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Auf dem Weg zur Universitätsdisziplin? Kaspar Stielers Sprachgelehrsamkeit und die ‚Deutsche Philologie‘ im 17. Jahrhundert

Von Michael Ludscheidt, Jena

1. Einführung

Unter den Verdiensten, die Just Christoph Motschmann (1690–1738), der Historiograph der Erfurter Gelehrtengeschichte, dem Werk und Wirken von Kaspar Stieler (1632–1707) ein knappes Vierteljahrhundert nach dessen Tod zuschreibt, steht die „Cultivirung unserer Mutter Sprache“1 an vorderster Stelle. Seine Bemühungen um die „Aufnahme und Verbesserung der teutschen Sprache“ erstrecken sich nach Motschmanns Einschätzung zu gleichen Teilen auf Stilistik, Lexikographie, Grammatik und Poesie. So habe Stieler nament- lich in der „Kunst, einen guten teutschen Brief zu schreiben […] gleichsam die Bahn gebrochen“ und damit die Entwicklung des „teutschen Stylum“2 zu jener Vollkommenheit, die ihn nunmehr auszeichne, nachhaltig befördert. Als nicht minder bedeutsam für die Ausbildung des Deutschen zu einer Kunst- und Wissenschaftssprache beurteilt Motschmann die Kodifizierung des Wortschat- zes in dem voluminösen Wörterbuch Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz, von dem vier Jahrzehnte nach sei- nem Erscheinen „kein Exemplar mehr zu haben“3 sei – entgegen der jüngeren Forschung, die das Werk als „Ladenhüter“4 deklariert, ein eindrucksvoller Beleg für die hohe Akzeptanz und weite Verbreitung des Kompendiums unter den Sprachinteressierten und für den zeitgenössischen Beobachter Anlass genug, eine Neuauflage nachdrücklich einzufordern. Diesem lexikographi- schen Grundlagenwerk stellt der Bibliograph die „gründliche Anleitung“ zur deutschen Grammatik5 an die Seite, die nicht zuletzt wegen ihrer „manchen“ noch „wunderlich klingen[den]“6 Terminologie, die die bislang gebräuch-

1 Just Christoph Motschmann: Caspar de Stieler. In: Ders.: Erfordia literata oder Gelehrtes Erffurth […]. Erste Sammlung. Erfurt 1729, S. 100–123, hier S. 106.

2 Motschmann (s. Anm. 1), S. 106 f. 3 Motschmann (s. Anm. 1), S. 122. 4 Herbert Ernst Wiegand: Historische Lexikographie. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch

zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. von Werner Besch u. a. 2 Teilbd. 1. Berlin u. a. 1998, S. 643–715, hier S. 655. 5 Kaspar Stieler: Kurze Lehrschrift von der Hochteutschen Sprachkunst. Nürnberg 1691 [zumeist dem Wörterbuch beigebunden]. 6 Motschmann (s. Anm. 1), S. 122.

67 lichen lateinischen Bezeichnungen durch deutsche Begriffe ersetzt, Beach- tung verdiene. Und schließlich nimmt Motschmann auch Stielers „teutsche

Verße“ in den Blick, denen er eine „ziemliche[ ] Reinigkeit in Reimen“ sowie eine dem jeweiligen Gegenstand „fügliche“7 Wortwahl bescheinigt. Den in dieser kenntnisreichen Übersicht genannten poetischen Gattungen (neben der Lyrik werden auch die nicht näher kommentierten „Comödien“8 erwähnt) und philologischen Disziplinen wären noch die Dichtungstheorie und die Literaturgeschichte hinzuzufügen, die Stieler in seiner um 1685 ent- standenen Verspoetik behandelt. Dass sie in dem erstaunlich vollständigen bibliographischen Aufriss des Erfurter Litterärhistorikers fehlen, hängt in erster Linie mit der Editionsgeschichte der Dichtkunst des Spaten zusammen, die zum Zeitpunkt des Erscheinens von Motschmanns Gelehrtenlexikon noch nicht publiziert war und wohl deshalb der Aufmerksamkeit des ansonsten bestens informierten Chronisten entging. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte Johannes Bolte die Handschrift in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen;9 Herbert Zeman sorgte 1975 für ihre Veröffentlichung in einer vorzüglich kommentierten Ausgabe.10 Bereits dieser auf Motschmanns Schriftenverzeichnis gestützte knappe Überblick zu den Dichtungen, literaturtheoretischen und sprachwissenschaft- lichen Abhandlungen vermittelt einen Eindruck davon, in welch umfassender Weise Kaspar Stieler an den im 17. Jahrhundert florierenden Bemühungen um die Aufwertung und Ausbreitung des Deutschen als Literatur- und Wissen- schaftssprache teilhatte.11 Neben Christian Gueintz (1592–1650), Georg Phi- lipp Harsdörffer (1607–1658) und Justus Georg Schottelius (1612–1676) gehörte er zu den angesehensten und einflussreichsten Sprachgelehrten seiner Epoche,12 deren lexikographische Bestrebungen mit dem von ihm herausgege- benen Wörterbuch ihren Höhepunkt und Abschluss fanden. Stielers in den Handbüchern zur Sprachgeschichte der Frühen Neuzeit und in mehreren Einzeluntersuchungen wiederholt gewürdigte Leistungen auf linguistischem Gebiet sind unter dem Blickwinkel einer frühen Universitätsgermanistik bislang

7 Motschmann (s. Anm. 1), S. 107. 8 Motschmann (s. Anm. 1), S. 123. 9 Johannes Bolte: Eine ungedruckte Poetik Kaspar Stielers. In: Sitzungsberichte der Preußi- schen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 26 (1926), S. 97– 122. 10 Kaspar Stieler: Die Dichtkunst des Spaten. Hrsg. von Herbert Zeman. Wien 1975 (Wiener Neudrucke 5). 11 Michael Ludscheidt: Poesie, Rhetorik, Philologie. Kaspar Stielers Beitrag zur ‚Sprach- arbeit‘ im 17. Jahrhundert. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 16 (2009), S. 47–56. 12 Vgl. dazu Markus Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin/New York 2000 (Stu- dia Linguistica Germanica 57).

68 noch nicht betrachtet worden, obwohl man seit längerem über Hinweise verfügt, dass der „Spate“ seine Forschungen in die akademische Lehre einzu- bringen gedachte.13 Im folgenden soll es deshalb darum gehen, sich der (in Einzelaspekten gelegentlich schon behandelten) Grundlagen, Arbeitsfelder, Darstellungsformen und Vermittlungsweisen von Stielers Sprachgelehrsamkeit im Zusammenhang zu vergewissern und den Platz des Autors in der sogenann- ten Vor- oder Frühgeschichte14 der Germanistik genauer zu bestimmen.

2. Literarische und sprachliche Sozialisation

Wie ein nach den von Martin Opitz formulierten Regeln kunstvoll gestaltetes muttersprachliches Sonett aus dem Jahr 1649 belegt,15 ist Stieler frühzeitig mit dem im Buch von der Deutschen Poeterey (1624) entfalteten sprachlich-literari- schen Programm des Schlesiers in Berührung gekommen. Dafür bestanden im Erfurt jener Jahre durchaus günstige Voraussetzungen. Stielers Geburtsort16

13 Herbert Koch: Deutsche Vorlesungen an der Thüringischen Landesuniversität im Jahre 1679. In: Das Thüringer Fähnlein 4 (1935) 6, S. 323–325. 14 Zum Terminus und der aus ihm abzuleitenden Periodisierung der Fachgeschichte vgl. beispielsweise Willy Sanders: Leidener Humanisten und die Anfänge der Germanistik. Bonn

o. J. [1978] (Nachbarn 22), der die „Sprachgelehrsamkeit des 17. und 18. Jahrhunderts […] als Vorgeschichte der Germanistik“ versteht (S. 7). Ähnlich argumentiert Jörg Jochen Berns: Justus Georg Schottelius 1612–1676. Ein Teutscher Gelehrter am Wolfenbütteler Hof. Wolfenbüttel 1976 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, 18), wenn er Schottelius unter die „Väter der Germanistik“ (S. 9) rechnet. Vgl. zuvor schon den pro- grammatischen Titel von Friedrich Ernst Koldewey: Justus Georg Schottelius. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik. Wolfenbüttel 1899. Zur Frage, „wann die Fachgeschichte der Germanistik eigentlich beginnt“, siehe auch Bärbel Rompeltien: Germanistik als Wissenschaft.

Zur Ausdifferenzierung und Integration einer Fachdisziplin. Opladen 1994, S. 94 ff. 15 Vgl. Michael Ludscheidt: Ein unbekanntes Sonett Kaspar Stielers. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 25 (1998) 2, S. 91–93. 16 Zu Stielers hier nicht im einzelnen zu verfolgender Biographie vgl. vor allem Albert Rudolphi: Kaspar Stieler der Spate. Ein Lebensbild aus dem 17. Jahrhundert. Erfurt 1872; Herbert Zeman: Kaspar Stieler. Versuch einer Monographie. Mss. Phil. Diss. Wien 1965; Ders.: Kaspar Stieler. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hrsg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 576–596; Michael Lud- scheidt: „der Geburth nach ein Erffurther“. Kaspar Stieler (1632–1707) – Gelehrter und Dichter der Barockzeit. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskun-

de von Erfurt 68 [N. F. 15] (2007), S. 45–72; Walter Blaha: „Gemeiner Nutz ist meiner Feder Ziel“ – Kaspar Stieler (1632–1707), ein bedeutender Schriftsteller der Barockzeit. In: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 2 (2007), S. 9–29; Herbert Zeman: Kaspar Stieler, der „Spate“ – „Ubertrifft den Frühzeitigern“. In: Kaspar Stieler (1632–1707). Studien zum literarischen Werk des „Spaten“. Hrsg. von Michael Ludscheidt. Bucha bei Jena 2010, S. 11–125 (Palmbaum Texte. Kulturgeschichte 23).

69 gewann nach 1630 durch äußere Umstände und das Wirken bedeutender Gelehrter Fühlung zu der Reformbewegung, die eine Erneuerung der deutschen Literatur auf volkssprachlicher Grundlage anstrebte. Eine nicht zu unterschät- zende Initialwirkung für das Schreiben im nationalen Idiom wird vom Aufent- halt Opitzens in der Stadt im Herbst 1634 ausgegangen sein,17 da wie andernorts18 auch in Erfurt die res publica litteraria dem in politisch-diplomatischer Mission reisenden Dichter ihre Aufwartung gemacht und von ihm mancherlei An- regungen empfangen haben dürfte. Über Kontakte und Begegnungen während dieses Besuches ist im einzelnen nichts bekannt. Aber dass der Pfarrer und Universitätsprofessor Johann Matthäus Meyfart (1590–1642) vermutlich zu denjenigen gehörte, die den Gedankenaustausch mit dem „Gekrönten“ suchten, legt seine im gleichen Jahr erschienene Teutsche Rhetorica Oder Redekunst nahe, die mit ihrem Insistieren auf den Nutzen der „Teutsche[n] Wohl= Redenheit“19 programmatisch an Opitz’ kulturpolitische Intentionen anschließt. Neben Meyfart zählte der mit ihm befreundete ‚Didacticus‘ Wolfgang Ratke (Ratichius, 1571–1635) zu den das geistige Klima in Erfurt nachhaltig befruch- tenden Persönlichkeiten.20 In seinen pädagogischen Programmschriften erhob er die Forderung, anstelle des Lateinischen die deutsche Sprache als Grundlage aller Bildung in den Unterricht an den Schulen und Universitäten einzuführen, und vertrat öffentlich die brisante Auffassung, dass „ein einträchtige [deutsche] Sprach“ im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation den Weg zu einer „einträchtige[n] Regierung und endlich auch eine[r] einträchtige[n] Religion“21 ebnen würde. Freilich fanden weder seine weitreichenden bildungspolitischen Vorschläge noch Meyfarts Anleitung zum rechten Gebrauch der Muttersprache vorerst Eingang in die Lehrpläne der von Stieler besuchten Erfurter Schulen. Sowohl in der Gemeindeschule der Kaufmännerkirche22 als auch am Rats-

17 Vgl. Martin Opitz: Briefwechsel und Lebenszeugnisse. Kritische Edition mit Übersetzung.

3 Bde. Hrsg. von Klaus Conermann unter Mitarbeit von Harald Bollbuck. Bd. 2. Berlin /

New York 2009, S. 1240 f., 1247. 18 Vgl. beispielsweise zu Leipzig und der Begegnung mit Fleming Heinz Entner: . Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 173.

19 Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica / Oder Redekunst […]. Coburg 1634. Hrsg. von Erich Trunz. Tübingen 1977, S. 4 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 25). 20 Uwe Kordes: Wolfgang Ratke (Ratichius, 1571–1635). Gesellschaft, Religiosität und Ge- lehrsamkeit im frühen 17. Jahrhundert. Heidelberg 1999 (Euphorion, Beiheft 34). 21 Wolfgang Ratke: Memorial. Welches zu Franckfort Auff dem Wahltag A+ 1612. den 7. Maij dem teutschen Reich vbergeben. In: Erika Ising: Wolfgang Ratkes Schriften zur deutschen Grammatik (1612–1630). Tl. 1. Berlin 1959, S. 101–104, hier S. 101 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen der Sprachwissenschaftlichen Kommission 3). 22 Carl Beyer: Zur Geschichte der Erfurter Volksschulen bis zur Einverleibung der Stadt in den preußischen Staat im Jahre 1802. Erfurt 1887, zitiert auf S. 9 die vom Erfurter Rat 1617 erlassene Ordnung für die Trivial- und Pfarrschulen, nach der die Knaben neben Beten, Lesen, Schreiben, Singen und Rechnen die lateinische (und griechische) Sprache zu lernen hatten.

70 gymnasium23 war der Unterricht in humanistischer Tradition ganz auf die umfassende mündliche und schriftliche Beherrschung des Lateinischen ausge- richtet. Daran änderte auch die in den 1640er Jahren im Umkreis der städtischen Gelehrtenschule aufblühende deutschsprachige Gelegenheitsdichtung nichts.24 Stielers Interesse an deutscher Poesie und Fragen der Sprachdiskussion muss daher zwangsläufig auf andere Weise geweckt worden sein. Es spricht einiges dafür, dass Jacob Ilgen (1606–1679) dem jungen Stieler die aktuelle Sprachtheorie und Poetologie im Rahmen der Privatlektio- nen nahebrachte, die er ihm in Vorbereitung auf das Universitätsstudium ab etwa 1645 erteilte.25 Der in Erfurt als Ratsprediger und Gymnasialprofessor wirkende Geistliche hatte von 1628 bis 1631 in Wittenberg studiert26 und könnte dort neben den regulären theologischen Vorlesungen auch die Privat- kollegs des Poesie- und Rhetorikprofessors Augustus Buchner (1591–1661) besucht haben, in denen mutmaßlich bereits um diese Zeit die Opitzsche Poetik besprochen wurde.27 Ilgens volkssprachliche Kasualcarmina aus den 1640er Jahren zeugen aufgrund ihrer metrischen Korrektheit, der überwie- gend reinen Reimbildungen sowie der stilistischen Eleganz jedenfalls von einer eingehenden – ob nun unmittelbar durch Buchner angeregten oder anderweitig angestoßenen – Beschäftigung mit Opitz’ Lehrwerk und einer starken Affinität ihres Verfassers zur deutschen Dichtkunst. Angesichts dessen steht mit einiger Sicherheit zu vermuten, dass er den sprachbegabten Schüler ermunterte, sich gleichfalls im Verfertigen von regelgerechten deutschen Ver- sen zu versuchen.

