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Die Sollinger Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 2 Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 3

Die Sollinger

Volksbilder aus dem Sollinger Walde

Von

Heinrich Sohnrey

Berlin 1924

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Deutsche Landbuchhandlung G.m.b.H. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 4

Alle Rechte vorbehalten

Druck von Ernst Siegfried Mittler und Sohn,

Buchdruckerei G.m.b.H., Berlin SW 68, Kochstraße 68 – 71.

Titelzeichnung von J. von Kulas Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 5

Herrn Oberregierungsrat Siegert in Münster der sich als Landrat des Kreises Uslar unablässig und in segensvollster Weise für die Wohlfahrtspflege des Sollings eingesetzt hat in herzlicher Verehrung gewidmet. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 6

Vorwort. Als ich vor einigen Jahren einmal im Kreise guter Freunde im Ratskeller zu Göttingen saß, kam ein Herr, der meinen Namen gehört hatte, an unseren Tisch und fragte sehr lebhaft, wo eigentlich mein Buch „Die Sollinger in Sitte, Sang, Sage und Sprache“ erschienen wäre? Auf mein Erstaunen lächelte er wie ein heimlich Wissender und sagte, er hätte anfangs der achtziger Jahre in der „Göttingen- Grubenhagenschen Zeitung“ einen Aufsatz von mir über die Matthiasgebräuche im Solling gelesen, dem die Fußnote beigefügt war: „Aus einem demnächst erscheinenden Werke ,Die Sollinger in Sitte, Sang, Sage und Sprache‘.“

Also gab es doch jemand, der die voreilige Ankündigung des jungen Bergdorfschulmeisters nicht nur gelesen, sondern auch über all die Zeit hinaus, das heißt an vier Jahrzehnte, behalten hatte. Denn es verhielt sich in der Tat so, daß ich bereits im Jahre 1883 aus das lebhaft geplante Werk über das Volk- stum des Sollings hinwies. „Demnächst!“ Damals dachte ich wahrhaftig nicht, daß wir erst 1923 schreiben müßten, ehe das Werk im Druck erscheinen würde.

Nun, damals hatte ich erst das Volkstum der , des sehr eigenartigen Bergzuges, der dem Sollin- ger Walde im Osten vorgeschoben ist, erforscht und darüber mancherlei in den Zeitungen und Zeit- schriften veröffentlicht, den eigentlichen Solling aber nur flüchtig durchstreift. Als ich mich dann tie- fer in sein Volkstum hineingehorcht hatte, sah ich erst ein, wie ungeheuer viel noch zu sammeln und zu tun war, um den Titel zu rechtfertigen, den ich meinem Werke geben wollte. Und da ich mich auch noch an der Universität ein wenig umsehen wollte, so schob ich vernünftigerweise meinen Plan auf und nahm mir vor, die nächsten Jahre auf die Durchforschung des inneren Sollingsgebiets zu verwen- den.

Nach meiner Göttinger Zeit vom Schicksal dann zunächst nach Süddeutschland verschlagen, begann ich dort, mich mit dem Volkstum des Schwarzwaldes zu befassen, und es vergingen Jahre, ehe ich wieder in den Solling zurückkam. Von 1895 an aber, als ich von Freiburg i. Br. nach Berlin übergesie- delt war, hielt ich mich, so oft ich konnte, wieder im Sollinge auf und ging den Bewahrern von ur- sprünglichem Volksgut in Sitte und Brauch, abergläubischen Anschauungen, Sprichwörtern und Re- densarten, Sagen und Liedern mit unablässigem Eifer nach.

Nun kann man ja in einem derartig abgeschlossenen Wäldergebirge, wie es der Solling ist, schließlich aus jedem Dorfe ein volkskundliches Buch holen. Meint man mit einem fertig zu sein und kommt nach Jahr und Tag dahin zurück, so sieht man immer wieder neue Quellen aufsprudeln. Kurz und gut, ich glaube damit zur Genüge erklärt und gerechtfertigt zu haben, weshalb sich die Herausgabe dieses Werkes, das sich in der Vorstellung meiner Freunde schon zu einer Art Seeschlange entwickelt hatte, über einen so großen Zeitraum hinaus verzögerte*).

Aus der weltentrückten Lage des Sollings und seiner geringen industriellen Entwicklung erklärt es sich, daß die über zahlreiche Dörfer und verschiedene kleine Städte verteilte Bevölkerung von der Weltkultur noch nicht übermäßig angegriffen, beeinflußt und angekränkelt ist. Sie hat sich, natürlich besonders in den Dörfern, noch viel ursprüngliche Denkweise, Kraft und Frische bewahrt. Das Volk-

*) Um mit in den gegenwärtigen Stand des Volkstums im Sollinge neue Einblicke zu verschaffen, durchradelte ich im Frühsommer 1922 sechs Wochen hindurch noch einmal das ganze Sollingsgebiet. Leider ging mein dik- kes Skizzenbuch dann im Eisenbahnzuge verloren, und alle meine Bemühungen um Wiedererlangung des Bu- ches, aus dessen Deckel mein Name gedruckt stand, blieben erfolglos. Es wäre ja nicht ganz unmöglich, daß ich mit diesem Buche ein irgendwo schlafendes Gewissen wecken könnte. Darum sei hier meine genaue Adresse mitgeteilt: Prof. Dr. h. c. Sohnrey, Berlin-Steglitz, Beymestraße 9. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 7 stum des Sollings ist noch ein wirklicher Jungborn; ein unerschöpflicher Quell sprudelt uns entgegen, wenn wir uns liebevoll und mit innigem Verständnis zu ihm hinabneigen. So bietet uns der Solling denn auch noch eine reiche Fülle und bunte Mannigfaltigkeit von alten Volkstumsgütern, wie auch an Sondergestalten kräftigsten Gepräges.

Man möge aber nur deshalb nicht etwa aus geistige Beschränktheit und Zurückgebliebenheit schlie- ßen. Urwüchsig in ihrem Wesen, stark in Beharrlichkeit und Unentwegtheit, ist den Sollingern neben einer natürlichen Schwerfälligkeit eine gute Dosis Mutterwitz, eine lebhafte Intelligenz, wie auch – in neuerer Zeit – eine gute Volksschulbildung eigen. Es ist eine, allerdings noch gebundene, kernhafte geistige Kraft, die, oft überraschend, aus der physischen hervorleuchtet. Das darf nicht vergessen wer- den, wenn wir in dem so treu bewahrten geistigen und sittlichen Erbe der Väter so mancherlei finden, was man mit dem nüchternen Menschenverstande nicht recht zu vereinbaren weiß. Die Sollinger sind ja heute in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht mehr in dem Maße Subjekt abergläubischen Denkens und Tuns wie die früheren Geschlechter. Man hat jedenfalls zu unterscheiden zwischen einem noch gutgläubigen, naiven Volksteile und dem geistig stärker fortgeschrittenen, dem alles bereits in eine gewisse Entfernung gerückt ist. Als erfahrener Sammler aber weiß man schon nach kurzer Unterhal- tung, ob der Gewährsmann oder Erzähler; dem einen oder dem andern Volksteile zuzuzählen ist, also ob er einem Brauche, einem Aberglauben schon objektiv gegenübersteht, oder selbst noch Gläubiger und Ausübender ist.

Natürlich sind die Zustände in den inneren Sollingsdörfern noch erheblich ursprünglicher und quellfri- scher als in den Randorten, wie z. B. in dem westlichen Wesertale. Am Strom mit Furt und Fähre, an bedeutenden Verkehrsstraßen hat der Wogenschlag der Zeit, obgleich auch lange aufgehalten, früher und stärker gewirkt als in den Gebirgs- und Waldwinkeln des inneren Sollings. Der alte Volksgeist geht dort einer rascheren Zersetzung entgegen, sein nachklingendes Raunen hörte früher auf, denn sie sterben allmählich aus, die letzten Märchen- und Sagenerzähler, die letzten Gewährsmänner alter Bräuche, und jeder nimmt einen Teil alter Überlieferungen, alter Volkspoesien mit ins Grab. Doch auch im inneren Sollinge, darüber dürfen wir uns trotz allem und allem nicht hinwegtäuschen lassen, ist der Abbruch stellenweise schon offensichtlich und die Ursprünglichkeit der Überlieferungen mehr und mehr bedroht. Jedenfalls ist es hier wie dort höchste Zeit, das mündlich überlieferte niederzu- schreiben, zu sammeln und zu bewahren. Aufzeichnungen z. B., die weiland Pastor Harland in Schön- hagen in den siebziger und achtziger. Jahren machte, und die mir von den Angehörigen in dankens- werter Weise zur Verwertung überlassen wurden, könnten heute zu einem guten Teile noch gemacht werden.

„Alles Volkstümliche, so schön und vertraut es sein mag gehört Überwundenem und Versunkenem an,“ sagt Professor Dr. Hans Naumann in seinem geistvollen Werke „Grundzüge der deutschen Volkskunde“ (Leipzig 1922). Kann ich das in dieser Unbedingtheit auch nicht als richtig anerkennen – Volkstümliches an sich kann ja überhaupt nicht, veralten –, so stimme ich dem Gelehrten um so leb- hafter zu, wenn er dann zu dem Schlusse kommt: „... aber aus den Gütern der primitiven Gemein- schaftskultur strömt eine, köstlich-frische, erdhaft-junge, ewig-urwüchsige Kraft.“ –

Das entspricht ja dem klassischen Urteil W. H. Niehls, dessen Name in diesem Buche nicht fehlen soll: „Solange es Volksgruppen gibt, deren volle jugendliche Triebkraft noch halb im Schlummer liegt, gleich der Triebkraft ihres heimischen, vom Anbau noch nicht ausgesogenen Bodens, Volks- gruppen, die noch in den Flegeljahren der Kulturgeschichte stecken, solange soll man noch nicht vom Ende Deutschlands reden. Wenn die Mittagssonne der Zivilisation die Ebenen bereits versengt hat, dann wird von den kulturarmen Berg- und Hochländern der Odem eines ungebrochenen naturfrischen Volksgeistes wie Waldeslust wieder neubelebend über sie hinwehen.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 8

Inzwischen haben wir den Weltkrieg erlebt, dessen verheerende Wirkungen sich in unserem ursprüng- lichen Volkstume offenbaren müssen. Solche Wirkungen und Entwicklungen lassen sich nicht aufhal- ten, auch in den Sollingsbergen nicht, und man wird im Laufe der kommenden Jahrzehnte den Welt- krieg mit seinen gewaltigen. Auswirkungen immer deutlicher als den großen Grenzwall erkennen, der das ursprüngliche, primitive Volkstum scheidet von dem neuzeitlichen Volkstum, dessen geistiger, gesellschaftlicher und politischer Inhalt mit dem ursprünglichen kaum noch etwas gemein hat.

Die volkskundliche Wissenschaft der Neuzeit unterscheidet zwischen romantischer und moderner Volkskunde. Nun, ich stehe dem alten, naiven Volkstume, wenn ich auch eine starke Liebe zu ihm nicht verleugnen kann, weder als Romantiker, noch als Moderner, wie auch nicht als Moralist gegen- über. Einzig von dem Gedanken erfüllt, ein unverfälschtes, naturgetreues Abbild vom Volkstum des Sollings zu geben, will ich bei diesem Werke nichts anderes als sein, als ein sorgsamer, pietätsvoller Beobachter und zuverlässiger Schilderer oder Berichterstatter Vergangenes und Gegenwärtiges für eine Zukunft bewahren zu helfen, in der vielleicht alle urwüchsige Sonderart eingeebnet sein wird, ist mein letztes Ziel.

Demgemäß habe ich mich vor allen dichterischen Idealisierungen sorglich gehütet und in jeder Hin- sicht strenges Gesetz sein lassen, die Sitten und Bräuche und die Stimme des Volkes so naturgetreu wie nur möglich zu Papier zu bringen. Man wird das schon daran merken, daß ich bei der schwierigen Wiedergabe des Dialektes mit seinen eigentümlichen Mischlauten oft weniger auf einheitliche Schreibweise, als auf möglichste Lauttreue sah. Ich habe aber das gesammelte Material nicht in trok- ken wissenschaftlicher Form aneinandergereiht, sondern zu lebensvollen und lebensfrischen Bildern zu gestalten gesucht. Das bedingte eine volkstümliche der Darstellung, die indes der Reinhaltung des Stoffes in wissenschaftlicher Hinsicht keinen Abbruch tun soll.

Leider ließen sich die Zeichnungen und Bilder, die ich im Laufe der Jahre zusammengebracht hatte, nicht mit verwerten. Die Herstellung der Bildstöcke hätte einen weiteren Kostenaufwand erfordert, der sich mit einem noch einigermaßen erträglichen Verkaufspreise des Buches nicht in Einklang bringen ließ.

Habe ich nun auch den ursprünglichen Plan des Werkes, der einen noch ausgiebigeren Inhalt vorsah, des Kostenzwanges wegen nicht innehalten können, insbesondere alle Versuche, zu deuten, zu erklä- ren und zu vergleichen, aufgeben müssen, so glaube ich doch ein volles, reines und rundes Bild von dem alten primitiven Volkstume des Sollings gegeben zu haben. Mögen die Sollinger selbst diese oder jene Einzelheit noch vermissen, so werden sie mir doch gewiß gern zugeben, daß Wesentliches nicht fehlt. Im übrigen verweise ich darauf, daß ein zweiter Band mit dem besonderen Titel „Tchiff tchaff, toho!“ (Hackelbergs Jagdruf) die Sagen und Geschichten des Sollings bringen wird. Ein weiterer Band, „Wald- und Ackerleute“, ist in Vorbereitung. Eine Sammlung von Spinn- und Spielliedern ge- denke ich später folgen zu lassen. Vorausgesetzt natürlich, daß über die gewaltigen Hindernisse der Zeit hinwegzukommen ist, und – so Gott will. Anderes findet man in meinen sonstigen Büchern, wor- auf an den gegebenen Stellen hingewiesen wird.

Zahlreichen Freunden aus dem Sollinge, die mir bei meinen verschiedenen Wanderungen im Sollinge in entgegenkommendster Weise Gastfreundschaft geboten und meine Nachforschungen an Ort und Stelle immer bereitwillig gefördert haben, verfehle ich nicht, meinen tiefempfundenen Dank auch an dieser Stelle auszusprechen. Ich nenne: Die Lehrer Bartels in Sievershausen, Bauer in Nienhagen, Bock in Fohlenplacken, Bode in Trögen, Postmeister Breunig in Moringen, Bauermeister Ebeling in Eschershausen, Pastor Engel in Volpriehausen, Superintendent Hardeland in Uslar, Kantor Helmold in Espol, die Hauptlehrer Hogrefe in Hellenthal, Jünemann in Schönhagen, Könecke in Lauenförde, Dü- vel (u. Baumann) in Wahmbeck, Mensing in Delliehausen, Nagel in Dassensen, Familie von Ohlen in Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 9

Fredelsloh, Heinrich Schomburg in Moringen, Pastor Schomburg in Braunschweig, früher in Boffzen, Rektor Tecklenburg in Göttingen, Hauptlehrer Teggenthien in Wiesen, Lehrer Traupe und Frau Ma- riechen in Lauenberg, Schmiedemeister Heinrich Utermöhle in Schönhagen. Den Professoren Dr. Eduard Kück in Berlin und Dr. Wilh. Seelmann fühle ich mich für gelegentliche Auskunft verpflichtet.

Mögen „Die Sollinger“ nicht nur im Hannoverschen, sondern auch im ganzen deutschen Volke die Gastfreundschaft finden, die sie selbst in so feiner und herzlicher Weise auszuüben gewohnt sind!

Berlin-Steglitz, im August 1923.

Heinrich Sohnrey. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 10

Wo eck up edoft (getauft) sin, da bleïwe eck äak beï.

De Sollger. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 11

Inhaltsverzeichnis.

Seite

Vorwort 6

Einleitung (Landschaftliches; Geschichtliches; Bauweise; Brauch und Glaube; Örtliche Charakterver- schiedenheiten; Sprachliches) 13 Lebens- und Jahreslauf 24 Wenn wieder eins in die Welt kommt 24 In den Zwölften 28 Weihnachten 29 Neujahr 32 Das Einbrocken 35 Der Spinntropp 37 Das Schlachtefest 46 Liebesbräuche am Matthiastage 49 Faslamd 55 Spenneweih vom Rathaus 59 Konfirmationsfeier 60 Osterbräuche 63 Der erste Mai 69 Der Kuckuck 70 Der Maibaum 73 Pfingsten auf dem Pfingstanger 74 Das Pfingstsingen 76 Das Wettjagen 78 Pfingstbier 79 Packebier oder Nädigebier 83 Sträußelbier 84 Ein kriegerisches Dorffest 85 Schützenfest in Bodenfelde 91 Kinderschützenfest 92 Flachsbräuche 93 Humor auf der Wiese 98 Johannistag 103 Erntehahn 105 Kirmes 106 „Bäauklesen“ 110 Zwetschenbüttchen 111 Liebesleben 111 Hochzeit 114 Die Leibzucht 123 Der Scheffel bleibt im Hause 128 Der Tod im Sollinge 128 Die „Buntmakers“ 133 Die Läutejungen von Sievershausen 134 Aus dem kirchlichen Leben 136 Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 12

Sonstige Bräuche, Charakterzüge und Gestalten 140 Hiusbörige 140 Hausinschriften 143 Die Volkstracht 146 Brot und Brotknust 149 Die Vesperzeit 150 Der Hexenglaube 151 Der Besen im Volksmunde 156 Das „Besprechen“ 157 „Dat Hilge“, „dat hilge Wark“ 159 Gastfreundschaft 162 Als sie noch den Branntwein tranken 164 Holzdiebstähle 169 Wenn’s Haus abbrennt 171 Die „Hümmelke“ 172 Die alten Hirten 174 Schäfer Mahlmann 178 Töpferweisheit 183 Bäuerliche Rangunterschiede 186 Ein altes „vierblättriges Kleeblatt“ 187 Der Quälbauer 190 Die Mutter des Quälbauern 192 Der Oberholzhauer 193 „Jeremias“ 198 Der letzte Armenhäusler 199 Ortsneckereien 200 Lebensanschauungen in Sprichwörtern und Redensarten 207 Armut 207 Vom Ackern und Rackern 208 Vom Essen und Trinken 208 Drastische Kinderlehre 210 Sonstiges von Kindern 211 Mädchen 211 Hochzeit 212 Frauen 213 Ins Sexuelle spielend 214 Freundschaft 214 Warnungen 215 Besondere Lebensregeln 215 Geiz 216 Genügsamkeit 216 Der Prahler, Wichtigtuer und Hochmütige 216 Dummheit 217 Der Langsame, Schwerfällige und der Faule 217 Nachklang vom Schützenfeste 218 Müller, Bäcker, Schneider, Schäfer und Schinder 218 Das Alter 218 ------

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Einleitung. Was bezeichnen wir als Solling oder Sollinger Wald? Der Begriff ist nicht ganz feststehend. Die einen verbinden mit ihm einen weitern Kreis, die andern einen engern. Geographisch müßte das gesamte Bergland links der und rechts der , nördlich begrenzt durch die Linie Stadtoldendorf– Holzminden, südlich durch die von Bodenfelde–Adelebsen–Hardegsen1), als Solling angesehen wer- den. Als die bekannteren Grenzstädte dieses Gebietes seien genannt: Göttingen, Northeim i. H., Ein- beck, Holzminden (wo die Gattin des Majors Heine, geb. Gräfin Rantzau 1768 den Zichorienkaffee erfand!) und Carlshafen.

Meine Schilderungen halten sich an den engeren Solling mit der Kreisstadt Uslar, der eigentlichen Metropole des Sollings, und den Randstädten Hardegsen, Moringen, Dassel, Holzminden, greifen allerdings gelegentlich auch darüber hinaus.

Gewöhnlich ist es so, daß man in größerer Entfernung den Solling viel weiter faßt, als es die Bewoh- ner seines engeren Gebietes selbst tun.

Der eigentliche Solling oder Sollinger Wald, plattdeutsch „Sollg“, ist ein Massengebirge von etwa neun Quadratmeilen, das sich nach jeder Richtung ungefähr 25 km erstreckt und weite Hochebenen bildet, deren Pflanzenwelt an die des Oberharzes erinnert. Als höchste Erhebung bezeichnete Guthe (Die Lande Braunschweig und Hannover, Hannover 1888) noch den Moosberg über Neuhaus, der nach seiner Angabe bis zu 498 m ansteigt. So gilt denn auch allgemein immer noch der Moosberg als höchster Berg des Sollings; aber obgleich er nach späteren Feststellungen nicht 498 m, sondern 509 m mißt, ist er doch erst die vierthöchste Höhe des Sollings. Als die größte muß vielmehr die Große Blöße zwischen Sievershausen und Silberborn angesehen werden Sie mißt 526 m, der Große Ahrensberg 522 m, der Mittelberg 515 m.

Die durchweg fiskalischen Waldungen des Sollings erstrecken sich in die hannoverschen Kreise Uslar (15361 ha), Northeim (3806 ha), Einbeck (7129 ha), im ganzen also auf den hannoverschen Hauptteil 26296 ha. Dazu kommen noch 10664 ha fiskalischer Forsten, die auf den braunschweigischen Kreis Holzminden entfallen. Wir haben hier somit ein ununterbrochenes Gebirgswaldgebiet von 36960 ha vor uns.

Nächst dem Harze ist der Solling das größte geschlossene Waldgebirge des nördlichen Mitteldeutsch- lands. Mit seinem Waldcharakter läßt sich vielleicht nur der Spessart vergleichen. Trotzdem, und ob- gleich in der deutschen Dichtung vornehmlich in den Erzählungen Wilhelm Raabes, als, Hintergrund mehrfach deutlich gezeichnet, ist der Solling selbst in den gebildeten Kreisen Deutschlands nahezu unbekannt, unbekannter jedenfalls als irgendein anderes Waldgebirge ähnlicher Art und Größe. Es kann einem immer wieder begegnen daß bei Nennung des Namens Solling erwidert wird: „Ach so, ja, Solingen, wo die schönen Stahlmesser herkommen!“ Nun gibt es zwar im Sollinge auch einen Ort Sohlingen, der ist aber nicht durch Stahlmesser, sondern durch die große Sohlinger Musterbleiche berühmt geworden.

Geologisch genommen, besteht der Solling gleich den andern Oberwesergebirgen Bramwald, Kaufun- ger Wald und Reinhardswald, aus Buntsandstein. Nur seine östlichen und nördlichen Vorgebiete, wie

1) Im Original-Buchtext steht an dieser Stelle „Adelepsen“. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 14 die Weper, die Grubenhagener Berge, haben Muschelkalk, sie sind sozusagen die Reste der Muschel- kalkdecke, die einst auch den des Sollings überlagerte1).

Staatlich gehört, wie schon die Waldverteilung zeigte, der größere, und zwar der südliche und östliche Teil des Sollings zu Hannover, der nördliche und nordwestliche zu Braunschweig. Die Grenzlinie zwischen den beiden Ländern setzt an der Weser zwischen den Dörfern hannoversch Lauenförde und braunschweigisch Meinbrexen an, schneidet auf der Höhe des Sollings den bekannten Luftkurort Neu- haus in eine braunschweigische und eine hannoversche Seite, überquert das Mecklenbruch, läuft in Hellenthal hinunter und rechts an Merxhausen vorbei.

Der Sollinger Wald liegt gleichsam wie eine Insel in dem flutenden Verkehrsleben der Zeit. Die Bahn Kreiensen–Holzminden führt nördlich an ihm vorüber, während allerdings die Linie Northeim– Ottbergen einen südlichen Teil des Gebirges durchschneidet, den Bollert2) vermittels eines beträchtli- chen Tunnels. Die vor einigen Jahren entstandene Nebenbahn Göttingen–Bodenfelde endet an eben- genannter Staatsbahnlinie, führt also auch nicht in den eigentlichen Sollinger Wald hinein, ebensowe- nig wie die nördliche Einbeck–Dassel. Eine während des Krieges in Angriff genommene und bis Schönhagen geführte Nebenbahn ist der ungeheueren Kosten wegen bis heute (1923) unvollendet ge- blieben. Sie sollte nach dem von Landrat Siegert lebhaft verfochtenen Projekte über Neuhaus fortge- führt werden, also den hohen Solling überqueren und sich an die Bahnlinie Salzderhelden–Einbeck– Dassel oder die Staatsbahn Kreiensen–Holzminden schließen. Das steht nun aber in weitem Felde.

Die starke Abgeschlossenheit des Sollings wird noch erhöht, durch die ihn rings umgebenden Berg- und Stromgebiete: im Süden und Südwesten Bramwald und Reinhardswald zu beiden Seiten der We- ser, die sich südwestlich fast rechtwinklig um den gewaltigen Sockel des Waldgebirges windet und den Solling im ganzen Westen abschließt, im Norden durch Vogler, Elfas, Hils und Ith.

Geschichtlich betrachtet liegt der Solling im Augagau des alten Engernlandes, dessen Einwohner einstmals die Cherusker und später bei der Teilung der Sachsen – in Ostfalen, Westfalen und Engern – die Engern hießen. Die heutigen Sollinger können also ebenfalls als die unmittelbaren Nachkommen der streitbaren Cherusker angesehen werden, die vor 2000 Jahren der römischen Welteroberung im inneren Deutschland Halt geboten; als die Nachkommen auch des mächtigen alten Sachsenstammes, der dreißig Jahre lang die heimischen Götter gegen den gewaltigen und gewalttätigen Frankenkaiser Karl, genannt der Große, verteidigte. In zäher Treue hat er, wie sich an manchen Stellen dieses Buches offenbaren wird, den Zusammenhang mit seinen alten Göttern bis in die Gegenwart bewahrt; manches, was wir heute insbesondere im abergläubischen Denken und Tun und in manchem Brauch als dunkel und unverständlich, oder verstandeswidrig finden, hellt sich sofort auf, wenn wir es in das Licht der heidnischen Vergangenheit stellen.

In lateinischen Urkunden tritt das Sollingsgebiet als „Solege“ und „Soligo“ auf. Rektor August Teck- lenburg in Göttingen, ein Sohn des Sollings und der beste Kenner seiner Geschichte, deutet und be- gründet den Namen als Sumpf und Moor (sol = Sumpf, Moor, Bruch; solig = sumpfig, moorig, bru- chig); Soligo also unzweifelhaft Sumpfgau. Noch bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden die tiefen Fahrwege – Chausseen gab es noch nicht – stellenweise von tiefen Sümpfen unterbrochen; Fußwanderer konnten nur aus den hohen Uferpfaden der ausgefahrenen Hohlwege gehen. Vier Pferde

1) Der Göttinger Mittelschullehrer Heinrich Deppe hat die geologische Beschaffenheit des Oberwesergebietes mit dem Sollinge eingehend geschildert in seinem Buche: „Die Landschaften Südhannovers und der angrenzenden Gebiete.“ (Göttingen 1912.)

2) Im Original-Buchtext steht an dieser Stelle „Bollerk“. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 15 mußte der Bauer gewöhnlich vor seinen Wagen spannen, um diese Wege zu überwinden, und oft war es dann so, wie man die alten Leute noch erzählen hört, daß den Tieren bei der Durchfahrt der ver- sumpften Stellen das Wasser bis an den Bauch ging.

Dieser natürlichen Beschaffenheit des Gebirges, verbunden mit einem rauhen Klima, wird es zuzu- schreiben sein, daß beim Vordringen der Germanen in Deutschland der Solling nur schwach besiedelt wurde. Immerhin wird man sagen können, daß er im Innern in früheren Jahrhunderten mehr Siedlun- gen hatte als heute. Findet man doch hier und da in den Gründen der Wälder noch Spuren einstigen Ackerbaus, wie auch manche Namen von Forstorten darauf hindeuten. Pastor Harland in Schönhagen hat anfangs der achtziger Jahre in der „Göttinger-Grubenhagenschen Zeitung“ (33. Jahrgang; die Jah- reszahl ist mir entfallen) eine ganze Reihe von Wüstungen im hannoverschen Sollinge nachgewiesen und beschrieben. Die Siedlungen haben sich nicht gehalten, weil der feuchte, naßkalte, zum Teil moo- rige Boden und das rauhe Bergklima die Ansiedler in verschiedenen Zeiten veranlaßte, in die Täler hinabzuziehen und sich den dortigen Ortschaften anzuschließen. Die Wüstungen sind also jedenfalls nicht nur durch Kriege entstanden, wie man im Volke gemeiniglich annimmt.

Etwa siebenhundert Jahre nach der Einwanderung der Germanen, also im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung, griffen die Bekehrungsversuche der christlichen Sendboten auch auf den Solling über. Karl der Große unterstützte sie ebenso eifrig wie gewalttätig. Unter seinem Sohne, Ludwig dem Frommen, schenkten die Verwandten des edlen Sachsen Theodrat den Platz hethi oder heidi, d. i. Hei- de, hoch oben im Sollinge zur Gründung eines Klosters vom Orden des heiligen Benedikt, das nach dem Stammkloster Neu-Corvey genannt wurde. Aber nicht lange hielten es die Mönche da oben in der rauhen Wildnis aus. Wie Forstmeister Ziegenmeyer in Holzminden in einem auf guten Quellenstudien beruhenden Vortrage („Der Hausfreund“, Northeim 1896, Nr. 94–99) berichtet, sollen Erdbeben den Ochsenbach bei dem Kloster verschüttet haben. Die Annalen von Corvey schildern den Ort jedenfalls als unerträgliche Wüste. Kaiser Ludwig schenkte nun den Mönchen ein Gebiet an der Weser, nahe bei dem Königsgute Huxori, heute Höxter, und dort entstand in den Jahren, 822 bis 826 ein neues Kloster, das heutige Kloster Corvey, wo Hoffmann von Fallersleben als Bibliothekar der Klosterbibliothek seine letzte Lebenszeit verbrachte und auch begraben liegt. (Den Weserfahrern bieten die stattlichen Klostergebäude mit den hohen Mauern und Bäumen einen ausdrucksvollen Anblick.)

932 wurden die Mönche allerdings durch die heranziehenden Ungarn genötigt, ihre Zuflucht wieder in den Solling zu nehmen, wie dieser auch durch spätere Jahrhunderte hindurch noch mit der Abtei Cor- vey in enger Fühlung geblieben ist. Das Wildbret des Sollings war z. B. als Abgabe ein die Klosterkir- che zu liefern. Nach altem Herkommen mußten es zum Vitusfeste zwei Hirsche sein; als man sich später auf einen beschränkte, nahm ihn das Stift stets unter Protest an. Die bekannte Vitussage gründet sich auf diese historische Tatsache.

Gewisse Ortsbenennungen bei Neuhaus, ebenso ein altes Erdgemäuer daselbst sollen; noch jetzt die Stelle erkennen lassen, wo das Kloster einst gestanden hat. Wie August Tecklenburg meint, hätte auch der heutige Name Neuhaus mittelbar die Erinnerung an die ehemalige Klosterstätte insofern fest, als er daran erinnert, daß hier einst ein älteres Haus, eine ältere Siedlung gestanden hat, der gegenüber man die neuere als das „neue Haus“ bezeichnen mußte.

Diese Neugründung fällt wohl damit zusammen, daß infolge der Verbreitung der Glasfabrikation an den verschiedensten Stellen des Gebirges Glashütten, zunächst als Wanderglashütten, errichtet wur- den, von denen mehrere, z. B. Amelith mit Polier, Neuhaus, Silberborn, Schorborn, Hellenthal, zu dauernder Niederlassung führten.

Vielfach vorkommender Raseneinstein führte sowohl am Nordrande bei Dassel wie am Südrande bei Uslar zur Anlage von Eisenhütten, die sich bis heute erhalten haben; Die eigentliche Forstkultur setzte Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 16 im Sollinge erst ein, als die weiten Waldbestände in die Hände des welfischen Fürstenhauses übergin- gen.

Im neunten und zehnten Jahrhundert, als der Solling zuerst in die Geschichte eintrat, herrschten im ganzen nördlichen und westlichen Gebiete bis hinüber zur Weser die Grafen von Dassel, deren Stammhaus sich am nördlichen Sollinge befand, da, wo die heutige Stadt Dassel liegt. Die Grafen von Dassel müssen in der Geschichte des Sollings besonders hervorgehoben werden, einmal weil sie zu einer lebhaften Sagenbildung Anlaß gegeben haben, sodann aber auch, weil sie für die Geschichte Deutschlands eine gewisse Bedeutung erlangten, war doch der Reichskanzler und Erzbischof von Köln zur Zeit Barbarossas, Reinwald von Dassel, ein Sproß des angesehenen Sollingsgeschlechts.

Die Grafen konnten indes ihre Herrschaft wegen wilden Daraufloslebens nicht behaupten und verkauf- ten schon 1259 die Hälfte des Sollinger Waldes an das Welfenhaus, das eben durch Tausch auch in den Besitz der Burg Uslar nebst ihren sämtlichen Zubehörungen gekommen war. Andere kleine Er- werbungen brachten schließlich den ganzen Solling in die Abhängigkeit der Welfen. Durch die ver- schiedenen Erbteilungen im welfischen Fürstenhause kam das Gebirge mit einzelnen Teilen wech- selnd in den Besitz verschiedener Landesherren. In der letzten, die im Jahre 1635 erfolgte, entstand die Grenzlinie zwischen dem hannoversch-welfischen und dem braunschweigisch-welfischen Hause, die oben bereits näher bezeichnet wurde.

* * *

Wer zum ersten Male in das Sollingsgebiet kommt, etwa mit dem Hamelnschen Weserdampfer, der von Holzminden ab aufwärts den Solling umfährt, oder mit dem Dampfroß Berlin–Kreiensen– Holzminden, oder Nordhausen–Northeim i. H.–Ottbergen, dem fallen die an waldgrünen Bergen und in breiten Talgründen gelegenen Ortschaften zunächst durch die eigenartig graue Bedachung der Häu- ser auf. Sie ergab sich aus der alten bodenständigen Bauweise, die erst in neuester Zeit eine Abwei- chung erfahren hat. Der Buntsandstein des Sollings enthält in seinen oberen Lagen schieferige Schich- ten, aus denen die Sollinger Platten gewonnen werden, die im Solling wie in seiner weiteren Umge- bung früher ausschließlich zur Dachdeckung wie zur Bekleidung von Außenwänden anstatt der Zie- gelsteine verwendet wurden. So ist z. B. das berühmte Kloster Corvey, auch das Schloß in Bevern mit Sollinger Platten gedeckt. Die. Grundfarbe dieser Platten, meist ein etwas bleiches Rot, geht im Laufe der Zeit in eine herrliche goldbraune, grünlich untermischte Patina auf. Die natürlichen Farbenunter- schiede, graue, gelbe und braune Farbtöne neben den roten, die Unebenheiten und rauhen Ränder alter Platten, die Verschiedenheit der Plattengrößen, die Ansätze von Staub und Ruß geben den Dächern einen besonderen Reiz, den Städten und Dörfern einen eigenartigen altertümlichen Zug. Stadtbauin- spektor Uhlig, auf dessen fachmännisches Urteil ich mich hier stütze, widmet dem Sollinger Platten- dach in der „Denkmalpflege“ (1909 Nr. 14) einen vortrefflichen Aufsatz, in dem er aufs lebhafteste beklagt, daß die charakteristische alte Dachdeckung im Verschwinden sei, jedenfalls auf Neubauten immer weniger verwandt und nicht nur durch rote Ziegelsteine, sondern auch durch weit hergeholte glasierte Falzziegel ersetzt würde. In Holzminden hat man 1909 noch ein schönes altes Bürgerhaus seines prächtigen heimischen Daches beraubt und mit glasierten Falzziegeln gedeckt, wobei die alten Dachhäuschen mit den bekannten Spitzen und Kugeln aus glasiertem Ton nach irgendeinem Muster- buch verziert wurden.

Ja, ist das nicht in der Tat greulich?

Mitten im Solling fand Uhlig Falzziegel, aber nicht solche aus dem Hannoverschen oder Braun- schweigischen, sondern vom Rhein, also aus weiter Entfernung. In Neuhaus im Solling ist das ehema- lige Schloß (jetzt Oberförsterei), sind auch die sehr hübschen alten Gebäude des früheren Remontede- pots wie alle anderen Häuser des Dorfes mit Sollinger Platten gedeckt. Und doch hielt in den letzten Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 17

Jahren dort, annähernd drei Stunden von den nächsten Bahnstationen und fast 300 m über der Eisen- bahn, der Dachziegel und die Dachpappe ihren Einzug. Auch der Ziegelrohbau und das unschöne dünnstielige Holzfachwert mit den unnatürlichen geschweiften Streben aus Fichtenholz, leider auch der rohe Brandgiebel sind stellenweise schon eingedrungen.

Warum aber diese Wandlung, wo so viele alte mustergültige heimische Bauwerte vorhanden sind und es anbewährten heimischen Baustoffen nicht fehlt? Der Sollinger Stein gibt – dies nur nebenbei – ei- nen so schönen Baustoff, daß sogar alte Holzfachwände damit ausgemauert sind. Auch Grabsteine aus Sollinger Sandsteinen in einer dem Gestein entsprechenden Form findet man noch auf alten Friedhö- fen. Jetzt schmückt die bekannte gangbare Fabrikware in Gestalt von schwarzpolierten Obelisken und künstlichen Felsen die Friedhöfe. Die alte heimische Friedhofskunst, meint Uhlig, befriedigt nicht mehr und ist deshalb verschwunden. Ich hingegen glaube, daß der Grund dieser beklagenswerten Er- scheinung lediglich in der großen Betriebsamkeit der Denkmalsgeschäfte zu suchen ist, der die Sollin- ger leider kein heimatkünstlerisches Bewußtsein entgegenstellen, wohl auch nicht entgegenzustellen vermögen.

Im Sommer 1922 sah ich, wie in Hellenthal ein altes Bauernhaus noch mit Sollinger Platten gedeckt wurde. Baumeister C. von Ohlen in Fredelsloh, mit dem ich diese Frage besprach, äußerte sich dazu folgendermaßen: Die Sollinger Platten würden fast gar nicht mehr als Dachbedeckung, wohl aber noch zum Behängen der Wetterseite verwandt, freilich auch hier mehr und mehr der Zementplatte unterlie- gend. Denn diese würden fertig geliefert, während die Platten erst in bestimmte Form gebracht werden müßten. Vor allem aber seien die Sollinger Platten zu schwer, zumal da man heute zu einer leichteren Bauweise gezwungen sei; die Sandsteinplatten erforderten eine viel stärkere, etwa doppelt so starke Dachkonstruktion als der Ziegelstein. Das Eindecken des Daches mit Platten gestalte sich auch hand- werklich viel schwieriger, weil jede Platte zu nageln wäre und weil sie, um die Fugen zu decken, drei- fach übereinander liegen müßten.

Uhlig scheinen diese immerhin schwerwiegenden – ob aber auch wirklich stichhaltigen? – Gründe, nach seinem Artikel zu schließen, nicht entgegengehalten zu sein. Möchten die führenden Bauleute, möchten insbesondere die Baugewerkschulen Holzminden und Höxter sich die ernstliche Prüfung dieser Frage angelegen sein lassen und dem Sollingsgebiete das erhalten helfen, was die Grundsätze einer gesunden Heimatpflege, hier also insbesondere einer bodenständigen Bauweise ergeben.

Das gilt auch im Hinblick auf die Bauart der Hauser überhaupt, die im Sollinge noch durchweg recht charakteristisch niedersächsisch oder mitteldeutsch, in neuerer Zeit aber stellenweise schon ganz cha- rakterlos geworden ist, wie z. B. in dem Umkreise des Kalibergwerkes Volpriehausen. Geradezu er- grimmen muß man im Anblick der amtlichen Bauten, die landfremde, ahnungslose Regierungsbau- männer dem Landschaftsbilde an allen Orten des Sollings aufgezwungen haben.

Was den Umfang der beiden dem Solling eigenen Bautypen, also der niedersächsischen und der mit- teldeutschen anlangt, so herrscht im westlichen Gebiete der niedersächsische, im östlichen der mittel- deutsche Typ vor. Die Grenzlinien ziehen sich, wenn auch nicht in gerader Richtung, ziemlich mitten durch den Solling. Indes mischen sich beide Typen in den Grenzgebieten. Man kann etwa sagen: Je weiter nach Westen und je älter die Häuser, desto ausschließlicher der niedersächsische; je weiter nach Osten und je jünger, desto ausschließlicher der mitteldeutsche Bautyp. Das östlichste, schon ganz ver- sprengt erscheinende niedersächsische Bauernhaus findet man in Nienhagen auf der Weper. Es scheint Dr. Peßler entgangen zu sein, der in einem verdienstvollen Werke „Das altsächsische Bauernhaus in seiner geographischen Verbreitung“ (Braunschweig 1906) die Haustypen des Sollings beschrieben und ihre Grenzlinien mit großer Sorgfalt verfolgt hat, weshalb es sich auch für mich erübrigt, auf diese Seite des Sollinger Volkstums noch weiter einzugehen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 18

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Sitte, Brauch und Glaube sind Gemeinschaftsgut des Volkes. Wer sich aus der in Jahrhunderten ver- wurzelten Gemeinschaft absondert, vielleicht weil er Gymnasium oder Realschule besucht hat, oder weil ihm sonst das Gemeinschaft und Stammesgefühl verlorengegangen ist, wird nicht selten zum Gegner oder Verächter des ursprünglichen, naiven Volkstums. Die Schule jedenfalls hat ihn dem hei- mischen Volkstume entfremdet und ihn nicht gelehrt, sich richtig zu ihm einzustellen. Sonstige nivel- lierende Einflüsse, wie Kasernengeist und andere Berührungen mit dem Weltleben, haben das Ihrige dazu getan, um den Abstand von der eigensten Volksart zu vergrößern. Echte volkstümliche Bildung, die wir leider noch nicht haben, würde jedenfalls eher zu ihr hin, als von ihr wegführen, würde z. B., um mit Simrock zu reden, den gehäuften Schatz mythologischen Wissens durch Deutung geistig ver- werten und so das Dichterwort erfüllen:

Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen.

An die Stelle naiven Glaubens also würde nicht dünkelhafte Überlegenheit, nicht Gemütsöde treten, sondern die Freude am Wissen, die Freude an der Deutung und Wertung der mythologischen Überlie- ferungen, die Freude an der Geschichte und am Reichtum des heimischen Volkstums, an Sitte, Sage und Sprache, die Freude insbesondere auch an den von den Vätern überlieferten Volkspoesien. Nicht nur in Liederformen ist die alte Volkspoesie überliefert, mancher Brauch und manche abergläubische Vorstellung und Anschauung ist auch nichts anderes als sinnbildlich gestaltete Poesie, vergleichbar – sie muß nur richtig erfaßt werden – den Blüten und Blättern der Rosenhecken. Zerrupfe sie, und du hast nur noch Dornen. Reißt die Sitten und Bräuche und all das eigenartige Tun und Treiben, Denken und Dichten, wie es aus dem Volkstumsquell hervorsprudelt, aus dem Landvolke, und durch unsere Dörfer zieht öde und Langeweile, unserem Jungvolk insbesondere entschwindet der wesenhafteste Teil der Lebensfreude, die es jung und jugendlustig erhält und ihm die weltentlegene Heimat unver- gleichlich lieb und teuer macht.

Die überhebliche Absonderung vom eigenen Volkstum merkt man gewöhnlich schon daran, wie der „Abgesonderte“ oder „Fortgeschrittene“ seine Wohlhabenheit an den Tag legt, sich z. B. ein neues Haus baut. Beileibe hält er sich nicht mehr an den althergebrachten Baustil, obgleich dieser sich sehr wohl zeitgemäß fortentwickeln, also auch mit den Fortschritten des wirtschaftlichen wie gesellschaft- lichen Lebens Einklang bringen ließe, sondern er sucht sein Muster womöglich unter städtischen Vil- lenbauten, läßt sich von einem heimatfremden Baumeister oder einem bauenden Dilettanten ein art- fremdes, zwitterhaftes oder ganz wesenloses Baugebilde auf den Hof stellen, unbekümmert darum, ob es in das Heimatbild hineinpaßt oder nicht.

Möchte die Lektüre dieses Buches vor derlei Ausartungen bewahren helfen!

