Zeitschrift für Religionsuntemcht, GenJeindeJ^techese, Kirchliche Jugendarbeit . 2 /]f KatecWscheBlætteï □□ □□

Wörterleuchten ■ Das Ringen mit der Sprache Religiöses Lernen in der Gegenwartsliteratur Über religiöse Themen ins Gespräch kommen W ö rte rle u c h te n | REFLEXION Von guten Texten wunderbar geborgen?

Text: Georg Langenhorst

Unbemerkt von Theologie und Religionspädagogik sprechen Kultur­ wissenschaftler aktuell von einem religious turn. Gerade in der Gegenwartsliteratur finden sich herausfordernde Neuaufbrüche der Gottessuche. Religiöses Lernen lässt sich mit vielen dieser Texte anregend gestalten.

Gott in der Literatur unserer Zeit? Lange Zeit man sich dieses Wort verbietet, hat man extreme schien festzustehen, dass die hinter dieser Frage Schwierigkeiten, bestimmte Dinge zu sagen.« aufscheinende Suche nur ein Ergebnis finden Gegen alle falschen Vereinnahmungen betont könne: »Gott liebt es, sich zu verstecken« {Ku­ er: »Es darf nicht sein, dass wir das Wort Gott schel 2007). Der Blick in die Gegenwartsliteratur nur verwenden, um uns gegenseitig zu versi­ könnte dann nur eine weitere Bestätigung der chern, dass wir alle schon irgendwie gut und resignativen Einsicht erbringen: Der Gottesge­ richtig seien. [...] Wenn ich von Gott spreche, danke befindet sich in der Gegenwartskultur in weiß jeder, dass etwas gemeint ist, das außerhalb einem unaufhaltsamen Prozess des Verschwin­ von uns liegt.« {Maier 2005) Von Gott ist denn dens. auch in Maiers Romanwerk immer wieder die Rede. Seit 2010 arbeitet er an einem mehrteili­ Neue Annäherungen an Gott gen erzählerischen Großprojekt unter dem Ar­ beitstitel »Ortsumgehung«, das sich vom Zim­ So könnte der Befund sein - ist er aber nicht. mer zum Haus, zur Straße, zum Dorf, zum Land Ein genauer Blick vor allem in die Entwicklun­ seiner Kindheit immer mehr weiten soll bis hin gen der letzten 20 Jahre (vgl. Langenhorst 2014) zum anvisierten Schlussband unter dem Titel führt genau zu dem gegenteiligen Ergebnis: »Ich »Der liebe Gott«. gönne mir das Wort Gott«! Unter dieser Über­ schrift erscheint ein Gespräch mit Andreas Mai­ Ohne Scheu integrieren zahlreiche Autorinnen der er, einem der wichtigsten Autoren der mittleren Gegenwart die Annäherung an Gott in ihr Schreiben. Schriftstellergeneration im deutschsprachigen Raum, in der Frühjahrsliteraturbeilage 2005 der Entscheidend: Mit dieser Wiederentdeckung Wochenzeitschrift »Die ZEIT«. Er führt aus: »Ir­ von Gott als literarischer Figur steht Maier nicht gendwann habe ich damit angefangen, mir die allein da: Ohne Scheu integrieren zahlreiche Au­ Verwendung des Wortes Gott zu gönnen. Wenn torinnen der Gegenwart die Annäherung an

I 86 KatBl 141 (2016) 86-93 | Georg Langenhorst Von guten Texten w underbar geborgen?

