Editorial - Die unterschätzte Stadt tief im Osten

In St.Gallen ist die HSG zu Hause. Höchste Zeit, unserer schmucken Kantonshauptstadt ein Dossier zu widmen.

Die Bratwurst. Dass Ihnen dies in den Sinn kommt, wenn Sie an St.Gallen denken, war ja klar. Und das ist auch gut so. Denn, wenn es um die Wurst bzw. um den Senf dazu geht, verstehen wir Ostschweizer keinen Spass, wie Sie dem Dossier-Beitrag von Ralph Weibel entnehmen können.

Wir sind mächtig stolz auf unser Leibgericht, doch 165 Gramm Kalbsbratwurst sind nicht alles, was wir hier im Osten zu bieten haben. Zugegeben, wir sind auf den ersten Blick etwas brötig, mehr Realisten als Träumer und bezüglich Selbstvermarktung sollten wir mal einen Kurs an der HSG besuchen. Aber wir befinden uns nicht mehr «in einer kollektiven Depression nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie», wie es Kuno Schedler im Video zu seiner Heimatstadt treffend beschreibt. Auch wenn wir vom Rest der Schweiz allenthalben unterschätzt werden: Wir sind sparsam, effizient, pragmatisch, kreativ, innovativ und «definitiv kein Quartier von Zürich», um unseren Stadtpräsidenten zu zitieren.

Doch machen Sie sich bei der Lektüre selbst ein Bild, warum St.Gallen noch mehr als Stiftsbibliothek und Olma ist und was wir zum Beispiel in Wirtschaft, Politik und Kultur zu bieten haben. Und dann sehen Sie uns sicherlich – wenn Sie nicht schon überzeugte Sangallerin sind – mit etwas anderen Augen, wenn Sie das nächste mal herzhaft in eine richtige Bratwurst beissen und dazu ein «Schüga»-Bier trinken…

Mit dieser Ausgabe freuen wir uns, eine engere redaktionelle Zusammenarbeit mit HSG Alumni vorstellen zu können. Das Dossier-Thema von HSG Focus wird künftig auch in Auszügen im «alma», dem Alumni-Magazin mit einer Auflage von 23‘000 Exemplaren, aufgenommen. Im Gegenzug ist HSG Alumni neu mit einer eigenen Rubrik in HSG Focus vertreten – ganz im Sinne von «eine Bindung fürs Leben».

Und wir können eine weitere Neuerung ankündigen: Ab sofort ist neben der Tablet- und Smartphone-Version auch eine Web-App-Version erhältlich, für alle jene, die HSG Focus am PC lesen möchten. Zugänglich ist diese Version unter magazin.hsgfocus.ch

Und nicht vergessen: Machen Sie an unserem Wettbewerb mit und gewinnen Sie HSG-Shop-Gutscheine! Und nun viel Vergnügen bei der Lektüre.

Marius Hasenböhler

Die nächste Ausgabe von HSG Focus erscheint Anfang Dezember 2014.

Ein Stadtrundgang mit Kuno Schedler

Video

Kuno Schedler über Lieblingsorte und die kulturelle Vielfalt seiner Heimatstadt St.Gallen. Was zeichnet die Ostschweizer Metropole heute aus? Und was verbindet den «Ausbrecherkönig Walter Stürm» mit der «Metro» von St.Gallen?

Video: Universität St.Gallen (HSG)

Kuno Schedler ist Professor für Betriebswirtschaft an der Universität St.Gallen mit besonderer Berücksichtigung des Public Management.

Beitrag: Markus Zinsmaier. Kamera: Thomas Karrer.

Wurst und Brot

Die Kalbsbratwurst vereinigt alle Attribute, die uns Ostschweizer und Ostschweizerinnen auszeichnen: schlicht und bleich, und erst wenn uns ordentlich eingeheizt wird, sind wir überhaupt geniessbar. Von Ralph Weibel

Zeichnung: Corinne Bromundt

Als St.Galler wird einem die Wurst in die Wiege gelegt. Ich habe von St.Galler Eltern gehört, die ihren Kindern keine Nuggi in den Mund stecken, wenn sie schreien, sondern einen Wurstzipfel. Während in Bern oder Basel Kinder mit Barbies spielen, spielen St.Galler Kinder mit Bratwürsten. Was dem Walliser das Raclette ist, oder dem Tessiner der Merlot, ist dem St.Galler die Kalbsbratwurst. Sie vereinigt alle Attribute, die uns Ostschweizer auszeichnen: schlicht und bleich, und erst wenn uns ordentlich eingeheizt wird, sind wir überhaupt geniessbar.

Schon etwas verrückt, nicht? Unser ganzer Stolz besteht aus frischem Kalbfleisch, Bratstücken, Voressen, Schulter, Brust, Hals und Halsspeck. Dazu Magermilch, Kochsalz, Milcheiweiss, Pfeffer, Muskatblüten und eine kleine Prise Phosphat. Falls Sie jetzt nicht wissen, was Phosphat ist, ich kann Sie beruhigen, ich musste es auch auf Wikipedia nachschauen. Phosphate sind die Salze und Ester der Ortho-Phosphorsäure. Das Anion PO4 hoch 3 sowie seine Kondensate und Phosphorsäure-Ester werden Phosphate genannt. Phosphor liegt bei all diesen Verbindungen in der Oxidationsstufe vor. Ich erwähne das nur, falls sie sich selbst eine Bratwurst basteln wollen. Das Ganze wird zu Brät zerkleinert und in einen Naturdarm gefüllt. Naja, beim Gedanke daran könnte einem schon fast der Appetit vergehen. Entgegen anderslautenden Gerüchten hat es in einer echten St.Galler Bratwurst übrigens kein Schweinefleisch. Sie wird nur in einen solchen Darm gepresst. Denken Sie beim Essen einfach nicht daran.

Stellen Sie einen Grill auf

Aber zurück zu unserem ganzen Stolz, der doch manchmal komische Blüten treibt. Wir St.Galler huldigen derart unseren Bratwürsten, dass beispielsweise Erika Forster, als sie zur Ständeratspräsidentin gewählt wurde, in ihrer Rede an die St.Galler Bevölkerung von fast nichts anderem sprach. Im Anschluss gab es natürlich keinen Apéro riche, sondern Bratwürste. Wie es eigentlich zu jeder Gelegenheit Bratwürste gibt. Neulich geriet ich unbeabsichtigt in die Neueröffnung einer Landi-Filiale. Dutzende von Menschen waren da. Und was taten sie? Sie trieben sich nicht etwa bei den Heckenscheren oder den Gummistiefeln rum, nein! Sie standen in einer Schlange und warteten, bis sie an der Reihe waren, um sich zu einem Schnäppchenpreis frisch gegrillte Bratwürste zu kaufen. Nicht eine, nicht zwei, nein ganze Körbe voll, um damit ihre Familie zu ernähren. In der Ostschweiz gibt es keine bessere Aktion um Leute anzulocken, als Bratwürste. Vergessen Sie eine Miss irgendwas als Attraktion, die zur Einweihung von 50 neuen Fahrradständern abgemagert – weil sie zu wenig Bratwürste isst – und grinsend Autogramme verteilt. Auch ein abgehalfterter Zirkusclown, der Ballons zu Giraffen dreht, um die Gäste ihrer Frühjahrs-Autoshow zu unterhalten oder ihr neues Kosmetikstudio zu eröffnen langweilt. Wollen sie St.Galler anlocken, stellen Sie einen Grill auf.

«Da cha nur än Zürcher si!»

Das finden Sie vielleicht etwas eindimensional, aber so sind wir nun mal. Genau so einsilbig sind wir, wenn wir bei einem Auswärtsspiel des FC St.Gallen auf dem Letzigrund von anderen St.Gallern in einer Warteschlange vor dem Imbiss erkannt werden. «Läck, Du wöttsch nöd öppä z’Züri ä Brodwurscht fresse?», wird der andere St.Galler mit jeder Garantie angeekelt entsetzt fragen. Genauso sicher können Sie sich sein, dass 1000 Stimmen im Chor schreien: «Ä Sanggallär Brodwurscht isst mä ohni Senf!», wenn ein Zürcher an der OLMA, dem alljährlichen, landwirtschaftlichen Botteleon, nach Senf fragt. In den folgenden paar Minuten drehen sich die Gespräche nur noch um ein Thema. Es bilden sich Menschengruppen, St.Galler Menschengruppen, und die Luft füllt sich mit Sprachfetzen wie: «Da glaubsch nöd, vor mir hät eine Senf bestellt!» oder «Da cha nur än Zürcher si!» Garantiert findet sich einer, der sich direkt an den Zürcher wendet und ihm erklärt, eine St.Galler Bratwurst mit Senf zu essen sei so verwerflich wie auf einem Kinderspielplatz zu rauchen.

Manchmal ist mir das Getue um die St.Galler Bratwurst richtig peinlich. So peinlich, dass ich mir vornehme, nie wieder eine St.Galler Bratwurst zu essen. Das hält an, bis ich am nächsten Bratwurststand vorbeikomme, wo ich mich, wie von einer unsichtbaren Macht geleitet, automatisch in die Reihe stelle und einsehen muss: Alles hat ein Ende – nur die St.Galler Bratwurst nicht.

Ralph Weibel ist in St.Gallen geboren (1968), wo er seit 46 Jahren lebt und arbeitet. Seit sieben Jahren leitet er die Redaktion von Radio FM1. Davor gehörte er zwölf Jahre der Sportredaktion des St.Galler Tagblatts an. Neben seiner Tätigkeit als Journalist tritt Weibel seit einigen Jahren auf Slam- und Lese-Bühnen auf. Er hat bisher vier Bücher veröffentlicht. Wobei die drei ersten (Aus- und Einsichten/2008, Irrwege/2009, Wurst und Brot/2010) vergriffen sind. 2012 erschien «Toiletten Lektüre», welches in einer zweiten Auflage vorliegt.

«Wir sind kein Quartier von Zürich»

Warum St.Galler mehr Realisten als Träumer sind, die Ostschweiz ein starkes Zentrum braucht und die Stadt schon bald zum Innovations-Mekka der Schweiz werden könnte – ein Gespräch mit Stadtpräsident Thomas Scheitlin.

Thomas Scheitlin: «Wir St.Galler sind Bild: Hannes Realisten.» Thalmann

Herr Scheitlin, wenn Sie als Stadtpräsident einen Werbespot machen müssten: Mit welchen drei Begriffen würden Sie St.Gallen anpreisen? Thomas Scheitlin: St.Gallen ist mit der Universität, der Empa, der Fachhochschule und der Pädagogischen Hochschule eine innovative Bildungs- und Forschungsstadt. Sie ist ein attraktiver Wirtschaftsstandort mit einer breiten Basis an Unternehmen und Hauptsitzen wie Helvetia, Raiffeisen oder der St.Galler Kantonalbank. Und sie bietet eine hohe Lebensqualität mit Naherholung rund um die Stadt, am Bodensee oder im Appenzellerland.

Wenn Sie drei Lieblingsorte in St.Gallen benennen müssten, welche wären dies? Scheitlin: Zum einen ist dies der rote Platz von Pipilotti Rist, denn er ist Ausdruck von Innovation und Kreativität. Zum anderen gefällt mir die Lokremise, die Modernität und Tradition sowie Urbanität abbildet. Und als drittes sind es für mich die Drei Weieren, die die Lebensqualität der Stadt verkörpern. Und das Zusammenspiel aller drei macht St.Gallen für mich komplett.

In welchen Bereichen ist St.Gallen noch nicht so weit, wie Sie sich das wünschen würden? Scheitlin: Zum einen wird der Mehrwert einer starken Hauptstadt, in die es sich zu investieren lohnt, sowohl regional als auch kantonal noch zu wenig erkannt. Zum anderen werden wir noch zu wenig als Stadt, die inspiriert, innovativ und kreativ ist wahrgenommen. Dies zeigt beispielsweise ein Vergleich zwischen St.Gallen und der polnischen Stadt Lublin. Der einzige Punkt, in welchem wir in der Wahrnehmung der eigenen Bevölkerung schlechter abgeschnitten haben, war das Thema «inspirierende Stadt.»

Sind die St.Galler zu wenig inspirierend oder verkaufen sie sich einfach zu schlecht? Scheitlin: Wir St.Galler sind Realisten. Wir sind Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Und bis wir das Gefühl haben, etwas sei inspirierend, da braucht es ziemlich viel. Es gilt deshalb den kreativen «St.Galler Spirit» den Menschen noch bewusster zu machen. Die Wurzeln zur Kreativität sind vorhanden, waren und sind wir doch eine Textilstadt von Weltruf, oder gehören wir doch zu den besten Schweizer Städten was den Anteil an Arbeitsplätzen im Bereich der «Information and Communication Technology» (ICT) anbelangt.

Die Sparpakete des Kantons St.Gallen haben auch auf die städtischen Finanzen gedrückt. Für 2014 wird mit einem Defizit gerechnet. Sehen Sie für 2015 einen Silberstreifen am Horizont? Scheitlin: Leider kann ich für dieses und nächstes Jahr keine Entwarnung geben. Insbesondere die kantonalen Sparpakete schlagen in 2015 voll zu Buche. Unsere für diese Zwecke gebildeten Reserven von 20 Millionen haben wir mit dem Budget 2014 aufgebraucht. Zudem haben wir einen hohen Investitionsbedarf und die Erträge sind in den vergangenen Jahren nicht markant gewachsen. Da sich aus alledem ein strukturelles Defizit entwickelt hat, hat der Stadtrat das Entlastungsprogramm «Fit 13plus» lanciert und nun auch «Futura», das mehr strukturelle Wirkung entfalten soll, damit wir künftig wieder eine ausgeglichene Rechnung vorweisen können. Immerhin haben wir noch eine gute Eigenkapitalbasis von 83 Millionen Franken, aber diesen Puffer möchten wir beibehalten. Von Silberstreifen ist also nicht die Rede. Wenn jedoch alles greift, sollten wir mittelfristig wieder so abschliessen können, dass wir die Investitionen wieder zu 100 Prozent finanzieren können. Ich bin optimistisch, dass wir dies erreichen.