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Die geschilderte Unzulänglichkeit der Verkehrsverhältnisse erklären es, daß sich im inneren Solling industrielle und gewerbliche Betriebe wenig entwickelt haben; Bedeutende Glashütten, die vor dem Kriege hart mit dem Dasein zu kämpfen hatten, bestehen noch in Amelith und Neuhaus. Von den einst so zahlreichen und lebhaft betriebenen Töpfereien hat sich nur noch ein schwacher Überrest in Fre- delsloh erhalten. In dem kleinen Orte Relliehausen bei Sievershausen ist eine bedeutende alte Papier- fabrik, die besonders Papier für die Staatsregierung (zu Banknoten) herstellt. Immerhin weist der Sol- ling in neuerer Zeit nicht unbedeutende neue Fabrikbetriebe auf, die sich aber erklärlicherweise nur an den Randorten ansehnlich entwickeln konnten. Einen starken industriellen Aufschwung erlebte der Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 19

Solling in dem Kaliwerke bei Volpriehausen, das unmittelbar an der Bahnstrecke Northeim–Ottbergen liegt.

Da ein näheres Eingehen aus die volkswirtschaftlichen Zustände des Sollings nicht im Plane dieses Buches liegt, so seien diejenigen, die sich darüber näher informieren wollen, auf das schon genannte Guthesche Werk „Die Lande Braunschweig und Hannover“, neubearbeitet von A. Renner, hingewie- sen, das eine gute und umfassende, nur in ein paar Einzelheiten überholte Schilderung der gewerbli- chen Zustände gibt, wie sie sich im Laufe der Zeit im Sollinge entwickelt haben.

Die industriellen Orte prägen natürlich den Charakter der auf sie angewiesenen Arbeiterbevölkerung anders, als die vorwiegend bäuerliche Masse der Sollingsbevölkerung sonst durchweg geprägt ist. Das zeigt sich einmal im rascheren Verfall des ursprünglichen Volkstums, wie anderseits und namentlich in der Wahl und Auffassung politischer Ideale. Das liegt so nahe, daß es sich nicht verlohnt, darauf näher einzugehen. Zum Glück ist der Gesamtcharakter der Sollinger dadurch nicht ungünstig beein- flußt worden. Die Bodenständigkeit der Arbeiter, unter die nur vereinzelte Fremde eingedrungen sind, wie die Weltentlegenheit des Waldgebirges gleicht eben wieder vieles aus.

* * *

Die Sollinger sind, ihre unvermischte altsächsische Abstammung bezeugend, blond, blau- und grauäu- gig, mittelschlägig und hoch gewachsen, kraftvoll und bestimmt in Gestalt und Wesen. Schnitt und Ausdruck des Gesichts deuten auf Festigkeit und Zuverlässigkeit, Klugheit und Offenheit, aber auch auf diplomatische Verhaltenheit und Pfiffigkeit, namentlich dem Fremden gegenüber, der den Sollin- ger noch lange nicht kennt, wenn er ihn zu kennen glaubt. –

Der Sollinger hängt mit allen Fasern seines Seins an der heimatlichen Scholle. Die Heimat geht ihm über alles. Er ist von einem rastlosen Fleiß und immer sehr auf das Seine bedacht. Diese natürliche bäuerliche Tugend artet allerdings nicht selten aus, so daß die Sollinger dann selber sagen, die Miß- gunst sei zu groß.

Armut findet man wenig, dafür um so mehr kleine Leute, ortsangehörige Arbeiter, die, ehemals größ- tenteils gänzlich ohne „Halm und Ar“, sich in den letzten Jahrzehnten durch hartnäckigsten Fleiß und äußerste „Nehrigkeit“ erstaunlich emporgebracht haben. Das gilt besonders von den Waldarbeitern. Sie haben eigenes Land und Pachtland, auch Wiesen, und manche pflügen mit eigenen Kühen, ohne deshalb die Waldarbeit aufzugeben. Sie sind schon richtige „Tittenbauern“ geworden, wie man in der Gegend von Dassel sagt. Überhaupt ist ein reger Wetteifer zwischen der bodenständigen Arbeiterbe- völkerung und den eigentlichen Bauern am Werke. Das zeigt sich in ganz besonderem Grade in dem großen Acker-, Töpfer- und Handelsdorfe Fredelsloh. Mit zähester Ausnutzung Tagesstunden bis in die Nacht hinein ringen sie ihren gepachteten oder erworbenen Äckern. Die größtmöglichste Ernte ab und streben sie nach Vergrößerung ihres Landbesitzes. Sie ernten vom Morgen, wie man mir sagte, noch mal so viel als die „Großen“, die manchmal auf ihrem Besitz schon etwas bequem geworden sind. Wer etwa noch kein eigenes Haus hat, ruht und rastet nicht, bis er es hat, und läßt sich auf dem Wege zu seinem idealen Ziel, das seine eigenste Kraft ja das Hauptmittel bleibt, selbst durch die größ- ten Schwierigkeiten der Zeit nicht abschrecken. Wenn der Achtstundentag überall im deutschen Vater- lande in solcher Weise durch aufbauende Arbeit ergänzt würde, könnte man sich schon eher mit ihm befreunden.

Den eigentlichen Walddörflern geht natürlich neben ihrem Ackerbau der Wald über alles. Das zeigt sich namentlich, wenn die Beeren- oder Buchernte kommt. Da wandert alles, was Beine hat, in die Wälder hinaus und sammelt ihre Schätze. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 20

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Bei aller Einheitlichkeit des Grundcharakters haben sich die Dörfer, miteinander verglichen, häufig doch sehr unterschiedlich entwickelt.

Fredelsloh z. B. ist von altersher mehr Industrie- und Handels- als Ackerdorf gewesen, darum auch in kultureller Beziehung erheblich weiter vorgeschritten als das eingepfarrte Walddorf Espol. Es flutet dort schon größeres Leben, und die Töpferindustrie wie überhaupt der frühere Handel und Wandel von Fredelsloh hat hier schon etwas mehr Weltgeist hereingelassen, als man ihn in Espol und den inneren Sollingsdörfern findet. Die Espoler tauschen deswegen aber noch lange nicht mit den Fredelslohern, wie überhaupt die gegenseitige Wertschätzung der beiden Nachbardörfer nicht sonderlich groß ist. In Fredelsloh stecke die Schwindsucht, sagen die Espoler, und heiraten möglichst nicht nach dort; aber es kommt auch selten vor, daß ein Fredelsloher oder eine Fredelsloherin nach, Espol heiratet, wo die Kropfbildung hin und wieder auftritt, die man sonst im Sollinge nicht wahrnimmt: Der Charakter der eigentlichen Waldbauerndörfer wie Espol ist beharrlich, konservativ, wie man dort auch heute noch nicht verkoppelt hat, während man in Fredelsloh schon mehr liberalen und – unter den zugewanderten Arbeitern – selbst radikalen Ansichten begegnet.

Die Sievershäuser und Lauenberger unterscheiden sich von den durchschnittlichen Sollingern vor al- lem durch ihre größere Lebhaftigkeit im Tun und Vergnügen. Sie sind sehr fleißig und sehr lustig. In Sievershausen, dessen Bewohnern vielfach eine größere Gerissenheit eigen ist, sollen in den Kriegs- jahren, wie man sagt, einzelne Tataren hängen geblieben sein und sich mit der einheimischen Bevölke- rung vermischt haben. Sicher ist jedenfalls, daß viele Sievershäuser in früheren Jahren mit Heilkräu- tern handelnd nach Holland gingen, was natürlich auf ihr Wesen nicht ohne Einfluß bleiben konnte. Wie ja auch die Merxhäuser, deren viele als Tuchwarenhausierer in der Welt herumkommen, den Cha- rakter ihres Dorfes Merxhausen so beeinflußt haben, daß man es allgemein als „Klein-Berlin“ be- zeichnet.

Die Lauenberger fallen dadurch auf den ersten Blick auf, daß sie Untersetzter und kräftiger an Gestalt sind als die Sollinger gemeinhin; die Lauenbergerinnen sind, wie ein Fredelsloher sich etwas übertrei- bend ausdrückte, „von oben bis unten egal mit strammen Beinen und dicken Taillen“, letztere so aus- geprägt, daß man außerhalb Lauenbergs wohl auch von einer „Lauenbergschen Taille“ spricht, wenn man ein besonders kräftiges Mädchen beschreiben will. Demnach ist auch ihre Kraft und Tätigkeit. Die Frauen pflügen, säen und eggen und tragen den Dünger in Kiepen auf den Bergacker, während die Männer hauptsächlich als Holzhauer arbeiten und ihrem Handwerk obliegen. Es gibt dort viele Mau- rer- und Zimmerleute, die ihrem Berufe auch in anderen Orten, vornehmlich Einbeck, nachgehen. Neben wenigen großen Höfen hat Lauenberg meistens nur kleinere Anwesen. Die Lauenberger mähen auch noch mit dem Sied, einer kurzstieligen Sense, was man sonst im Sollinge nicht tut.

Überall im Sollinge wird viel und gut gesungen, am meisten aber wohl in dem sehr eigenartig aufge- bauten und geradezu tirolerisch anmutenden Waldarbeiterdorfe Hellenthal, dessen Talgrund, das Hel- lenthal, Hermann Löns, der sich wiederholt hier aushielt, mit Recht „das Tal der Lieder“ genannt hat. (Siehe das unter gleichem Titel erschienene Skizzenbüchlein von Hermann Löns.) Die Hellenthaler, ein auffallend schöner Menschenschlag, sind ihrem Ursprunge nach nicht reine Sollinger, sondern mit deutsch-böhmischem Blut durchsetzt. Der Ort Hellenthal ist nämlich durch eine Glashütte entstanden, die ihre Arbeiter zum guten Teile aus Böhmen heranzog. Die Glashütte ist längst eingegangen, die Bevölkerung aber, die sich ausschließlich der Waldarbeit und nebenbei der Beackerung ihrer geringen Bergäcker zuwandte, an Ort und Stelle geblieben und hat sich mit ihrem süddeutschen Einschlage aufs prächtigste entwickelt.

* * * Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 21

Die starke Ursprünglichkeit, die sich in dem einen Orte mehr, in dem anderen weniger ausprägte und sich manchmal in derben Formen äußerte, war wohl auch der Grund, weshalb die Sollinger bis in die jüngste Vergangenheit hinein in den nachbarlichen Gebieten ungerechtfertigt verrufen waren. Die „Sollgklöpper“ wurden sie allgemein genannt, hauptsächlich gewiß im Hinblick auf die vielen Holz- fuhrleute. Insbesondere hielt man sie für hinterhaltig. In meinem südhannoverschen Heimatsdorfe, in das zwei Männer aus Offensen hineingeheiratet hatten, sagte man: „Nöhmet jöck in acht, dat sind Sollger!“ –

Feine Städter, die in den Solling kommen, der ja seit einigen Jahren auch schon als Sommerfrische geschätzt wird, werden, wenn sie ihre rein städtischen Sitten und Empfindungen als Maßstab anlegen, wohl auch heute noch leicht geneigt sein, den Sollinger für roh und unkultiviert zu halten. Ich denke da an die feine und hübsche Stadtdame, die in Neuhaus an einem Tanzfeste teilnahm. Ein kecker Holzhauerbursch, dem es leid tat, daß die hübsche Dame so viel stehen mußte fordert sie ohne viele Umstände zum Tanzen auf. Da sieht sie verlegen an ihrem weißen Kleide herunter und fragt: „Haben Sie auch Handschuh?“ – „Och wat Handschen, ’t is Sommer!“ antwortet er und faßt sie so stramm, daß sie muß, sie mag wollen oder nicht.

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Die Sprache der Sollinger, ein urderbes, breites Platt, verdient, wie die Sprache Südhannovers über- haupt, eine eingehende wissenschaftliche Studie. Ich wundere mich deshalb, daß die Göttinger Ger- manisten (Chöttinger Chermainisten) nicht längst darauf gekommen sind, diese noch ungelöste Auf- gabe auf dem Wege einer Doktorarbeit zu lösen, zumal da die Studierenden doch immer nach neuen Doktorthemen fahnden müssen. Für meine Zwecke werden hier ein paar allgemeine Bemerkungen genügen. Das anlautende s wird stimmlos, d. h. wie scharfes s (Szolling, ßin – bin) gesprochen; das g wie ch, und zwar vor den helleren Selbstlauten e, i, ö mehr als palatales ch (Chöttingen, Chösseln), dagegen vor dunklen Selbstlauten mehr als gutturales ch (Choslar, chaut–gut; aber chäaut (gut), wie das Wort im Solling lautet, schon wieder palatal). Übrigens sind die Anlaute g und s im Solling doch nicht ganz so scharf wie in Göttingen und im Göttingschen, sondern etwas weicher, stimmhafter.

Bedeutend größere Schwierigkeiten machen die dem Sollinge eigenen Gleitlaute vor den Vokalen und Diphthongen, die mir schon in meiner Knabenzeit (außerhalb des Sollings) im südlichen Hannover auffielen. In meinem im Amte Münden gelegenen Heimatsdorfe hat man, wie größtenteils im Kreise Göttingen, noch ganz reine Selbst- und Doppellaute. Man ruft z. B. in Jühnde die Gänse: „Piele, Piele, Piele!“ und nennt die Maus „Mus“, im Plural „Müse“; aber schon in dem eine Stunde entfernten und soviel näher ins Weserbergland gerückten Dorfe Scheden ruft man: „Peuile1), Peuile2), Peuile3)!“ und „Mius“4) für die Maus, im Plural „Muise“5).

Diese Gleitlaute und ebenso die zum Teil mit ihnen zusammenhängenden Doppellaute sind dem gan- zen Sollinge eigen. Sie lassen sich jedoch wegen der örtlichen Abweichungen im Klange nur unvoll- kommen wiedergeben. Z. B. das niederd. ï (mïn = mein), das in meinem Heimatsorte Jühnde als einfa- cher Laut gesprochen wird, erscheint im östlichen Sollinge mit der Weper als eui6), dagegen im Innern

1) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 2) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 3) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 4) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 5) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 6) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 22 des Sollings mehr als eii1) oder e-i2) (eï). Das germanische aŭ, in Jühnde zu ā zusammengezogen (hāch = hoch), lautet im östlichen Sollingsgebiete äau3) (häuch4)), mit dem Ton auf ä, während der innere Solling mehr hä-uch5) oder hä-ach6), zum Teil auch hauch, spricht. (Dies reine au z. B. in Schönhagen, doch auch schon in Fredelsloh); ebenso hat „auch“ (Jühnde: āk) die Formen äauk, ä-uk, ä-ak, auk ne- beneinander; dieselben Lautfärbungen zeigt im Solling u. a. das hochdeutsche „so“. Das germanische ō, um dieses noch herauszugreifen, hat sich ebenfalls zu äau7), ä-u8), ä-a9), seltener zu au entwickelt, z. B. „Buch“: Bäauk10), Bä-uk11), Bä-ak12), Bauk.

Wie stark die lautlichen Abweichungen manchmal bei ganz nahe zusammenliegenden Dörfern sind, sei doch auch noch an ein paar drastischen Beispielen veranschaulicht: Während s und g auf der We- per und in den östlichen Sollinger Waldorten, wie Espol, Delliehausen, Trögen scharf klingen, hört man in Fredelsloh (wohin das dreiviertel Stunde entfernte Espol eingepfarrt ist) und in dem nördlich gelegenen Lauenberg mehr weiches s, und wenn die Fredelsloher die Espoler necken wollen, rufen sie ihnen zu oder nach: „Es chink ein Szäemann aus zu ßäen ßeinen Szamen.“ In Fredelsloh wird g wie g, aber in dem dreiviertel Stunde weiter nach Norden gelegenen Nachbardorfe Lauenberg wird g gar wie j und j wie g, also nicht Jesus, sondern Gesus und nicht jagen, sondern gagen gesprochen. Wenn die Fredelsloher die Lauenberger „eumen“ („oimen“, necken) wollen, brauchen sie nur zu sagen: „Äuuse Käser un äuse Keunig un dat janze duitsche Raich dei söllt draimal hä-uch13 li-eben!“ Um noch eine auffallende Verschiedenartigkeit zu erwähnen: In Espol sagt man „össek“, ebenso in Trögen, dem Nachbarorte (für uns), in Fredelsloh und Lauenberg „ösch“; in Espol heißt es „dertig“ (für dreißig), in Lauenberg und Fredelsloh „drittig“.

In Schoningen heißt es: „Öwwermorn“ (für übermorgen); in Wiensen, eine Stunde weiter: „Morenan- derndag“. In Offensen sagen sie: „Wenn’t uiweste (irgend) is“; in Schoningen: „Wenn ’t einigermaßen is.“

Wenn an fremden Orten, wie gelegentlich bei Holzauktionen, verschiedene Dorfleute versammelt sind, erkennt man sich an dem Unterschied der Sprechweise sehr schnell auseinander. Die Schoninger auf der Jagd rufen: „Hahe, hahe!“; die Ferliehäuser: „Hehe, hehe!“ Ein Ferliehäuser sagte, als er das zufällig hörte: „Da sind welke von iusen under, dei räapet: ,Hehe, hehe’!“

Einen Derenthaler würde man alsbald an dem Wörtchen „öwerig“ (übrigens?) erkennen, das außer in Derenthal nirgends gehört wird. Ein Holzhauer aus Derenthal antwortete einem Förster, der sich über Vorkommnisse unter den Holzhauern sehr ungehalten zeigte: „Herr Föster, dat geiht gerade sä-u asse be-i jönnen Jungen, dei harre seggt: „Me-in Vader sleit me-ine Mutter, me-ine Mutter sleit meck, un eck sla öwerig öuse Zi-ege.“ – Einem Hellenthaler, der sich die Feuerwehrprobe ansehen wollte und zu (spät kam, rief man zu: „Öwerig dat Sprittjen is all iute!“

1) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 2) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 3) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 4) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 5) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 6) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 7) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 8) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 9) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 10) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 11) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 12) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. 13) Im Original-Buchtext befindet sich ein Verbindungsbogen über dem Wort. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 23

Das sollen nur einige Andeutungen sein, die sich noch unendlich fortsetzen ließen. Meine Schreibwei- se im Text ist (dementsprechend nicht einheitlich, sondern verschiedenartig, weil immer von dem Be- streben geleitet, soviel wie möglich lautgemäß zu schreiben. Insbesondere wolle man sich merken, daß über allen Wörtern mit Gleitlauten ein Verbindungsbogen zu denken ist, wie diese Vorbemerkungen ihn zeigen.

------Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 24

Lebens- und Jahreslauf. ...

Wenn wieder eins in die Welt kommt. „Hochteuid, Kinderdäpige is nech weuitl“ So hat der Spaßmacher an der Hochzeitstafel gerufen – und er hat recht prophezeit: Eine gewisse Zeit ist vergangen – und die eine Frau im Dorfe raunt es der an- deren zu: „Wat seggste, met Düvels junger Fröuen is’t alle wat anders.“ Ein dunkles Wort, auf das aber die andere so verständnisvoll nickt, als wüßte sie schon seit Wochen um das Geheimnis.

Düvels junge Frau begegnet ihrer Erzfeindin – und was sie seit Jahr und Tag nicht über sich gewonnen hat, das geschieht jetzt: Sie bietet der Siebrechtschen, mit der sie schon seit langer Zeit böse ist, einen guten Tag. Es mag ihr schwer angekommen sein; aber sie steht jetzt mit einem Fuße im Grabe und weiß: grüßt sie die Feindin nicht, so wird sie ein – stummes Kind zur Welt bringen, denn so geht der Volksglaube. In der Taubstummenanstalt zu Hildesheim befand sich vor einigen Jahren ein taubstum- mes Mädchen, in dessen auf der Weper gelegenem Heimatsorte ich die Leute versichern hörte, das Kind sei taubstumm geboren, weil die Mutter dem Verführer ihrer Schwester nicht die Tageszeit gebo- ten hätte.

Die Ethik des Volksaberglaubens warnt hoffnungsvolle Frauen überhaupt vor allem Unrechttun, wenn sie nicht wollen, daß ihr Kind mit den entsprechenden üblen Eigenschaften zur Welt kommt. Auch sonst ist ihr Tun und Lassen von einprägsamster Wirkung auf das erwartete Kind. Wenn z. B. eine schwangere Frau vor dem Schranke stehend ißt, soll das Kind die Brust nicht nehmen; hat sie Appetit aus eine Speise, ohne sie zu bekommen, wird das Kind immer Hunger haben. Um die Wirkung in dem ersteren Falle aufzuheben, den ich selbst in den achtziger Jahren in Nienhagen aus der Weper erlebte, schloß die Großmutter in der betreffenden Familie das Kind auf einen Augenblick in den Schrank, worauf es die Brust wieder nahm.

Die Zeit ist um – und plötzlich geht ein Raunen durchs Dorf: „Hei mott met’n langen Stocke laus.“ Man hat den jungen Düvel mit dem „Gehstocke“ und im blanken Sonntagskittel hastig vom Hofe ge- hen sehen, und er hat nicht den geraden Weg durchs Dorf, sondern einen Richtweg durch die Hecken und Höhe eingeschlagen. – Was dies verschämte Eilen zu bedeuten hat, nur zu bald wird’s offenbar. Aus einmal heißt’s: „Wetet je wat Negges? Düvels hewwet ’n klein Meken ekregen!“ Also die „Ba- mutter“ (Bademutter, Hebamme) war’s gewesen, der das verschämte Eilen des jungen Mannes und die in solchen Fällen übliche Redensart gegolten hatte.

Düvels hätten zwar zuerst lieber einen kleinen Jungen genommen, um den Stammbaum gerettet zu sehen, es war sogar der Bademutter ein entsprechender Auftrag gegeben worden; doch als sie das „gralläuige“ Mädchen sehen, sind sie’s auch zufrieden und sagen: „Wat kümmt, mäaut ewehnt wern!“ Oder auch: „Et is mant ’n Mäken. No, et schadt nich; wenn naher ’n Junge kümmt, häau weui wene täaun wahren.“

Doch was redete ich da vom Kinderkriegen der jungen Frauen! Als ob der Solling nicht Borne genug hätte, aus denen die kleinen Kinder kommen! Als gäbe es nicht z. B. das Dorf Cammerborn, das sei- nen Namen von der geheimen Kammer in dem dortigen Born erhielt, aus der die Bamutter die kleinen Kinder von jeher geholt hat. Wie ehemals, so auch heute noch, und wer sich mit dem Besitzer des Brunnens nicht gut steht, kriegt keine Jungens, sondern lauter Mädchen. „Wer met meck nech geäaut is“, pflegte er zu sagen, „die kann seck noch säau vele Meue geben, – hei krigt keine Jungens.“ Und so haben die meisten Dörfer ihre eigenen Kinderbrunnen, die Allershäuser den „Helgenborn“, die Bollen- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 25 ser wie die Sohlinger den „Kaspäaul“, die Nessinghäuser den „Speckeborn“ usf. In Vahle hatte so um 1900 noch die alte Dreiersche (Bademutter) den Kinderborn im Keller. In dem braunschweigischen Sollingsdorfe Hellenthal sollen die kleinen Kinder gar aus dem Taufelsborn kommen. Was, wenn man die Hellenthaler kennt, sicher nicht besagen will, daß es etwa Teufelskinder wären, die aus diesem Borne kommen, mag auch hin und wieder mal eins darunter sein. –

Man hat aber nicht selten beobachtet, daß Kinder, die an diesen Versicherungen zu zweifeln begannen, den Kinderborn heimlich mit Haken und Stangen einer gründlichen Untersuchung unterzogen.

Nachdem also das Kind – nehmen wir an, es wäre ein Junge – glücklich zur Welt gekommen ist, sei es nun aus diesem oder jenem Wege, steigt der Vater in seiner Freude eiligst auf die „Rakböhne“ (Rauchbühne), um die für dies Ereignis schon lange ausgesparte „Lüttgejungenwost“1) – man sagt auch „Bameuimenwost“ (Bademutterwurst) – herunter zu holen, die von den inzwischen eingetroffe- nen Verwandten und Nachbarn in vergnügtester Weise einmütig verzehrt wird. Selbstverständlich wird sich dabei auch fleißig zugeprostet. Kommt gerade ein guter Bekannter am Hause vorüber, pflegt man auch ihn wohl hereinzunötigen: „Kumm herin un drink emal un probeere äaukz de Lüttjejungen- wost emal!“ – Halt, was sagt’ ich da? Nicht von der Rauchbühne wird die „Lüttgejungenwurst“ geholt, nein, bewahre – das Kind hat sie, wie wenigstens den Kindern versichert wird, am Beine hängen ge- habt, als die Bademutter es brachte.

In den verschiedensten und seltsamsten Vorschriften äußert sich der alte Aberglaube auch nach der Geburt. Alte „Bameuimen“ (Hebammen) bliesen den abgeschnittenen Nabel auf und zogen ihn auf eine Federspule. War das Kind schulpflichtig geworden, so ließen die Eltern es durch den Nabel se- hen, damit es klug würde. Aus dem Hause, in dem sich ein ungetauftes Kind befindet, dürfen keine Sachen geborgt werden, sonst wird das Kind behext. So erlebte es mein Gewährsmann in Eschershau- sen, daß eine Bitte dieser Art rundweg abgeschlagen wurde. Sonst wird es allerdings mit der Befol- gung solch’ abergläubischer Ratschläge so genau nicht mehr genommen, mag auch noch manche Handlung allein in abergläubischen Meinungen wurzeln.

Ein ungetauftes Kind wird, auch wenn sein Name schon feststeht, alter Gepflogenheit gemäß nur als „kleine Heidecke“ d. h. „kleiner Heide“ angeredet. Erst nach der Taufe hat es ein Anrecht auf den richtigen Namen.

Die Bedeutung des Paten für die Wesensbildung des Kindes spricht sich in folgenden Behauptungen aus: „Die dredde Ader sleit nah’n Pa’n.“ Oder: „Kläauke Pa’n, kläauke Kindere.“ (Die dritte Ader schlägt nach dem Paten. Kluge Paten usw.)

Eine Frau, die selbst ein Kind erwartet, soll man nicht zur Gevatterin bitten, es könnte sonst dem Täuf- ling das Leben kosten.

Die Patinnen, in Eschershausen von der Hebamme bestellt, eilen am Sonnabend vor der Taufe mit Milch und Butter herbei, und es werden handhohe weiße Kindtaufskuchen gebacken.

Vor dem Taufgange müssen Paten und Patinnen sich den Mund hübsch mit Wasser spülen und danach alle spirituosen Getränke meiden, auf dem Wege selbst aber keinerlei leibliche Bedürfnisse mehr be- friedigen, weil das Kind sonst mit entsprechenden üblen Eigenschaften behaftet würde. Die Paten müssen deshalb auch unbescholten sein, damit das Kind unbescholten bleibt. Für den Taufgang selbst gilt die Regel: der Jüngste geht voran und der Nächstälteste schließt sich an.

1) Vgl. das „Schlachtefest“ S. 46. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 26

Vor dem Altare hat die Bademutter Sorge zu tragen, daß das Kind von sämtlichen Paten ein Weilchen auf dem Arme gehalten wird; der Jüngste hält es in der Regel über die Taufe. Dabei ist nun noch ein besonderes Merkzeichen zu beachten, und es soll wirklich Leute geben, die durchaus nicht nur des Spaßes wegen auf das Zeichen achten: Der Pate nämlich, aus dessen Armen das Kind weint, „hat es nicht gern getan“.

Das Patenamt bringt ja freilich allerhand Verpflichtungen mit sich; aber dafür verspricht es auch einen herrlichen Lohn, heißt es doch: Sovielmal einer hat Pate stehen müssen, soviel „Stehens“ (Stellen) werden ihm im Himmel bereitet. Man kann übrigens auf recht merkwürdige Weise zu einer Patenstelle kommen, heißt es doch z. B.: Wer beim Graben zufällig auf einen Wannestein (Grenzstein) trifft, oder wer eine doppelte Kornähre findet, muß bald „Vadder“ werden.

Mehrere Kinder gleichzeitig zur Taufe zu bringen, wird nicht für gut angesehen, denn man glaubt, eins müsse dann sterben. So entsinne ich mich eines Falles, daß eine Mutter, die mit den Gevattern ihres Kindes bereits vor der Kirchentür stand, wieder mit der ganzen Gesellschaft umkehrte, weil bereits ein Täufling in der Kirche war.

Läßt sich eine Doppeltaufe durchaus nicht umgehen, so muß, falls die Täuflinge verschiedenen Ge- schlechtes sind, das Mädchen vor dem Knaben getauft werden, damit es keinen – Schnurrbart be- kommt. An manchen Orten wird aus eben diesem Grunde der Küster veranlaßt, bei jedem Kinde „neu- es“ Wasser zu besorgen, und da dieser Küsterdienst bis in die Kriegszeit noch von dem Ortslehrer verrichtet werden mußte, dieser aber die Unsinnigkeit des Aberglaubens zu bekämpfen hatte, so ist es mitunter zu recht seltsamen Auftritten und Konflikten gekommen. In der Hellenthaler Gegend sah man früher besonders darauf, daß das Kind den Altar berührte, damit der heilige Geist in es übergehe. Das wurde dann kirchlich verboten.

Bei der Heimkehr aus der Kirche werden (in Eschershausen) allen, die dem Taufzuge begegnen, von den Paten Zwiebäcke zugeworfen; ja, die näheren Verwandten und Bekannten der Paten pflegen die Zwiebäcke schon mehrere Tage vorher ausdrücklich mit den Worten zu bestellen: „Bringest meck awer ’n Tweiback mie?“ Und sie hängen scherzweise eine Kiepe am Hause aus als stummen Wink an die Paten, sie mit Zwiebäcken zu füllen.

Auf der Hausdiele angekommen, wird zunächst das aus barem Gelde (vor dem Kriege 6 Mark und darüber oder darunter, je nach Vermögen) bestehende Patengeschenk „beigebunden“. Es fällt aber weg, wenn die Eltern „freie“ Kindtaufe halten, was allerdings „nur alle Jubeljahre“ einmal vorkommt. Ist der Täufling ein Mädchen, so werden (in Hellenthal) auch gern Kränze geschenkt, nämlich zum Schutze der Jungfräulichkeit.

Eine Hellenthaler Waldarbeiterfamilie mit zwölf Kindern – so erzählte mir „Bartels Unkel“ in Müh- lenberg – hatte noch einen Zuwachs von urgesunden Zwillingen bekommen. Bei der Taufe gab es – nicht trotz der Armut, sondern wegen ihrer – zwölf Paten, sechs Mädchen und sechs Burschen („Knechte“), die gerade gegeneinander paßten. Es war aber nichts im Hause, kein Brot und kaum ein Krümchen Salz. Doch die lustigen jungen Leute wußten Rat, holten Heringe und Kartoffeln und sorg- ten auch für Branntwein. Dann aß und trank man in frohester Laune, was eben da war. Die Hauptsache war ja schließlich das Tanzen. Getanzt wurde und getanzt, gehopst und gestampft, bis der Ofen einfiel. Am anderen Morgen hat Bartels Vater den Ofen wieder zurechtgesetzt, und da er von der Frau hörte, daß ihr Mann schon mit dem ganzen Patengelde fort wäre, um drückende Schulden zu bezahlen, so gab er der armen Frau trotz seiner eigenen Bedürftigkeit auch noch einen heilen Gulden. Die Knechte hatten jeder einen Taler, die Mädchen je einen halben als Patengeschenk beigebunden, was für dama- lige Zeit immerhin recht ansehnlich war. Wie Bartels Unkel noch ausdrücklich versicherte, wäre Chri- stian, der Vater der vielen Kinder, trotz der großen Armut und Sorge immer ein lustiger Kerl gewesen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 27

Der jüngste Gevatter muß den Täufling über ein vor dem Stubensüll niedergelegtes Gesangbuch in die Stube tragen und mit folgender Anrede auf den Mutterschoß legen:

„Je hewwet meck egeben ’n Heidenkind, eck bringe jöck weer ’n Christenkind; wenn je ’t räaupet von der Straten, denn söll je räaupen (folgt der Name).“

Hiernach hebt der Vater das vor dem Süll liegende Gesangbuch auf und legt es, blindlings aufgeschla- gen, in die Wiege unter das Kopfkissen. Schläft das Kind lange und gut, wird es auch in der Folge gut schlafen. Verziehen sich im Schlafe seine Mienen wie zum Lächeln, so spielen die Engel mit ihm.

Nach dem Wiedererwachen des Täuflings wird das Gesangbuch genommen und der betreffende Ge- sang gelesen. Je nachdem er einen traurigen oder fröhlichen Inhalt hat, steht dem Kinde ein trauriges oder fröhliches Leben bevor. Das Gesangbuch soll übrigens auch bezwecken, daß das Kind klug wer- de.

Der schon erwähnte „Bartels Unkel“ in Mühlenberg, gebürtig aus Hellenthal, mit dem ich im Sommer 1914 in den dortigen Wäldern Bekanntschaft machte, sagte mir, das Gesangbuch würde dem Täuflinge mit folgendem Sprüchlein unter den Kopf gelegt:

„Lerne was, so kannste was, stehle was, dann haste was – aber laß ’n jeden das Seine.“

Das Kind solle, so wäre das gemeint, den tüchtigen Leuten absehen, wie sie es machen, also mit den Augen das Gute stehlen, wobei natürlich jeder das Seinige behielte.

Somit wären wir endlich beim Kindtaufschmause angekommen und könnten uns, wenn wir, wie der Herr Pastor und der Herr Lehrer dazu geladen wären, besonders an dem mit einer prächtigen braunen Kruste gebratenen Schweineschinken, dem schmackhaften Butterreisbrei, den süßen „Habuttchen“ (Rosinenbrei) und dem ewig kreisenden kalten Grog gütlich tun. Es ist ein lustiges Essen, reichlich gewürzt, nicht nur durch Pfeffer, Senf und Salz, sondern auch durch manche deutsame Späße und Schnurren der übersprudelnden Laune. Der Täuflingsvater bekommt übrigens beim Kindtaufschmause kein schieres Stück Braten, sondern er muß an diesem Tage die Knochen „afpiulen“. (Wird des Spaßes halber strenge innegehalten.) Die Gevattern müssen jedes „Gericht probieren“, lautet ein Paragraph im alten Herkommen.

Die Mutter des Täuflings schneidet sich eine Brotscheibe und bestreicht sie mit Butter, darf sich dabei aber nur der linken Hand bedienen. Vielerwärts hat der jüngste Pate dies Taufbutterbrot zu schneiden und mit Rosmarin zu schmücken.

Verboten ist den Paten das Ausgehen am Tauftage, damit das Kind nicht einmal ein „unruhiger Gast“ wird. Auch die Mutter soll am Tauftage das Haus nicht verlassen, denn in dem Hause, das sie an die- sem Tage besuchte, würde im selbigen Jahre viel Küchengeschirr entzweigeworfen werden. Eine ge- sittete Mutter versteht sich überhaupt schwer zum Ausgehen, ehe sie kirchlich eingesegnet ist, was in der Regel unmittelbar nach der Taufhandlung vor dem Altare geschieht.

Folgen wir dem Lebenslauf des Täuflings noch bis zur Entwöhnung von der Mutterbrust, so wäre da anzumerken, daß ein Kind nicht „abgewöhnt“ werden soll, wenn es schneit. Es würde sonst frühzeitig einen weißen Kopf kriegen. Man kann dem Kinde, das abgewöhnt werden soll, auch „unter der Kir- che“ ein Ei in die Hand geben. Fällt es ihm aus der Hand, wird die „Siugeliune“ (Saugelaune) bald überwunden sein; behält es aber das Ei in der Hand, so wird es noch lange nach der Mutterbrust schreien. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 28

Damit wäre nun meine Kenntnis der Dinge im wesentlichen erschöpft, und ich will nur noch hinzufü- gen, daß die geneigte Leserin sich einen blanken Taler, im benachbarten Braunschweigischen sogar ein neues Kleid, verdienen könnte, wenn sie so glücklich wäre, den – ersten Zahn des Kindes zu fin- den.

In den Zwölften. Unsere alten heidnischen Vorfahren feierten vier Feste, die sich nach dem Stande der Sonne richteten: das (Fest der Wintersonnenwende oder die sogenannten zwölf heiligen Nächte (vom 24. Dezember bis 6. Januar); das Fest der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche (20. März), das Sommersonnenwendfest (21. Juni) und das Ernte- oder Herbstfest.

Nach allem das bedeutendste heidnische Fest war die Wintersonnenwende oder die Zeit der zwölf Nächte. Wesentlich die Tage zwischen Weihnachten und Dreikönigstag. In dieser Zeit ruht die Sonne, ebenso wie zu Johanni. Die Zeit steht daher still, und die Ewigkeit tritt auf eine Stunde ein, d. h. alles, was in der Zeit getrennt ist als Vergangenheit und Zukunft, wird aus einmal zur Gegenwart. Was Hun- derte von Jahren in der Zeit währt, scheint hier nur eine Stunde lang zu dauern. Deshalb leben in den heiligen Stunden der Sonnenwende die Verstorbenen wieder auf und zeigen sich längst zerstörte und versunkene Wohnungen mit den Menschen, die darin wohnten. Vielfach wird im Sollinge erzählt, daß in der Christnacht alte längst versunkene Glocken läuten, um Mitternacht werden in alten Kirchenrui- nen Lichter gesehen, und längst Verstorbene halten eine sogenannte Geisterkirche. Wer sich unter einen Süßapfelbaum stellt, hört die Engel im Himmel singen; das Wasser soll zu Wein werden. (Vgl. Christnachtssagen im zweiten Bande.)

In alten verfallenen Schlössern hört man in der Christnacht die Spinnräder schnurren. Schätze kom- men zum Vorschein, und wer die rote Blüte des Hopfens findet, der ebenfalls in dieser Nacht aus der Erde hervorkeimt, oder wer mit andern einen Lichterkreis schließt, kann da Schätze heben. Vorbildlich zeigt sich in dieser Nacht, was im ganzen Jahre geschehen wird. (Vgl. das Kapitel „Flachsbräuche“.)

In der Christnacht ist auch die Gicht zu heilen. Alte Steine, aus denen Tote abgebildet sind, sollen Tränen Vergießen. In der letzten Nacht des Jahres steht man plötzlich auf, schlägt blindlings die Bibel oder das Gesangbuch aus und merkt sich die aufgeschlagene Stelle. Was man am anderen Morgen auf dem Blatte liest, soll während des Jahres eintreffen. Wer in den Zwölften schadhafte Kleider flickt, hat das ganze Jahr zu flicken, auch Viele Krankheiten am Vieh. Man soll in den Zwölften keine Hülsen- früchte essen, sonst hat man das Jahr unter Geschwüren zu leiden. Reine neue Hemden schenken die Frauen am Christtage den Männern, ursprünglich wohl aus Dankbarkeit gegen die Sonnengottheit, der man das Gedeihen des Flachses zuschrieb. Durch Lichter und Kreise machte man sich die Gottheit geneigt, weshalb z. B. früher die Cammerborner mit Fackeln zur Christkirche kamen. Hühner müssen innerhalb eines Kreises gefüttert werden, der mit einer Erbkette gebildet wird, damit sie in dem Jahre nicht weglegen. In Allershausen schlossen früher die Kinder einen Kreis, wobei sie lange Wachslichter in den Händen hielten.

Die Schweine, deren Borsten wegen ihres Phosphorgehaltes elektrische Erscheinungen haben, waren bei unsern heidnischen Vorfahren der Sonnengottheit geweihte Tiere. Deshalb wurden zur Zeit der Zwölfen die sogenannten Juleber geschlachtet, woran noch erinnern könnte, daß nach der Christkirche die sogenannte Christwurst angeschnitten wird. (Dabei sei bemerkt, daß der Pastor früher auch eine Lieferung davon bekam.) Der Dopp (Zipfel) wurde stillschweigend unter den Balken gehängt. Er soll das ganze Jahr nicht schimmlig werden und für allerlei Kuhkrankheiten gut sein. Man legte auch wohl eine Rotwurst in ein Bund Stroh, band es mit Kreuzknoten zu und legte es auf den Dünger, um eine gute Ernte zu erlangen. Nach der Christkirche legte man drei Hände voll Braunkohlen in die Pferde- krippe, damit die Pferde nicht die „Drense“ kriegten. Es soll ein gutes Zeichen sein, wenn in den Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 29

Zwölfen der Wind stark weht, so daß die Zweige der Bäume tüchtig zusammenschlagen und der Re- gen herabtropft: Soviel Tropfen, soviel Obst.

Diese Zusammenstellung vorausgeschickt, bei der ich mich auf handschriftliche Aufzeichnungen von Pastor Harland in Schönhagen stützen konnte, die er in den siebziger Jahren machte, lasse ich nun die auf Weihnachten und Neujahr bezüglichen Bräuche und abergläubischen Äußerungen folgen, die ich seither nach direkten mündlichen Überlieferungen zusammentrug. Man hat dann zugleich einen An- haltspunkt dafür, was von den alten Anschauungen im letzten halben Jahrhundert verloren gegangen ist und was sich noch bis heute im Volksbewußtsein erhalten hat.

Weihnachten. „Nicklaus“ kennt man im Solling nicht, wohl aber den „hillen Christ“, der am „hilgen Abend“ (Chri- stabend) in die Häuser kommt und an den guten wie bösen Kindern ebenso handelt, wie Nicklaus in andern Gegenden zu tun pflegt.

Um den „hillen Christ“ freundlich zu stimmen und für sich einzunehmen, muß man gut beten können. Ein Kindergebet (in Schoningen) lautet:

„Lieber heil’ger Christ, Komm, wenn’s Weihnachten ist, Bring uns gute Gaben, Pfeffernüsse und Honigkuchen, Aber keine Birkenruten.“

In Schönhagen ist die schlichte alte Fassung des Weihnachtsgebetes durch Einfügung neuer Reime nicht gerade poetischer geworden:

„O du lieber Weihnachtsmann, Ich will beten, was ich kann, Gib mir Nüss’ und Honigkuchen, Aber keine Birkenruten. Laß mich in deinen Beutel sehn – Tanz, dann kannst du weiter gehen!“

Bei diesem Beten, das gewöhnlich mehr ein strenges Gebetsverhör ist, gab es manchmal drollige Auf- tritte. So rief ein Junge (in Schönhagen), als er in seiner Angst und Verwirrung nicht gleich auf den Anfang des Gebetes kommen konnte, mit weinerlicher Stimme: „Mutter, giff meck ’t Abauk (Fibel) her!“ Und ein anderer, der noch ein übriges tun wollte, rief: „Herr Kreskind, häirt Sei düssen auk mal giern?“ (Christkind, hören Sie diesen [Gesangvers] auch mal gern?) Und dann betete er: „Alle Men- schen müssen sterben, alles Fleisch vergeht wie Heu ...“.

Ehe die Kinder in der Christnacht zu Bett gehen, werden von ihnen (z. B. in Fredelsloh) irdene Teller vors Fenster gestülpt, und am Christmorgen in aller Frühe wird in hellem Eifer nachgesehen, was auf dem Teller liegt. Welche Seligkeit, wenn der Teller recht voll ist von Backwerk, Äpfeln und Nüssen und wenn auch sonst noch etwas dabei ist, wonach die Wünsche gingen, z. B. ein buntes Halstuch oder ein Schreibbuch. In Schoningen werden übrigens die Teller erst unmittelbar vor der Christfrüh- kirche und zwar auf den Familientisch gestülpt und während der Kirche, die natürlich von jung und alt gedrängt voll ist, vom hillen Christ gefüllt. Die guten Kinder erhalten alles, was sie gewünscht hatten, und womöglich noch einiges oder viel darüber hinaus; die unartigen aber sehen auf ihren Tellern in Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 30 der Regel nur schlechte Apfel, taube Nüsse und weitere Sachen, die mit dem Wunschzettel in starkem Widersprüche stehen.

Mitunter ist es bei dem Rundgange des „hillen Christ“ wohl auch einmal zu weniger erfreulichen Auf- tritten gekommen, sei es, weil der „hille Christ“, gewöhnlich dargestellt durch verkleidete und mas- kierte1) junge Leute, zu gewalttätig auftrat, oder weil die betreffenden Leute sich zu der alten Sitte nicht mehr recht zu stellen wußten.

So wurde mir von einem Falle in dem sonst so freudig am alten Herkommen festhaltenden Orte Espol erzählt, wo ein Mädchen, das nicht „beten“ wollte, wie es der hille Christ alter Gepflogenheit verlang- te, mit der Fitzelrute gestraft wurde. Ob die Streiche besonders fühlbar gewesen sind, sei dahingestellt, jedenfalls wurden sie sehr böse aufgenommen gar vors Gericht gebracht. Und das Gericht, das in der nur die Unsitte sah, verdonnerte den hillen Christ zu einer Geldstrafe von 1000 Mark, im Falle der Zahlungsunfähigkeit zu usw. Wohlgemerkt, als 1000 Mark noch Vorkriegswert hatten! Die nahelie- genden Bemerkungen dazu möge sich der Leser selber machen2).

