sehr subtil wurde das Schwanken Herodians unterschlagen bei Ensslin (1939 [hier Anm. 19] 70 [the Persian king ... remained inactive for four years {Betonung von mir}]). 32 Anders F. Gasco, Las fuentes de la Historia de Herodiano, Emerita 52, 1984 [355- 360], 359-360, bes. Anm. 33, nach dem die letzten Bücher Herodians qualitativ wertvol- ler einzustufen seien. 33 E. Winter, Die sasanidisch-römischen Friedensverträge des 3. Jahrhunderts n. Chr. — ein Beitrag zum Verständnis der außenpolitischen Beziehungen zwischen den beiden Großmächten, EHS III 350, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1988, 52-60. 34 Siehe schon meine Rezension zu Winters Dissertation in BiOr 47, 1990 [163-178], 166. Ich meine, daß man sogar erwägen sollte, ob das Vorrücken dreier Heeresabteilungen einem literarischen Schema folgt; anders noch — der sonst skeptische — K. Hönn, Quellenuntersuchungen zu den Viten des Heliogabalus und des Severus Alexander im Corpus der Scriptores Historiae Augustae, Leipzig und Berlin 1911, 72-73. Auch A. Rösger spricht — m. E. zu Unrecht — von einem detaillierten Bericht: Die Darstellung des Perserfeldzuges des Severus Alexander in der Historia Augusta, BHAC 1975/1976, Antiquitas IV 13, Bonn 1978 [167-174], 165. EROBERUNG VON NISIBIS 165 war es nach VI 5,10 eine »äußerst schwere Schlappe« (... pántev dief- qárjsan. megístj35 te aÀtj sumforà kaì oû Åaçdíwv mnjmoueuqe⁄sa ¨Rwmaíouv êpésxe.. !), so waren die römischen Truppen nach VI 6,5 nur deshalb unterlegen, weil sie an Zahl geringer waren, denn ihren Feinden hätten sie große Verluste beigefügt und sie hätten auch nicht ohne Mut gekämpft (oû gàr ânándrwv oï ‘Rwma⁄oi ™ttßqjsan, âllà kaì aûtoì toùv polemíouv ∂sqˆºpj kakÉsantev, parà toÕto dè âpolómenoi parˆºson plßqei êláttouv eüréqjsan). Winter spricht selbst von auf- fallenden Wiederholungen, geographischen Unklarheiten und erkennba- ren Widersprüchen36. Schon in meiner Dissertation äußerte ich — in Anlehnung an die zuvor erschienenen Arbeiten von Alföldy und Kolb — starke Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Historikers Herodian37, und in unserer Frage läßt der 1990 erschienene Kommentar von Roques an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig38. Ich vermute jedoch, daß etwa das Urteil Winters über die Brauchbarkeit Herodians so positiv ausfällt, um den Autor nicht völlig in Mißkredit zu bringen, der als einer der »Kronzeugen« für die Echtheit des sasanidischen Anspruchs auf das alte achämenidische Erbe gilt (den Winter für authentisch hält); nicht ohne Grund wird die Frage nach der historischen Zuverlässigkeit Herodians in dem in Anmerkung 25 zitierten soeben erschienenen Beitrag aus der Feder von J. Wolski nicht gestellt. Es gilt gegen die widersprüchliche Darstellung Herodians festzuhalten: Daß Ardasir I. den Kampf gegen die Römer nicht fortsetzte, muß nicht in

35 Nicht »eine schwere« Niederlage (so Winter 55). 36 Winter 55. Auf Widersprüche auf vergleichsweise engem Raum (wie in dem obigen Fall) weist auch K. Dietz hin: Senatskaiser und ihre monarxíav êpiqumía. Ein Beitrag zur Geschichte des Jahres 238 n. Chr., Chiron 6, 1976 [381-425], 403. Die Widersprüche basieren auf der widersprüchlichen Darstellung, nicht auf Benutzung von zweien Severus Alexander freundlich bzw. feindlich eingestellten Quellenautoren. Dies hat bereits E. Baaz. De Herodiani fontibus et acutoritate, Diss. phil. Berlin 1909, 62 klargestellt. 37 Die syrischen Augustae in der historischen Überlieferung. Ein Beitrag zum Problem der Orientalisierung, Antiquitas III 24, Bonn 1979. Vgl. schon G. Alföldy, Zeitgeschichte und Krisenempfindung bei Herodian, Hermes 99, 1971 [429-449], 431 Anm. 3 = Krise (hier Anm. 14) [273-294], 275 Anm. 3. 38 Hérodien. Histoire des empereurs romains. De Marc-Aurèle à Gordien III (180 ap. J.-C. — 238 ap. J.-C.). Traduit et commenté par D. Roques, Paris 1990, 270 Anm. 56: Die Bemerkungen in VI 6,6 widerspreche den Darlegungen der erlittenen Katastrophen (Roques verweist auf VI 5,10 und VI 6,3) und laissent dubitatif sur la valeur historique du témoignage d’H. 166 E. KETTENHOFEN fast gleichhohen Verlusten begründet gewesen sein, wie es uns Herodian suggeriert, sondern kann ebenso in einem Zweifrontenkrieg seine Ursache haben, die es dem Sasaniden geraten erscheinen ließen, auf eine Fortsetzung des Kampfes an der Westgrenze zu verzichten. In der Rezension zu Winters Dissertation wies ich auf die Argumentation des ungarischen Althistorikers J. Harmatta hin, daß in den frühen 30er Jahren eine große Offensive gegen das Kusanreich gestartet wurde39; ™abari erwähnt einen Zug bis zu den äussersten Grenzen von Chorâsân40 in einem Textabschnitt, in dem Winter — in der Folge von Frau Altheim-Stiehl — einem möglichen dritten sasanidischen Rechenschaftsbericht vermutet41. Chronologisch läßt sich die Offensive, da lediglich noch der Zug nach BaÌrayn folgt, m. E. am ehesten in die 30er Jahre datieren42. Parallelen zu einer — vom alleinigen Blickwinkel der Front an Euphrat und Tigris betrachtet — rational nicht vollziehba- ren Kriegführung sasanidischer Könige bietet Sahpuhr II., der 350 die Kämpfe nicht fortsetzte, obwohl zu diesem Zeitpunkt Constantius II. in den Bürgerkrieg gegen Magnus Magnentius verwickelt war43. Ein plötz- licher Abzug Ardasirs könnte auch begründen, daß Severus Alexander — ungeachtet der megístj sumforá — 233 in Rom als Persersieger triumphierte44; die offizielle Version hat sich ja bekanntlich in den lateinischen Quellen, namentlich in der Vita des Kaisers in der Historia Augusta, niedergeschlagen. Wie dem auch sei: selbst wenn man das Zeugnis Herodians in VI 6,6 heranzieht, lassen sich nur die Daten 235 oder 236 ermitteln; die Jahre 236 oder 237 sind nur dann akzeptabel, wenn der Waffenstillstand in das Jahr 233 zu datieren ist, zu dem dann die Zeitspanne von drei oder vier Jahren