Wäre denn eine Wachstumschance eine Metropolitanregion, wie sie die St.Galler Ständeräte fordern? Scheitlin: Ich sehe es als grosse Chance für künftige Investitionen, wenn wir uns als Metropolitanraum St.Gallen- Bodensee mit der Stadt St.Gallen als Zentrum etablieren könnten. Dann würde vielleicht auch ausserhalb mal wahrgenommen, dass bei uns für Büroräume im Vergleich zu Zürich vernünftige Preise bezahlt werden oder wie moderat bei uns die Lebenshaltungskosten sind. Und dass wir gut vernetzt sind: in 20 Minuten sind wir am Flughafen Altenrhein, in einer Stunde am Flughafen Zürich und dank dem Hochgeschwindigkeitsnetz künftig in zwei bis drei Stunden in München.

Wären denn Gemeindefusionen oder Eingemeindungen von finanziell attraktiven Gemeinden als Vorwärtsstrategie denkbar? Oder will sich hier die Stadtregierung nicht die Finger verbrennen, wenn sie an die jüngste Grundsatzabstimmung am st.gallischen Bodenseeufer denkt? Scheitlin: Gemäss der Vision des Stadtrats soll St.Gallen das starke Zentrum innerhalb einer vereinigten Stadtregion sein. Wir haben doch längstens einen funktionalen Raum: man lebt beispielsweise in Appenzell, arbeitet in der Stadt und erholt sich am Bodensee. Im Alltag kümmert sich doch kein Mensch um politische Grenzen. Politische Grenzen sind für Politiker oder werden zum Thema, wenn es heisst, zu einem grösseren Raum Farbe zu bekennen. Dann denken leider wieder viele sehr kleinräumig. Ich bin jedoch fest davon überzeugt: Wenn wir für alle mehr erreichen wollen, dann müssen wir grossräumiger denken. Aber dafür braucht es wohl eine neue Generation. Denn dies ist ein langer Prozess, der nicht im Kopf, sondern im Bauch stattfindet. Im Kopf würde ein solcher nur ablaufen, wenn wir finanziell in einer solchen Not wären, dass wir die Probleme nur noch gemeinsam stemmen könnten. Aber diese Notwendigkeit besteht trotz Sparpaketen derzeit noch nicht. Wir als Stadt würden sehr gerne die anstehenden Themen gemeinsam angehen. Die umliegenden Gemeinden haben jedoch wenig Interesse daran, vor allem aufgrund des höheren städtischen Steuerfusses. Ich glaube jedoch, dass uns die demografische Entwicklung zwingen wird, näher zusammenzurücken, weil politische Gremien oder Verwaltungsstellen nicht mehr besetzt werden können, da die Komplexität weiter zunehmen und immer mehr Professionalität erwartet werden wird. Wenn wir eine vereinigte Stadtregion bilden würden, würden wir effizienter werden, könnten Geld sparen und den Steuerfuss zwar nicht gerade der steuergünstigsten Gemeinde angleichen, aber doch für die meisten Gemeinden senken.

Bezüglich Hotellerie-Entwicklung und Kongressstandort scheint St.Gallen nicht vom Fleck zu kommen. Neubauprojekte werden verzögert oder gar beerdigt, wichtige Kongresse verlassen die Stadt. Wie schafft St.Gallen hier eine Trendwende? Scheitlin: Das Kongresswesen ist für St.Gallen ein wichtiger Wertschöpfungsfaktor. Die unterschiedlichen Positionen bezüglich Hotelbetten und Verluste von Kongressen haben dazu geführt, dass wir ein gemeinsames Projekt mit allen Beteiligten, wie Hotels, Verkehrsbetriebe, St.Gallen Bodensee-Tourismus, Spitäler, Olma, Stadt und HSG aufgegleist haben, damit wieder alle am gleichen Strick ziehen. Wir möchten nun einen gemeinsamen Prozess entwickeln. Andere Standorte haben in den vergangenen Jahren damit begonnen, Kongresse mit staatlichen Mitteln zu subventionieren. Wir haben uns hier bisher zurückgehalten, weil für uns Kongresse selbsttragend sein sollten. Es kann nicht sein, dass der Staat private Kongresse finanziert. Ich hoffe, dass wir mit diesem Projekt wieder eine Sprache sprechen und auch gemeinsame Erfolgstreiber entwickeln können. Ziel ist es, dass wir bis Ende Jahr eine Marschrichtung haben. Als HSG-Alumnus und Universitätsrat sind Sie auch für die Universität St.Gallen engagiert. Welchen Wert hat die HSG aus Ihrer Sicht für den Bildungsstandort St.Gallen und in welchen Bereichen müsste sie sich noch verbessern? Scheitlin: Die HSG ist für den Bildungs- und Wirtschaftsstandort ein wesentlicher Erfolgsfaktor: Gegen aussen als Top-Universität in Europa, gegen innen als ein bedeutender Wirtschafsfaktor und ein Garant für Unternehmen zur Rekrutierung von Fachkräften. Wer sich auf dem internationalen Parkett bewegt, muss jedoch darauf achten, dass er auch das regionale berücksichtigt. Denn die politischen Entscheide werden von den Parlamenten und der Bevölkerung in Stadt und Kanton gefällt. An der Brücke zwischen Internationalität und regionaler Verankerung gilt es immer wieder zu arbeiten. Ich stelle aber auch fest, dass dies der Universität immer besser gelingt. Was ich mir noch wünschen würde, wäre mehr studentisches Leben in der Stadt.

Sie sind jetzt seit über sieben Jahren Stadtpräsident. Welche anstehenden Projekte liegen Ihnen besonders am Herzen und welche werden die Stadt prägend verändern? Scheitlin: Eines der zentralen Projekte ist die Realisierung eines nationalen Innovationsparks in St.Gallen. Kein anderer Standort hat diesen Erfolgsfaktor ETH/Empa und HSG, in dem Exponenten aus Technologie und Wirtschaft zusammengebracht werden können und der Weg vom Start-up bis zur Vermarktung begleitet werden kann. Als zweites möchte ich die Strategie «drei Museen, drei Häuser» (Naturmuseum, Historisches Museum und Kunstmuseum) vollenden, um den Kulturstandort St.Gallen zu stärken. Und auf dritter Ebene sehe ich die Platzgestaltungen Bahnhofsplatz und Marktplatz, die entscheidend für das Gesicht dieser Stadt sind.

Und was würden Sie sich wünschen, dereinst in den Geschichtsbüchern über die Errungenschaften und Entwicklungen der Stadt St.Gallen unter dem Stadtpräsidium von Thomas Scheitlin zu lesen? Scheitlin: Schön wäre, wenn man dann sagen könnte, St.Gallen habe sich zu einem dynamischen und innovativen Zentrum entwickelt, das wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich der Mittelpunkt der Ostschweiz ist. Wichtig wäre mir auch, dass wir uns als eigenständige Stadt respektive Teil eines Metropolitanraumes St.Gallen- Bodensee entwickeln können und auch so wahrgenommen werden − denn wir sind definitiv kein Quartier von Zürich.

Interview: Marius Hasenböhler

Einstein 3-2014

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Einstein 3-2014

Gedanken zum Wirtschaftsraum

Die Grossregion St.Gallen hat mittlerweile eine sehr breit aufgestellte Wirtschaftsstruktur, schreibt Urs Fueglistaller, HSG-Professor für Unternehmensführung.

Bilder: Abacus / Raiffeisen / Gallus Ferd Rüesch / Emil Egger / Swissmem / Textilmuseum

Direkte Züge von St.Gallen nach Zürich fahren um 6:11, 6:42, 7:11, 7:48 und 8:11 Uhr. Ich kenne die Zeiten auswendig, es sind die Zeiten, zu denen ich mich jeweils acht Minuten später auf Perron 4 des Gossauer Bahnhofs einreihe, wenn ich anschliessend zu den üblichen Business-Zeiten in Zürich sein muss, also zum Beispiel «um 9 im Au Premier». Ab und zu kenne ich den einen oder anderen auf dem Perron, der zur gleichen Zeit auf den gleichen muss, dann ist Zeit für einen gemütlichen Schwatz. Hin und an kommt es aber auch vor, dass ich ganz allein unter den vielen da stehe, am Perron 4, und dann komme ich (die anderen auf dem Perron tun es jeweils auch, das sehe ich!) ins leichte Grübeln über die Bedeutung unserer Region, und insbesondere über die Bedeutung von St.Gallen.

Niedergang in den Köpfen

Vor hundert Jahren wäre ich wohl nicht ins Grübeln gekommen: Damals war die Stadt St.Gallen – vor dem Ersten Weltkrieg und in der Hochblüte der Stickerei-Industrie – eine der reichsten Städte der Welt gewesen, jedenfalls der Schweiz. Bekannt ist das kaum mehr. Nach dem Niedergang der Stickerei-Industrie ging auch die Bedeutung St.Gallens als Wirtschaftsstandort markant zurück, auch wenn die Textilbranche auch heute noch spürbar wichtiger ist als in anderen Schweizer Regionen. Dennoch scheint dieser Niedergang, diese Niederlage in den Köpfen der St.Galler – und mithin in den Köpfen der ganzen Region Ostschweiz – immer noch latent vorhanden zu sein; wir scheinen sie nach all den Jahrzehnten verinnerlicht zu haben, haben sie noch immer nicht ganz verdaut.

(Besser bekannt ist St.Gallen zwar nach wie vor durch das Kloster und seine Stiftsbibliothek, in den Köpfen der Historiker natürlich nach wie vor eine Wiege der europäischen und insbesondere der deutschsprachigen Kultur. Im praktischen Alltag bekommt das ein Uneingeweihter nicht mit, und rein wirtschaftlich hat das Kloster seine Bedeutung weitgehend eingebüsst.)

Abhängigkeit ist überwunden Also bleibt zu überlegen, was wir an unserem regionalen Minderwertigkeitsgefühl ändern können. Dabei möchte ich auf drei Bereiche verweisen: die Branchensituation, die regionalen Besonderheiten und die personalen Voraussetzungen.

Fangen wir also bei den Branchen an: Die Grossregion St.Gallen hat mittlerweile eine sehr breit aufgestellte Wirtschaftsstruktur, die einstige Abhängigkeit von mehr oder weniger nur einer Branche ist also längst überwunden. Die Region ist den auch andernorts eingeschlagenen Weg zur Dienstleistungswirtschaft mitgegangen – ohne dabei allerdings nur noch auf Dienstleistungen zu setzen, sondern mit einer breiten Abstützung auf unsere traditionelle Landwirtschaft und auf produzierende Branchen. Man betrachte dabei die «Szene» der Industrie im St.Galler Rheintal, die mittlerweile zu den prägendsten ihrer Sorte in der Schweiz gehört. Wie allerdings ein Blick auf die Unternehmensstatistik auch dort zeigt, ist auch sie bestens «unterfüttert», unter anderem durch die vielen KMU, die ein gut funktionierendes Wirtschaften erst ausmachen. Und übrigens, ich wehre mich nach wie vor und mit Vehemenz, von den KMU als «Rückgrat der Wirtschaft» zu sprechen, auch wenn dies die letzten Jahrzehnte gerne in Mode geraten ist. Die Begründung ist so naheliegend wie einfach: Die grossen Unternehmen brauchen die kleinen Zulieferer und Dienstleistungserbringer, und umgekehrt leben viele kleine Unternehmen von den Aufträgen und/oder Lieferungen der Grossbetriebe. Zusammen bilden sie ein harmonisches Ganzes.

Reale Grenzen sind durchlässig

Kommen wir zweitens zu den regionalen Besonderheiten. Es ist wohl kaum zu verleugnen, dass die Ostschweiz aus Schweizer Sicht nicht im Zentrum der Schweiz liegt. Wenn man seinen Blick allerdings nur ein wenig weiter öffnet und die Grenzen ein wenig ausser acht lässt, rückt St.Gallen schon weit mehr ins Zentrum, mit zusätzlichen Achsen ins Vorarlbergische, Schwäbische und Bayrische (um hier von Liechtenstein noch gar nicht mal zu reden). Realwirtschaftlich sind diese Verbindungen gut verankert, wenn man sich etwa die Ex- und Importzahlen für diese Regionen anschaut. Bei allen Diskussionen über die Stellung der Schweiz (und damit natürlich auch der Ostschweiz) in der EU kann man doch sagen, dass diesbezüglich die realen Grenzen schon sehr durchlässig geworden sind. Was vielleicht noch geblieben ist, sind die Grenzen in den Köpfen. Das merkt man zum Beispiel bei grossen Wirtschaftstagungen in der Schweiz, in Vorarlberg oder in Deutschland. Da ist der Anteil der Teilnehmer aus den anderen Ländern nach wie vor überraschend gering, der geistige «Vorhang» zwischen den Ländern noch zu dicht. Hier würde ich mir wünschen, dass auch sie mit der Zeit verschwinden könnten, auch das würde unsere Region noch etwas mehr zentrieren.