Der Tannenbaum als Christbaum ist im Sollinge erst in neuerer Zeit aufgekommen, – durch die vor- nehmen Leute, wie Heinrichvetter Schomburg aus Schoningen sagt. Zu Großmutter v. Ohlens Jugend- zeit war er nur im Pfarrhause und auf dem Klostergute zu sehen. Später kam der Baum auch in den Kirchen auf; heute aber ist er überall zur festen Sitte geworden. In Schönhagen wurde der Christbaum früher mit selbstgebackenen Christpuppen behängt, die man „Gänsemäkens“ nannte. „Dat würn awer auk wecke!“

Als Großmutter v. Ohlen noch in ihren Mädchenjahren stand und in dem tief in den Wäldern gelege- nen Forsthause Grimmerfelde war, ging der alte Merke aus Espol (genannt der „Antichrist“) jeden Christabend nach seiner im Sollinge gelegenen Wiese, um sie zu bewässern, denn das Christnachts- wasser sollte von besonderer Wirkung sein.

Von sonstigen abergläubischen Anschauungen der Sollinger wußte die Genannte folgendes: „Wenn me seck in der Christnacht under’n Seutappelbam sett, denn sall me de ngele in Himmele singen hä- ren.“ Sie hätte auch mal in der heiligen Nacht unter so einem Süßapfelbaume gesessen, – aber nichts gehört. „Auk wasset in der Christnacht dei Hoppe (Hopfen), un säau sind mal twei junge Börschen in der Nacht twischen ölmen und twölmen in de Feldhecke gahn und hewwet äauk richtig junge, greune Hoppen mie brocht, – iut’n Sneie.“ Das hätte sie selbst gesehn. Heinrich Utermöhle aus Schönhagen, der als Junge auch noch unter dem „Seuitgebam“ (Süßapfelbaum) auf das Engelsingen wartete, sagte mir, sein Vater habe behauptet, in der Christnacht treibe die „Christwörtel“ (Kohlwurzel). Einmal wollte er ihm auch die Wurzel zeigen, konnte dann aber im tiefen Schnee die Stelle nicht finden. – Als ich Heinrich Schomburg aus Schoningen aus diesen Aberglauben ansprach, meinte er: Die Leute wä- ren heute schon zu klug, um so etwas noch zu glauben, und das wäre schade, denn wo kein Aberglau- be mehr im Volke zu finden wäre, da wäre auch kein Glaube mehr. –

1) Im Original-Buchtext steht an dieser Stelle „masierte“.

2) Vgl. auch das Kapitel „Als wir beim heil’gen Christ waren und der Hillchrist zu uns kam“ in Hanshenderk Solljer, Heimekenbrinks Engelchristine. (Berlin 1923.) Bei dieser Gelegenheit sei die Lektüre dieses sinnigen Büchleins noch besonders empfohlen. Ws schöpft ausschließlich aus einer Quelle, aus der auch mir gelegentlich ein Trunk kredenzt wurde. Denn Heimekenbrinks Engelchristine ist Großmutter von Ohlen in Fredelsloh, eine ganz vorzügliche Erzählerin, die, 84 Jahre alt, im Winter 1923 starb. Es ist echtes Sollingsgut in dem Buche und kann als eine wertvolle Ergänzung meiner Schilderungen angesehen werden. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 31

In Eschershausen bei Uslar war es vor dem Kriege noch Sitte, daß sich die jungen Leute am Christa- bend in der Wirtschaft versammelten und von da aus um 10 Uhr mit dem Nachtwächter durchs Dorf gingen, um auf der Straße die alten Weihnachtsgesänge zu singen. Der Nachtwächter tutete mit feinem uralten Horn die zehnte Stunde tu-ut, und dann sangen die jungen Leute den Gesang Nr. 1037 im alten hannoverschen Kirchengesangbuche „Erhebet Gott den Frommen“. Einer sagte vor und einer hielt die Laterne. Wenn es 11 Uhr war, der Wächter also zweimal getutet hatte, wurde der Gesang Nr. 336 „Mein Schöpfer steh‘ mir bei“ gesungen und um 12 Uhr folgte Nr. 1040 „Dies ist der Tag, den Gott gemacht“. Am andern Morgen früh ging’s dann zur Christkirche.

Am Weihnachtsabend scharten sich die jungen Leute hin den Spinnstuben zusammen, die betreffen- den Jahrgänge immer für sich. Dann wurde „Nawer“ (Nachbar) gespielt, auch getanzt, indem ein Bursch’ auf dem Kamm blies und ein anderer das „Dreibein“ dazu schlug. Das „Nawer“-Spiel erfreute sich von jeher einer ganz besonderen Beliebtheit und war über den Solling hinaus im ganzen südlichen Hannover verbreitet, habe ichs doch selbst als Junge voll Wonne mitgespielt. Jeder „Nawer“ bekam eine Nawersche auf den Schoß. Ein Bursch’ oder Mädchen ging mit einem zusammengeknoteten Handtuche im Kreise herum und fragte: „Wo gefällt deck de-ine Nawersche?“ Lautete die Antwort „gut“, ging der Frager mit seinem Handtuche weiter zum nächsten Paare, und hieß es auf die Frage „schlecht“, mußte der Schlechtgemachte mit größter Eile weiterzukommen suchen, da ihm sonst das geknotete Handtuch auf den Buckel kam. (In meiner Erzählung „Philipp Dubenkepps Heimkehr“ habe ich das Spiel genauer beschrieben.)

Am dritten Feiertage sagten die Alten, am unschuldigen Kindertage müsse man nicht arbeiten. Es durfte deshalb an diesem Tage auch kein Bauer die Pferde anspannen. Wer dennoch mit seinen Pfer- den in den Wald zog, konnte sicher sein, daß er „Mallör kriegte“. Man erzählte, einmal hätte ein Bauer an diesem Tage ein Fuder Holz geholt und dabei sein bestes Pferd eingebüßt. Da hieß es dann: er hätte sollen zu Hause geblieben sein, dann wäre es nicht passiert.

Die Untätigkeit am dritten Weihnachtstage brachte natürlich allerlei Allotria mit sich. Man verkleidete sich, zog im Dorfe herum und sammelte Würste ein, die an eine von mehreren Burschen getragene lange Stange gehängt wurden.

Der Tatendrang der jungen Leute führte noch zu einem originelleren Brauche, der sich nur in Eschers- hausen herausgebildet zu haben scheint. Hatte ein Bauer einen alten dürrgewordenen Apfel- oder Birnbaum im Garten, oder eine hohe Pappel in der Hecke, so wurde von den jungen Leuten angefragt, ob sie den Baum nicht abhauen sollten. Selten wurde die Erlaubnis versagt, und unter ungeheurem Spaß machte man sich an die Arbeit. Mein alter Freund „Ernstvetter“ Ebeling aus Eschershausen (der jetzige Bauermeister) sagte mir, er könne sich keines dritten Feiertages aus seiner Jugendzeit erinnern, an dem nicht eine Pappel oder sonst ein dürrer Baum umgehauen wäre; überhaupt hätte sich ein junger Knecht den dritten Feiertag ohne einen umgehauenen Baum gar nicht vorstellen können. Aber auch an den übrigen Tagen der Woche ruhte die eigentliche Arbeit; nur das Vieh wurde selbstverständlich wie immer besorgt. Der Pöttcherphilosoph August Sommer in Fredelsloh pflegte zu sagen: „In Wintere mott de Böuere Talg setten.“ Mit andern Worten: er muß wieder Kräfte sammeln für die kommende schwere Arbeit.

„Das war alles noch so“, sagte mir Bauermeister Ebeling im zweiten Kriegsjahre, „bis zum Kriege 1914; aber in diesen Kriegszeiten ist nichts mehr gemacht worden, und es steht nicht fest, ob die alten lustigen Sitten nach dem Kriege mal wieder kommen. Unser altes Osterfeuer hat während der Kriegs- ostern auch nicht mehr gebrannt. So ist zu befürchten, daß durch den Krieg die alten Bräuche alle mit zugrunde gehen. Als diesen Herbst die Zwetschen so schrecklich voll saßen, daß alle Bäume kaputt brachen, sagte die alte Webersche: „Dei ganze Welt geiht in Trümmer, saugar de Zwetschenbäume.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 32

Die alte Webersche hat recht gehabt, aber die alten Sitten und Bräuche haben sich wahrhaftig doch stärker erwiesen als die ganze Welt und die Zwetschenbäume. Es ist fast alles wieder so, wie es vor dem Kriege war, wie ja auch die Osterfeuer wieder von den Sollingsbergen in die dunkle Welt hinaus- strahlen. –

Neujahr. Noch in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wurde die Jahreswende im Sollinge sehr geräuschvoll gefeiert. Schon am Silvestermorgen früh begann das sogenannte „Uemmesingen“. Große und kleine Gruppen von Knaben und Mädchen – und zwar nicht etwa nur armer Leute Kinder, son- dern auch die Bauernkinder – zogen durch das Dorf und sangen von Haus zu Haus: „Schöttelken up den Deuike, Herr Knoke (Dörnte) is säau reuike, Herr Knoke is säau hübsch un glatt, schenket meck huite ak woll wat.“

Oder:

„Äault Jahr nigget Jahr maket meck’n Buil swar, dat is gewiß wahr.“

Oder auch wohl den Gesangvers:

„Ach, wie laufen doch die Jahre, Wie verschwindet doch die Zeit ....“

Um nun die Masse der „Uemmesinger“ der Gepflogenheit gemäß beschenken zu können, waren schon am Tage vorher aus den Armenstöcken der Kirche die Pfennige eingewechselt; denn in der Regel empfing jeder „Uemmesinger“ einen Pfennig, dazu Apfel und Nüsse, auch Brot; waren doch zu die- sem Zwecke eigens kleine und kleinste Singebrote oder „Singeluffen“ gebacken. Mit diesen Broten wurden mehr die ärmeren Klassen bedacht, aus denen sich auch erwachsene und alte Leute dem Um- singen anschlossen.

Wenn sich später auch die Kinder der Wohlhabenden nicht mehr in dem Maße beteiligten, wie noch in den achtziger Jahren, so hat sich dies „Uemmesingen“ doch noch bis in die Zeit vor dem Kriege so ziemlich überall da erhalten, wo es nicht etwa durch den Pastor oder Lehrer in übereifriger Weise ver- boten wurde.

Daß übrigens das „Uemmesingen“ auch nach dem Kriege noch nicht ausgestorben ist, beweist uns u. a. ein Ortsbericht, den die Göttinger Zeitung in ihrer Nummer vom 1. Januar 1922 aus Offensen veröffentlichte. Seit undenklichen Zeiten, heißt es da, versammeln sich am Silvestermorgen die Schul- kinder an bestimmten Stellen unseres Ortes, um von Haus zu Haus zu ziehen und zu singen: „Olt Johr, neit Johr, moket mek den Buil swoar! Keiket mal in de Höchte, da hänget dicke Wöste, de klein’n lotet hängen, de groten giebet mek.“

Oder auch:

„Slötteken up’n Deike, N. N. is säa reike, N. N. is säa hübsch un glatt, giebet össek huite ok noch wat.“

Die aus Geld, Äpfeln, Nüssen und dergleichen bestehenden Gaben werden von einem Kinde gesam- melt, zur Schule gebracht und dort unter die Kinder verteilt. Die Pfennige – ob das aber heute noch Pfennige sind? – werden in einer uralten kupfernen Büchse gesammelt, die mit bunten Bändern ge- schmückt ist. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 33

Am Silvesterabend setzte die nicht mehr schulpflichtige Jugend das Umsingen fröhlich fort. Die Ge- schenke wurden dann schon beträchtlich höher bemessen; es gab Knackwürste oder 50-Pfennigstücke. Ein Bursch trug sogar die Köze (Kiepe), um die Würste einzusammeln, die nachher gemeinschaftlich verzehrt wurden. Meistens waren es so viele, daß man sie auf einmal alle gar nicht bewältigen konnte. Es kam aber nichts um, sondern das übrige wurde am ersten Neujahrsabend in der Spinnstube ver- speist. Dabei ging es ähnlich zu wie am Weihnachtsabend, nur mit dem Unterschiede: Hatten am Weihnachtsabend die Burschen („Spinnknechte“) die Zeche bezahlt, so lag am Neujahrsabend den Mädchen die Pflicht ob, für die Getränke „Sanftenheinrich“ oder süßen Kirsch zu sorgen.

In Eschershausen, bei Uslar, versammelte sich am Silvesterabend die ganze Gemeinde im Dorfwirts- hause, um sich an einem vom Wirte angerichteten Mahle gemeinschaftlich gütlich zu tun. Beim An- bruch der Neujahrsstunde gratulierte man sich gegenseitig, und alle sangen trotz der durch reichliche Getränke schon sehr angeregten Stimmung in feierlicher Weise den Kirchengesang:

„Das alte Jahr vergangen ist, Wir danken Dir, Herr Jesu Christ …“

Die Alten blieben sitzen und prosteten feste weiter, während die jungen Leute in der oben angedeute- ten Weise im Dorfe singend herumzogen.

In Offensen singen heute noch die jungen Männer und Frauen die alten kirchlichen Neujahresgesänge unter dem Geläut der Glocken an den Kreuzungspunkten der Dorfstraßen.

In Schönhagen geht der Nachtwächter mit seiner Frau von Haus zu Haus, tutet mit seinem Nachtwäch- terhorn einen langen Ton und singt auf der Diele:

„Und diesem Herrn dem wünschen wir Glück, Heil und Segen für und für, Gesundheit, langes Leben, Gott wolle ihn also regieren, Daß er sein Werk mit Freuden führe In diesem neuen Jahr.“

„Hei werd denn rinnödiget (hereingenötigt) un wird beschenket.“ Jedoch darf ihm kein Reihemann, also kein richtiger Bauer unter zwei guten Groschen geben, während der Anbauer und Häusling min- destens einen guten Groschen (12 Pfennige) opfern muß.

Ich hatte ihn schon für tot geglaubt, hörte dann aber, daß er noch nicht tot ist, wenigstens noch nicht ganz tot, der Neujahresbock, der früher am Silvesterabend unter gewaltigem Peitschenknallen durchs Dorf getrieben wurde. Ein vermummter Bursch ritt auf einer „Schüddegiffel“ (Stangengabel), die Ga- bel nach vorn (als Hörner), den Stiel mit einem Schwanz geziert. Das Meckern des Bockes und Knal- len der Peitschen hörte man noch bis in die letzten Jahre vor dem Kriege, wie auch der Ruf „de Nie- jahrsbock kümmt“ noch immer ertönte. Man sah ihn aber immer seltener, da sich in der fortschrittli- chen Zeit nur selten noch ein Bursch dazu hergeben wollte, den Neujahrsbock darzustellen, zumal der Name bei der Spottlust der Sollinger leicht an dem Darsteller hängen blieb.

Indes konnte ich gelegentlich meiner letzten Sollingsfahrten (im Sommer 1922) feststellen, daß er in dem Dorfe Trögen noch überaus lebendig ist. Statt der „Schüddegiffel“, verwenden die Tröger ein tierartiges Gestell, das mit einer Kalbshaut überzogen ist und eine rote Zunge hat. Es wird zur Zeit in der Meckeschen Gastwirtschaft aufbewahrt und gilt als „uralt“. Zu Neujahr werden ihm immer wieder neue Schweinsaugen eingesetzt, die der Hausschlächter besorgt. Am Silvesterabend nach der Kirche zieht das Jungvolk (Burschen und Mädchen) mit dem Neujahrsbock, der von einem der witzigsten Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 34

Burschen geritten wird, von Haus zu Haus. Ein Bursche geht mit einer Glocke voran, klingelt vor der Haustür und fragt, ob der Bock hereinkommen darf. Beide Burschen sind maskiert. Andere, ebenfalls in Maskenanzügen, folgen ihnen und lassen den Neujahrsbock in jedem Hause tanzen. Der Bock tanzt aber nicht nur, sondern stößt auch unversehens auf die Umstehenden los. Zur Belohnung erhält er eine Wurst und ein Stück Brot, was übrigens auch während der Kriegsjahre aufrecht erhalten wurde. Stößt einen der Neujahrsbock, so bedeutet das Glück; daher wird am Neujahrstage und nachher auch wohl gefragt: „No, hät deck de Niejahrsbock äauk estott?“ Ist jemandem ein unverdientes Glück zuteil ge- worden, so heißt es: „No, den hät de Niejahrsbock estott!“

Die Mädchen sind unterdessen schon zur Wirtschaft geeilt, um dort den Glühwein zu bereiten, den sie, wie es herkömmlich ist, bezahlen müssen. Um 12 Uhr ist allgemeines Neujahrsspringen. Nach Schluß der Silvesterfeier, also etwa morgens bei 3 Uhr, zieht das gesamte Jungvolk, in welcher Verfassung es auch sein mag, durchs ganze Dorf und singt unter allen Kammerfenstern andächtig: „Bis hierher hat uns Gott gebracht ...“ Dann ertönt der Ruf „Prosit Neujahr“, worauf es munter weitergeht. Aber es gibt auch immer noch wieder einen kürzeren Aufenthalt, denn manche der angesungenen Familien steht aus und läßt es sich nicht nehmen, die Sänger und Sängerinnen noch mit einem bekömmlichen Ge- tränk zu erquicken.

In den achtziger Jahren hörte ich noch mancherlei vom „Neujahrsbrucken“, das ganz in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Es bestand darin, daß die jungen Knechte in den ersten Stunden des neuen Jahres von Haus zu Haus gingen und unter dreimaligem lauten Anklopfen („Anbrucken“) den Haus- bewohnern ihre Neujahrsgratulationen darbrachten. In Süddeutschland nennt man bekanntlich den gleichen oder ähnlichen Brauch „Klopf an!“ oder „Klöpfleinsnächte“. Er ist unzweifelhaft „mythi- schen“ Ursprungs: Wenn in altgermanischer Zeit die Erde in Eis und Schnee erstarrt lag, dann zogen Wodan, Holda (Berchta) und andere Götter im Sturmwind über die Wälder und Felder daher und klopften an die Häuser und Hütten, um den Menschen Glück und Segen zu bringen. Das war die Zeit der Wintersonnenwende, die Julzeit. Sie fällt mit unserer Weihnachts- und Neujahrszeit zusammen, und so betrachtet, führt der Ursprung des Neujahrsbruckens wahrscheinlich um Jahrtausende zurück. Daran aber wird das Jungvolk kaum gedacht haben, wenn es, oft in großer Ausgelassenheit, der alt- hergebrachten Sitte huldigte.

Zu dem Umsingen, Bocksmeckern und Peitschenknallen gesellte sich vielfach noch mit Pistolen- und Flintenknallen das Neujahrsschießen. Spinntruppweise zogen die älteren, mit Pistolen ausgerüsteten Burschen zusammen im Dorfe herum und schossen ihren Bräuten das Neujahr. „Wenn afeschuoten is, werd rinter nädiget, orntig uppedischet, un de Napp mit Honnigkäauken geiht rüm.“ (Schönhagen.) Das Neujahrsschießen wurde aber von der Polizei verboten und so arg verfolgt, daß man es heute nur noch selten hört.

Von abergläubischen Anschauungen, die sich an den Neujahrstag knüpfen, seien folgende erwähnt:

Der Geist eines Menschen, der im Verlaufe eines neuen Jahres sterben muß, geht in der Neujahrsnacht auf den Friedhof und besieht sein Grab. – Von den Schläfern, die sich in der Neujahrsnacht bei bren- nender Lampe im Bette ausrichten, überlebt derjenige das neue Jahr nicht, dessen Kopf an der Wand keinen Schatten wirft. – Wer in der Neujahrsnacht stiehlt und nicht ertappt wird, kann das ganze Jahr stehlen, ohne erwischt zu werden. – Das Futter, das die Hühner und Gänse am Neujahrsmorgen be- kommen, wird mit einer Kette umzogen. Diejenigen Hühner oder Gänse, die nicht in den Kreis kom- men, fallen in dem nahenden Jahre dem Habicht zum Raube oder gehen sonst verloren. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 35

Das Einbrocken. Wurde man in den achtziger Jahren in den Weihnachts- und Neujahrswochen abends in ein Bauern- haus geladen, so lautete die Einladung, sofern man den zu erwartenden Genuß nicht als etwas Selbst- verständliches ansah: „Wie willt äauk inbrocken!“ Mit diesem Einbrocken hatte es dann folgende Be- wandtnis: In einen großen irdenen Napf (natürlich aus dem altehrsamen Töpferdorfe Fredelsloh) wur- de Honigkuchen „gebrockt“, Zucker und so viel Branntwein getan, daß die Brocken darin schwam- men. Das war die sogenannte „Honnigkäaukenkaschale“ (Honigkuchenkaltschale), die von den Gast- gebern und ihren Gästen wie eine Art Suppe gemeinsam ausgelöffelt wurde – und zwar nach altem Brauch oft so, daß sich alle eines und desselben Löffels bedienten. Man fand darin durchaus nichts Anstößiges, denn das Essen mit dem gemeinsamen Löffel hatte eine sinnbildliche Bedeutung: es war ein Sinnbild der Freundschaft und Eintracht.

Ein seltsamer, anheimelnder Reiz lag in der Einladung: „Wei willt äauk inbrocken“, nicht nur für die Männer, sondern auch für die Frauen und selbst für die Kinder, denn, weiß Gott, die „Honnigkäauken- kaschale“ mögen sie alle. Sie wurde auf der Weper sogar „malterweise“ gegessen, denn sechs Löffel voll galten als sechs Himten, und das ist ein „Malter“. Manchmal galt es sogar darum, wer die meisten „Malter“ tragen konnte, und daß da hin und wieder auch mal einer etwas wackelte, läßt sich schon denken.

Zu einem richtigen „Inbrocken“ gehört aber auch ein gehöriger Brocken Wurst oder Schinken. Man hat ja frisch geschlachtet, und links und rechts von dem Honigkuchennapfe stehen Teller, auf denen Würste, vor allem Knack- und Rotwürste, geschichtet sind. Da ist es dann nicht schwer, eine Unterla- ge zu schaffen, bei der sich das Eingebrockte schon malterweise tragen läßt. Wie bei dem gegenseiti- gen Hausbesuche, so wurde auch in den Spinnstuben an den Festtagen eingebrockt. Selbst im Dorf- kruge kam es, wenn auch nur mehr Spaßes halber, dann und wann zum Einbrocken.

Als ich anfangs der achtziger Jahre an einem Silvesterabend in den Krug eines Weperdorfes kam, sah ich gut zwanzig Mann, Burschen und Männer, um eine solche „Honnigkäaukenkaschale“ – auch Brenneweuinskaschale genannt – vereinigt. Dieser Napf war aber auch der größte, den ich je im Sol- ling gesehen.

Artig und eindringlich wurde ich genötigt, mitzutun, man war dabei so aufmerksam, mir einen aparten Löffel zu bewilligen, den ich jedoch ausschlug. Um der alten Volkssitte zu huldigen und meinen lie- ben Landsleuten die festlich-frohe Stimmung nicht zu verderben, trat ich ohne Zögern in die Runde ein und tauchte mit herzhafter Selbstüberwindung – es waren ja lauter kerngesunde Leute da – den gemeinsamen Löffel in die braune, brockige Brühe. Doch als meine Blicke dem Löffel folgten, fiel mir unwillkürlich Schillers „Taucher“ ein:

„Da unten aber ist’s fürchterlich, Und der Mensch versuche die Götter nicht!!!“

Ich versuchte es dennoch, hielt zur nicht geringen Freude der Runde gut durch und hatte mich damit in die Gemeinschaft des Dorfes sozusagen hineingelöffelt.

In dieser Volkssitte wurzelt ein Volksdönchen, das man sich im ganzen Solling erzählt und das von mir schon in den neunziger Jahren aufgezeichnet wurde.

Bei Bierkamps am Gasebrinke hatten sie Silvester gefeiert und natürlich tüchtig eingebrockt. Mutter Dörnte vom Nachbarhofe, die rundeste und behäbigste Frau des Dorfes, war auch dabeigewesen und mußte sich wohl ganz besonders gütlich getan haben. Natürlich war es bei dieser Feier wie immer recht spät, oder vielmehr recht früh geworden, und man hatte kaum drei Stunden in den Federn gele- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 36 gen, als es schon zur Frühkirche läutete. Und wer hätte denn bei solchem festlichen Frühglockenklan- ge im warmen Bett liegenbleiben wollen? Denn wie man das neue Jahr anfängt, so wird es auch be- schlossen. Stob also alles aus den Federn und in die Kleider, um mit zur Kirche zu kommen, und Mut- ter Dörnte kam zuletzt richtig auch noch. Da saß sie nun auf ihrer Hausnummer, und ihre Backen glühten, ihre Äuglein glänzten, und eine tiefe Andacht durchströmte ihre Seele. Als aber die Orgel so „duseken“ zu spielen anfing, vergaß sich Mutter Dörnte und schlief ein und schlief fort und schlief auch noch, als die Orgel anhielt und der Pastor auf der Kanzel mit seiner Predigt begann. Sie träumte, sie säße noch an Bierkamps Tische und äße immerfort Brenneweuinskaschale, ob sie ihr auch schon gänzlich über war. Als sie endlich aufhört, fängt „Nawers Krischan“ an, ihr mit Gewalt noch einen Himten aufzunötigen, eben da kommt der Kirchenvorsteher mit dem Klingelbeutel und stößt sie an, und in der Meinung nun, es wäre „Nawers Krischan“ – der Pastor hat seine Predigt gerade in die übli- chen drei Teile zerlegt – macht Mutter Dörnte eine energische Bewegung gegen den Klingelbeutel und ruft laut in die Kirche hinein: „Näu ak nennen Droppen mähr!“

Ich hatte anfangs geglaubt, dieser Brauch sei nur dem Solling eigentümlich, stellte dann aber fest, daß man ihn auch in der Lüneburger Heide kennt. So bemerkt Eduard Kück in seinem Werke „Das alte Bauernleben der Lüneburger Heide“ (Seite 43): „Am ersten Weihnachtstag wird ebendort ein eigenar- tiges Getränk (Kol-schal, aus Branntwein, Zucker und Honigkuchen zusammengerührt) als Willkom- men geboten und mit einem Holzlöffel gegessen.“ Etwas ausführlicher berichtet darüber Wilhelm Thies in einem Artikel „Im Bann der heiligen zwölf Nächte“ (Niederdeutsche Zeitung, Hannover vom 30. Dez. 1922): In weiten Teilen der Lüneburger Heide wird von der Bevölkerung seit undenklichen Zeiten am Heilig- oder Silvesterabend die Branntwienkolschale (aus geriebenem Honig und Brannt- wein bestehend) mit Leidenschaft gegessen. Dies Festessen, worauf sich die Leute schon das ganze Jahr freuten und das in keinem Hause fehlen durfte, wurde in zinnernem Geschirr hergerichtet, mit einer zinnernen Kelle auf zinnerne Teller gefüllt und mit solchen Löffeln auch gegessen. Das Essen der „Branntwienkolschale“ verursachte daher immer neben der fröhlichsten und ausgelassensten Stimmung und Unterhaltung durch das Klappern und Klirren des zinnernen Geschirrs viel Lärm.“ Selbst die Anekdote wird in der Heide ähnlich erzählt.

Auffällig war es mir danach, daß Richard Andree den Brauch in seiner „Braunschweiger Volkskunde“ nicht erwähnt; da er sonst alles Volkskundliche sehr sorgsam registriert hat, nehme ich an, daß er ihm entgangen ist. Sehr überraschend war für mich ein Brief, den ich auf eine Schilderung des Brauchs im „Land“ erhielt.

„Es wird Ihnen vielleicht nicht unliebsam sein,“ so schrieb mir Rektor Stähler in Elz im Kreise Lim- burg, „zu erfahren, daß die ,Honigkuchenschale‘ nicht, wie Sie vermuten, nur Neujahrseigentümlich- keit des Sollings ist; auch der Westerwald kennt sie. Hier heißt der noch vor 20 Jahren bei allen be- liebte Trank ,Brocksel‘. Aus ,Daawener Branntwein‘ (Dauborn, im Regbez. Wiesbaden, ein durch seine Schnapsbrennerei sehr bekannter Ort), Zucker und ,Leabkuche‘ (Honigkuchen-Lebkuchen) wird er hergestellt. Eine Wasserzugabe wird nach der Trinkfestigkeit der Teilnehmer bemessen: sie wird größer, wenn Frauen und Mädchen mitessen. Denn auch hier wird sie – oder vielmehr wurde sie – mit einem Löffel aus einer großen Suppenschüssel gegessen. Die Gesellschaft saß am Silvesterabend oder auch auf Neujahrstag um den Tisch, und einer reichte dem andern – und zwar peinlich genau immer nach rechts – die Schüssel hin; jeder durfte drei Löffel voll essen. Frauen und Mädchen begnügten sich meist mit einem. War die Reihe durch, so wurde ein Lied gesungen, um dann wieder dem Genus- se zu huldigen. Außer bei dieser Gelegenheit wurde ,Brocksel‘ auch nach beendigtem Dreschen ,gemacht‘.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 37

Der Spinntropp. Wie ein Märchen aus alter Zeit mutete es einen an, ging man in den letzten Kriegsjahren durch eine Dorfgemarkung und sah da und dort wieder einen schmalen Streifen blauschimmernden Flachses zwi- schen die allgemeinen Getreidefelder sich schmiegen. Ja, fast zu Tränen gerührt stand ich nach so vielen Jahren zum ersten Male wieder vor einem jungen Flachsfelde. Es war, als sähe meine Jugend mich mit den blauen Flachsblütenaugen an und riefe mir zu „Weißt du noch, wie es beim Leinsäen, beim Flachsrupfen und Flachsriffeln zuging? Wieviel reizvolle Sitten und Bräuche es da gab? Wieviel köstliche alte Lieder da gesungen wurden? Und wie nach dem Riffeln jung und alt beim trauten Klan- ge der Hand- oder Mundharmonika auf der Scheunendiele walzte, trippelte, rheinländerte, galoppierte? Alte. Tänze auffrischte und neue probierte? Weißt du noch, wie du selber auf diese Art das Tanzen lerntest, allmählich auch in die seltsamen Lieder einstimmtest und mit so manchem alten Brauche vertraut wurdest? Weißt du noch?“

Nur wer den Flachsbau in seiner ganzen Pracht und Fülle und die Spinntröppe in ihrem vollen Glanze noch miterlebt hat, vermag sich zu sagen, wieviel das dörfliche Volkstum mit dem Aufhören des Flachsbaues und dem Eingehen der „Spinntröppe“ (Spinnstuben) verloren hat, um wieviel reizloser, öder und ärmer insbesondere das winterliche Gemeinschaftsleben des Jungvolks seither geworden ist.

Hervorgegangen aus dem natürlichen Bedürfnis nach Geselligkeit und Unterhaltung, wurden die „Spinntröppe“ in den arttreuesten Zeiten unseres ländlichen Volkstums nicht durch soziale Unter- schiede bestimmt, sondern lediglich nach dem Alter gebildet: Bauerntöchter und Bauernmägde, Bau- ernsöhne und Bauernknechte ungefähr gleichen Alters taten sich zusammen, ohne zu fragen, wieviel der eine oder die andere mehr war oder mehr hatte als man selber; nur auf völlige Unbescholtenheit und auf guten Charakter kam es an.

In der Regel begannen die Spinntröppe nicht vor Mitte November, denn es herrschte noch der Dresch- flegel, und wer frühmorgens Glocke drei auf der Scheunendiele stehn und den Flegel schwingen muß- te, dachte abends noch nicht so ans Ausgehen, sondern begab sich zeitig zu Bett. Erst um Martini her- um gruppierten sich die den Jahren nach zusammengehörigen Burschen und Mädchen. Ein Mädchen von Ansehn lud nach ihrem Hause ein, und derbdrastisch hieß es dann: „Huite Abend werd de Tropp esopen (getrunken).“

Dieser erste Abend wurde immer auf den Sonntag verlegt. Vorher aber war im vertraulichen Kreise über jedes Mädchen und jeden Burschen, der für den betreffenden Tropp in Betracht kam, ein strenger Gericht gehalten; denn wer sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, wurde nicht in die Gemein- schaft aufgenommen. Ein Mädchen, dem man „etwas“ nachsagen konnte, war von vornherein ausge- schlossen; das gleiche galt von den „Knechten“1). Kam dennoch eine Mißliebige, ohne bestellt zu sein, zu dem Treffabend, wurde höflicherweise noch nichts gesagt. Auch an den nächsten Abenden duldete man sie noch, obgleich man sich schon sehr einsilbig gegen sie verhielt. War dann aber die Reihe an ihr, also daß der Tropp in ihr Haus hätte kommen müssen, so wurde sie rücksichtslos überschlagen und der Tropp nach einer heimlichen Verabredung in ein anderes Haus bestellt. Das gleiche Mißge- schick konnte im Verlaufe des Winters noch einem sonst wohlgelittenen Mädchen zustoßen, das fehl- getreten hatte, es aber, trotzdem man schon darüber munkelte, zu verheimlichen suchte und, als wäre nichts geschehen, den Besuch der Spinnstube fortsetzte. Ihre Einladung wurde überhört, und die Leute sagten: „Ah, dat häaut se iutestott!“ (die haben sie ausgestoßen). Ein sonst ordentliches Mädchen ließ es natürlich nicht erst soweit kommen, sondern blieb schon ganz von selbst zu Hause; Und war ihr

1) Es gibt in der Spinnstube keine Burschen, sondern nur „Knechte“, „Spinnknechte“, oder, wenn man die jüng- sten Jahrgänge meinte, „Jungens“. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 38

Liebster ein treuer Mensch, so teilte er freiwillig ihr Los und hielt sich ebenfalls von dem Spinntropp fern.

Nach altem Brauch hatten die Spinnmädchen am ersten Abend der Zusammenkunft den Trunk zu ge- ben, nämlich den „Seuten“, einen bräunlichen, saftartigen Likör, auch „Kirsch“ genannt. Es wurde gesungen, gespielt und getanzt. Um zwölf Uhr nachts gab’s einen Imbiß, Brot und frische Wurst, Schmalz und Käse; gegen Morgen wurde Kaffee getrunken, vorausgesetzt, daß die Knechte ihn nicht aus Schabernack – versalzen hatten. In der Zwischenzeit holten die Mädchen wohl auch einen Korb Apfel aus dem Keller, und es wurde wacker geschmaust. Erst wenn schon das Morgenrot am Verglü- hen und die Zeit zum Melken gekommen war, eilten die Mädchen nach Hause, und die Knechte muß- ten nun wohl oder übel auch Schluß machen.

Zunächst kam der „Tropp“ nur an den Sonntagabenden, ging es aber auf Weihnachten zu, auch an den Alltagabenden zusammen; nur Sonnabends nicht, denn es hieß: „Sunnabend gaht de Fiulen iut (– ge- hen die Faulen aus).“

Ein Spinntropp zählte in der Regel sechs bis acht Mädchen und ebensoviele Burschen. Er ging in den Häusern der Mädchen reihum, also diesen Abend bei Melusine Ebeling, den andern bei Minna Otte usw. „Mor’n abend nah iusen Hiuse!“ (Morgen Abend nach unserm Hause) lautete gewöhnlich am Schlusse des Spinnabends die Einladung derer, die die Nächste an der Reihe war.

Im Laufe des Winters konnte die Einladung sich auch ändern: „Je söllt össek mal seuken!“ (Ihr sollt uns mal suchen!) Die Mädchen versteckten sich dann bei irgendeiner „Wase“ oder „Weesche“ im Hinterhause, und die Burschen hatten in der Regel lange zu suchen, ehe sie das Versteck auffanden. Wurden die Spinnmädchen nicht gefunden, so hatten die Knechte die Wette verloren; denn gewöhn- lich war das Suchen mit einer Wette verbunden. Die Verlierenden mußten den „Seuten“ kaufen.

Den verschiedenen Jahrgängen wie der Größe eines Dorfes entsprechend, gab es in einem Orte immer verschiedene Tröppe, z. B. in Espol vier, in Schoningen (über 1000 E.) deren sogar sieben. Die Bur- schen der jüngeren Jahrgänge streiften manchmal wie die Strichvögel von einem Tropp zum andern; die älteren Jahrgänge dagegen hielten sich ohne Schwanken zu dem einmal gewählten Troppe.

Spinnmädchen waren durchweg sehr fleißige Mädchen, mußten sich auch schon tüchtig daran halten, um das Gesetzte, gewöhnlich ein Lopp1), zu erreichen. Ein ordentliches Mädchen würde sich geschämt haben, nach Hause zu kommen und sich von der Mutter oder Frau groß ansehen zu lassen, weil am Lopp ein Gebund fehlte.

Den Spinnknechten, die sich abends einstellten, dauerte es manchmal zu lange, bis es lustiger wurde, und sie suchten die Mädchen wohl auch einmal zu reizen, früher aufzuhören, als sie mit ihren Löppen fertig waren. Doch hatten sie in der Regel kein Glück damit. „Lat meck te freen, eck häau noch nitz edahn!“ (Laß mich zufrieden, ich habe noch nichts getan!) wehrten die Pflichteifrigen. Gingen sie aber schon am Nachmittag spinnen, ohne von den Knechten behelligt zu werden, spannen sie um so eifri- ger, um abends, wenn die „Knechte“ oder „Jungens“ kamen, früher fertig zu sein.

Bei acht Uhr pflegten die „Knechte“ herumzugehen und den „Wocken“ (Deuisse) zu drehen, als all- gemein verständliche Mahnung, erst einmal eine Plauder- oder Kosepause eintreten zu lassen. Hals die Mahnung nicht, so wurde der Wocken unversehens weggenommen und mußte mit einem Kusse einge- löst werden. War eine ganz halsstarrig und spann weiter, während die anderen Mädchen schon aufge-

1) Ein Lopp sind zehn Gebinde Garn. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 39 hört hatten, konnte es auch geschehen, daß ihr Wocken nach dem Wirtshause gebracht wurde, wo sie ihn dann mit einem entsprechenden Maße Branntwein oder „Seuten“ einlösen mußte.

Die Spinnpause verlief gewöhnlich so: Die Mädchen setzten sich der Reihe nach im Kreise herum zu einem Spinnknechte, entweder neben ihn, oder auf sein Knie. Es wurde darauf gehalten, daß jedes Mädchen zu einem Burschen kam, ob sie einander mochten oder nicht. Verfehlte eine Spinnerin einen zu ihrem Trapp gehörigen Knecht, absichtlich oder unabsichtlich, brauchte er sich das nicht gefallen zu lassen. „Teuf, eck snegge deck den Jürkel1) af!“ (Warte, ich schneide dir den Jürkel ab!) drohte er dann wohl, und holte sie das Versäumte nun nicht schnell nach, vielleicht weil sie den Betreffenden nicht leiden mochte, oder ihn aus irgendeinem Grunde ein bißchen reizen wollte, konnte es wohl auch zu ernstlichen Auseinandersetzungen kommen, was indes nur Seltenheiten waren.

Zwei, die sich gern hatten, verhielten sich bei dem Herumgehen natürlich nicht so förmlich wie die andern, bei denen das kurze Zusammensein etwa so schloß: Spinnmädchen: „No Junge, weißte noch wat?“ Spinnknecht: „Nä.“ Mädchen: „Eck äak nech.“ Knecht: „No, denn bett mor’n abend.“

Hin und wieder geschah’s wohl auch, daß in dieser Spinnpause unversehens von einem Knecht das Licht ausgepustet wurde. Das führte natürlich leicht zu Ausartungen, die nicht beschönigt werden sol- len.

Auf dem Höhepunkte war der Spinntropp, wenn das Dreschen in der Hauptsache aufhörte, also gegen Ende Januar. Dann kamen die Spinnmädchen schon am hellen Tage zusammen, so um die Kaffeezeit, die an diesen Spinnnachmittagen von besonderer Bedeutung war, denn da gab es Kaffee mit weißem Kuchen, um Lichtmeß mit „Eisenkuchen!“ (Waffeln). Unterbrochen wurde das Zusammensein nur in der Abendschummrige, damit das Vieh gefüttert werden konnte.

Die Spinnknechte gehörten am Nachmittage nicht dazu, paßten aber dennoch, immer auf lustige Über- raschung bedacht, die Kaffeezeit gern ab, um heimlich eine tüchtige Handvoll Salz in die Kaffeekanne zu befördern. Und der Spaß gelang ihnen immer wieder, mochten die Mädchen auch noch so auf der Hut sein.

Von Lichtmeß ab, an der es in den Spinnstuben (ebenso wie am Faßlam’d, siehe dies Kapitel) immer sehr hoch herging und mit Tanz und Spiel und „seuten Sluck“ gefeiert wurde, steigerte sich das Spinn- stubenleben zu immer größerer Lebhaftigkeit und Lustigkeit. Das Dreschen war in der Hauptsache überstanden, die Arbeit ruhte, und so hatte das männliche Jungvolk auch am Tage immer mehr Zeit, sich um seine „Tröppe“ zu kümmern. Besonders eifrig waren sie darauf bedacht, ihren Mädchen „Bi- utze“ (Bautze) zu bringen, indem sie, während die Spinnerinnen sich arglos unterhielten, vor der Stu- bentür schadhaft gewordene Näpfe und Töpfe mit aller Wucht zerschmetterten. Je mehr es krachte, desto mehr man kreischte und lachte.

Eine wichtige Angelegenheit war der Lichtmessenmarkt in Uslar. Wer irgend konnte, besuchte ihn, und wer zum Spinntropp gehörte, konnte immer, und so trafen sich dann die Spinnmädchen mit den Spinnknechten gewöhnlich alle auf dem Lichtmessenmarkte. „Prost Jahrmarkt!“ begrüßte man sich, und kein Bursche, der nicht wenigstens ein Herz kaufte; kein Mädchen, das nicht wenigstens ein schön verziertes und mit weißer Inschrift versehenes Herz erhielt.

Gleichwohl durfte das Spinnen unter diesen Jahrmarktsfreuden nicht leiden, weshalb die Spinnmäd- chen an dem Jahrmarktsmorgen in aller Frühe, gewöhnlich schon um zwei Uhr aufstanden, um die

1) Die Verbindung zwischen Trittbrett und Rad, auch „Knecht“ genannt. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 40

üblichen Löppe zu spinnen. „Weii möttet eest iusen Lopp vull hebben, süst kön we nich nah’n Jahr- markte gahn.“

Es war darum Regel, am Abend vor dem Jahrmarktstage früh zu Bett zu gehen; doch die ausgelasse- nen Burschen pflegten dann unbarmherzig dafür zu sorgen, daß man nicht zum Schlafen kam. Bald gab’s einen Schrecken, der schließlich keiner war; bald irgendeinen im geheimen ausgeheckten Spaß, über den man vor Lachen nicht einschlafen konnte. Und so kam die Frühspinnstunde heran, ohne daß man auch nur ein Körnchen Schlaf erhalten hatte. Lustig saßen die Spinnerinnen trotzdem in den Frühmorgenstunden an ihren Rädern, und die Vorwürfe, die sie ihren Störenfrieden am Nachmittage aus dem Jahrmarkte machten, wurden wohl kaum anders als mit lachenden Gesichtern gemacht.

Vom Tanz, der hauptsächlich an den Festtagen, zur Lichtmeß und am „Faßlam’d“ zu seinem Rechte kam, habe ich schon kurz gesprochen, jedoch nicht von der Musik, die dazu gemacht wurde. Das an- spruchsvolle heutige Geschlecht soll aber hören, mit wie billigen Mitteln man dazumal vergnügt sein konnte, und wie die Musikanten gewöhnlich wenig oder gar nichts kosteten. Das bedeutsamste und am meisten geschätzte Musikinstrument war die Handharmonika. Gab es die nicht, so begnügte man sich mit der Mundharmonika, oder es wurde Papier über einen Kamm gezogen und darauf musiziert. Damit etwas mehr Klang und Rhythmus hinzukam, holte man das Dreibein vom Herde und begleitete die Kammklarinette mit den schellenartigen Triangeltönen. Schmiedskonrad in Schönhagen beschrieb mir die Musik also: Zwei Mann auf dem Kamm, einer mit zwei Topfdeckeln (Pauke), und einer, der den Baß spielte, indem er die Beine eines Stuhles taktmäßig so auf dem Fußboden hin- und herschob, daß es sich wie ein richtiger Brummbaß anhörte.