39 J. Harmatta, Minor Bactrian Inscriptions, AAntHung 13, 1965 [149-205], 186- 195. 40 Geschichte der Perser und Araber zur Zeit der Sasaniden. Aus der arabischen Chronik des Tabari übersetzt und mit ausführlichen Erläuterungen und Ergänzungen versehn von Th. Nöldeke, Leyden 1879, 17. Arabischer Text: Annales quos scripsit Abu Djafar Mohammed ibn Djarir at-Tabari cum aliis edidit M.J. de Goeje. Prima series. II. Recensuerunt J. Barth et Th. Nöldeke, Lugdunum Batavorum 1881-1882, 819, Z. 13-14. 41 Winter (hier Anm. 33) 148 Anm. 4. 42 Vgl. Schippmann (hier Anm. 1) 17. 43 Vgl. wiederum Schippmann (hier Anm. 1) 33. 44 Vgl. Rösger (hier Anm. 34), dessen Ansicht eines Deffensiverfolges [sic] des Severus Alexander (167 Anm. 1) ich jedoch nicht teile. EROBERUNG VON NISIBIS 167 hinzuzuaddieren wäre45. Nicht in Frage kommen kann jedoch das Jahr 238, das in der modernen Literatur so häufig genannt wird46. Schauen wir auf die Bemerkung Herodians (VII 8,4)47 in seiner wuth- schnaubenden Rede48: der Kaiser, so die gängige Interpretation, weiß noch nichts vom Einfall der Sasaniden nach Nordmesopotamien. Er müßte folg- lich im Frühjahr 238 erfolgt sein49. Ensslin hatte dies klar gesehen und lehnte dezidiert 237 als Datum der Einnahm der beiden Städte ab: ein Ansatz auf 237 geht insofern nicht an, da das Datum mit der Äußerung des Kaisers Maximinus in Hdn. VII 8,4 nicht vereinbar sei50. Dem soeben

45 So Loriot (hier Anm. 9) 717 Anm. 471 unter Berufung auf die Herodian-Texte (ca. 237); so auch R.N. Frye, The History of Ancient Iran, HAW III 7, München 1984, 294 (about 237). Auf bloßer Vermutung beruht m. E. die Datierung in das Jahr 237 bei V.G. Lukonin, Kul’tura sasanidskogo Irana, Moskva 1969, 51 und G. Herrmann, The Darabgird Relief — Ardashir or Shahpur?, Iran 7, 1969 [63-88], 84, die das Datum wohl von J. Oates entlehnt hat (Studies in the Ancient History of Northern Iraq, London 1968, 75), der für 237 ebenfalls keinen Beleg bietet. Jüngste Datierung in das Jahr 237 bei: B. Overlaet, Aperçu historique, in: Splendeur des Sassanides. L’empire perse entre Rome et la Chine [224-642]. 12 février au 25 avril 1993, Bruxelles 1993 [19-27], 21. 46 So etwa G. Kerler, Die Außenpolitik in der Historia Augusta, Habelts Diss. Drucke 10, Bonn 1970, 149 mit Anm. 8, B. Aggoula, Hatra et Rome, une mise au point, XXI. Deutscher Orientalistentag vom 24. bis. 29. März 1980 in Berlin. Vorträge. Hrsg. v. F. Steppat = ZDMG Suppl. V, Wiesbaden 1983 [212-219], 217 (er folgt gar der offiziellen römischen Version) sowie jüngst Potter (hier Anm. 13). A. Magioncalda datiert die Offensive der Sasaniden — was nun vollends unmöglich wird — »an das Ende des Jahres 238«: Testimonianze sui prefetti di Mesopotamia, SDHI 48, 1982 [167-234], 205. 47 Der Text der Anmerkung 63 (Kommentierung von VII 8,4) bei Roques (hier Anm. 38) 276 fehlt leider. 48 So K. Fuchs, Beiträge zur Kritik Herodians (IV.-VIII. Buch), WS 18, 1896 [180- 234], 209; die Unbrauchbarkeit Herodians, die Fuchs 207 postulierte, gründet auf Argumenten, die nicht mehr überzeugen können (befreiende Enthmutigung des gefährli- chen Feindes durch Severus Alexander: Kriterium ist das Bild des Kaisers in der Historia Augusta!). Es bedarf keiner Frage, daß in der Rede »ein rhetorisches Produkt des Autors« vorliegt: so Dovatur (hier Anm. 31) 240. 49 Nach Bersanetti (hier Anm. 26) 95 Anm. entsprach der Vorstoß im Frühjahr 238 dem Kalkül Ardasirs I., den Bürgerkrieg im Imperium Romanum auszunützen. Die — irrige — Datierung in das Jahr 237 (!) bei S. Gould (in: The Excavations at Dura-Europos Conducted by Yale University... Preliminary Report of the Fourth Season of Work, October 1930 — March 1931. Edited by P.V.C. Baur, New Haven 1933 [110-114], 113 [zu Nr. 233]) gründet wohl im Bestreben der Harmonisierung der beiden (zitierten) Herodianstellen. 50 Ensslin (hier Anm. 18) 9 Anm. 3. 168 E. KETTENHOFEN genannten Text ist sicherlich kein Hinweis auf einen bereits vor Jahren erfolgten Plünderungszug zu entnehmen51. Leider ist nicht genügend beachtet worden, daß Hartke bereits begrün- dete, warum man auf der Herodianstelle VII 8,4 keine Datierung aufbauen kann52: rhetorisch übertreibend behauptet Maximin, er habe Germanen, Sauromaten und Perser zur Ruhe gebracht; die Gordiane aber wagten eine Revolte. Auf keinen Fall darf der Historiker vergessen, daß antike Autoren historiographische Kunstmittel durchaus einsetzen konnten; dies ver- pflichtet den modernen Historiker umso mehr, die Aussagen des histori- schen Belletristen53 kritisch zu überprüfen. Hartke hat mit Recht auf die Schwierigkeiten hingewiesen, das hier von den Persern Behauptete mit den nichtliterarischen anderen Zeugnissen in Übereinstimmung zu brin- gen54: daß die Soldaten Maximins im Krieg des Severus Alexander die Perser in Schach gehalten hätten, klingt nicht sehr glaubwürdig. Entscheidend aber ist, daß die undeutliche Angabe ºte t¬n ëpi ta⁄v ∫xqaiv stratopédwn ™goúmjn (VII 8,4) eine Statthalterschaft des Maximinus in Mesopotamien oder ein Amt wie das des dux ripae55 vor- aussetzt, was aber, wie Lippold jüngst festgestellt hat, nirgendwo zu bele-