G ott in ihr Schreiben. Nach Jahrzehnten der Tradition. In klassisch vorgegebenen literari­ vorherrschenden Distanz zu Kirche, Glaube und schen Gattungen (Lied, Gedicht, historische Ro­ Gottesfrage trauen sich Schriftstellerinnen und man) wurden seit Jahrhunderten feststehende Schriftsteller zu öffentlichen - literarisch gestal­ theologische Aussagen wiederholt. Die meisten teten - Bekenntnissen in Sachen Religion, »wir Autoren dieser Tradition sahen sich in einer Art sind christen, ein wort, das man heute wieder »literarischem Apostolat<, das jede Form von aussprechen darf« (Jandl 1997, 51), betont der Originalität ausschloss. Statt Innovation Orien­ österreichische Lyriker in seiner tierung an hallgebender und Sicherheit stiften­ rede an friederike mayröcker«. Ganz offen­ der Tradition. sichtlich spüren viele Schriftstellerinnen jene ■ Angesichts der Betonung der ewigen Wahrheit Veränderung, die der Münchner Erzähler und traten die Schilderungen aktueller politisch-ge­ Lyriker Michael Krüger in seinem Gedicht »Ho­ sellschaftlicher Realität zurück. Sie wurde bes­ tel Wandl, Wien« aus dem Band »Wettervorher­ tenfalls parabolisch gespiegelt. Die bevorzugte sage« wie folgt benannt hat: »Wir müssen uns Zeitebene dieser narrativen Parabeln lag im wei­ nicht mehr der Religion / erwehren, sie greift ten Raum der (Kirchen-)Geschichte, vor allem uns nicht an« (Krüger 1998, 29). des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. In dieser Rückspiegelung schien der Zugriff auf Von Gott zu reden war in einem Teilsegment der Litera­ ein damals vorherrschendes und weithin akzep­ tur über Jahrhunderte hinweg selbstverständlich. tiertes Gottesbild leichter möglich. ■ Neben die Hinwendung zur Geschichte trat Im kulturellen Klima der Gegenwart ist es offen­ die bevorzugte Ausgestaltung biblischer Stoffe. sichtlich »nicht mehr« nötig, auf Distanz zu Re­ Da sie bereits vorgeprägte literarische Gestaltun­ ligion zu gehen. Im Gegenteil: Es ist möglich, Re­ gen der Beziehung von Gott und Mensch sind, ligion positiv aufzugreifen, künstlerisch frucht­ lässt sich an ihnen theologisches Denken und bar zu machen und dichterisch zu gestalten. religiöses Ringen ideal veranschaulichen. Selten Gott< ist Teil dieser neuen Entwicklung. Das ist ging es dabei um Aufsprengungen der theologi­ umso überraschender, wenn man auf die Ent- schen Vorgaben der Bibel, eher um Aktualisie­ . icklungen der literarischen Gottesrede schaut. rung, Ausmalung, Dramatisierung und Psycho­ logisierung des biblischen Gottesbildes. Krise der Gottesrede Spätestens in den 1960er Jahren brach nicht nur diese Traditionslinie der klassischen christlichen Von Gott zu reden war in einem Teilsegment Literatur abrupt ab. Zugleich verstummte die li­ der Literatur über Jahrhunderte hinweg selbst- terarische Gottesrede, zog sich zurück, reflek­ erständlich, in jener Dichtung, die man als ex­ tiert wurde bestenfalls ihre Unmöglichkeit. In plizit »christliche Literatur bezeichnete. Bis in »Tutzinger Gedichtkreis« die 1950er Jahre hinein gehörten Werke dieser wird dieser Abbruch am deutlichsten benannt. Gattung in das Spektrum der Hochliteratur, viel (Kaschnitz 1957, 9) gelesen, breit diskutiert, preisgekrönt. Gertrud Zu reden begann ich mit dem Unsichtbaren. on le Fort, Reinhold Schneider, Jochen Klepper, Anschlug meine Zunge das ungeheure Du, Verner Bergengruen, Rudolf Alexander Schröder Vorspiegelnd altgewesene Vertrautheit. ider Stefan Andres repräsentieren eine ganze Aber wen sprach ich an? Wessen Ohr Generation, die diesem Programm verpflichtet Versuchte ich zu erreichen? Wessen Brust • ar. Im Rückblick lassen sich einige Grundzüge Zu rühren? r.rer literarischen Gottesrede benennen: ■ Ihre dichterische Rede von Gott orientierte Die aus der Liturgie, der persönlichen Frömmig­ - .ch inhaltlich wie formal an den Vorgaben der keitspraxis, aber auch aus der christlichen Lite-