Außer den üblichen Festtagen brachte auch der Lösungstag der Spinnknechte einen fröhlichen Auf- schwung in den Tropp. In Fredelsloh z. B. bestellte man zur Feier dieses Tages drei ordentliche Musi- kanten: „Pottmüller“, „Nagelschmidt Müller“, sowie Krischan Wehmeyer, den Gemeindediener. Na- gelschmidt mit dem Brummbaß, Pottmüller mit der Violine und Krischan Wehmeyer mit der Klarinet- te. Gespielt und getanzt wurde dann nach „Noten“, aber ohne Noten, u. a.:

„Dat Braud is all, dat Braud is all, Charlotte mäaut nah’r Möhlen.“

Ging’s nicht gar so hoch her und sollte doch auch getanzt werden, wurde bloß der „lüttche Karl“ ge- holt, der ein tüchtiger Handharmonikaspieler war. Er war so klein, daß man ihn auf die Kommode setzte, mit den Füßen auf die Schublade. Unverdrossen spielte er die ganze Nacht und trat mit den Füßen den Takt. In dem dicken Trubel hörte man gewöhnlich nur noch den Takt, wie man bei der Dorfmusik, wenn alles im Schwunge ist und der Trompeter schon zu viel hat, auch nur noch den Brummbaß grummen hört. (Nebenbei: Wegen seiner Kleinheit mußte sich der lüttche Karl manchen Scherz gefallen lassen. So wurde er einmal, als er schon 60 Jahre zählte, von einem übermütigen Bur- schen in einem Umschlagtuch auf den Arm genommen und von einem anderen Burschen getauft.)

In Schönhagen tanzte man an einem festlichen Abend in Klein Kettlers Hause, und es ging dabei sehr lustig her. Der Hausvater, Schorsevetter, saß mit der langen Pfeife hinterm Ofen und sah stillvergnügt den lustigen Tänzen zu. Bei zehn Uhr kam seine Frau, die Sinewase, aus einer Altfrauenspinnstube nach Hause und sah ebenfalls lachend in den lustigen Trubel hinein. Um die Mädchen nicht zu stören, wollte sie selber melken. Schon wurde sie auch von einem Spinnknechte zum Tanze aufgefordert. Sie war keine Spielverderberin, nahm die Einladung an und tanzte vergnügt mit, ließ aber bald den Spinn- knecht los und holte ihren Alten hinter dem Ofen weg. „Kumm Schorse, wei beiden willt äauk emal!“ Als sie einmal herum waren – die Stuhlbeine grummten wie nie –, schlickerte die Sinewase ihre Pan- toffeln fort, Schorse tat das gleiche, und die beiden Alten tanzten zum größten Ergötzen der Jugend in Strümpfen. Hernach meinte der Schorsevetter: Er hätte schon manchmal gedacht, wieviel Musikanten Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 41 wohl dazu gehörten, ihn mal wieder zum Tanzen zu bringen, – und nun wäre er auf einmal dazu ge- kommen, er wüßte nicht wie und fühle sich, als wäre er zwanzig Jahre jünger geworden.

An einem anderen Sonntagabend war der Spinntropp in Fischers Hause, und es entwickelte sich eben- falls unter den Klängen der Kammklarinette, der Topfdeckel und Stuhlbeine ein höchst vergnügter Tanz, vermischt mit allerlei drolligen Liedern. Da kam Fischers Mutter aus dem Altfrauentropp nach Hause, sah von der Kammertür aus dem fröhlichen Treiben zu und wurde davon so ergriffen, daß ihr die Tränen der Rührung in die Augen traten. „Was haben die Kinder doch für eine Freude!“ konnte sie nur immer wieder sagen, indem sie sich mit der Schütze die feuchten Augen wischte.

Wer unter dem Jungvolk etwa noch nicht tanzen konnte, hier in der Spinnstube lernte er es, mochte er auch noch. So steif und unbeholfen sein.

An den Haupttanztagen, wie Lichtmeß und Faßlam’d, pflegten sich wohl auch mehrere Tröppe zu- sammenzutun, so streng getrennt sie sonst blieben. Die Bauernstube wurde dann viel zu klein, und man zog auf die Scheunendiele.

Natürlich kein Spinnabend, kein Tanz in der Stube oder auf der Scheunendiele, daß nicht auch die althergebrachten Lieder gesungen und neue Lieder geübt wurden, die etwa von Reservisten oder einer fremden Magd mitgebracht, vielleicht auch aus der Liebesnot oder Liebesfreude eines heimlichen Dichters am Orte geboren waren; denn wie überall in den Landschaften Deutschlands mit ursprüngli- chem Charakter war auch im Solling die Spinnstub die Brunnen- und Quickstube der Volkspoesie. Das Volkslied wurde dort gehegt und gepflegt, weitergebildet und von Geschlecht aus Geschlecht übertragen. Dazu ein kleines Bild aus Schönhagen. Der Spinntropp befand sich in Fischers Hause und schickte sich zum Aufbruche an, nachdem der Wächter eben „zehn“ getutet hatte. Da sagte der alte Fischer, sie möchten noch ein bißchen bleiben und erst noch einmal singen. Die Mädchen setzten also ihre Räder wieder hin, und Schmiedskonrad, der großartigste Sänger des Dorfes, schlug vor: „Denn latet össek emal singen: ,Ein armer Fischer bin ich zwar ...‘.“

Aber jetzt machte der Bauer, der eine Stichelei vermutete, ein fünsches Gesicht und sagte: „Aber nich gestichelt!“ Schmiedskonrad darauf: „Karlvetter, latet össek dat Leid eest emal singen, un wenn et jöck denn nich gefällt, denn smeiitet (schmeißt) je össek vor de Dör.“ Und dann sangen sie das Lied:

„Ein armer Fischer bin ich zwar, Verdien’ mein Geld stets in Gefahr, Doch wenn Feinsliebchen am Ufer ruht, Dann fischt es sich noch mal so gut.

So fahren wir zur See hinaus Und werfen unsre Netze aus, Dann kommen die Fischlein alle groß und klein, Ein jedes will gefangen sein.

Und ist der Fischfang nun: vorbei, Dann zieh’n wir unsere Netze ein Dann geht’s mit Liebchen ins Kämmerlein, Feinsliebchen will gefangen1) sein.“

1) Hier gibt’s auch verfänglichere Lesarten. Das Lied, das mein holsteinsches Hausmädchen in längerer Fassung kennt, ist vielleicht durch Matrosen in den Solling gekommen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 42

Nun, das Lied gefiel dem alten Bauern Fischer so gut, daß er zur Sühne seines Argwohns in die Ta- sche griff, einen halben Gulden herausholte und sagte: „Jungens, langet jöck ’n Span’schen Bittern davor, un denn mötte je awer dat Leid noh emal singen.“ –

Der Spanische Bittere wurde geholt, und es blieb dann nicht mehr bei dem einen Liede, sondern es wurde noch eine ganze Kette von Liedern gesungen. Ehe man sich’s versah, tutete es die Mitternachts- stunde, und da jetzt der Geburtstag des jungen Fischer angebrochen war, so konnte man noch lange nicht weggehen, und es wurde gesungen und getrunken, bis die Morgenröte anbrach.

Zu den Liedern gesellte sich an den hohen Festtagabenden das Spiel. Ihm wurde übrigens auch hin und wieder an Spinnabenden ein Weilchen gegönnt, wenn nämlich die Mädchen so fleißig gewesen waren, daß sie ihre Löppe vor der Zeit voll hatten.

Vor allem beliebt war das Klumpsackspiel mit dem immer wiederkehrenden Rufe: „Klumpsack in der Stoben, wer unne sitt, sall oben!“ (Man vergleiche die anschauliche Schilderung des Spiels, die ich in meiner Dorfgeschichte „Drubenkropps Heimkehr“, Berlin, Deutsche Landbuchhandlung, gegeben habe.) Spiele anderer Art wechselten, bei denen der Jugendübermut nicht selten über die Stränge schlug: Z. B. wurde ein Schlüssel oder ein Ei versteckt und ausgemacht: Wenn die Mädchen Schlüssel oder Ei fanden, müßten die Knechte ein Liter Kirsch bezahlen und umgekehrt. Einmal nun hatte man (in Schoningen) ein Ei unter der Mütze eines Schneidergesellen versteckt. Da sollten sie es ganz gewiß nicht finden können. Ein Düwelsmädchen war aber doch dahintergekommen, verriet sich indes nicht gleich, sondern suchte mit den andern überall wie verzweifelt herum. Als nun der Schneider gerade am lautesten lachte, haute es ihm auf die Mütze, daß Dotter und Eiweiß ihm über die dünnen Schneider- backen liefen. Sich ergeben wischend, rief er in das brüllende Gelächter hinein: Hätten sie nicht mit Simsons Kalbe gepflügt, so hätten sie sein Ei nicht erraten.

Pastor F. in Schoningen, nach den Erzählungen der Schoninger ein übereifriger Strafprediger, hatte seiner aus Vernawahlshausen stammenden Magd aufs strengste verboten, in die „Lasterhöhle“ zu ge- hen und gar noch den Tropp ins Pfarrhaus einzuladen. Heimlich ist sie dennoch hingegangen, und die Mädchen haben sie gern aufgenommen, trotzdem sie nicht wieder einladen, also nicht sagen konnte: „Mor’n abend nah iusen Hiuse.“ Nun war der Pastor einmal verreist, und da hieß es denn doch: „Huite abend nah’r Paare!“ Vollzählig stellten Spinnmädchen und Spinnknechte sich ein, und nach der Erfah- rung, daß die verbotenen Früchte immer am besten schmecken, wurde der Tropp im Pfarrhause unge- wöhnlich vergnügt und ausgelassen.

Ja, auf was man nicht in seiner Ausgelassenheit und Ungebundenheit verfiel! Ein besonders witziger und waghalsiger Knecht zog den Talar des Geistlichen an, machte sich die Beffchen vor, setzte ein Barett aus und begann eine kleine Katze zu taufen, wozu zwei andere Knechte Pate standen. Die Ze- remonie war gerade im besten Gange, als plötzlich und gänzlich unerwartet der Pastor nach Hause kam. Das Ende der Feier mag man sich denken. In seiner namenlosen Empörung machte er die Sache bei Gericht anhängig, und der Täufer erhielt vier Wochen Gefängnis, während die Paten mit je einer Woche davonkamen.

Da war der alte Vollkötner Nickel doch toleranter und angemessener zu Werke gegangen. Befand sich der Spinntropp in seinem Hause, mußte er ja auch, wie es nun einmal üblich war, mit der Mutter aus- gehen; er ging aber nie weiter als bis ins Nachbarhaus, um immer rasch zur Stelle zu sein, falls es in der Spinnstube mal zu arg wurde. Eines Abends nun hatten die Knechte in ihrem Übermut einen ge- dörrten „Pärhamel“1), der nach abergläubischem Brauch an den Hintergebäuden aufgehängt wird und

1) Pferdehammel, „Nachgeburt“ bei der Stute. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 43 dort hängen bleibt, mit einem alten „Sneggemetze“ aus der Futterlade zu einer Art Häcksel zerschnit- ten und heimlich in den Ofen gesteckt. Das gab natürlich eine furchtbare Luft. Die Mädchen empörten sich und schalten, und plötzlich stand der Hausvater an der Tür, dem seine Nase auch schon gesagt hatte, was vorgefallen war. Nicht allein stand er da, sondern mit einem tüchtigen „Eikenmeier“ (Knüppel), und jeder Knecht, der an ihm vorüberflitzte, um in die Freiheit zu kommen, kriegte von ihm eins mit dem Eikenmeier ausgekracht. So kamen sie zu ihrer wohlverdienten Strafe, die Leute im Dorf aber zu einem herzhaften Lachen.

Bei Frost und Schnee wurden wohl auch Ausflüge ins Nachbardorf unternommen, um den dortigen Spinnstuben einen Besuch abzustatten. Schlitten wurden bespannt, und unter munterem Schellengeläu- te sausten die ausgeruhten Ackergäule dahin. Eines gastfreundlichen Empfanges im Nachbardorfe war man immer sicher, und es wurde gemeinsam gesungen und getanzt, bis der Morgen anbrach, wobei es natürlich auch an entsprechender Bewirtung nicht fehlte. Mit hellem Gesang – manchmal, wenn’s gar zu „früh“ geworden war, allerdings auch ohne Gesang und mit abgenommenem Schellengeläute – kehrte der Tropp ins Heimatdorf zurück, und man hatte noch lange von dem Erlebnis erzählen.

Es wurde aber nur davon gesprochen, wenn man unter sich war lautete doch der oberste Grundsatz der Spinntröppe, nicht „aus der Stube zu sprechen“. Wer dagegen verstieß, hatte es mit allen verdorben. So waren solche Verstöße auch außerordentlich selten. Im Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit hielten Spinnknechte und Spinnmädchen zusammen wie Pech und Schwefel, es wurde nichts ausgeplaudert und nichts verraten.

Das wäre auch ein schlechter Spinnknecht gewesen, der nicht immer und überall die Ehre seiner Spinnstube im Auge gehabt hätte!

Das feste Band, das die Spinnstube um das Jungvolk schloß, dauerte über sie hinaus bis ins Alter. Auf Tanzmusiken griff der Bursch zuerst nach den Mädchen seines Tropps und wachte pflichtgemäß dar- über, daß sie nicht sitzen blieben.

Die Endfeier der Spinnstube fiel gewöhnlich mit der Faßlam’dfeier zusammen und dauerte soviel Ta- ge, soviel Spinnmädchen der Tropp zählte, denn es wurde der Reihe nach bei jedem Mädchen gefeiert, mit Tanz und Spiel, Kaffee und Kuchen, oder mit Grog. Am letzten Abend aber gab es „seuten Sluck“, den wieder die Mädchen bezahlen mußten. „Huite abend werd de Tropp iut’n ander esopen“ (ausein- ander getrunken), hieß es dann z. B. in Espol. Sinniger sagt man in Schönhagen, wenn der letzte Tag der Spinnstube bestimmt wird: „Denn werd de Schewe (Bastüberbleibsel) verkofft.“ Ich hörte: „Up’n Fredag will wie de Schewe verkäpen.“ „Denn geiht’t nich, denn is Fastenpreddige.“ „No, denn mötte wei’n Donnstag nöhmen.“ Hernach heißt es: „Dei gaht nich mähr weg, dei hewwet de Schewe alle verkofft.“ Mitten in die Feier platzte mitunter ein furchtbarer „Biutz“ (Bautz). Dann riefen die Mäd- chen: „Flaß, wasse!“ Es kam auch wohl vor, daß ein Eifersüchtiger einen mit Wasser gefüllten großen Topf durch ein offenes Fenster mitten in die Stube warf. Am andern Abend, oder wohl auch am näch- sten Sonntagabend wurde der Faßlam’d in Gestalt einer Strohfigur mit einer tragikomischen Rede begraben, und nun war aller Spinnstubenulk vorbei. (Siehe Kapitel „Faßlam’d“.)

Noch muß ich von der „Riuhmweke“ (Ruhmwoche) erzählen, wie Großmutter v. O. in Fredelsloh sie mir im Herbst 1917 schilderte. In dieser Woche, die in die zweite Winterhälfte fiel, wurde nämlich „Tall“ (Zahl) gesponnen, also gezählt, wer die meisten Löppe gesponnen hatte. Je nachdem eine Magd mehr oder weniger Lohn bekam, verschob sich auch die Zahl, die sie mindestens erreichen mußte, nach unten oder oben. Wer z. B. sieben Taler Lohn hatte, mußte vierzehn Lopp spinnen; wer sechs Taler erhielt, brauchte es nur auf zwölf Löppe zu bringen. Wer mehr spann – und da lag wohl der be- sondere Antrieb – bekam das Mehr extra bezahlt, den Lopp mit einem Mariengroschen (acht Pfennig). Großmutter O., die im Dienste sieben Taler verdiente, also vierzehn Löppe spinnen mußte, hatte es Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 44 durch ihren unermüdlichen Eifer auf nicht weniger als einundzwanzig Löppe gebracht, also einen ho- hen Ruhm erreicht und damit auch ein für die damaligen Verhältnisse nicht unbedeutendes Mehrein- kommen erzielt. In dieser merkwürdigen Woche tat eine tüchtige Magd aber auch weiter nichts, als daß sie spann. Das Spinnen wurde nur durch die notwendigsten Dinge einmal unterbrochen. Von mor- gens vier Uhr ging es bereits an.

Haspeln brauchte man in der Ruhmwoche nicht. Besonders eifrige Mädchen bereiteten schon Sonn- abend Deuisse oder Wocken, sogar mehrere vor.

Die folgende Woche spannen Hausfrau oder zweites Mädchen „Tall“, ohne jedoch das Ergebnis der eigentlichen „Riuhmweke“ zu erreichen. Die fertigen Löppe wurden alle nacheinander an die Wand- börthaken gehängt. Sie waren der Stolz der Frauen und Mädchen. Kam Besuch, sah er gleich, wie fleißig man im Hause gewesen war1).

* * *

Ich habe hier die Spinntröppe ohne jede Beschönigung geschildert, und damit zugegeben, daß es bei diesen Zusammenkünften nicht gerade sehr leise zuging. Das Singen und Musizieren, das Lachen, Quietschen und Kreischen hörte sich aber von draußen sehr viel schlimmer an, als es in Wirklichkeit war. Machte dann der ehrwürdige Herr im Pfarrhause einmal sein Fenster auf und hörte die Jugendju- bellaute, konnte er sich gewöhnlich nichts anderes denken, als daß da wieder die Hölle los sei, und auf der nächsten Synode klagte er mit bewegten Tönen über den „Schandpfuhl“ der Spinnstuben. Der Herr Amtshauptmann aber, der diese von alt und kalt gewordenen Kirchenvorstehern unterstützten Klagen hörte, hatte nun natürlich nichts Eiligeres und Wichtigeres zu tun, als den Gendarm kommen zu lassen und ihm unnachsichtliches Vorgehen gegen die Spinnstuben einzuschärfen. So konnte man denn an den Winterabenden, namentlich wenn es so recht stürmte und schneite, unversehens den Gendarm im Dorfe herumschleichen sehen. Gelang es ihm an solchen Abenden, mit der Pickelhaube unterm Man- tel, einen Spinntropp zu überraschen, so wurden die Spinnknechte der Reihe nach aufgeschrieben und mit entsprechenden Strafgeldern bedacht: Zum ersten Male mindestens ein Taler, im Wiederholungs- falle das Doppelte und mehr. Als ich mich selbst einmal in einer Spinnstube aufhielt, um Lieder aufzu- schreiben, entging ich nur um ein Haar der Strafe, wahrscheinlich auch weiteren Unannehmlichkeiten. Der Gendarm war um ein Viertelstündchen zu spät gekommen.

Nachdem diese Strafen eine Reihe von Jahren geduldig und ärgerlich bezahlt waren, fand ein Rechts- anwalt heraus, daß das Spinnstubenverbot im Widerspruch mit dem Preußischen Staatsgrundgesetze stehe, wonach Versammlungen gestattet sind, wenn sie keinen politischen Zweck verfolgen. Die Sa- che ging bis ans Oberlandesgericht in Celle, das denn auch ein freisprechendes Urteil fällte. Freilich war es nun um die meisten Spinnstuben schon geschehen. –

* * *

Meine letzten Feststellungen über den gegenwärtigen Zustand des „Spinntropps“ habe ich 1922 ge- macht. Da hörte ich, daß z. B. in Schönhagen, Espol, Wiensen die Spinnstube trotz aller Gegenwir- kungen durchaus noch nicht ausgestorben sei, sich im Gegenteil jetzt bei dem Wiederbeginn des Flachsbaues aufs neue kräftig belebe, wie ich dies übrigens auch in Trögen und anderen Orten hörte. Schon eifern aber auch die kirchlichen Kreise wieder heftig dagegen, und so wurde in einem Ortsaus-

1) Wie ich in Schoningen hörte, war es dort üblich, daß die Jungens die Hede spannen, was allerdings mehr ein „Drümmeln“ war. Aus dem so gedrümmelten Garn wurden gewöhnlich Stricke gemacht, oder man verkaufte das Strickegarn an Aufkäufer. Der „alte Kanonier“ in Dinkelhausen z. B. zahlte für einen Lopp einen Groschen. Mädchen pflegten nur in ihrer Spinnlehrzeit Hede zu spinnen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 45 schuß für Heimat- und Jugendpflege vom Pastor der Antrag eingebracht, die Spinnstube zu bekämp- fen, da sie zu unsittlichem Tun verführe. Ein angehender Kirchenvorsteher, der „sehr kirchlich, im übrigen aber ein ganz ordentlicher Mensch“ sei, wie Schmiedskonrad in Schönhagen sich äußerte, hatte die Schilderung noch kräftig unterstrichen und sie ebenfalls schwarz in schwarz gemalt. Darauf Schmiedskonrad zu dem angehenden Kirchenvorsteher: „Ich begreife nicht, wie du zu einer solchen Beschimpfung der Spinnstube kommst! Da mußt du ja in einen ganz merkwürdigen Tropp geraten sein, als du Jungknecht warst, und dir ein schlechtes Gewissen gemacht haben. Ich bin von meinem vierzehnten bis einunddreißigsten Jahre in die Spinnstube gegangen, und wenn ich mich heute ehrlich überprüfe, wüßte ich mir nicht eine Minute vorzuhalten, die ich zu bereuen hätte. Ich denke im Gegen- teil mit unvermischter Freude an meine Spinnstubenzeit zurück, halte auch darauf, daß meine Söhne in die Spinnstube gehen und fröhlich dort die alte Sitte ehren.“ Kirchlicherseits hätte man sich mit dieser ewigen Spinnstubenbekämpfung völlig verrannt; hätte doch neulich nach der Kirchenvisitation der Superintendent – natürlich in allerbester Absicht – noch eine besondere Anklagerede gegen die Spinn- stube gehalten und sie in so grellen Farben geschildert, daß jung und alt sich erstaunt ansah und nicht begriff wie der hochwürdige Herr zu einer solchen Auffassung hatte kommen können. Als die Kirche aus war, gab es unter den Kirchgängern ein Lachen und Gequietsche, als käme man von einer Kirmes.

Hernach wurde die Spinnstube auch in der Synode wieder in der alten Weise heftig angegriffen, und gute und schlechte Christen, kopfhängerische und überkirchliche Synodalabgeordnete suchten sich den Geistlichen dadurch gefällig zu zeigen, daß sie mit in ihre Kerbe hauten. Wenn Schmiedskonrad in der Versammlung gewesen wäre, würde er mit diesen ewigen Klagereden, die teils auf völliger Un- bekanntschaft mit dem wahren Wesen der Spinnstube, teils auf falsch verstandener Kirchlichkeit be- ruhten, gründlich aufgeräumt haben. In der Regel wäre es nun einmal so: Wenn der Geistliche, zumal der Superintendent in der Synode etwas ausführt, wird selten ein bäuerlicher Laie den Mut oder die Geschicklichkeit aufbringen, den verkehrten Auffassungen vom dörflichen Volkstum in überzeugen- der Weise entgegenzutreten. Man könne wohl als sicher annehmen, daß keiner der Geistlichen, die so häufig gegen die Spinnstube redeten, je einmal in ihr gewesen wäre. Was es denn nun für Zweck hätte, gegen eine solche urständige Einrichtung des Volkstums, die aus einem Naturbedürfnis heraus gebo- ren sei, immerfort so in den Tag hinein zu eifern! Die Geistlichen entfremdeten sich nur dadurch das Jungvolk, verlören jeden Einfluß auf es und förderten dadurch jedenfalls, das hätte doch wohl die langjährige Erfahrung genügend gezeigt, die Sittlichkeit nicht um ein Haar. Denn nicht auf das äußere, sondern das innerliche Leben käme es an, und die Aufgabe des Geistlichen wäre es doch, vor allem das innere Leben zu pflegen und von da aus allmählich auch Einfluß auf die äußeren Formen des Zu- sammenlebens der Dorfjugend zu gewinnen. Statt immerfort gegen die Spinnstube zu eifern, sollten sie lieber ab und zu selber mal hineingehen und auf die Unterhaltung des Jungvolks in frohsinniger Weise einzuwirken suchen. Aber dazu fänden sie nicht den Mut oder hätten dazu wohl meistens auch nicht das Geschick. Es fehle ihnen eben die Kenntnis des ursprünglichen Volkstums und dann auch die rechte Liebe zu ihm. Ungehörigkeiten wären ja gewiß auch in der Spinnstube vorgekommen, aber unsittliche Handlungen der Spinnstube zuzuschreiben, ginge keineswegs an. Wer zu unsittlichen Din- gen neige, fände dazu auch außerhalb der Spinnstube Gelegenheit genug; außerhalb derselben viel mehr als in ihr. Schmiedskonrad zweifelte bei alledem keineswegs daran, daß die Geistlichen in der allerbesten Überzeugung und Meinung handelten; sie hätten aber nicht den festen Boden der Kenntnis des dörflichen Volkstumes unter den Füßen.

Diese Anschauungen und Äußerungen eines helläugigen Dorfmenschen decken sich durchaus mit dem, was ich seit bald einem halben Jahrhundert und auch wohl nicht ganz ohne Erfolg vom Stand- punkte der ländlichen Wohlfahrts- und Heimatpflege vertreten habe. Näher hier noch darauf einzuge- hen, würde über den engen Rahmen dieses Buches zu weit hinausführen. Ich verweise deshalb nur auf Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 46 meinen „Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege“, sowie auf die Zeitschrift „Das Land“, an der ja auch viele treffliche Landgeistliche ganz in meinem Sinne mitgewirkt haben.

Das Schlachtefest. „Iuse Miusekättchen, wo wutte denn hen? Eck will nah Großvaders Hiuse. Da slachtet se ’n Sweuin, Da drinket se Weuin, Da will we säau lustige Gäste seuin.“

So singt wohl die Mutter, wenn sie ihr Jüngstes in Schlaf wiegen will; so ist es aber heute leider nicht mehr, denn die Schlachtefeste nach alter Art mit all ihren Freuden und nach allen Seiten sich auswir- kenden Sättigungen haben seit Jahren – etwa von der Jahrhundertwende an – so gut wie ganz aufge- hört. Schweine werden ja auch heute noch geschlachtet, wohl mehr noch als früher. Aber nach Einfüh- rung des Betäubungshammers und der Wurstmaschine braucht der Schlächter keine so vielseitige Hil- fe mehr wie früher, wo Nachbarn, Verwandte und Freunde schon von früh an dabei sein mußten, um das Schwein zu halten und die erforderlichen Handreichungen zu tun, insbesondere das „Stutzen“ (des Fleisches zu Wurst) mit den langgestielten Stutzeisen zu besorgen.

Auch daran merkt man den Umschwung, den das Dorfleben in dieser Hinsicht erfuhr, daß früher den Winter lang in jeder Morgenfrühe ein anhaltendes, jämmerliches Schweinequieken durchs Dorf drang, während sich heute das Abtöten der Schweine in der Regel ohne jene Klagelaute vollzieht.

Das entwickelte Gefühlsleben wird darin mit Recht einen kulturellen Fortschritt sehen; trotzdem muß man sagen, daß damit auch wieder ein fröhliches Blatt vom Baume des dörflichen Volkstums gefallen ist, was an sich durchaus keine Naturnotwendigkeit war. Mehr noch für die Jugend als für die Erwach- senen hat das Aufhören des alten Schlachtefestes die Wirkung gehabt, daß das Dorfleben um eine vielfältige, ertragreiche Festfreude ärmer geworden ist.

Tage- und wochenlang dauerte gewöhnlich schon die Vorfreude. Die Lewaise-Wase in Lauenberg z. B. entsinnt sich noch mit aller Lebhaftigkeit der Vorfreude, die sie als Kind bei dem Gedanken an das immer näherrückende Schlachtefest empfand; immer mehr quälte man den Vater mit der Frage: „Vader, wuviele Male möttet weui noch schlaopen?“ Stand endlich der Schlachtetag vor der Tür, so wurden Nachbarn und Verwandte und gute Freunde nach alter Weise zum „Wossoppen“ oder „Woste- zoppen“ (Wurstsuppe) eingeladen. Und alle kamen, die einen nur zum Frühstück und Abendessen, dem eigentlichen „Wossoppen“, die anderen, so weit nötig, für den ganzen Tag, um kräftig mit zu- zugreifen.

„De Slachtedag is de höcheste Dag in Jaohre. Worümme? Da werd dat Fleisch in’n gräauten Kettele koket (im großen Kessel gekocht).“

Dem Brauche gemäß hatten die Kinder der schlachtenden Familie an dem Schlachtetage ohne weiteres schulfrei. Es ging so, wie ich’s aus meinem allerdings außerhalb des Sollings gelegenen südhannover- schen Heimatdorfe kenne: Verließ man am Tage vorher die Schule, so faßte man sich ein Herz und sagte zu dem Lehrer: „Herr Habenicht, ob Sie wohl möchten so gut sein und geben mir morgen Ur- laub?“ – „Warum?“ – „Wir wollen schlachten.“ – „Ja.“

Eine rührige Tätigkeit und Lebhaftigkeit herrschte am Tage vor dem Schlachtefeste in dem Bauern- hause. Der große Kupferkessel wurde spiegelblank gescheuert und das sonst benötigte Gerät instand Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 47 gesetzt. Kam man des Abends in das Haus, so duftete es bereits stark nach Thymian, und noch heute, wenn ich Thymian rieche, irgendwo, fallen mir unwillkürlich die „Wossoppen“ meiner Jugendzeit ein.

Kaum konnten die Kinder in ihrer freudigen Erregung noch die letzte Nacht abwarten, in aller Herr- gottsfrühe waren sie schon mit den Erwachsenen aus den Federn, wollten die herzhafteren doch auch beim „Steken“ (Totstechen des Schweines) nicht fehlen. Ein eigener Schauer umwehte sie, kam dann in der schummrigen Morgenfrühe der „Slächter“ aus den Hof, mit den großen Schlachtemessern im schwarzen Lederköcher an der Seite, das Schlachtebeil und die große Schäumekelle unterm Arm.

Von Mitleid keine Spur, wenigstens keine sichtbare. Es war wie bei den Fischerkindern in der Ge- wohnheit untergegangen. Manche verrieten allerdings nur deshalb kein Mitleid mit dem armen Schlachtopfer, um nicht ausgelacht zu werden. Ja, es wurde ausdrücklich gemahnt, das Schwein nicht zu bedauern; es müsse sich sonst zu lange quälen, ehe es stürbe. Ich selbst bin allerdings in meinen ersten Jahren, wenn’s ans Stechen ging, so weit weggelaufen, daß ich das Schreien des Schweines nicht hören konnte; allmählich wurde ich aber auch abgehärtet, oder tat doch so, als wäre ich’s.

Während das Schwein sauber gemacht wurde, saßen die Kinder, wie die Lauenbergerin erzählt, in der Stube und sangen Weihnachtslieder. Zwischendurch schlüpften sie immer wieder hinaus, um zu sehen, wieweit es noch bis zum Leberfrühstück war.

Jungens, die zu regen Anteil an dem Schlachtopfer nahmen, sich vorwitzig zeigten oder den Erwach- senen im Wege waren, wurden meistens aufgefordert, den Schwanz zu halten und sich von vornherein so die „kleine Wurst“ zu sichern, nach der das Verlangen der Kinder vor allem ging. Daß diese Auf- forderung ein Scherz von derber Doppelsinnigkeit war, merkten die Vorwitzigen erst, wenn sie schon einmal oder mehrmals ausgelacht waren. Es wurde auch wohl gemahnt, den Schwanz ja recht gerade zu halten, da sonst die Wurst krumm würde.

Standen die Kinder dem Schlächter im Wege, so hieß es plötzlich: „Junge, döu geihst emal noa Vol- brechts un langest ’n Darmhaspel.“

Natürlich ließ ein ordentlicher Junge sich das nicht zweimal sagen und machte sich sofort auf den Weg, um das Gewünschte zu besorgen. Aber nirgends war der Darmhaspel aufzufinden, weil es über- haupt keinen gab. Volbrechts sagten, den Haspel hätte Nawer Nüsse geholt; Nüsse bedauerte, daß er bereits bei Ebelings am Berge sei; diese wieder versicherten, Johannings bei der Linde – ganz weit oben im Dorfe – hätten ihn eben holen lassen.

So mußte der noch nicht gewitzigte Junge oft das halbe oder ganze Dorf absuchen, um schließlich mit leeren Händen ins Schlachtehaus zurückzukehren. Sein Bericht wurde entweder mit geheucheltem Bedauern oder mit schallendem Gelächter aufgenommen, das ihn für alle Seit aufklärte. Es kam übri- gens auch vor, daß man dem Gefoppten zuletzt einen Holzknorren, einen zerbrochenen alten Garnhas- pel oder einen gewichtigen Stein in den Sack steckte.

Einmal wurde ein Junge aus geschickt, nicht den Darmhaspel, sondern den „Wöstesmecker“ zu holen, und man steckte ihm ’n alen Bolzen (alten Kater) in den Sack. Als dieser dann im Schlachthause ge- öffnet wurde, birschtete der Kater wie der leibhaftige Teufel heraus, sauste die Treppe hinauf und ver- schwand, war auch nirgends mehr zu finden. Das Lachen im Hause schallte über alle Nachbarzäune. Aber der ausgelachte Junge konnte in diesem Falle sagen: „Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“ Denn nach einigen Tagen, als der Bauer nach den frischen Würsten auf der Rauchbühne sieht, sieht er zu seinem nicht geringen Schrecken und Grimm, daß die dicksten Mettwürste angefressen sind. Himmel- hagel ..! Wer konnte das getan haben? Nun, wer anders als der eigens im Sacke herbeigeholte Wö- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 48 stesmecker, der im Hause geblieben war und das Schlachtefest für sich noch um einige Tage verlän- gert hatte.

„Voader, eck will ’ne kleine Wost hebbenl“, hörte man die Kleinen bitten und quälen. „Denn loat deck eine anmät’n (anmessen) von’n Slachterunkele“, sagte dann wohl der Vater.

Die Kleinen mußten nun den Mund so weit wie möglich aufsperren, damit die Wurst so groß wie mög- lich wurde, denn der Schlächter maß so ernsthaft wie möglich mit den Därmen um den aufgesperrten Mund herum. Wer einen großen Mund hatte oder doch ihn recht groß aufreißen konnte, kriegte natür- lich eine größere Wurst als der andere, der von der Natur nicht so bevorzugt war. Bei jungen Mädchen aber wurde (in Lauenberg) das Maß dicht über dem Knie genommen.

In Lauenberg wurde den Kindern das Rätsel ausgegeben: „Wecke Wost werd terierst annesnien (zuerst angeschnitten)?“ Antwort: „De Blasenwost.“ – Die betreffende, noch leere Blase, die vom Schlachte- morgen an am Fensterkrack zu hängen pflegt, wird vom Schlachter angeschnitten, wenn sie mit Wurst gefüllt werden soll. Die Kinder müssen dann einen Teller holen, um den Wind, der beim Aufschneiden der Blase entweicht, in die Küche zu tragen.

Ist in der Familie eine Kindtaufe in Sicht, oder könnte dem Anscheine nach im Laufe des Jahres eine solche wahrscheinlich werden, so macht der Schlächter aus dem Magensacke, in den die Schweine- zunge gesteckt wird, die „Lüttgejungenswost“ sonst „Piepwurst“ genannt, und reicht sie der jungen Frau oder dem Mädchen, das gerne Frau werden möchte. Soll es ein Junge werden, so wird die „Pie- pe“, das noch am Magen sitzende Schlundende, lang geschnitten; ist ein Mädchen in Aussicht ge- nommen, macht man sie kurz.

Und nun ein schöner Zug der alten Sitte: War nachmittags das Wurstfleisch gar gekocht, durften die armen Leute kommen und sich Fleischbrühe holen, so daß sie nun auch ihre Wurstsuppe hatten; oder sie wurden gleich mit der fertigen Wurstsuppe beschert. Die Brühe wurde nämlich zur Wurstsuppe erst dadurch, daß man ein irdenes Becken (natürlich aus Fredelsloh) schichtweise mit Brotschnitten ausfüllte und darüber die fette und wohl gewürzte Fleischbrühe goß. Diese eigentliche Wurstsuppe, nach der das ganze Schlachtefest den Namen erhielt, konnte tagelang, ja wochenlang aufbewahrt wer- den und schmeckte um so besser, je öfter sie aufgewärmt wurde.

Die Sitte hat sich u. a. in dem Städtchen Moringen noch bis in diese Tage hinein erhalten, aber so aus- und umgebildet, daß der Schlachtende seinen Freunden und Nachbarn die Fleischbrühe unaufgefordert ins Haus bringen läßt.

Je näher der Abend heranrückte, desto voller wurde das Haus. Die letzten Würste waren gemacht, und die Frauen eilten, die aneinander gereihten Tische zu besorgen, denn nun folgte der eigentliche „Wos- soppen“ oder „Wostezoppen“, in dem das ganze Fest gipfelte. Haach, war das ein Gastmahl! Ich bin außer mir, wenn ich heute – 1920 – an die kraftvolle, fette Suppe denke, in der die prächtigsten und reinsten Mettklöße wimmelten! Und an den Sauerkohl mit „Sti-eke“ (Wellfleisch), Herrlichkeiten, die bergehoch aus den großen irdenen und spruchbemalten Näpfen ragten! „Sti-eke“ zumal, das man auch schon beim Vesper so reichlich aufgetischt sah. Nicht zu vergessen den goldig funkelnden Brannt- wein, der aus dickbauchigen Kannen in die großen Stutzgläser floß, wie ja überhaupt am Schlachtefe- ste mit Branntwein nicht gespart werden durfte, wenn man keine Nackenschläge haben wollte.

Angemerkt sei noch, daß der Schweinehirt ein althergebrachtes Anrecht auf die „krumme Wurst“ hat- te, die darum „Swänswost“ genannt wurde. (Siehe Hirtenkapitel S. 174.)

Von dem kuriosen Schauspiele will ich noch berichten, das gewöhnlich gegen Ende des Schlach- teschmauses gegeben wurde. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 49

„De Iutgeklät’n komet!“ (die Ausgekleideten, Verkleideten kommen) wurde plötzlich in die Stube gerufen, und alle sahen freudig von ihren Tellern auf, da sie ohnehin Mühe hatten, noch mehr zu es- sen. Es war nämlich allgemeine Sitte, daß sich Spinnknechte und Spinnmädchen, wohl auch sonstige Leute, die es nach einem guten Happen lüsterte, maskierten und vermummten und dem Schlachtehau- se einen Besuch abstatteten. Meistens waren die Mädchen als Burschen, die Burschen als Mädchen verkleidet, und ein in eine humpelnde Alte verwandelter Bursche trug einen geräumigen Handkorb, um die üblichen Schlachtefestgaben aufzunehmen. Voran diejenigen, die man schon als gute Schau- spieler kannte, kam die lustige Gesellschaft in die Stube gepoltert, während die Kinder in Angst und Freude sich hinter die Röcke der Mütter verkrochen.

Auf die Frage „woher und wohin“ hieß es (z. B. in Schoningen): „Wir kommen her aus Echte, da schlafen die Mädchen beim Knechte, die Weiber bei den Männern, das läßt sich nun mal nicht än- dern.“ (Das Anstößige ist natürlich nur dem Reimzwange zuzuschreiben.)

Es folgte nun ein regelrechter dramatischer Austritt.

Rede und Gegenrede wurden, wenn die richtigen Leute zusammenkamen, immer witziger, aber auch immer derber, manchmal so derb, daß das Papier erröten müßte, wenn ich alles aufschriebe.

„Säau, säau, von Echte (Dorf bei Göttingen) sind Sei her ekomen? Da möchte eck doch den Paß gärn mal seihn“, läßt sich der Hausherr vernehmen.

Die Verkleideten haben für diesen Fall auch schon ein Stück Papier bereit, das sie vorzeigen, aus des- sen Inhalt der Hausherr aber natürlich nicht klug werden kann. „Ach, diu leiwe Biulwost“ (Beutel- wurst), ruft er aus, „da kann eck ja kein kläauk räauter wern!“ Dann wendet er sich an die nächste Mannesgestalt, betastet sie und sagt: „Düsse Mann hät ja’n Melkgesichte as’n klein Siugepanze (Säug- ling). Da mott ’ck doch mal seihn ....“ Es ist aber gar kein Mann, sondern ein Mädchen, und bei der nun beginnenden Untersuchung, gegen die sich die Verkleideten natürlich wehrten, kam. es mitunter zu den ergötzlichsten Balgereien, die gewissermaßen den Höhepunkt des Auftritts ausmachten. (Wie Heinrich Schomburg aus Schoningen mir mit lachendem Gesichte versicherte, freuten sich die Wurst- suppengäste an diesen Aufführungen ebenso, vielleicht noch besser, als die Großstädter an den oft noch zweifelhafteren Aufführungen ihrer Theater.)

Eine Handharmonika, oder mindestens eine Mundharmonika, die die lustigen Besucher mit sich führ- ten, leitete dann wohl zum Tanze über, und je nachdem wie man gerade aufgelegt und angelegt war, tanzten die Wossoppengäste Polka, Schottschen und Rheinländer zusammen.

Während dieses fröhlichen Spektakels aber packte die Hausmutter in der Küche von dem Geschlachte- ten reichlich in den mitgebrachten Korb, vor allem das fette „Sti-eke“ mit Sauerkraut und Würsten. Auch eine Sätte Wurstsuppe fehlte nicht, deren Grund (in Fredelsloh) gequollene Zwetschen füllten. Ulkeshalber wurde eine Wurst mit in den Korb bugsiert, die aus dem behaarten Schweineschwanze und dem im Stutztroge zusammengekratzten Abfalle bestand.

Hatte man genug gespaßt und gelacht, so nahmen die Verkleideten mit soviel Anstand, Witz und Dank wie möglich Abschied und kehrten mit dem wohlgefüllten Korbe in ihren Spinntropp zurück, wo nun so lange noch gefeiert wurde, bis alles verzehrt und ausgetrunken war.

Liebesbräuche am Matthiastage. Im verflossenen Winter (1922/23) kam am Morgen des 25. Februar in Schönhagen ein Bauer in seinen Gänsestall und sah zu seinem Schrecken, daß der Gante (Gänserich) schwer erkrankt war: Er lag auf der Seite, schlug mit den Flügeln und konnte nicht auf den Beinen stehen. Als der Bauer ihn aufrichte- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 50 te, schwankte er wie ein Betrunkener hin und her, um alsbald wieder auf die Seite zu fallen. Die Bäue- rin kam hinzu und jammerte, und in der Sorge, daß das unter den obwaltenden Verhältnissen so wert- volle Tier anders nicht mehr zu retten wäre, zog der Bauer sein Kneifmesser aus der Tasche und schlachtete den Ganten.

Das wäre nun gar nicht so absonderlich gewesen, wenn nicht am gleichen Morgen aus einem anderen Bauernhofe des Dorfes ganz derselbe Vorgang sich abgespielt hätte. Auch da war der Gante wegen des gleichartigen Zustandes notgeschlachtet worden. Und wie der eine, so hatte auch der andere bei der Öffnung ganz seltsam nach Branntwein gerochen. Ein pfiffiger Nachbar hörte davon, kam herüber, lachte unbändig auf und rief: „Leute und Kinder, wißt ihr denn nicht, daß gestern Matthiastag war?“

Da fiel es den Gantenschlächtern wie Schuppen von den Augen. Wahrhaftig, es war ja gestern Matthi- astag gewesen! Und es war einer der beliebtesten alten Matthiasgebräuche, den sie selbst, als sie noch zum Jungvolk gehörten, manch liebes Mal mitgeübt hatten: Wenn der Spinntropp am Abend beisam- men war, wurde heimlich aus einem Bauernstalle ein Gänserich geholt, mit Branntwein getränkt und mit einem über den Kopf gezogenen Strumpfe in den Ring gesetzt den die Spinnmädchen in der Stube bildeten. Mit großer Spannung wurde sodann die nächste Bewegung des Gickgacks verfolgt, denn sie hatte eine wahrsagende Bedeutung: Das Mädchen, auf das er zuerst zulief, konnte versichert sein, daß es in demselben Jahre noch Hochzeit machte.

Die beiden Ganten waren also nicht schwer krank, sondern schwer be–trunken gewesen. Und wer den Schaden hatte, brauchte natürlich für den Spott nicht zu sorgen. Der eine Bauer schlug sich vor den Kopf, lachte mit und ließ sich den Gänserich gutschmecken; der andere aber, der weniger Spaß ver- stand, schalt auf die Tierquälerei und verlangte von dem Spinntropp Schadenersatz. Es gab nun natürlich kein Begräbnis, sondern einen fröhlichen Spinnstubenschmaus. (Das an Tierquälerei gren- zende Tränken des Ganten mit Branntwein verbietet sich ja heute wohl von selbst.)

