Editorial - Die unterschätzte Stadt tief im Osten In St.Gallen ist die HSG zu Hause. Höchste Zeit, unserer schmucken Kantonshauptstadt ein Dossier zu widmen. Die Bratwurst. Dass Ihnen dies in den Sinn kommt, wenn Sie an St.Gallen denken, war ja klar. Und das ist auch gut so. Denn, wenn es um die Wurst bzw. um den Senf dazu geht, verstehen wir Ostschweizer keinen Spass, wie Sie dem Dossier-Beitrag von Ralph Weibel entnehmen können. Wir sind mächtig stolz auf unser Leibgericht, doch 165 Gramm Kalbsbratwurst sind nicht alles, was wir hier im Osten zu bieten haben. Zugegeben, wir sind auf den ersten Blick etwas brötig, mehr Realisten als Träumer und bezüglich Selbstvermarktung sollten wir mal einen Kurs an der HSG besuchen. Aber wir befinden uns nicht mehr «in einer kollektiven Depression nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie», wie es Kuno Schedler im Video zu seiner Heimatstadt treffend beschreibt. Auch wenn wir vom Rest der Schweiz allenthalben unterschätzt werden: Wir sind sparsam, effizient, pragmatisch, kreativ, innovativ und «definitiv kein Quartier von Zürich», um unseren Stadtpräsidenten zu zitieren. Doch machen Sie sich bei der Lektüre selbst ein Bild, warum St.Gallen noch mehr als Stiftsbibliothek und Olma ist und was wir zum Beispiel in Wirtschaft, Politik und Kultur zu bieten haben. Und dann sehen Sie uns sicherlich – wenn Sie nicht schon überzeugte Sangallerin sind – mit etwas anderen Augen, wenn Sie das nächste mal herzhaft in eine richtige Bratwurst beissen und dazu ein «Schüga»-Bier trinken… Mit dieser Ausgabe freuen wir uns, eine engere redaktionelle Zusammenarbeit mit HSG Alumni vorstellen zu können. Das Dossier-Thema von HSG Focus wird künftig auch in Auszügen im «alma», dem Alumni-Magazin mit einer Auflage von 23‘000 Exemplaren, aufgenommen. Im Gegenzug ist HSG Alumni neu mit einer eigenen Rubrik in HSG Focus vertreten – ganz im Sinne von «eine Bindung fürs Leben». Und wir können eine weitere Neuerung ankündigen: Ab sofort ist neben der Tablet- und Smartphone-Version auch eine Web-App-Version erhältlich, für alle jene, die HSG Focus am PC lesen möchten. Zugänglich ist diese Version unter magazin.hsgfocus.ch Und nicht vergessen: Machen Sie an unserem Wettbewerb mit und gewinnen Sie HSG-Shop-Gutscheine! Und nun viel Vergnügen bei der Lektüre. Marius Hasenböhler Die nächste Ausgabe von HSG Focus erscheint Anfang Dezember 2014. Ein Stadtrundgang mit Kuno Schedler Video Kuno Schedler über Lieblingsorte und die kulturelle Vielfalt seiner Heimatstadt St.Gallen. Was zeichnet die Ostschweizer Metropole heute aus? Und was verbindet den «Ausbrecherkönig Walter Stürm» mit der «Metro» von St.Gallen? Video: Universität St.Gallen (HSG) Kuno Schedler ist Professor für Betriebswirtschaft an der Universität St.Gallen mit besonderer Berücksichtigung des Public Management. Beitrag: Markus Zinsmaier. Kamera: Thomas Karrer. Wurst und Brot Die Kalbsbratwurst vereinigt alle Attribute, die uns Ostschweizer und Ostschweizerinnen auszeichnen: schlicht und bleich, und erst wenn uns ordentlich eingeheizt wird, sind wir überhaupt geniessbar. Von Ralph Weibel Zeichnung: Corinne Bromundt Als St.Galler wird einem die Wurst in die Wiege gelegt. Ich habe von St.Galler