KatBl 141 (2016) 86-93 | Georg Langenhorst I 87 W örterleuchten | REFLEXION ratur so vertraute und selbstverständliche Got­ wenig fand sich auch - zumindest bei den meis­ tesrede, die >Du-Anrede< im Gebet wurde plötz­ ten Vertreterinnen dieser Generationen - eine lich fraglich. Was eben noch wie automatisch dezidiert atheistische Haltung. Auch der >Glau- funktionierte, wie selbstverständlich praktiziert be< an die Nichtexistenz Gottes wird in die Frag­ wurde, brach auf in die offene Frage. Wenige lichkeit, den Zweifel, die Gebrochenheit hinein Passagen später wird ganz konsequent die Ein­ genommen. sicht formuliert: Am deutlich wurde diese Krise der klassischen Die Sprache, die einmal ausschwang, dich zu loben literarischen Gottesrede bei Heinrich Böll (1917— Zieht sich zusammen, singt nicht mehr, 1985). Er schrieb bewusst gegen die inflationäre in unserem Essigmund. Nennung Gottes an. In einem 1983 geführten In­ terview mit Karl-Josef Kuschel bezog er klar Stel­ Das Gotteslob, klassisch die dankbare Antwort lung: »Ich glaube eher, dass man das Wort >Gott< des Menschen auf das Geschenk der Erlösung, für eine Weile aus dem Verkehr ziehen sollte; verstummt. Und diese Tendenz zeigt sich nicht nicht Gott selbst, nicht das, was mit diesem Wort nur bei Marie Luise Kaschnitz sondern bei einer gemeint ist.« Warum? Es sei nur noch »ein Füll­ Vielzahl von deutschsprachigen Schriftstellerin­ wort«, denn wenn »einem gar nichts anderes nen und Schriftstellern in den 1960er bis hinein mehr einfällt, dann sagt man >Gott<. Gott ist in die 1980er Jahre. Im Gegensatz zur klassi­ dann oft ein Abladeplatz für viele Probleme, die schen christlichen Literatur bestimmten nun wir Menschen lösen könnten.« (Bö// in Kuschel folgende Charakteristika den Umgang mit Reli­ 1985,68) Zu viel, zu oberflächlich, zu funktiona- gion in der Literatur: lisiert wird ihm von Gott geredet - darin spiegeln ■ Zerfall der Form. Die Gottesrede erfolgt nun - sich noch einmal Erfahrungen aus den 1950er wenn überhaupt - in Texten, die sich von der bis 1980er Jahren. Die Krise der literarischen Bindung an die klassischen Gattungen verab­ Gottesrede tritt überdeutlich vor Augen. schiedeten. Für den Bereich der Lyrik bedeutete dies: An die Stelle von Reim, klarem Metrum Neue Unbefangenheit und vorgegebenem Rhythmus treten Fragment, aphoristische Assoziation und chiffrenhafte An­ »Das Wort Gott für eine Weile aus dem Ver­ deutung. kehr ziehen« - diesem Impuls sind viele Schrift­ ■ Auflösung jeglicher Affirmation klassischer steller und Schriftstellerinnen bewusst oder un­ Gottesrede. In Vokabular und Aussage finden bewusst gefolgt. Was Böll nicht ahnen konnte: sich keine direkte Anknüpfungen mehr an die Mit dem Verstummen der literarischen Benen­ Vorgaben der Theologie, der Liturgie, der Glau­ nung des Wortes >Gott< verschwand dann tat­ benssprache. sächlich oft genug auch die religiöse Dimension ■ Abschied von alten Vorstellungen. Denk- und insgesamt. Es brauchte Distanz, kirchliche und Sprachbilder, die früher - noch in den Jugend­ gesellschaftliche Veränderungen paradigmati­ jahren der nun schreibenden Generationen - als schen Ausmaßes, bis ein Anknüpfen an die lite­ weithin akzeptiert und orientierungsgebend gal­ rarische Welt Bölls unter ganz anderen Vorzei­ ten, werden entweder explizit zurückgewiesen chen und im Modus der Transformation mög­ oder verschwinden. lich wurde. ■ Zentrierung auf das haltlose Ich. Durch den Wegfall des Glaubens an ewige Ordnungen Die Krise der literarischen Gottesrede tritt überdeutlich rückt das Ich in den Mittelpunkt - haltlos, (ver-) vor Augen. zweifelnd, gebrochen, ungetröstet, allein. ■ Verzicht auf atheistische Positionierung. So we­ Die am Beginn dieses Aufsatzes aufgenomme­ nig die alte Gottesrede weitergeführt wurde, so nen Zitate machen es bereits deutlich: Seit Be-