Drittens kommen wir also zu den «personalen Voraussetzungen», mit anderen Worten zu den Eigenschaften von uns Ostschweizerinnen und Ostschweizern. Wir hören es nicht so gerne, aber wir sind halt schon etwas weniger exaltiert als andere, und auch unsere Dialekte mögen offenbar nicht alle so gerne wie andere. Was andere aus dem Dialekt heraushören, sind aber auch gleichzeitig Stärken, mit denen wir die Wirtschaft prägen. Da ist zum einen einmal ein gewisse Biederkeit (auch nicht gerade was zum Angeben), die im Wirtschaftszusammenhang allerdings dann eben auch mit Bescheidenheit, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit wahrgenommen wird. Auf den ersten Blick mögen diese Eigenschaften unspektakulär sein, doch insbesondere für langfristige Wirtschaftserfolge sind sie ein idealer Nährboden und gegen aussen ein Garant für ein grundsolides Image. Bescheidenheit schliesst eine weitere unserer Eigenheiten nicht aus, ich nenne sie einmal «zurückhaltende wirtschaftliche Cleverness» (darin stehen uns die Süddeutschen allerdings nicht wirklich nach, und die Liechtensteiner schlagen uns in dieser Disziplin mit Sicherheit). Sie schliesst zum Beispiel mit ein, dass die wirklich wuchtigen Autos mit St.Galler Autonummern kaum je von St.Gallern selber gefahren werden. Oder dass sich die HSG als sonst ja eher kleine Uni eine der grössten (wenn nicht die grösste) betriebswirtschaftliche Fakultät des deutschsprachigen Raums leistet, im (Vor-)Wissen um die Wirkung, die so eine Fakultät auf die gesamte Grossregion hat.

Ausgesprochen gute Aussichten

Zusammengefasst können wir also sagen: Die St.Galler sollten sich bewusster sein, dass ihr Wirtschaftsraum besser dasteht, als sie zu glauben wissen, dass St.Gallen zentraler liegt als sie denken und dass die personellen Voraussetzungen so geschmiedet sind, dass die Aussichten der Region nach wie vor ausgesprochen gut sind.

Zu guter Letzt und zum Trost an alle, die ab und zu mit dem Zug nach Zürich fahren «müssen»: Irgendwann darf man auch wieder zurückfahren, und es stellen sich automatisch Vorteile ein: a) die im Zugabteil gesprochenen Dialekte werden definitiv wieder verständlicher, es sind zum Beispiel praktisch keine Walliser Dialekte mehr hörbar, b) ab der Ansage «Nächster Halt: Wil» kommen die urheimatlichen Gefühle zurück, und c) man sieht Orte, Berge und Landschaften in der Ostschweiz, von denen die Zürcher nur einfach träumen können.

Urs Fueglistaller (ein gebürtiger Herisauer, damit das auch noch erwähnt ist)

«Schüga» und «HSG»

Vorschau

«Beide Marken sind gut verankert, setzen auf Qualität und strahlen über die Region hinaus, wobei die HSG natürlich noch etwas weiter strahlt»: Reto Preisig, CEO der St.Galler Brauerei Schützengarten und HSG-Alumnus, sieht durchaus Parallelen zwischen den bekannten St.Galler Marken «Schüga» und «HSG».

Reto Preisig, CEO von Bild: HSG «Schützengarten». Alumni

Während die Bildungsstadt St.Gallen und damit auch die Universität gerne und direkt mit dem früheren Kloster St.Gallen verknüpft werden, ist das beim Bier weniger der Fall. Dabei waren, so Reto Preisig, bereits im berühmten St.Galler Klosterplan von 825 drei Brauereien eingezeichnet. Die starke Identifizierung der Marke Schützengarten mit St.Gallen bedeutet für ihn «vor allem eine grosse Verantwortung, eine sorgfältige Markenpflege und eine kompromisslose Qualitätsorientierung». Preisig, der den Executive MBA HSG absolviert hat, hält dazu fest: «Unsere 14 Bierspezialitäten bilden hier eine sehr gute Basis, doch für den Erhalt dieser Position braucht es mehr. Denn wichtig ist auch der intensive, ständige und dienstleistungsorientierte Kontakt zu unseren Kunden und Konsumenten. Eine wichtige Säule ist dabei das starke Engagement bei kulturellen und sportlichen Anlässen.» (…)

Lesen Sie den ganzen Artikel mit Reto Preisig in der nächsten Ausgabe von alma, dem Alumni-Magazin der Universität St.Gallen.

Lockstoffe aus der Ostschweiz

Vor 100 Jahren gab die Schweizer Textilwirtschaft in St.Gallen den Takt an. Aber die Stadt hat nicht nur eine Spitzen-Vergangenheit, wie Monika Kritzmöller betont. Im Textilmuseum erzählte die HSG-Dozentin für Soziologie, was St.Gallens textile Gegenwart zu bieten hat.

Monika Kritzmöller: «Der Trend geht von der Masse zur Bilder: Hannes Nische.» Thalmann

Frau Kritzmöller, wenn wir uns hier im Herzstück von St.Gallens Stoffkultur-Gedächtnis umsehen, wird das «blütenweisse Wirtschaftswunder» wieder lebendig. St.Gallen war einst Spitzen-Standort der Textilwirtschaft. Spielt die Stadt noch heute eine Rolle in der Branche? Monika Kritzmöller: Aber sicher, ja. Das Modelabel Akris, Stoffhersteller wie Jakob Schläpfer und Bischoff Textil oder Christian Fischbacher mit seinen edlen Interieur-Textilien – all diese Firmen haben nach wie vor ihren Sitz in St.Gallen, um hier bewährte Qualität zu entwickeln. Das «Couture Lehratelier» des Kantons bildet Fachkräfte aus, die hochwertige Stoffe zu verarbeiten wissen. So bleibt die handwerkliche Kompetenz auch für die Zukunft erhalten. St.Gallen ist als Textilplatz also auch heute noch ein spannender Ort. Die Vergangenheit wird meiner Ansicht nach zu häufig betont. St.Gallen ist nach wie vor ein wichtiger Treffpunkt für Branchenkenner.

Welche Plätze sind charakteristisch für St.Gallen als Textil-Stadt? Kritzmöller: Einen guten Eindruck vermitteln die Jugendstilvillen am Rosenberg. Oder die Geschäftshäuser in der Davidstrasse. Auch die Tonhalle von Architekt Julius Kunkler ist ein Juwel aus der Hochblüte der St.Galler Stickerei. Und das Textilmuseum verbindet Architektur und Textiles als Drehscheibe für Themen rund um Mode und Stoff. Der Campus der Uni St.Gallen – deren Gründung auf Motivation der Textilindustrie zurückgeht – steht für das Wissens-Netzwerk der Ostschweiz. Wobei die pyramidenförmige Kuppel der Bibliothek international noch bekannter sein dürfte als in der Stadt selbst. Häufig fällt den Bewohnern der Stadt gar nicht auf, in was für einer schönen Umgebung sie sich täglich bewegen.

Textilien werden weltweit angefertigt. Haben edle Stoffe aus St.Gallen im globalen Wettbewerb überhaupt eine Chance? Kritzmöller: Wenn Textilfirmen ausschliesslich auf den Werkplatz Schweiz setzen, ist es sicherlich schwer, auf Dauer konkurrenzfähig zu bleiben. Swissmade ist in der Branche aber nach wie vor ein Qualitätsmerkmal. Daher setzen St.Gallens Textilhersteller überwiegend auf ihre eigenen Werke im In- und Ausland. Dort gelten ihre Standards und dementsprechend faire Arbeitsbedingungen. So behalten sie die Kontrolle darüber, wie ihre Stoffe oder Modeartikel entstehen. Textilien in Spitzen-Qualität müssen fachkundig angefertigt werden und können unter Sweatshop-Bedingungen gar nicht entstehen.

Wie entwickelt sich St.Gallen als Textilplatz? Kritzmöller: Der Trend geht von der Masse zur Nische: Nachhaltige Produktion von hochwertigen Textilien ist die Zukunft für St.Gallens Betriebe und die Schweizer Textilindustrie, wie sich in den vergangenen Jahren gezeigt hat. Hier werden hochklassige Kleidungsstücke hergestellt. Ein guter Mantel kann 10 bis 20 Jahre lang getragen werden, er hat eine viel längere Lebensdauer als Kleidung aus billiger Massenproduktion. Daneben bieten sich neue Möglichkeiten mit funktionalen Stoffen im Sportbereich, Technik und Medizin.

Wie empfinden Sie St.Gallen als Mode- und Design-Soziologin? Was für einen «modischen Fussabdruck» hat die Stadt für Sie? Kritzmöller: Bisweilen kleiden sich die Leute in St.Gallen – wie auch andernorts – recht lieblos, was ich schade finde. Das attestieren mir auch viele St.Galler. Schliesslich geht es hier den Menschen im Vergleich zum Rest der Welt überdurchschnittlich gut. Ein bisschen mehr Mühe wäre schön. Der eigene Körper ist doch das Kostbarste, was man hat. Die Wahlfreiheit, welche wir in unserer Gesellschaft haben, bringt auch eine gewisse modische Orientierungslosigkeit mit sich. Für mich ist es beruhigend zu wissen, dass ich schöne Stücke im Schrank habe, die ich gerne über einen längeren Zeitraum hinweg anziehen kann und die, jedes für sich, ihre besondere Bedeutung für mich haben. Wunderschön fand ich zu sehen, wie sich die St.Galler in den vergangenen Jahren anlässlich des traditionellen Kinderfests wieder richtig sorgsam «herausgeputzt» haben.

Sind St.Gallens «Lockstoffe» und Textilien aus der Schweiz nicht purer Luxus? Kritzmöller: Nein, mittlerweile nicht mehr. Billigware ständig wegzuwerfen ist auf Dauer viel teurer als einmal in ein gutes Kleidungsstück zu investieren. Tolle Kleidung kann auch als Vintage-Ware in Second-Hand-Läden sehr günstig erstanden werden. Ich sehe auch eine Gegenbewegung zu austauschbaren Billigmode: Der Mainstream wird sich weiterhin der Produkte bedienen, die es rund um den Erdball gibt. Es gibt aber auch ein zunehmendes Bewusstsein für hochwertige Kleidungsstücke. Auch meine Studierenden interessieren sich für die Modebranche und gründen eigene Labels. So schliesst sich der Kreis: Die Universität, selbst von Textilern gegründet, bringt wieder neue Unternehmer hervor. Und diese Generation setzt verstärkt auf nachhaltige Produktion.

Interview: Annkathrin Heidenreich

Ein Kompetenzraum Gesundheit

Die Stadt St.Gallen und die gesamte Nordostschweiz verfügen über einzigartig vielfältige Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen. Das birgt eine grosse Chance. Von Johannes Rüegg-Stürm

Foto: Fotolia / picsfive

Wenn wir uns all die Güter und Dienstleistungen, die wir heute in unserem Leben konsumieren, als Einkaufskorb vorstellen, dann steigt der Anteil an Gesundheitsleistungen in diesem Korb fortlaufend an. Inzwischen wird rund ein Achtel unserer gesamten volkswirtschaftlichen Wertschöpfung im Gesundheitssektor erbracht. Dabei wird dieses Wachstum eher als Problem, denn als Chance betrachtet. Wenn die entsprechenden statistischen Daten oder Prämienerhöhungen der Krankenkassen veröffentlicht werden, führt dies regelmässig zu heftigen Kontroversen.

Diese Wachstumsraten sagen allerdings überhaupt nichts darüber aus, ob die Menge, der «Preis» oder die Qualität der Leistungen zunimmt, ob diese Zunahmen den tatsächlichen Präferenzen der Bevölkerung entsprechen und ob die Lebensqualität steigt, und welche anderweitigen ökonomischen Wirkungen daraus resultieren, wenn Menschen viel rascher wieder ihrer Arbeit und damit auch ihren Hobbies nachgehen können. Alleine dieser letzte Aspekt wäre Grund genug, die entsprechenden Wachstumsraten etwas vorsichtiger zu kommentieren.

Nach Massgabe einer Solidaritätsgemeinschaft

Selbstverständlich ist dieses Wachstum nicht vergleichbar mit demjenigen einer Freizeit- oder Konsumgüterelektronikbranche. Denn Gesundheit ist nicht ein Gut wie jedes andere. Gesundheitsleistungen berühren die Existenz und Länge unseres Lebens ungleich direkter. Deshalb werden knappe Ressourcen im Gesundheitssektor nicht nach den Regeln eines Marktes, sondern nach Massgabe einer Solidaritätsgemeinschaft verteilt. Dabei soll niemand von der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ausgeschlossen werden dürfen. Und genauso wenig sollen auch umgekehrt – auf der Grundlage des sogenannten Kontrahierungszwangs – praktizierende Anbieter von der Leistungserbringung ausgeschlossen werden dürfen. Welche Leistungen aus dem weitestgehend unbegrenzten Leistungskatalog der Krankenversicherung auch immer ein Arzt verschreibt, sie müssen von den Krankenversicherungen und von der öffentlichen Hand bezahlt werden.

Diese Konstellation schafft bei den versicherten Bürgerinnen und Bürgern wenig Anreiz, auf eine Leistungsbeanspruchung zu verzichten, sobald die Prämien und allfälligen Selbstbehalte einmal bezahlt sind. Genauso erlaubt es die grosse Informationsasymmetrie zwischen Health Professionals und kranken Menschen, Leistungen zu verschreiben, die genau betrachtet eigentlich gar nicht notwendig wären, was zu einer angebotsinduzierten Nachfrage führt.

Nicht durchschaubares Zusammenspiel

Insgesamt resultiert daraus ein längst nicht mehr durchschaubares oder gar steuerbares Zusammenspiel von politischen Entscheidungen seitens der öffentlichen Hand und von Entscheidungen privater Akteure – mit einer schwer absehbaren Entwicklungsdynamik. Schon heute werden alleine die Krankenversicherungen mit 4,3 Milliarden Franken Prämienverbilligungen von der öffentlichen Hand mitfinanziert – im Vergleich zu 3,6 Milliarden Franken an Unterstützungsbeiträgen zugunsten unserer Landwirtschaft.