So knüpft sich eine ganze Fülle von Liebesbräuchen an den Matthiastag (24. Februar), der im Solling ungefähr die Bedeutung des Andreastages anderer Gegenden hat1). Ich habe die mannigfaltigen und merkwürdigen alten Überlieferungen bereits in den achtziger Jahren gesammelt, also zu einer Zeit, als die Spinntröppe, gewissermaßen die Voraussetzung dieser alten Bräuche, in den Sollingsdörfern noch überall lebendig waren. Möchte man nun glauben, daß diesseits des Weltkrieges solch seltsames Tun nicht mehr möglich wäre, so zeigt uns ein Gang durch die Sollingsdörfer, daß auch heute der Sinn für diese alten Bräuche noch keineswegs ausgestorben ist. Natürlich hängt das zu einem guten Teile damit zusammen, daß die „Spinntröppe“ im Sollinge sich teils noch erhalten, teils auch wieder neu gebildet haben.

Hören wir also weiter, wie ein junges Mädchen in der Matthiasnacht erfahren kann, was für einen Mann es einmal bekommt, ob „ihn“ oder einen anderen, ob einen Reichen oder Armen, ob hübsch oder häßlich, jung oder alt, ob mit schwarzen oder roten Haaren. Wohl ist der Kuckuck schon wieder- holt verhört worden, aber er hat immer nur angegeben, wie lange noch zu warten sei, auch das eine Jahr ganz anders gesagt als das andere. Da muß denn der Matthiastag endlich Klarheit bringen.

1) Matthias, Jünger Jesu, durch Los an Judas Stelle Apostel geworden, wurde von der römischen Kirche am 24. Februar, von der griech. am 9. August gefeiert.

Man weiß von Matthias nichts Näheres. Der „heilige Matthias“ soll, wie anderwärts die Sage geht, ein ähnliches Schicksal wie Oedipus gehabt haben. Als ausgesetztes Kind in Pilatus’ Haus und Dienst gekommen, erfreute er sich der höchsten Liebe und Zuneigung des Hohenpriesters. Einst aber, so erzählt die Sage weiter, erschlug er einen Apfeldieb. Das war sein Vater. Dann soll er seine Mutter, die er nicht kannte, zur Frau genommen haben. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 51

Ziehe aus dem ersten Fuder Korn, das du einfahren siehst, heimlich eine Ähre, bewahre sie sorgfältig auf und stelle dich damit in der Mittagsstunde des Matthiastages in die Haustür. Sage kein Wort: so wird der Mann aus dich zukommen, mit dem du einmal durchs Leben gehst.

Viel geübt wurde das „Stippen“. Man verband einem Mädchen die Augen, legte ein Krümchen Salz, einen Kamm und einen Erbschlüssel auf den Tisch, und das herangeführte Mädchen hatte jetzt in Wahrheit seine Zukunft in der Hand: Stippte es den Erbschlüssel, so machte es in dem Jahre noch eine Erbschaft; stippte es den Kamm, bedeutete das Heirat; stippte es aber das Salz, so stand ihm bevor, daß es seine Hochzeit nicht im Myrtenkranze feiern konnte. Manchenorts wandte man vier Schick- salsmittel an: Trauring und Myrtenkranz, Salz und Asche. Die Asche bedeutete den – Tod.

Man warf auch zwei „Prowinkelnblätter“ (Wintergrün) aus einen Eimer voll Wasser und beobachtete, ob sie zusammen schwammen. Geschah dieses, so mußte aus den bewußten beiden sicher ein Paar werden.

Neben diesen öffentlichen Bräuchen, die mit der Zeit mehr den Charakter von Gesellschaftsspielen annahmen, wurde eine Fülle heimlicher Bräuche in stiller Verschwiegenheit gehegt und geübt:

Wollte ein Mädchen, das noch keinen Schatz hatte, die Gegend wissen, in der es einmal als Frau woh- nen würde, so stellte es sich in der Matthiasnacht mit einem Gesangbuche an einen Zaun, schüttelte ihn und rief:

Bell’, Hündchen, bell’, über ein grünes Feld, Über ein grünes Bäumelein: Wo der Schall herkommt, Soll mein eigen sein.

Ein gewaltiges „Braschen“ (Brausen) sollte dann entstehen; das Mädchen war indes durch das Ge- sangbuch geschützt und konnte ganz ruhig dahin horchen, wo das Hündchen bellte.

Vier Zwiebeln, in jede Ecke der Kammer eine setzen und sich bei jeder einen Mann denken: dessen Zwiebel am ersten zu wachsen beginnt, das ist der Zukünftige.

Um zu erfahren, ob der Zukünftige ein Reicher oder ein Armer ist, geht Hannechen mit zwei Eimern nach dem Brunnen und läßt sie auf dem Wege dahin auf das Eis stoßen, vorausgesetzt natürlich, daß Eis vorhanden ist, denn es heißt: „Mattheiis breckt dat Eiis“, aber auch: „Find hei nitz, säau moket hei wat“. Die Stärke des Schalles gibt die Antwort: schallt es leise, so muß sie mit einem Tagelöhner vor- lieb nehmen, während sie bei lautem Schall sicher einen vermögenden Bauern, vielleicht gar einen „Schaulmester“ bekommt. Wir können uns denken, daß Hannechen schon das Ihrige tun wird, dem Schall die erforderliche Stärke zu geben.

Aber wie herausbringen, ob’s ein Alter oder ein Junger ist? Da muß sie auf dem Rücken einer treuen Freundin nach dem nächsten Schafstalle reiten, an die Schafstalltür klopfen und auf das nun folgende Bläken horchen: bläkt ein Lamm, so bedeutet das einen frischen jungen Knecht; läßt sich aber ein altes Schaf hören, kann sich die Ärmste nur auf einen alten Griesgram gefaßt machen.

Um die Gestalt ihres Zukünftigen zu sehen, nimmt Georgine ein Glas, geht allein und stillschweigend zum fließenden Wasser, füllt das Glas bis an den Rand, eilt flugs nach Hause und schlägt Eiweiß in das Wasser: dann entsteht in dem Glase die Gestalt des Zukünftigen. Ist er in demselben Dorfe wohn- haft, kann sie ihn auch sehen, wie er leibt und lebt, wenn sie die Spinnstube verläßt, ohne gute Nacht zu sagen, sich still aus einen Kreuzweg setzt, einen Faden drummelt und die nächste Haustür damit Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 52 verbindet: der dann am ersten hinein oder heraus will, der ist’s. Sie kann sich’s auch noch leichter machen und einfach an irgendeiner Haustür einen Stein befestigen: so wird sie mit dem in die Ehe gehen, der bald nachher aus dem Fenster guckt.

Übrigens mag der Schatz auch so weit weg sein, wie er nur will, die einmal aufs Heiraten Erpichte weiß in der Matthiasnacht noch so manchen anderen Brauch in Kraft zu setzen, daß er in ihr Kämmer- lein kommen muß, wohnte er gar fern im Heidenlande.

Matthiasnachts, wenn’s 11 schlägt, löst man das Haar, zieht sorgsam alle Haarnadeln heraus und steckt ein am Tage gepflücktes Kirschenspier in die lose herabfallenden Strähnen. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, ein Gesangbuch auf das Kissen zu legen, sonst ist’s Teufelswerk. Wiederum hebt ein starkes „Braschen“ an, und dann erscheint der Zukünftige im hellen Lichterglanze. Einen Augenblick nur, dann ist alles wieder weg und still. Oder man geht mit einem Kranz im Haare schla- fen, darf indes nun ebensowenig wie vorhin unterlassen, das Gesangbuch aufs Kopfkissen zu legen, weil’s sonst eben Teufelswerk ist: dann kommt der Bräutigam und holt den Kranz vom Kopfe der Braut. Ein junger Schlachter, der von einem Mädchen durch das Zaubermittel ebenfalls gezwungen ward, ihm den Kranz vom Haupte zu nehmen, ließ dabei ein Messer fallen. Das Mädchen hob es auf und verbarg es im Koffer. Lange nach der Hochzeit kommt er eines Tages über den Koffer und sieht das Messer. „Ha,“ ruft er da in jähem Grimm, „bist du es gewesen, die mich in jener Nacht, als ich das Messer verlor, so furchtbar gequält hat?“ Als die Frau sich nicht zu rechtfertigen weiß, stößt er ihr das Messer ins Herz.

Das soll, wie mir Sollinger Mädchen lebhaft beteuerten, wirklich und wahrhaftig vorgekommen sein. Ich zweifle daran auch nicht weniger, als an der folgenden, von einer Lauenbergerin mir mitgeteilten Begebenheit:

Wenn ein Mädchen über die linke Schulter einer Freundin in den Backofen guckt, soll es darin seinen zukünftigen Ehemann, oder, falls es vor der Hochzeit sterben muß, den eigenen Leichenzug sehen können. Neugierig nun, ob wirklich was daran sei, drang eine Bäuerin in ihre Dienstmagd, sie möge einmal über ihre Schulter in den Backofen sehen. Der Magd bangte erst vor der Möglichkeit, ihren eigenen Leichenzug ziehen zu müssen, sie ließ sich aber schließlich überreden und guckte, als die Glocke elf schlug, über die linke Schulter der Bäuerin in den Backofen. „Sühste wat?“ fragte die Frau. Das Mädchen antwortete nicht, sondern riß nur entsetzt die Frau vom Backofen weg. „Wene häste seihn? Spreck, Meken, wer satt derinne?“ – „Iuse Häre satt’r inne!“ (Unser Herr saß drin!) erklärte die Magd schließlich ganz verstört. Da schlug die Frau die Hände zusammen und stöhnte: „Jesses, jesses, eck mäaut starben, eck mäaut starben!“ Wirklich ist sie in dem Jahre noch gestorben, und da hat der Bauer die Magd zur Frau genommen.

Der Backofen hat es in der Matthiasnacht überhaupt in sich. Eine tolle Geschichte passierte da in Din- kelhausen. In einem Spinnstubentropp wollten die Mädchen auch einmal um Mitternacht in den Back- ofen gucken. Sie mußten sich zu diesem Zwecke völlig entkleiden, taten das auch, trotz Frost und Schnee, und eine jede nahm ihr Zeug untern Arm. Die Knechte hatten aber heimlich einen Hund und eine Katze in den Backofen gesperrt. Als nun Glocke zwölf die Backofentür geöffnet wurde, kamen Hund und Katze wie zwei Teufel herausgesetzt. Die Mädchen schrien furchtbar auf und rannten in ihrem ersten Schrecken nackend davon durch die Beke.

In Wiensen erzählte im vorigen Winter (1922) ein Mädchen vertraulich der Lehrersfrau, sie hätte in der letzten Matthiasnacht auch nackend in den Backofen gesehen, aber niemand bemerkt. Es wäre alles „kohlrabenschwarz“ gewesen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 53

Sinnvoller möchte uns dagegen der folgende Brauch erscheinen: Minna setzt sich mit einem frisch gebackenen Brote auf die Wagendeichsel und ruft leise in die Nacht hinaus:

Wer meiin Schatz will seiin, Kome un snegge düt Brat up!

Anderwärts muß sie sich im bloßen Hemde auf die Wagendeichsel setzen; wer sie dann herunterhebt, der wird ihr Mann. Oder sie schiebt den Wagen und läßt sich hören:

Ver Rae, eck schuwe jöck, Wer meiin Schatz will seiin, Kome un helpe meck!

Es müßte sehr verwunderlich sein, wenn der Schatz nicht alsobald herzugelaufen käme. Im entgegen- gesetzten Falle würde sie sich drei Witwenhäuser ausersehen, von jedem einen Holzsplitter heimlich an sich nehmen und damit am andern Morgen einheizen. Dann käme der Herzallerliebste sicher in der Frühe des nächsten Tages und stellte sich vor den Ofen. Glaubt sie indes bis zum andern Morgen nicht warten zu können, so muß sie die Splitter unter den Tisch ins Kreuz legen und sich nackend darauf setzen, so wird der Begehrte auf der Stelle erscheinen. – Wenn sie zwei Talglichter in eine Hand nimmt und sich rückwärts vor den Spiegel stellt, zeigt der Spiegel das Gesicht des Zukünftigen. Wenn eine nun auch noch das Herz hat, in den Ofen zu greifen, so wird sie vom Haupte des zukünftigen eine Hand voll Haare in den Händen halten. Ein gleichfalls sehr wirksames Mittel, den Geliebten herbeizu- ziehen, soll sein, nackend die Stube auszuräumen, die vier Ecken auszukehren und dabei zu rufen:

Veer Ecken, eck sege jöck: Wer meuin Schatz will seuin, Kome un helpe meck!

Noch sicherer dürfte die Heiratslustige jedoch ihren Zweck erreichen, wenn sie in der Nacht heimlich neun Türen im Hause öffnet: dann wird ihr der Ersehnte durch die neunte Tür in die Arme fliegen. Stellt sie aber eine Schale voll Wasser nebst Seife und Handtuch hin, so muß er kommen und sich waschen.

Noch eigenartiger, beziehungsvoller und zauberkräftiger ist das wiederum in der Verborgenheit des jungfräulichen Schlafkämmerleins angewandte „Eisleinsäen“. Schon im Sommer ist das Mädchen darauf bedacht gewesen und hat in der Flachsrupfezeit von den Flachsrotten das sogenannte Eislein („Euisleuin“ oder „Eiisleiin“) abgeschöpft, das aus den (trotz des Riffelns) an einzelnen Flachsspieren noch hängen gebliebenen „Knutten“ aus das „Raten“wasser gekommen ist. In der Matthiasnacht nun zieht das Mädchen vor seinem Bette einen Kreis, säet das Eislein hinein und läßt sich dazu verneh- men:

Eiisleiin, eck säge deck in meiinen eiisleiinischen Garen: Wer meiin Schatz will seiin, kome met Beiilen un Baren un betuine meck meiinen eiisleiinischen Garen!

Sobald das letzte Wort heraus ist, muß die bräutliche Verschwörerin schleunigst ins Bett springen, sonst werden ihr die „Fassen“ (Fersen) abgehackt, und das hat bekanntlich ganz entgegengesetzte Fol- gen. Ohne Verzug erscheint der Beschworene mit Hacke, Beil und Barte und macht einen Zaun um den als Garten gedachten Kreis. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 54

Ja, die Mannigfaltigkeit der Matthiasgebräuche ist groß, und wenn sich die in Hoffnung Verliebte beim Zubettegehen einen Myrtenzweig ins Haar steckt, wird sie die ganze Nacht von dem träumen, den Gott ihr zugedacht hat. Die alte Nickelsche aus Dinkelhausen freilich sagte: „Eck häau nitz ema- ket un häau doch meuinen Mann in Drame seiin, säau as hei harnah komen is.“

Die Mannigfaltigkeit der Bräuche sorgt dafür, daß die Mädchen auch noch zu andern Zeiten des Jahres auf sie zurückgreifen können. Wenn sie nämlich einen vor dem Schlafengehen aus einem Ehebräker- tiune (Ehebrecherzaun) gezogenen Weidenstock an einem heimlichen Orte aufbewahren und Ostern oder Pfingsten ins Feuer legen, wird während des Verbrennens ganz gewiß der Ersehnte plötzlich ins Haus geschneit kommen.

Zum Schluß sei noch einer abergläubischen Meinung Erwähnung getan, die ausnahmsweise mit der Liebe nichts zu tun hat: Läßt man nämlich Kohlblätter auf dem Felde liegen, so bildet sich unter ihnen am Matthiastage in der Stunde von 12 bis 1 Uhr mittags Kohlsamen, der, wenn er nicht sofort gesam- melt wird, alsbald wieder verschwindet. Und noch sei an dieser Stelle angemerkt: Wer in der Matthi- asnacht auf dem Bücken schläft und die Mäuse im Bettstroh kraspeln hört, bekommt am folgenden Morgen zweierlei Braten.

So töricht und unsinnig uns heutigen Menschen, zumal in dieser Zeit, diese alten Bräuche auch er- scheinen mögen, so wird man sie doch nicht einfach als Ausgeburten des Unsinnes und Unverstandes abtun können. Mag auch Jugendübermut und Jugendulk einiges oder manches dazu getan haben, ja, mag man die alten Bräuche auch nur noch „Trödels halber“ üben, wie mir ein Sollinger sagte, so wei- sen sie doch im ganzen ohne Zweifel Beziehungen auf, die weit über das christliche Zeitalter in das graue Heidentum zurückführen. Soviel ist jedenfalls sicher, daß der heilige Matthias des Christentums gegenüber diesen Bräuchen seine Hände in Unschuld waschen kann.

Einen Anhaltspunkt dafür gewinnen wir durch ein den Kapitularien der fränkischen Könige beigege- benes Register der heidnischen Gebräuche, die sich noch in der Mitte des achten Jahrhunderte an eini- gen Orten Deutschlands erhalten hatten. Unter III. findet sich: (de spurcalibus in Februario, das heißt von den Unflätereien im Februar. Unter XXX. dieses Registers heißt’s: „Von dem, daß sie glauben, weil die Weiber den Mond loben, daß sie können den Menschen das Herz nehmen, nach der Heiden Meinung.“

Wie ich weiter feststellen konnte, ist der 24. Februar lauf einem alten Runenstabe (Runenkalender) besonders ausgezeichnet durch eine Wecke (Kuchen in Semmelform). Danach könnte man annehmen, unser Matthiastag wäre ursprünglich ein heidnischer (keltischer) Weiber-Festtag gewesen, der einer den Liebeshandel beeinflussenden Mondgottheit zu Ehren gefeiert wurde.

Wir können in unserer Mutmaßung vielleicht noch weiter gehen und jener Gottheit auch einen Namen geben. Jacob Grimm bringt nämlich in seiner „Deutschen Mythologie“ einen allerdings nicht zuverläs- sigen Beleg, wonach der Februar ehedem Redimonat genannt worden sei, wie anzunehmen nach einer altheidnischen Gottheit. Da sich indes in Deutschland der Name nicht für eine Gottheit findet, so müß- te die letztere wohl in der vorgermanischen Zeit gesucht werden. Ein Sprachbeflissener am Urds- Brunnen (A. Rabe), der sich weit ins keltische Sprachgebiet vorgewagt hatte, schrieb mir, als ich (1883) diese Aufzeichnungen im „Urds-Brunnen“ veröffentlicht hatte: „Redi halte ich für eine kelti- sche Mondgottheit, irisch re, gälisch re = Mond; irisch und gälisch dia = Gott. (???)

Wenn nun, (wie ich dazumal für naheliegend hielt, einerlei wäre, mit reto, einer vorgeschichtlichen Gottheit, der nach alten Chronisten wie nach der Volkssage auf dem Retoberge (zwischen Brunstein und Kloster Wiebrechtshausen bei Northeim) geopfert worden ist, so ließen sich die Matthiasgebräu- che wohl zu dieser Gottheit in Beziehung bringen. Dann erklärte sich auch die auffällige Erscheinung, Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 55 daß die Matthiasgebräuche nach den von mir in verschiedenen Gegenden Deutschlands eingezogenen Erkundigungen nirgends so im Schwange gingen wie in der Gegend des Sollings und Leinetals. In andern Gegenden, beispielsweise im Magdeburgischen und in Dithmarschen, war keine Spur davon aufzufinden; anderwärts hat man nur ganz vereinzelt einen Matthiasbrauch aufzujagen vermocht.

Ich habe diese Mutmaßungen dem bekannten Sprachforscher und Herausgeber des Jahrbuches für niederdeutsche Sprachforschung, Professor Dr. W. Seelmann in Berlin-Wilmersdorf, vorgelegt, der mit darauf folgendes schrieb: „Redimanot ist als Bezeichnung des Februar nicht zu bezweifeln. In einer Züricher Urkunde von 1391 kommt redimonet, in einem schweizerischen Gedichte und in Grimms Weistümern redtmonet vor. Zu vergleichen ist angelsächsisch Hredmonath (März), der seinen Namen nach Bedas Überlieferung, vielleicht seiner Vermutung, einer Göttin Hreda verdankt (Wein- hold, Die deutschen Monatsnamen. Halle 1869).“

Lehrer H. Weigand in Northeim i. H., den ich um weitere Nachforschungen an Ort und Stelle bat, gab mit die folgende Auskunft: „Die Gegend um den Retoberg hieß früher Retogau. Dieser hat sicher sei- nen Namen von dem Retoberg, weil er die beherrschende Höhe dieses Gebietes ist. Auf der höchsten Höhe des Retoberges ist ein hünengrabartiger Hügel, der im Volksmunde ,Götzenaltar‘ genannt wird. Ob aber da oben eine heidnische Kultstätte gewesen ist, muß doch bezweifelt werden. Das Wort ,Götzenaltar‘ klingt sehr modern. Der Retoberg war früher in weitem Umfang mit Sumpfgelände um- geben, das mit Riedgras bewachsen war, und gewiß hat der Retoberg („Reidberg“) davon seinen Na- men ...“ Professor Dr. Seelmann neigt dieser Annahme nun ebenfalls zu und bemerkt: „Herr Weigand hat wohl das Richtige getroffen, wenn er den Namen des Retoberges mit dem des alten Hretingaus zusammenbringt und den ersten Teil beider Namen als Ried, ,Schilfrohr‘ (mittelndd. rêt, Dativ rete, altndd. hriod, hrêd) erklärt. Reto kann aus retaha ,Riedgewässer‘ entstanden sein, so erklärt sich auch das End-o. Das Wort Reid ist nach Schambachs Wörterbuch S. 169 bei Northeim bekannt, Rische (ib. S. 173) bezeichnet dort die Binse.“

Somit kann jedenfalls die versuchte Erklärung noch nicht als geglückt angesehen werden.

Faslamd. Faslamd“, Faslab’nd, der Dienstag vor Beginn der Fasten, wurde auch im Solling immer in überaus lustiger Weise gefeiert, natürlich nicht in allen Dörfern in gleicher Weise, sondern immer mit mehr oder weniger größeren Abweichungen, auch nicht in jedem Jahre überein.

Die 14 Tage, die dem Faslamd vorangehen, heißen die „dullen Fasten“. Da ging es auch wirklich manchmal recht toll her. „Biutzpötte“ (Bautztöpfe) wurden in die Häuser geworfen, damit der Flachs gut gerate, und am Abend zogen die jungen Knechte auf der Straße umher, knallten gewaltig mit den Peitschen und sammelten Eier und andere Gaben ein, wobei folgende dunkeldeutige Strophe, wahr- scheinlich der Rest eines längeren Liedes, gesungen wurde: „Kaiser, Bischoff, reiike Här’n, gie-wet gärn, twischen Elben unrecht, dat sall seiin ...“1)

Die eigentliche Faslamdfeier war vorwiegend eine Angelegenheit der Spinntröppe, die entweder hin- tereinander oder zusammen feierten und damit gewöhnlich die eigentliche Spinnstubenzeit abschlos- sen oder besiegelten. So war es z. B. in Schönhagen, während dagegen im benachbarten Cammerborn

1) Pastor Harland in Schönhagen, der diese Strophe um 1880 dort aufzeichnete, deutete sie: „An der heidnischen Feier der Elben geloben die Sammler nicht teilnehmen zu wollen, weil sie es für Unrecht halten.“ – Ich zweifle aber, daß hier an Elben zu denken ist. Prof. Kück, dem ich das Bruchstück vorlegte, vermutet in „Elben“ das Zahlwort „elmen“, „ölmen“, das wahrscheinlich durch „twölmen“ zu ergänzen sei, so daß es also heißen müsse: „twischen ölmen un twölmen“ ... Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 56 die ganze Einwohnerschaft sich zur Faslamdfeier zusammentat, wie ich das in den achtziger Jahren auch auf der Weper erlebte. In manchen Jahren fiel übrigens der Faslamd in Schönhagen ganz aus, und statt seiner fand eine öffentliche Tanzmusik statt. Wie die großen Schützenfeste nur in größeren Zeit- abständen, manchmal mit vieljähriger Zwischendauer, gefeiert wurden, so setzte auch die „große Fas- lamdfeier“ manchmal mehrere Jahre aus.

War in dem einen Jahre „großer Faslamd“ beschlossen, so gingen, wie schon erwähnt, die jungen Knechte einige Zeit vor dem Feste abends im Dorfe (Schönhagen) herum, knallten (wie damals die Schlachter) mit den Peitschen und fragten in den Häusern, in denen Kälber vermutet wurden, nach Verkaufsbereitschaft und dem Preise, teils wohl aus Ulk, aber auch in der ernsten Absicht, ein Kalb oder mehrere für das Fest gemeinsam zu schlachten. Denn wie zu einem ordentlichen Feste wurde auf die große Faslamdfeier angerichtet, wie auch aus allen Häusern Eßwaren nach dem Faslamdhause getragen wurden. Handschriftlichen Aufzeichnungen des Pastors Harland zufolge wurde am zweiten Faslamdtage ein großer Umzug durchs Dorf veranstaltet. Ihm voran tanzte ein junges Paar, der Mann mit einem Federbusch auf dem Kopfe. Dann folgte ein von zwei Kühen gezogener Wagen, auf dem Fuhrmannssitz ein Strohmann mit breitem Filzhute und einer Peitsche in der Hand. Auf der Achse des Wagens lag ein Wagenrad; Holzleisten, die darüber befestigt waren, faßten so in das Rad, daß es sich mit der Bewegung des Wagens drehen mußte. Damit drehten sich auch die beiden Puppen, eine männ- liche und eine weibliche, die auf dem Bade angebracht waren und als tanzendes Paar figurierten. Der Mann trug auf dem Rücken einen Ranzen. Verkleidete Mädchen und tanzende Paare folgten dem Zu- ge. Den Zuschauern wurde auf der Straße von den Umzüglern gelegentlich fleißig zugeprostet.

Harland dachte nach, welchen Sinn diese verschiedenartigen Bräuche ursprünglich gehabt haben könnten: Der vorn auf dem Götterwagen sitzende Strohmann, der eigentliche Faslamd, stellt, so meint er, den scheidenden Winter dar. Der Faslamd wird nach Schlusse des Festes mit komischer Feierlich- keit begraben. Je tiefer man ihn eingräbt, desto schwerer wird ihm das Wiederkommen gemacht. Sogar Reste von Essen wurden ihm ins Grab nachgeschüttet. In dem tanzenden Manne auf dem Rade glaubte Harland den wiederkehrenden Frühling dargestellt zu sehen. Schon dem Ranzen auf seinem Rücken sähe man es ja an, daß er von einer weiten Reise heimgekommen sei. Die Frau, mit der er tanzt, wäre wohl aus einer Erinnerung an Freia, die Göttin der Erde, entstanden, während das Rad, auf dem sie tanzen, auf das Julrad oder den Jahresring deuten könnte.

Soweit Pastor Harland, und auch ich nehme an, daß diese Bräuche im ganzen noch auf mythischen Ursprung zurückdeuten. Wie vorsichtig und zurückhaltend man indes bei solchen Deutungen sein muß, ersehen wir aus einer Nachforschung, die Hauptlehrer Jünemann in Schönhagen auf meine An- regung im Winter 1923 auf Grund der Harlandschen Faslamdschilderung in Schönhagen anstellte. Wie er mir mitteilt, fand der große Faslamd, aus den sich Harlands Aufzeichnungen beziehen, im Jahre 1876 statt. Einer von den Hauptbeteiligten war der jetzt noch lebende 73jährige Schneidermeister Au- gust Reuter. Gleich einem Herold begleitete er den Umzug am zweiten Tage zu Pferde. Seine rote Mütze, die er an der Vorderseite mit einem grünen Herzen geschmückt hatte, steht ihm noch heute in lebhafter Erinnerung. Mit einem Blashorn verschaffte er sich an bestimmten Stellen des Dorfes Gehör und rief nach Gauklerart aus, daß für den Abend eine großartige Belustigung bevorstehe. Beliebt war das Herumführen eines Herings, der als gefährliches Tier bezeichnet wurde und dessen Bändigung Seine besondere Programmnummer bildete. Den Strohmann, der in Wirklichkeit kein bloßer Stroh- mann, sondern ein Verwandter Reuters war, hatte dieser selbst mit Stroh umwickelt. Auch des krei- senden Rades mit den tanzenden Puppen aus dem Wagen erinnert sich Reuter noch sehr gut. Daß die gleiche Veranstaltung aber auch in den Faslamdumzügen anderer Jahre gemacht sei, weiß er nicht mehr; die Möglichkeit, daß das von Harland als Julrad angesprochene Wagenrad auf Vorbilder aus früheren Jahren zurückzuführen sei, läßt er offen. Dagegen lehnte sich der helläugige Schmiedskonrad gegen die Annahme einer geschichtlichen oder mythischen Beziehung entschieden auf. Weil ein Ein- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 57 wohner, der zu Amelith lange Holzröhren für die dortige Wasserleitung ausbohrte, ein passendes Rad gehabt habe, sei ein findiger Kopf im Jahre 1876, aber auch nur in diesem Jahre, auf den Einfall ge- kommen, das Rad in der von Pastor Harland wahrgenommenen Weise zu verwenden. Die Einrichtung des Umzuges und die Verkleidung der Teilnehmer habe gewechselt. Die Spinntröppe wollten die Tröppe früherer Jahre übertreffen, strengten sich darum sehr an, um auf neue und absonderliche Scherze zu kommen, von denen noch lange gesprochen werden sollte.

In leuchtenden Farben steht den älteren Leuten noch das Bild des tanzenden Mädchens vor Augen. Johanne Knoke hieß sie, deren besondere Zierde ungewöhnlich lange Flechten waren, die, aufgelöst, bis zu den Knöcheln hinabreichten und so auch bei jener Faslamdfeier von ihr getragen wurden. Am Hinterkopfe wurden sie mit einem „Vaddernbänne“ zusammengehalten. Ein übergezogenes feines weißes Hemd umschloß die Brust; der weiße Rock, den sie dazu trug, war mit einem roten „Döißen- bänne“1) geziert. Dazu weiße Strümpfe und niedrige Schuhe. Als sie nun so vor dem Wagen hertanzte, wurde sie von ihrem eigenen Vater nicht erkannt, so daß er sich erkundigte, wer die schöne Tänzerin sei, und dann ganz überglücklich war vor Vaterfreude.

Eine derartige Tänzerin wäre also nicht stehende Regel gewesen, wie Schmiedskonrad entschieden erklärte; ebensowenig wie der Wagen. Muß man also hiernach die vermuteten Beziehungen zum Jul- rad für sehr fragwürdig halten, so will uns anderseits aber auch die Erklärung des Schmiedskonrad noch durchaus nicht als völlig erschöpfend erscheinen. Ich vermute da ältere Erinnerungen, die fort- gewirkt haben, ohne daß sich die späteren Geschlechter dessen bewußt wurden. Vielleicht geben wei- tere Nachforschungen im Solling nach dieser Seite noch einmal genauere Ausschlüsse.

In Schönhagen wurde übrigens auch nicht, wie Jünemann noch feststellte, ein ganzer „Faslamd-Kerl“ begraben, wie an anderen Orten, sondern nur ein Löffel; und da ist es besonders merkwürdig, daß nach den Erinnerungen des Schmiedskonrad, der damals ein zwölfjähriger Junge war, auch Reisbrei und Branntewein in das Grab getan wurden2).

In Cammerborn, dem (etwa 250 Einwohner zählenden) Nachbarorte von Schönhagen (mit rund 1000 Einwohnern), wurde bei einem großen Faslamd in den siebziger Jahren, an dem sich die ganze Ge- meinde beteiligte, nach der Erinnerung des Landwirts Sakel in Schönhagen, ein ausgewachsener Och- se sowie ein Kalb gemeinschaftlich angekauft, geschlachtet und verzehrt. Gefeiert wurde oben in Wemmels Hause, wohin die Leute „Böuernschinken“ und Sauerkohl, Mehl und Milch und alle „Schnurrpfeifereien“ bringen mußten, die zum Kuchenbacken gehören. Vom Gute Reitliehausen, im Volksmunde „Ziegenbusch“ genannt, wurde ein großes Faß Branntwein und von „Wohlshiusen“ (Vernawahlshausen) die Musik geholt. Auf Wemmels Scheune lagen zwei Tanzsäle. Sogar die „Forst“ (Fiskus) beteiligte sich, indem sie zu dem Holzfeste eigens ein Fuder Holz anwies. Vier Tage lang wurde mit Musik gefeiert. Nimmt man das Kuchenbacken und die sonstigen Vorbereitungen dazu, so ging eine ganze Woche mit dem Faslamd dahin.

Am letzten Tage wurde der Faslamd in Gestalt von Knochen begraben. Ob auch Speisereste mit ins Grab kamen, wußte sich Sakel nicht zu erinnern. Dagegen entsinnt er sich noch sehr lebhaft des Predi- gers bei dieser Begräbnisfeier, nämlich eines Schustergesellen von auswärts mit Namen August Nürn- berg. Er hatte sich eine ordentliche Predigt einstudiert und trug als Chorrock einen großen Mantel, die Nase mit einer geborgten Brille geziert, deren Eigentümer im Dorfe mit dem Spitznamen „Tanzmei-

1) Sonst „Deiißen“ geschrieben; der Laut liegt zwischen beiden Schreibweisen. Es ist das bunte Spinnrocken- band, mit dem der Rocken oder Wocken zusammengehalten wird.

2) Vgl. Kück u. Sohnrey, Feste und Spiele des deutschen Landvolks. Berlin 1911. Zweite Aufl. S. 55 u. 61. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 58 ster“ geärgert wurde. Als nun August Nürnberg die Brille zurückbrachte, verwechselte der Ortsunkun- dige den Spitznamen mit dem wirklichen Namen und sagte: „Guten Abend, Herr Tanzmeister, ich wollte die Brille wiederbringen ...“ Dies Wort wurde dann zum geflügelten Wort und wird noch heute bei entsprechenden Gelegenheiten gern in spaßiger Weise angebracht.

In Lauenförde gipfelt die Feier im Jahrmarkt, der alle Jahre am letzten Montag vor Fastnacht abgehal- ten wird. Das Treiben beginnt schon Sonntag nachmittag mit Musik und Tanz. Auch Kindertänze gibt es dabei. Am Montag geht das Faslamdfeiern schon am Morgen an, beschränkt sich aber hauptsächlich auf die Halbwüchsigen. Man kleidet sich recht abenteuerlich aus und schart sich um ein derbdrolliges Schaustück. Hauptlehrer Könecke daselbst zählte aus den letzten Jahren auf: Einen Drehorgelwagen (hinter bemalten Laken saß ein Harmonikaspieler verborgen) und einen die Gondel markierenden Wa- gen, über dem an Stangen ein kunstvoller Zeppelin schaukelte. Alle Jahre gibts andere Scherze. Man zieht damit durchs Dorf hin und her, macht Musik und sammelt in den Häusern Geld, Würste usw. Früher hat auch die „Wurstgiffel“, die im Solling allgemein bei dem Einsammeln verwandt wurde, nicht in der Ausrüstung gefehlt. Gegen Mittag wird der Jahrmarkt eingeläutet, die Buden werden ge- öffnet, und das Jungvolk wogt zwischen ihnen auf und ab. Nachmittags wieder Tanz. Arbeit, Geschäft und Schule ruhen vollständig, jung und alt feiert.

In Boffzen ist die Faschingssitte (nach einer Mitteilung von Schräpel im „Weserland“ 1916, Nr. 122) ganz ausgestorben. Vor Jahren noch vergnügten sich Knechte und Mägde bei Kaffee und Kuchen oder bei Bier in den Spinnstuben. Die Kinder zogen mit dem „Fasselbusch“ von Haus zu Haus und sam- melten mit dem Rufe „eck sall deck grüßen vom Fasselabend“ Leckerbissen ein.

In Mühlenberg geht am Faslamd ein gemeinschaftliches nächtliches Kartoffelbraten vor sich; dabei wurde getrunken, „dat de Seele in Lei-iwe pei-ipet“. –

Das „Fiuen“ anderer Landesteile – im Hildesheimschen sah ich es die Jungknechte noch um 1890 am Faschingstage lebhaft betreiben – ist mir nur im nördlichen Solling, besonders in dem (braunschweigi- schen) Dorfe Hellenthal begegnet. Mit dem „Fiubusche“, einem Wacholder- oder Tannenzweige, fit- zeln die Knechte die Mädchen an den Beinen und grüßen vom Faslamd, ähnlich wie vorhin bei Boff- zen vermerkt wurde. Je höher „gefiut“ wird, desto höher soll der Flachs wachsen1).

Das Hauptbelustigungsmittel, namentlich der Kinder am Faschingstage, ist aber in Hellenthal die „Strenzelbüsse“, eine aus Holunderholz verfertigte Spritze. Sie wird vornehmlich von den Kindern benutzt, die den ganzen Tag darauf ausgehen, arglos aus dem Fenster Sehenden unversehens einen Wasserstrahl ins Gesicht zu spritzen. Natürlich versuchen sie auf alle Art und Weise, die Leute ans offene Fenster zu locken, um dann ihren Effekt anbringen zu können. Übelnehmen gibts da nicht, man müßte denn einmal an einen außerordentlich Griesgrämigen geraten sein. Ein solcher war der Kirchen- und Schulvorsteher G., er litt besonders unter seiner Schwerhörigkeit, konnte keinen rechten Spaß mehr verstehen und mochte auch darum keine Strenzelbüchse mehr dulden. Der kam nun einmal am Faschingsabend mit der Hacke die Dorfstraße herab, und da er sah, daß im Schneiderhause Licht war, so stapfte er die Haustreppe hinauf, um nach seiner in Arbeit gegebenen neuen Hose zu fragen. Als er aber über die Diele geht, regt sich auf einmal die ferne Jugend in ihm, und er nimmt den Hackenstiel so, als wäre er eine Strenzelbüchse, öffnet die Stubentür, zielt nach dem Tische, um den die Schnei- dersleute herumsitzen, und – ein wirklicher Wasserstrahl zischt über Tisch und Lampenzylinder. Die Scherben des zersprungenen Zylinders klirren über den Tisch, die Leute springen und kreischen auf und sind beinahe außer sich, als sie den alten Mucker in der Tür sehen. Der aber steht da wie entgei-

1) In der Gegend von Kreiensen wurden früher, wie mir ein Lehrer sagte, von den Bauern Fiubüsche bei jungen Tieren angewandt, die zum ersten Male tragen sollten. Man „fiute“, fitzelte sie unterm Schwanze. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 59 stert, dreht seinen Hackenstiel um und um, besteht ihn kopfschüttelnd oben und unten und beteuert entsetzt seine Unschuld, beteuert, daß da nur der Teufel seine Hand im Spiele gehabt haben könne. Natürlich findet er in der Schneiderstube damit keinen Glauben. Man ist überzeugt, wie konnte es auch anders sein, daß er die Strenzelbüchse verborgen hält, ist auch nur deshalb nahezu aufgebracht, weil der Spaß gerade von ihm kam, der sonst keinen Spaß verstand und jeden Strenzelbüchsenstreich gewaltig übelnahm. Es fehlte nicht viel, so wäre die ganze Freundschaft mit den Schneidersleuten in die Brüche gegangen und die Hose ungemacht geblieben. Und noch ganz außer sich seine Unschuld beteuernd, verließ der Mann das Schneiderhaus und zergrübelte sich die ganze Nacht hindurch den Kopf über das unheimliche Geschehnis. – Was war nun in Wirklichkeit geschehen? Wer war der Teu- fel gewesen? Eine zehnjährige Range von einem Mädchen, die heutige Malevase und Totenfrau von Hellenthal, hatte sich mit ihrer Strenzelbüchse unbemerkt hinter dem Alten hergeschlichen und in dem Augenblicke, als er mit dem Hackenstiel in die Stube zielte, ihre Strenzelbüchse unter seinem Arm hindurch abgedruckt und sich unbemerkt wieder aus dem Staube gemacht. Aber erst in späteren Jahren hat sie die Geschichte selbst erzählt, und so habe auch ich sie im Sommer 1922 von ihr gehört.

Kurzum, wer nicht gut Faslamd gefeiert hat, den stechen die Mücken.

Spenneweih vom Rathaus. Es ist vierzehn Tage vor Ostern. Das Grau der ersten Morgendämmerung lagert sich um den ehrwür- digen Rathausturm der alten Sollingsstadt Uslar, und schon hallen von seinem eisenbeschlagenen Tore hinaus auf die Hauptstraße wunderbare Töne. Ein kleiner Haufen Jungen hat sich dort aufgestellt, un- ermüdlich rufend: „Spenneweih vom Rathaus, Spenneweih vom Rathaus!“

Nach kurzer Zeit naht sich ein zweiter Trupp, unterwegs hier und da verstärkt, und richtet merkbar aufgeregt seine Schritte ebenfalls: auf das Rathaus zu. Verdutztes Stehenbleiben, als sie die anderen gewahren. Doch kurz entschlossen eilt der Trupp in die Nebenstraßen, und nun hört man, wie sie zu den Fenstern der Häuser hinaufrufen: „Heinrich, Wilhelm, schnell, steht auf, die Neustädtschen haben die Kleppe!“ Bald ist der Trupp erheblich angeschwollen und rückt im Sturmschritt die hohe Ratstrep- pe hinauf. Ein kurzes Gemenge, und sie haben den Platz besetzt – die anderen entweichen.

Von neuem erschallt es: „Spenneweih vom Rathaus, Spenneweih vom Rathaus!“ Melodisch abgestuft: erst im Sturmmarschtempo, dann langsam klagend, abwechselnd mit hoher Stimme, oder so tief es die Kinderstimmen vermögen. Plötzlich Stille – nichts sichtbar als ein wirres Durcheinander von kleinen Fäusten, die aufeinander losarbeiten. Aber die Neustädter sind zu schwach, die Eroberer aus der Alt- stadt (die Langensträßer) halten, mögen die Finger von Hieben schmerzen, die messingsche Türklinke (Kleppe), die Trophäe des Tages. Dann aber erhebt sich von neuem der Schlachtruf, einig stimmen Freund und Feind ein: „Spenneweih vom Rathaus, Spenneweih vom Rathaus!“

Sind an dieser Tür die älteren Jungen bis zu 14 Jahren versammelt, so halten an dem Nebeneingange die Mädchen und das kleinere Volk, die nach und nach erscheinen und von ferne die Schlacht bewun- dern. Auf den Armen trägt man die Kleinsten heran. So sind in der Morgenfrühe die Kinder versam- melt, als wären sie dem weiland Rattenfänger von Hameln gefolgt.

Was aber soll der Hader der Parteien? Nun, seit unvordenklicher Zeit – man sagt seit 1342 – ist von viel ehrbaren Rittern und Junkern den Uslarern ein Acker, genannt die Spendehufe, zum ewigen Ver- mächtnisse gestiftet worden, auch noch vor einigen Jahren, ehe verkoppelt war, im Besitze der Stadt gewesen. Jahraus, jahrein wird nun seither – weder der Dreißigjährige Krieg noch der Weltkrieg hat daran etwas geändert – aus den Einkünften des Vermächtnisses an jedes Kind, ob arm oder reich, ein Wecken verteilt, der von der Stiftung den Namen Spendewecken (Plattdeutsch „Spenneweih“) erhal- ten hat. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 60

Einst hatten die Uslarer Ratsherren das Vermächtnis vergessen und den Spenneweih nicht backen las- sen; oder mochte es auch sein, daß sie den alten Brauch in Wegfall kommen lassen wollten. Da er- schien eine weiße Taube in der Stadt, die beständig rief: „Spenne, Spenne!“ Davon erschreckt, führten die Ratsherren die Spende gemäß dem Vermächtnis wieder ein. Nach einer anderen Erzählung er- schien an dem vergessenen Spenneweihtage plötzlich eine Henne mit ihren Kücklein auf dem Rat- haussaale und lief den Ratsherren zwischen den Beinen herum, ohne daß man sie wegzutreiben ver- mochte, noch daß man ein Kücklein hätte beschädigen können. Auch darin erblickte man die Mah- nung, das alte Vermächtnis in Ehren zu halten und den Spenneweih wieder herzustellen.

Nicht der Wert der Gabe, sondern das gleiche Recht, sie sich holen zu dürfen, bildet für die Kinder eine Freude, die die regelmäßige Wiederkehr eher erhöht als abschwächt. Es ist einer der standhafte- sten alten Gebräuche, dessen uns schuldige Freude nie versiegen möge.