23 Vgl. Leges Gymnasii Erffurtensis Evangelici. Publica Senatus ibidem auctoritate VII.

Novembris Anno M. DC. XVI. promulgatae, eademq; jam denuo recognitae & auctae. Erfurt 1643. 24 Vgl. Michael Ludscheidt: Literarisches Leben am Erfurter Ratsgymnasium in der Frühen Neuzeit. In: 450 Jahre Ratsgymnasium Erfurt 1561–2011. Im Auftrag des Evangelischen Kirchenkreises Erfurt hrsg. von Michael Friese, Karl Heinemeyer und Michael Ludscheidt. Leipzig 2011, S. 93–139, hier vor allem S. 109–120. 25 Vgl. Motschmann (s. Anm. 1), S. 101. 26 Martin Bauer: Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert.

Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens. Neustadt a. d. Aisch 1992, S. 198–199, hier S. 198 (Schriftenreihe der Stiftung Stoye 22); Pfarrerbuch der Kirchen- provinz Sachsen 4 (2006), S. 360. 27 Hans Heinrich Borcherdt: Augustus Buchner und seine Bedeutung für die deutsche Litera- tur des siebzehnten Jahrhunderts. München 1919, S. 36–44. Zur Vorsicht bei der Beurtei- lung des Einflusses von Lehrveranstaltungen Buchners auf die deutschsprachige poetische Praxis ehemaliger Wittenberger Studenten rät Andreas Stegmann: und die Universität Wittenberg. In: Paul Gerhardt – Dichtung, Theologie, Musik. Wissenschaftliche Beiträge zum 400. Geburtstag. Hrsg. von Dorothea Wendebourg. Tübingen 2008, S. 15–65, hier S. 63: „Die erhaltenen Vorlesungsverzeichnisse geben bei Buchner stets nur öffentliche und private Kollegien über antike lateinische Dichtung und Prosa an (Horaz, Cicero, Vergil,

Plinius d. J., Tacitus, Livius u. a.). Daß Buchner in den 1630er Jahren auch Privatkollegien über deutsche Dichtkunst angeboten hat, läßt sich nur vermuten, nicht erweisen“.

71 Die frühe Hinführung Stielers zur deutschsprachigen Dichtung löste zunächst keine nennenswerte schriftstellerische Produktivität aus. Lange Zeit blieb das eingangs erwähnte Glückwunschsonett des 17jährigen das einzige dichterische Zeugnis aus seiner Feder, dem sich in den folgenden zehn Jahren lediglich sieben vereinzelt publizierte Gelegenheitsgedichte hinzugesellten.28 Im Blick auf die 1660 in pseudonym29 veröffentlichte Liedersamm- lung Die Geharnschte Venus30, die in ihrer inneren Geschlossenheit und formalen Vollendung den Höhepunkt und Abschluß der ersten Schaffensphase (und einen Markstein in der Geschichte der deutschen Lyrik) darstellt, ist gleichwohl von einer kontinuierlichen Beschäftigung mit der deutschen Spra- che und Poesie seit dem Ende der Schulzeit auszugehen. Gelegenheiten dazu boten sich Stieler vielfach. In Leipzig, wo er sich 1648 für das Studium der Medizin an der Universität einschrieb, begegnete er einer bis in die Zeit von Paul Flemings Aufenthalt zurückreichenden lebendigen Liedkultur,31 die von studentischen, untereinan- der in loser Verbindung stehenden Autoren getragen wurde.32 Ob Stieler, der noch im gleichen Jahr zur Fortsetzung des Studiums nach Erfurt zurückkehrte, während seiner nur wenige Monate dauernden Anwesenheit persönliche Kontakte zu ihnen herstellte, lässt sich nicht beantworten. Doch hat er die handschriftlich kursierenden oder in gedruckten Sammlungen vorliegenden Dichtungen33 der

28 Kaspar Stieler: Sehnliches Nachsehen Alß Mein recht= und wahrer Hertzensfreund / Bruder

und Stubengeselle / Herr Friederich Dechant / Von hiesiger hochlöblichen auf die in Teutsch=

Land berühmten hohen Schulen zureisete / Glückwünschende bezeuget Von mir Kaspar

Stieler. Königsberg 1655; Ders.: Christus Victor Oder Triumff / über die Siegreiche Auff- erstehung von den Todten unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi. […] Danzig 1657; Ders.: Auff des Edlen und Wolgelahrten Herrn Andreas Rühlmann wolersonnene Gedan- cken übder den Streit zwischen Christus und Belial. [Fünf Widmungsgedichte] In: Andreas

Rühlmann: Politischer Theologischer Tractat Von dem grossen Haupt=Kriege / […]. Frank-

furt a. M. 1660, unpag. (VD 17: 39: 119679Y). 29 Albert Köster: Der Dichter der geharnschten Venus. Marburg 1897. 30 Kaspar Stieler: Die Geharnschte Venus oder Liebes=Lieder im Kriege gedichtet mit neuen Gesang=Weisen zu singen und zu spielen gesezzet nebenst ettlichen Sinnreden der Liebe Verfertiget und lustigen Gemühtern zu Gefallen heraus gegeben von Filidor dem Dorfferer. Hamburg 1660.

31 Vgl. Indra Frey: Paul Flemings deutsche Lyrik der Leipziger Zeit. Frankfurt a. M. u. a. 2009. 32 Vgl. dazu vor allem Anthony J. Harper: Schriften zur Lyrik Leipzigs 1620–1670. Stuttgart 1985.

33 Vgl. z. B. Christian Brehme: Allerhandt Lustige / Trawrige / vnd nach gelegenheit der Zeit vorgekommene Gedichte (1637). Mit einem Nachwort, Bibliographie und einem Neudruck der „Weltlichen Gedichte“ (1640) hrsg. von Anthony J. Harper. Tübingen 1994 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 40); Ernst Christoph Homburg: Schimpff= vnd Ernsthaffte Clio 2 […]. Hamburg 1638 (VD 17 3:603031L), Hamburg / Jena 1642 (VD 17 39:120509M);

Gottfried Finckelthaus: Deutshe [!] Gesänge. Hamburg 1640 (VD 17 1: 638244G), Leipzig 3 1642 (VD 17 1: 638082G); Ders.: Lustige Lieder. Lübeck 1648 (VD 17 1: 638156Y);

David Schirmer: Poetische Rosen=Gepüsche. Halle 1650 (VD 17 3: 314772H).

72 Brehme, Finckelthaus, Homburg, Schirmer und anderer aufmerksam zur Kennt- nis genommen und die in ihnen vorherrschenden Themen, Motive und Formen seiner eigenen Liebeslyrik in der Geharnschten Venus anverwandelt. Nachhaltige Impulse für sein poetisches und sprachwissenschaftliches Werk gingen zudem von der literarischen Kultur aus, die Stieler ab 1653 an der Universität Königsberg und in ihrem Umfeld kennenlernte. Der durch die Relegierung von der Gießener Hochschule34 erzwungene Wechsel an die preußische Landesuniversität erscheint im Rückblick als eine nachgerade glückliche Fügung, denn nirgend sonst sind Stieler sein Schaffen befruchtende Ideen in reicherem Maße zugeströmt als in der Stadt am Pregel, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu den führenden literarischen Zentren im Reich gehörte. Sie verdankte diese Stellung dem Wirken einer Reihe von literarisch und musikalisch gebildeten Männern, die das akademische und urbane Leben in Königsberg gleichermaßen mitgestalteten. Die Mitglieder dieses von der Forschung als ‚Königsberger Dichterkreis‘35 bezeichneten geselligen Zirkels verfassten zu verschiedenen politischen, kirchlichen, universitären und priva- ten Anlässen vorzugsweise deutschsprachige Gelegenheitsgedichte, die sich über die unmittelbaren Auftraggeber und Adressaten hinaus großer Beliebtheit erfreuten. Herbert Zeman bemerkt in seiner gründlichen Studie zu den Quellen und Gattungstraditionen der Liedersammlung Die Geharnschte Venus, Stieler habe von den Königsbergern vor allem das „Maßhalten im Gefühl, das sich in der klaren, einfachen Sprache, [und] einer einfachen, kurzzeiligen Strophen- form […] ausdrückt“ sowie die „Kunst, wie man […] Text und Melodie aufeinander abstimmt“,36 lernen können. Namentlich zwei diesem Kreis ange- hörende Gelehrte haben die dichtungs- und sprachtheoretischen Anschauun- gen des „Spaten“ entscheidend beeinflusst. Dem noch ein Jahrhundert später als „Königsbergs Cicero“37 gerühmten Valentin Thilo (1607–1662) oblag an der Albertina die Ausbildung der Stu-

34 Bei Motschmann (s. Anm. 1), S. 101, heißt es, Stieler sei „einiger Schlägereyen wegen, darein er unverschuldet kommen war“, von der Universität verwiesen worden. Dagegen lässt die von Rudolphi (s. Anm. 16), S. 9, aus den Universitätsakten mitgeteilte Begründung für die Re- legation Stielers aktive Rolle in diesen Vorgängen erkennen: „Casparus Stieler, Erfurtensis, Medicinae studiosus, propterea quod duellum, cujus ipse Autor fuit, exercuit, Iuniores instigatione sua fustibus contra Antagonistam armavit, Rectoris interdicto inobedientem se praebuit, Arrestum violavit, tranquillitatem Academicam pertubavit aliaque delicta perpetra- vit, publico programmate juxta statuta Academica relegatus et exclusus fuit die 26. Novbr.“

35 Wulf Segebrecht: und die Königsberger. In: Steinhagen / von Wiese (s. Anm. 16), S. 242–269. Hinzuzunehmen jetzt Klaus Garber: Das alte Königsberg. Erinnerungs-

buch einer untergegangenen Stadt. Köln / / Wien 2008, S. 237–267. 36 Herbert Zeman: Kaspar Stielers Die Geharnschte Venus. Aspekte literaturwissenschaft- licher Deutung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesge- schichte 48 (1974), S. 478–527, hier S. 496. 37 Johann Friedrich Lauson: Das lorrbeerwürdige Andenken eines vor hundert Jahren verstor- benen großen Preußischen Dichters, M. Simon Dach […]. Königsberg 1759, S. 21.

73 denten in der rhetorischen Theorie und Praxis sowie die Ausgestaltung univer- sitärer Festakte durch eigene oder von ihm betreute studentische Reden.38 Einen ausgezeichneten Ruf erwarb er sich nicht nur als versierter Redner, sondern ebenso als Verfasser von Rhetoriklehrbüchern, die an der Königsber- ger Universität die Grundlage des akademischen Unterrichts bildeten, auch außerhalb Preußens rezipiert wurden und zahlreiche Nach- bzw. Neuauflagen erlebten.39 Bei Thilo, den Stieler rückblickend „[s]eine[n] zu Königsberg in Preußen gewesene[n] treuen Lehrmeister“40 nennt, vertiefte er die am Erfurter Ratsgymnasium grundgelegten Kenntnisse in der als Fundament jeglicher literarischen Tätigkeit angesehenen ‚Oratorie‘ durch die Lektüre von Muster- autoren, die Aneignung rhetorischer Techniken sowie die schriftliche Ausar- beitung und mündliche Präsentation von Übungsreden.41 Im Unterschied zu den durch Aussagen Stielers sicher belegten, als Lehrer- Schüler-Verhältnis sich darstellenden Kontakten zu dem Professor der Bered- samkeit Valentin Thilo gibt es für die mit ebensolcher Gewissheit anzunehmen- den Verbindungen zu dem Poesieprofessor Simon Dach (1605–1659) kaum belastbare Anhaltspunkte. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass Stieler „in den schlecht besuchten, weil die ‚brotlose Kunst‘ der römischen Dichtung behandelnden Kollegs Simon Dachs saß“.42 Dafür sprechen nicht nur die von Herbert Zeman zahlreich nachgewiesenen Anlehnungen an lateinische Vorbil-

38 Zum Wirken Valentin Thilos in Königsberg vgl. Manfred Komorowski: Poesie und Bered- samkeit an der Universität Königsberg im 17. Jahrhundert. In: Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Hrsg. von Axel E. Walter. Tübingen 2008, S. 47–66, hier vor allem

S. 55 f., 62 f. (Frühe Neuzeit 126); Wilhelm Kühlmann: Theorie und literarische Hermeneu- tik der rhetorischen Affektenlehre im 17. Jahrhundert. Zu Konzept und literarischem Umkreis von Valentin Thilos Lehrbuch Pathologia Oratoria (Königsberg 1647). Mit dem Abdruck zweier lateinischer Gedichte von Simon Dach. In: Die Universität Königsberg in

der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski. Köln / Weimar / Wien 2008, S. 116–138. 39 Georg Christoph Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte in vier Büchern. Mit einer Notiz über den Autor und sein Buch. Hrsg. von Rudolf Philippi. Königsberg 1886 (Publicationen und Republicationen der Königsberger literarischen Freunde 1), S. 398: „Thilo machte sich durch seine zur Wohlredenheit gehörigen Schrifften so berühmt, daß man diese auch anderwerts mit Beyfall aufnahm, zum Grunde akademischer Vorlesungen legte und an verschiedenen Orten nachdruckte.“ Eine Übersicht zu den Rhetoriklehrbü- chern bietet Komorowski (s. Anm. 38), S. 63. 40 Vgl. Herrn Baltasar Kindermanns Teutscher Wolredner Auf allerhand Begebenheiten im

Stats= und Hauswesen gerichtet […]. Nach heutiger Politischen Redart gebessert / und mit

vielen Komplimenten / Vorträgen / Beantwortungen […] gemehret von dem Spaten [d. i. Kaspar Stieler]. Wittenberg 1680, S. 966. 41 Zum Aufbau des Rhetorikunterrichts an den Schulen und Universitäten im 17. Jahrhundert vgl. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grund- lagen. Tübingen 1970, S. 285–291, 407–418. Zur Überlieferung der unter Thilos Anleitung gehaltenen Reden vgl. Komorowski (s. Anm. 38), S. 62. 42 Zeman, Stieler (s. Anm. 16), S. 579.

74 der in dem wenige Jahre später publizierten Gedichtzyklus Die Geharnschte Venus,43 sondern grundsätzlich auch die einander ergänzenden Lehrangebote des Rhetorik- und des Poetiklehrstuhls,44 die Stieler im Sinne einer umfassen- den literarischen Schulung zweifellos parallel wahrgenommen hat. Dach hatte die Professur für Poesie 1639 mit einer Vorlesung über die Dichtkunst des Horaz angetreten und sich seither als die universitären Ereignisse pflichtschuldig bedichtender Gelegenheitspoet bewährt.45 Deutlich weniger Eifer entwickelte er hinsichtlich der allen Angehörigen der Philosophischen Fakultät auferlegten regelmäßigen Disputationen, für die es außer der Pro-loco-Dissertation Trias assertionum ad rem poeticam spectantium vom Oktober 1640 keine weiteren Belege gibt.46 Obwohl er über „fundierte Kenntnisse in der Geschichte und Theorie der Dichtkunst“47 verfügte, verkörperte Dach als Inhaber des Poesie- lehrstuhls eher den Typus des Praktikers. Poetologische Äußerungen nennens- werten Umfangs sind aus seiner Feder nicht überliefert. Generell muss das Wissen über die von ihm im Unterricht behandelten Gegenstände als unzurei- chend gelten. Angesichts des Verlustes der Lektionsverzeichnisse der Albertina im Zweiten Weltkrieg stellen die bei Walther Ziesemer zu findenden, aus- schließlich auf Mitteilungen in den älteren Biographien von Gottlieb Siegfried Bayer48 und Johann Friedrich Lauson49 fußenden Angaben über Vorlesungen Dachs zu Seneca, Ovid und Juvenal50 gegenwärtig die einzige verfügbare, nur bedingt zuverlässige Quelle zu seinem Lehrprogramm dar, so dass man bezüg- lich der Anregungen, die Stieler in den Dachschen Kollegs tatsächlich empfan- gen hat, weitgehend auf Vermutungen angewiesen bleibt. Ohnehin dürften die fortlaufend produzierten Kasualgedichte Dachs51 auf Stielers poetisches Schaf-

43 Zeman, Aspekte (s. Anm. 36). 44 Joachim Knape: Poetik und Rhetorik in Deutschland 1300–1700. Wiesbaden 2006 (Gratia 44). 45 Komorowski (s. Anm. 38), S. 51, zählt im Zeitraum von 1640 bis 1659 insgesamt 59 uni- versitäre Gelegenheitsdichtungen aus der Feder Dachs. Vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personal- bibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Tl. 2. Stuttgart 1990, S. 996–1230, hier S. 1002–1009 (Hiersemanns bibliographische Handbücher 9/2). 46 Die Einladung zur Antrittsvorlesung und die Poetikdisputation behandeln Hanspeter Marti und Lothar Mundt in ihrem Aufsatz: Zwei akademische Schriften von Simon Dach aus den Jahren 1639 und 1640 – Analyse und Dokumentation. In: Walter (s. Anm. 38), S. 67–114. 47 Komorowski (s. Anm. 38), S. 53. 48 Gottlieb Siegfried Bayer: Das Leben Simonis Dachii eines Preußischen Poeten. In: Erleu-

tertes Preußen 1 (1723/24), S. 159–195, 855 ff. 49 Lauson (s. Anm. 37). 50 Simon Dach: Gedichte. Hrsg. von Walther Ziesemer. 4 Bde. Halle 1936–1938. Bd. 2, S. 394 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Sonderreihe 4–7). 51 Zur Frequenz der Dachschen Gedichtproduktion vgl. Klaus Garber: Zum Bilde Simon Dachs. In: Walter (s. Anm. 38), S. 1–23, mit Angaben zu den Jahren 1630, 1640, 1650 und 1658.