Insgesamt ist – wenn wir zum Bild des Einkaufskorbs zurückgehen – davon auszugehen, dass immer mehr volkswirtschaftliche Wertschöpfung in Form von Gesundheitsleistungen erbracht und konsumiert werden wird. Erstens erweitern und verfeinern sich fortlaufend Diagnose- und Behandlungsoptionen. Zweitens steigt die Sensibilität für Unwohlsein, Krankheitserscheinungen und körperliche Einschränkungen, die sich im Freizeit- und Sportbereich begrenzend auswirken können. Drittens wird der Erhalt der Gesundheit und des körperlichen Wohlbefindens im Vergleich zu allen anderen Gütern und Dienstleistungen im Einkaufskorb wichtiger. Zeit und Gesundheit zeigen sich als die zentralen Knappheitsfaktoren im Leben der heutigen Menschen. Mit anderen Worten ist durchaus zu erwarten, dass die Gesundheitsausgaben kontinuierlich weiter steigen, weil die relative Bedeutung und Knappheit von Gesundheit weiter zunehmen werden.

Unterschiedlichste Kompetenzen

Obwohl die Pharma-Industrie weiter westlich angesiedelt ist, verkörpern diese Entwicklungstrends für St.Gallen und die gesamte Nordostschweiz eine grosse Chance. Ein Blick auf die einzigartig vielfältigen Anbieter von Gesundheitsleistungen in diesem Lebensraum zeigt, dass wir von einem eigentlichen Kompetenzraum Gesundheit sprechen können. Anbieter von Gesundheitsleistungen dieses «Health Clusters» verfügen über unterschiedlichste Kompetenzen. Im Zentrum steht ein Kantonsspital, das in vielen Bereichen medizinische Spitzenleistungen auf Universitätsniveau anbietet. Dazu gehört aber genauso eine Reihe von Kliniken in Privatbesitz, die in ausgewählten Behandlungsfeldern exzellente Gesundheitsleistungen anbieten. Nicht zu vernachlässigen sind hervorragende Angebote im Bereich der Rehabilitationsmedizin und eine fast einmalige Vielfalt an Angeboten im Bereich der Komplementärmedizin. Diese Angebote erzielen in vielerlei Hinsicht genauso wünschenswerte Wirkungen, wie die Angebote der «traditionellen» Medizin.

Selbstverständlich stellt sich bei allen Gesundheitsleistungen die Frage der Qualitätssicherung, sei es über akkreditierte und zertifizierte Ausbildungslehrgänge und Fortbildungspflichten oder über die Zertifizierung der Angebote und der erbrachten Leistungen durch unabhängige, hierzu qualifizierte Organisationen. Da es sich bei Gesundheitsleistungen um eine Wertschöpfung handelt, die in einer Ko-Produktion zwischen betroffenen Patientinnen und Patienten und den beteiligten Health Professionals erbracht wird, ist es ungleich komplexer, die Qualität dieser Leistungen evaluieren zu können, geschweige denn einen einzelnen Akteur für diese Qualität verantwortlich zu machen. Dies gilt für die Komplementärmedizin genauso wie für die etablierte «Schulmedizin».

Verbinden, integrieren, bündeln

Die zentrale Chance für den postulierten Kompetenzraum Gesundheit bestände nun darin, die skizzierte Vielfalt und Heterogenität qualifizierter medizinischer Angebote zu verbinden, zu integrieren und zu bündeln, z.B. über den Aufbau transdisziplinärer integrativer Behandlungszentren, vor allem im Bereich der Präventiv-, Rehabilitations- und Palliativmedizin. Gerade in diesen Gebieten können komplementärmedizinische Leistungen im Zusammenwirken mit der Schulmedizin einen bedeutenden Mehrwert zu schaffen.

Dabei erweist sich eine echte patientenzentrierte Zusammenarbeit zwischen Health Professionals der Schulmedizin und der Komplementärmedizin (und auch innerhalb dieser «Wissenstraditionen») als grosse Herausforderung – und genau deswegen auch als Chance. Denn wenn sie gelingt, kann sie nicht ohne weiteres kopiert werden. Konkret bestehen diese Kooperationsherausforderungen in teilweise völlig unterschiedlichen Grundverständnissen von Gesundheit und Krankheit, Sprachen und Praktiken der Erkenntnisgewinnung.

Während in der Schulmedizin nahezu ausschliesslich randomisierte Doppelblindstudien als wissenschaftlich legitimes Verfahren der Erkenntnisgewinnung anerkannt werden, finden in komplementärmedizinischen Disziplinen auch ethnographisch orientierte, kritikoffene Verfahren der dichten Beschreibung und vergleichende Fallbesprechungen Anwendung. Beide Verfahren gehen mit der grossen Komplexität von Krankheiten und Krankheitsverläufen ganz unterschiedlich um.

Anstatt (wie leider oft üblich) diese Unterschiedlichkeit im Bereich der Beobachtungs- und Behandlungsmethoden abgrenzend und abwertend gegeneinander auszuspielen, könnte sie als Quelle der Kreativität und Innovation genutzt werden. In diesem Sinne könnten transdisziplinäre, integrative Behandlungszentren die Chance bergen, ganz unterschiedliche bewährte und teilweise sehr alte Wissenstraditionen, z.B. im Bereich der Präventivmedizin als hypothesengenerierende diagnostische Verfahren zu nutzen. So liesse sich mit Hilfe der traditionellen westlichen «Schulmedizin», der ayurvedischen indischen Medizin, der traditionellen chinesischen Medizin, der Homöopathie, der Osteopathie oder anderer Paradigmen und Praktiken des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit jeweils fragen: Wo liegen Stärken, wo Risikopotentiale einer Person mit ihrem Körper im Kontext einer bestimmten gewachsenen Lebenspraxis?

Den Kantönligeist hinter sich lassen

Selbstverständlich setzt eine transdisziplinäre patientenzentrierte Mobilisierung und Nutzung von vielfältiger Expertise ein hohes Mass an Bereitschaft zur gemeinsamen Kommunikation, Kooperation und Entscheidungsfindung – und das Hinter-sich-lassen eines engstirnigen Kantönligeists – voraus. Genau dies wäre eine entscheidende Kompetenz mit Imitationsschutz, die im Rahmen der Bildung integrativer Gesundheitszentren aufzubauen wäre. Ein Blick auf die Forschungs- und Lehrschwerpunkte der Fachhochschule St.Gallen und der Universität St.Gallen zeigt, dass die zur Durchführung eines solchen Experiments erforderlichen Kommunikations- und Managementfähigkeiten durchaus vorhanden wären. Anspruchsvoll wäre vermutlich, eine nachhaltige unternehmerische Trägerschaft für ein solches Experiment aufzubauen und interessierte Health Professionals aus den diversen medizinischen Wissenstraditionen dafür zu begeistern. Nichtsdestoweniger wäre dies aber eine echte Chance, gewachsene Kompetenz in unserem attraktiven Lebensraum höchst sinnvoll zu bündeln und auszuschöpfen.

Johannes Rüegg-Stürm ist Professor für Organizational Behavior an der Universität St.Gallen. Er arbeitet am Institut für Systemisches Management und Public Governance (IMP-HSG), das zu den Trägern des Centers for Health Care (CHC-HSG) gehört.

Gerichtsstandort und Juristenstadt

St.Gallen ist weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt für sein klösterliches Unesco-Weltkulturerbe, die Olma, Bratwürste und die HSG. Kaum jemand ist sich bewusst, dass St.Gallen auch über eine lange Tradition als Gerichtsstandort und Juristenstadt, als Angelpunkt von Recht und Justiz verfügt. Von Lukas Gschwend

Das Bundesverwaltungsgericht, das grösste Gericht der Bild: BVGer, Schweiz. St.Gallen

Heute haben nicht nur die Gerichte des Kantons, also das Kreisgericht, das Kantonsgericht, das Handelsgericht und die Anklagekammer, die Verwaltungsrekurskommission, das Verwaltungsgericht und das Versicherungsgericht sowie andere Instanzen mit gerichtlichen Befugnissen ihren Sitz in St.Gallen, sondern auch Gerichte des Bundes, nämlich das grösste Gericht der Schweiz, das Bundesverwaltungsgericht, sowie das Bundespatentgericht. Sodann ist St.Gallen auch Sitz eines bischöflichen Offizialats (Kirchengericht) und eines Militärgerichts. Bis 2011 gab es überdies ein Kassationsgericht. Gemessen an der Bevölkerungszahl dürfte St.Gallen im schweizerischen Vergleich über eine sehr hohe Dichte an Richtern und juristischen Gerichtsmitarbeitern verfügen. Rechnet man alle Juristinnen und Juristen, die in der Advokatur sowie in der kantonalen und städtischen Verwaltung tätig sind, hinzu, so kann man St.Gallen zweifellos als Juristenstadt bezeichnen.

Historischer Standort der Rechtspflege

Bis 1798 befanden sich auf dem Gebiet der heutigen Stadt St.Gallen zwei Staatswesen: Die Stadt und die Fürstabtei. Letztere war gleichzeitig Fürstentum innerhalb des Heiligen Römischen Reiches wie auch zugewandter Ort der Eidgenossenschaft. Ihr Territorium erstreckte sich vom Rheintal über die alte Landschaft bis Wil und umfasste auch das Toggenburg. Beide Staatswesen verfügten über die hohe und niedere Gerichtsbarkeit, die auf verschiedene Instanzen aufgeteilt war. So kannte die Abtei ein Pfalzgericht, einen Pfalzrat, ein Lehengericht sowie Hofgerichte. Die Stadt verfügte über ein Blut-, Hoch- und Malefizgericht, ein Ratsgericht, ein Fünfergericht, ein Siebnergericht, ein Gästegericht sowie ein Chorgericht. Auch das Pfalzgericht verfügte über die Blutgerichtsbarkeit, wobei der Abt und die Angehörigen des Konvents nach dem Grundsatz «ecclesia non sitit sanguinem» nicht an Todesurteilen mitwirkten. Sowohl die Stadt wie auch die Fürstabtei pflegten eine hoch entwickelte Rechtskultur, was sich noch heute anhand der juristischen Quellenbestände im Stadt- und Stiftsarchiv nachvollziehen lässt. Allerdings waren die meisten Richter keine studierten Juristen. Das juristische Universitätsstudium wurde erst im 19. Jahrhundert allmählich zum Berufserfordernis für Rechtsanwälte und vollamtliche Richter.

Die Stiftsbibliothek verfügt über reichhaltige alte Rechtsliteratur, die von einem beachtlichen rechtswissenschaftlichen Interesse der St.Galler Mönche zeugt. Es sind sogar weit über 1000-jährige alemannische Rechtsquellen überliefert.

St.Galler Rechtswissenschaftler

Seit der Gründung der HSG 1898 – massgeblich vorangetrieben durch den Juristen und Politiker Theodor Curti (1848–1914) aus Rapperswil – lehren dort auch Juristen; seit 1979 bietet die HSG selbständige juristische Studiengänge an. Heute ist das wohl höchste Gütesiegel für juristische Forschungsleistungen in der Schweiz der Prof. Walther Hug Preis, benannt nach dem ehemaligen HSG-Juristen Walther Hug, unter dessen Rektorat die HSG 1938 den Rang einer Universität erlangte.

St.Galler Juristen prägen seit langer Zeit die schweizerische Rechtswissenschaft aktiv mit. An der Universität Bern gelangten beispielsweise Rechtsprofessoren aus St.Gallen wie Hans Fehr, Max Gmür oder Max Imboden zu grossem Erfolg, ebenso an der Universität Zürich etwa August Egger, Gottfried Weiss oder Hans Neff. Der Kanton St.Gallen entsandte namhafte Juristen ans Bundesgericht. Zu erwähnen ist hier sicher der HSG-Professor und Rektor Otto Konstantin Kaufmann (1914–1999), der den Kanton St.Gallen von 1965 bis 1984 im Bundesgericht vertrat und die schweizerische Rechtsprechung mitprägte.

St.Galler Juristen als Politiker

In St.Gallen praktizieren zwar deutlich weniger Rechtsanwälte als in Zürich oder Genf. Jedoch finden sich viele Absolventinnen und Absolventen der juristischen HSG-Studiengänge in den grossen Kanzleien dieser Städte. St.Galler Rechtsanwälte spielen seit 1803 in der kantonalen Politik eine zentrale Rolle. Zahlreiche einflussreiche juristische Schwergewichte vertraten in den vergangenen 160 Jahren den Kanton im National- und Ständerat. Von den bisher fünf St.Galler Bundesräten waren vier Juristen: Wilhelm Matthias Naeff (1848–1875) war vor seiner Wahl Appellationsrichter, Grossrat, Kleinrat und St.Galler Vertreter in der eidgenössischen Tagsatzung. Arthur Hoffmann (1911–1917) war Advokat in St.Gallen, Grossrat und nach 1896 Ständerat. (1955–1959) wirkte als Rechtsanwalt und Nationalrat, bevor die Wahl in den Bundesrat folgte, und (1972–1986) war Rechtsanwalt und Nationalrat. Einzig (1941–1954) hatte als ETH-Ingenieur keine juristischen Wurzeln. Mit wurde 1987 ein HSG-Rechtsprofessor in den Bundesrat gewählt.

Fazit

St.Gallen verfügt über eine beachtliche Tradition als Gerichtsstandort und ist seit Jahrhunderten Wirkungsstätte zahlreicher Juristen in verschiedenen Ämtern. Da funktionierendes Recht ein wichtiger Zivilisations- und Fortschrittsfaktor ist, weist die starke Präsenz leistungsstarker Juristen auf ein hohes rechtsstaatliches und zivilisatorisches Entwicklungsniveau hin. Gleichwohl haben Kritiker wie der ehemalige Chrysler-Manager Lee Iacocca die Zahl der Juristen in einem Land als Indikator für Innovationsträgheit bezeichnet. Da St.Gallen jedoch nicht nur aus Gerichten besteht und nicht nur Juristen hervorbringt, sondern vielmehr für seine Ökonomen, Mediziner, Bildungsfachleute, Gewerbetreibenden und Kulturschaffenden bekannt ist, dürften Standortattraktivität und Lebensqualität von diesem Mix weiterhin und zunehmend profitieren.