51 Zu beachten ist das Partizip Praesens (pálai Mesopotamían) katatréxovtev. Stahr (hier Anm. 15) hat korrekt übersetzt (auch die Perser, die sonst Mesopotamien heimzusuchen pflegten [Unterstreichung von mir]), ebenso Roques (hier Anm. 38) (... qui après avoir longtemps fait des incursions en Mésopotamie), während Whittaker (hier Anm. 15) 209 einen egressiven Aorist (= katadramóntev) voraussetzt (after their invasion of Mesopotamia some time ago) wie auch Torres Esbarranch (hier Anm. 31) 306. Bedenkt man, daß die Bedeutungsvarianten von pálai sehr groß sind (s. Liddell/Scott 1289: sowohl »long ago« wie auch »just now«, »not long ago« kommen in Frage), könnte man letztendlich gar noch einen Einfall in der Frühzeit des Maximinus Thrax hier herauslesen. Doch scheitert diese Auslegung an der Verwendung des Partizip Praesens durch Herodian, wir mir Dr. B. Herzhoff, Univ. Trier, bestätigte, mit dem ich die Textpassage besprechen konnte (für seine Liebenswürdigkeit sei ihm hier herzlicher Dank gesagt). Ich vermute, daß der Gebrauch des Partizip Praesens durch den literarischen Kontrapunkt in VI 2,1 (kata- tréxei) bedingt ist. 52 W. Hartke, Römische Kinderkaiser. Eine Strukturanalyse römischen Denkens und Daseins, Berlin 1951 (= Darmstadt 1972) 383 Anm. o. 53 So E. Hohl, Die Ermordung des Commodus. Ein Beitrag zur Beurteilung Herodians, PhW 52, 1932 [191-200], 198. 54 Hartke (wie Anm. 52). 55 So Whittaker (hier Anm. 15) 209 Anm. 2 und bereits F. Altheim, Die Abstammung des Maximinus Thrax, RhM 90, 1941 [192-206], 198, skeptisch dagegen R. Syme, The Emperor Maximinus, in: Emperors and Biography, Oxford 1971, 188. EROBERUNG VON NISIBIS 169 gen sei56. Nach Lippold sagt Herodian uns nur deutlich, daß Maximinus wohl im Frühjahr und Sommer 234 an die Spitze der gesamten Rekruten gestellt wurde57. Ungeachtet der Gefahr, als Hyperkritiker verschrien zu werden, folgere ich aus dem bisher Gesagten, daß auf der Basis der Herodiantexte keine verläßliche Chronologie für die Einfälle der Sasaniden ins nördliche Mesopotamien aufgebaut werden kann, denn auch Forscher, die Herodian ein größeres Maß an Vertrauen schenken, kommen nicht umhin, daß die beiden Zeugnisse VI 6,6 und VII 8,4 miteinander nicht in Einklang gebracht werden können, falls man nicht — wie bei Gould — bewußt Irrtümer in Kauf nimmt. Als zusätzlicher Hinweis für die korrekte Datierung des sasanidischen Vorstoßes im Frühjar 238 wird gerne ein Text der Vita Maximi et Balbini des angeblichen Iulius Capitolinus herangezogen: Es war, so heißt es in SHA, MB 13,5 bereits in Aussicht genommen, daß Maximus58 gegen die Parther, Balbinus gegen die Germanen ziehen, der Knabe Gordian aber in Rom verbleiben solle (et cum iam paratum esset, ut contra Parthos Maximus proficisceretur, Balbinus contra Germanos, puer autem Gordianus Romae remaneret)59. Die Argumentationskette — etwa bei Felix60 — ist verblüffend einfach: Da nach Hdn. VII 8,4 im Frühjahr Kaiser Maximinus ein Vorstoß der Sasaniden ins nördliche Meso- potamien noch nicht bekannt ist, Kaiser Pupienus Maximus aber gegen die »Parther« ziehen soll, müsse der Einfall in der Zwischenzeit — bis zur Erhebung der beiden Senatskaiser — erfolgt sein. Die Quellenfrage bezüglich der Notiz in der Historia Augusta ist nicht leicht