75 fen eine größere Wirkung ausgeübt haben, als die nicht zu rekonstruierenden literaturgeschichtlichen und gattungstheoretischen Ausführungen seiner Vorle- sungen. Neben der seit den späten 1640er Jahren anhaltenden Beschäftigung mit der zeitgenössischen deutschsprachigen Dichtung und der lateinisch vermittel- ten Rhetorik im Rahmen der akademischen Ausbildung müssen als eine weitere Form der Einübung in sprachlich-literarische Tätigkeitsfelder die – etwa für den Aufenthalt in Paris durch ein Selbstzeugnis dokumentierten52 – Sprachstudien erwähnt werden, die Stieler teils autodidaktisch, teils unter professioneller Anleitung trieb. Er setzte sie auch während der als peregrinatio academica begonnenen, zeitweise jedoch unversehens in ein militärisches Abenteuer verwandelten Reise53 durch die Niederlande, Frankreich, Spanien, Italien und die Schweiz54 in den Jahren von 1658 bis 1661 fort und vertiefte die Kenntnisse in mehreren europäischen Sprachen dergestalt, dass der Weimarer Dichter Georg Neumark (1621–1681)55 an den befreundeten Pegnitzschäfer (1626–1681) voller Bewunderung schrieb, Stieler beherrsche „Span=Italiän. Frantzös=Griech= und Lateinisch […] wie Teutsch“.56

52 Kaspar Stieler: Des Spatens Teutsche Sekretariat=kunst / Was sie sey / worvon sie handele /

was darzu gehöre […]. Von dem Verfasser selbsten übersehen / gebessert / vermehret […]. 3 Frankfurt / Leipzig 1705. Bd. 1, S. 53: „Ich hatte einen französischen Sprachmeister in

Paris gehabt / der mir befal / wenn ich ein französisch Wort könte / deren drey zu reden /

worunter er anders nicht / als die fleißige Übung und Anbringung deßen / was ich gefaßet / andeuten wollte.“ Die anerkennenden Worte für das didaktische Geschick des Franzosen sind möglicherweise auch als Hinweis auf Stielers eigene Lehrmethode zu lesen. 53 Motschmann (s. Anm. 1), S. 103, berichtet darüber, dass Stieler in Paris einem „Frantzöi-

schen [!] Seelen=Verkauffer [einem Werbeoffizier] in die Hände gerieth, der ihn in die Festung la Russe über Perpignan in Catalonien führete, an welchen Orte er gantzer 8 Monat aushalten mußte, biß nach der geschlossenen Mariage des Königes in Franckreich mit der Spanischen Infantin er, nebst andren, seinen Abschied und die Freyheit erhielt“.

54 Zum Reiseverlauf vgl. Motschmann (s. Anm. 1), S. 103 f. Einzelne Stationen der Reise erwähnt Stieler beiläufig in seinen Werken, so beispielsweise den Aufenthalt im Fürstentum

Orange in: Schattenriß der Welt […]. Nürnberg 1684, S. 219: „Orange / so nur vor kurzer

Zeit / dem Prinzen von Uranien / abgesprochen und hinweg genommen worden: hatte eine

treffliche Festung / so aber im Jahr 1660. als ich gleich darauf gewesen / unter dem Schein

der Freundschaft / von dem Franzosen eingenommen und zerrissen worden“, oder den Besuch in Rom in: Zeitungs Lust und Nutz. Hamburg 1695. Vollständiger Neudruck der Originalausgabe. Hrsg. von Gert Hagelweide. Bremen 1969, S. 88: „Es erkünete sich in

Rom einsmals mein Reisegefärde Mittags vom Tische aufzustehen / von uns zugehen und des Pabsts Pantoffel zu küssen“. 55 Michael Ludscheidt: Georg Neumark (1621–1681). Leben und Werk. Heidelberg 2002

(Jenaer germanistische Forschungen N. F. 15). 56 Brief Georg Neumarks an Sigmund von Birken, 4.12.1668. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Kupferstichkabinett. Archiv Pegnesischer Blumenorden. Nachlaß Sigmund von Birken. XIV/5. C. 241. 23.

76 3. Das sprachwissenschaftliche, medien- und dichtungstheoretische Werk und seine Darstellungsformen

Das Erscheinen der Gedichtsammlung Die Geharnschte Venus markiert inso- fern eine Zäsur in Kaspar Stielers literarischem Schaffen, als mit ihm die Phase der ausschließlich poetischen Veröffentlichungen – sieht man von der 1649 gedruckten medizinischen Disputation De calido innato57 einmal ab – zum Abschluss gelangte. Obgleich Stieler auch in der Folgezeit mittels der Zueignung von Gelegenheitsgedichten rege an der Kommunikation innerhalb der Gelehrtenrepublik teilnahm, für das höfische Theater in Rudolstadt58 und Weimar59 ausgesprochen innovative Bühnenstücke verfasste60 und überaus erfolgreiche Erbauungs- und Gesangbücher61 auf den Markt brachte, wandte er sich doch zunehmend lexikographischen, medientheoretischen, epistolo- graphischen und poetologischen Fragestellungen zu. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen erfolgte im Rahmen der maßgeblich von den Sprachgesell- schaften getragenen Bemühungen um die Heranbildung des Deutschen zu einer im europäischen Vergleich wettbewerbsfähigen Literatur- und Wissen-

57 Vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien (s. Anm. 45), Tl. 6, S. 3951–3972, hier S. 3952 (Nr. 1). 58 Conrad Höfer: Die Rudolstädter Festspiele aus den Jahren 1665–1667 und ihr Dichter. Eine literarhistorische Studie. Leipzig 1904 (Probefahrten 1). Zur Interpretation einzelner Lust-

spiele vgl. u. a. Judith P. Aikin: Practical Uses of Comedy at a Seventeenth-Century Court. The Political Polemic in Caspar Stieler’s „Der Vermeinte Printz“. In: Theatre Journal 35 (1983), S. 519–532; Dies.: Romantic Comedy as Religious Allegory. The Millennial Kingdom in Caspar Stieler’s „Die erfreuete Unschuld“. In: The German Quarterly 57 (1984), S. 59–74; Wolfgang Neuber: Ästhetik als Technologie des fürstlichen Selbst. Caspar Stielers Festspiel „Der Vermeinte Prinz“ (1665) und das Zeremoniell. In: Zeremo- niell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn. Tübingen 1995, S. 250–265 (Frühe Neuzeit 25); Roswitha Jacobsen: Kaspar Stielers Mischspiel „Die erfreuete Unschuld“ – Zur Konstruktion kulturel- len Wissens im höfischen Barocktheater. In: Ludscheidt, Studien (s. Anm. 16), S. 179–207.

59 Ulrike Roggendorf: „Wie können wir leben / wenn wir lieben“. Zur Situierung von Kaspar Stielers Bellemperie. Berlin 2007 (Studium Litterarum 13). 60 Vgl. Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’arte und Théâtre italien. Stuttgart 1965 (Germanistische Abhand- lungen 8), S. 133, wonach Stielers Lustspiele in der „szenischen Entwicklung der Intrige, in der Verknüpfung der Handlungslinien und der schließlichen Auflösung der Verwicklungen […] ohne Beispiel in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts“ sind. Zum dramatischen Werk insgesamt vgl. Judith Popovich Aikin: Scaramutza in Germany. The dramatic works of Caspar Stieler. University Park 1989 sowie Zeman, „Ubertrifft den Frühzeitigern“ (s. Anm. 16), S. 61–74. 61 Judith P. Aikin: Private piety in seventeenth century Germany and the devotional compila- tions of Caspar Stieler. In: Daphnis 29 (2000), S. 221–279; Dies.: The devotional songs of Caspar Stieler. In: Daphnis 30 (2001), S. 97–158; Andreas Lindner: Kaspar Stieler als Erbauungsschriftsteller. In: Ludscheidt, Studien (s. Anm. 16), S. 223–251.

77 schaftssprache und mündete in eine Reihe von Publikationen, die zu Lebzeiten des „Spaten“ mehrere Auflagen erfuhren und zum Teil bis weit in das 18. Jahrhundert hinein nachgedruckt wurden. Die sowohl von der älteren Forschung als auch in neueren Darstellungen zumeist verkürzend als ‚Sprachgesellschaften‘62 bezeichneten literarischen Sozietäten63 des 17. Jahrhunderts verstanden sich als „patriotische Sachwalter der deutschen Sprache und Literatur“.64 Als „vornehmlich kulturell ambitio- nierte“65 Vereinigungen verbanden sie die im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stehende Spracharbeit, die neben der Erstellung von Wörterbüchern (die bis zu Stielers großem Wurf aus dem Jahr 1691 allerdings weithin ein Desiderat blieben), Grammatiken und Stillehren auch die Abfassung von Dichtungen und Übersetzungen einschloss, aufs engste mit der Diskussion über politische, gesellschaftliche, sittlich-moralische und kulturelle Fragen. Die gleichermaßen auf Tugendförderung und Sprachpflege abgestellte Programmatik spiegeln bereits die Satzungen der 1617 in Weimar gegründeten Fruchtbringenden Gesellschaft66 wider, die in der frühesten veröffentlichten Fassung aus dem Jahr 1622 von den Mitgliedern fordern:

Erstlichen daß sich ein jedweder in dieser Gesellschafft / erbar / nütz= und

ergetzlich bezeigen / und also überall handeln solle / bey Zusammenkünfften

gütig / frölig / lustig und erträglich in worten und wercken sein / auch wie darbey

keiner dem andern ein ergetzlich wort für übel auffzunehmen / also sol man sich

aller groben verdrießlichen reden / und schertzes darbey enthalten.

62 Heinrich Schultz: Die Bestrebungen der Sprachgesellschaften des XVII. Jahrhunderts für Reinigung der deutschen Sprache. Göttingen 1888; Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1972; Christoph Stoll: Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts. München 1973. 63 Diesen Begriff verwendet Ingo Breuer: Literarische Sozietäten. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Meier. München 1999, S. 201–208 (Hansers Sozial- geschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2). 64 Andreas Gardt: Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins

20. Jahrhundert. Berlin / New York 1999, S. 105. 65 Thorsten Roelcke: Der Patriotismus der barocken Sprachgesellschaften. In: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von

Andreas Gardt. Berlin / New York 2000, S. 139–168, hier S. 142. 66 Aus der umfangreichen Literatur zur Fruchtbringenden Gesellschaft vgl. stellvertretend

Klaus Conermann / Andreas Herz / Helwig Schmidt-Glintzer: Die Fruchtbringende Gesell- schaft. Gesellschaftsgedanke und Akademiebewegung. In: Gelehrte Gesellschaften im mit- teldeutschen Raum (1650–1820). Hrsg. von Detlef Döring und Kurt Nowak. Tl. 1. Stutt-

gart / Leipzig 1999, S. 19–38 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 76/2); Die Fruchtbringer – eine „Teutschhertzi- ge“ Gesellschaft. Hrsg. von Klaus Manger. Heidelberg 2001 (Jenaer Germanistische For-

schungen N. F. 10); Klaus Conermann: Die Fruchtbringende Gesellschaft. In: Ders.: Zwei Aufsätze. Köthen 2002, S. 26–56 (Veröffentlichungen des Historischen Museums für Mittelanhalt XXV).

78 Fürs ander / daß man die Hochdeutsche Sprache in jhren rechten wesen und

standt / ohne einmischung frembder außländischer wort / auffs möglichste und

thunlichste erhalte / un[d] sich so wohl der beste[n] außsprache im reden / alß d’ reinesten art im schreiben un[d] Reimen=dichten befleißigen.67

Während der erste Programmpunkt das Ideal einer „vorurteilsfreien, toleranten, sachbezogenen Kommunikation“ aufscheinen lässt, mit deren Hilfe „regionale, nationale, politische und konfessionelle Schranken“ überwunden und nach dem Vorbild der in den romanischen Ländern entwickelten Leitvorstellungen hö- fisch-höflicher Gesittung ein „verträgliches Sozialverhalten“ und eine „gebil- det-elegante Zivilität“68 erstrebt werden sollen, erhebt der nachfolgende Passus die Ausbildung des Deutschen zum allgemein verbindlichen Medium der literarisch-wissenschaftlichen Verständigung zur zentralen Aufgabe der Ge- sellschaftsarbeit. Dass die solchergestalt betriebene emphatische Aufwertung der deutschen Sprache unter einem auf ihr „hohes Alter, [ihre] genealogische Reinheit und strukturelle Homogenität“69 rekkurierenden nationalpatriotischen Vorzeichen steht,70 ist im Unterschied zu späteren Verlautbarungen des sprach- theoretischen Diskurses – ungeachtet der dezidierten Abweisung des Fremd- wortgebrauchs – in diesen Ausführungen noch kaum zu spüren. Vergleichsweise spät fand Stieler auch formell Anschluss an die Sozietäts- bewegung, deren Anliegen und Zielen er sich durch seine literarischen Arbeiten schon seit langem verbunden fühlte. Erst zu Beginn der Amtszeit des dritten Oberhauptes wurde er auf Empfehlung des immer noch einflussreichen ehema- ligen Erzschreinhalters Georg Neumark71 am 29. November 1668 als 813. Mitglied mit dem Namen „Der Spate“ und der Devise „Übertrift den Frühzei- tigern“ in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen.72 In seinem an

67 Kurtzer Bericht der Fruchtbringenden Gesellschafft Zweck und Vorhaben. Gedruckt Zu

Cöthen / Jm Jahr 1622, S. [7–10], hier S. [10].

68 Andreas Herz / Gabriele Ball: Eine deutsche Akademie im Spannungsfeld von Sprache, Kultur und Politik: Die Fruchtbringende Gesellschaft. In: neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen. Hrsg. von Konrad Scheurmann und Jördis Frank. Katalog Bd. 1. Mainz 2004, S. 132–146, hier S. 133. 69 Gardt (s. Anm. 64), S. 109. 70 Wolfgang Huber: Kulturpatriotismus und Sprachbewußtsein. Studien zur deutschen Philo-

logie des 17. Jahrhunderts. Frankfurt / M. 1988.