Wie ein in Berlin lebender Uslarer (Karl Reiners) mir sagte, hätte er in seinen Knabenjahren die Spen- neweih genau so erlebt, wie sie hier geschildert wurde.

Der Ursprung der Sitte ergibt sich aus einer Stiftungsurkunde, die aus dem Jahre 1498 stammt und unversehrt bis heute erhalten geblieben ist. Der frühere Bürgermeister Heinrich Siebrecht war so freundlich, sie mir aus dem Archive des Uslarer Rathauses heraussuchen zu lassen, so daß ich eine Abschrift davon nehmen konnte. Ich habe sie dann in der Göttinger Zeitschrift „Der Wanderer im Cheruskerland“, herausgegeben von Dr. Bruno Crome, abdrucken lassen und verweise, zur Raumer- sparnis gezwungen, auf jene Stelle. (Jahrg. 1922, 1. Stück.)

Konfirmationsfeier. Als ich um den 20. März 1916 von Wiensen nach Uslar wanderte, sah ich auf verschiedenen Landstra- ßen große Haufen von Kindern und Frauen in dunkler festlicher Kleidung, aber ruhiger fröhlicher Stimmung nach Uslar pilgern. Die neuen Konfirmanden waren es, die in Begleitung ihrer Mütter, zeitweise auch der Paten wie der Lehrer zum „Zupperdenten“ gingen, um die übliche Prüfung abzule- gen, von deren Ausfall es abhängt, ob der Schüler konfirmiert werden kann oder nicht. Die Gefahr, in dieser Prüfung durchzufallen, ist allerdings so überaus gering, daß nur außerordentlich selten einmal ein Prüfling zurückgewiesen wird.

Der Tag der Konfirmation ist meistens der Palmsonntag. Wie es in Lauenförde heißt, hätte man dort diesen Tag zur Konfirmation bestimmt, weil im benachbarten Braunschweiger Lande (Meinbrexen, Derenthal) diese Feier gewöhnlich am weißen Sonntag stattfand. So konnte man sich gegenseitig eher besuchen.

Noch bis jetzt hat sich der Brauch erhalten, daß die Konfirmanden, wenn sie am Prüfungstage von Uslar zurückkommen, dem Paten, vielfach auch dem Lehrer und dem Pastor einen kleinen runden Topfkuchen als Geschenk bringen, an dessen Stelle aber in neuerer Zeit beim Pastor ein einziger, dafür um so größerer Topfkuchen trat. Gegenwärtig haben die Geistlichen zugunsten der Kirche auf dies althergebrachte Geschenk ganz verzichtet.

In Espol bringt man auch den Nachbarn und Spinnstubenfreundinnen der Mutter je einen Topskuchen, und selbst Nachbars Kinder, wie des Konfirmanden Spielgefährten werden mit kleinen Topskuchen beschenkt. Ein ebenso allgemein gebräuchliches Geschenk der Konfirmanden ist die Konfirmations- tasse, die gewöhnlich ihren Platz in dem „Kantur“, einer aus Eichenholz dauerhaft gearbeiteten Kom- mode mit Glasaufsatz, erhält; die Konfirmationstassen aus früheren Jahren werden dort ebenfalls auf- bewahrt. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 61

Das „Kantur“ ist ein altes Erbstück, das stets der älteste Sohn vom Vater übernimmt. Die unteren Aus- züge gehören der Mutter und dienen zur Wäscheaufbewahrung. Im mittleren Fache hat der Vater seine schriftlichen Sachen und Bücher. Durch die Glasscheiben des Aufsatzes sehen wir nichts als Tassen, herrliche Tassen, so leicht und dünn, daher auch echt, wie man sie nur selten auf dem Lande zu sehen bekommt. Manche sind so groß, daß man mit dem besten Willen keine sieben Tassen davon trinken kann.

Bei näherem Zusehen bemerkt man, daß immer nur zwei Tassen zusammengehören. Die Familien- chronik sagt dazu: So Viele Paare Tassen hier stehen, so viele Male ist Vater oder Mutter Pate gewe- sen. Es sind Geschenke, die die Paten vor der Konfirmation erhalten, wie denn dieses auch durch die Inschriften noch ausdrücklich bezeugt wird. „Ihrem lieben Paten N. N.“, lese ich an einer Obertasse, während in dem Schälchen der Name des Schenkenden steht mit dem Vermerk: „Zur Konfirmation 1902.“

Natürlich müssen auch die Paten etwas leisten, und es versteht sich von selbst, daß jeder tut, was er kann: sechs Mark vor 30 Jahren, heute entsprechend mehr. Auch die Nachbarn und die sonst be- schenkt sind, pflegen sich durch ein Geldgeschenk, früher etwa drei oder vier Mark, erkenntlich zu zeigen.

Absonderlicher noch ging’s in Schönhagen zu, wo nach der Konfirmandenprüfung beim Superinten- denten der Lehrer, der seine Schüler begleitet hatte, von jedem Kinde mit einer Uslarer Tonpfeife (ein Dutzend für einen Groschen) und einem Päckchen Tabak im Gesamtwerte von etwa 13 Pf. beschenkt wurde. Ein Lehrer, der bei sehr kargem Gehalt viele Kinder hatte, auch die verschiedenen Tabaksorten nicht gut rauchen konnte, bewirkte die Ablösung des althergebrachten Geschenks in bar (2 1/2 Silber- groschen). Die Gevattern, die nach der allgemeinen Sitte auch Tasse und Topfkuchen bekamen, gaben meistens ein Gegengeschenk in Geld, manchmal wohl auch ein Kleid. Der gegenwärtige Bauermeister von Schönhagen (1921) bekam, wie er mir erzählte, von seinem Gevatter als Konfirmationsgeschenk ein Hemd. Die Konfirmandinnen kauften den Konfirmanden Sträuße (von künstlichen Blumen), die die Knaben an ihren Kappen befestigten; dieser hingegen schenkten den Mädchen Halstücher, und zwar beschenkten sich immer die Gegenübersitzenden, also das oberste Mädchen den obersten Bur- schen usw.

Der Hardegser Superintendent soll zur Konfirmandenprüfung Mettwürste bekommen, die eine be- stimmte Länge haben müssen. (?) Wie man mir im Nachbardorfe Trögen allen Ernstes versicherte, legte der Superintendent bei einer in den Kriegsjahren abgehaltenen Prüfung eine „große Wut“ an den Tag, weil er die Mettwürste nicht bekommen hatte.

In Espol wird jedes Kind mit seinen Eltern, ob wohlhabend oder arm, von einem Bauern unentgeltlich auf einem Federwagen nach dem Kirchdorfe Fredelsloh gefahren. Die Pferde, sind mit Blumen ge- schmückt, den Kirchweg durch den Strahlenkamp haben die Konfirmanden am Vortage gelegentlich ihres letzten Ganges vom Konfirmandenunterrichte ganz mit Tannenzweigen belegt. Während die Wagen sich auf der Hinfahrt in bestimmten Abständen voneinander halten, erfolgt die Rückfahrt dicht hintereinander.

In Delliehausen wird über der Tür jedes Hauses, in dem ein Konfirmand ist, ein Kranz aus Fichten, Buchsbaum und künstlichen Rosen angebracht. Er wird nach der Rückkehr aus der Kirche aufgehängt und muß so lange hängen bleiben, bis er vertrocknet ist.

In Schlarpe werden vor jedes Konfirmationshaus, wie vor Schule und Pfarre zwei Tannen gepflanzt, zwischen denen man eine Girlande aus Blumen anbringt. Ein nur hier üblicher Brauch ist es, die Tan- nen mit Paascheierschalen zu behängen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 62

Junge Tannenbäume an den Eingängen der Konfirmandenhäuser sind übrigens eine ziemlich allge- meine Erscheinung im Sollinge. Um Ostern 1923 sah ich in Fredelsloh, Espol, Lauenberg die Konfir- mationstannen noch Wochen nach der Konfirmation vor den. Häusern stehen. Auch der Kirchweg wird gern durch Ausrichtung von Tannen aus der Alltäglichkeit gehoben, die Kirche selbst mit Kranz- bögen und Kränzen, wie auch sonstigem Blumenschmuck festlich gemacht. Das Tannenpflanzen und Grünholen (Immergrün aus den Wäldern) gehört in der Regel zu den Obliegenheiten der Knaben, wäh- rend die Mädchen gemeinsam die Kranzbögen, Girlanden und Kränze winden. Daß diese herkömmli- chen Pflichten immer mit heller Lust und Liebe erfüllt werden und sich später den schönsten Jugend- erinnerungen einreihen, weiß jeder, der in seiner Jugendzeit ähnliches erlebte.

Die Konfirmationsfeier in der Kirche verläuft einfach und schlicht. Die Konfirmanden versammeln sich in der Schule, alle schwarz gekleidet, die Knaben mit langen Hosen und Röcken wie Erwachsene, einen Myrtenstrauß im Knopfloch, die Mädchen mit einem Myrtenkranze. Vom Lehrer dann zur Pfar- re geführt, werden sie vom Pastor empfangen und in feierlichem Zuge unter Glockengeläut zur Kirche geleitet, und zwar beim dritten Schauer, wenn bereits die Gemeinde versammelt ist. (An gewöhnlichen Sonntagen läutet es nur zwei Schauer.) Nachmittags um die Kaffeezeit – die Kinderlehre fällt an dem Tage aus – kommen die Konfirmierten, so groß ihre Zahl auch sein mag, wieder fröhlich zusammen und besuchen sich sozusagen selbst, indem sie der Reihe nach in sämtlichen Elternhäusern einkehren. Das ist aber kein leichtes Stück, denn sie müssen in jedem Hause essen und trinken, sei’s Kaffee und Kuchen, sei’s Wurst und Brot, was nur das Zeug hält.

In Schönhagen ließ die Konfirmandin ihrem Partner einen Strauß von Rosmarin, Myrte und Lorbeer bringen, mit einer langen Schleife daran, die bis auf die Knie reichte. Der Bringer des Straußes erhielt gewöhnlich einen halben Gulden, später einen halben Taler. Die Konfirmandinnen trugen Myrten- kränze.

Aber wie es denn oft so geht! Es kommt ein ortsfremder Pastor daher, der der Sitte keinen Sinn abge- winnen kann und sie kurzerhand abschafft. So auch in Schönhagen, wo der neue Pastor Rehwinkel Anstoß daran nahm, daß die Mädchen Kränze und die Burschen Sträuße mit langen Schleifen trugen. Der Schmuck ließe sich nicht mit der heiligen Abendmahlsfeier vereinen. Im Jahre 1889 hielt der Pa- stor die Konfirmation noch in der alten Weise ab, im folgenden Jahre aber verbot er Kranz und Strauß. Die Gemeinde nahm das Verbot jedoch nicht ruhig hin, sondern lehnte sich heftig dagegen auf. Entrü- stet hörte man die Leute sagen: Jetzt könnten die Mädchen den Kranz wirklich noch in Ehren tragen; ob das auch bei der Hochzeit der Fall wäre, müsse man noch abwarten. Doch erst der zweite Nachfol- ger von Pastor Rehwinkel, Pastor Drechsler, führte – erfreulicherweise aus eigenem Antriebe – die Myrtenkränze für die Mädchen und Myrtensträuße für die Knaben wieder ein, letztere allerdings ohne Schleife. Aber die ursprüngliche Sitte war durch den unglücklichen Eingriff doch so gestört worden, daß sie ihre frische, reizvolle Ursprünglichkeit nicht wieder erlangt hat1).

1) Die Konfirmationssitten des Sollings haben eine gewisse Verwandtschaft mit denen des Harzes. So entnahm ich einer Mitteilung aus Goslar, daß dort vor den Häusern der Konfirmanden ebenfalls je zwei Tannenbäume aufgepflanzt werden. Außerdem wird, was früher auch in Schönhagen Sitte war, von dem Hause des neuen Kon- firmanden bis zu dem nächsten und so fort bis zur Kirche weißer Sand gestreut, über den noch kleine Tannen- zweige und Myrten kommen, während die Haustüren der Konfirmandenhäuser mit Laubgewinden geschmückt sind. In der Frühe des Konfirmationstages aber und dann noch einmal unmittelbar beim Beginn der Konfirmati- onsfeier in der Kirche wird vom Turm ein Choral geblasen. – Möchte man doch solch sinnige Bräuche im Sol- linge wie im Harz über alle Zeit hinaus als Poesie des Tages festhalten. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 63

Osterbräuche.

I. Zuvörderst das Osterwasserholen! Das kostbare Wasser muß in der Nacht vom Ostersonnabend auf den ersten Ostertag, am besten zwischen elf und zwölf Uhr, jedenfalls vor Sonnenaufgang aus fließen- dem Wasser gegen den Strom geschöpft werden, stillschweigend, aber in Gottes Namen. Dann hält sichs viele Jahre und ist gut gegen Ausschlag jeder Art, besonders gegen Krätze. In dem an der Weser- seite des Sollings gelegenen Flecken Lauenförde wurde ein Fall erzählt, wonach sich ein mit der Krät- ze behafteter Lauenförder in der Mitternacht gleich draußen am Bache wusch. Als die Ostersonne ausging, war er geheilt. Auch für die Augen soll das Osterwasser heilbringend sein. Selbst den Pferden hilft es, denn sie bekommen starke Füße danach und bleiben frei von Ungeziefer (Schönhagen).

Und heilbringend ist es nicht nur für die Menschen, sondern auch für das liebe Vieh. In Fredelsloh, dem stattlichen alten Töpferdorfe am Ostrande des Sollinger Waldes, wurden in der Osternacht alle Spülsteine, Büketonnen und Eimer gefüllt und am Ostermorgen Menschen und Tiere mit diesem kost- baren Wasser getränkt und gewaschen; ja, wer irgend konnte, badete darin. Es gab in Fredelsloh kaum ein Haus, in dem am Ostermorgen nicht die Kinder in Osterwasser gebadet wurden.

Um den Wiesen ebenfalls diesen Ostersegen zukommen zu lassen, versäumte kein Wiesenbesitzer, in der Osternacht „te fleuen“, also das Wasser aus seine Wiese zu leiten, wobei freilich der Osterglaube auch einmal zu einer gehörigen Osterprügelei unter den Wiesennachbarn ausarten konnte. Solche ge- legentliche Auseinandersetzungen kommen übrigens unter den Wiesennachbarn auch zu anderen Zei- ten vor, das „Fleuen“ bringt sie nun mal so mit sich.

Zu derselben mitternächtigen Stunde führte das Osterwasserholen des jungen Volkes im Dorfe selbst zu ebenso lustigen wie drastischen Neckereien. Während die Mädchen mit ihren Krügen oder Eimern heimlich still nachdem fließenden Wasser schritten oder schon beim Füllen waren, gingen die jungen Knechte mit aller Lust und List darauf aus, sie zum Sprechen zu bringen; entweder bot man ihnen harmlos guten Morgen oder man suchte sie jählings zu erschrecken, und wenn ein Mädchen sich ver- gaß, also entweder wieder grüßte oder aufkreischte, war der geheime Ostersegen dahin, war aus dem „Austerwater“ „Prahlewater“ geworden. Den Knechten konnte es übrigens passieren (und meinem Gewährsmann August v. O. aus Fredelsloh ist es so ergangen), daß ihnen von beherzten Mädchen statt einer Antwort jählings ein Eimer voll Osterwasser über den Kopf gegossen wurde.

Der ehemalige Pastor Keßler in Fredelsloh, wegen seiner Absonderlichkeiten weit über sein Dorf hin- aus bekannt, hielt immer sehr darauf, daß ihm aus dem „Briegenbrunnen“ Osterwasser geholt wurde; er wachte auch selber darüber, daß es dabei richtig zuging. Das Wasser pflegte er in Weinflaschen aufzubewahren, und da ist es begreiflich, daß einmal eine Verwechslung mit den Flaschen vorkam, die den Abendmahlswein enthielten. In der Tat haben die benachbarten Espoler, die von Fredelsloh kirch- lich versorgt werden, einmal beim Abendmahl statt „Muskateller“ Osterwasser erhalten; – es soll ih- nen aber besser geschmeckt haben und bekommen sein als der zweifelhafte Abendmahls- „Muskateller“.

Wahrscheinlich ist dies Osterwasser in jener geheimnisvollen Minute der Ostermitternacht geschöpft worden, in der nach alter Vorstellung alle Wasser Wein sind. Leider hat sich kein Mensch diese Minu- te erfahren können. Einer aus Läuenförde, der durchaus dahinter kommen wollte, hat sich mit großer Hartnäckigkeit in der Osternacht ans Wasser gelegt, jede Minute geschöpft und getrunken und auf einmal Hauch wirklich Wein geschmeckt; in demselben Augenblicke aber ist eine Stimme gekommen: „Alle Wasser sind Wein – und deine Augen sind mein!“ Der Unglückliche wollte nach der Uhr sehen und konnte sie nicht mehr erkennen, – er war blind geworden. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 64

Die Ostereier werden „Paascheier“ genannt, in Anlehnung an das Pascha oder Passah, das Osterfest der Juden, das altnord. paskar, paskier hieß1).

Als besondere Eigentümlichkeit wäre da vor allem „dat Eierupkuoken“ in Schönhagen zu nennen. Truppweise, wie sie in den Spinnstuben während des Winters sich zusammengehalten haben, pflegen die Mädchen für ihre Knechte am ersten Osterabend „Paascheier“ aufzukochen, durchweg für jeden Burschen sechs Stück; ißt der eine weniger, so der andere mehr. Überhaupt verfehlt in den Sollings- dörfern wohl kein Mädchen, einem Burschen „Paascheier“ zu spenden, die also geradezu Sinnbilder der Liebe geworden sind. Meistens gibt man sie auf dem Wege nach dem Osterfeuer, oder wenn die Burschen und Mädchen, ihre alten Lieder singend, das Osterfeuer umkreisen.

Die Eierschalen dürfen nicht auf die Miste geworfen werden, sonst wächst Mutterkorn im Getreide; man soll sie lieber aufs fließende Wasser tun. Wer, so auch die Meinung der Schönhäger, am Oster- abend früh Eier ißt, erntet früh.

In Lauenförde bekommen auch Pastor und Küster noch von den 89 „Reihestellen“ Ostereier als zum Dienste gehörige Abgabe geliefert. Die ganze Reihestelle muß acht Eier geben, die halbe vier; Häus- linge und Anbauer dagegen sind von dieser Abgabe frei. Einiger Ausnahmen wegen macht die Ge- samtzahl 606, wovon der Pastor 404 und der Küsterlehrer 202 bekommt. Am Gründonnerstage werden die Eier durch die vier obersten Konfirmandinnen im Dorfe eingesammelt, wie das seit alter Zeit so Brauch ist. Jedoch ist der Name „Paascheier“ dort heute ganz in Vergessenheit geraten; nur die älte- sten Leute, so der alte Ebers, konnten sich (1918) noch auf den Namen besinnen und meinten, er be- deute Pateneier, weil früher nämlich der Pate dem Patenkinde ein „Paaschei“ schenken mußte.

In Eschershausen bei Uslar kannte ich Ende des vorigen Jahrhunderts noch alte Bauern, die die Eier- schalen von den am ersten Osterabend verzehrten „Paascheiern“ auf ihren Weizenacker brachten und stillschweigend auf alle vier Ecken streuten; der Brand sollte dann nicht an den Weizen kommen. Eine dortige Bauersfrau erzählte: Als sie am letzten Osterabend ihrem Vater begegnete und ihn fragte, wo er hin wolle, antwortete er ihr nicht. Da hatte er die Eierschalen in der Tasche. Ein junger Bauer, mit dem ich darüber sprach, wies diesen alten Aberglauben überlegen ab und sagte: „Eck nöhme Vitriol oder Kalk, denn weit eck, dat dat sicher helpet; awer meuin Unkel latt seck nech davon bringen, dat dei Eierschalen dat richtige wören.“ Ähnliches berichtete mir Herr Könecke in Lauenförde; aber nur einige alte Leute wissen dort noch, daß man mit den Eierschalen in der Tasche zum Roggenacker ging und an den Stellen, wo das Korn dünn stand, die zerdrückten Schalen in die Höhe warf, damit die dünnen Stellen dichter wüchsen. Andere Lauenförder, die auch in den 70ern sind, wußten nichts da- von. Ein altes Mütterchen sagte: „Unsinn, heir wur’ekälket, un wer dat nich dië, dä harre den Brand wischen den Weiten.“ –

Noch sei erwähnt, daß man früher in Fredelsloh den Kindern aus einem ausgeblasenen Ei einen Vogel machte, dem man aus gefaltetem bunten Papier Schwanz und Flügel wachsen ließ, während man Hals und Kopf aus einem Holzhäkchen herstellte. Diese Vögel baumelten oft bis in den Sommer hinein unter dem „Balken“ in der Stube.

Am Osternachmittage wird das junge Korn besehen. Je länger man es besieht, desto besser ist es. Wenn der Hausherr am Ostermittag schläft, wachsen Disteln in seinem Korn. In Schönhagen muß um sechs Uhr abends das Abendbrot gegessen sein, sonst wird man das ganze Jahr zur Arbeit zu spät fer- tig.

1) Vgl. Deutsches Wörterbuch von Fr. L. K. Weigand. Gießen 1910. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 65

Und nun das „Paaschefeuer“! Wohl ist ihm durch die Verkoppelung an manchem Orte die alte ge- weihte Höhenstelle rücksichtslos entzogen worden; wohl hat sie ihm durch die allerdings oft unver- meidliche Beseitigung der an sich so prächtigen Gemeindehecken und -hörste das Fortbestehen sehr schwer gemacht; allein die Sitte selbst wurzelt doch noch zu tief und kräftig im Volke und seiner Ju- gend, als daß man sie, wie manche sonstige Sitten und Bräuche, so leicht hätte aufgeben mögen. Man machte andere Plätze ausfindig, wußte auf andere Weise Dornen und Wellholz zu schaffen, und so kann man noch heute an jedem ersten Osterabend im Sollinge und seiner Umgegend bei vielen Dör- fern auf den Höhen die seltsamen alten Feuer brennen sehen und die schönen alten Lieder singen hö- ren:

Ich kann nicht sitzen, ich kann nicht stehn, Ich muß zu meinem Schätzchen gehn ...

Oder das prachtvoll melodische:

Anjetzo bricht die Nacht herein, Menschen und Vieh die schlafen ein ...

Noch lange klingen die Lieder in die Nacht hinein, denn von dem Berge herab wandert das junge Volk in Reihen durch die Straßen des Dorfes, und wie vom Berge noch die Kohlen funkeln, so glüht in den jungen Herzen die Freude und Liebe.

Ist es da nicht verwunderlich, daß man in Lauenförde das Osterfeuer heut überhaupt nicht mehr kennt? Es scheinen dort mehr als im eigentlichen Sollinge Sitten und Bräuche mit dem Strome der Zeit (der sich in der Weser verkörpert) dahin geschwunden zu sein. Indes erinnert man sich, daß in der Zeit, da die Beverunger ihr Feuer noch auf dem Galgenberge abbrannten, die Lauenförder das ihre sogar ein- mal auf dem Eise der Weser angelegt hatten.

In Eschershausen bei Uslar wird das „Paaschefeuer“ von altersher auf der „scheiwen Halwe“ (schiefen Halbe) gemacht. Man hat dort sogar ein großes und ein kleines Feuer; letzteres, ganz nahe am Dorfe, ist für die kleinen Kinder bestimmt, die noch nicht zur „scheiwen Halwe“ hinauf gehen können. Die Mütter nehmen ihre Kleinen, und wären sie auch erst ein Vierteljahr alt, in die Mäntel und gehen mit ihnen nach dem Feuer, um die Kinder ordentlich hineingucken zu lassen, dann sollen sie starke Augen kriegen.

Weit über zwanzig Feuer kann man von den Anhöhen bei Uslar rings an den Bergen ausleuchten se- hen. Und wirbeln dann die Kinder ihre Fackeln durcheinander, mag man gar meinen, die Sternlein wären zur Erde gefallen und irrten umher, unschlüssig, wo sie von neuem ihren Standort nehmen sol- len. Lebhaft erzählen die Alten von den Osterfeuern ihrer Jugend, insbesondere von den Kunstgriffen, die da angewandt wurden, um nicht die ersten zu sein, deren Holzstoß in Flammen ausging. Man machte z. B. in Uslar schlauerweise ein kleines Strohfeuer nebenher, steckte aber den Hauptstoß erst an, wenn die anderen Teile des Städtchens und die Nachbarorte auf die Täuschung bereits hineingefal- len waren.1)

In lebhafter Erinnerung ist noch ein Vorgang geblieben, der sich im Jahre 1848 abspielte. Die jungen Knechte des Dorfes Wiensen bei Uslar hatten nämlich den an ihrer Gemarkungsgrenze errichteten Uslarschen Osterholzstoß heimlicherweise schon angezündet, als es noch hell war. Des Jungvolks von Uslar bemächtigte sich darüber eine ungeheure Empörung, und als die Wienser am ersten Ostertage in die Uslarsche Kirche kamen, entstand zwischen den Uslarern und Wiensern eine derartige Schlägerei,

1) Siehe auch: Heinrich Sohnrey, Osterfeuer, Berlin 1917, S. 29: Schilderung von Aug. Tecklenburg. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 66 daß die damals noch auf Bauernhöfen liegenden Kürassiere beordert werden mußten, um die Übeltäter von Wiensen vor dem schweren Zorn der Uslarer zu schützen.

In Fohlenplacken, dem im nördlichen Solling gelegenen braunschweigischen Dörfchen, zieht zu Ostern die ganze Gemeinde in aller Morgenfrühe aus den Roßhagen (Himmelfahrt aus den Giersberg). Das Frühgetränk war bis zu der neuen Wende der Zeit Branntwein, nachmittags wurde Bier geschenkt. Die Asche des Osterfeuers häufte man sorglich über die Kohlen, damit die Glut erhalten blieb; denn am zweiten Ostertage wurden von der ganzen Gemeinde Kartoffeln gebraten und mit Hering gegessen, natürlich aus freier Faust; dazu wieder Branntwein. Auch dieser alte Brauch würde wieder ausgenom- men werden, sagte man mir am Schluß des Krieges, sobald die Kriegsgefangenen zurück wären. Eben- so solle das früher üblich gewesene Fackelschwingen wieder ausleben. Die Fackeln bestehen aus Tannenstämmen, „Einstämmlingen“, in deren oberen Spalt das gesammelte Naturharz gegossen wird.

Wohin der Dampf vom Osterfeuer zieht, daher kommt das erste Gewitter; zieht der Rauch nach Mor- gen, so wird der Flachs gut. Den Rücken soll man dem Feuer zuwenden, damit er im Sommer bei der Arbeit nicht weh tut. – Vom Osterfeuer mit heimgebrachte Fackelstummel wurden vielfach im Hause als Schutz gegen Blitzgefahr aufbewahrt. In den Hauswinkeln stehen oder standen solche Fackelreste jahrelang, sorgsam behütet von allen Hausbewohnern.

So wichtig und umfangreich waren an manchen Orten die österlichen Sitten und Bräuche, daß z. B. am zweiten Ostertage in Schönhagen der Nachmittagsgottesdienst früher ganz ausfiel, denn schon um 1 Uhr versammelten sich die Knechte und Mädchen vor dem Hause des „Generals“ (vom Schütten- huowe), um die Fahne abzuholen. „De Fahne riut kraigen“, hieß man das. In langem Zuge, die Fahne in der Mitte, einer, der den „Tockebuil“ (Handharmonika) spielen konnte, voran, bewegte sich der ganze Zug unter den Klängen der Handharmonika durchs Dorf nach der Fehnburg bei Nienower. Dort wurde fröhlich getanzt bis gegen 6 Uhr, worauf man wieder nach Schönhagen zurückzog.

Es wurde „gefüttert“ (das Vieh) und dann in irgendeiner Wirtschaft weitergetanzt, wobei auch das „Bier“ oder der „Schüttenhoff“, zwei abwechselnd in der Pfingstzeit abgehaltene Tanzfeste, „wisse maket“ wurde. Diese Bräuche haben sich in Schönhagen bis zu dem Weltkriege erhalten und werden, wie mir Heinrich Utermöhle von dort versicherte, nach dem Kriege wieder aufleben.

Zu den bedeutendsten Nebeneinkünften des Pastors und Lehrers zählte früher in Boffzen nach Schrä- pel (Weserland 1916, 12) das Weihnachts- und Ostersammlung und das Vierzeitengeld oder Ouarta- lopfer. Die Weihnachts- und Ostersammlung, das „heilige Abendgebühr“ genannt, wurde am letzten Tage vor Weihnachten und Ostern gesammelt. Auf Ostern mußte jeder Einwohner ebensoviel gute Hühnereier liefern, als er auf Weihnachten Pfennige zu geben pflegte. Zwei Höfe hatten außerdem je zwei Brote und eine Wurst zu liefern. Dem Schulmeister fiel das Einsammeln sowie das Anschreiben und Berechnen der Hebungen zu, wofür er die Hälfte der Gaben beanspruchen konnte. Der Pastor gab ihm eine Magd mit auf den Weg, die die Brote, Würste und Eier tragen mußte. Wie reich die Beute war, ersieht man daraus, daß an Eiern jährlich 1100 Stück einkamen. Auf die Vierzeiten- und Ouar- talsfeste, nämlich am ersten Weihnachts-, Oster-, Pfingst- und Michaelistage, mußte schon in alten Zeiten jeder Hauswirt dem Geistlichen, nachdem dieser jenem den Glauben vorgesungen hatte, auf dem Altar einen Mariengroschen (8 Pf.) opfern (Opfergroschen). Die übrigen Hausgenossen konnten indes nach Belieben geben.

In einem von Pastor Harland abschriftlich bewahrten alten Aktenstücke, das die Lieferungen an den „Priester“ zu Schönhagen festsetzt, heißt es u. a.: „Von den Umgängen als Weihnachten, da Würste, und auf Ostern, da Eier gesammelt werden, bekommt der Oppermann den dritten Teil. Jährliche Geld- einnahmen ist aus jedem Hause zwei Mariengroschen, einen auf Ostern, den andern auf Michaelis, bringt etwa zwei Taler.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 67

In Trögen bekommt der Pastor noch heute (1923) von jeder Person, die am Abendmahl teilnimmt, ein Ei und zwei Pfennige. Die Eier werden am grünen Donnerstag eingesammelt.

II. Aber wo sind all die andern guten alten Osterfreuden geblieben, die es vor wenigen Jahrzehnten noch im Sollinge gab? Ich denke an die mannigfaltigen Bewegungsspiele des jungen Volks, die auf dem großen schönen Gemeindeanger vor sich gingen. Ja, wo sind diese großen schönen Gemeindeanger geblieben? Durch die Verkoppelung der Feldmark sind sie – wie so mancher Osterfeuerplatz – mit „Rump un Stump“ aufgeteilt worden, und jene schönen, alten Bewegungsspiele sind ganz natürlicher- weise zugrunde gegangen, weil dem jungen Volke im wahrsten Sinne des Wortes der Boden unter den Füßen weggenommen wurde.

Aber wie ging es denn bei diesen Spielen zu?

Je nachdem der Frühling sich anließ, oft lange schon vor Ostern, begaben sich die jungen Leute bei- derlei Geschlechtes, denen sich auch die jüngst verheirateten Leute noch gern zugesellten, am Sonn- tagnachmittage nach dem Gemeindeanger, dem großen Wiesenplane, der in der Regel hart am Dorfe, wo nicht mitten im Dorfe lag. Die Burschen und jungen Männer schlugen Ball nach alter ausgemach- ter Weise, die Mädchen, denen sich manchmal noch jüngere Frauen beimischten, spielten ihre alther- gebrachten Spiele, und die älteren und alten Leute, die namentlich an den Ostertagen herzukamen, standen oder saßen im Sonnenschein an der Hecke und sahen dem fröhlichen Treiben zu, tranken wohl auch gemeinsam eine Kanne und freuten sich allesamt, wenn einmal ein herzhafter Alter unter die Jungen ging, das Ballschlagen noch einmal probierte und den Ball wohl gar noch in weite Himmels- höhe schlug.

In Fredelsloh und anderen Orten hieß das Osterballspiel „Pinnen slaen“ (Pinnenschlagen). Von den Mädchen wurde gern gespielt „Glucke, wieviel Küken hast du?“ Der Habicht hat da zu sagen: „Eck woll main Kuiken wischen un waschen, da fäll et meck in de Aschen. Niu mäat eck ein hebb’n!“ Ein anderes Spiel „Hinderpart eriut! Wer nich löppt, dei is ’ne Briut!“ wird in Fredelsloh noch heute mit dem Rufe „Klapp, klapp, Müller von hinten“ gespielt.

Andere beliebte Spiele waren „Puck ümme“ und „Tüdge Heerlapen“. Letzteres hatte sich in Schonin- gen zu einem Wechselspiel entwickelt, das dort zwischen dem Ballschlagen der jungen Knechte und Männer und den Spielen der Mädchen gewissermaßen eingeschaltet wurde, um den Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern herzustellen und zu unterhalten; Während also die Männer ihr Ballschlagen mit rasendem Laufen und durchdringenden Rufen ohne Pause fortsetzten, die Mädchen ihre lustigen Spiele spielten und die einfachen Weisen dazu sangen, sonderten sich aus dem Mädchenkreise, ohne das Spiel aufzuhalten und zu stören, zwei tonangebende junge Mädchen ab und überlegten miteinan- der, was für ein Paar sie zusammenrufen wollten. Es kam darauf an, zwischen den beiden großen Spielgruppen immer ein Mädchen und einen Burschen zusammenzuführen, möglichst solche natürlich, die sich gern hatten, manchmal wohl auch solche, bei denen nichts weniger als das vorausgesetzt wer- den konnte. Denn Spaß mußte sein, bemerkte Heinrich Schomburg aus Schoningen, als er mir dies Spiel beschrieb.

Natürlich wußte man ja alle Heimlichkeiten, wußte man immer die beiden, die sich gern sahen, moch- ten sie es auch noch so sehr vor den Augen der Leute verdeckt und versteckt haben. Diese Heimlichen also hatten die beiden Mädchen zusammenzubringen, indem das eine den betreffenden Burschen, das andere die dazu passende Jungfer bestimmte. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 68

Während dann die ersten beiden Mädchen in ihren Spielkreis zurücktraten, stand das ausgewählte Paar eine kurze Weile beisammen und beratschlagte, wen es nun wieder zusammenbringen solle. War end- lich ein neues Paar bestimmt, kehrte das alte ebenfalls wieder zu dem verlassenen Spiele zurück.

In Lauenförde scheint das Lieblingsspiel „dat Reïseken streipen“ gewesen zu sein. Bunt durcheinander saß man aus einem kleinen „Euwer“ (Hügel) und hielt beide Hände vor sich aus den Schoß, die Hand- flächen einander zugekehrt. Einer, der zu raten hatte, stand abseits, und ein anderer barg in den genau so gehaltenen Händen das „Reïseken“, ein Holzstückchen (Reisig). Dieser ging dann von einem zum andern, streifte mit seinen Händen durch die Hände der Mitspieler und sagte: „Reïseken streipen, holt faste, faste tau!“ Wobei er unbemerkt das Reïseken in irgendein Händepaar gleiten ließ. War er so die Reihen durch, mußte der Rater kommen und raten, wo sich das Reïseken befand. Und da man ihn durch allerlei Kniffe und Pfiffe in die Irre zu führen suchte, gab es oft ein langes Lachen, ehe das Reis- lein gefunden wurde. Fand er es nicht gleich, so spottete man: „Jude, Jude, Jacke – hat ’n Pund Luise in’n Nacken.“ Fand er es endlich, dann durfte er „Reïseken streifen“, während der, bei dem es gesun- den war, es in gleicher Weise suchen mußte. Wie Hauptlehrer Könecke feststellte, ist das alte Spiel später noch hin und wieder von den Kindern gespielt worden, dann aber ganz in Vergessenheit gera- ten, so daß man es heute nicht mehr kennt.

Noch erwähnt sei das in den meisten Orten des Sollings während der Ostertage so gern geübte Pfahl- laufen. Die Burschen und Männer sonderten sich in zwei Teile, und jede Partei mußte einen Läufer stellen. Der eine lief an einem langen Seile so lange um einen Pfahl herum, bis das Seil an dem Pfahl ganz aufgewickelt war; unterdessen hatte der Läufer der anderen Partei eine bestimmte Strecke zu- rückzulegen, und es kam dann darauf an, wer erster wurde1).

Je nach der Witterung herrschte dies jugendlustige Leben auf dem Dorfanger bis an den Maitag. Von da an mußte er ruhen, um wachsen zu können, wie auch der Hirt nicht mehr auf den Anger treiben durfte.

Aber das junge Volk ruhte noch lange nicht, sondern suchte sich andere freie Plätze aus, die es ja vor der Verkoppelung noch so reichlich in den Dorfgemarkungen gab. In Schoningen z. B. zog man vom Dorfanger regelmäßig nach dem Alekenberge, und es wurde dort in der gleichen Weise wie aus dem Anger gespielt und gespaßt, bis der Frühling vorüber war und der Sommer mit der harten Arbeit be- gann.

Im Schoße dieser Zusammenkünfte auf dem Dorfanger bereitete sich auch gewöhnlich das nächste Pfingstbier vor, und es wurde da entschieden, ob man diesmal „Packebier“ oder „Nädigebier“ abhalten wolle. Man wählte auch bereits die Schaffer, die dann für alles weitere zu sorgen, fürs erste aber um der neuen Würde willen „was herzugeben“ hatten: „’n Seuten“ für die Mädchen, eine Kanne Brannt- wein oder zwei, je nach der Zahl für die Burschen. In Schönhagen wurde das kommende Fest, wie schon erwähnt, immer am zweiten Osterabend „wisse maket“, nachdem man schon am ersten aus der Däile (Diele) in’n „Krink epacket“ gespielt hatte, wie man das nannte: Ein Bursch und ein Mädchen in „dei Midde“ und „dä andern in Kringe ümmerüm“ (im Ringe drum herum).

Schade um diese frischfröhlichen alten Volksspiele, schade besonders deshalb darum, weil sie nicht aus innerer Notwendigkeit, sondern durch die rücksichtslosen Eingriffe der technischen Landeskultur vernichtet wurden; denn mit dieser Vernichtung ist eine lange Ode in unsere Dörfer eingekehrt.

1) An anderer Stelle habe ich bereits vor Jahren diese Osterspiele so geschildert, wie ich sie in meiner am Hohen- hagen gelegenen Dorfheimat als Junge kennenlernte. Es ging dort ziemlich genau so zu wie im Sollinge. Vgl. den Artikel „Grüne Ostern und fröhliche Leute“ in „Die hinter den Bergen“, Berlin. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 69

Der 1. Mai. Der Anfang des Maimonats galt im deutschen Heidentume als hohe Festzeit. Eine Fülle von Sitten und Bräuchen umblühte sie. Nach der Belehrung unserer heidnischen Vorfahren zum Christentume wurden unter dem Einfluß der Priester wesentliche Sitten und Bräuche, die der Ausrottung widerstanden, im kirchlichen Sinne umgebildet und auf die christlichen Festtage übertragen. Es wurde ihnen gleichsam der christliche Gedanke aufgepfropft. So läßt sich z. B. annehmen, daß altgermanische Maifeuer, über die wir allerdings nichts Näheres wissen, der zeitlichen Nähe wegen mit dem Osterfeuer vereinigt wurden, das ursprünglich der Lichtgöttin Ostara galt.

Der bedeutsamste Teil jener Maisitten ging aber auf das Pfingstfest über, das also selbst sozusagen kein heidnisches Fundament hat wie das Osterfest. Wenn trotz dieser kirchlichen Bemühungen noch mancherlei Sitten und Bräuche an dem 1. Mai haften blieben, so wurden jene dann eben dem Teufel und den Hexen überlassen.

Ich will nicht auf das reiche Gebiet der deutschen Mai- und Pfingstsitten eingehen, sondern nur aus meinen Aufzeichnungen im Sollinge einige Nachklänge aus jener mythischen Zeit anführen:

Am 1. Mai muß alles Gartenland umgegraben sein, da es sonst die Hexen hart und platt tanzen. All- gemein wurden früher, manchmal auch heute noch, z. B. in Schönhagen, am 1. Mai zum Schutz der Hexen drei Kreuze an die Türen gezeichnet. – Vor dem 1. Mai verleiht der Landmann nicht gern Ge- rätschaften, weil die Hexen sonst davon Gebrauch machen. – Wer in der Nacht zum 1. Mai die Ställe reinigt und frisch mit Stroh bestreut, verhindert dadurch, daß in dem Jahre das Vieh krank wird. – Am 1. Mai muß man die Gösseln unter Wasser tauchen, damit sie besser wachsen. – In der Nacht zum 1. Mai (Walpurgisnacht) sind alle Hexen los, und man konnte sich früher nur schwer davor hüten, daß sie dem Menschen, dem Vieh oder der Saat „was antaten“.

Am Morgen nach der Walpurgisnacht gingen die Knaben (in Schönhagen) früher, mit einem Quit- zerzweige (Eberesche) in der Hand, in die Viehställe, bestrichen das Vieh damit und riefen: „Eck quekkere deck, eck quekkere deck, de leiwe Gott dei bettere deck!“

Wer sich – das war früher wohl ziemlich allgemeiner Glaube – in der Walpurgismitternacht mit einem Stück Kirchhofsrasen auf dem Kopfe an einem Kreuzwege in eine Egge stellte, konnte die Hexen auf dem Kreuzwege vorüberreiten sehen.

Wie Pastor Harland noch hörte, erhielten die Hexen in der ersten Mainacht vom Teufel ein Los, ge- wöhnlich ein Butterlos, mit dem sie Butter ohne Ende schaffen konnten. Für zwei Weißpfennige (eine frühere hessische Münze im Werte von neun Pfennigen) hätte man deshalb in einem Sollingsdorfe, das wegen seiner vielen Hexen berüchtigt war, einen Scheffel Schmalz kaufen können. Eine Frau aus die- sem Dorfe hatte einen irdenen Topf voll Butter nach der Stadt verkauft und – wahrscheinlich aus Un- achtsamkeit – den Zaubertopf hingegeben, der also nie leer wurde. Als nun die Leute die Butter mit einem Messer abstachen, fanden sie auf dem Grunde des Topfes einen Lork (Kröte) mit einem roten „Dutzen“ (Schleife), der Butter auspustete. Obgleich ihnen 200 Taler geboten wurden, wenn sie es nicht aussagen wollten, haben sie die Frau doch angezeigt.

Der Schäfer und der Gänsehirt treiben am 1. Mai aus, und die Wege, die nicht gehütet werden, sollen (in Schönhagen) vom 1. Mai ab verpachtet sein. In der Frühjahrszeit hielten sich die Hirten gern auf den Feldwegen auf. Als aber auch kleinere Leute ohne genügende Wiesenflächen für ihre Ziegen Grasnutzung auf dem Gemeindeeigentum verlangten, wurde eine Anzahl von Wegen der Hut- und Weideberechtigung entzogen. Diese waren daher bis zum 1. Mai, also bis zu dem Tage, an dem die Hirten sozusagen offiziell austrieben, zu verpachten. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 70

Ob der erste Austrieb des Schäfers stets am 1. Mai stattfand, ließ sich nicht mit Bestimmtheit feststel- len. Trotz der großen Wiesenflächen, die dem Dorfe eigen sind, wird den Einwohnern das Winterfutter leicht knapp. Alte Schönhäger erinnern sich, daß manchmal schon im März frisches Gras geholt wur- de, weil das Heu in die Ecke kroch. Da mußten die Schafe schon bald nach Peterstag hinaus, und dar- auf bezieht sich das Sprichwort: „Petersdag is de Hamel ernährt, Maidag de Käau.“

Als man noch langsamer wirtschaftete, hieß es (auf der Weserseite): „Wat vorr Maidage wasset, dat mott met eiisernen Köul’n in de Er’n eslan wern.“

Man spricht im Sollinge auch noch vom „äalen Maidage“ (10. Mai)1) und sagt: „Aalen Maidag mott seck ’ne Kreihe in’n Koorn versteken könen, denn kann’t noch säau gäaut wern, as wenn’t all in Ahr’n stünne.“

Bis zum alten Maitage mußte ein Grundstücksbesitzer, als noch nicht verkoppelt war, die Fahrt über den Acker offen halten, was erst mit der Verkoppelung und der Anlage von ausreichenden Wegen hinfällig wurde.