Eltern gehört, die ihren Kindern keine Nuggi in den Mund stecken, wenn sie schreien, sondern einen Wurstzipfel. Während in Bern oder Basel Kinder mit Barbies spielen, spielen St.Galler Kinder mit Bratwürsten. Was dem Walliser das Raclette ist, oder dem Tessiner der Merlot, ist dem St.Galler die Kalbsbratwurst. Sie vereinigt alle Attribute, die uns Ostschweizer auszeichnen: schlicht und bleich, und erst wenn uns ordentlich eingeheizt wird, sind wir überhaupt geniessbar. Schon etwas verrückt, nicht? Unser ganzer Stolz besteht aus frischem Kalbfleisch, Bratstücken, Voressen, Schulter, Brust, Hals und Halsspeck. Dazu Magermilch, Kochsalz, Milcheiweiss, Pfeffer, Muskatblüten und eine kleine Prise Phosphat. Falls Sie jetzt nicht wissen, was Phosphat ist, ich kann Sie beruhigen, ich musste es auch auf Wikipedia nachschauen. Phosphate sind die Salze und Ester der Ortho-Phosphorsäure. Das Anion PO4 hoch 3 sowie seine Kondensate und Phosphorsäure-Ester werden Phosphate genannt. Phosphor liegt bei all diesen Verbindungen in der Oxidationsstufe vor. Ich erwähne das nur, falls sie sich selbst eine Bratwurst basteln wollen. Das Ganze wird zu Brät zerkleinert und in einen Naturdarm gefüllt. Naja, beim Gedanke daran könnte einem schon fast der Appetit vergehen. Entgegen anderslautenden Gerüchten hat es in einer echten St.Galler Bratwurst übrigens kein Schweinefleisch. Sie wird nur in einen solchen Darm gepresst. Denken Sie beim Essen einfach nicht daran. Stellen Sie einen Grill auf Aber zurück zu unserem ganzen Stolz, der doch manchmal komische Blüten treibt. Wir St.Galler huldigen derart unseren Bratwürsten, dass beispielsweise Erika Forster, als sie zur Ständeratspräsidentin gewählt wurde, in ihrer Rede an die St.Galler Bevölkerung von fast nichts anderem sprach. Im Anschluss gab es natürlich keinen Apéro riche, sondern Bratwürste. Wie es eigentlich zu jeder Gelegenheit Bratwürste gibt. Neulich geriet ich unbeabsichtigt in die Neueröffnung einer Landi-Filiale. Dutzende von Menschen waren da. Und was taten sie? Sie trieben sich nicht etwa bei den Heckenscheren oder den Gummistiefeln rum, nein! Sie standen in einer Schlange und warteten, bis sie an der Reihe waren, um sich zu einem Schnäppchenpreis frisch gegrillte Bratwürste zu kaufen. Nicht eine, nicht zwei, nein ganze Körbe voll, um damit ihre Familie zu ernähren. In der Ostschweiz gibt es keine bessere Aktion um Leute anzulocken, als Bratwürste. Vergessen Sie eine Miss irgendwas als Attraktion, die zur Einweihung von 50 neuen Fahrradständern abgemagert – weil sie zu wenig Bratwürste isst – und grinsend Autogramme verteilt. Auch ein abgehalfterter Zirkusclown, der Ballons zu Giraffen dreht, um die Gäste ihrer Frühjahrs-Autoshow zu unterhalten oder ihr neues Kosmetikstudio zu eröffnen langweilt. Wollen sie St.Galler anlocken, stellen Sie einen Grill auf. «Da cha nur än Zürcher si!» Das finden Sie vielleicht etwas eindimensional, aber so sind wir nun mal. Genau so einsilbig sind wir, wenn wir bei einem Auswärtsspiel des FC St.Gallen auf dem Letzigrund von anderen St.Gallern in einer Warteschlange vor dem Imbiss erkannt werden. «Läck, Du wöttsch nöd öppä z’Züri ä Brodwurscht fresse?», wird der andere St.Galler mit jeder Garantie