56 Lippold (hier Anm. 14) 209. Entlarvend ist der Hinweis bei E. Hohl, Iulius (526), RE X 1, 1918 [852-868], 857: v. Domaszewski postuliert ... aufgrund einer Stelle in der dem nachmaligen Kaiser von Herodian in den Mund gelegten Ansprache (VII 8,4) einen weiteren verantwortungsvollen Posten: während des Perserkriegs scheint Maximinus praefectus Mesopotamiae gewesen zu sein. Als glaubwürdig sieht hingegen Bellezza (hier Anm. 12) 51 mit Anm. 41 die Rede Maximins an. 57 Lippold (hier Anm. 14) 209. 58 Eine Verwechslung mit Maximinus (235-238) liegt vor bei M.H. Dodgeon/S.N.C. Lieu (Ed.), The Roman Eastern Frontier and the Persian wars (AD 226-363). A Documentary History, London and New York 1991, 32 (zu 1.4.4.). 59 Scriptores Historiae Augustae ed. E. Hohl, Vol. II. Editio stereotypa correctior addenda et corrigenda adiecerunt Ch. Samberger et W. Seyfarth, BT, Leipzig 1965 (1971). Die zit. Übersetzung stammt ebenfalls von E. Hohl, Historia Augusta. Römische Herrschergestalten. Bd. II, Zürich und München 1985, 82. 60 Felix (hier Anm. 21) 40 (zu Nr. 25). 170 E. KETTENHOFEN zu beantworten61, da wir über eine solche Aufgabenteilung sonst nichts erfahren62; Whittaker hält — wohl mit Recht — den Plan zweier Feldzüge innerhalb von anderthalb Monaten für unwahrscheinlich63. In der modernen Literatur wird die Notiz dennoch meist als zuverlässig akzeptiert64. Aber selbst wenn der Plan Vertrauen verdient, sichert er keineswegs das Datum 238 für den Einfall der Sasaniden, sondern bietet lediglich einen terminus ad quem65, der durch die (wohl) dexippeische Notiz, die sich bei Synkellos und Zonaras bewahrt hat, ohnehin gesichert ist. Nach Chaumont bot die Regierungszeit des Maximinus, den sie insoucieux des affaires d’Orient charakterisiert66, eine günstige Gelegenheit für einen neue Offensive nach Mesopotamien, die sie am ehesten in die Jahre 237/238 datieren möchte67. Noch entschiedener spricht Loriot von den »Wirren, die Kaiser Maximinus — zu Beginn des Jahres 238 — lähmten«, so daß der Perserherrscher ungehindert nach Mesopotamien vorstoßen konnte68. Wenn aber der manque total d’intérêt pour l’Orient de Maximin le Thrace69 zutreffen sollte, ist nicht einsichtig zu machen, warum der

61 Vgl. Loriot (hier Anm. 9) 717 mit Anm. 474. Keine näheren Hinweise waren bei den Autoren zu finden, die Merten in ihrer Bibliographie (hier Anm. 10) 95-96 anführt. 62 Vgl. die Kommentierung von SHA, MB 13,5 zur Hohl-Übersetzung (hier Anm. 59) durch A. Rösger 329 Anm. 69. 63 Whittaker (hier Anm. 15) 298 Anm. 1. 64 So schon A. Stein, Clodius (50), RE IV, 1 1900 [88-98], 96 (unberücksichtigt dage- gen von Stein in: PIR2 C 1179) und P. Townsend, The Administration of Gordian III, YCIS 4, 1934 [59-132], 127 Anm. 7. Gewichtige Gründe für die Zuverlässigkeit bringt nun R. Ziegler vor: Städtisches Prestige und kaiserliche Politik. Studien zum Festwesen in Ostkilikien im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr., Kultur und Erkenntnis 2, Düsseldorf 1985, 139-140. 65 Anders Stein (hier Anm. 64) 96 sowie zuletzt Winter (hier Anm. 33) 80-81 mit Anm. 5. Korrekt hingegen P.W. Townsend, The revolution of A.D. 238: The Leaders and Their Aims, YCIS 14, 1955 [49-105], 70-71, der von einer »gefährlichen Situation im Jahre 238« spricht, ohne indes die Einnahme der nordmesopotamischen Städte in dieses Jahr zu datieren. 66 M.-L. Chaumont, Recherches sur l’histoire d’Arménie de l’avènement des Sassanides à la conversion du royaume, Paris 1969, 39, ähnlich (1976 [hier Anm. 20]) 165. 67 Chaumont (hier Anm. 66) 39 (probablement 237/238). Später hat sie eindeutig für 238 plädiert: Corégence et avènement de Shahpuhr 1er, Mémorial Jean de Menasce, édité par Ph. Gignoux et A. Taffazzoli, Fondation Culturelle Iranienne 185, Leuven 1974 [133- 146], 144 sowie A propos de la chute de Hatra et du couronnement de Shapur Ier, AAntHung 27, 1979 [207-239], 208. 68 Loriot (hier Anm. 9) 759-760. So argumentierte schon Gould (hier Anm. 49) 113. 69 So schon Maricq (hier Anm. 20) 292-294 = (1965) 21-23. EROBERUNG VON NISIBIS 171