Der Kuckuck im Volksmunde. „Mutter, dei Kuckuck hät eräaupen, nöu gif össeck ’n Schinkenstücke!“ jubeln die Kinder, vom Walde zurückkommend, wo sie den Frühlingswahrsager zum ersten Male gehört haben. Die Mutter lächelt und geht den Kindern voran auf die „Räakbüene“, um alter Sitte gemäß den bisher sorgsam gemiede- nen Schinken anzuschneiden und der Kinder Verlangen zu stillen. Es heißt also nicht umsonst: „Kuk- kuck, sneiit den Böuern Schinken un Speck up!“ Es heißt aber auch:

„Sneiit et nich to weiit up, Süst frett dei Böuere et gleiik up!“

Wer vor dem ersten Kuckucksrufe sich’s einfallen läßt, ein Gelüst nach frischem Schinken zu offenba- ren, erhält von der Hausmutter einfach die kurz abschneidende Antwort: „Dei Kuckuck hät noch nich eräaupen!“ Woraus sich uns die ungeduldige und boshaft klingende Redensart der Sollinger erklärt: „Wenn de Kuckuck up’n föfteinten April nech röppet, mäaut hei basten!“ Er muß übrigens schon frü- her da sein, als er ruft, hat er doch im Solling die Ostereier zu legen. Die Kinder machen Nester auf der Diele und warten, bis der Kuckuck hineingelegt hat.

Wer während des ersten Kuckucksrufes ein Geld- und Brotstück in der Tasche trägt, wird das ganze Jahr hindurch keinen Mangel daran leiden. Das Gegenteil aber stehe einem bevor, wenn dann die Ta- schen leer sind.

Eine nicht minder gewichtige Bedeutung hat der Kuckucksruf für das in Liebe aufglühende junge Mädchenherz:

„Kuckuck up der Weggen, Woneer sall eck freggen? Dütt Jahr? Jönt Jahr? Sast äauk mee nah’r Hochteiid gahn.“

Die Anzahl der Rufe gibt die Jahre an, die die Fragende noch zu warten hat. Hört er gleich auf, so wird noch in demselben Jahre Hochzeit gemacht. „As eck in meuinen veiruntwintigsten Jahre den Kuckuck ümmet Freggent fräaug“, berichtete ein alter Schäfer aus Bolpriehausen im Solling, „da reip dei

1) Nach Schambachs „Wörterbuch der niederdeutschen Mundart“ (Hannover 1858) der 13. Mai. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 71

Schalk nech mähr as teinmal. Un eck häau ak richtig noch tein Jahr etofft, un meuine Fröue hät seck doch alle ’n paar Jahr erästet. Dei Jugend is ’n golden Barg; awer wo lichte glippet me darunder.“

Auch noch auf andere Fragen vermag der Kuckuck Auskunft zu geben. Man höre nur: Dort hinter der Hainbuche steht ein noch in den Kinderschuhen steckender Knirps und verlangt alles Ernstes zu wis- sen, wann er Gevatter werden muß:

„Kuckuck in den Epeltern,1) Woneer mäaut eck Vadder wern?“

Auch die Lebensdauer der Menschen soll der Kuckuck wissen:

„Kuckuck in den Darm’n, Woneer sall eck starm’n?“

Doch wird diese bängste aller Fragen auch euphemistisch gefaßt:

„Kuckuck in den Hainebeuken, Woneer mäaut eck Späne seuken?“

Die Hobelspäne im Sarge sind gemeint.

Aus all’ diesen Dingen geht genugsam hervor, daß der Kuckucksruf vom naiven Volt gern vernom- men wird. Ein Maiwald ohne Kuckucksruf ist wie ein Gedicht ohne Poesie.

Doch alles hat seine Zeit, und danach ist es nicht mehr. Die eigentliche Zeit des Kuckucksrufes ist der Frühling bis hinab zum Johannistage. Danach begehrt man – aus Seite der Armen heißt das! – den Kuckuck nicht mehr zu hören; glaubt man doch, daß jeder Kuckucksruf, nach dem Johannistage ver- nommen, das Korn verteuere: „Säau viele moal, as de Kuckuck nah Johannesdage noch röppet, ümme säau vele Gröschen stigt dat Koorn in Preiise!“ Die freundliche Prophetengestalt verliert sich mit dem Verblühen des Frühlings; der Kuckuck nimmt einen finsterdämonischen Charakter an, verwandelt sich, wie ich noch viele Landleute steif und fest behaupten hörte, in einen „Hoaweken“ (Sperber) und geht als solcher auch auf Hühnerraub aus. Erst am hundertsten Tage nach Weihnachten kehrt er sozu- sagen zu sich zurück, wird er wieder Kuckuck.

Mit dieser durch die ursprüngliche mythische Stellung des Kuckucks hervorgerufenen Verwandlung hängt zweifelsohne auch seine Gleichstellung mit dem Teufel zusammen. Gleichbedeutend mit dem Teufel erscheint der Kuckuck in den althergebrachten Redensarten: „Gah na’n Kuckuck!“ „Dat deck de Kuckuck!“ – „Deck langet de Kuckuck!“ – „Täaun Kuckuck äak!“ Ich hörte auch einen belanglo- sen Anruf, wonach der Teufel den Kuckuck, der den Fragenden zum Arger immer Versteckens spielt, suchen soll:

„Kuckuck in den Beuken, Dei Duiwel fall deck seukenl“

Merkwürdig ist noch, daß der Wiedehopf (Weihoppek) als des Kuckucks Küster und „Schäaulmester“ gilt. Man sagt, weil er acht Tage früher rufe als der Kuckuck. Auffällig war es mir, daß die zweite im Solling gebräuchliche Redensart „Dei Weihoppek is ’n Kuckuck ßeuin Schäaulmester“, soviel ich sehen konnte, nirgends gebucht steht. Jakob Grimm, der in seiner deutschen Mythologie nach dem Bremischen Wörterbuche des „Kuckucks Küster“ als einer speziell niedersächsischen Formel Erwäh-

1) Feldahorn. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 72 nung tut, weist darauf hin, daß die Erklärung auch für diese Eigentümlichkeit ebenso wie für die Gleichstellung des Kuckucks mit dem Teufel lediglich in alten heidnischen Überlieferungen zu suchen sei (S. 393). Auch Simrock, der übrigens eine weitere Verbreitung der Formel andeutet, hat dafür eine stichhaltige Begründung im Volksglauben nicht finden können und vermag auch nur auf den mythi- schen Hintergrund zu verweisen (Hdb. d. D. M. S. 460).

Läge es aber nicht näher, die Erklärung für die Küstereigenschaft des Wiedehopfes im Volkshumor zu suchen? Sein früheres Erscheinen und seine besondere Art erinnerten eben an den Küster oder Schul- meister, der ja beim Kirchendienst immer früher da ist als der Geistliche. Eingehenderes dazu wird Kücks „Lüneburger Wörterbuch“ in dem Artikel „Kuckucks Küster“ bringen.

Eine Sage aus dem Solling erzählt: Der Kuckuck wollte vom Wiedehopf das Nestbauen lernen, was dieser so wunderschön versteht. Als der Wiedehopf nun feine, dürre Reiser („Sprick“) hinlegte, wor- auf noch Moos und Federn kommen sollten, rief der Kuckuck eilfertig: „Nun kann ich’s schon!“ Er konnte aber eben nur den Anfang und baut darum jahraus jahrein solch ein schlechtes, nur aus losem „Sprick“ bestehendes Nest, das zu nichts nütze ist. Anstatt es nun besser zu machen, legt er mit durch- triebener Findigkeit seine Eier in anderer Vögel Nester.

Nebenbei möge noch die Behauptung des schon erwähnten Volpriehäuser Schäfers erwähnt werden, der Kuckuck lege seine Eier lediglich in die Nester der „Bekestöltchen“ (Bachstelze). Habe die Bach- stelze dann das Ei ausgebrütet und den kleinen Kuckuck mit unsäglicher und doch immer unverdros- sener Mühe großgefüttert, so fresse der große Schlingel zum Danke seine Pflegemutter auf. –

Erwähnt sei auch, daß im Sollingsgebiet das gefleckte Knabenkraut (orchio maculata), an dessen hand- förmig gespaltenen Knollen man den „Duiwelspaten“ und die „Herrgottshand“ zeigt, den Namen Kuk- kucksblume führt, angeblich, weil sie während des Kuckucksrufes blühe.

Schließlich zwei Volksreime, die zusammenhanglos im Munde der Alten leben:

Danz, Meken, danz, Dei Kuckuck hät ne Swanz, Dei Elster hät ne bunten Stärt, Danzet vor der Briut (auch vor Mareuie, Katreuinchen) her.

Der andere:

Dei Kuckuck up den Tiune satt, Dat regte säau un hei wort natt, Da kamm de leiiwe Sünnenscheiin, Da woort dei Kuckuck hübsch un feiin. Der Kuckuck schmiß seine Federn aus Wohl über dem jungen Goldschmied sein Haus: „Gott gewe der Briut, wat eck er wünsch: Dat erste Jahr ne jungen Prinz, Das zweite Jahr ein Töchterlein, Bis daß es vierundzwanzig sein; Die vierundzwanzig wohl um den Tisch, Säau weit de Fröue, wat Hiushalen is.“

Dies Lied scheint, besonders wenn man damit die schönere Variante in Müllenhofs Sammlung ver- gleicht, der Rest eines längeren, dem Volksgedächtnis entschwundenen Volksliedes zu sein. Die ersten Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 73 vier Zeilen sind noch in aller Kinder Mund; die Fortsetzung aber, die jedenfalls einem andern Gedicht angehört, erhielt ich erst nach langem Umherfragen aus dem Munde der alten – „Lewaisewasen“ in Lauenberg1).

Der Maibaum. Der stattliche Maibaum, den man früher in der Pfingstnacht seinem Mädchen vor die Haustür oder das Kammerfenster pflanzte, ist hauptsächlich der Forstaufsicht und Forstkultur zum Opfer gefallen.

Das Maibaumpflanzen scheint aber auch im Sollinge nicht in dem Maße üblich gewesen zu sein, wie sonst im hannoverschen Weserberglande. So erinnere ich mich aus meiner Jugendzeit, daß in den Or- ten um den Hohenhagen herum am Pfingstmorgen vor jedem Hause, in dem eine Liebste war, ein stattlicher Maibaum prangte, und Hauptlehrer Jünemann weiß mir aus seiner Heimat, dem Bram- waldsdorfe Bühren, mitzuteilen, daß der älteren Bevölkerung noch in frischer Erinnerung steht, wie einmal Söhne wohlhabender Bauern mit Gefängnis bestraft wurden, weil sie anderen die am Pfingst- sonnabend besorgten Maibäume von der verschlossenen Scheune fortgeholt hatten. Vielfach wurde des Maibaums wegen der Pfingstsonnabend eigens für Holzfahren bestimmt, um bei dieser Gelegen- heit den Maibaum mit hereinzubringen. Sonst pflegte man die Maibäume, wie auch ich die Sitte nur kenne, regelmäßig nachts heimlich aus dem Walde zu holen. Hatte es ein Mädchen mit ihrem Bur- schen verdorben, so erhielt es statt des Maibaums einen Dornenstrauch oder einen abgenutzten alten Besen. Auch ich habe in meinen jungen Jahren einmal einer solchen Besenjustiz in der Pfingstnacht mit beigewohnt.

Der Johannisbaum, der ehedem im Solling allgemeiner und ursprünglich gewiß mit dem Maibaume identisch war, hat sich nur noch in dem weserseitigen Dorfe Wahmbeck erhalten. (Siehe S. 105.) Wahrscheinlich hat man in ganz früher Zeit um den Mai- oder Johannisbaum Tänze aufgeführt, woran noch das Kinderspiellied erinnern dürfte:

„Ringel-Ringel Rosenkranz, Maidanz, Setzt sich auf die Wiese, Spinnt so feine Siede, Sieben Jahr, als ein Haar. Jungfer Kathrine, setz dich dar. Kückerickü, kückerickü.“

Gibt es also den Maibaum heute leider nicht mehr, so wird doch der Brauch, die Wohnung zu Pfing- sten mit Maibüschen zu schmücken, noch vielfach festgehalten. In Lauenförde werden die „Pfingstströükere“ an die Haustür genagelt. Die alten Leute stecken sie gern noch im Hause über die Türen, hinter den Spiegel, und wo es sonst angebracht erscheint. Es heißt, dann schlüge der Blitz nicht ein. Man läßt die Büsche auch möglichst lange das Jahr hindurch stecken. Wenigstens sind immer noch einige Familien, die das tun. Auch den Altar in der Dorfkirche schmückt man zu Pfingsten mit Maien.

In Schönhagen wird dieser schöne Brauch von den Kindern betätigt, die im nächsten Jahre konfirmiert werden. Wenn sie den „Mai“ aus den Wäldern holen, was immer ein reizvolles Kindervergnügen ist,

1) Vgl. auch Sohnrey, Friedesinchens Lebenslauf (Berlin 1920), S. 85: „Wenn der Kuckuck ruft.“ Dort eine län- gere und wohl auch poetischere Fassung des Kuckucksliedes, das vor 70 Jahren im südlichen Hannover noch allgemein bekannt war. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 74 werden auch Pfarr- und Schulhaus damit bedacht. Daß die aufbewahrten Birkenbüsche das Haus vor Blitzschlag bewahren sollen, ist, wie Jünemann feststellte, in Schönhagen nicht (vielleicht nicht mehr?) bekannt.

Nicht bekannt ist auch im innern Solling, daß man dem Feinde ehemals, wie Hauptlehrer Könecke in Lauenförde hörte, einen Faulbaum- oder Wacholderzweig hoch oben an den Giebel hängte.

Wenn früher die jungen Mädchen (in Lauenförde) nach dem Pfingstanger gingen, achteten sie sehr darauf, wer ihnen zuerst begegnete: Denn das war der Zukünftige. Bei günstigem Wetter begab sich in früheren Jahren jung und alt aus Lauenförde Himmelfahrt und Pfingsten nach dem Brüggefelde, hoch oben im Sollinger Walde, wo auf dem alten eingehegten und mit Steinplatten belegten Tanzplatze nach den Klängen der Ziehharmonika getanzt wurde. Über sich den blauen Himmel als Dach, um sich herum die grünen Tannen, erlebte man hier wahrhaft köstliche Pfingstfreuden. Die Alten saßen im Schatten der Bäume und ließen sich von dem Hofmeister des Vorwerks Brüggefeld, der die Schankge- rechtsame besaß, bewirten. Die Kinder aber spielten unter den Bäumen des Waldes ihre Reigenspiele, darunter vor allem das uralte Spiel:

Adam hatte sieben Söhne, Sieben Söhn’ hat Adam. Adam (?) hatte achte, frag’ sie, was sie machten. Jungfer sitzt auf ihrem Platze, Kriegt sie bei den Armen. Wir beide wollen tanzen In dem Jungfernkranze. Wir beide wollen knien, Für die Jungfer ziehen. Rosen, Rosen, Nielgenblatt. (Lilienblatt.) Wir beide wollen rum, rum woll’n wir beide.

Das Lied ist, wie man sieht, schon arg zersungen, der innere Zusammenhang im Laufe der Zeit verlo- ren gegangen, immerhin, ebenso wie das oben mitgeteilte Spiellied, als Überbleibsel aus alter Zeit sehr beachtenswert. Denn wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß in diesem Spiel noch die altgermanischen Gebräuche des Maitages wieder ausklingen, natürlich den heutigen Geschlechtern ganz unbewußt. Die Jungfer, die auf ihrem Platze (im Kreise) sitzt, ist ohne Zweifel die „Maibraut“. „Jungfernbraut“ heißt sie in einer anderen Lesart desselben Liedes. Ein Bursch schmückt sie mit dem Kranze. Nachdem beide getanzt hatten (so das Kinderspiel), kam ein anderes Paar an die Reihe; das erste drehte sich währenddessen herum und faßte sich so an, daß es dem Kreise den Rücken zukehrte.

Leider gibt es diese schöne Pfingstfeier seit etwa 25 Jahren dort nicht mehr. Nicht aus innerem, son- dern aus ganz trivialem äußeren Grunde ist sie abgekommen: Von dem Nachfolger des damaligen Domänenpächters wurde der Tanzplatz aufgerissen und damit dem lustigen Treiben ein Ende gemacht. In gleicher Weise ist ja auch der altberühmte „Schäfertanz“, der seit Jahrhunderten zu Ostern auf dem Bierberge bei Dassel getanzt wurde, zugrunde gegangen.

Pfingsten auf dem Pfingstanger. Erster Pfingstmorgen. Versetzen wir uns um einige Jahrzehnte zurück und begeben wir uns nach dem am östlichen Rande des Sollinger Waldes gelegenen Dorfe Trögen. Roch dämmert’s und dampft es rings im Tale, aber schon quinquilieren und jubilieren Amsel und Singdrossel, da wird’s an allen En- den des Dorfes lebendig; Türen knarren, Ketten klirren, Glocken klingen, und hie und da knallt eine Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 75

Peitsche. Von allen Höfen traben Kälber und Kühe, und in das vielstimmige fröhliche Brüllen mischt sich drunten und droben das Jauchzen pfingstfroher Burschen.

Der Kühe und Menschen Ziel an diesem Morgen ist der Pfingstanger, jener freie, große, herrliche Wiesenplan hart am Dorfe, der keinem eigen ist und doch allen gehört, vor dem die sämtlichen „reihe- berechtigten“ Bauern einander völlig als gleich und gleicherweise erbberechtigt erscheinen, mögen sie nun Vollkötner oder Halbkötner sein.

Gleiches Recht, aber auch gleiche Pflicht. Wenn das Wasser kommt, wird gemeinsam geflößt („efleu- et“); wenn die „Multhucken“ prangen, wird gemeinsam gestreut, und ist der Pfingstmorgen da, zieht die ganz Gemeinde mit Ochsen und Kühen zum gemeinsamen Hüten auf den Anger. So wird das gan- ze Dorfvolk auf dem Pfingstanger zu einer einzigen Familie vereinigt, und eben das ist des Pfingstan- gers Herrlichkeit und Segen.

Auf dem Anger steht eine uralte Eiche. Drei Männer mögen sie mit ihren Armen kaum umspannen. Wieviel hundert Jahre mag dieser Baum schon dagestanden, wieviel Generationen in der Pfingstfreude gesehen haben! Was könnte er von ihnen der jungen Generation erzählen, wenn’s heute noch so wäre wie im Zeitalter des Märchens, da die Bäume reden konnten, so gut wie die Menschen. Das sind Ge- danken, die manchem ans Herz klopfen, manchem auch nicht.

Im Grase unter der Eiche liegen graue Borkenfetzen und gebrochene, teils kahle, teils noch berindete Zweige, denn die Eiche hat schon an das Feuer gedacht, das nun auf der alten graslosen Brandstätte zu ihren Füßen angezündet wird. Aber auch noch andere Bäume müssen ihre dürren Zweige lassen. Das dürre Alte muß verbrennen, und das Junge muß wachsen und grünen.

Das Junge muß wachsen und grünen. Ei, darum gewiß die seltsame Sitte, die wir jetzt vor unseren Augen sich abspielen sehen!

Neben dem prasselnden Feuer stehen Körbe mit Eiern. Jeder Kuhherr hat seinen Teil daran; selbst der ärgste Geizfink hat an diesem Morgen einmal für andere ins Nest gegriffen, denn das alte Herkommen muß geachtet werden.

Was wird nun mit den Eiern geschehen? Nun die Bauern und Burschen, die sich da in engen und wei- ten, in halben und ganzen Kreisen um die Eiche herumlagern und einander recht fleißig „zuprosten“, werden sie nicht essen; diese Eier müssen den ganz Jungen, müssen den Kindern des Dorfes geopfert werden.

Seht, seht! Jetzt kommen sie schon von allen Ecken und Enden des Dorfes herbeigeeilt, von den Zwölf- und Vierzehnjährigen bis herunter zu den kleinen Pausbacken, die noch mit runden Beinen einherwackeln. Und sieh nur, sieh nur, ein jedes Kind trägt einen ausgehöhlten Brotknust in der Hand.

Jetzt kommt die Pfanne aufs Feuer, honiggelbe Butter zischt auf, und die hineingeschlagenen Eier beginnen zu brodeln. So viele Kinder wie gerade Eier in der Pfanne sind, halten ihre Brotknüste dar und bekommen je ein Ei hineingelegt.

Abermals wird die Pfanne aufs Feuer gesetzt und so oft noch, wie eben nötig ist, um jedes anwesende Kind mit einem gebackenen Ei zu laben.

Da ist die Lust gar groß, und ihr heller Schall dringt mit dem Geläut der Kuhglocken weit über den Anger hin. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 76

Diese merkwürdige Volkssitte habe ich nur in Trögen gefunden. Allgemeiner dagegen ist das Bild, das der Pfingstanger am Nachmittage bietet. Da wird des Volkes noch mal soviel als am Morgen, denn nun kommen auch die Frauen und Jungfrauen hinzu; ja, selbst manches hochbetagte Großmütterlein macht sich noch einmal auf und humpelt nach dem sonnigen, grünen Anger hinaus. – Und lebt der Großvater oder Urgroßvater noch, kann man sicher sein, auch ihn wieder den altgewohnten Weg da- hinstuppeln zu sehen.

Die jungen Burschen spielen „Ziegenschlagen“, wie’s nur am Pfingstfest üblich ist, die Alten ergötzen sich am Zuschauen; die Mädchen aber streifen die Felder in der Nähe des Angers nach bunten Blumen ab, woraus sie sich unter der Eiche niederlassen und aus den Blumen eine großmächtige Krone win- den.

Nach Fertigstellung der Krone hört alsbald das „Ziegenschlagen“ auf, denn jetzt haben die Burschen den Pfingstochsen zu erjagen, damit die Mädchen ihm die Krone aufs Haupt setzen können, was natür- lich einen „ungeheuren Spaß“ gibt.

Hat man sich an dem gekrönten Ochsen endlich satt gesehen, so tritt Sang und Spiel wieder in seine Rechte, und zwar singen und spielen die Burschen und Mädchen nun gemeinsam, wenn auch in ver- schiedenen nach den Altersstufen eingeteilten „Tröppen“. Unerschöpflich ist Sang und Spiel gleich wie die Quelle der Espolde.

Bricht endlich der Abend an, bilden Burschen und Mädchen bunte Reihen und kehren unter den weit- hin tönenden Weisen uralter Volkslieder ins Dorf zurück.

Die Eiche aber steht einsam aus kahlem Anger und träumt von den schönen Volkssitten, deren Zeuge sie seit Hunderten von Jahren gewesen ist, die sie aber hinfort nicht mehr sehen soll, denn nach der „Verkoppelung“ der Feldmark wurde die Eiche umgehauen und der Pfingstanger restlos aufgeteilt.

Das Pfingftsingen. Eine gute Bemerkung machte mir gegenüber in den jüngsten Ostertagen (1923) eine Oldenroderin. Sie hielt, wie sie versicherte, immer sehr darauf, daß ihre Söhne die alten guten Sitten und Bräuche nicht vernachlässigten. Wo diese noch sind, so etwa sagte sie, da hat auch die Jugend in ihrer freien Zeit immer was Sinniges um die Hand, das sie von dummen und nichtigen Dingen abhält. In der Vorweih- nachtszeit übt sie sich auf das Neujahrssingen; nach Neujahr fängt sie bei kleinem mit dem Sammeln und Hauen des Holzes zum Paasche- oder Osterfeuer an, und nach Ostern beginnen bald die Übungen zum althergebrachten Pfingstsingen.

Neujahrssingen und Paaschefeuer ist im Solling wie überhaupt im südlichen Hannover noch ziemlich allgemein; das Pfingstsingen aber, wie es hier beschrieben werden soll, hat sich lediglich in dem klei- nen, ganz im entlegenen Wepergrunde verborgenen Dorfe Oldenrode herausgebildet und erhalten. Der Grund dieser Ausschließlichkeit mag wohl darin liegen, daß dies ebenso eigenartige wie umständliche Pfingstsingen in einem großen Orte kaum durchzuführen wäre. Oldenrode zählt etwa 150 Einwohner und annähernd 30 Schulkinder, von denen alle, die mindestens zwei Jahre zur Schule gegangen sind, an dem Pfingstsingen teilnehmen dürfen.

An einem der ersten Sonntage nach Ostern begibt sich die Oldenroder Schuljugend nach den „Läbern“ (Lauben), deren es im Oldenroder Walde vier gibt, vier von Waldbäumen laubenartig umstandenen „Singeplätzen“, der eine immer höher gelegen als der andere, so daß also der vierte auf der Höhe des Waldes liegt. Dieser diente früher auch der Oldenroder erwachsenen Jugend als Tanzplatz. Aus den ältesten Knaben, den „Großen“, werden die „Iuthalers“ (Aushalter) gewählt, die das Lied anzustimmen Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 77 und auszuhalten haben; ebenso die „Iuträ-uper“ (Ausrufer), welche die Namen ausrufen müssen, auf die das Lied gesungen werden soll. Sie sind zugleich die Lehrmeister der anderen und tragen als Zei- chen ihrer Würde Peitschen, mit denen sie gelegentlich auch ihrer Singelehre nachhelfen. Der alten Gepflogenheit gemäß singt man ausschließlich das Pfingstlied:

„Nun bitten wir den heil’gen Geist Um den rechten Glauben allermeist ....“

Angefangen wird in der unteren Laube, dann begibt man sich zu der nächstfolgenden, so daß das Lied in allen „Läbern“ durchgeprobt wird. Und das wird an jedem Sonntag bis zum Pfingstfeste durchge- führt. Ernst und streng geht es dabei zu, denn die „Großen“ wissen ihre Autorität vorzüglich zu wah- ren. An jedem der vier Buchenbäume, die die Laube bilden, steht ein „Iuthaler“ oder „Iuträ-uper“, während die Sänger ihren Platz in der Mitte des Laubenplatzes haben.

Bei den Worten der zweiten Strophe „Lehr’ uns Jesum Christ erkennen allein ...“ muß jedes Kind den Hut abnehmen und sich vorschriftsmäßig verbeugen. Wer das vergißt und unterläßt, bekommt einen Denkzettel mit der Peitsche.

Zwischen „Großen“ und „Kleinen“ wird streng unterschieden. Die anhaltenden Übungen an den Sonn- tagen zwischen Ostern und Pfingsten erfolgen natürlich hauptsächlich der „Kleinen“ wegen, die auch immer mit hellem Eifer dabei sind; denn mitmachen darf das Pfingstsingen nur, wer den Ernst der Sache völlig begriffen hat, das Lied fehlerlos singen kann und die vorschriftsmäßige Verbeugung gut macht.

Ist endlich das Pfingstfest da, so steigt die freudige Erregung der Schuljugend aufs höchste, denn es gilt nun die letzten Vorbereitungen für das Pfingstsingen, das in der Nacht vom ersten zum zweiten Pfingsttage vor sich geht. Alle Sänger versammeln sich auf dem Bauernhofe, der in diesem Jahre an der Reihe ist, und belegen einen ihnen zur Verfügung gestellten größeren Raum in Haus oder Scheune mit seiner Strohschicht, auf der sie in der Nacht gemeinsam schlafen.

Schon um zwei Uhr früh sind alle wieder auf den Beinen, denn um diese Stunde beginnt das Singen. Mit Blumen an den Mützen, fangen sie oben im Dorfe an. Die Bewohner haben ihre Haustüren, sofern sie sie sonst verschließen, in dieser Nacht offen gelassen; nur die Familie, die in Trauer ist, hält ihre Haustür verschlossen. Die Sängerschar begibt sich auf den Hausflur, und einer der Ausrufer ruft laut: „Dütt gelt der Herrschaft!“ Und nun stimmen sie an und singen mit hellen, weithin dringenden Stim- men: „Nun bitten wir den heil’gen Geist ...“ Natürlich immer sehr exakt mit der bewußten Verbeu- gung. Sind Großeltern da, so ertönt nach Schluß des Liedes der Ruf: „Dütt gelt den äalen Loien (alten Leuten)!“ Und man singt ihnen ebenfalls beide Verse. Sind noch weitere Personen im Hause, so wer- den auch ihnen, und zwar immer einem nach dem anderen, nach dem vorherigen Ausrufe beide Verse gesungen. Selbst Knecht und Magd übergeht man nicht, und ist Pfingstbesuch im Hause, so werden auch ihm die beiden Verse zugesungen.

Die Besungenen erweisen sich natürlich dem Herkommen gemäß erkenntlich, indem sie Eier, Kuchen, Wurst und Speck, auch bares Geld spenden.

Es dauert gewöhnlich bis sieben Uhr, ehe man das ganze Dorf herum ist. Fröhlich eilen nun alle nach dem Bauernhofe zurück, wo sie die Nacht schliefen und wo inzwischen schon die Tische gerüstet sind und ein großer Kessel Kaffee gekocht ist. Natürlich sind die kleinen Sänger von dem vielen Singen tüchtig hungrig und durstig geworden, und da schmeckt dann der Kaffee und Kuchen, von dem ganze Berge verzehrt werden, schöner als je. Wohlgemerkt, es ist der von den Besungenen gespendete Ku- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 78 chen, der diesem eigenartigen Kaffeeschmause zugrunde gelegt wird. Die sonstigen Gaben wie Eier und Wurst stehen den „Kleinen“ zu, während die „Großen“ das bare Geld erhalten.

Einhellig wurde mir von den Oldenrodern versichert, daß bei diesem Pfingstsingen nie etwas Ungehö- riges vorgekommen sei; alle empfänden es als etwas Schönes und Feierliches, wenn in der Herrgotts- frühe des zweiten Pfingstmorgens die hellen Kinderstimmen durch das Dorf tönten. Es wäre so rüh- rend, daß einem „ordentlich“ die Tränen kämen.

Das Wettjagen. Ich will von dem Wettjagen nach dem grünen Kranze und dem „Umklappen“ erzählen, das früher in Fredelsloh regelmäßig zu Pfingsten stattfand. Ehe ich aber das Wettjagen nach dem Kranze schildere, muß ich zuvor von dem Pfingstanger reden, auf dem es stattfand, der also die Voraussetzung dieses jugendfrohen Pfingstspieles war.

Fredelsloh erfreute sich bis zur Verkoppelung seiner Feldmark (1874) sogar zweier Pfingstanger; der eine war acht Morgen, der andere, der „Gänseanger“, wohl an die zwanzig Morgen groß. Beide Anger, die so rechte Tummelplätze für das Ballschlagen der Jugend im Frühlinge waren und im übrigen zur Gemeindeviehweide dienten, wurden bei der Verkoppelung restlos aufgeteilt. Ebenso fiel der große schöne gemeinheitliche Obstberg der Aufteilung zum Opfer; er wurde dem Kloster zugelegt, und der Pächter ließ die Bäume bis auf einen geringen Rest abhauen.

Eines Gänseweide hat man sich in den letzten Jahren vom Klostergute durch Pacht wildwüchsigen Ödlandes wieder zu schaffen gesucht; aber für das Kranzjagen, überhaupt für das Jugendspiel auf grü- nem Nasen, wie es von altersher in jenen Dörfern war, hat sich kein Platz mehr gefunden, und so ist denn jenes alte Jugendfest, das ich hier nach der Erinnerung der alten Fredelsloher schildere, seit 1874 nicht mehr gefeiert worden.

Das Kranzjagen fand gewöhnlich am ersten Pfingsttag nachmittag statt und bot allen Burschen Gele- genheit, sich vor der Gemeinde als tüchtige Reiter nach dem Ziele zu zeigen, brachte aber auch die ganze Schuljugend lange vorher schon in freudige Aufregung; hatten doch die Konfirmanden den Kranz zu machen und die Giffel (Holzgabel) aus dem Walde zu besorgen, an die der Kranz gehängt wurde. Das Kranzmachen fiel den Mädchen, das Giffelholen den Jungen zu.

Besitzersöhne und Knechte ritten gemeinsam. Es war Ehrensache, daß der Besitzer seinem Knechte für das Kranzjagen ein Pferd borgte; ackerte er aber nur mit Ochsen, so borgte er ihm eben einen Och- sen, denn spaßeshalber jagten auch immer einige Ochsen mit.

Der Kranzkönig vom letzten Jahre hatte das Kommando. Natürlich wanderte jung und alt nach dem Pfingstanger, und auch aus den Nachbardörfern kamen sie noch herzu, um dem Wettjagen zuzusehen.

An dem einen Ende des Angers war die Giffel mit dem Kranze ausgerichtet, an dem entgegengesetz- ten Ende stellten sich die Reiter auf, in der vorderen Reihe die Pferde und dahinter die Ochsen. Der alte König kommandierte: „Eins, zwei, drei – zu!“ Und die ganze Kavalkade brauste los. Beim Vor- beijagen galt es so flink und geschickt zu sein, daß man den Kranz erhaschte. Wem das beim dritten Male glückte, der war König, Pfingstkönig; der letzte dagegen wurde „Stinkefiest“ genannt. Weithin hallte der Jubel, wenn die Pferde, wie es oft vorkam, alle vor dem Kranze scheuten und vorbeitrabten, während der erste Ochse dreist auf den Kranz zulief und ehe noch sein Reiter zugreifen konnte, mit der Schnauze nach dem „grünen Futter“ faßte und es aufzufressen begann, so daß dann der Ochsenrei- ter König wurde. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 79

Mit schmetternder Blechmusik und in Begleitung der ganzen Gemeinde bewegte sich der Reiterzug mit dem neuen Könige im Siegeskranze durch die Straßen des Dorfes, so daß nun auch die ganz Alten, die nicht mehr hinausgehen konnten, noch eine lustige Augenweide hatten.

In engem Zusammenhange mit dem Kranzjagen stand das sogenannte „Umklappen“, das in der Nacht vom ersten auf den zweiten Pfingsttag vor sich ging und nur von den Burschen ausgeführt werden konnte, die sich an dem Kranzjagen beteiligt hatten. Schon vom Osterfeuer an wurde mit der Vorbe- reitung des Wettjagens sowohl wie des kunstgerechten Umklappens begonnen, indem man sich an den Abenden sowohl im Reiten wie im Peitschenknallen übte.

Die Peitsche war von der Art, wie sie früher wohl die Hirten zu gebrauchen pflegten, namentlich um den tückisch gewordenen Bullen von sich abzuwehren: Kurzer Stiel, sehr lange, aus Lederriemen ge- flochtene Schnur, mit der man im Schwunge sehr weite und heftige Kreise um sich herum ziehen konnte. Sechs Burschen stellten sich auf, und es wurde so im Takt geknallt (oder „gebaldert“), daß es ähnlich wie ein rhythmischer Sechsflegeldrusch hallte. Natürlich war dazu viel Vorübung erforderlich, und so konnte man von Ostern ab allabendlich irgendwo das Übungsknallen hören. Man war damals zum Glück noch nicht so nervös oder empfindlich, daß jemand auf den Gedanken gekommen wäre, sich gegen das „Baldern“ aufzulehnen.

War nun die Pfingstmitternacht gekommen, so zogen je sechs Burschen von Hof zu Hof, stellten sich im Hofe oder auf der Straße vor dem Wohnhause in weitem Raume auf, und der König sprach zuvor also:

„Hegger träe eck up’n Hof, De Kaiser un de Bischof, De Kaiser un de König, Dat Land leuit in ’n Plönig. Raike Heren giewet gärn, Arme noch viel leiwer. De Hahn un de Hinne – De Klapp sitt oben inne.“

Er machte eine Atempause und setzte hinzu: „Dütt gelt vor Dörnten Hius!“ Und so wurde bei jedem weiteren Hofe auch der Name des jeweiligen Besitzers ausgerufen. Und dann ging das bunte Geklat- sche der sechs Peitschen los, daß es weithin übers Dorf in die Wälder und, je nachdem der Wind stand, selbst noch bis Lauenberg oder Espol drang.

Unterdessen erschienen die Hausleute am Fenster, und es wurden von ihnen zum Danke für die Eh- rung Eier oder Wurst, manchmal auch bares Geld gegeben. „Stinkefiest“, der letzte Reiter, der den Korb tragen mußte, nahm alles wohlgefällig in Empfang und trug den Korb mit Würde. So ging’s von Hof zu Hof, bis man das ganze Dorf durch war.

Am zweiten Pfingsttage war Tanz auf dem Hainberge, bei welcher Gelegenheit alle empfangenen Gaben gemeinsam verschmaust wurden.

Pfingstbier.

1. Wie es in Dinkelhausen gefeiert wurde. Noch bedeckt der Schnee die Felder, als schon „das junge Volk“ zu einer Vorbereitung zusammentritt, ob man die kommenden Pfingsten „Bier“ abhalten wolle oder nicht, denn in der Regel wird das alther- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 80 gebrachte Tanzfest nur alle zwei Jahre gefeiert. Zwei Schaffer werden erwählt, denen die Überwa- chung der Festlichkeiten obliegt. Der Mühe Lohn ist aber auch ein herrlicher, denn vor allen Festge- nossen steht ihnen das Recht zu, sich die schönste Dame zu erkiesen. Daß für ein solches Vorrecht natürlich ein Gläschen Branntwein oder ein Schoppen Bier zum besten zu geben ist, wird jeder selbst- verständlich finden.

Welche Spannung malt sich da auf den Gesichtern, wenn die Schaffer ihre Wahl treffen; wie stieben, sobald das entscheidende Wort gefallen ist, alle auseinander, die einen zur Tür, die anderen gleich zum Fenster hinaus. Ja, Zögern ist hier nicht angebracht. Nur zu häufig muß die schüchterne Seele erfahren, daß beim Liebeswerben ums Röschen arge Dornen stehen. Mit Zorn im Herzen erzählte ein etwas umständlicher Bursch dem jungen Lehrer, wie er mit seinem Nachbar Wilm (Wilhelm) sich zu glei- cher Zeit aufgemacht habe, um die „Bierjungfer“ zu küren. Sie hatten so ziemlich einen Weg, denn ihre Erkorenen waren Nachbarinnen. Während er aber noch überlegte, denn es war ihm bei seinem Vorhaben „so wunderlich ums Herz“, war der andere schon eine gute Strecke voraus, um nun erfahren zu müssen, daß ihm trotz seiner Schnelligkeit bereits ein noch schnellerer Bursche zuvor gekommen ist. Ha, den Teufel, soll er nun gar mit irgendeiner Übriggebliebenen zu Biere gehen?! Schnell springt Wilm über den nächsten Zaun zur schönen Nachbarstochter und hat eben die gewünschte Zusage er- halten, als der Zauderer eintritt. Natürlich erstirbt dem die Frage auf den Lippen1).

Solch kleine dramatische Verwicklungen im Vorspiel waren aber nur geeignet, den Reiz der Festlich- keit noch zu erhöhen und störten sie gewöhnlich nicht.

Am Tage vor Pfingsten, während die Frauen und Mädchen daheim das Haus mit einer wahren Sintflut überschwemmen und duftende Pfingstkuchen in schwerer Menge backen, fahren die jungen Burschen zum Walde, um Mai zu holen und die Tanzzelte mit den schlanken Zweigen der Birke zu schmücken. Abends aber sucht jeder seine Ehre darin, seinem „Biermädchen“ heimlich den schönsten Maien vor der Tür zu errichten; im Maiengrün lieblicher Hoffnung schlagen ja die jungen Herzen füreinander. Am selbigen Abend gehen die beiden Schaffer durchs ganze Dorf, bewaffnet mit einer gewaltigen Schnapsflasche, und laden „mit einem freundlichen Gruße“ sämtliche Insassen eines jeden Hauses zum Besuche ihres Festes ein. Natürlich muß der Flasche zugesprochen werden, um einen Vorge- schmack des Kommenden zu erhalten.

Die Glocken des ersten Pfingsttages sind verklungen, Hauch die Nachmittagskirche „ist aus“, und nun sammelt sich das junge Volk draußen im Grünen, um sich unter den Klängen seiner alten Lieder und bei lustigem Spiel des lieblichen Festes zu freuen. Wonniger noch steigt der zweite Tag der Pfingsten über Weper und Bollert2) herauf.

Die Predigt dauert heute der tanzlustigen Jugend viel länger als gewöhnlich; um so eifriger drängen sich dann die Burschen dem Festplatze zu. Die Musikanten spielen seinen lustigen Marsch auf, und bei den Klängen ordnen sich die Festgenossen in Reih und Glied, voran die Schaffer mit der uner- gründlichen Flasche, darauf die Bedauernswerten, die kein Liebchen erhalten konnten oder wollten, nunmehr die Musikanten und hinterdrein die „Bierjungen“.

Am Rocke eines solchen prangt ein mächtiger Blumenstrauß mit wehenden Bändern, und von der linken Schulter hängt lang herab das Tuch zu einer „Bierweste“, das Geschenk der Mädchen. Unter fröhlichem Jauchzen bewegt sich der Zug dem Hause der einen Schafferin zu. Hier ordnen sich die

1) Eine dichterische Darstellung dieses Vorganges findet man im ersten Kapitel meiner größtenteils auf der We- per spielenden Dorfgeschichte „Philipp Dubenkropps Heimkehrs“.

2) Im Original-Buchtext steht an dieser Stelle „Bollerk“. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 81

Paare, und man kehrt zum Tanzzelte zurück. Im vollen Bewußtsein seiner Festwürde verliest ein Schaffer mit gewaltiger Stimme die alten Bierartikel:

„Willkommen all’ ihr lieben Gäste, Zu unserm heutigen Bierfeste!“

§ 2. Wer bei den ersten Tänzen raucht, den Rock auszieht (!) oder die Kopfbedeckung nicht abnimmt, zahlt zwanzig Pfennige Strafe.

§ 5. Wer seine Bierjungfer nicht gehörig zu Tanz führt oder nicht dafür sorgt, daß selbige immer tanzt, hat Strafe bis zu einer Mark zu zahlen.

§ 7. Wer die Bierdame eines andern verführt und seine eigene vernachlässigt, hat Todesstrafe, im Wiederholungsfalle noch schärfere Maßregeln zu erwarten. Wenn eine Bierdame einen andern Herrn verführt, trifft sie gleiche Strafe usw.

„Macht euch denn alle recht viel Vergnügen, Doch seht zu, daß ihr hernach nicht braucht zu wiegen, Denn auf einen Tropfen Freudigkeit Folgt oft ein Meer voll Herzeleid. Frisch, Musikanten, laßt die Instrumente erklingen, So wollen wir alle lustig tanzen und springen, Denn wo schöne Mädchen im Tanze sich dreh’n, Das werden die Zuschauer alle gern seh’n. Es lebe die Gesellschaft!“

Die Klarinette quiekt auf, Horn und Brummbaß begleiten, und der Trommelschläger rührt sich, denn die Schaffer eröffnen den Tanz, und kein Fremder hat zunächst das Recht, mitzutanzen. Das allgemei- ne Tanzen beginnt erst, nachdem die erste Pause eingetreten ist und die Musikanten von den Schaf- fermädchen mit Kaffee und Kuchen bewirtet sind.

Sämtliche Zuschauer bekommen freies Braunbier, das in irdenen Krügen herumgereicht wird. Wäh- rend die „Alten“ beim Schoppen politisieren, sitzen die Mütter an den Seiten des Zeltes und „machen Kalender“ über die einzelnen Paare. Diese aber drehen sich, unbekümmert um Staub und Hitze, mit einer Ausdauer und einem Eifer, als winke ihnen ein großer Preis. Und ist denn solches nicht auch der Fall? Freilich nicht in klingender Münze wird er ausgezahlt; aber die getöteten, freudigen Gesichter, die glänzenden Augen der Jugend verkünden und verheißen einander Freude und Wonne. Manches, was man nicht sagen kann, spricht sich in den seltsamerweise mehr wehmütigen als fröhlichen Liedern aus, die in den Tanzpausen in machtvollen Chören über den Saal schallen.

Um die Zeit des „Abendwerks“ tritt Pause ein. Jedes „Biermädchen“ nimmt seinen „Bierknecht“ mit nach Hause zum Abendessen. Das muß so sein. Die Musikanten werden wieder von den Schafferinnen bewirtet. Um Mitternacht wird das „Nachtstück“ eingenommen, das den Herren der Schöpfung von den Tänzerinnen nach dem Tanzboden gebracht werden muß. Darauf setzt der Tanz aufs neue ein, der ohne Unterbrechung bis zum frühen Morgen dauert, denn „ordentliche Leute gehen bei Tage nach Hause“.