Lukas Gschwend ist Professor für Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Strafrecht an der Universität St.Gallen.

Parteienlandschaft im Wandel

Die Gewichte der politischen Parteien im Kanton St.Gallen haben sich während der vergangenen gut 20 Jahre markant verschoben. Von Silvano Moeckli

Datenquelle: Bundesamt für Statistik (BFS)

Seit 1991 hat sich die Parteienlandschaft im Kanton St.Gallen stark verändert. Die einst dominierende Partei, die CVP, verlor bei den Nationalratswahlen innert 20 Jahren mehr als die Hälfte ihres Wähleranteils und lag 2011 noch bei 20,3 Prozent. Die mit 31,5 Prozent wählerstärkste Partei, die SVP, war noch 1991 im Kanton bei nationalen Wahlen gar nicht angetreten. Kleinere Parteien wie die GLP und die BDP tauchten neu auf, andere sind verschwunden (wie der Landesring und die Autopartei). Auf die Bildungspolitik des Kantons für die tertiäre Stufe haben diese parteipolitischen Veränderungen eher geringe Auswirkungen.

Werfen wir einen Blick auf die Abbildung. Sie zeigt die Wähleranteile in Prozent der wichtigsten Parteien von 1991 bis 2011 bei Nationalratswahlen. Die ausgezogenen Linien zeigen die Wähleranteile schweizweit, die gestrichelten Linien jene im Kanton St.Gallen. Zunächst fällt auf, dass die Entwicklung im Kanton St.Gallen in den groben Zügen der Entwicklung auf schweizerischer Ebene folgt: die SVP legt zu, CVP und FDP verlieren, bei SP und Grünen gibt es Schwankungen. Markant sind, wie eingangs erwähnt, die Veränderungen bei SVP und der einst hegemonialen Partei, der CVP. Die verschwundene Autopartei fuhr noch 1995 im Kanton einen Wähleranteil von 10,2 Prozent ein, und der Landesring kam damals auf 9,3 Prozent. 2011 erzielten die Grünliberalen 6 Prozent.

Mehr Bildung, weniger Bindung

Wo liegen die Ursachen dieser Entwicklung, und was sind mögliche Folgen? Diese können an dieser Stelle nur kurz gestreift werden. Der Vergleich mit der schweizweiten Entwicklung zeigt, dass hier weitgehend «Tiefenströmungen» wirkten, die ihre Ursachen nur zum Teil im Kanton St.Gallen hatten. Berücksichtigen muss man, dass im schweizweiten Wahlergebnis natürlich auch die Stimmen im Kanton St.Gallen inbegriffen sind, und dieser stellt immerhin sechs Prozent der gut fünf Millionen Wähler. Schweizweit hat sich die Wirtschaftsstruktur und damit die Sozialstruktur gewandelt: Hin zur Dienstleistungsgesellschaft, dichtere Beziehungen über die Landesgrenze hinweg, bessere berufliche Qualifikationen und neue Mittelschichten. Aber noch immer haben Industrie und Gewerbe im Kanton St.Gallen eine überdurchschnittliche Bedeutung. Abgenommen haben Bindungen aller Art, insbesondere die religiösen, und die sozialen Milieus und die Parteipresse sind verschwunden. Immer stärker ist auch der Ausgang kantonaler Wahlen von nationalen Trends und Köpfen bestimmt.

Zu den Folgen. Das schwächere «Bonding» erleichtert den Parteien das «Bridging», das heisst die Parteien können in Wählerschichten vorstossen, die ihnen bislang verschlossen blieben. Die Volatilität im Wahlverhalten nimmt zu. Bildhaft ausgedrückt: Einem traditionellen SVP-Wähler hat die Hand nicht mehr gezittert, als er bei den Ständeratswahlen Paul Rechsteiner auf seinen Wahlzettel schrieb. Gerade die vergangenen Ständerats- und Regierungsratswahlen waren ein Fingerzeig, dass der einst gewichtige Bürgerblock aus CVP und FDP immer mehr Mühe haben wird, Mehrheitswahlen für sich zu entscheiden. Dies gilt auch für die lokale Ebene.

Rückkoppelung von Entscheiden

Veränderte Wähleranteile wirken sich bei Proporzwahlen direkt auf die Besetzung politischer Ämter aus, bei Majorzwahlen indirekt. Bei Gremien wie dem Kantonsgericht, dem Erziehungsrat oder dem Universitätsrat wird ein freiwilliger parteipolitischer Proporz beachtet. Dies wirkt sich mit der Zeit auch auf die Inhalte der Entscheide aus. Es ist «weniger CVP» und «mehr SVP» drin. Wahlen sollen ja genau dies bewirken: die Rückkoppelung politischer Entscheide an die Präferenzen der Wählerschaft.

Gerade bei der Bildungspolitik dürften die Veränderungen in der parteipolitischen Landschaft aber eher geringe Auswirkungen haben. Zur Zeit des «Kulturkampfes» und der konfessionell getrennten Schulen waren die Differenzen viel grösser. In Einzelfragen wie Kleidervorschriften an den Schulen, Studiengebühren für Ausländer oder Konkordaten wie Harmos (interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule) schimmern unterschiedliche Anschauungen durch. Insgesamt ist die Politik für die tertiäre Stufe (Universität und Fachhochschulen) im Kanton St.Gallen aber eher breiter getragen als noch vor 20 Jahren, wie Volksabstimmungen belegen: 2005 Sanierung und Erweiterung der Universität St.Gallen (66 Prozent Zustimmung), 2008 Fachhochschulzentrum Bahnhof Nord in St.Gallen (81 Prozent Zustimmung).

Silvano Moeckli ist Autor des Buches «Das politische System der Schweiz verstehen», das 2012 in 3. Auflage erschienen ist.

Mit Sonne und Wind ins Parlament

Umwelt schonen, Energiewende beschleunigen, Infrastruktur nachhaltig gestalten: Dafür engagiert sich Sonja Lüthi mit drei weiteren grünliberalen Abgeordneten im St.Galler Stadtparlament. Mit HSG Focus sprach sie über den lokalpolitischen Alltag.

Sonja Lüthi vor dem Waaghaus, wo das Stadtparlament Bild: Hannes tagt. Thalmann

Ein warmer Julitag in St.Gallen, auf dem Marktplatz herrscht emsiges Treiben. Eine blonde Velofahrerin biegt ums Eck des St.Galler Waaghauses und grüsst freundlich. Der Hauswart öffnet Sonja Lüthi das Tor zu diesem Wahrzeichen der Textilstadt. Einmal im Monat stimmt die 33-Jährige hier mit 62 weiteren Stadtparlamentariern über lokalpolitische Angelegenheiten ab. Heute ist der Saal leer. «Während der Sitzungen hat es das St.Galler Wappentier hier nicht so ruhig», sagt Lüthi und öffnet schwungvoll das mit Bär und Fass verzierte Fenster zum Marktplatz.

Auch während der Sitzungen sorgt die junge Politikerin, die aus Hägglingen im Aargau stammt, für frischen Wind. Als Abgeordnete der Grünliberalen Partei engagiert sie sich seit knapp vier Jahren für den Einsatz erneuerbarer Energien, umweltfreundliches Wirtschaften und eine nachhaltige Stadt-Infrastruktur. Sonnenkollektoren auf den Olma-Hallen stehen genau so auf ihrer Projekt-Liste wie das Thema Grünabfuhr, Fehlanreize bei Parktarifen oder die Kampagne «2000-Watt-Gesellschaft» von zehn Städten in der Bodenseeregion. «Gut leben mit weniger Energie, das soll künftig in St.Gallen möglich sein», sagt Lüthi. Sie will dazu beitragen, den Energieverbrauch des hungrigen St.Galler Bären in den nächsten Jahrzehnten um zwei Drittel zu senken.

Politik der kleinen Schritte

Egal, wie gross oder klein das Vorhaben, welches Lüthi in die politische Debatte einbringt: Ohne Geduld und Beharrlichkeit setzt sich keine Idee durch. «Erst im Stadtparlament habe ich gelernt, wie wichtig die Politik der kleinen Schritte in der direkten Demokratie ist», sagt Lüthi. Ähnliche Fähigkeiten benötigte sie zwar bereits als Französisch-Lehrerin im Aargau und als Geographie-Studentin in Québec und der Schweiz. Dennoch fiel es der pragmatisch denkenden Energie-Expertin schwer, sich an die Behäbigkeit des politischen Betriebs zu gewöhnen. «Es hängt sehr viel davon ab, zu welchem Zeitpunkt ein Thema diskutiert wird und welche Argumente man wählt», sagt sie. Nur mit langfristiger Planung liessen sich politische Anliegen erfolgreich umsetzen.

Umweltbewusst ohne ideologischen Ballast Bei der wissenschaftlichen Arbeit am Institut für Wirtschaft und Ökologie der Universität St.Gallen konnte Sonja Lüthi ihr Fachwissen vertiefen und viele Kontakte knüpfen. Das Experten-Netzwerk kommt ihr heute bei der Arbeit in der Politik zu Gute. Für klimapolitische Anliegen engagiert sich Lüthi aber nicht nur als Stadtparlamentarierin und «Projektleiterin Planung und Konzepte» im kantonalen Amt für Umwelt. Auch in zahlreichen Vereinen und Diskussionsrunden bringt sie ihre Ideen ein. So zum Beispiel in das «Solarkino St.Gallen» sowie in die Genossenschaften «Denkbar» und «Solar St.Gallen».

Hier kümmerte sie sich zum Beispiel um Finanzierung und Bau der Solaranlage auf den Olma-Hallen. Für die Sonnenkollektoren auf dem Messegelände kürte sie das St.Galler Tagblatt zur «Solar-Pionierin» der Stadt. Dies auch, «weil sie den Ton einer jungen, urbanen Generation treffe, die frei von jeglichem ideologischen Ballast ökologisch leben will.»

Energiezukunft gemeinsam gestalten

Auch in der Forschung hätte Sonja Lüthi gerne gearbeitet. Aber die Aussicht, sich zunächst aktiv in einem Unternehmen und später in die Politik einzubringen, reizte sie mehr. Zudem wollte sie sich vor allem lokal engagieren, um Rahmenbedingungen zu schaffen, die nachhaltiges Handeln attraktiv machen. «Mitsprache ist ein Privileg, das wir gerade in der direkten Demokratie zu schätzen wissen sollten», sagt Lüthi und zeigt hoch zur Besuchergalerie im Waaghaus. Sie freut sich über Besucher während der öffentlichen Debatten im Stadtparlament. Und über jede Anregung von Bürgern, die sich lieber aktiv in die politische Debatte einbringen als über die Unzulänglichkeiten der Volksvertreter zu schimpfen. «Gerade in der Lokalpolitik gibt es sehr viele Möglichkeiten, Ideen einzubringen und umzusetzen», sagt Lüthi.

Der Rundgang durchs Waaghaus ist zu Ende, die sportliche Energie-Fachfrau schwingt sich wieder auf ihr Velo. Sie freut sich auf eine kleine Sommerreise. Ihr Jumbo ist der Velosattel, das Ziel Berlin oder vielleicht sogar die Ostsee. «Beim Radfahren kann ich mich extrem gut erholen», sagt sie. Ein lebendes Beispiel für die 2000-Watt- Gesellschaft.

Annkathrin Heidenreich

Den einen die Bratwurst, den anderen die Saucisson

Aus Sicht der Romands liegt St.Gallen unverschämt weit entfernt. Von Philippe Reichen

Bild: Keystone / Regina Kühne / Laurent Gillieron

Die Fahrt von St.Gallen an den Genfersee ist kurz. Und scheint zugleich sehr lang. Immerhin landet man am anderen Ende der Schweiz und da in einer ziemlich anderen Welt – in einer schöneren, gar paradiesischen Welt? Die Waadtländer, denen der grösste Teil der Arc Lémanique gehört, gehen davon aus. Jedenfalls erzählen sie sich gerne, Deutschschweizer Zugreisende hätten ihr Retourbillet bereits schon in Lausanne aus dem Fenster geworfen. Es heisst: Sobald sie kurz nach Chexbres den letzten Tunnel verlassen und die prächtigen, terrassierten Rebberge und die pittoresken Dörfer des Lavaux sehen, sind die «suisses alémaniques» von dieser Schönheit so geblendet, dass sie nie mehr zurückkehren wollen.

Die Westschweiz ist zugegebenermassen eine wunderbare Gegend. Sie hat Charme. Die Menschen sind stolz auf ihr Stück Erde, auf dem sie leben. Und wer so viel Schönheit geniesst, muss sich nicht unbedingt darum kümmern, was andere Landesteile bieten. Der landläufige Waadtländer kennt zwar den guten Ruf der St.Galler Olma-Bratwurst, aber er wird in der Charcuterie-Abteilung mit höchster Wahrscheinlichkeit trotzdem «seine» Saucisson vaudois kaufen. Die Verwurzelung ist stark. Und es fehlt die Identifikation über die Sarine hinweg. Das liegt auch an der Sprache, schliesslich wird bereits im Freiburgerland ein Kauderwelsch gesprochen, das man ohnehin nicht versteht – und in der Schule nicht lernt. Deutschschweizer bekommen in der Westschweiz rasch das Gefühl: Die Romands wissen nicht wirklich viel über uns «Alemannen». Und je weiter weg wir aufgewachsen sind, und St.Gallen liegt aus Sicht der Romands unverschämt weit entfernt, desto kleiner wird das Wissen. Sind wir ehrlich: Umgekehrt ist das genauso.