71 Michael Ludscheidt: „so viel ich in das zehende Jahr / bey dem Ertzschreinhalten warge- nommen“. Georg Neumark als Sekretär der Fruchtbringenden Gesellschaft 1655–1667. In: Manger (s. Anm. 66), S. 105–121; Ders.: Die Weimarer Periode der Fruchtbringenden Gesellschaft von 1651 bis 1667 und die Verwaltung des Erzschreinhalteramtes durch den

Dichter Georg Neumark (1621–1681). In: Döring / Nowak (s. Anm. 66), Tl. 3, Stuttgart / Leipzig 2002, S. 9–22 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 76/6). 72 Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Herzog Augusts von Sachsen-Weißenfels 1667–1680. Mit dem Breslauer Schuldrama „Actus Von der Hochlöbl. Fruchtbringenden Gesellschaft“ (1670) und mit den Registern der Mitglieder. Hrsg. von

79 Herzog August von Sachsen-Weißenfels (1614–1680), den „Wohlgeratenen“ (FG 401), gerichteten Dankesschreiben erklärte er, der durch die Einnahme „neu vermehrten untertähnigsten Pflicht […] alles […] zu außbreit- und Fortpflantzung der hochberühmten Hochdeutschen Helden- und Mutterspra- che, aufzuwenden“,73 eifrig nachkommen zu wollen. Die in Aussicht gestellte aktive Mitwirkung an den Vorhaben der Fructifera hat Stieler in den folgenden Jahrzehnten in erster Linie durch die Publikation von umfangreichen Abhand- lungen zur deutschen Grammatik, Lexikographie und Stilistik realisiert, mit denen er zu einem der führenden Sprachgelehrten des 17. Jahrhunderts aufstieg. Wie eng sein gelehrtes Selbstverständnis an die Zugehörigkeit zur ältesten deutschen Sprachgesellschaft gebunden war, lässt sich daran ablesen, dass der „Spate“ seine Schriften auch nach dem Erlöschen der Sozietät im Jahr 1680 weiter unbeirrt unter seinem Gesellschaftsnamen publizierte. Wolf Peter Klein hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass man zu kurz greift, wenn man die Rolle Kaspar Stielers in der deutschen Sprachge- schichte lediglich von seinen lexikographischen Arbeiten her zu bestimmen versucht. Sein Werk müsse vielmehr aus „textsortengeschichtlicher Perspekti- ve“ als eine „groß angelegte Deskription und Normierung von Textstrukturen und Formulierungsmustern“ gelesen und dabei beachtet werden, dass der Wörterbucharbeit eine „kodifizierende Textarbeit“ korrespondiere. Vernach- lässige man eine der beiden Dimensionen, sei man nicht in der Lage, die „metasprachlichen Ambitionen und Projekte Stielers adäquat einzuschätzen“.74 Alle Facetten des gattungsreichen sprach-, medien- und literaturwissen- schaftlichen Œuvres des „Spaten“ in einer auf die Frage nach der disziplinären Einbindung seiner Forschungen ausgerichteten Studie erfassen zu wollen, ist weder in einer dem Gegenstand angemessenen Weise möglich noch angesichts verschiedener auf diesem Feld vorliegender Untersuchungen erforderlich. Darf auf eine vollständige inhaltliche Darstellung der linguistischen, kommu- nikationstheoretischen und poetologischen Schriften und ihre systematische Einordnung in die Sprach- und Literaturdebatten der Zeit mithin weitgehend

Martin Bircher unter Mitarbeit von Gabriele Henkel und Andreas Herz. Tübingen 1991, S. 83 (Die Deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts Fruchtbringende Gesellschaft. Reihe I, Abteilung C: Halle); Klaus Conermann: „Einnehmungs-Brieff“ Caspar Stielers entdeckt – oder über den merkwürdigen Umgang mit Aufnahmeurkunden und Vollmachten in der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 33 (2006) 2, S. 97– 117; Ders.: Aufnahmeurkunden der Fruchtbringenden Gesellschaft. Am Beispiel Caspar Stielers. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen 44 (2007) 1, S. 136–152.

73 Stieler an Herzog August von Sachsen-Weißenfels, 24. 3. 1669. In: Bircher / Henkel / Herz

(s. Anm. 72), S. 99 f. 74 Wolf Peter Klein: Kaspar Stielers Sprach- und Textnormen. Das „kommunikative Ereignis“ als Grundlagenkategorie frühneuzeitlicher Textsortengeschichte. In: Ludscheidt, Studien (s. Anm. 16), S. 301–323, hier S. 301.

80 verzichtet werden, so sind Genese, Struktur und Intentionen dieser Werke gleichwohl sorgfältig nachzuzeichnen. Neben dem Wunsch, sich aktiv an den sprach- und literaturreformeri- schen Unternehmungen der Fruchtbringenden Gesellschaft zu beteiligen, ha- ben insbesondere die seit 1661 in fürstlichen Kanzleien gesammelten Erfah- rungen75 den „Spaten“ zur Abfassung seiner sprachkodifizierenden und -normierenden Abhandlungen bewogen.76 In der An den briefliebenden Leser adressierten Vorrede zum Vortrab Des Allzeitfertigen Sekretariens, seiner 1673 in Eisenach (Nürnberg 21676, 31683)77 verlegten ersten epistolographi- schen Schrift geht Stieler ironisch mit jenen „halb= und ungelehrte[n]“ Vertre- tern des Berufsstandes ins Gericht, denen,

[…] wenn sie etwa zehn oder zwölf Formeln wo ertappet und auswendig gelernet

[haben] / […] alle übrige Briefe Schulmeisters=fratzen seyn [müssen] / welche

nicht von: Des Herrn Courtoisie animirt meine Blödigkeit etc. anfangen / und sich mit: Jch sterbe in der ungefärbten protestation, keine höhere qualität zu 78 embrasiren / als seines demütigsten Dieners etc. endigen.

Um diesem offenkundigen Missstand abzuhelfen, präsentiert das mit fast 600 Seiten gar nicht so „dünne Büchlein“79 den Lernwilligen eine „Mannigfaltig- keit“ von „kurze[n] Muster[n] und Briefarten“, an denen sie ihren „Schreib- stylo“80 schulen sollen. Da die knappen Ausführungen die „Kunst“ der Rede „nicht vollkommen darlegen können“,81 will der Titel des Buches dem Publi- kum sogleich signalisieren, „daß noch ein anders hinder ihm herziehe“,82 welches die Materie umfassender abhandelnd werde. Dass der vorausge- schickte schmalere Band dem Autor vornehmlich zur Sondierung der Markt-

75 Vgl. Ludscheidt, „der Geburth nach ein Erffurther“ (s. Anm. 16), S. 58 ff., 67 ff.; Blaha

(s. Anm. 16), S. 16 ff., 26 ff. 76 Vgl. die diesbezügliche Äußerung in Kaspar Stieler: Teutsche Sekretariat=Kunst/ Was sie

sey / worvon sie handele / was darzu gehöre / welcher Gestalt zu derselben glück= und

gründlich zugelangen / was Maßen ein Sekretarius beschaffen seyn solle / worinnen deßen

Amt / Verrichtung / Gebühr und Schuldigkeit bestehe / auch was zur Schreibfertigkeit und rechtschaffener Briefstellung eigentlich und vornehmlich erfordert werde. […] 4 Tle. Nürnberg 1673/74. Tl. 1, Vorrede an den wolgesinnten Leser, )( 3r.

77 Vgl. Dünnhaupt (s. Anm. 45), Tl. 6, S. 3958 f. (Nr. 22.1, 22.2, 22.3).

78 Kaspar Stieler: Vortrab Des Allzeitfertigen Sekretariens. Das ist: Ein Versuch / wie aller-

hand Schreiben / höflich und geschicklich / iedoch kurz / und gleichsam mit flüchtiger

Feder / abzufaßen. Denen Anfängern zum Behuf und vernünftiger Nachfolge heraus gege-

ben / und einem ausführlichern Werk / als wie zur Ausspähung vorgesendet. Eisenach 1673, )o( 2v-)o( 3r. 79 Stieler, Vortrab (s. Anm. 78), )o( 3v. 80 Stieler, Vortrab (s. Anm. 78), )o( 4r. 81 Stieler, Vortrab (s. Anm. 78), )o( 3v. 82 Stieler, Vortrab (s. Anm. 78), )o( 2r.

81 lage dient, klingt in dem einprägsamen Vergleich des Traktats mit einem „Herold oder Trompeter“ an,

[…] welcher seinen Herrn / deßen Hoffarbe er trägt / in den Stadttohren und

Päßen anmeldet. Vermerket er nun / daß derselbe willkommen seyn werde; […]

so bestellet er ein Losament und machet Quartier: Wo nicht; so ist er befehliget /

angesichts zurück zureiten / und seinen Herrn zuwarnen / damit er nicht ohne Schuld beschimpfet werde.83

Dem im Vortrab bereits unter dem späteren Titel Der Allzeitfertige Secretarius avisierten,84 jedoch erst sechs Jahre danach erschienenen umfangreichen Brief- steller85 gingen zwei andere epistolographische Kompendien voraus. Mit der 1673 herausgegebenen Teutschen Sekretariat=Kunst legte Stieler sein „brief- theoretische[s] Hauptwerk“ vor, das drei weitere, jeweils verbesserte und vermehrte Auflagen (21681, 31705, 41726) erlebte und damit zu den erfolgreich- sten, noch im 18. Jahrhundert in Gebrauch befindlichen Lehrbüchern des „Spaten“ gehört. Von dieser die Brieflehre „umfassend und grundlegend“86 darstellenden, beinahe 4 500 Seiten starken Abhandlung sind alle nachfolgen- den Veröffentlichungen Stielers zum Thema abhängig. An die in Georg Phi- lipp Harsdörffers Teutschem Secretarius87 vorgenommene „Aufwertung des ‚Secretarius‘ und der ‚Brief=Kunst‘ zu einer der Rhetorik gleichwertigen 88 ars“ anknüpfend, entwirft Stieler in dieser „vollkommene[n] Anleitung / welcher gestalt ein Teutscher Brief / aus dem Grunde und mit anständiger Zierlichkeit gestellet werden könne“,89 das Bild des durch schriftsprachliche Kompetenz ausgezeichneten und seine Profession als humanistisch-gelehrte Wissenschaft betreibenden Kanzlisten, dessen besondere Stellung darin zum Ausdruck kommt, dass er im Unterschied etwa zum Juristen nicht allein gesetzeskundig, sondern darüber hinaus „auch ein guter Redner/ fertiger

Sprachmeister / und kluger Statskündiger […] und hierüber zugleich des Hof- 83 Stieler, Vortrab (s. Anm. 78), )o( 2r-v. 84 Stieler, Vortrab (s. Anm. 78), )o( 2v. 85 Zur Gattung vgl. Agnes Roseno: Die Entwicklung der Brieftheorie von 1655–1709. Darge- stellt an Hand der Briefsteller von Georg Philipp Harsdörffer, Kaspar Stieler, Christian Weise, Benjamin Neukirch. Würzburg 1933; Kirsten Erwentraut: Briefkultur und Briefsteller – Briefsteller und Briefkultur. In: Meier (s. Anm. 63), S. 266–285; Carmen Furger: Briefsteller.

Das Medium „Brief“ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln / Weimar / Wien 2010.

86 Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474–1800). Göttingen 1969, S. 88 (Palaestra 254). 87 Georg Philipp Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius: Das ist: Allen Cantzley= Studir= und Schreibstuben nützliches und fast nohtwendiges Formular= und Titularbuch […]. Nürnberg 1655. 88 Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetorik- theorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 229 (Frühe Neuzeit 91). 89 Stieler, Sekretariat=Kunst (s. Anm. 76), Tl. 1, Vorrede an den wolgesinnten Leser, )( 3r.

82 brauchs / im Reden und Handeln / samt der bey der Kanzeley gewöhnlichen 90 Schreib=art / mächtig seyn“ muss. Veranlasst ist dieses auf ihre außerge- wöhnlichen Fähigkeiten abhebende Lob der Sekretäre durch die allgemeine Geringschätzung, die ihnen in der Öffentlichkeit entgegengebracht wird. Der weitverbreiteten Meinung, dass sie nur „halbgelehrte / faule Brüder / und nichts Wisser“91 seien, tritt der „Spate“ nicht zuletzt im eigenen Interesse energisch entgegen. Da der „Grund […] der Schreib= und Sekretariatkunst“ zu einem nicht geringen Teil „in genugsamer Erkäntniß der Sprache / im

Unterscheid und kluger Wahl der Worte und Redensarten/ in Ausschmückung / 92 Erweiterung / Einziehung und gebührlichen Gebrauch derselben“ besteht, fühlt er sich dazu auch als „Liebhaber“ der „reinen teutschen Sprache“93 verpflichtet. Indem Stieler auf die Satzungen der Fruchtbringenden Gesell- schaft anspielend postuliert, sein Lehrbuch „nach itziger üblichen Schreibart/ ohne Einmischung fremder und ungeschicklicher Worte / auser / was der Ge- 94 brauch / deme man nicht überal wehren kan / mit sich führet“, eingerichtet zu haben, stellt er es explizit in den Kontext der sprachpflegerischen Aktivitäten des Palmenordens. Die aus der Durchführung des maßvoll puristischen Prin- zips resultierende Textgestalt liefert das Muster und setzt die Maßstäbe für die fachspezifische deutschsprachige Kommunikation der angehenden Sekretäre. Polemisiert Stieler einerseits in der Teutschen Sekretariat=Kunst vehement gegen die Auffassung, dass man durch das bloße Nachschreiben von Briefen in Kanzleiangelegenheiten zu einer hinreichenden Fertigkeit gelangen könne, so bedient er mit dem 1678 gedruckten Teutschen Advokaten (21695)95 andererseits gerade das auf diese Methode ausgerichtete Genre der Formularbücher.96 Ver-

90 Stieler, Sekretariat=Kunst (s. Anm. 76), Tl. 1, Widmungsvorrede, ):( iijr-):( iijv. 91 Stieler, Sekretariat=Kunst (s. Anm. 76), Tl. 1, Widmungsvorrede, ):( iijr. 92 Stieler, Sekretariat=Kunst (s. Anm. 76), Tl. 1, Vorrede an den wolgesinnten Leser, )( 4r. Des weiteren bezeichnet Stieler in dieser Passage Sach- und Personenkenntnis, umfassendes Wissen, ein gutes Gedächtnis und Urteilsfähigkeit als Voraussetzungen für die Ausübung des Amtes. 93 Stieler, Sekretariat=Kunst (s. Anm. 76), Tl. 1, Vorrede an den wolgesinnten Leser, )( 2v. 94 Stieler, Sekretariat=Kunst (s. Anm. 76), Tl. 1, Vorrede an den wolgesinnten Leser, )( )(r.

95 Zitiert wird nach der Ausgabe Kaspar Stieler: Der Teutsche Advokat / Oder Lehrschrift /

Anzeigend: Auf was Weise ein rechtlicher Beystand in Teutschland / so wol vor Gericht / als

auser demselbigen / Zunge und Feder / dem Rechten und Gerichtsbrauch gemäß / geschick-

lich / zierlich und gebührlich anwenden und führen solle. […] 2 Tle. Nürnberg 1695. 96 Eine Umgestaltung hin zu einem Formularbuch erfährt auch die Teutsche Sekretariat=Kunst in der von Joachim Friedrich Feller besorgten vierten Auflage: Des Spaten, oder Caspar

Stielers, […] Teutscher Secretariat=Kunst, Vierte / und zwar in eine gantz neue Form veränderte Aufflage. […] Frankfurt/M. 1726. In der unpaginierten biograpisch-werkge- schichtlichen Vorrede erklärt der Herausgeber, er habe „aus dem sogenannten ersten […]

Bande der vorigen Edition von Anno 1705 […] nur den ersten Theil behalten / jedoch solchen an vielen Orten geändert […]; hingegen den gantzen andern und dritten Theil […] weggelassen […]. An deren Stelle aber ist die Erste Abtheilung von meiner neuen Arbeit […] hinzugethan […]; nicht weniger eine Sammlung der nettesten und neuesten Hof=Briefe beygetragen“.