I 88 KatBl 141 (2016) 86-93 | Georg Langenhorst Von guten Texten w underbar geborgen? ginn der 1990er Jahre finden sich in Stil, Gat­ und Möglichkeit gestaltet werden (wie etwa bei tung und Aussageabsicht ganz unterschiedliche Michael Krüger oder Hans Magnus Enzensber­ literarische Zugänge zur Frage nach Gott. Über ger); Religion wird zur fasziniert entdeckten Religion allgemein und Gott ganz speziell kann Dimension von Fremdheit und Fernsucht (wie man heute schreiben in der Reflexion über er­ etwa bei Christoph Peters oder Barbara Frisch­ lebte oder erfundene Alltage (wie etwa Hanns- muth); Religion wird zum Thema in der jüngs­ Josef Ortheil oder Ralf Rothmann); Religion und ten Generation deutsch-jüdischer Autorinnen Gottesfrage lassen sich thematisieren in der Er­ (wie Benjamin Stein oder Lena Gorelik), aber innerung an die Faszination von Liturgie (wie auch in der ganz neu entstehenden Tradition etwa bei , oder Ulla deutsch-muslimischer Literatur (etwa bei Feri- Hahn); Gott wird aufgerufen als Teil repressiver doun Zaimoglu oder Navid Kermani); über Gott Lebenszwänge (wie etwa bei Christian Friedrich lässt sich schreiben im Modus des Grotesk- Delius oder Josef Winkler); Gott bleibt präsent Surrealen, des Absurd-Komischen (wie etwa bei im Kontext der unstillbaren Theodizeefrage (so und ). bei Thomas Hürlimann oder Pascal Mercier); Gott wird in die Fiktionalität selbstverfasster Ein Beispiel: SAID Mythen verwoben (etwa von Patrick Roth); Religion kann als Teil von Wahrnehmung und Wie aber lässt sich mit Texten aus dieser in Ausdruck erlebter oder erdachter Wirklichkeit Form, Inhalt und Aussage kaum überschauba-

KatBl 141 (2016) 86-93 | Georg Langenhorst I 89 W örterleuchten | REFLEXION ren Vielfalt religionspädagogisch arbeiten? Ein Ganz eigen-artige Psalmen, angesiedelt im didaktisch betrachteter Beispieltext muss hier Spannungsrahmen von Islam, Judentum, Chris­ genügen. Er stammt von dem seit über 40 Jahren tentum und Humanismus. Texte wie der Folgen­ in Deutschland lebenden, muslimischen Exilira­ de (SAID 2007, 60) sollen provozieren und her­ ner SAID (*1947). Mit Gedichtbänden, Hörspie­ ausfordern: len, politischen Essays und erzählerischer Prosa hat er sich einen Namen gemacht (vgl. Geibier/ herr Langenhorst 2013, 222-241). Aufsehen erregte gib dass ich unbelehrbar bleibe vor allem ein Lyrikband, der im Jahr 2007 er­ mich vor der kompatiblen Vernunft schütze schien und mit einer überraschend religiösen und deren postmodernen furien Thematik aufwartete. »Psalmen« nennt SAID so dass ich meine erregbarkeit nicht verliere seine 99 Gedichte. Mit dieser Zahl spielt SAID denn dann verlöre ich auch dich bewusst auf die vor allem im Islam bezeugte Tra­ höre auf mich dition der >99 schönen Namen Gottes< an. Aus­ oh herr gespannt zwischen den spirituellen Grundges­ nicht auf diejenigen ten von Lob, Preis, Dank, Bitte und Klage haben die auf dich hören alle Psalmendichterinnen ihren je eigenen Zu­ denn sie sprechen gang gesucht. Doch nie so radikal wie hier. Für von einer mischung ausgott und Vernunft SAID - doppelt vertrieben vom Regime des nützlich und konvertierbar Schahs wie von den Mullahs; gezeichnet vom Wissen um Folter, Ermordungen und äußerste Immer wieder greift SAID diejenigen an, die menschliche Grausamkeit gegen sein Volk (dar­ sich im Besitz Gottes glauben, die vorgeben, unter engste Freunde); selbst aufgewachsen im Gottes Willen zu kennen und auszufuhren, egal, Hallraum des Islam - sind die Psalmen vor welcher Religion oder Konfession sie verpflich­ allem eines: Texte der Einforderung des Eingrei­ tet sind. Dem stellt er eine rebellische eigene fens Gottes. Spiritualität der erregbaren Suche entgegen, >EinforderungHerrn< eigene ser Gedichte von Spannungen und Auseinan­ Gefühle, Gedanken, Überlegungen zur Sprache dersetzungen bestimmt ist. Alle 99 Psalmen bringen. Genauso gut lassen sich die Texte im richten sich in direkter Anrede an den >Herrn<. Gefolge der Tradition der islamischen Mystik SAID gibt jedoch offen zu, an den Gott der mo­ aber auch als Zeugnisse innerhalb einer Gottes­ notheistischen Religionen nicht glauben zu beziehung lesen und deuten, in der Klage und können, bestenfalls auf der Suche nach ihm zu Einforderung eben jener Platz zukommt, der ih­ sein - ohne die Erwartung, ihn wirklich finden nen in der Bibel selbst auch gewährt wird. Folgt zu können. man dieser Lesart, so liegen hier Zeugnisse des Was also findet sich in diesem Gedichtband? Ringens um eine neue Gottesrede vor, entstan-