Das ahnte der St.Galler Kantonsrichter Niklaus Oberholzer bereits, als er im Juni 2012 ans Bundesgericht nach Lausanne kam, um hier seine Richterkarriere fortzusetzen. Das gegenseitige Desinteresse erstaunt ihn dennoch. Er sagt: «Für mich war es überraschend, wie wenig Deutschschweizer und Romands voneinander wissen.» Der Bundesrichter ahnt aus der Eigenbeobachtung, wie die Bilder zustande kommen. Er war anlässlich der Landesausstellung im Jahr 1964 das erste und bis zu seinem Umzug auch das letzte Mal privat in Lausanne. «Es gab für mich einfach keinen Grund, mich hier näher umzusehen», sagt der Bundesrichter. Heute, da Niklaus Oberholzer in Lausanne lebt, ist alles anders. Er sagt: «Ich realisiere, wie vielfältig dieser Landesteil ist, wie gross die Distanzen etwa zwischen Biel/Bienne und Genf und wie unterschiedlich die Mentalitäten eines Unterwallisers, Neuenburgers, Waadtländers oder Genfers sind.» Er bedauert: «Eigentlich schade, dass ich dies alles nicht schon früher kennengelernt habe.»

St.Galler Hartnäckigkeit

Wer aber glaubt, in der Westschweiz wisse man generell nichts über die Ostschweiz und noch weniger über St.Gallen, der irrt. Das hat aber kaum etwas mit dem national bekannten FC St.Gallen zu tun. In der UNO-Stadt Genf, wo man bereits Lausanne als provinziell empfindet und sich für bodenständige Waadtländer schon fast fremdschämt, ist ein Schlüsselerlebnis haften geblieben: Der gewonnene Kampf der St.Galler um den Sitz des Bundesverwaltungsgerichts. Den Politikern im vornehmen Genf imponierte, wie sich St.Gallen, ohne in Verlegenheit zu geraten, auf der nationalen Bühne als ressourcenarmer, peripherer Kanton stilisierte und darauf pochte, der Bund müsse nun auch einmal der Ostschweiz eine grössere Institution zuhalten. War der Entscheid einmal gefällt, zeigte sich die gesamte Westschweiz in der Ohnmacht und der Empörung des vom Entscheid betroffenen Gerichtspersonals selbstredend solidarisch. Schliesslich wollte niemand dasselbe Schicksal erleiden, in dieses ab- und hochgelegene, meteorologisch nicht unbedingt begünstigte St.Gallen ziehen zu müssen, wo man schneller in München als in Genf ist. Was aus den Betroffenen wurde, wie sie St.Gallen erleben, ist heute kein Thema mehr. Das alleine zeigt: So schlecht scheint es Westschweizern in der Ostschweiz nicht zu gehen. Wahrscheinlich sind viele heimisch geworden.

«Wir sind Wurstbrüder!»

Wie Genf hatte auch die Waadt ein Schlüsselerlebnis mit St.Gallen. 2008 war die Waadt Olma-Gastkanton. Einige Hundert Waadtländer erlebten, wie es sich im fernen Osten leben und feiern lässt. Für den Festumzug zog man in Trachten und mit Kühen, Schweinen, Ziegen, Schafen und Pferden nach St.Gallen. Selbst beim Sauenrennen war man mit einem eigenen Tier am Start: «Liberté et Patrie» hiess das Rennschwein. Mitten in der Festgemeinschaft war der heutige Staatsratspräsident Pierre-Yves Maillard. Der Sozialdemokrat schwärmt noch heute bei jeder Gelegenheit, wie sehr ihn dieses Volksfest beeindruckte. Finanzdirektor Pascal Broulis, damals Staatsratspräsident, rief in seiner Ansprache in der Olma-Arena gar: «Wir sind Wurstbrüder!» Christine Mercier, die den Waadtländer Auftritt koordinierte, erinnert sich: «Wir haben uns in der Tradition der St.Galler wiedergefunden.» Tatsächlich fühlten sich viele Waadtländer an der Olma in die Vergangenheit zurückversetzt, als ihr Comptoir, wie die Landwirtschaftsmesse in Lausanne heisst, noch so bevölkert und lebendig war, wie die Olma heute ist. Auch sind wegen der Olma Bekanntschaften entstanden, die bis heute gepflegt werden. Didier Amy, Präsident des Organisationskomitees, sagt: «Wir haben seither viele St.Galler Freunde und gehen jedes Jahr für ein paar Tage an die Olma.» Wie sehr es den Waadtländer an der Olma gefallen haben muss, zeigte sich nach dem Festumzug auf der Rückfahrt im Spezialzug. 1500 Passagiermenüs waren bestellt. Doch von den Gästen war nur noch die Hälfte an Bord. Die andere Hälfte war in St.Gallen geblieben.

Philippe Reichen stammt aus Rorschacherberg, arbeitete als Journalist beim St.Galler Tagblatt und ist heute Westschweiz-Korrespondent des Tages-Anzeigers in Lausanne.

Werbung alleine genügt nicht

St.Gallen spielt international wie national als touristische Destination eine untergeordnete Rolle. Dennoch ergeben sich in der Nische einige vielversprechende Perspektiven. Tourismus ist seit jeher eng verknüpft mit den wirtschaftlichen Aktivitäten in dieser Stadt. Heute werden die meisten Übernachtungen durch die Beziehungspflege von ortsansässigen Firmen und Personen generiert. Von Christian Laesser und Pietro Beritelli

Bild: St.Gallen-Bodensee Tourismus

Tourismus in St.Gallen war seit jeher vor allem geschäftlicher Art und hob, zusammen mit der Schweiz als Destination, Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Die Entwicklung war zunächst getrieben durch die in dieser Stadt dominante Branche, die Textilindustrie und hier insbesondere die Stickerei. Deren damalige Bedeutung kann nicht unterschätzt werden, stammte doch in der Blütezeit vor dem Ersten Weltkrieg ein Sechstel aller Exporte der Schweiz aus St.Gallen. Was der Finanzplatz heute ist, war damals die Stickerei. Dieses international ausgerichtete Gewerbe forderte – nicht überraschend – effektive und effiziente Transportwege. So gab es beispielsweise damals einen direkten Zug von Paris nach St.Gallen, ohne Halt in Zürich; für die Einwohner Zürichs aus heutiger Sicht eine wahrlich merkwürdige Vorstellung. Bürger aus St.Gallen pflegten weit zu reisen und empfingen Besuche von weit her; regelmässige Kontakte führten bis in die USA. Dieses hier hoch angesehene Land prägte sodann auch das Denken und die Kultur in der Oberklasse dieser Stadt.

Vom Zusammenbruch der Stickerei während und nach dem Ersten Weltkrieg erholte sich St.Gallen erst im Zuge des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Zwischenkriegszeit hatten wirtschaftliche wie auch touristische Aktivitäten auf tiefem Niveau verharrt. Das touristische Wachstum in der Stadt hielt jedoch bis etwa zu Beginn der 90er-Jahre an; seit dann verlief die Entwicklung mehr oder weniger seitwärts, bis um 2008 noch einmal ein kurzfristiges, jedoch nur vorübergehendes Hoch verzeichnet wurde.

Opfer der Frankenstärke

St.Gallen ist zusammen mit vielen anderen Schweizer Destinationen seit der Finanzkrise ein Opfer der Frankenstärke. Der Grund dafür liegt im wenig diversifizierten Gästemix: Die Gäste St.Gallens kommen grossmehrheitlich aus der Schweiz und Deutschland oder allenfalls weiteren nahe liegenden EU-Ländern. Eine breiter abgestützte Internationalität kann, falls überhaupt, lediglich aufgrund internationaler Konferenzen oder durch Beziehungen einer Reihe international ausgerichteter Unternehmen und Institutionen (wie bspw. der Universität) beobachtet werden.

Es sind jedoch nicht zuletzt die immer besser werdenden Verkehrsverbindungen, welche viele Destinationen, St.Gallen inklusive, zu präferierten Tagesausflugs- statt Übernachtungszielen werden lassen. Im Fall der Gallusstadt könnte man sogar vermuten, dass die Frankenstärke Logiernächte dieser Stadt teilweise in Orte im nahegelegenen Ausland getrieben hat; sich die Leute aber dann dennoch aus unterschiedlichen Gründen in der Stadt aufhalten, sei es zum Sightseeing, Shopping oder zum Besuch kultureller Anlässe. Die mehrheitlich positiven Effekte dieser Tourismusform mögen weniger eindeutig und offensichtlich sein als im Fall, wenn die Gäste übernachten; bedeutungslos sind sie dennoch nicht.

Interaktionen fördern

Touristisch ist St.Gallen international wie national eine so genannte zweitrangige Destination: eine Lokalität mit einer zu geringen Attraktionskraft für eine eigene Reise, aber ein Ort, für welchen sich wenigstens ein Umweg (mit oder ohne Übernachtung) lohnt. Dies wird sich so schnell nicht ändern, da der Mangel an differenzierenden wettbewerbsrelevanten Vorteilen (Natur, Kultur, etc.; Ausnahme: Klosterbezirk) kaum oder bestenfalls nur sehr langfristig gemindert werden kann. Anlässe wie bspw. ein Open Air als zeitlich und örtlich begrenzte Attraktionen können diese Einstufung vorübergehend verbessern. Doch da in der Schweiz die Perspektiven für grosse, ein breites öffentliches Publikum ansprechende Events limitiert sind, bleibt zunehmend nur der Rückzug auf spezialisierte Anlässe. Der neu lancierte St.Galler Demenzkongress kann als Beispiel hierfür genannt werden, auch wenn er derzeit (noch) kaum Übernachtungen generiert.

Anziehungskraft haben aber nicht nur Lokalitäten und Anlässe, sondern auch in dieser Stadt lebende und arbeitende Menschen. Internationale Studien zeigen, dass immer grössere Anteile der touristischen Nachfrage durch den Wunsch oder die Notwendigkeit zwischenmenschlicher Kontaktnahme und -pflege (Interaktion) generiert werden. Die Werte liegen je nach Land und Abgrenzung zwischen 40 und 80 Prozent. Je höher die generelle touristische Attraktionskraft einer Destination, umso geringer normalerweise der Anteil dieses Reisetyps. Übertragen auf St.Gallen bedeutet dies, dass mindestens zwei Drittel bis drei Viertel der Logiernächte unter dem Titel Interaktion (geschäftlich gleichermassen wie privat) generiert werden, also nicht im engeren touristischen Sinne.

Langfristig ruft obige Ausgangslage nach einer dualen Strategie: Einerseits sollen neue Gründe zur Interaktion in St.Gallen geschaffen werden, und andererseits sollen die Ausgaben pro Interaktion (wenn dann die Gäste einmal hier sind) maximiert werden.

Expats und Wochenaufenthalter

Der Ausbau des kulturellen Angebotes und der Versuch, den Kongressbereich nach dem Wegzug von zwei medizinischen Grossanlässen zu stabilisieren, ist Teil der ersten Strategie. Als weiterer Schritt ist hier anzudenken, mit welchen spezialisierten Anlässen oder spezialisierten kommerziellen Angeboten weitere Personengruppen angesprochen werden könnten, die bei ihren Bezugsgruppen eine Nachfrage nach einem Besuch in St.Gallen zu generieren vermögen. Als Beispiele für mögliche Zielgruppen seien die Expat-Community (sämtliche in St.Gallen wohnhafte Ausländer) oder nationale und internationale Wochenaufenthalter genannt.

Jeder Besucher dieser Stadt ist letztlich ein temporärer lokaler Konsument. Instrumente der zweiten Strategie zielen deshalb darauf, die Gelegenheiten zum Geldausgeben zu maximieren. Dies kann in Verbindung mit einem bestehenden Aufenthalt erfolgen (bspw. durch an Übernachtungsgäste gerichtete Spezialangeboten im Bereich Shopping oder die Verlängerung des Demenzkongresses auf zwei Tage) oder durch Schaffung längerfristiger Beziehungen mit den Gästen dieser Stadt (bspw. Verkauf vergünstigter Übernachtungen an Wochenenden an Gäste, welche unter der Woche in der Stadt übernachten).

Mit Werbung allein wird die Zahl der Besucher in Zukunft kaum mehr zunehmen. Dazu braucht es neue Angebote für neue Anspruchsgruppen, die als Multiplikatoren wiederum neue Gäste nach St.Gallen bringen.

Christian Laesser und Pietro Beritelli sind Professoren für Betriebswirtschaftslehre mit besonderer Berücksichtigung des Tourismus an der Universität St.Gallen.

Grösser als die Gegend erlaubt

Und vielleicht spielt in der «Tankstell» noch eine kalifornische Garagenpunkband – die Kulturstadt St.Gallen birgt Erstaunliches. Von Marcel Elsener

Bilder: Grabenhalle (2), KinoK, Kunstmuseum (Ausstellung Roman Signer), Theater, Kellerbühne.

Wohin man denn jetzt noch gehe, in welchen Club, wollten die Lausannerinnen wissen, euphorisiert vom bisherigen Verlauf des Abends. Etwas zu begeistert – denn sie vergassen, dass es ein stinknormaler Montagabend war, Mitternacht längst vorbei, und sie überschätzten, wo sie waren. Die amerikanische Postrock- Band Slint hatte im «Palace» gespielt, exklusiv in der Schweiz, was zwar nur wenige Ostschweizer interessierte, dafür gut hundert Leute, die aus fernen Grossstädten anreisten, aus München, Mailand, Lyon, sogar Wien, Zagreb, und aus allen möglichen Schweizer Städten bis Genf und eben Lausanne. Und jetzt standen die beiden Frauen, ernüchtert von den Antworten der Einheimischen, am Blumenbergplatz und überlegten, ob sie nun in den Kebabladen sollten oder in eine Milieubar, oder wo sie sonst auf den Frühzug warten sollten.