83 gleichbar dem wenige Jahre später entstandenen, aus des Autors „selbsteigener Beleb= und Erfahrung“ (Titel) auf die militärische Praxis abzielenden Auditeur oder KriegsSchultheiß (1683),97 enthält das Buch für den zivilen Bereich eine Sammlung von „gleichsam unentbährlich[en]“ juristischen „Formeln und Mustern“ (Titel), die den mit Rechtsfragen befassten Personen als Richtschnur bei der Bewältigung ihrer Aufgaben dienen sollen. Breiten Raum nehmen in der Vorrede zum ersten Band des zweiteiligen Werkes Erörterungen zur stilisti- schen und orthographischen Gestaltung des „papiernen Advokaten“98 ein, der seine Entstehung vor allem den Pflichten verdankt, welche der Autor „als ein unwürdiges Mitglied der Durchl. Fruchtbringenden Gesellschaft/ [s]einer wehr- testen Muttersprache schuldig“99 ist:

Wegen der Stylisirung oder Redart / habe ich einige Entschuldigung einzuwen- den nicht Ursach / weil die Lehrschriften nichts als die Deutlichkeit erfordern / und die Zierlichkeiten den Redenern und Dichtern überlassen; und wiewohl ich mir anfänglich vorgenommen hatte / die Lateinische Kunstwörter oder terminos alle teutsch zugeben; so merkte ich doch bald / daß solches / bey noch unausge- arbeiteter teutscher Sprache / und Ermanglung der durchgehend eingeführter teutschen Lehrschriften / mehr Tunkelheit / als Annehmlichkeit erwecken dörf- fen. Derowegen ich auch die Formeln mit ihren bunten Wörtern behalten / und hierinnen dem allgemeinen Gerichtsbrauch nichts benehmen wollen / noch kön- nen. Die Schreibrichtigkeit oder orthographie / (wiewol solche bey mir fest gestellet ist /) hat / wegen meiner Abwesenheit / nicht beobachtet werden mö- gen / sondern den vielerhand Köpfen der Setzer und Correctoren unterworfen seyn müssen.100

Weitaus skeptischer, als man angesichts der bereits ein halbes Jahrhundert andauernden, von den Sprachgesellschaften und vielen namhaften Autoren außerhalb der Sozietäten getragenen Reformbemühungen vermuten dürfte, beurteilt Stieler im Vorwort zum Teutschen Advokaten den Entwicklungsstand der deutschen Sprache. Aus seiner Sicht ist sie noch immer weithin ‚unausge- arbeitet‘, d. h. weder zureichend kodifiziert noch hinlänglich normiert, eignet sich daher nur bedingt zur Darstellung juristischer Sachverhalte und muss um der erforderlichen terminologischen Exaktheit willen vorderhand weiter auf

97 Kaspar Stieler: Auditeur oder KriegsSchultheiß. das ist: richtige und unbetrügliche Anwei-

sung / Was massen ein General= und RegimentsAuditör ihr hochangelegenes Amt […] gewissenhaft und löblich verwalten und beobachten sollen. Mit darzugehörigen vielen ganz

neuen und heutiger Kriegsschreibart nach / unentbährlichen Mustern […]. Nürnberg 1683 (Titelauflagen 1694 und 1695). Vgl. dazu Holger Berg: Der „Spate“ und das Schwert. Kaspar Stieler und seine Schrift Auditeur oder KriegsSchultheiß (1683). In: Ludscheidt, Studien (s. Anm. 16), S. 253–280. 98 Stieler, Advokat (s. Anm. 95), Tl. 1, Vorrede, )( 2v. 99 Stieler, Advokat (s. Anm. 95), Tl. 1, Vorrede, )( 2r. 100 Stieler, Advokat (s. Anm. 95), Tl. 1, Vorrede, )( 2v.

84 fremdsprachige „Kunstwörter“ zurückgreifen. Als symptomatisch für die an diesem Einzelfall zutage tretenden Versäumnisse der Spracharbeit wertet der „Spate“ das Fehlen von beschreibenden und verbindliche Regeln aufstellen- den „teutschen Lehrschriften“ zur Grammatik, Orthographie oder Stilistik. Wenn die „Schreibrichtigkeit“ wie bisher der Willkür eines jeden einzelnen überlassen bleibe – denn dass die Orthographie bei ihm selbst „fest gestellet“ sei, hindere die Buchdrucker nicht daran, nach eigenem Gutdünken zu verfah- ren, wie Stieler anmerkt –, werde man das Deutsche nicht zu einer höchsten Ansprüchen genügenden Literatur- und Wissenschaftssprache emporbilden können: Diesen Schluss durften (und sollten) die zeitgenössischen Leser aus den kritischen Andeutungen in der Vorrede stillschweigend ziehen. Die Voransprache zum zweiten Teil des Teutschen Advokaten bietet eindrucksvolle Beispiele für das von Jacob Grimm nachmals heftig kritisierte etymologische Verfahren Stielers (der „die falschesten etymologien geschmack- los geltend gemacht, und einzelne triebe der ableitung oder zusammensetzung unerlaubt, ohne dasz ihnen wirkliche, lebendige wörter unterliegen, gehand- habt“101 habe), mit dessen Hilfe, entsprechend den Gepflogenheiten der ba- rocken Sprachforschung, die aus seinem hohen Alter abzuleitende Vorrang- stellung des Deutschen gegenüber den antiken und modernen europäischen Sprachen nachgewiesen werden soll. Demonstriert wird diese Methode (und damit die vermeintliche Überlegenheit der Muttersprache) u. a. an dem Wort Praxis,

[…] welches insgemein Ubung verteutschet wird / so doch billich Ausübung /

oder Tähtigkeit oder das Wircken / der Angriff / die Handlung / der Antritt / und

Underfang erkläret werden solte / ist nicht lateinisch / sondern es haben es die Römer von den Griechen geborget […]. Es haben es aber die Griechen von uns

Teutschen zu erst bekommen: Sintemal Praten ein uraltes Gotisches Wort / und

noch heute zu Tage in Holland üblich ist / da es soviel bedeutet / als: Reden / Schertzen/ Handeln […].102

Der unter Aufbietung eines beeindruckenden philologischen Apparates – Stie- ler zieht Schriften von Cicero, Quintilian, Johannes Calvin und anderen heran – geführte Beweis, dass das Wort Practicus „in der teutschen Sprache […] tief eingesessen“103 sei, ist nicht gelehrter Selbstzweck, sondern dient als Aus- gangspunkt für eine grundsätzliche Erörterung der Frage, inwieweit sprachtheo- retische Kenntnisse und rhetorische Schulung auch für angehende Juristen von Nutzen sind. Auch wenn deren Ehrgeiz sich nicht vorrangig auf „Eloquenz und Wolredenheit“ richte, gelte es doch zu bedenken, dass „ein ieder Satz [der

101 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854, Sp. XXII.

102 Stieler, Advokat (s. Anm. 95), Tl. 2, Voransprache, S. 5 f. 103 Stieler, Advokat (s. Anm. 95), Tl. 2, Voransprache, S. 6.

85 Anklage- oder Verteidigungsrede oder -schrift] / ja ein ieder periodus oder

Redbekriff [!] seine sonderbare Art“ habe, die von den Rechtsgelehrten im Interesse einer erfolgreichen Prozessführung beherrscht werden sollte. „Wes- halber auch nicht schaden kan“, fährt Stieler fort, „sondern vielmehr höchst- nützlich und nötig ist / solcherley Redarten und Formeln zumerken / selbe auszuzeichnen und weislich nachzuahmen“. Das sei schon deshalb anzuraten, weil beispielsweise in den sächsischen „Kanzelleyen und Aemtern“ (des ernestinischen Thüringen), deren Praxis dem „Spaten“ aus eigenem Erleben bestens vertraut war, „vom Mund aus in die Feder dictiret“ werde, so dass die sichere Beherrschung des deutschen „Gerichts=Stylo“104 eine unumgängliche Voraussetzung für das Tätigwerden in einer solchen Behörde darstelle. Alle übrigen Veröffentlichungen in diesem Genre, sowohl der schon 1673 angekündigte, 1679 endlich erschienene und mit weiteren neun Ausga- ben bis 1723 unangefochten den ersten Platz unter den epistolographischen Lehrschriften Stielers behauptende Allzeitfertige Secretarius105 als auch die auf ihn folgenden Traktate – zu nennen sind der (nurmehr bibliographisch nachweisbare) Politische Briefverfasser (1695),106 Die feineste Schreiben der besten Frantzösischen Brief=Verfasser (1696),107 der Allerneust=ankommende Secretarius (1697)108 sowie der Politische Geleitsmann (1699)109 –, stellen lediglich eine Fortschreibung bzw. „Zusammenfassung alles Wesentlicheren aus der Teutschen Sekretariat-Kunst“110 dar. Dass ihre Publikation augen- scheinlich von kommerziellen Überlegungen mitbestimmt war,111 schmälert die staunenswerte Leistung des „Spaten“ auf dem Gebiet der deutschsprachi-

104 Stieler, Advokat (s. Anm. 95), Tl. 2, Voransprache, S. 10 f.

105 Kaspar Stieler: Der Allzeitfertige Secretarius Oder: Anweisung / auf was maasse ein ieder

halbgelehrter […] nach ietziger Art / einen guten / wolklingenden und hinlänglichen Brief schreiben und verfassen könne. […] Nürnberg 1679 (21680, 31683 [zu dieser Ausgabe Titelauflagen 1686, 1687, 1689], 41690, 51695, 61697, 71723). 106 Kaspar Stieler: Des Spaten Politischer Briefverfasser. Hamburg 1695. 107 Kaspar Stieler: Les plus belles lettres des meilleurs auteurs François de ce temps. Recueil- lies et traduites en Allemand par le Tard. Die feineste Schreiben der besten Frantzösischen Brief=Verfasser dieser Zeit. Hamburg 1696. 108 Kaspar Stieler: Der Allerneust=ankommende Secretarius, mit sich bringend Einen grossen Vorrath derer durch das gantze menschliche Leben vorkommenden Briefe […]. Hamburg 1697 (21699 [zu dieser Ausgabe Titelauflagen 1702 und 1708]).

109 Kaspar Stieler: Deutsche Schreibung. Politischer Geleitsmann / welcher / So wol / auff der

Reise / als daheim / uns bedeuten mag / was fremde Worte / so in Briefen / Zeitungen und

Reden vorkommen / bey uns zu sagen haben. Hamburg 1699. 110 Nickisch (s. Anm. 86), S. 88. 111 Im Voranspruch zum Allerneust=ankommenden Secretarius teilt Stieler mit, der „Herr

Verleger“ habe „vermercket / daß dieselbe Schrifft ihren Liebhaber gefunden“, wodurch er

„bewogen worden / denen vorigen Briefen [durch den Autor] noch andere […] beyfügen zu lassen“ und eine neue Ausgabe auf den Markt zu bringen. Vgl. Stieler, Allerneust= ankommende (s. Anm. 108), )( 2v-)( 3r.

86 gen Epistolographie durchaus nicht. Vielmehr zeugt das Korpus der im Zeit- raum von drei Jahrzehnten entstandenen und edierten Briefsteller vom unab- lässigen Bemühen um die stilistische Verfeinerung und Vervollkommnung der deutschen Sprache, als deren Sachwalter Stieler in seinen Schriften absichts- voll die im fürstlichen oder städtischen Dienst stehenden Sekretäre präsen- tiert. Wenn im Eingangskapitel des Allzeitfertigen Secretarius die „Secretarii“ als „die vornehmste[n]“ unter den Hofbeamten bezeichnet werden, weil „ihr

Ampt zuforderst darinnen [besteht] / daß sie das Berathene / in geschicklicher 112 Form und Gestalt“, den Opitzschen Forderungen gemäß mit „deutlichen / 113 klaren / verständigen und bequemen“ Worten „zu Papier bringen“, so ge- schieht das in der Absicht, die Verdienste der Kanzlisten um die Kultivierung der Muttersprache ins rechte Licht zu rücken und zur Hebung ihres sozialen Ansehens beizutragen. Der in der Vorrede zum ersten Teil des Teutschen Advokaten beklagten mangelhaften Regulierung der deutschen Sprache versuchte Stieler vor allem durch die Erstellung eines gründlichen, mit einem grammatischen Anhang versehenen Wörterbuchs zu begegnen, das er als Ergebnis der lexikographi- schen Diskussionen in der Fruchtbringenden Gesellschaft unter der Ägide ihres ersten Oberhaupts betrachtete. Als Mitglied der florentinischen Accademia della Crusca hatte Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen (1579–1650, „Der Nähren- de“, FG 2) die Entstehung des italienischen Vocabulario (1612)114 aufmerksam verfolgt und die Erarbeitung eines deutschen Wörterbuchs nach dessen Vorbild angeregt. Das von einflussreichen Fruchtbringern wie Christian Gueintz, Georg Philipp Harsdörffer oder Justus Georg Schottelius unterstützte Vorhaben kam indes über Absichtsbekundungen nicht hinaus. Obgleich Gueintz mit der Deutschen Sprachlehre Entwurf (1641) und der Deutschen Rechtschreibung (1645) sowie Schottelius mit der Teutschen Sprachkunst (1641) bereits wichti- ge Vorarbeiten geleistet hatten, blieb die Forderung nach einem „Teutsche[n] Dictionarium oder wortbuch“, in dem die „Deutsche Haubtsprache aus ihren gründen künstfüglich“ und nach ihren „stammwörtern“115 dargestellt werde,

112 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Hrsg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, Kap. 6 (Von der zuebereitung vnd ziehr der worte).

113 Kaspar Stieler: Der Allezeitfertige Secretarius Oder: Anweisung / Auf was Masse ein jeder

halbgelehrter bey Fürsten / Herrn / Gemeinden und in seinem Sonderleben […] einen

guten / wolklingenden und hinlänglichen Brief schreiben und verfassen könne. […] Nürn-

berg 1686, S. 4 f. 114 Vocabulario degli accademici della Crusca, con tre indici delle voci, locuzioni, e proverbi Latini, e Greci, posti per entro l’Opera. Venedig 1612. 115 Georg Philipp Harsdörffer: Des Spielenden Unvergreiffliches wolgemeintes Bedencken, Wie ein Teutsches Dictionarium oder wortbuch zuverabfassen [1647]. In: Der Fruchtbrin- genden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke. Hrsg. von Gottlieb Krause. Leipzig 1855, S. 387–392, hier S. 387.

87 über die Amtszeit des „Nährenden“ hinaus unvermindert aktuell.116 Im Herbst 1656 etwa schrieb Schottelius an Georg Neumark, auf dem nach seiner Ernen- nung zum Erschreinhalter des Palmenordens die Hoffnungen der Sprachgelehr- ten bezüglich einer Wiedererweckung des stockenden und zeitweise ganz in Vergessenheit geratenen Projekts ruhten:

Ich erinnere mich, daß Furst Ludwig zu Anhalt hochsehl. Gedechtniß, willens undt in dem begrif gewesen, die Verordnung unter den Gesellschaftern zu thun, damit in der Teutschen Haubtsprache ein rechtes vollständiges Lexicon mochte da mal eins verfertigt werden, ist derohalben auch wol vor 10 oder mehr iahren mit H Harsdorfern und H Ristin und H Quentzio und andern communicirt, meine unvorgreifliche meinung davon habe ich auch in der Zehndten Lobrede, so der Sprachkunst anderer edition vorgesazt, zuverstehen gegeben, Es ist aber alles wegen des werks weitleuftigkeit undt muhsamer arbeit stekken geblieben, Gewis- lich wan ein hochlobliches Haubt der Geselschaft sich dieses Vorhabens wieder erinnern undt ein solches Buch (so bishero nie geschehen) befoderen wurde, […] werde sich derselbe hochverdient und bei der Nachwelt hohen Ruhm machen, auch den HaubtZwek der Geselschaft gewaltig und in der That befoderen.117

Doch auch Neumark gelang es nicht, das Interesse an einem gemeinschaftlich zu erstellenden Wörterbuch unter den Fruchtbringern neu zu beleben. Von dem die fruchtbringerischen Debatten Mitte der 1640er Jahre zeitweilig domi- nierenden Sprachlexikon118 ist in der Spätphase der Fructifera keine Rede mehr. Erst Stieler erinnert in der Vorrede zu seinem Wörterbuch – indem er ihr Scheitern konstatiert – an die beinahe ein halbes Jahrhundert zurückliegenden lexikographischen Initiativen im Palmenorden:

Zwar ist mir nicht unbewust / was der Weiland hochberümte Suchende vor schwere Bedingungen zu Verfertigung eines teutschen Wörterbuches erfordere; Allein auf ein solches vollkommenes Werk ist bishero viel Jahr lang vergeblich

gewartet und gehoffet worden / scheinet auch eines einzigen Menschen Arbeit

nicht wol zu seyn / indem alle die vorgeschriebene Erforderungen über die

Kundigkeit des teutschen Altertums / aller darzu gehörigen alter Schriften / Brief-

schaften und Urkunden / der Käntnüß / sowol der mannigfaltigen Hoch= und

116 Vgl. zusammenfassend zu diesen Diskussionen Helmut Henne: Deutsche Lexikographie und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert. In: Deutsche Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Einführung und Bibliographie. Hrsg. von Helmut Henne. Hildesheim 2 u. a. 2001, S. 3–37, vor allem S. 16–21; Andreas Herz: Georg Philipp Harsdörffers Teut- scher Secretarius und die damalige deutsche Sprachdebatte. In: Wolfenbütteler Barock-

Nachrichten 36 (2009) 1/2, S. 55–63, insbesondere S. 59 f.