I 90 KatBl 141 (2016) 86-93 |Georg Langenhorst Von guten Texten w underbar geborgen? den aus tiefster Befangenheit und Verstrickung. Diskussion zu formulieren: Mit welchen der be­ Dann geht es um eine Gottesbeziehung, die von nannten Herausforderungen und Fragen will Auseinandersetzung und Konflikt bestimmt ist, man sich im Folgenden näher beschäftigen? Bei­ von Unsicherheit und Zweifel, von Trotz und spiele dazu könnten sein: Was sagen denn »die­ Erwartung gegen alle Erfahrung. jenigen, die auf dich hören« über Gott? Ist das tatsächlich so verwerflich? Ist die übliche Rede Methodische Perspektiven von Gott wirklich eine »Mischung aus Gott und Vernunft«? Und wenn, ja: Ist das ein Fehler? Ist Als sinnvollster didaktischer Ort dieses Ge­ diese Mischung wirklich durch Konvertierbar­ dichtes lässt sich die Ebene der Infragestellung, keit und Anpassbarkeit korrumpierbar, oder der Herausforderung traditioneller Vorstellun­ schützt sie gerade vor Missbrauch? SAIDs Text gen bestimmen. Es bietet sich an, diesen Text öffnet so ideal den Zugang zu einer Auseinan­ nach der Lektüre eines biblischen Psalms zu be­ dersetzung um die Möglichkeiten der heutigen trachten, um alten und neuen Text, Vorbild und Rede von Gott. Variation vergleichen zu können. Dabei sollten die spirituellen Grundgesten der Psalmen: Lob, Lernchancen Preis, Dank, Bitte und Klage benannt und prob­ lematisiert werden. Welche Sprachform ist uns Wie gesehen: Literarische Texte können vertraut, welche fremd? Welche haben einen selbst Zeugnisse religiöser Suche und religiöser Sitz im Leben in unserem Alltag, welche nicht Positionierung sein. Durch ihre verdichtete mehr)? Was lässt sich daraus schließen, dass Form bieten sie religiösen Lernprozessen ganz sich SAID auf den ungewöhnlichen Gestus der eigene Chancen. Im Blick auf den Religionsun­ Einforderung konzentriert? terricht regen sie die Ausbildung spezifischer Kompetenzen bei den Schülerinnen an. Fünf Im Blick auf den Originaltext wie auf die Begleittexte derartige Chancen zur Förderung von Lern­ geht es am Ende darum, Fragen und Ziele für die wei­ kompetenzen lassen sich theoretisch abgrenzen tere Diskussion zu formulieren und im Blick auf die ausgewählten Gedichte ver­ deutlichen. (vgl. Langenhorst 2011, 57ff.) Der Text selbst wählt in der Du-Anrede die Form des Dialogs. Diese Form kann man me­ Textspiegelung lodisch nutzen, indem man den Dialog auf­ Von Textspiegelung kann man dann spre­ nimmt: Die Lerngruppe erhält den Text so auf chen, wenn in einem literarischen Text ein Be­ ein Blatt kopiert, dass rechts ausreichend Platz zug auf - aus dem religiösen Bereich entlehn­ :lr eigene Zeilen bleibt. Wenn SAID >Gott< pro- te - >Prätexte< deutlich wird, wenn also in Zitat, *ehalber herausfordernd anspricht, kann man Anspielung, Motiv, Stoff oder Handlungsgefüge am probehalber antworten. Die Lesenden auf vorhergehende Texte Bezug genommen chreiben zu jeder Zeile eine Antwort, Reaktion wird. Bei SAID geht es um eine Spiegelung der der Kommentar - sei es aus der Perspektive des alttestamentlichen Psalmen. Zwei Dimensio­ ...geredeten >Herrn<, sei es aus ihrer eigenen nen werden so einander jeweils gegenüber ge­ jbenserfahrung - und so entsteht ein eigen- stellt: Der literarische Text und die mit ver­ andiger Begleittext. Ob dieser selbst wie ein schärftem Blick betrachtete biblische Texttradi­ : »etischer Text gestaltet wird oder eher wie tion. Die Schülerinnen können in dieser ne Addition zusammenhangloser Rückfragen, Hinsicht ihre Wahrnehmungskompetenzen im eibt jedem selbst überlassen. Im Blick auf den Umgang mit vernetzten Textbezügen ausbauen. r .ginaltext wie auf die Begleittexte geht es am Sie lernen die Besonderheit religiöser und lite­ "de darum, Fragen und Ziele für die weitere rarischer Texte kennen und verstehen, wie sie