Sasanidenherrscher bis 238 gewartet haben soll, um die beiden nordmeso- potamischen Städte einzunehmen; Nisibis hatte er schon viele Jahre zuvor belagert70. Nun belegt ein Graffito aus Dura (aÒ- ∑aliÌiya / Syrien)71, daß am 20. (?) April 239 die dort stationierte XX. Palmyrenische Kohorte von einem sasanidischen Trupp angegriffen wurde (katébj êfˆüm¬n [SEG: fortasse ™m¬n] Pérsjv72. Wenn Frau Chaumont dieses Zeugnis mit dem Vorstoß nach Nordmesopotamien verbindet und vom »Durchmarsch der Perser durch diese Stadt im April 239« spricht, vermutet sie diesen Durchmarsch bei der Rückkehr der sasanidischen Truppen73. Ich meine, daß man mit mehreren solcher Vorstöße in die römischen Grenzprovinzen Syrien und Mesopotamien rechnen darf: ein Vorstoß im Jahr 238 ist somit keineswegs ausgeschlossen, aber nicht durch die bisher vorgebrachten Zeugnisse zu belegen. Frau Chaumont weist mit Recht auf solche »einfa- chen Streifzüge« hin74. Stehen Datierungskriterien zur Verfügung, die eine Präzisierung erlauben, wenn auf die bisher diskutierten eine verläßliche Chronologie nicht aufgebaut werden kann? Ein präzises Datum bietet die »kleine Weltchronik« (Seder Olam Zutta), ein in hebräischer Sprache abgefaßtes Werk, das frühestens aus

70 Sync. 674 (ed. Mosshammer [hier Anm. 6], S. 437, Z. 21-22); Zon., ann. XII 15 [P I 619] (ed. Pinder [hier Anm. 7], S. 572, Z. 22-573, Z. 2). Diese Textstellen führt Whittaker (hier Anm. 15) 91 Anm. 2 irrig für die Eroberung von Nisibis und Karrhai an (zutreffend allein ist der Beleg für den Vorstoß nach Kappadokien). 71 Erstmals ediert von S. Gould (hier Anm. 49) = SEG VII 734b. 72 Chaumont (hier Anm. 66) 39 Anm. 5 wie Loriot (hier Anm. 9) 760 weisen auf das Zeugnis hin. 73 Chaumont (hier Anm; 66) 39 Anm. 5. Auf meiner TAVO-Karte B V 11 (Vorderer Orient. R¨ömer und Sasaniden in der Zeit der Reichskrise [224-284 n. Chr.], Wiesbaden 1982) habe ich den Zug des Jahres 239 als Vorstoß von Ktesiphon aus nach Dura gezeich- net. 74 Chaumont (hier Anm. 66) 40 Anm. 5 (simple raid). Ardasir muß nicht jeden dieser Streifzüge persönlich befehligt haben: Potter (hier Anm. 13) sagt mit Recht, daß aus Synkellos wie Zonaras nicht hervorgehe, Ardasir selbst habe Nisibis und Karrhai einge- nommen. Daher habe ich auch davon abgesehen, die Chronologie der letzten Jahre Ardasirs (in denen m. E. der Vorstoß auf die arabische Halbinsel zu datieren ist) ausführ- lich zu diskutieren, da man über Hypothesen nicht hinauskommt. Gegenüber einer Reise Gordians III. nach Antiocheia und Kämpfen des (14jährigen) Kaisers gegen die Sasaniden im Frühjahr 239 bin ich skeptisch; so jedoch X. Loriot. Les acclamations impériales dans la titulature de Sévere Alexandre et de Gordien III, ZPE 43, 1981 [225-235], 233 im Anschluß an eine frühere Arbeit (Itinera Gordiani, Augusti, I: Un voyage de Gordien III à Antioche en 239 après J.-C.?, BSFN 26, 1971, 18-21). Gewichtige (numismatische) Argumente gegen Loriots Hypothese bei Ziegler (hier Anm. 64) 139 Anm. 25. 172 E. KETTENHOFEN dem 8. Jh. n. Chr. stammt. Sein Hauptinteresse gilt dem Amt des Exilarchen: in einer Liste von 89 Generationen stellt es eine Verbindung von Abraham bis zum Ende der talmudischen Zeit her75. Wir lesen dort, daß in the 166th year of the Destruction of the Temple [ ... ] The Persians came upon the Romans. Mit dem Datum 236 n. Chr., das Neusner errech- net hat76, besäßen wir ein präzises Datum77, doch ist allen chronologischen Angaben in späten jüdischen Texten mit großer Skepsis zu begegnen78, und auch Neusner räumt ein, daß der Verfasser keine verläßlichen Informationen über die Exilarchen in der Zeit vor Samuel (+ 254 n. Chr.) besessen habe79. Als gewichtiges Argument ist von mehreren Forschern das Aussetzen der Münzprägung für Maximinus Thrax in den Städten des nördlichen Mesopotamien angesehen worden80; dies gilt für sämtliche Städte81, die noch für Severus Alexander prägten: in Karrhai82, in Edessa83 und in

75 Vgl. H. Strack/G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 71982, 297-298. 76 J. Neusner, A History of the Jews in Babylonia. II. The Early Sasanian Period, Studia Post-Biblia 11, Leiden 1966, 96. Dort findet sich auch die oben zitierte englische Übersetzung. 77 Auch G. Wirth, Rom, Parther und Sassaniden, AncSoc 11/12, 1980/1981 [305-347], 333 Anm. 75 nennt das Jahr 236, beruft sich jedoch — m. E. unberechtigt — auf SHA, Gd. 26, 6. Das Jahr 236 nennt, ohne einen Quellenbeleg anzuführen, L. de Blois, The Reign of the Emperor Philip the Arabian, Talanta 10-11, 1978-1979 [11-43], 12 (die Berufung auf Chaumont [hier Anm. 66] für 236 ist nicht korrekt). 78 Dies habe ich aus verschiedenen Gesprächen mit Dr. F. Hüttenmeister (Univ. Tübingen) gelernt, den ich mehrmals bei der Auswertung jüdischer Texte konsultierte. 79 Neusner (hier Anm. 76) 97. Vgl. auch mein Beiheft (hier Anm. 3) 118 Anm. 407. 80 Zum Ausstoß in den östlichen Provinzen des Imperium Romanum unter Maximin vgl. A. Johnston, Greek Imperial Statistics: A Commentary, RN VI 26, 1984 [240-257], 250-251. 81 Abgelehnt wurde in der Forschung das Argument von Bersanetti (hier Anm. 26) 95 Anm. o (auch bezüglich Makedoniens habe man früher geglaubt, die Münzprägung für Maximinus sei gänzlich unterbrochen worden, bis Prägungen auch für diesen Kaiser bekannt geworden seien); ihm folgte E. Siena, Le guerre germaniche di Massimino il Trace, RFIC 83, 1955 [276-285], 284-285. Anders auch A.R. Bellinger/C.B. Welles, A Third-Century Contract of Sale from Edessa in Osrhoene, YCIS 5, 1935 [95-154], 145 mit Anm. 17. 82 G.F. Hill, Catalogue of the Greek Coins of Arabia, Mesopotamia and Persia, London 1922, lxxxvii-xciv (bes. xcii) sowie 82-90. Vgl. (auch für die folgenden Beispiele) schon dens., The Mints of Roman Arabia and Mesopotamia, JRS 6, 1916, 135-169. Vgl. ebenso, SNG Copenhagen, Plate 6 (Sylloge Nummorum Graecorum. The Royal Collection of Coins and Medals. Danish National Museum. Palestine-Characene, Copenhagen 1961). Konsultiert habe ich außerdem noch: SNG VI. The Lewis Collection in Corpus Christi College Cambridge. Part II, New York 1992, Plate XLV. 83 Hill xciv-cvii (bes. cv) sowie 91-118; SNG Copenhagen (hier Anm. 82), Plate 7. EROBERUNG VON NISIBIS 173