Man könnte ähnliche Konzertgeschichten aus der benachbarten Grabenhalle erzählen, wo ebenfalls diesen Frühling die New-Wave-Legende Gary Numan (an einem Sonntag) und die Avantgarde-Kunstrocker The Residents (an einem Montag!) spielten, mit jeweils grossem Anteil auswärtiger Besucher. Und mit ähnlichem Ausgang: Staunen, Kopfschütteln, Warten, hier in dieser kleinen Stadt, die sich ganz schön aufblähen kann. Bis nicht nur Auswärtige denken, sie sei eine Grossstadt, obwohl man doch gerade wieder Heugeruch in der Nase hatte und man die grünen Hügel jederzeit von überall sehen kann. Der reizvolle Gegensatz der urbanen Kultur vor dem ländlichen Setting ergibt das allsommerliche Augenreiben Zehntausender Popteenies am OpenAir St.Gallen. Was im Fall des Festivals vor den Toren der Stadt gewollter Effekt und Teil des Erfolgs ist, passiert aber auch im St.Galler Kulturalltag: Dann wundert man sich vor der Kunsthalle, wo man eben durch die leuchtenden Klangräume eines jungen Londoners gestolpert ist, oder im Ausgang des Theaters, fasziniert von der Schweizer Erstaufführung von «Ödipus Stadt», wie gross nun eigentlich diese Stadt sei.

Es ist mit St.Galler Kultur eben ein wenig wie mit dem St.Galler Fussball: Die Ostschweizer Stadt spielt besser mit als erwartet, und sie lässt in vielen Saisons manche grösseren Städte wie Lausanne, Luzern, Winterthur oder Bern hinter sich, und sie kann an guten Tagen auch mal die wirklich Grösseren wie Basel und Zürich schlagen; Ausschläge nach ganz oben wie Landesmeistertitel (zuletzt 2000) und Europaliga-Sieg gegen Chelsea London nicht unmöglich. Und wie in der Kultur gibts auch hier die gute Alternative zum Platzhirsch FCSG: Der SC Brühl spielt in der dritthöchsten nationalen Liga und damit wacker mit unter den Top-36-Clubs im Lande.

Das «Viertelmillionen-Gallen»

Jammer der Provinz, Jubel der Grossstadt: Typischerweise trifft beides auf die St.Galler Kulturszene zu. Oft genug pendelt sie noch am gleichen Anlass zwischen den Extremen, wenn beispielsweise die Freude, dass ein seltener Stummfilmklassiker im KinoK in der Lokremise gezeigt wird, der Ernüchterung weicht, dass ihn nebst den Begleitmusikern nur das Grüppchen der üblichen Verdächtigen sehen wollte. Dabei ist gerade das Programmkino im «neuen Brennpunkt urbaner Kultur» am Bahnhof eine erfreuliche Erfolgsgeschichte: Weil seine Vorstellungen häufig ausverkauft sind, werden bereits Rufe nach einem zweiten Saal laut. Dass Eigen- und Fremdwahrnehmung weit auseinander klaffen, ist nun allerdings kein St.Galler, sondern ein grundsätzliches Problem von Szenen, Trends, Interessen. Und noch banaler ist die Erklärung, warum St.Gallen einerseits mit grossen Städten mithalten kann und andererseits doch immer wieder im provinziellen Jammertal landet: Es verzehrt sich im Spagat zwischen der kleinen, pardon mittelgrossen Stadt mit aufgerundet 75’000 Einwohnern und einer Agglomeration mit 200’000 Einwohnern von Rorschach bis Gossau und – interkantonal – von Arbon bis Herisau und Teufen.

In Anlehnung an das «Millionen-Zürich» wäre dies ein «Viertelmillionen-Gallen», mit einem Kulturangebot von etablierten Institutionen und alternativen Einrichtungen, das in fast allen Genres gut bis sehr gut oder doch genügend ist. Und das, wie der 2001 aus Niedersachsen zugewanderte Schauspieler Marcus Schäfer staunt, die meisten drei- oder viermal grösseren deutschen Provinzstädte locker aussticht. Und er meint nicht nur das Theater, wo sich St.Gallen unbestrittenerweise ein Dreispartenhaus leistet, während andere wie Erfurt, immerhin die grösste Stadt Thüringens, sogar das Schauspiel streichen muss.

Vergleichsweise beklagt St.Gallen da und dort mal ein Luxusproblem wie das angeblich fehlende Lokal für mittelgrosse Popkonzerte und Comedy-Events, das ehrgeizige Veranstalter aus der Poetry-Slam-Szene ausgerechnet in der nach wie vor von Pferdesportlern genutzten Reithalle ausgemacht haben – die Volksabstimmung findet am 28. September 2014 statt. Oder es bedauert einen temporären personalbedingten Einbruch, etwa wenn ein schillernder Tanzchef die Stadt verlässt wie dieses Jahr Marco Santi, oder wenn ein Lokal verloren geht wie das «Gambrinus» und die heimatlose Jazzgemeinde ihren Konzertclub nunmehr als «stadtweiten» anpreisen muss.

…dann nützt das beste Kulturangebot nicht viel

Noch mehr Lokale und Veranstaltungen? Muss nicht sein, das Publikum scheint schon jetzt überfordert. Freilich ist die Frage, wieviel und welche Kultur diese Stadt hat und haben müsste, immer wieder eine Diskussion wert. Allein die Kreuzbleiche im Westen der Stadt gäbe genug Stoff her: Im neu eröffneten Restaurant Militärkantine, an der von Stardesigner Martin Leuthold tapezierten Bar, liesse sich inspiriert darüber streiten, ob nicht ein Gebäude am andern Ende der Kreuzbleiche geeigneter und dringlicher wäre für eine kulturelle Nutzung als die Reithalle: sprich das Zeughaus. Im ehemaligen Militär-Lagerhaus sehen manche den idealen Standort für eine eigenständige Schule für Gestaltung, wie sie die Textil- und Typographie-Hochburg verdiente.

Mehr zu reden als die Kultur gibt in den letzten Jahren ihr Umfeld, die Baukultur, Architektur, städtebauliche Entwicklung. Wenn Nischen und Freiräume verschwinden, oder Altbauten wie das populäre spanische Klubhaus nördlich des Bahnhofs seelenlosen Neubauten oder Parkplätzen geopfert werden, nützt das beste Kulturangebot nicht viel. Thematisiert hat das jüngst ein etwas larmoyanter Szenenfilm namens «Little Mountain Village», so bezeichnete ein New-York-Times-Reporter tatsächlich jenes St.Gallen, wo seine Wegelin-Bankenstory spielte. Und zuverlässig angestiftet und begleitet werden solche Diskussionen vom Kulturmagazin Saiten, das dicke, vielstimmige Schwarzweiss-Heft ist ein weiteres Kulturwunder in der «Ostschweizer Metropole», soeben runde 20 Jahre alt.

Auch die Grabenhalle (30 Jahre) und die vielleicht typischste St.Galler Kulturinstitution, die Kellerbühne, jubilieren (50 Jahre) – ein Zeichen der Ausdauer in einer Stadt, in der es oft einige Grad kälter ist als in der Restschweiz; sie ist auf 700 Metern unvorteilhaft hoch gelegen und in ein enges Tal zwischen zwei Hügel gepresst. Die randständige, kühle Lage abseits der grossen Zentren Zürich und München mag für die Kulturvermittlung und Produktion aber eher ein Vorteil sein: Ruhe, Konzentration und Ausdauer sind hier begünstigt, derweil die Szene vor den hysterischen Schnellschüssen, wie sie in den Zentren abgefeuert werden, eher gefeit scheint.

Mangelndes urbanes Selbstverständnis

«Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge»: Der wunderbare Titel eines Gedichtbands von St.Gallens grossem Journalisten und Schriftsteller Niklaus Meienberg, obwohl nicht auf seine ungeliebte Heimatstadt gemünzt, darf trotzdem für sie gelten. Die St.Galler Kultur ist grösser als die Gegend erlaubt; ihr Hauptproblem ist das mangelnde urbane Selbstverständnis, das mit der argwöhnischen, kleingeistigen Umgebung zu tun hat. Dass die regionale Tageszeitung diesen Sommer ihre Seite «St.Galler Kultur» nach 15 Jahren aufgegeben hat respektive in das diffuse Gefäss der «Ostschweizer Kultur» fliessen liess, hilft da wenig. (Immerhin ist ein langjähriger Redaktor jener Seite heute Informationschef der Stadt.)

Doch das beharrliche Grösserdenken, das Sichnichtbeirrenlassen in der kleinstädtischen Peripherie hat einige der besten, wichtigsten und erst noch schwarzgallig humorvollsten Schweizer Kunstschaffenden der Gegenwart hervorgebracht: wie Roman Signer, dessen Retrospektive noch bis 26. Oktober 2014 im Kunstmuseum St.Gallen läuft. Wie Manuel Stahlberger, der mit seiner Band «das beste Schweizer Popalbum der letzten Jahre» schrieb, wie «Die Zeit» über «Die Gschicht isch besser» meinte. Und wie der hinterlistige Maler Beni Bischof, Manor- Kunstpreisträger, dessen «Psychobuch» dem Glamour der grossen Welt eins in die Provinzfresse haut. Sorry, wenn das so gesagt werden muss. Und aufgepasst: Es hat Fallschirmspringer über der Stadt, bald ist wieder Blasmusikfest, wir blättern in Stahlbergers Stadtcomic «Herr Mäder» (ein Must!) und genehmigen uns noch einen Schlummertrunk im «Perronnord» oder «Buena Onda». Und vielleicht, jaja «Güllen» ist manchmal für eine Sensation gut, spielt in der «Tankstell» noch eine kalifornische Garagenpunkband.

Marcel Elsener ist Redaktor im Ressort Ostschweiz beim St.Galler Tagblatt. Sein wichtigstes St.Galler Kulturerlebnis war natürlich das Konzert von The Fall 1983 im Hotel Ekkehard.

Sieben Gründe, warum wir eine Buchstadt sind

St.Gallen ist eine Buchstadt. Warum eigentlich? Schliesslich gibt es hier weder einen grossen Verlag noch eine wichtige Buchhandlung noch eine besonders lebhafte Diskussionskultur. Hier die sieben Gründe, warum es trotzdem stimmt. Von Cornel Dora

Buchstadt seit jeher: Mönch Luitherus überreicht Gallus eine Bild: Stiftsbibliothek St.Gallen (e- Schrift. codies.unifr.ch)

1. St.Gallen beginnt mit dem Buch der Bücher, der Bibel. Sie inspirierte den irischen Einsiedler Gallus, seine Hütte an der Steinach zu bauen. Sie war für ihn mit Leben aufgeladen, fühlte sich so zeitgeistig an wie heute ein Smartphone. Bald kamen andere Bücher dazu: Die Benediktsregel, eine Lebensnorm voller Weisheit, die Werke der Kirchenväter, um die Bibel zu verstehen, Bücher mit den kirchlichen Riten, um Gott zu verehren, Rechtstexte, um die Gemeinschaft zu organisieren, Lehrbücher für die Schule, Enzyklopädien, um einfachen Zugriff auf Wissen zu haben, und Chroniken, um der Geschichte ihre Bedeutung zu geben. Das meiste davon ist bis heute in der Stiftsbibliothek erhalten. Das ist einzigartig.

2. Bauten prägen die Buchgeschichte St.Gallens mit. Schon im frühen 9. Jahrhundert ist auf dem berühmten St.Galler Klosterplan eine Bibliothek eingezeichnet, die erste Zeichnung einer mittelalterlichen Bibliothek. Später diente der Hartmutturm, wenige Meter vom nördlichen Haupteingang der Kathedrale in Richtung Nordwesten gelegen, während Jahrhunderten als Schatzkammer auch für Bücher. Und 1768 wurde mit dem Barocksaal der Stiftsbibliothek einer der schönsten Räume überhaupt geschaffen. Auch andere Bibliotheken verfügen über ein repräsentatives Gewand: die Textilbibliothek im Textilmuseum, die Kantonsbibliothek Vadiana, die Universitätsbibliothek, die Freihandbibliothek in St.Katharinen, die Kunstbibliothek im Sitterwerk und demnächst auch die Bibliothek Hauptpost.

3. In St.Gallen gibt es vergleichsweise früh Zeugnisse für lesende Frauen. Die hochgebildete Inklusin Wiborada gab im Frühling 926 Abt Engilbert den Rat, die Wertsachen des Gallusklosters vor den Ungarn in Sicherheit zu bringen. Mit ihr ist eine St.Gallerin die Kirchenpatronin der Bücherfreunde geworden. Und auch später lasen hier die Frauen intensiv. Das Dominikanerinnenkloster St.Katharinen gehörte im 15. Jahrhundert zu den in der Buchherstellung aktivsten Frauenklöstern. 18 schreibende Nonnen sind namentlich bezeugt. Sie schrieben mindestens 323 Bücher, von denen heute noch 105 erhalten sind, auch im internationalen Vergleich ein schönes und reichhaltiges Beispiel für die Buchkultur in einem Frauenkloster des Spätmittelalters. Mit der Frauenbibliothek Wyborada verfügt St.Gallen heute über eine der wenigen Spezialsammlungen zu Frauenthemen. 4. Der St.Galler «Stadtvater» Vadian war ein Büchermensch. Als Wissenschaftler schrieb er eine ganze Reihe von Büchern und wurde von Kaiser Maximilian zum Dichter gekrönt. Bücher liebte er über alles. In der Reformation schützte er die berühmte Klosterbibliothek vor dem Mob und versuchte sie so für die reformiert werdende Stadt zu retten. Als 1532 das Kloster zurückkehrte, brach ihm fast das Herz. Nicht nur erlitten seine politischen Pläne Schiffbruch, er musste auch die Bibliothek ans Kloster zurückgeben. Um sich sein Andenken zu erhalten, vermachte er seine eigenen Bücher 1551 der Stadt. Daraus hat sich die Stadtbibliothek entwickelt, die bis heute als Kantonsbibliothek Vadiana seinen Namen trägt.