KatBl 141 (2016) 86-93 | Georg Langenhorst |91 W ö rte rle u c h te n | REFLEXION

aufeinander aufbauen und in Beziehung zuein­ ten Filter der schriftstellerischen Gestaltung ander stehen. einerseits und einer stets individuellen Deutung andererseits ist hier aber zumindest ein indirek­ Sprachsensibilisierung ter Zugang möglich. Hinter SAIDs Psalm scheint In der Auseinandersetzung mit literarischen so die Auseinandersetzung mit den allzu selbst­ Texten ergibt sich die Chance, das produktive sicheren >Gottesbesitzern< auf. Durch diese Kor­ Erbe gerade religiöser Sprache zu erkennen und relationen entsteht ein neuer Blick sowohl auf für eigenes Schreiben oder eigene Analysen die heutige Erfahrung wie auf die biblischen zu nutzen. Auch hier wird also die Wahrneh­ Texte. Meint er uns? Trifft seine Kritik? Der As­ mungskompetenz der Schülerinnen gefördert, pekt der Erfahrungserweiterung konkretisiert so etwa im Blick darauf, wie SAID die Psalmen­ eine grundlegende Dimension der Deutungs­ sprache aufgreift, aber auch verändert. Die poe­ kompetenz. tische Verdichtung schaffte eigene Sprachwelten, in denen beides beheimatet ist: biblische Texte Wirklichkeitserschließung und zeitgenössische Poesie. Die Ideen zum Um­ Mit der Kategorie der Wirklichkeitserschlie­ gang mit SAIDs Text zeigen: Zusätzlich geht es ßung öffnet sich eine weitere Perspektive. Wäh­ jedoch um die Anregung der Ausdruckskompe­ rend die Erfahrungserweiterung eher >zurück< tenz. Die literarisch-ästhetische Ebene drängt schaut, auf die hinter den Texten liegende Erfah­ danach, eigene Möglichkeiten der religiösen rung der Autorinnen und Autoren, blickt diese Sprache auszuprobieren. Perspektive eher nach >vorn<, auf die mit dem Text für die Leserinnen und Leser neu mögli­ Erfahrungserweiterung chen Auseinandersetzungen. Das Ringen um ei­ Lesende haben niemals einen direkten Zu­ nen >Gott auf Augenhöhen der sich gefälligst als griff auf die Erfahrungen von Schriftstellerin­ wirkmächtig erweisen soll (SAID): diese Wirk­ nen, handelt es sich doch stets um gestaltete, ge­ lichkeitsdeutung steht zur Bewährung an. Ent­ deutete, geformte Erfahrung. Über den doppel­ spricht sie unseren religiösen Erfahrungen?

I 92 KatBl 141 (2016) 86-93 |Georg Langenhorst Von guten Texten w underbar geborgen?