Nisibis84. In all diesen Städten wird — von einem bestimmten Zeitpunkt an — auch wieder für Gordian III. geprägt. In Singara wurde hingegen nur für Gordian III. geprägt85, während in Rhesaina nach Severus Alexander erst wieder — und zwar reichlich — für Traianus Decius geprägt wird86. Zwar kann die zeitweilige Unterbrechung der Prägung keinen Beweis lie- fern, daß eine Stadt nicht mehr in römischer Hand war87; dennoch scheint mir der Befund aussagekräftig, weil er für sämtliche Städte des nördlichen Mesopotamien gilt. Olmstead hat deshalb den Schluß gezogen, daß die Städte Nisibis und Karrhai »kurz nach der Thronbesteigung Maximins« von den Sasaniden erobert wurden88. Das Gewicht, das die Unterbrechung der Münzprägung unter Maximinus besitzt, unterstrich auch Kerler, als er die Zeugnisse des Synkellos und Zonaras von der Einnahme der beiden Städte unter Maximin dadurch bestätigt sah89. Oates argumentierte treff- lich, daß das Fehlen der Prägung der mesopotamischen Städte bis in die Regierungszeit Gordians III. vermuten lasse, daß sie unter sasanidischer Kontrolle verblieben90. Dies wird jedoch überzeugender, wenn die Eroberung der Städte nicht erst in das Jahr 237 — so Oates — datiert wird, sondern in Nähe zum Terminus a quo (wohl März 235). Allerdings läßt sich aus dem Aufhören sämtlicher Prägungen für Maximinus nicht schließen, sämtliche Städte müssten in die Hände der Sasaniden gefallen sein91. Die Argumentation Olmsteads bewog mich bei der Erarbeitung des

84 Hill cviii-cix. 119-124; SNG Copenhagen, Plate 8. 85 Hill cxii. 134-136; SNG Copenhagen, Plate 9. 86 Hill cx-cxii. 125-133; SNG Copenhagen, Plate 8. Die Münzprägung dieser Stadt ist eingehend von K.O. Castelin untersucht worden: The Coinage of Rhesaina in Mesopotamia, NNM 108, New York 1946, bes. 111. 87 Vgl. Oates (hier Anm. 45) 75 sowie grundsätzlich W. Leschhorn, Die kaiserzeitli- chen Münzen Kleinasiens: zu den Möglichkeiten und Schwierigkeiten ihrer statistischen Erfassung, RN VI 27, 1985 [200-216], bes. 203. Zum — oben kritisierten — Standpunkt neigt Hill xcii. Balil (hier Anm. 19) 105 Anm. 100 führt hingegen — aus verständlichen Gründen — ökonomische Gründe für die Unterbrechung der Prägungen an, datiert er doch die Einnahme der beiden Städte traditionell in das letzte Jahr des Maximinus Thrax. 88 A.T. Olmstead, The Mid-Third Century of the Christian Era, CPh 37, 1942 [241- 262. 398-420], 251 mit Anm. 21, weniger deutlich Townsend (hier Anm. 65) 70. 89 Kerler (hier Anm. 46) 149 Anm. 9. Das Vertrauen in Hdn. VII 8,4 veranlaßte ihn dennoch, die Einnahme der Städte in das Jahr 238 zu datieren. Whittaker (hier Anm. 15) 208 Anm. 1 begründet das Fehlen der Münzprägung für Maximinus damit, daß Severus Alexander diese Städte nicht zurückerobern konnte. Die Bedeutung des Arguments ist auch bei dieser — unhaltbaren — Interpretation noch sichtbar. 90 Oates (hier Anm. 45) 75. 91 Zu Edessa s. weiter unten. 174 E. KETTENHOFEN