5. Das Drucken beginnt in St.Gallen zwar eher spät, dafür mit einem Knall und einer bahnbrechenden Neuerung. Leonhard Straub, aus angesehener städtischer Familie, druckte 1578 einen Kalender mit den Wappen der eidgenössischen Stände. Es war der erste St.Galler Druck. Dabei fehlte dem Appenzeller Wappenbären versehentlich das männliche Zeichen, was in Appenzell sehr ungnädig aufgenommen wurde. Das sei ein Hinweis darauf, dass sich die Stadt das Land Appenzell unterwerfen wolle, hiess es. Man hisste die Kriegsfahne, und nur dank der Vermittlung des Abts konnte ein blutiger Konflikt vermieden werden. Straub stand in Beziehung zur Schwenkfelder Sekte und war Pazifist. Er lag deswegen im Dauerclinch mit der städtischen Zensur. 1584 wurde er mit seiner Frau und fünf Kindern aus der Stadt gewiesen und wurde katholisch. 1597 folgte seine wohl wichtigste Leistung: Der Druck der ältesten Zeitung Europas, die ein Jahr lang unter dem Namen «Annus Christi» in Rorschach erschien und von Augsburg aus redigiert wurde. Nach Straubs Tod schuf auch das Kloster eine Druckerei, die zwischen 1633 und 1798 etwa tausend Werke publizierte.

6. Schwenken wir zur Gegenwart: Die St.Galler Bibliotheken sind nicht nur bei den Handschriften, sondern auch bei den elektronischen Büchern vorne dabei. Die Digitale Bibliothek Ostschweiz war 2008 der erste digitale Bibliotheksverbund seiner Art auf dem europäischen Festland, heute ist sie mit 130 Teilnehmerbibliotheken auch der grösste. Mit e-codices hat die Stiftsbibliothek schon 2005 eine der weltweit führenden Digitalisierungsplattformen für mittelalterliche Handschriften lanciert, die immer wieder neue Massstäbe setzt und die Wissenschaft anregt.

7. Und schliesslich: St.Galler Buchgestaltung hat einen hervorragenden Ruf. Mit Rudolf Hostettler, Jost Hochuli, Max Koller, Hans-Peter Kaeser und Roland Stieger prägen seit Jahrzenten Gestalter und Typographen aus St.Gallen die international renommierte Schweizer Buchgestaltung mit. Sie arbeiten mit dem qualitativ hochstehenden Druckgewerbe der Region zusammen. Neben der Bibliothek Hauptpost entsteht in St.Katharinen zurzeit eine vorbildliche Bibliothek für Schülerinnen und Schüler sowie Erziehende. Mit der Kulturzeitschrift Saiten besteht in der Region ein Forum für den freien Diskurs, den eine Buchstadt dringend braucht. Und schliesslich werden die heutigen Aspekte des Buchwesens seit einigen Jahren im St.Galler Zentrum für das Buch in der Kantonsbibliothek Vadiana dokumentiert und im Lehrpogramm Buchwissenschaften der Universität vermittelt.

Natürlich, St.Gallen und das Buch, das ist zunächst ein Tanz mit der Geschichte. Aber die Gegenwart regt sich. Wagen wir also die Behauptung: St.Gallen ist eine Buchstadt!

Dr. phil. Cornel Dora ist Stiftsbibliothekar von St.Gallen.

Beziehungspflege statt Selbstmarketing

Video

HSG-Prorektorin Ulrike Landfester über regionale Verankerung, Gemeinwesen und den intensiven Austausch der Universität St.Gallen mit Stadt und Region.

Video: Universität St.Gallen (HSG)

Ulrike Landfester ist Professorin für Deutsche Sprache und Literatur. Als Prorektorin der Universität St.Gallen ist sie seit 2011 für die Internationalisierung und regionale Verankerung der HSG zuständig.

Interview: Markus Zinsmaier. Kamera: Thomas Karrer.

Die schnellste BWL-Studentin

Die Sportstadt St.Gallen ist noch viel mehr als unser FC, der im Durchschnitt alle 67,5 Jahre einen Meistertitel gewinnt. Sie ist zum Beispiel die Leichtathletin Melina Bischof, die für den LC Brühl auf der Tartanbahn und an der HSG im Studium schwitzt.

Melina Bischof, Leichtathletin und zukünftige Bild: Hannes Betriebswirtin. Thalmann

Die Website der IG SportStadt St.Gallen listet rund 70 Sportvereine in der Stadt auf ‒ von Badminton über Orientierungslauf bis Volleyball. Zu den bekanntesten gehört der LC Brühl Leichtathletik, dessen Vorläufer schon 1927 als Leichtathletiksektion des damaligen FC Brühl gegründet wurde. Die Brühler Leichtathleten und Leichtathletinnen mit ihrer Disziplinen-Vielfalt sind ein schöner Teil des St.Galler Sport-Gesichts. Seit den 1960er- Jahren ist die Leichtathletik-Anlage im Neudorf ihr Sommer-Zuhause. Im Winter verfügen sie seit der Eröffnung des Athletik Zentrums St.Gallen 2007 ebenfalls über beste Trainingsmöglichkeiten. Knapp 300 Mädchen, Buben, Frauen und Männer sind im Verein aktiv, die Breitensportler inklusive.

1 Minute, 400 Meter

Melina Bischof ist fast so lange dabei, wie ihr Erinnerungsvermögen zurückreicht. Als Sechsjährige verfolgte sie ein Golden-League-Meeting am Fernsehen. Das hat sie fasziniert. «Und dann habe ich keine Ruhe mehr gegeben, bis mich meine Eltern beim LC Brühl anmeldeten», sagt sie. Heute läuft sie die 400 Meter in rund 60 Sekunden. Der Frauen-Weltrekord der damaligen DDR-Läuferin Marita Koch steht schon seit bald 20 Jahren und liegt bei knapp 47,6 Sekunden. Eine happige Marke aus einer ganz anderen Leichtathletik-Ära. Internationales Edelmetall hängt (noch) keines bei Melina Bischof zu Hause, aber zwei Auszeichnungen von Schweizer Meisterschaften: Silber über 800 Meter im U18-Nachwuchs und ebenfalls Silber über 1000 Meter in der Halle im U20-Nachwuchs. Bevor sie sich auf die 400 Meter spezialisierte, lief Bischof meist grössere Distanzen, vor allem die 1000 Meter.

Ein Hobby, kein Nebenjob

Trotz Spitzenresultaten ist Leichtathletik allerdings in den allermeisten Fällen ein Hobby. Nur einige Dutzend international erfolgreiche Top-Athleten können gut davon leben. Auch Melina Bischofs fünf bis sechs Trainings pro Woche, die durchaus einem 50-Prozent-Job gleichkommen, sind eine intensive Freizeitbeschäftigung ‒ kein Nebenjob mit kleinem Gehalt, wie das zum Beispiel bei Fussball- oder Eishockeyspielern schon auf 1.-Liga- Niveau der Fall ist. «Ich muss mich organisieren und Prioritäten setzen, dann bringe ich in der Regel Studium und Sport gut aneinander vorbei», sagt die Studentin und Athletin. «In der Schweiz müsste man sehr viel Glück haben, um mit der Leichtathletik seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, darum geht bei mir im Zweifelsfall das Studium klar vor.»

Kurze Wege, kleines Budget

Melina Bischof hat das Assessment-Jahr erfolgreich abgeschlossen und nimmt nun das erste Semester BWL in Angriff. Betriebswirtschaft gefällt ihr, «weil sie viele Möglichkeiten offenlässt.» Marketing und finanzielle Führung interessieren sie besonders. «Am wichtigsten ist, etwas zu studieren, das einen interessiert, nicht die Universität», sagt Melina Bischof. Sie hat sich nach einem Infotag im dritten Kanti-Jahr für die HSG entschieden. Als St.Gallerin eine naheliegende Wahl, die ihr auch in der Agenda entgegenkommt. Wer nach Zürich, Basel oder Bern pendelt, braucht Zeit und Geld. Ihre Wege in St.Gallen sind kurz. Und daheim wohnen ist günstiger als eine WG und ein SBB-Abo.

Studium und Sport – weltweit

Melina Bischofs grösstes sportliches Ziel ist, an einem bedeutenden internationalen Wettkampf teilzunehmen. An einer Leichtathletik-Europameisterschaft wie der diesjährigen in Zürich oder an einer Universiade zum Beispiel. Als Studentin kann sie sich auch ein Austauschsemester im Ausland vorstellen, bevor sie dereinst nach ihrem Abschluss in die Berufswelt eintreten wird. Damit die Leichtathletik aber auch während eines Austauschs nicht auf der Strecke bleibt, bieten sich zum Beispiel Länder wie Grossbritannien und die USA an, wo viele Universitäten über eine sehr gut ausgebaute Infrastruktur für Spitzenathleten verfügen – so fänden auch fern von St.Gallen der Leistungssport und das Wirtschaftsstudium gemeinsam ihren Platz in Melina Bischofs dicht gedrängter Wochenagenda.

Jürg Roggenbauch

Studentenleben im Osten

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HSG-Student zu sein heisst für viele, zumindest vorübergehend, auch in der Region St.Gallen zu leben. Zwei Studierende erzählen, wie es für sie war, in die Ostschweiz zu ziehen und was sie an St.Gallen mittlerweile besonders schätzen.

Zufriedene Neo-St.Galler: Wilson Sequiera und Klara Bilder: Hannes Zimmermann. Thalmann

Beitrag: David Zürcher, toxic.fm

Das Alumni-Netzwerk in der Region

Der offizielle Ehemaligenverein der Universität St.Gallen – HSG Alumni – zählt über 21‘000 Angehörige. Viele verstreut über Länder und Kontinente. Doch auch rund 4000 in der Ostschweiz.

Ruedi Aerni, Präsident des Alumni-Chapters Bild: Hannes St.Gallen. Thalmann

Alumni-Clubs im Ausland haben eine lange Tradition. Doch in der Ostschweiz, der Heimat der HSG, gab es lange keinen offiziellen Ehemaligenverein von Absolventinnen und Absolventen der Universität St.Gallen. «Das wollten wir ändern», sagt Ruedi Aerni. «Zunächst wollten wir einen eigenen Verein gründen, doch dann ist uns die Alumni- Organisation zuvorgekommen, indem 2007 das Chapter HSG Alumni St.Gallen ins Leben gerufen wurde». Ruedi Aerni amtet als Präsident.

Die HSG-Alumni-Chapters schaffen ein flächendeckendes Angebot an Aktivitäten für alle Alumni in der Schweiz. Sie stehen allen Mitgliedern der Ehemaligenorganisation ohne zusätzliche Mitgliedschaft und Beiträge offen. Es gibt regionale Chapters wie «St.Gallen» ebenso wie Themen-Chapters.

Über 1000 in der Stadt

«St.Gallen» wird in diesem Chapter weit gefasst. Es reicht von Schaffhausen über den Thurgau und das Fürstentum Liechtenstein bis nach Graubünden und umfasst auch die beiden Appenzell. Knapp 4000 aktive Mitglieder sind registriert, davon über 1000 in der Stadt St.Gallen. «Einerseits ermöglicht uns das Chapter St.Gallen, das Netzwerk unter uns Ehemaligen zu unterhalten», sagt Ruedi Aerni. «Andererseits lässt sich so die Nähe zur Uni pflegen.» Konkret lädt das Chapter jährlich zu etwa fünf Anlässen ein, die allen Mitgliedern offenstehen. Von Schlitteln bis Firmenbesuche ist alles dabei. Auch ein Anlass, an dem es Neues und Wissenswertes von der HSG zu erfahren gibt, gehört jeweils zum Programm. Administrative Unterstützung kommt von der Geschäftsstelle von HSG Alumni, die «sehr professionell arbeitet», wie Ruedi Aerni sagt. So ist sein Ehrenamt kein Nächte-verschlingendes.

Wie die Olma oder der FC

Wie wird man als Alumnus der Universität St.Gallen denn in der Region wahrgenommen? «Das hängt ganz von der Person ab. Es gibt HSGler und HSGler», sagt Ruedi Aerni mit einem Schmunzeln. Er kennt die Vorbehalte, die einige Menschen den Absolventinnen und Absolventen der Universität St.Gallen entgegenbringen. Er sieht das viel positiver: «Die HSG gehört zu St.Gallen wie die Olma oder der Fussballclub.» Überdies profitiere die regionale Wirtschaft über die Zusammenarbeit mit den Instituten der HSG. Auch die Weiterbildungsprogramme seien beispielsweise sehr nützlich. Und zudem bringe die Universität Menschen aus allen Kantonen und Kontinenten in die Ostschweiz. Wie Ruedi Aerni selbst, der für sein Wirtschaftsstudium aus dem Zürcher Oberland nach St.Gallen kam.

Alumni-Nachwuchs

Von der grossen Corporate-Karriere träumte Aerni nie. Nach dem Studium arbeitete er zunächst bei der Leica in Heerbrugg, später im Tourismus in den Flumserbergen und in der Standortförderung in Appenzell Ausserrhoden. Heute ist Ruedi Aerni selbständiger Berater und Dozent. Nicht nur seiner Alma Mater ist er als Präsident des Alumni-Chapters St.Gallen treu geblieben, sondern auch der Ostschweiz. Ruedi Aerni lebt seit vielen Jahren in Herisau. Und für Alumni-Nachwuchs aus der Region hat er gleich selbst gesorgt: Seine Söhne Ruedi und Philipp studieren an der HSG.

Jürg Roggenbauch www.hsgalumni.ch, [email protected]