117 Brief von Justus Georg Schottelius an Georg Neumark, 14. 10. 1656. Thüringisches Haupt- staatsarchiv Weimar: A 118172, fol. 18. 118 Vgl. den Briefwechsel zwischen Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen und Schottelius aus dem

Herbst 1645. In: Krause (s. Anm. 115), S. 296 f.

88 Niederteutschen Mundarten / als auch der Niederländischen / Engeländischen /

Franzöischen [!] / Welschen / Lateinischen / Griegischen und Hebräischen / inson-

derheit aber derer Nordischen Sprachen / einen Mann erfordern / welcher / nebst guter Muße und notdürftigem Auskommen/ mit einer sonderbaren Scharfsinnig-

keit und wolerleutertem Kunstverstande ausgerüstet / auch zugleich munter /

hurtig / jung und arbeitsam sey: Um deswillen sich dann bis auf jetzige Zeit

niemand gefunden / welcher ein solches mühsames Werk anzugreifen sich ent- schließen können.119

Gründliche Kenntnisse in der deutschen Sprachgeschichte, den europäischen Sprachen von der Antike bis in die Neuzeit und im Hebräischen sowie ein hohes wissenschaftliches Ethos sind nach Stieler unverzichtbare Vorausset- zungen für denjenigen, der sich die Erfassung und Verzeichnung des deut- schen Wortschatzes zur Aufgabe macht.120 Obwohl er diesen Anforderungen nur unzureichend genüge121 (so der unvermeidliche Bescheidenheitstopos), habe ihn die „Liebe zu unserer teuren Heldensprache“ einen „kleinen Ver- such“ auf diesem Gebiet wagen lassen. Wenn dessen Ergebnis, der vorliegen- de „Handbegriff“ der deutschen Sprache, auch als höchst unvollkommen gelten müsse, so könne er anderen „Teutschgesinnten“ doch immerhin als Leitfaden dienen und sie ermutigen, das begonnene Werk fortzusetzen, da „[a]ngefangene Dinge“ erfahrungsgemäß „mit leichtem Vorteil“122 weiterzu- führen seien. Die geforderte multilinguale Kompetenz befähigt den Lexikographen Stielers Überzeugung nach dazu, die Vorzüge, wenn nicht die Überlegenheit des Deutschen gegenüber den anderen Sprachen herauszustellen. Diesen für die Spracharbeit im 17. Jahrhundert bezeichnenden, kulturpatriotisch moti- vierten Ansatz123 seines Wörterbuchunternehmens betont der „Spate“ im An- schluss vor allem an die Argumentation von Schottelius (dem er „diese [s]eine

119 Kaspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs / oder Teutscher Sprach-

schatz / Worinnen alle und iede teutsche Wurzeln oder Stammwörter / so viel deren annoch

bekant und ietzo im Gebrauch seyn / nebst ihrer Ankunft / abgeleiteten / duppelungen / und

vornemsten Redarten / mit guter lateinischen Tolmetschung und kunstgegründeten Anmer-

kungen befindlich. Samt einer Hochteutschen Letterkunst / Nachschuß und teutschem Register. […] Nürnberg 1691. Vorrede, )( )( )( ijr. 120 Ähnliche Forderungen erhebt Opitz (s. Anm. 112) im Buch von der Deutschen Poeterey, S. 25, mit Blick auf die Dichter: „Vnd muß ich nur bey hiesiger gelegenheit ohne schew

dieses erinnern / das ich es für eine verlorene arbeit halte / im fall sich jemand an vnsere

deutsche Poeterey machen wolte / der / nebenst dem das er ein Poete von natur sein muß / in

den griechischen vnd Lateinischen büchern nicht wol durchtrieben ist / vnd von jhnen den rechten grieff erlernet hat“. 121 Stieler, Stammbaum (s. Anm. 119), Vorrede, )( )( )( ijr: „spüre ich zwar bey mir fast an allem und jedem solchem Zubehör einen […] Mangel“. 122 Stieler, Stammbaum (s. Anm. 119), Vorrede, )( )( )( ijr. 123 Vgl. Gardt (s. Anm. 64), S. 103–119.

89 Arbeit vornemlich zudanken“124 habe) in der Vorrede an den Teutschliebenden Leser nachdrücklich und verweist darauf, „daß unser hochwehrtes Teutsch schon jetzo dem majestätischen Latein / dem unerschöpflichen Griegischen / dem leichtfließenden Franzöischen [!] und denen tiefsinnigen Welschen und Spanischen Sprachen die Stirn bieten“125 könne. Unter dieser Prämisse stehen die (bereits aus dem Titel abzuleitenden) Prinzipien, nach denen Stieler bei der Auswahl, Anordnung und Präsentation des Wortmaterials verfährt. Die Glie- derung orientiert sich konsequent an der von Schottelius entwickelten Theo- rie, wonach sich das Alter und damit der Wert einer Sprache nach der Anzahl der in ihr enthaltenen Stammwörter bemessen lassen. Stieler gewinnt aus etwa 600 alphabetisch angeordneten Stammwörtern mittels etymologischer Ablei- tungen, Analogiebildungen, Zusammensetzungen und künstlicher Neubildun- gen ca. 68 000 auf 2 672 Spalten verteilte Lemmata, die durch ein Register erschlossen werden.126 Damit schuf er das „erste vollständige große Wörter- buch der Barockzeit“,127 das eine „gewisse weiterführende Kraft“128 aus- strahlte und erst von Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1793–1801) abgelöst wurde. Bei aller an der unzulänglichen Methodik –

[…] seine mühsame arbeit konnte bei vielen gebrechen, woran sie leidet, keine heilsame wirkung hervorbringen. sie ist […] nach stämmen eingerichtet, denen sogar die sinnverwandten, buchstäblich ganz fremden wörter angereiht sind […]; dabei werden […] einzelne triebe der ableitung oder zusammensetzung uner- laubt, ohne dasz ihnen wirkliche, lebendige wörter unterliegen, gehandhabt […]

– sich entzündenden Kritik haben auch die Grimms anerkannt, dass Stielers Kompendium den deutschen Wortschatz „in so erleichterter übersicht dar[biete], wie sie sonst nirgend vorhanden ist“ und obendrein „durch die auffassung des

124 Stieler, Stammbaum (s. Anm. 119), Zuschrift, )( )(. Vgl. dazu Ulrike Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte. Berlin/New York

2001, S. 71 ff. 125 Stieler, Stammbaum (s. Anm. 119), )( )( )(v. 126 Zur lexikographischen Methode Stielers vgl. ausführlich Gerhard Ising: Die Erfassung der deutschen Sprache des ausgehenden 17. Jahrhunderts in den Wörterbüchern Matthias Kramers und Kaspar Stielers. Berlin 1956; Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte

vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2. 17. und 18. Jahrhundert. Berlin / New York

1994, S. 184 f.; Haß-Zumkehr (s. Anm. 124), S. 76–81; Gerhard Ising: Einführung und Bibliographie zu Kaspar Stieler, Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz (1691). In: Henne (s. Anm. 116), S. 75–93, hier S. 85–91. 127 Ising (s. Anm. 126), S. 81. 128 Wolf Peter Klein: Die deutsche Sprache in der Gelehrsamkeit der frühen Neuzeit. Von der lingua barbarica zur HaubtSprache. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen

Neuzeit. Ein Handbuch. Hrsg. von Herbert Jaumann. Berlin / New York 2011, S. 465–516, hier S. 493.

90 thüringischen dialects noch besondere wichtigkeit“129 hat. Für die neuere sprachhistorische Forschung markiert das Erscheinen des Stielerschen Wörter- buchs im Jahr 1691 den Beginn der „modernen deutschen Lexikographie“.130 Nicht unerwähnt bleiben darf in einem Überblick zum sprachwissen- schaftlichen Werk Kaspar Stielers seine bahnbrechende Abhandlung zum Pressewesen, mit der er zum Begründer der „deutsche[n] Publizistikwissen- schaft“131 avancierte. Das 1695 (21697) wohl auf Anregung des Verlegers Benjamin Schiller in Hamburg veröffentlichte Buch Zeitungs Lust und Nutz verarbeitet die während der Reisejahre in den europäischen Metropolen und während der Rudolstädter Dienstzeit (von 1662 bis 1666) gewonnenen Erfah- rungen im Umgang mit dem neuen Medium und reflektiert dessen rasanten Aufstieg im 17. Jahrhundert. In der nach 1670 entbrannten Kontroverse über Sinn und Wert der Periodika positioniert sich Stieler dezidiert als Verteidiger der Nachrichtenblätter.132 Die Zeitungen gelten ihm nicht zuletzt deshalb als 133 „der Grund / die Anweisung und Richtschnur aller Klugheit“, weil man aus ihnen „die Eigenschaft der Sprache / deren überreiche Wortmenge / samt der bindungs- und erzehlungs-Kunst“134 lernen könne. Wer keinen Zugang zu den Gazetten habe oder die Beschäftigung mit ihnen ablehne, müsse daher not- wendig „ein elender Prülker [Nichtskönner] und Stümper in der Wissenschaft der Welt“135 bleiben. Namentlich jenen, „die mit Briefen und schriftlichen 136 Sachen / oder mündlichen Vorträgen umgehen“, wird die Zeitungslektüre darum dringend empfohlen. Dass Stielers Apologie der im Entstehen begriffe- nen Presse vornehmlich aus sprachpraktischer und kommunikationstheoreti- scher Perspektive argumentiert, verdeutlicht einmal mehr, welcher Stellenwert einer hohen sprachlichen Kompetenz nicht nur in Kanzleien und Gerichts- stuben, an Höfen und Universitäten, sondern grundsätzlich in allen Lebens- bereichen in der Frühen Neuzeit beigemessen wurde.

129 Grimm, (s. Anm. 101), Sp. XXII. Vgl. zu diesem Aspekt auch Otto Kürsten: Daniel Caspar Stieler als thüringischer Lexikograph. In: Heimat und Bildung. Festschrift für Johannes Biereye. Erfurt 1935, S. 40–46 (Sonderschriften der Akademie gemeinnütziger Wissen- schaften zu Erfurt 6). 130 Ising (s. Anm. 126), S. 91. 131 Polenz (s. Anm. 126), S. 377. 132 Über die Debatten informiert zusammenfassend Brigitte Döring: Kaspar Stielers Zeitungs Lust und Nutz (1695) – erster Versuch einer systematischen Darstellung des Zeitungswe-

sens. In: Ludscheidt, Studien (s. Anm. 16), S. 281–299, hier S. 284 f. Vgl. des weiteren Claude D. Conter: Zu Besuch bei Kaspar Stieler. „Zeitungs Lust und Nutz“ – ein Beitrag zur historischen Kommunikationsforschung. In: Publizistik 44 (1999), S. 75–93. 133 Stieler, Zeitungs (s. Anm. 54), S. 5. 134 Stieler, Zeitungs (s. Anm. 54), S. 44. 135 Stieler, Zeitungs (s. Anm. 54), S. 5. 136 Stieler, Zeitungs (s. Anm. 54), S. 44.

91 Die um 1685 entstandene, aber nicht zum Druck gelangte Dichtkunst des Spaten dürfte ihre Wirkung hauptsächlich über die berufsständisch orientier- ten Briefsteller entfaltet haben, in denen Stieler den Zusammenhang von Poesie und Rhetorik wiederholt betont und von einem „vollkommene[n], rechtschaffene[n] Secretarius“ fordert, er müsse „auch ein geschickter Red- ner“ und in der „teutsche[n] […] Dichtkunst“137 erfahrener Poet sein. Abwei- chend „von der gesamten durch das Buch von der Deutschen Poeterey begrün- deten poetologischen Tradition“138 präsentiert seine Poetik den Stoff in gebundener Rede und stellt damit unter den barocken Dichtungslehren eine Ausnahme dar. Der performativ „in gelungenen deutschen Versen vom Ge- 139 lingen deutscher Verse“ sprechende Text handelt in 5 704 paargereimten Alexandrinern Fragen der Metrik und des Reims, das Wesen der Dichtung und des Dichters, die geläufigen literarischen Gattungen sowie die vorbildhaften antiken und neuzeitlichen Autoren ab. Mit Blick auf die ‚germanistische‘ Struktur des Stielerschen Werkes bildet die dichtungstheoretische Vorstellungen und literarhistorische Urteile bündelnde Verspoetik ein wichtiges Bindeglied zwischen der poetischen Produktion des „Spaten“ und seinen in sprachkultivie- render Absicht konzipierten Schriften zur Rhetorik, Stilistik, Epistolographie, Lexikographie und Medienkunde.

4. Vermittlungsformen der Spracharbeit bei Kaspar Stieler

Mündliche Darbietung und schriftliche Fixierung von Theorie und Anwen- dungsprinzipien der deutschen Sprache stehen bei Stieler in einem engen Wechselverhältnis. Sprachvermittelndes Handeln mündete nicht selten in publi- zistische Aktivitäten und vice versa. Gingen der Niederschrift und Druckle- gung der epistolographischen, rhetorischen und lexikographischen Lehrwerke einerseits in vielen Fällen Vorträge über die in ihnen behandelten Gegenstände voraus, so war der „Spate“ andererseits darum bemüht, das in den Hand- büchern niedergelegte Wissen durch praxisorientierte Lektionen einem weiten Kreis von Interessierten zugänglich zu machen. Richtet man die Aufmerksam- keit auf den von Stieler erteilten Sprachunterricht, dann lassen sich vier nach Wirkungsraum, Zuhörerschaft, Programm und Vorgehensweise zu unterschei- dende Formen der Lehrtätigkeit erfassen.

137 Stieler, Sekretariat=Kunst (s. Anm. 76), Tl. 1, S. 9, 156. 138 Nicola Kaminski: Poetologische Standortbestimmung Teutschland 1685: Die Dichtkunst des Spaten. In: Ludscheidt, Studien (s. Anm. 16), S. 127–147, hier S. 128. 139 Kaminski (s. Anm. 138), S. 131.