Entwurfs der TAVO — Karte B V 11, den Feldzug der Sasaniden in das Jahr 236 zu datieren (mit Fragezeichen; möglich schien mir auch 235)92. Eine Stu¨tze hat diese von mir erwogene Datierung in Beobachtungen Zieglers gefunden. Ziegler weist auf die starke Prägetätigkeit kilikischer Städte (u.a. Tarsos, Anazarbos, Flaviopolis) unter Maximinus Thrax für den Zeitraum Herbst 235 — Spätsommer 236 hin; er bringt sie mit Truppenverschiebungen in Richtung Osten in Verbindung, die als Reaktion auf die Einnahme von Nisibis und Karrhai durch die Sasaniden interpretiert werden93. Über die mit Nisibis und Karrhai häufig in einem Zusammenhang genannte Stadt Edessa (heute: ≤anlıurfa/Türkei) schweigen indes Synkellos und Zonaras, und es wäre, wie oben betont, methodisch bedenk- lich, aus der fehlenden Prägung für Maximinus in Edessa auf eine Einnahme der Stadt zu schließen, auch wenn Hill einst so argumentiert hat94. Bellinger und Welles hatten erwogen, daß mit der Einnahme von Karrhai und Nisibis auch Edessa in die Hände der Sasaniden gefallen sein könnte95, vielleicht sich aber auch habe behaupten können96. In den Wirren habe ein einheimischer König den Thron bestiegen; von Gordian III. sei er in Anbetracht der militärisch schwierigen Lage im Imperium Romanum als Vasallenkönig anerkannt worden. Die von Bellinger und Welles rekon- struierte Abfolge97 mit dem Beginn der Herrschaft des edessenischen Königs (Abgar X.) im Jahre 240 und der Wiedererrichtung der colonia im

92 Vgl. hier Anm. 73. 93 Ziegler (hier Anm. 64) 98-99 mit Anm. 208. Vgl. auch M. Alram, Die Münzprägung des Kaisers Maximinus I. Thrax (235/238), ÖAW. Phil.-Hist. Kl. Denkschriften 203 = Veröffentl. der Num. Komm. 24, Wien 1989, 58. Die Bedeutung Ciliciens für die römischen Armeen in Syrien hat vor wenigen Jahren F. Millar erneut unterstrichen: The Roman Coloniae of the Near East: a Study of Cultural Relations, in: H. Solin/M. Kajava (Ed.), Roman Eastern Policy and Other Studies in Roman History, Proceedings of a Colloquium at Tvärminne 2-3 October 1987, Commentationes Humanarum Litterarum, 91, Helsinki 1990 [7-58], 40. 94 Hill (hier Anm. 82) (1916) 162 = (1922) cv; ähnlich in jüngerer Zeit Felix (hier Anm. 21) 47-48. Vgl. dagegen Magioncalda (hier Anm. 46) 205. 95 Diese erste Alternative bleibt im Referat von H.J.W. Drijvers unerwähnt (Hatra, Palmyra und Edessa. Die Städte der syrisch-mesopotamischen Wüste in politischer, kul- turgeschichtlicher und religionsgeschichtlicher Beleuchtung, ANRW II 8, Berlin/New York 1977 [799-906], 881). 96 Bellinger/Welles (hier Anm. 81) 145-146. 97 Bellinger/Welles 154. EROBERUNG VON NISIBIS 175

Jahr 242 ist durch neue Papyrusfunde98 eindrucksvoll bestätigt worden. Die von Loriot und mir (in meinem Beiheft) vertretene Restituierung des edessenischen Königs nach dem Datum des P. Dura 28 (vom 9. [?] Mai 243 n. Chr.) ist durch die neuen Funde nicht mehr haltbar99. Ross hat jüngst einen weiteren wichtigen Beitrag zur Geschichte Edessas auf der Basis der neu gefundenen Dokumente geliefert100. Dokument A belegt für Dezember 240 (Jahr 552) ein zweites Jahr des Königs Aelius Septimius Abgar, Sohn des Ma{nu, des »Thronfolgers« (syr.: paÒgriba), Sohn des Königs Abgar, Dokument B belegt nun bereits für September 242 die Wiedererrichtung der colonia — und nicht erst für den 9 (?) Mai 243 wie in P. Dura 28. Das heißt, zwischen Dezember 238 und Dezember 239 ist der Beginn des Königtums dieses Abgar zweifelsfrei bezeugt. Welches war der Grund für die Restituierung des Königtums? Die Einnahme von Karrhai und Nisibis im ersten Regierungsjahr Gordians III., die Ross ver- tritt101, ist nicht haltbar, da zu spät (nach Peachin begann die Herrschaft Gordians III. zu Beginn des Monats August)102; zudem widerspräche sie auch dem Zeugnis des Synkellos und Zonaras. Die Datierung von Ross ist jedoch verständlich, da er in diesem Kontext den aus dem Graffito aus Dura103 belegten Vorstoß der Sasaniden in diese Stadt erwähnt. Ross zeichnet so eine kritische Situation für die Regierung des 13jährigen Kinderkaisers Gordian III., in der ein lokaler SaiÌ die Situation ausnutzen konnte und für seine Dienste von Rom — wie zwanzig Jahre später U∂ainat (Odainathos) — die »alten Prärogative des edessenischen Königtums« fordern konnte104. Man kann darüber spekulieren, ob die Einnahme von Karrhai und Nisibis mit der Restituierung des edesseni- schen Königtums in einen ursächlichen Zusammenhang zu bringen ist.

98 Vgl. die Erstveröffentlichung durch J. Teixidor, Les derniers rois d’Edesse d’après deux nouveaux documents syriaques, ZPE 76, 1989, 219-222 sowie ausführlich dens., Deux documents syriaques du IIIe siècle après J.-C., provenant du Moyen Euphrate, CRAI 1990, 144-166. 99 Loriot (hier Anm. 9) 768-769 mit Anm. 822; Kettenhofen (hier Anm. 3) 28-29. 100 S.K. Ross, The Last King of Edessa: New Evidence from the Middle Euphrates, ZPE 97, 1993, 187-206. 101 Ross 196. 102 Peachin (hier Anm. 11) 604. 103 Vgl. hier Anm. 71. 104 Ross (hier Anm. 100) 195-196. 176 E. KETTENHOFEN