angeekelt entsetzt fragen. Genauso sicher können Sie sich sein, dass 1000 Stimmen im Chor schreien: «Ä Sanggallär Brodwurscht isst mä ohni Senf!», wenn ein Zürcher an der OLMA, dem alljährlichen, landwirtschaftlichen Botteleon, nach Senf fragt. In den folgenden paar Minuten drehen sich die Gespräche nur noch um ein Thema. Es bilden sich Menschengruppen, St.Galler Menschengruppen, und die Luft füllt sich mit Sprachfetzen wie: «Da glaubsch nöd, vor mir hät eine Senf bestellt!» oder «Da cha nur än Zürcher si!» Garantiert findet sich einer, der sich direkt an den Zürcher wendet und ihm erklärt, eine St.Galler Bratwurst mit Senf zu essen sei so verwerflich wie auf einem Kinderspielplatz zu rauchen. Manchmal ist mir das Getue um die St.Galler Bratwurst richtig peinlich. So peinlich, dass ich mir vornehme, nie wieder eine St.Galler Bratwurst zu essen. Das hält an, bis ich am nächsten Bratwurststand vorbeikomme, wo ich mich, wie von einer unsichtbaren Macht geleitet, automatisch in die Reihe stelle und einsehen muss: Alles hat ein Ende – nur die St.Galler Bratwurst nicht. Ralph Weibel ist in St.Gallen geboren (1968), wo er seit 46 Jahren lebt und arbeitet. Seit sieben Jahren leitet er die Redaktion von Radio FM1. Davor gehörte er zwölf Jahre der Sportredaktion des St.Galler Tagblatts an. Neben seiner Tätigkeit als Journalist tritt Weibel seit einigen Jahren auf Slam- und Lese-Bühnen auf. Er hat bisher vier Bücher veröffentlicht. Wobei die drei ersten (Aus- und Einsichten/2008, Irrwege/2009, Wurst und Brot/2010) vergriffen sind. 2012 erschien «Toiletten Lektüre», welches in einer zweiten Auflage vorliegt. «Wir sind kein Quartier von Zürich» Warum St.Galler mehr Realisten als Träumer sind, die Ostschweiz ein starkes Zentrum braucht und die Stadt schon bald zum Innovations-Mekka der Schweiz werden könnte – ein Gespräch mit Stadtpräsident Thomas Scheitlin. Thomas Scheitlin: «Wir St.Galler sind Bild: Hannes Realisten.» Thalmann Herr Scheitlin, wenn Sie als Stadtpräsident einen Werbespot machen müssten: Mit welchen drei Begriffen würden Sie St.Gallen anpreisen? Thomas Scheitlin: St.Gallen ist mit der Universität, der Empa, der Fachhochschule und der Pädagogischen Hochschule eine innovative Bildungs- und Forschungsstadt. Sie ist ein attraktiver Wirtschaftsstandort mit einer breiten Basis an Unternehmen und Hauptsitzen wie Helvetia, Raiffeisen oder der St.Galler Kantonalbank. Und sie bietet eine hohe Lebensqualität mit Naherholung rund um die Stadt, am Bodensee oder im Appenzellerland. Wenn Sie drei Lieblingsorte in St.Gallen benennen müssten, welche wären dies? Scheitlin: Zum einen ist dies der rote Platz von Pipilotti Rist, denn er ist Ausdruck von Innovation und Kreativität. Zum anderen gefällt mir die Lokremise, die Modernität und Tradition sowie Urbanität abbildet. Und als drittes sind es für mich die Drei Weieren, die die Lebensqualität der Stadt verkörpern. Und das Zusammenspiel aller drei macht St.Gallen für mich komplett. In welchen Bereichen ist St.Gallen noch nicht so weit, wie Sie sich das wünschen würden? Scheitlin: Zum einen wird der Mehrwert einer starken Hauptstadt, in die es sich zu investieren lohnt, sowohl
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