92 Erste Erfahrungen in der Vermittlung von philologischem, rhetorischem und vermutlich auch theologischem Wissen konnte Stieler als Informator der Söhne des „Königl. Pohlnischen Ober=Jäger=Meister von Müllheim“140 (den Joachim Friedrich Feller einen „Polnischen Woywoden“141 nennt) auf dessen Rittergut Puschkeiten in der Nähe von Königsberg sammeln, wo er in den Jahren von 1651 bis 1653 angestellt war. Über den mit großer Wahrscheinlichkeit noch die lateinische Sprache präferierenden Unterrichtsstoff und die Lehrmethode geben die Quellen im einzelnen keinen Aufschluss. Ob die zur Auflösung des Dienstverhältnisses führenden „Verdrießlichkeiten“,142 von denen Motsch- mann in seinem biographischen Abriss berichtet, mit Stielers Unterweisungsstil in Zusammenhang standen oder andere Ursachen hatten, lässt sich aufgrund fehlender Dokumente gleichfalls nicht beantworten. Festzuhalten ist, dass die im privaten Raum eines landadligen Hauses angesiedelten Elementarlektionen für jüngere Zöglinge dem angehenden Pädagogen in erster Linie zur Erprobung seiner methodisch-didaktischen Fähigkeiten gedient haben dürften und natur- gemäß noch ohne öffentliche Ausstrahlung blieben. Diese stellte sich ein Jahrzehnt später während der Tätigkeit am Ru- dolstädter Hof ein, wo Stieler ab 1662 „in das vierte Jahr / als Kammer=Secre- tarius“143 diente. In der schwarzburgischen Residenz fand er ein kulturell interessiertes und den neuesten literarischen Entwicklungen gegenüber aufge- schlossenes Umfeld vor, das seinen sprachdidaktischen Ambitionen wohlwol- lend begegnete. Der gräflich-schwarzburgische Hof hatte sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu einem Zentrum deutschsprachiger Literaturpflege entwi- ckelt.144 Wesentlich mitgeprägt wurde die Atmosphäre durch die nach dem Vorbild der Fruchtbringenden Gesellschaft von adligen Damen gestiftete Tu- gendliche Gesellschaft145 und das Wirken des publizistisch ungemein fruchtba- ren Hof- und Justizrats Ahasverus Fritsch (1629–1701),146 der 1676 die auch literarische Interessen verfolgende „Neue geistlich-fruchtbringende Jesus- Gesellschaft“147 ins Leben rief. In diesen Kontext lassen sich dank der erhalte-

140 Motschmann (s. Anm. 1), S. 102. 141 Feller (s. Anm. 96), unpag. 142 Motschmann (s. Anm. 1), S. 102. 143 Stieler, Advokat (s. Anm. 95), S. 344. 144 Roswitha Jacobsen: Die Blütezeit der Residenzkultur im 17. und 18. Jahrhundert. In:

Scheurmann / Frank (s. Anm. 68), Bd. 3: Essays, S. 52–64, hier S. 61. 145 Klaus Conermann: Die Tugendliche Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Fruchtbringenden Gesellschaft. Sittenzucht, Gesellschaftsidee und Akademiegedanke zwischen Renaissance und Aufklärung. In: Daphnis 17 (1988), S. 513–626. 146 Detlef Ignasiak: Hoher Staatsbeamter und kritischer Schriftsteller: Der Lebensweg des Rudolstädter Kanzlers Ahasverus Fritsch. In: Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen John. Weimar/Köln/Wien 1994, S. 139–159. 147 Ernst Koch: Die „Neue geistlich-fruchtbringende Jesus-Gesellschaft“ in Rudolstadt. In: Pietismus und Neuzeit 31 (2005), S. 21–59.

93 nen Bestallungsakte und verstreuter Bemerkungen in seinen Schriften Stielers sprach- und literaturvermittelnde Bemühungen andeutungsweise einzeichnen. Aussagekräftigstes Dokument für die Einschätzung seiner Rudolstädter Aktivitäten ist die Bestallungsurkunde, in der die Aufgaben und Pflichten des Kammersekretärs Kaspar Stieler ausführlich beschrieben werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hier jene Passagen, in denen der gräfliche Beamte über den Rahmen der gewöhnlichen Dienstobliegenheiten hinaus zu quasi beruflicher Beschäftigung mit Sprache und Literatur, dem Buchwesen sowie den seinerzeit modernsten Kommunikationsmedien angehalten wird.148 Dem- nach übertrug ihm der regierende Graf Albert Anton (1641–1710) nicht nur die Aufsicht über seine Privat- (oder die Kanzleibibliothek),149 indem er ihn anwies, „Unsere ietzige v künftige Bücher, manuscripta, LandtCarten v. der- gleichen besage eines richtig außzugefertig[enden] Verzeichnüßes fleißig zu- beöbachten“,150 sondern beauftragte ihn auch, die „wöchentlich einlauffende advisen oder Gazetten vf begehren an sich zunehmen v. sie vns so balden fürzulegen, oder vff begehren an der taffel oder sonst zulesen“,151 unter den höheren Beamten in Umlauf zu bringen, ihnen „nach beschehener durchse- hung wieder abzufordern“152 und anschließend zu archivieren. Hervorhebenswert ist jedoch vor allem, dass Stieler auch die rhetorische Ausbildung der jungen Adligen am Rudolstädter Hof anvertraut wurde. Die Einbindung dieser Disziplin in das Spektrum ihrer Unterrichtsfächer verweist auf die dem mündlich und schriftlich korrekten Gebrauch (nicht nur) der Muttersprache beigemessene Bedeutung für die Verfeinerung und Vervoll- kommnung der adligen Umgangsformen in der Frühneuzeit. In diesem Sinn verlangt das Reglement von Stieler, die

148 Vgl. dazu Zeman, Versuch (s. Anm. 16), S. 56 f. 149 Welche der vor 1735 auf dem Schloss Heidecksburg existierenden Bibliotheken gemeint ist, gibt das Anstellungsdekret nicht eindeutig zu erkennen. Zur Bibliotheksgeschichte vgl. Frank-Joachim Stewing: Von der Hofkirchen-, Hof- und Kanzleibibliothek zur Fürstlich öffentlichen Bibliothek. Die gräflichen bzw. fürstlichen Sammlungen auf der Heidecksburg bis 1804/1805 unter Berücksichtigung der Gymnasial- und der Kirchenbibliothek. In: Historische Bibliotheken in Rudolstadt. Hrsg. vom Thüringer Landesmuseum Heidecks-

burg Rudolstadt u. a. Rudolstadt 1999, S. 25–77, für die Zeit Stielers insbesondere S. 25– 34 (Beiträge zur Schwarzburgischen Kunst- und Kulturgeschichte 7). Stielers Tätigkeit als Bibliothekar findet in dem Aufsatz keine Erwähnung. 150 ThStA Rudolstadt, Geheimes Ratskollegium Rudolstadt Nr. 2478: Bestellung Caspar Stielers zu einen Cammer-Secretarium, fol. 5r–8v, hier fol. 6v (§ 13). 151 ThStA Rudolstadt, Geheimes Ratskollegium (s. Anm. 150), fol. 7r (§ 14). Darauf bezieht sich Stielers verallgemeinernde Bemerkung in Zeitungs Lust und Nutz (s. Anm. 54), S. 74,

wonach „bey Hofe täglich / […] auch unter der Malzeit / vor Fürstl. Tafeln eine [!] Sekreta-

rius / Page / Cammerdiener / die einkommende Novellen lesen muß“. 152 ThStA Rudolstadt, Geheimes Ratskollegium (s. Anm. 150), fol. 7r (§ 14).

94 […] pagen ohne deren entgelt mitt Brief=schreiben vndt Stylisiren, so wohl mitt vfsetz = vndt vorbringung zierlicher Reden in teütscher auch in frantzös: oder anderen sprache, moglichen fleißes [zu] vnterrichten, vndt darzu gewiße vnß vndt ihnen gelegene stunden [zu] bestimmen.153

Am Rudolstädter Hof bot sich Stieler somit erstmals die Gelegenheit, einem größeren Auditorium in umfassender Weise die Prinzipien seiner Sprachbe- trachtung und -vermittlung nahezubringen, wobei an seine pädagogischen Fähigkeiten vermutlich deutlich höhere Anforderungen gestellt waren als in den vorherigen Privatlektionen in der preußischen Provinz. Die Methodik der Pagenunterweisung dürfte sich an den Unterrichtsformen in den Akademi- schen Gymnasien und Ritterakademien154 orientiert haben. Durch seine biblio- thekarische Tätigkeit gewann er zudem Einfluss auf die literarische Ge- schmacksbildung des Hofes, da bei der Auswahl der anzuschaffenden Bücher ohne Zweifel sein Rat eingeholt wurde. Und obendrein konnte Stieler seine spracherzieherischen und literaturfördernden Intentionen über den Kreis der ihm anbefohlenen adligen Kavaliere hinaus bekannt machen, indem die zu festlichen Anlässen in der gräflichen Familie geschaffenen Bühnenstücke, die sogenannten Rudolstädter Festspiele (s. o.), nicht nur den Nachweis der in- haltlich-formalen Beherrschung der dramatischen Gattungen, sondern auch die Präsentation der sprachkünstlerischen Gestaltungskraft ihres Verfassers und damit zugleich der Literaturfähigkeit des Deutschen vor einem höfischen Publikum erlaubten. Wird die Frage nach Stielers Beitrag zur Etablierung einer wie immer gearteten frühen Universitätsgermanistik erörtert, dann steht im Zentrum des Für und Wider jenes Promemoria, mit dem der frischbestallte Sekretär der ernestinischen Gesamtuniversität Jena155 am 10. September 1679 bei den Visitatoren der Hochschule um die Zulassung von deutschsprachigen Vorlesun-

153 ThStA Rudolstadt, Geheimes Ratskollegium (s. Anm. 150), fol. 7v (§ 17). 154 Norbert Conrads: Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1982 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21). 155 Stieler, Sekretariat=kunst (s. Anm. 52), S. 845–894: Von den UniversitätsSekretarien, hier

S. 845 f.: „Gleichwohl aber hat so ein UniversitätsSekretarius / Actuarius, oder Notarius,

fast einer mehrern Wissenschaft / als alle die andere [Sekretarien] / welche ihr eigen Werk

haben und darbey / wie auch bei ihren Formeln und Schreibart verbleiben / vonnöthen. […]

In Summa: Alles / was von den Sekretarien insgemein in diesem Buch / […] gesaget und

angemerket worden / solches iedes / oder doch das meiste darvon / kommet einem Universi- tätsSekretario zubeobachten zu.“ Vgl. zur Stellung und den Aufgaben des Universitäts-

sekretärs auch Stefan Gerber / Daniela Siebe / Nicole Grochowina: Die Korporation: Verfas- sung, Ämter und Finanzen. In: Die Universität Jena in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Joachim Bauer, Andreas Klinger, Alexander Schmidt und Georg Schmidt. Heidelberg

2008, S. 47–71, hier S. 58 f.

95 gen über deutsche Rhetorik und Stilistik einkam.156 Mit diesem Schreiben liegt ein höchst aufschlussreiches Dokument für die wissenschaftspolitischen Aktivitäten Stielers vor. Ganz abwegig ist hingegen die von Herbert Koch vorgetragene und in der Stielerforschung weitgehend kritiklos übernommene These, wonach mit dem Vorstoß des „Spaten“ in dieser Angelegenheit etwas „für den Unterrichts- betrieb an deutschen Universitäten […] grundlegend Neues“ gefordert oder gar „eingeführt“157 worden sei. Um das nicht Zutreffende dieser Behauptung zu erkennen, genügt ein Blick in Richard Hodermanns 1891 veröffentlichte Unter- suchung über Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache, in der bereits für das frühe 16. Jahrhundert muttersprachliche Lehrveranstaltungen nachgewiesen sind.158 Die bei ihm zusammengetragenen Belege hat Klaus Weimar nochmals ansehnlich vermehrt.159 Selbst wenn man sich nur im 17. Jahrhundert umtut, behaupten der zwischen 1613 und 1652 in Jena auf deutsch lehrende Astronom Heinrich Hoffmann (1576–1652),160 der Theologe Johann Matthäus Meyfart, welcher zu Beginn der 1630er Jahre seinen Erfurter Studenten das „reiche Vermögen vnserer werthen Muttersprach […] zuzeigen“161 sich angelegen sein ließ, oder der Königsberger Mathematikprofessor Albert Linnemann (1603– 1653) mit seinen 1641 in „Unserer Deutschen Mutter=Sprache“ angekündigten Lektionen, auch sie irrtümlich als die ersten ihrer Art apostrophiert,162 noch einen komfortablen Vorsprung gegenüber Stieler. Unbestritten bleibt jedoch, dass dessen Initiative den 1687 von Christian Thomasius (1655–1728) in Leipzig gehaltenen deutschsprachigen Vorlesungen um einige Jahre vorausging.163 Er-

156 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar. Kunst und Wissenschaft: A 5519, fol. 174r–176r. Alle Zitate aus diesem Gesuch werden im folgenden unter Angabe der Blattnummer im Text nachgewiesen. 157 Koch (s. Anm. 13), S. 325. Vgl. die Übernahme der These etwa bei Zeman, Versuch (s. Anm. 16), S. 165: Der Brief beweise „vor allen Dingen, daß Stieler als erster Vorlesungen in deutscher Sprache an einer Universität des deutschsprachigen Raumes gehalten hat“, und Blaha (s. Anm. 16), S. 23: „Stieler könnte […] einer der ersten gewesen sein, die Vorlesungen in deutscher Sprache gehalten haben. Jena war somit wohl die erste Universi- tät, an der Vorlesungen in deutscher Sprache eingeführt wurden.“ 158 Richard Hodermann: Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache um die Wende des

17. Jahrhunderts. Friedrichroda 1891, S. 7 f. 159 Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahr- hunderts. Paderborn 2003, S. 11–38 („Deutsch als Universitätssprache“). 160 Vgl. Geschichte der Universität Jena 1548/58–1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum. Hrsg. von einem Kollektiv […] unter Leitung von Max Steinmetz. 2 Bde. Jena 1958/62, hier Bd. 1, S. 76. 161 Meyfart (s. Anm. 19), Vorrede des Verlegers Friedrich Gruner, [)( VIr–v]. 162 Walter Ziesemer: Erste Vorlesung in deutscher Sprache. In: Muttersprache 52 (1937) 6, Sp. 225–227. 163 Michael Kahlo: Deutsch als Rechtssprache. Überlegungen im Rückblick auf Christian Thomasius’ Ankündigung einer deutschsprachigen Philosophievorlesung in Leipzig. In: Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig. Hrsg. von Mitgliedern der Juristenfakultät. Berlin 2009, S. 27–53.