Zweifel sind hier m. E. angebracht105, da mit der Berufung auf Loriot für die Datierung des Synkellos-wie des Zonaras-Textes letztendlich wieder das Herodian-Zeugnis in VII 8,4 den Ausschlag gäbe. Zugestan- denermaßen kennen wir nur einige wenige Bausteine für die Rekon- struktion der Auseinandersetzung zwischen Rom und dem Sasanidenreich. Abgar kann sich auch bei Defensivmaßnahmen im Frühjahr 239 ausge- zeichnet haben, als die Sasaniden bis Dura (und darüber hinaus?) vor- stießen: er kann aber auch die Situation im römischen Reich genutzt haben (falls das Datum der SHA, MB 16,3 zuverlässig ist, könnte es den Beginn der militärischen Auseinandersetzungen im Donauraum anzeigen)106, um sein Königtum wieder zu etablieren. Ein Zusammenhang muß also keines- falls bestanden haben. Wie aus Dokument B deutlich zu sehen ist, existierte im September 242 das edessenische Königtum nicht mehr. Über die Gründe, die zu seinem Ende führten, läßt sich nur spekulieren: Hat der König das Lager gewech- selt und ist er auf die Seite der Sasaniden getreten, als diese wieder einmal in das nördliche Mesopotamien vorstießen107, so daß er für Rom nicht mehr tragbar war? Potter erwägt, ob das Ende mit den Erfolgen des Timesitheus im Jahre 242 zusammenhängt108. Ross hat eine davon abwei- chende beachtenswerte Hypothese vorgetragen: Abgar sei vielleicht im Kampf gegen die Sasaniden gefallen, bevor er für eine Nachfolge sorgen konnte109. Sehr gut ließe sich nämlich damit eine erst vor wenigen Jahren

105 Das — methodisch — späteste Datum für die Restituierung im Dezember 239 würde bereits ein Intervall von eineinhalb Jahren zwischen der — im Frühjahr 238 vor- ausgesetzten — Einnahme der beiden Städte und der Restituierung fordern. Erwägenswerter wäre ein Zusammenhang bei einem möglichst frühen Datum, im Dezember 238. 106 Vgl. B. Scardigli, Die gotisch-römischen Beziehungen im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. Ein Forschungsbericht 1950-1970. I., ANRW II 5, 1, Berlin/New York 1976 [200- 285], 204. 225 sowie Kerler (hier Anm. 46) 150. Vgl. auch SHA, Gd. 26,4. 107 Ein Vorstoß Sahpuhrs I. im Jahre 241 in römisches Gebiet, anscheinend bis in die Region von Antiochia, ist möglich, aber nicht so sicher, wie dies F. Kolb behauptet (ohne Argumente): Das Ende des Timesitheus und die Machtergreifung der Arabersheikhs, in: Untersuchungen zur Historia Augusta, Antiquitas IV 20, Bonn 1987, 99. Die von D. Feissel/J. Gascou publizierten Papyri (Documents d’archives inédits du Moyen Euphrate (IIIe siècle après J.-C.), CRAI 1989, 535-561) haben die Neudatierung Kolbs zum Einsturz gebracht (Priscus ist am 28. 8. 245 als praefectus Mesopotamiae belegt); die Praefektur bleibt also — gegen Kolb 129 Anm. 70 — weiter ein Argument für den Verbleib Mesopotamiens im Imperium Romanum (s. mein Beiheft [hier Anm. 3] 36 Anm. 72). 108 Potter (hier Anm. 13) 214 Anm. 170. 109 Ross (hier Anm. 100) 198. EROBERUNG VON NISIBIS 177 entdeckte — Ross anscheinend nicht bekannte — Inschrift in mittelpersi- scher Sprache verbinden, die zuletzt von Skjærvø mit verbesserter Über- setzung vorgelegt wurde110. Sie berichtet von einem Sieg Sahpuhrs I., des Königs der Könige, in seinem 3. Regierungsjahr111 — noch zu Lebzeiten Ardasirs I. —, »als die Römer gegen Persien und Parthien zogen«12. Es spricht also viel dafür, den historisch zuverlässig überlieferten Vorstoß der Sasaniden ins nördliche Mesopotamien, in dessen Verlauf sie die Städte Nisibis und Karrhai einnehmen konnten, in die Jahre 235/236 zu datieren113. Auf die in sich widersprüchlichen Zeugnissen Herodians ist hingegen — gegen die communis opinio — keine verläßliche Chronologie zu gründen.

110 P.O. Skjærvø, L’inscription d’Abnun et l’imparfait en moyen-perse, StIr 21, 1992, 153-160. Die vorausgehenden Publikationen der Inschrift sind 153* verzeichnet. 111 Nach der Berechnung Nöldekes (hier Anm. 40) in seiner deutschen ™abari — Übersetzung (Anhang B) folglich im Zeitraum zwischen dem 22. 9. 241 und dem 21. 9. 242. 112 }MT QDM (S)NT 3 sÌpwÌry MKL}n MLK} }MT Ìlwm}dy QDM p}lsy }P plswby Y}TWNd (Z. 5-8)... }YK Ìlwm}dy YÎMTWN [Î] (WHND) }P SÌpwÌry ZY MLK}n MLK} MÎYTN ÎW (Hnd) }Ps SLYtr klty [ÎWHnd] (Z. 15-16). Die Bedeutung der Inschrift ist kaum zu überschätzen: sie sichert die Datierung des Todes Ardasirs I. und den Beginn der Alleinherrschaft in das Frühjahr 242, wie ich dies in meinem Beiheft (hier Anm. 3) 23 Anm. 8 vertrat, ebenso später — mit weiterführenden Argumenten: L. Koenen, Manichäische Mission und Klöster in Ägypten, in: Das römisch-byzantinische Ägypten. Akten des internationalen Symposions 26.-30. September 1978 in Trier, Aegyptiaca Treverensia 2, Mainz am Rhein 1983 [93-108], 100 mit Anm. 50. Andererseits wird mit dem Beginn der Zählung der Regierungsjahre Sahpuhrs am 23. 9. 239 die Zählung W.B. Hennings bestätigt (dies kann hier nicht weiter diskutiert werden; die Skepsis von Frye [hier Anm. 45] 294 Anm. 29 ist nun nicht mehr angebracht). 113 Vgl. hier Anm. 3.