Möglichkeitsandeutung fen. Dabei wird man immer wieder unterschied­ Literatur gewinnt ihre Faszination vor al­ liche Erfahrungen machen. Manche Texte blie­ lem - wie es Robert Musil in seinem epochalen ben uns selbst und den Lernenden fremd, sper­ Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« be­ rig, unzugänglich. Andere fordern heraus, nannt hat - vom »Möglichkeitssinn«. »Möglich­ weisen neue Spuren. Wieder andere fördern das, keitssinn«, das sei die zentrale Fähigkeit, »alles, was Dietrich Bonhoeffer analog verdichtete: Ge­ was ebensogut sein könnte, zu denken, und das, borgenheit, Beheimatung, die Stillung von Sehn­ was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, sucht auf Zeit. Doch, das gibt es: >Von guten was nicht ist«. Das so benannte, fiktiv erahnte Texten wunderbar geborgen« zu sein. Probieren _X lögliche könne man »die noch nicht erwachten Sie es aus: für sich selbst und Menschen, die mit Absichten Gottes« (Musil 2001,16) nennen. Ge­ ihnen religiös lernen. I rade die Kraft der Visionen dessen, was sein könnte, zeichnet die besondere Faszination lite­ Prof. Dr. Georg Langenhorst ist Inhaber des Lehrstuhls für rarischer Texte aus. Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts/Religionspäda- gogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Über literarische Texte erschließen sich religiöse Lern­ Augsburg. dimensionen.

Didaktisch geht es hier um die spezifische, si­ Literatur cherlich bestenfalls in ersten Ansätzen mögliche Gellner, Christoph/ Langenhorst, Georg, Blickwinkel Anbahnung einer Transzendierungskompetenz: öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Tex­ also der Fähigkeit, eine die empirische Wirklich­ ten, Ostfildern 2013. keit übersteigende und sie umfassende Realität Jandl, Ernst, lechts und rinks, gedichte Statements zu spüren und zu gestalten. Wie verändert sich peppermints,11 995 München 1997. die Gebetstradition, wenn man SAIDs Duktus Kaschnitz, Marie Luise, Neue Gedichte, Hamburg der >Einforderung< ernst nimmt? Wie wäre es, 1957. wenn sich Gott auf die Einforderung SAIDs ein­ Krüger, Michael, Wettervorhersage, Gedichte. Salz­ lassen und sich als wirkmächtig erweisen wür­ burg/Wien 1998. de? Das Gedicht öffnet diese Dimension, ohne Kuschel, Karl-Josef, Weil wir uns auf dieser Erde sie wieder zu schließen. Über literarische Texte nicht ganz zu Hause fühlen. 12 Schriftsteller über erschließen sich religiöse Lerndimensionen, die Religion und Literatur. München/Zürich 1985. einerseits der Besonderheit des Glaubens ent­ Ders., Gott liebt es, sich zu verstecken. Literarische sprechen und zugleich der Eigenart des zeitge­ Skizzen von Lessing bis Muschg. Ostfildern 2007. nössischen Gedichts. Langenhorst, Geoig, Theologie und Literatur. Ein Handbuch. Darmstadt 2005. Ausblick Ders., Literarische Texte im Religionsunterricht. Ein Handbuch für die Praxis. Freiburg 2011. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur Ders., »Ich gönne mir das Wort Gott«. Annäherun­ : :rgt einen erstaunlichen Reichtum im Blick auf gen an Gott in der Gegenwartsliteratur. Völlig über­ die Spiegelungen von Religion und Gottesrede. arbeitete Neuauflage, Freiburg 2014. Es lohnt sich, derartige Texte zur Kenntnis zu Maier, Andreas, Ich gönne mir das Wort Gott. nehmen: Einerseits zur persönlichen Lektüre, Gespräch, in: ZEIT Literatur. März 2005. chließlich sollte Lesen immer auch >interesse- Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften. )ses Wohlgefallen« (Immanuel Kant) auslösen, Roman '1 930-1943, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek andererseits können sie religiöse Lernprozesse 2001 nregen, die abseits der üblichen Muster verlau­ SAID, Psalmen, München 2007.

KatBl 141 (2016) 86-93 | Georg Langenhorst 193