96 tragreicher indes als die ohnehin obsolete Diskussion darüber, wer als erster die Tradition des lateinsprachigen Universitätsunterrichts in Deutschland durch- brochen hat, dürfte im Blick auf die Bemühungen Stielers eine Analyse der Argumente sein, mit denen er sein Anliegen begründete. Stieler spricht aus der Position dessen heraus, der nicht nur „auf die 30 Jahr [womit er den Beginn seiner Beschäftigung exakt in das Erschei- nungsjahr seines ersten volkssprachlichen Kasualgedichts datiert] dem Grun- de in teutscher Sprache nachgedacht“ (fol. 174v) hat, sondern sich als ein Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft „gleichsam sub juramento“ zu ihrer „Erweiterung“ (fol. 176r) verbunden fühlt. Dass es für die studierende Jugend an der Salana ein deutschsprachiges Lehrangebot über Gegenstände der Muttersprache geben müsse, steht für ihn ebensowenig in Frage wie die Einsicht der herzoglichen Beamten in dessen Notwendigkeit. Den mit wichti- gen Geschäften überhäuften Visitatoren kann deshalb die Erörterung der Frage, „Ob und wie hoch an der Teutschen Sprache, deren rechtschaffener Begreiff= und Beurteilung, auch einem geschicklichen teutschen StatsStylo, so wol im Reden, als Schreiben gelegen?“ (fol. 174r) sei, erspart und sogleich das eigentliche Problem vorgetragen werden. Es besteht darin, dass trotz der allgemein um sich greifenden Erkenntnis, welcher Nutzen „in allen Ständen“ (fol. 174v) daraus erwachse, wenn „die Muttersprache in ihrem Vaterlande öffendlich gelehret“ (fol. 174r–v) werde, wie andernorts auch in Jena „kein Professor […] zur teutschen Oratorie oder Stats Stijlo bestellet“ (fol. 175r) sei. Als Hauptursache hierfür diagnostiziert Stieler die offenkundige Geringschät- zung der deutschen Sprache selbst unter jenen Professoren, die „an Fürstl. Höfen, in den Collegijs, beÿ den Consultationibus geseßen, teutsche Schrei- ben revidiret und concipiret, oder offendliche Reden gehalten und angehöret“ (fol. 174v) haben. Die fortgesetzte Vernachlässigung des Faches könne indes ernste Folgen für die Hochschule nach sich ziehen. Denn erwäge man, wie „viel Studiosi alhier sich aufhalten, welche […] dermaleins ein Notarius, Gerichtsverwalter, Amtschreiber, Canzellist, Registrator, oder zum höchsten ein Secretarius“ (fol. 175v) werden wollten, wofür sie gründlicher Kenntnisse im deutschen Stil bedürften, so müsse das Fehlen eines diese Bedürfnisse befriedigenden Vorlesungsangebots die Anziehungskraft der Alma mater je- nensis auf Dauer empfindlich schmälern. Um dieser Gefahr zu steuern, habe er „bald nach [s]einem Anzuge, auf unterschiedlicher Studiosorum bitte, ein und das andere privat Collegium“ (fol. 175r) zum deutschen Briefstil gehalten, denen sich Vorträge über deutsche Rhetorik hätten anschließen sollen, wenn ihm nicht auf Betreiben der „Frau invidia“ (fol. 175r) die weitere Durchfüh- rung solcher Kolloquien seitens der Universität untersagt worden wäre. Gera- de im Interesse ihres Ansehens aber, das bei unverändertem Lektionskatalog unweigerlich sinken werde, ersuche er die Herren Visitatoren „unterdienstli- chen Fleißes“, dass ihm

97 […] gleich wie die Zeit hero, also noch ferner, verstattet werden möchte, nicht allein in dem exercitio styli epistolaris politici, privatim collegia zuhalten, son- dern auch die Collegia Oratoria Germanica, nebst jenen öffendlich anzuschla- gen, und die 2 wenige tages stunden darzu unbehindert anzuwenden (fol. 175v– 176r).

Ungeachtet der in der neueren Forschung vorherrschenden (und wohl auch berechtigten) Skepsis164 gibt es Indizien für die Annahme, dass die von Stieler beantragten öffentlichen Vorlesungen über rhetorische und stilistische Fragen der deutschen Sprache tatsächlich stattgefunden haben könnten. Vorab spricht dafür die in das abschließende Visitationsdekret eingeflossene Verfügung in dieser Angelegenheit. Dort heißt es:

Es hat […] Secretarius Academiae [d. i. Stieler] in Collegijs Privatis die Jugend, auf den Gebrauch der Teuzschen Sprache, und gewöhnliche art zu reden und zuschreiben, anzuführen umb permißion angehalten, so ihm auch verstattet, iedoch, daß er seines ambts dabey warte, und umb des willen einige versäumniß nicht möge fürgehen laßen.165

Aufgrund dieser Entscheidung war der Prorektor der Universität gehalten, einer Lehrtätigkeit Stielers keine Hindernisse in den Weg zu legen. Ob der „Spate“ über die von ihm vorgeschlagenen Gegenstände dozierte, lässt sich angesichts fehlender Vorlesungsankündigungen aus jener Zeit allerdings nicht eindeutig beantworten.166 Wenn die von Stieler beabsichtigten Kollegien zu- stande kamen, blieben sie eine weitgehend folgenlose Episode. Denn bereits im Januar 1680 quittierte der „Spate“ den Universitätsdienst und übernahm das Amt eines Lehnssekretärs am Weimarer Hof. Wertet man die überraschen- de Neuausrichtung der beruflichen Karriere als Reaktion auf die scheinbar zu seinen Gunsten ausgegangenen Verhandlungen über die Aufnahme öffentli- cher Vorlesungen an der Salana, dann drängt sich letztlich doch der Verdacht auf, dass Stieler trotz der Empfehlungen der Visitationskommission die Abhal- tung regulärer Lektionen verweigert wurde und er die Konsequenzen aus der unerquicklichen Situation zog. Die Sache an sich aber trieb den „Spaten“ weiterhin um. Als er im Jahr seiner Übersiedlung nach Weimar eine umfassend kommentierte Ausgabe von Balthasar Kindermanns (1636–1706) Teutschem Wolredner herausgab, griff er die gegenüber den Jenaer Visitatoren vorgetragene Argumentation wieder auf und verlieh abermals der Auffassung Ausdruck, dass publizistische Aktivitäten

164 Ising (s. Anm. 126), S. 80: „Es ist zweifelhaft, ob dem Gesuch stattgegeben wurde“. 165 Universitätsarchiv Jena. A 48a: Visitationsdekret 1679, § 22, Bl. 16r. 166 Für diesbezügliche freundliche Auskünfte danke ich Herrn Dr. Thomas Pester im Universi- tätsarchiv Jena herzlich.

98 allein nicht ausreichen würden, um dem Deutschen als Literatur- und Wissen- schaftssprache zum Durchbruch zu verhelfen:

Darum / so lange auf hohen Schulen nicht offentliche Lehrer der teutschen

Sprache bestellet / und in den niedrigen Schulen / derselben grundverständige nicht zu Meistern verordnet werden: so lange wird aus der rechtschaffenen ausübung dieser Sprache nichts werden.167

Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Kaspar Stieler, aller Amtsgeschäfte ledig, privatisierend in seiner Geburtsstadt Erfurt, wohin er um 1690 zurückge- kehrt war. Sein Augenmerk galt jetzt ausnahmslos dem wissenschaftlichen Werk, für dessen anhaltende Präsenz und Fortwirkung in die Zukunft er Sorge trug. Stieler widmete sich der Überarbeitung und Neuherausgabe älterer Schrif- ten, brachte seit längerem konzipierte Vorhaben wie das noch mit Schottelius diskutierte Wörterbuch zum Abschluss und nahm neue, zum Teil auf Anregun- gen seiner Verleger zurückgehende schriftstellerische Projekte in Angriff. Außerdem setzte er die seit Jahrzehnten mit wechselndem Erfolg wahrgenom- mene Lehrtätigkeit fort. Das belegt zum einen die Bemerkung in der Vorrede zur 1705 erschienenen dritten Auflage der Sekretariat=Kunst, wonach in „[s]einen

Privat-Collegiis, vermittelst dieses Buchs / brave Leute worden sind / die mir vor die Information täglich dancken / und bekennen / von mir etwas gelernet zu haben“,168 zum anderen berichten die ihm zeitlich nahestehenden Biographen übereinstimmend von diesen Lektionen. Joachim Friedrich Feller erwähnt in dem 1726 verfassten lebensgeschichtlichen Abriss Stielers Erfurter „Collegia Styli und Juridica“169 ebenso wie Just Christoph Motschmann, der in seinem Gelehrtenlexikon darauf hinweist, dass der „Spate“ der „studirenden Jugend [in Erfurt] mit Collegiis, sonderlich im teutschen Stylo“170 gedient habe. Darüber hinaus heben beide Chronisten den Umstand hervor, dass Stieler den Unterricht auch dann noch fortsetzte, als er krankheitshalber das Bett nicht mehr verlassen konnte:171 Ein eindrucksvolleres Zeugnis für das bis ans Lebensende vorbehalt- los im Dienst der deutschen Sprache stehende Wirken des „Spaten“ ist schlechterdings nicht denkbar. Äußerst vage bleiben für diese späteste Periode indes die Angaben zu den Lehrgegenständen, die sehr allgemein mit deutscher Stilistik und Rechtssprache umschrieben werden. Man darf annehmen, dass Stieler den mündlichen Vorträgen, wie er selbst andeutet, den in seinen fachspe-

167 Kindermann (s. Anm. 40), S. 16. 168 Stieler, Sekretariat=kunst (s. Anm. 52), )( )( 3r. 169 Feller (s. Anm. 96), unpag. 170 Motschmann (s. Anm. 1), S. 105. 171 Feller (s. Anm. 96), unpag.: „sechs Jahre auf dem Bette gelegen/ und gleichwohl dociret“; Motschmann (s. Anm. 1), S. 105: „wie er denn selbige [die Kollegien] auch auf dem Bette abgewartet, da er die letzten 6. Jahre seines Lebens vom Lager wenig aufkommen können“.

99 zifischen Handbüchern ausgebreiteten Stoff zugrundelegte und auf die Herbei- ziehung fremder Lehrwerke weitgehend verzichtete. Wer sich im einzelnen unter den als „studirende[ ] Jugend“ bezeichneten Hörern der häuslichen Kollegien befand, lässt sich nur mutmaßen. Der junge Motschmann selbst, vielleicht auch der eine Generation ältere Poet und Dichtungstheoretiker Johann Heinrich Tiemeroth (1669–1758) oder der poeta laureatus caesareus und Professor der Beredsamkeit am Ratsgymnasium Hiob Fidejust Heuser (1679–1740) sowie weitere nach 1700 in Erfurt schriftstellerisch aktive Gelehr- te könnten zu den Teilnehmern der Stielerschen Privatissima gezählt haben.

5. Schlussbetrachtung

In einem jüngst publizierten Sammelband zur Geschichte der Germanistik an der Universität Jena fehlen trotz eines die Vorgeschichte der Disziplin einge- hend thematisierenden Aufsatzes jegliche Hinweise auf Erscheinungsformen des Faches vor dessen Konstitutionsphase im ausgehenden 18. Jahrhundert.172 Folgerichtig findet auch die wissenschaftshistorisch bemerkenswerte, wenn- gleich allem Anschein nach erfolglose Initiative Kaspar Stielers zur Einfüh- rung von deutschsprachigen Rhetorik- und Stilübungen an der ernestinischen Hochschule keine Erwähnung. Sie stellt jedoch ein wesentliches Element der vielfältigen Bemühungen des „Spaten“ um die Ausbildung der Muttersprache zu einem Instrument künstlerischen Gestaltens und wissenschaftlichen Erken- nens dar und sollte als ein ernsthafter Versuch gewürdigt werden, ,Deutsche Philologie‘ als eigenständiges, von seiner propädeutischen Funktion für Theo- logie und Jurisprudenz entbundenes Fach in die Artistenfakultät zu integrie- ren.173 Dem wird sich freilich entgegenhalten lassen, dass das Stielersche Projekt kaum schon als eine Frühform der Universitätsgermanistik, sondern allenfalls als Vorstufe zur Institutionalisierung der Disziplin angesehen wer- den kann. Zu fragen wäre dennoch, ob die Anfänge der Jenaer Germanistik nicht bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen.

172 Hans-Peter Nowitzki: Anfang oder Ende einer „Vorgeschichte“? Zur Grundlegung der Jenaer Germanistik durch Christian Gottfried Schütz und Karl Leonhard Reinhold. In: „… und was hat es für Kämpfe gegeben.“ Studien zur Geschichte der Germanistik an der Universität Jena. Hrsg. von Reinhard Hahn und Angelika Pöthe. Heidelberg 2010, S. 3–31

(Jenaer Germanistische Forschungen N. F. 29). 173 Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der

philologischen Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1990, S. 159–243. Schlaffer unterstreicht, dass der „Aufstieg der neuzeitlichen Philologien nicht ohne ihre Etablierung an den Universitä-

ten denkbar“ ist (S. 170). Vgl. dazu auch Kai Bremer / Uwe Wirth: Die philologische Frage. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Theoriegeschichte der Philologie. In: Texte zur modernen Philologie. Hrsg. von Kai Bremer und Uwe Wirth. Stuttgart 2010, S. 7–48.

100 Auf dem Hintergrund der in der neueren Forschung allgemein verbreite- ten Auffassung, dass die Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur an der Wende zum 16. Jahrhundert einsetzt und die noch nicht ausdifferen- zierte, philologisches, poetologisches, literarhistorisches und linguistisches Wissen einschließende und sich in wissenschaftlicher wie künstlerischer Tätig- keit gleichermaßen äußernde frühneuzeitliche Sprachgelehrsamkeit das Fun- dament für die um 1800 hervortretende Fachdisziplin bildet,174 wäre eine solche Sichtweise durchaus zu vertreten. Sie plädiert mit Dieter Cherubim dafür, die „Wissenschaftsgeschichte des Faches auch als Geschichte von Prozessen der unterschiedlichen Konzeptualisierung ihres Gegenstandes und von deren jeweils wirksamen historisch-sozialen Bedingungen“ zu begreifen und nicht auf das „Kriterium der Institutionalisierung oder des disziplinären Status“175 zu reduzieren. In dieser Perspektive gehört Kaspar Stieler, der „praxisbezogene deutsche Sprachmeister“,176 fraglos zu den Gründergestalten des Faches, für dessen Herausbildung und Profilierung sein universell ange- legtes Werk insofern bedeutende Voraussetzungen schafft, als es normierende und kodifizierende Sprachlehre, Rhetorik und Medientheorie, Philologie, Poe- tik, Dichtung und Literaturgeschichte zusammenführt und so die Konturen

174 Holger Dainat / Rainer Kolk: „Geselliges Arbeiten“. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie. In: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1987 (DVjs 61, Sonderbd.), S. 7–41, vor allem S. 7–12. Jürgen Fohrmann: Einleitung: Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft. In: Wissenschaftsgeschichte der Germa-

nistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart / Weimar 1994, S. 1–14, hier S. 1: „Eine Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur gewinnt Konturen seit dem Humanismus. Seit der Wiederentdeckung der Taciteischen Germania um 1500 und seit ihrer Ummünzung für patriotische Ziele durch Celtis, Wimpfe-

ling, Aventinus, Beatus Rhenanus u. a. entsteht ein Diskurs, der es ermöglicht, auch die Bedeutung deutscher Poesie zu bestimmen. Sie erscheint als Teil einer großen, gemeinsa- men Anstrengung. Diese Anstrengung ist die erste Stufe ‚germanistischer‘ Wissenschaft. […] Zwischen Poesie, Grammatik, Namenforschung oder Rechtsaltertümern wird im Rah- men des gemeinsamen Wertnachweises kein Unterschied gemacht“. 175 Dieter Cherubim: „Deutsche Philologie“ im 18. Jahrhundert: Sprachtheorie, Sprachkritik, Sprachgeschichte. Am Beispiel der Universität Göttingen. In: Philologie in Göttingen. Sprach- und Literaturwissenschaft an der Georgia Augusta im 18. und beginnenden 19.

Jahrhundert. Hrsg. von Reinhard Lauer. Göttingen 2001, S. 25–56, hier S. 26 f. (Göttinger

Universitätsschriften. Serie A: Schriften, 18). Vgl. auch Dainat / Kolk (s. Anm. 174), S. 7: „Erst in einem komplexen Prozeß von einiger Dauer und im Zusammenhang mit der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung bildet sich jene Kommunikationsgemeinschaft von Spezialisten, die auf gemeinsame Problemstellungen und Gegenstandsbereiche verpflichtet sind. Die Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur macht da keine Ausnahme, wenngleich sie ihren Platz im disziplinären Gefüge der Wissenschaft erreichen muß, ohne sich auf eine akademische Tradition stützen zu können.“ Vgl. auch die Einführung in das Rahmenthema von Rudolf Bentzinger in diesem Band. 176 Polenz (s. Anm. 126), S. 377.

101 einer im 17. Jahrhundert als Philologia Germanica177 bezeichneten Disziplin aufscheinen lässt, für die sich künftighin der Begriff Germanistik178 ein- bürgern sollte.

177 Georg Philipp Harsdörffer: Specimen Philologiae Germanicae, continens Disquisitiones XII. De Linguae nostrae vernaculae Historia, Methodo, & Dignitate. […] Nürnberg 1646. Vgl. dazu auch Rudolf von Raumer: Geschichte der germanischen Philologie vorzugsweise in Deutschland. München 1870. Gegenstand der Darstellung ist das, „was die Deutschen für die Erforschung germanischer Sprachen und Literaturen geleistet haben“ (S. 1).

178 Uwe Meves: Zur Namengebung „Germanistik“. In: Fohrmann / Voßkamp (s. Anm. 174), S. 25–47.

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