Der dritte Pfingsttag verläuft in ähnlicher Weise. Vormittags sorgt jedoch zunächst die Jugend dafür, daß die übernächtigten bleichen Gesichter ihren rosigen Schein wiedergewinnen; es beginnt eine Art Dorf-Karneval. Unter den übermütigen Weisen der Musik tanzt die ausgelassene Gesellschaft von Haus zu Haus; ein wunderlicher Zug. Ein Gespann bewegt ein schnell rotierendes Wagenrad, auf dem sich zwei lebendige Strohmänner festgeklammert haben. Ritter hoch zu – Ochsen folgen, und ein Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 82

Schaf mit herrlichster Turnüre und Nachtmütze reiht sich würdevoll dem Ganzen an. Hei, wie flott scheint da Großmütterlein wieder tanzen zu können, wie neckisch flattern die bunten Bänder von Ur- großmutters Haube um das Antlitz einer jungen Dirne! Dem fröhlichen Zuge öffnen sich gern Türen und Hände. Überall wird die Narrheit reichlich beschenkt mit Eßwaren aller Art, und in lustiger Un- ordnung hängen Würste, groß und klein, neben Brot und Schinken an einem Stocke – wandern doch alle nachher einen Weg zum Munde1). So in dem Dorfe Dinkelhausen.

Mit diesen Unterbrechungen rauscht endlich der Strom des Vergnügens seinem Ende entgegen. Figaro und Tempête, ja selbst der Küssetanz haben ihre gewohnte Zugkraft verloren. Trübe Augen, träge Beine, die vielfach dem schwachgewordenen Körper nicht mehr den rechten Unterstützungspunkt zu geben wissen, verkünden den nahenden Schluß. Noch einmal fachen die Musikanten ihre erlöschenden Lebensgeister mit einem „Trompetertrunk“ an, und die übermütige Melodie ertönt: „Die besten Mäd- chen sind nach Haus!“ Welches Mädchen aber wollte sich das sagen lassen? Noch einen mißmutigen Blick werfen die Tanzeifrigsten auf die Beherrscher des Reichs der Töne, die soeben von ihrem Thro- ne herabsteigen, dann leert sich der Schauplatz.

Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen, am Firmament funkeln die schweigenden Sterne. Plötzlich aber wird die Ruhe des Dörfchens wieder gestört, denn die Macht des Geldes hat noch einmal den Zauber der Töne gelöst. Durch die reine Morgenluft klingt leise das alte innige Lied: „Ännchen von Tharau ist’s, die mir gefällt!“ Da wird’s wieder lebendig drunten im Hause, weiße Gestalten erschei- nen, und die draußen Harrenden werden eingeladen, einen Morgenimbiß zu nehmen. Endlich, nach- dem der letzte Winkel des Magens geschlossen ist und die Müdigkeit den Sieg über die liebestrahlen- den Augen davonzutragen droht, wankt auch der letzte heimwärts zur süßen Ruhe. Noch lange aber hört er im Traume zum Tanze aufspielen, und er wundert sich am andern Morgen nicht wenig, daß sein Kopf so musikalisch geworden, ist es ihm doch gerade so, als würde der „Brummbaß“ in ihm gestrichen.

So verlief ein Pfingstbier im Solling, als wir noch ein reiches und freies deutsches Volk waren2). Ob es heute und in Zukunft noch so gefeiert werden mag?

1) In Schoningen bei Uslar wurden am zweiten Morgen des Pfingstbieres alle jungen Mädchen und Burschen, die das Pfingstbier zum ersten Male mitfeierten, rasiert, wofür jeder fünfzig Pfennige zu zahlen hatte, die man in entsprechende Getränke umsetzte. Die Rasierstube wurde meistens im Damenzelt angelegt. Dort stand als Schaumbecken ein mit Braunbier halbgefüllter Bierhumpen mit einem kleinen Birkenreiserbesen als Schaum- schläger. Als Barbier trat ein mit möglichst viel Mutterwitz begabter Spaßmacher aus der Reihe der Burschen auf, bewaffnet mit einem hölzernen Messer, über dem Arm ein Tischlaken als Serviette. Ein paar Gehilfen stan- den ihm zur Seite, mit Besen und Schaufel ausgerüstet, um den abgestrichenen Seifenschaum, der jedoch lauter Bierschaum war, zusammenzufegen und in eine alte Köze (Kiepe) zu werfen. Je widerspenstiger die zu Rasie- renden sich anstellten, desto tüchtiger wurden sie eingeseift und rasiert und desto üppiger entfaltete sich natür- lich der Ulk. Zur Vesperzeit war große freie öffentliche Tafel, zu der Einheimische und Fremde, Große und Kleine geladen waren. Ein Kommunist konnte an eine Verwirklichung seiner Träume glauben. Die am Morgen gesammelten Eßwaren wurden zerschnitten dargeboten, und damit auch die durstigen Kehlen nicht vertrockne- ten, wurden tüchtige Humpen mit Braunbier herumgereicht. Ein Gleiches geschah noch einmal um Mitternacht.

2) Das Pfingstbier ist hier genau so beschrieben, wie es anfangs der achtziger Jahre in Dinkelhausen abgehalten wurde. Ich verfolgte damals auch den Plan, der deutschen Sage einen Weg in die Volksschule zu bahnen, ge- wann in dem gleichaltrigen Kollegen Fritz Kassebeer in Dinkelhausen einen verständnisvollen Mitarbeiter, und wir gaben zusammen (in dem pädagogischen Verlage von J. Bacmeister in Bernburg) eine der Volksschule an- gepaßte Auswahl „Deutscher Sagenschatz“ heraus, dessen neuere, erweiterte Ausgaben nach meinem Vorschlag von Rektor August Tecklenburg besorgt wurden. Kassebeer war ein heller, kluger Kopf und kannte sein Dorf Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 83

3. „Packebier“ oder „Nädigebier“. Am Sollinger Pfingstbier unterscheidet man zwei Arten: „Packebier“ oder „Nädigebier“. Beim Packe- bier dürfen sich alle Mädchen einstellen – soweit sich eine nicht anrüchig gemacht hat –; beim Nädi- gebier dürfen dagegen nur die Mädchen kommen, die von den Schaffern ausdrücklich geladen sind, was gewöhnlich schon vier Wochen vor dem Feste oder noch früher geschieht.

Beim Packebier versammeln sich die Mädchen aus einem bestimmten Platze am Ende des Dorfes, und die Burschen holen sie von dort mit1) Musik ab. Aber ehe es durchs Dorf geht, müssen die Paare zu- sammengebracht werden. Die Musikanten spielen ein Stück, worauf der erste Schaffer ruft: „Mekens, kreuiget jöck jöue Bierhärn!“ Und schon rasen die Mädchen los. Wen sie greifen, der ist für zwei Tage – da hilft kein „Herzmuttern“ – an sie gekettet, und da muß dann wohl manchmal auch einer eine gute Miene zum bösen Spiel machen. Eifersucht und Nebenbuhlerschaft pfeffert die Freude, zerstört sie wohl auch manchmal ganz. So geschah es einmal, daß ein Mädchen, als es zu spät kam, ihre glückli- che Nebenbuhlerin aus Wut so in den Arm biß, das das rote Blut herabsickerte. Als das bissige Mäd- chen hernach einen strammen Mann heiratete, sagte man von diesem: „Dei hät seck awer ein epacket, da krigte noch mähr Slege von, as wat tefretene!“ „Un“ – so versicherte mein Gewährsmann – „hei hät all welke kregen, trotzdem dat hei’n starken Kiärl is.“

Es ist nicht an allen Orten überein. In Vahle packen immer nur die Burschen, und die Schaffer sind dafür verantwortlich, daß die geladenen Mädchen auch alle Burschen kriegen. Nun waren einmal meh- rere vom „Ausschuß“ übrig geblieben, und die zu spät gekommenen Burschen hatten sich flugs ver- krümelt und auf dem Heuboden versteckt. Die Schaffer aber hatten kein Einsehen und holten sie aus ihrem Versteck hervor. Da sagte der eine zu dem Mädchen, mit dem er so gewaltsam beglückt wurde: „Kumm her, döu Donnerwetter!“

Wenn alle Burschenecken ausgekehrt sind und doch noch ein Mädchen übriggeblieben ist, muß ein Bursch zwei nehmen, und ebenso umgekehrt.

„Packen“ die Mädchen die Burschen, wie es hier und da wieder Sitte ist, pflegen sie Sträuße von Myr- ten und Rosmarin mit roten Bändern, auch Lorbeerblätter auf die Brust des „Gepackten“ zu heften. An einigen Orten ist es üblich, daß die Burschen zu dem Strauß noch eine Weste oder ein halbseidenes Halstuch bekommen, die dann auf den Mücken geheftet werden.

Die ganze Pfingstbier-Mädchenfreude strahlt uns aus folgendem kleinen Geschichtchen entgegen, das ich in den Dörfern bei Uslar erzählen hörte: Försters Magd kommt vom Biere und ruft ganz aufgeregt: „Fru Förstern, eck häau säau wat Schänes!“ Förstersfrau: „Na, was haste denn?“ – „Ja, raen Se mal!“ – „Haste ’n Hühnernest gefunden?“ – „Nä, vele wat Hübscheres!“ – „Na, was denn?“ – „Eck häau Seui- brechts Liudchen als Bierhärn!“ –

Wie man sich denken kann, ist Ludwig Siebrecht hernach mit dieser Geschichte noch weidlich geneckt worden; ja, noch heute, obwohl er inzwischen ein schon bejahrter Mann geworden ist, ruft man ihm zu oder nach: „Frau Förstern, ich habe so was Schönes!“

Den umgekehrten Fall erlebte eine Großbauerntochter in Schoningen. Im ersten Anlauf durch eine Nebenbuhlerin von ihrem Liebsten abgedrängt, war sie so betroffen und verwirrt, daß sie ins Stocken

gründlich, wie denn auch diese Pfingstbierschilderung im wesentlichen auf Grund seiner Mitteilungen entstan- den ist. Leider nahm ihn dann die Stadt (Hildesheim) und wenige Jahre später der Tod hinweg.

1) Im Original-Buchtext steht an dieser Stelle „mt“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 84 kam und schließlich sehen mußte, wie schon alle Burschen vergriffen waren und nur noch Schapers Krischan dastand, der ärmste Holzarbeiter, schwerfällig wie ein Bär. Was sollte sie tun? Mißachtete sie die strenge Dorfsitte, so hatte sie den Burschen schwer beleidigt und mußte schließlich mit Spott und Schaden den Festplatz verlassen. Die Tränen perlten ihr über die Backen, als sie dann zu Krischan hintrat, ihm den Strauß überreichte und die Weste anheftete. Krischan grinste wie ein Honigkuchen- pferd, und die anderen lachten dazu.

4. Das Sträußelbier. In Schönhagen wird das Pfingstbier zum „Sträußelbier“, weil dort neben den Bierwesten noch die Sträuße ein besonderes Ansehen genießen. Weste und Sträuße sind den Bierknechten von den Bier- jungfern zu liefern. Die Westen wurden schon wochenlang vor dem Feste in Uslar gekauft, und da entwickelte sich dann im Laufe der Zeit die Sitte derartig, daß das eine Mädchen eine noch schönere Weste haben wollte als das andere. Erfuhr es also nach dem Einkauf, daß die Nachbarin, vielleicht auch die Nebenbuhlerin, eine seidene Weste hatte, ging sein Trachten ebenfalls nach einer solchen, und es tauschte die geringere Weste manchmal noch im letzten Augenblicke gegen eine seidene um. Man zählte aber in Schönhagen viele Jahre hindurch erheblich mehr Burschen als Mädchen, bei einem Feste z. B. 111 gegen 65; deshalb entfielen auf die meisten Bierjungfern je zwei Knechte. Aus diesem Grunde einigte man sich vernünftigerweise dahin, daß die Westen gemeinsam angeschafft wurden, und zwar ohne Wertunterschiede. Soviel Knechte, soviel Westen.

Die Sträuße bestanden aus Zweigen von Rosmarin, Myrte, auch aus Lorbeer, waren mit künstlichen Blumen durchflochten und mit Schleifen aus Band geziert. Die Blumen bedeuteten Kostbarkeiten, die durchweg mit einem halben Taler, also mit dem Gelde für zwei Pfund Butter erstanden waren. Solche Sträuße wurden wegen der Überzahl der Knechte ebenfalls gemeinsam beschafft und von den Schaffe- rinnen auf die Mädchen so verteilt, daß jeder Bursch einen Strauß bekam. Am Abend des ersten Pfingstbiertages wurden die Sträuße den Mädchen zurückgegeben und von ihnen am andern Tage wieder mit frischem Grün (Rosmarin u. a.) geschmückt. Ganz wohlhabende Mädchen pflegten aber den Strauß nicht wieder zurückzunehmen, sondern gaben einen neuen mit Schleife und Band.

Bei dem Straußanheften kam’s mitunter auch wohl einmal zu einem Konflikt. So hatte ein armes Mädchen, die Großtochter des Gänsehirten, die auf einem Bauernhofe diente, übrigens allgemein wohlgelitten war, ihr Auge auf einen etwas eingebildeten Bauernburschen geworfen und ihm einen Strauß angeheftet. Das ging ihm aber wider den Strich, und als er sah, daß ein anderes Mädchen aus besseren Verhältnissen mit ihrem Strauß auf ihn zukam, riß er den ersten ab und steckte ihn in die Tasche. Hätte das andere Mädchen gewußt, daß er schon einen Strauß hatte, würde es ihm keinen mehr gegeben haben. Als das sittenwidrige Verhalten des hochmütigen Burschen ruchbar wurde, muß- te er 30 Mark Strafe zahlen und den Festplatz verlassen.

Jedes Mädchen geht in Schönhagen mit jedem Burschen, sobald er nur unbescholten ist, und umge- kehrt; es dürfen übrigens auch nur solche Knechte und Mädchen an dem Feste teilnehmen, die durch ihren Lebenswandel keinen Anstoß erregt haben. (In modernisierteren Orten, wie z. B. Lauenförde, ist es insofern schon anders, als da kein Mädchen mit einem Burschen unter ihrem Stande geht.)

In den gegenseitigen Verpflichtungen liegt es, daß jedes Mädchen seinem oder seinen Burschen – denn meistens sind’s zwei – das Abendbrot zu geben hat. Dafür hatte früher der Bierknecht zu be- stimmter Zeit bei seinem Biermädchen anzutreten und ihm die Schuhe zu putzen.

Jeder Bierknecht hat mit dem Mädchen, von dem er den Strauß erhielt, den Ehrentanz zu tun. Der erste Tanz ist für die Schaffer und ihre Straußmädchen, der zweite für die Schaffer mit den Schafferinnen. Es tanzen also in den ersten zwei Tänzen immer nur zwei Paare. Bei diesen Ehrentänzen werden die Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 85 beiden Paare von der Biergesellschaft umständlich bewirtet. Aber während die Bewirtung am ersten Tage einen feierlichen Charakter hat, artet sie am zweiten in einen derben Uli aus: Heringssalat, Bra- tenstücke, Würste, Schinken, kurz alles, was an Eßwaren aufzutreiben ist, wird vor ihnen ausgestapelt, und dann werden große Gabeln gebracht, auf denen den beiden Paaren die großen Stücke zum Anbei- ßen vorgehalten werden. Kredenzt wird Wein, Bier und auch Wasser, das trügerisch wie Wein auf Flaschen gezogen ist. Beim Einschenken wird das Spiel dann so gehandhabt, daß die beiden Paare das Wasser bekommen, während die gastgebenden Bierknechte den Wein trinken. (Um auch den äußer- sten Bedürfnissen entgegenzukommen, wird sogar das Nachttöpfchen herbeigeholt und zur Verfügung gestellt.) Wer zum ersten Male am Feste teilnahm, mußte, ob Mädel oder Junge, 25 Pfg. Hänselgeld entrichten.

* * *

Das Sträußelbier wechselt ab mit dem Schützenfeste, das jedoch, weil es erheblich größeren Aufwand erfordert, weit seltener gefeiert wird als jenes. Wenn nun früher an den Schützenfesten in Schönhagen „ausmarschiert“ wurde, trugen die Mädchen Myrtenkränze, was „sehr hübsch und fein“ aussah. In neuerer Zeit fingen indes einzelne an, sich Schleifen auf das Haarnest zu machen, wogegen Schmieds- konrad so energisch auftrat, daß sie dann doch wieder zu der alten Sitte zurückkehrten. Auch in Bo- denfelde, dem Flecken an der Weser, waren früher die Myrtenkränze üblich; jetzt lachen sie dort darü- ber. Kommen die Bodenfelder aber gelegentlich eines Schützenfestes nach Schönhagen und sehen wieder die Myrtenkränze, freuen sie sich doch, wie mir versichert wurde.

Ein kriegerisches Dorffest. Charakteristisch für den freudigen militärischen Geist und Sinn, wie er bis dahin in unserer Landbe- völkerung lebte, erscheinen mir jene großen kriegerischen Dorffeste, die man in den Gegenden mit starkem ursprünglichen Volkstum, im Sollinge z. B. vor allem in Bodenfelde, Schönhagen und Fre- delsloh, bis in das letzte Jahrzehnt vor dem Kriege von Zeit zu Zeit zu veranstalten pflegte. Wenn es nun nach der verhängnisvollen Auflösung unserer Armee und unserer Wehrmacht mit diesem freudi- gen militärischen Geiste und Sinn unseres Landvolkes für immer vorbei sein sollte, was ich übrigens gar nicht glaube, so sollte dann doch wenigstens eine starke Erinnerung an jene kriegerischen Dorffe- ste für unsere Enkel erhalten bleiben.

In der Fredelsloher1) Gemeindeforst, dem Hainberge, war – im Mai 1911 – Holz verkauft worden, die ganze Gemeinde, die etwa 1200 Seelen zählt, war vertreten, und es ging ein freudiger Geist durch die Menge.

Nach der Auktion lagerte man sich, wie man’s bei gemeinsamen Veranstaltungen schon manchmal getan hatte, im Sonnenschein auf der Erde. Man legte zusammen, ein Faß Bier wurde beschafft und in größter Einmütigkeit ausgetrunken.

Da stand ein wackerer Zimmermeister auf und fing an, ob man nicht mal wieder „Schüttenhoff“ feiern wolle? Wüßten doch die jungen Leute kaum, was so ein altes Fest von jeher zu bedeuten gehabt hätte, denn der letzte “Schüttenhofs“ wäre 1884 veranstaltet worden. Seither habe man wohl allerlei Musik und Tanz gehabt, das wären aber meistens Vereinsfestlichkeiten gewesen, zu denen immer nur ein

1) Das Dorf Fredelsloh zählte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch 1400 Einwohner, ging aber im Laufe der letzten Jahrzehnte auf 1200 herab. Wegen seines alten Töpfergewerbes, das heute bis auf einen ganz gerin- gen Rest zugrunde gegangen ist, wird das Dorf im Volksmunde scherzweise „Potsdam“ genannt. („Pott“ = Topf.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 86 abgesonderter Teil der Gemeinde gehörte. Der „Schüttenhoff“ dagegen sei ein Fest, das die ganze Gemeinde umschließe, das Dorf bis zum letzten Häuschen mit seiner Freude erfülle.

So etwa hatte der Zimmermeister von Fredelsloh gesprochen und wahrhaftig, unter den sonst doch reichlich bedächtigen und langsamen Leuten helle Begeisterung geweckt die sich in lebhafter Zustim- mung äußerte und zu rascher Tat drängte. Ja, auf der Stelle traten die gedienten Soldaten in Reih und Glied, einer übernahm das Kommando, und schon exerzierte man auch, und es klappte wie auf dem Kasernenhofe. Strahlend sahen die Alten zu, und wer Soldat gewesen war, dem zuckte es in allen Gliedern. Schließlich stellten sie sich mit in Reih und Glied, und in soldatischem Marsche zogen die alten und jungen Männer miteinander in das Dorf hinab, singend: „Ich hatt’ einen Kameraden“, „O du Deutschland, ich muß marschieren“ und zuletzt „Deutschland, Deutschland über alles“. Schmied Horstmann strauchelte und fiel, man marschierte aber stramm über ihn hinweg, denn es hieß: „Wat fällt, dat fällt!“

Der Zug endete bei der Groteschen Wirtschaft, wo noch einer getrunken und verabredet wurde, zum nächsten Sonntagnachmittag eine Gemeindeversammlung auf dem Hainberge im Schützenzelte einzu- berufen.

Wer etwa denkt, Bier und Branntwein hätten diese gute Stimmung gemacht, den wird der weitere Ver- lauf der Beratungen und Vorbereitungen hoffentlich eines andern belehren. Bereits die Versammlung am nächsten Sonntag zeigte, wie ernst und nachhaltig die einmal gegebene Anregung und die ganze Auffassung der Sache war. Die Gemeindeversammlung auf dem Hainberge war vollzählig, und voll- zählig wurde denn auch beschlossen, den „Schüttenhoff“ in diesem Jahre unter allen Umständen abzu- halten. Als Anfangstag wählte man den 17. Juli. Beschlossen wurde aber auch, alle Vereinsfeste und Bälle, um unnötige Ausgaben zu vermeiden und die Einmütigkeit der Gemeinde im Hinblick auf den „Schüttenhoff“ nicht zu stören, für mindestens ein Jahr auszusetzen. Ein Beschluß, der ebenfalls in voller Einmütigkeit gefaßt wurde und Bedachtsamkeit, Einsicht und Einordnungssinn der Gemeinde im besten Lichte zeigte.

Schon der nächste Sonntag wurde dazu ausersehen, das Offizierkorps zu wählen. Angesehene Männer der Gemeinde, in erster Linie solche, die gedient hatten und das militärische Handwerk verstanden, gingen aus der gemeinsamen Wahl als Offiziere hervor. Es gab da natürlich Offiziere aller Grade, vom Leutnant bis zum General; sogar einen Generalfeldmarschall gab es, wie auch der Titel Exzellenz, den diese Herren im Dienste führten, sehr ernst genommen wurde.

Bei der Wahl der Offiziere wurde natürlich in erster Linie auf die entsprechenden körperlichen und gesellschaftlichen Eigenschaften gesehen; daneben kam in Betracht, ob sie es wohl auch machen konnten, denn die Offiziere hatten die Hauptkosten zu tragen, so daß z. B. auf den Generaloberst 25 Mark entfielen. Die hohen Offiziere mußten aber auch über dies hinaus nobel auftreten, bei großen Ehrenbezeugungen, wie der Wachestellung, mal ein Faß Bier hergeben, und was dergleichen mehr war.

Nach der Wahl des Offizierkorps wurde sofort zur Bildung der Kompagnien geschritten, die durch- schnittlich 40 Mann zählten. Alt und jung meldete sich dazu, selbstverständlich das Militär voran. Da konnte man den alten Landsturmmännern ordentlich die Freude und Genugtuung ansehen, wie es nun wieder galt, das Gewehr zu schultern und den Frauen und Mädchen zu zeigen, was für ein strammer Kerl man war.

Aber auch die nichtgedienten Leute meldeten sich zum Dienst und wurden aufgenommen, mit den Gedienten gedrillt und einexerziert wie auf dem Kasernenhofe. Selbst Männer von sechzig Jahren, die nicht gedient hatten, taten noch mit und ließen sich nichts verdrießen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 87

An jedem Wochentage begannen um 8 Uhr abends die Übungen, und da gab’s wahrhaftig kein Kin- derspiel, mit der größten Strammheit wurde geübt, und vor 10 Uhr war kein Ende. Trotzdem gehörte es zu den Seltenheiten, wenn einer fehlte.

An den folgenden Sonntagen wurden gemeinschaftliche Felddienstübungen abgehalten, wobei sich das ganze Korps zum erstenmal unter seinem Generalfeldmarschall zusammenfand. Diese Übungen mit Trommeln, Pfeifen und Hörnern dehnten sich gewöhnlich bis gegen die Nachbarorte Espol, Nien- hagen, Oldenrode, Lutterbeck und Lauenberg aus, die schon einen Vorgeschmack davon bekamen, was ihrer wartete. Denn eines Tages wurde ihnen mit derselben Skrupellosigkeit, mit der Franzosen, Engländer und Russen den Weltkrieg anzettelten, der Heimatkrieg erklärt. In einer außerordentlichen Sitzung des Generalstabes war die Kriegserklärung sorgfältig beraten und festgesetzt, und durch berit- tene Adjutanten wurde den genannten Dörfern die Kriegserklärung acht Tage vor Beginn des Festes überbracht. Sie hatte folgenden Wortlaut:

Da es nicht möglich war, auf friedlichem Wege die Gemeinde zum Besuche unseres Schützenhofes zu überzeugen, so erklären wir hierdurch den Krieg und werden mit den Feindseligkeiten am nächsten Sonntage beginnen.

Die Nachbargemeinden nahmen die Erklärung so auf, wie sie gemeint war, und begannen sofort zu rüsten, um den Angriff abzuwehren. Sie bildeten Truppenteile, wählten Führer und errichteten Barri- kaden auf dem Wege, den die Fredelsloher kommen mußten, verfehlten natürlich auch nicht, an dem Tage des Kriegsanfanges Vorposten auszustellen und gut gerüstet den Feind zu erwarten.

Nach dem Gottesdienste, an dem möglichst alle Korps vollzählig teilnahmen, wurden alsbald von Fre- delsloh aus die Feindseligkeiten eröffnet, indem man gegen die Nachbargemeinden vorrückte, die Barrikaden stürmte und alles niederwarf, was im Wege stand. Da die Nachbargemeinden alle kleiner sind als Fredelsloh und eine nach der anderen angegriffen wurde, so daß sie nicht zusammenstehen konnten, endete der Angriff gewöhnlich mit der Niederlage der angegriffenen Gemeinde. Sie wurde in ihr eigenes Dorf als Gefangene abgeführt und mußte als Kriegsentschädigung ein gehöriges Faß Bier auflegen. Der Friedensschluß erfolgte in höchster Eintracht und fröhlichster Stimmung und endete überall damit, daß die betreffende Gemeinde die Einladung zu dem Fredelsloher „Schüttenhowe“ in aller Förmlichkeit annahm.

Verschwiegen kann freilich nicht bleiben, daß es bei dem forschen Draufgehen der Fredelsloher auch mal zu einem etwas kritischen Zwischenspiel kam, indem z. B. bei der Erstürmung der Lauenberger Barrikade einzelne Fredelsloher im Eifer des Gefechts mit blanker Waffe auf die Lauenberger einhau- ten. Die Lauenberger, die auch keine schlaffe Faust haben, hauten wieder und wollten sich durchaus nicht für besiegt erklären. Da hatte denn der Generalstab alle diplomatische Kunst aufzuwenden – denn die Politik wurde hier nicht vom Reichskanzler gemacht –, um zwischen den Kämpfenden wie- der ein harmonisches Verhältnis herzustellen. Und da die Diplomaten nicht aus dem Auswärtigen Amt kamen, so nahm auch dort alles einen guten Ausgang. Die Fredelsloher marschierten in Lauenberg ein, wurden feierlich empfangen, und der Friedensschluß erfolgte in der gleichen Weise wie bei den ande- ren Dörfern.

Der „Schüttenhoff“ selbst begann am Donnerstag und dauerte bis zum Dienstag der nächstfolgenden Woche. Zu den Fredelsloher Trommlern, Pfeifern und Hornisten, die alle bisherigen Übungen beglei- tet hatten, gesellte sich noch ein großes Musikkorps aus Einbeck, das die eigentliche Festmusik zu machen, vor allem die Militärmärsche für den Festzug durch die Hauptstraßen des großen Dorfes zur vollen Wirkung zu bringen hatte. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 88

Schon um 5 Uhr morgens – denn früh sind die Fredelsloher nicht nur zur Arbeit, sondern auch zum Feste – wurde das Wecken geblasen und nachdrücklich getrommelt. Die Wache zog auf vor dem Ge- neral und vor den Fahnen. Alle Fahnen kamen heraus, auch die alten zerschlissenen und zerrissenen, die schon von vorigen Jahrhunderten erzählten. Aufbewahrt waren die Fahnen bei den Garnisonälte- sten, an deren Spitze ein frischer Achtzigjähriger stand.

Um 1 Uhr begann an der Waldecke des Dorfes der Aufmarsch: Der Adjutant galoppierte zu dem Obersten, der an dem Tage das Kommando führte; dieser machte dem Generalfeldmarschall Meldung, und unter den schmetternden, rauschenden Klängen der Musik und den gewaltigsten Trommelschlä- gen setzte sich der Zug in Bewegung: Hinter dem Musikkorps die Fahnen und Schützenscheiben, dann die hohen Generale mit Generalstab und anderen Stäben, die sich vorher bei dem Generalfeldmar- schall (dem Oberamtmann) versammelt hatten, von da nach dem Sammelplatze zogen und unter dem Präsentiermarsch die Front abritten, während die Truppen präsentierten. Alle hohen Offiziere waren beritten, desgleichen die Adjutanten. Dazu kam eine Kavallerieabteilung, an die sich die Artillerie mit zwei schweren Geschützen anschloß, die mit je sechs Füchsen bespannt waren. Alle Militärgattungen sah man da. Grundstock und Hauptmasse aber war die Infanterie, die sich kompagnieweise anschloß.

Auch die gesamte Schuljugend, die ebenfalls in mehrere Kompagnien geteilt war und besondere Offi- ziere hatte, gliederte sich dem Zuge ein; ebenso die Frauen und Mädchen, die „Damen der Offiziere“. Selbst die älteren Frauen gingen noch mit, aber für sich allein, wie auch die jungen Mädchen, 130 an der Zahl, wieder eine Gruppe für sich bildeten.

Und da auch von allen ferneren Nachbarorten, von Moringen und selbst von Einbeck viel Volks her- zuströmte und den Festzug begleitete, so kann man sich vorstellen, wie großartig solch ein dörflicher Festzug aussah.

Durch alle Hauptstraßen des Dorfes ging der Festzug, um schließlich auf dem Hainberge, dem eigent- lichen Festplatze, zu enden. Das Militär sonderte sich und trat zur Parade an, die vom Generalfeldmar- schall abgenommen wurde. Daß dabei alles klappte, braucht nach alledem wohl nicht erst versichert zu werden. Die zweite feierliche Handlung auf dem Hainberge war die Festrede des Ortspastors, an die sich als dritte besondere Feierlichkeit die Überreichung der von den Mädchen gestifteten Junggesel- lenfahne schloß. Ein Mädchen sprach dazu den folgenden, von Lehrer August Ohle gedichteten Fest- spruch:

Wenn vor Zeiten unsre Ahnen Zogen aus zum ernsten Streit, Wurden Schwerter, Speere, Fahnen Hier im heil’gen Hain geweiht.

Heut, zum heitern Teil des Krieges, Junggesellen, hochverehrt, Sei in Hoffnung Eures Sieges Diese Fahne euch verehrt.

Schützet sie vor Schmach und Schande, Haltet fest am alten Brauch, Bleibet treu dem Vaterlande Und der teuern Heimat auch. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 89

Parademarsch, Festrede, Überreichung der Junggesellenfahne, das waren so die drei Höhepunkte des ernst-feierlichen Festteiles. Hierauf wurde „Weggetreten!“ kommandiert, die Wachen zogen auf, und der heitere Teil mit Tanz und tausend Luftigkeiten trat in sein Recht.

Wie sich jeder selbst sagen wird, mußte es bei einer solchen Menge von feiernden Menschen auch mancherlei für Arzte und Sanitätsmannschaften zu tun geben. Arzte und Sanitäter waren denn auch reichlich vorhanden, denn führt der Deutsche Krieg, so ist für alles gesorgt und fehlt eben nichts. Blie- ben aber die erwarteten Krankheiten und Unfälle aus, wie es in der Regel der Fall war, so wurden sie einfach wie der Stickstoff aus der Luft gegriffen. War da z. B. ein Einbecker, der nach reichlichem Essen und Trinken über eine Magenverstimmung klagte. Die ärztliche Verordnung lautete: Jeden Morgen einen halben. Ziegelstein, fein gemahlen und mit etwas Branntwein angerührt, alle halbe Stunde einen Eßlöffel voll. Da er zugleich herzkrank zu sein vorgab, wurde er mit einem langen und noch länger auseinandergezogenen Fernrohre gründlich untersucht, dann auch noch durchröntgt, wor- auf der Sanitätsrat ihm ein schönes junges Mädchen zur Kur empfahl.

Für die schaulustige und immer auf Abwechslung begierige Menge wurde auch sonst nach Möglich- keit gesorgt, daß sie auf ihre Kosten kam. (Nota bene mußten die Auswärtigen für die Zulassung auf den Festplatz 20 Pfennig bezahlen.) Einen großen Spaß hatte man vor allem an den Kriegsartikeln, die jeden Tag nach dem Parademarsche aufs neue vorgelesen und eingeschärft wurden.

Wer gegen die Kriegsartikel verstieß, hatte Strafen in allen Abstufungen zu gewärtigen. Aber je größer die Strafen, desto größer auch wieder der Anreiz, so oder so gegen die Kriegsartikel zu verstoßen. Als eines der schwersten Verbrechen galt das Fahnenstehlen. Hatten einmal die Fahnenposten nicht recht aufgepaßt, heidi, weg war die Fahne, und der Räuber flüchtete mit ihr ins Weite. Sofort wurde Alarm geblasen, die Musikanten brachen ab, und das ganze Volk wirbelte nach der Alarmstelle. In rasender Schnelle traten die Mannschaften unter Gewehr und stoben wie der Wind, gefolgt von der Menge der Festgenossen, in der Richtung hinaus, wo man den Fahnendieb vermutete. Fahnenjagden gab es da, die sich manchmal über die ganze Feldmark ausdehnten. Kam der Ausreißer endlich in Sicht, so wur- de er heftig mit Artillerie beschossen. Zwei schwere Geschütze, jedes mit sechs Füchsen bespannt, folgten nämlich immer der Kavallerieabteilung, der die Einholung des Verbrechers oblag. Hatte man ihn endlich erwischt, so gab’s keinen Pardon; er wurde gebunden und an einen Baum gestellt. Die Artillerie fuhr auf und schoß auf ihn wie auf ein Festungsfort. Oft waren verschiedene Salven nötig, bis der Kerl umfiel. Und wie das bummberte! Viel schlimmer könne es bei Lüttich auch nicht gewesen sein, meinte einer, Hals neulich wieder einmal die Rede darauf kam. Freilich hätte man die Festungs- werke bei Lüttich mit den Fredelsloher Kanonen wohl nicht umwerfen können. Man hatte nämlich große Schornsteinrohre auf Wagen montiert und in die Rohre mit Pulver mächtig geladene Gewehre gesteckt, so daß die Schüsse aus den langen Schornsteinrohren mit ungeheurem Knall herauskamen. Diese trügerischen Geschütze waren jedoch so geschickt verdeckt, daß alle, die nicht zu den Einge- weihten zählten, glauben mußten, es wären wirkliche Kanonen.

Solche Artillerieschüsse donnerten auch über das Dorf, wenn am Abend mit Zapfenstreich und Parole- ausgabe sozusagen der offizielle Teil des Festes abgeschlossen war. Der zweite Tag verlief wie der erste; am dritten, dem Sonnabend, fand allgemeines Scheibenschießen statt. Es waren zwei Scheiben aufgestellt: eine für die älteren Männer, die andere für die Junggesellen. Der Ehrenpreis für die älteren Männer bestand in dem „Kleinod“, einer silbernen Kette, die so viel silberne Schilder hat, als Schüt- zenhöfe von jeher in Fredelsloh gefeiert wurden. Das Kleinod konnte also nur einer der Alten bekom- men, der dann ein neues Schild zu stiften hatte, das er vom Goldarbeiter in Einbeck verfertigen ließ. Sonst gab’s für den besten Schuß früher einen Eichenblock aus dem Gemeindewalde; in neuerer Zeit, nachdem ein guter Teil des Gemeindewaldes in Ackerland umgewandelt war, an Stelle des Eichen- blockes eine silberne Uhr mit Widmung. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 90

Herolde zu Pferde, von einem Hornisten zu Pferde begleitet, riefen die neuen Schützenkönige aus und luden in ihren Namen zur Königsfeier ein, etwa so: Die neuen Könige lassen sämtliche Schützen, Frauen, Jungfrauen und Kinder auf den Hainberg entbieten, um die Huldigungen und Ehren entgegen- zunehmen, die dem Könige zukommen.

Alles, was Beine hatte, sammelte sich darauf um die alten und neuen Könige, eine gewaltige Anspra- che wurde gehalten, das „Kleinod“ dem neuen Könige der Alten umgehängt und von allen Musikanten der Tusch geblasen. Nun trat ein alter Brauch in sein Recht, auf den schon alles sich besonders freute: der Tanz auf dem grünen Nasen. Der alte König hatte mit sämtlichen Frauen, der junge mit sämtlichen Jungfrauen zu tanzen, so daß auf jeden mindestens hundert Extratouren kamen. Möchten die Könige auch nur jedesmal ein paar Sprünge machen, so war dieser Ehrentanz doch namentlich für einen steif- beinigen alten Knaben, wie man begreifen wird, keine Kleinigkeit. Ich habe aber nicht gehört, daß irgend einmal einem der Atem ausgegangen wäre oder die Beine versagt hätten. „Wat fällt, dat fällt“, und was sein muß, das muß eben sein, denn das ist nun eben der Krieg. Selbstverständlich mußten die Schützenkönige bei dieser Ehrenbezeugung ihr Volk auch nach Kräften bewirten, womit dieser Tag überhaupt abschloß.

Am Sonntage wurde alles so wiederholt wie am ersten Tage; nur daß die alten Schützenkönige wieder unter das gewöhnliche Volk zurückgetreten waren und die neuen mit umgehängten Eichenkränzen sich ihrem Volke zeigten.

Der Montag wurde noch ebenso gefeiert wie der Sonntag. Am Dienstag mußten sich die jungen Frau- en, die seit dem letzten Schützenhofe Hochzeit gehalten hatten, durch je eine Flasche Wein in die Frauengemeinschaft einkaufen. Da der letzte Schützenhof, wie erwähnt, im Jahre 1884 gefeiert war, so kam da schon eine recht stattliche Anzahl Flaschen zusammen. Da ist es naheliegend, und man braucht sich nicht gleich sittlich zu entrüsten, wenn bei dieser Gelegenheit mal eine Frau zu lustig wurde. Man sorgte schon dafür, daß die Grenzen der Schicklichkeit nicht überschritten wurden. Betrunkenheit wurde sehr schwer geahndet, in besonderen Fällen sogar mit Ausstoßung aus der Festgesellschaft.

Am ersten Sonntage nach dem Feste war Abrechnung mit Nachfeier, und da das Ergebnis der Abrech- nung dank dem Massenbesuche von auswärts ein erklecklicher Überschuß war, so verlief die Nachfei- er in nicht minder fröhlicher Weise als einer der Festtage selbst. Der Überschuß wurde jedoch nur zu einem Teile für diese Nachfeier geopfert, der größere Betrag – und das ist ein besonders erfreulicher Zug – wurde zurückgelegt, um an dem Hainberge für das Gemeinwohl Obststämme anzupflanzen.

Alles in allem: Der ganze Charakter des Festes war nicht „spielerig“, sondern bei allem Überschwang und Übermut kernhaft, sinnvoll und bedeutsam. Es war ein Fest, in dem urwüchsige Volkskraft und gesunde Lebenslust nach seinem außergewöhnlichen heiteren Ausdruck strebten. Ein Fest tiefwur- zelnder militärischer Zucht, wurde dieser Schützenhof für die Gemeinde zugleich ein Mittelpunkt zur Sammlung und Einigkeit, eine Quelle der Einmütigkeit und Eintracht, eine Schule zur Ein- und Unter- ordnung, eine frohe Erhebung über die Alltäglichkeit. Solche Volksfeste sind die Blüte des Alltags, die der bloß rechnende Verstand nicht unterkriegen darf, wenn das ländliche Volkstum nicht verwel- ken und veröden soll.

Und nun? Mehr als 200 Fredelsloher, die einst dies fröhliche Fest mitfeierten, sind in den Weltkrieg hinausgezogen, und 52 von ihnen liegen da draußen auf den Schlachtfeldern begraben. „Wat fällt, dat fällt!“ Ach, wenn ihr Tod nur nicht so grausam unnütz gewesen wäre! Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 91

Schützenfest in Bodenfelde. Es sei das im Juli 1892 in Bodenfelde abgehaltene Schützenfest kurz geschildert. Ich habe ihm nur wenige Stunden beiwohnen können, aber in den „Sollinger Nachrichten“ (1892, Nr. 57) einen lebhaf- ten Bericht gefunden, den ich mir zunutze mache.

Drei volle Tage hat das Schützenfest gedauert, und die sonst so stillen Straßen unseres Fleckens, so schreibt der Berichterstatter aus Bodenfelde, hallen noch wider von dem Donner der Kanonen, von den Salven der Jäger und Garden!

Schon der Sonnabend gab unserm Orte ein militärisches Gepräge: das Trompeterkorps der Kasseler Husaren schmetterte abends einen Zapfenstreich durch die Straßen, wie er hier in den Vorjahren wohl noch nicht gehört worden ist. Der Sonntag vollends schien plötzlich eine rechte und echte Garnison hervorgezaubert zu haben.

Frühmorgens schon mahnte die Reveille Offiziere und Mannschaften an ihre Pflichten. Da putzte ein biederer Ackersmann seinen dicken Gaul zum schneidigsten Husarenpferde heraus, während ein ande- rer noch schnell einer „Unaussprechlichen“ die militärische Würde in Gestalt einer roten Biese verlieh. Inzwischen brachte jeder Eisenbahnzug Legionen von Menschen, von nah und fern eilten Bauer und Bürger herbei, dem militärischen Schauspiele zuzusehen.

Nach beendeter Nachmittagskirche versammelte der Generalissimus der Armee die „Herren Offiziere“ um sich zur Parole, und bald rückten Jäger, junge und alte Garde, Husaren und Pioniere unter klingen- dem Spiel nacheinander an, um die Befehle für den heutigen Schlachttag entgegenzunehmen. Seine Exzellenz schienen guter Laune zu sein, denn nicht nur die Herren Offiziere wurden mit Wein und Kuchen bewirtet, sondern auch Unteroffiziere und Gemeine mit Kuchen und „Schnabes“ durch die Frau Generalin höchsteigenhändig in freigiebiger Weise bedacht. Die Bewirtung wiederholte sich übrigens vor dem Hause eines jeden Offiziers (deren es gegen 40 gibt), und man wußte nicht, was man mehr bewundern sollte, den Mut der Krieger oder ihren guten Magen! –

Nachdem die Kriegsartikel durch den Korpsauditeur verlesen waren – bekanntlich werden die meisten militärischen Vergehen mit dem Tode bestraft! – und nach den üblichen Ehrenbezeugungen vor den Offizieren ging’s nunmehr „auf zur Schlacht“.– „Stillgestanden“, „richt euch“ – „das Gewehr über“, „rechts um – Bataillon Marsch!“ – und unter den Klängen des „Torgauer“ setzte sich der imposante Zug durch die Straßen des Orts zum Kriegsschauplatz in Bewegung. „Die Beine raus“, „die Köppe hoch!“ wetterten die besorgten Kompagniemütter. „Der Kerl lacht da im Gliede, Feldwebel, notieren Sie den Mann!“

Jetzt hören wir den Donner der Geschütze: die Marine merkt das Herannahen der feindlichen Streit- mächte und sendet ihnen als ersten Gruß eine volle Breitseite in die Flanken. Die Wirkung ist nicht zu verkennen; schnell entwickelt sich jetzt das Gefechtsbild. Die Jäger schlagen sich ans Weserufer zur befreundeten Marine, machen von hier aus zunächst kleine Vorstöße gegen die junge Garde und die Husaren, können aber in kleinen Trupps nicht standhalten und gehen daher bald in Bausch und Bogen zum Angriff über. Unter den Klängen der Musik führt sie ihr schneidiger Kommandeur „in den Kampf, in den sicheren Tod“. Abermals werden sie zurückgeworfen und müssen auf die Schiffe flüch- ten, denn die alte Garde, bewaffnet mit Musketen und Keulen, bricht jetzt aus einer Seitendeckung hervor, und ihr kann niemand standhalten. Husaren sprengen bis ans Schiff und hauen alles, was nicht geflüchtet ist, bis auf den letzten Mann erbarmungslos nieder.

Nun aber wendet sich das Blatt. Die Marine hat ihr vernichtendes Feuer auf Infanterie und Kavallerie fortgesetzt und deren Reihen von der Mitte des Stromes aus bald gelichtet. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 92

Unterstützt von den Salven der Jäger, wird das Feuer des Feindes bald zum Schweigen gebracht. Aber neue Gefahr naht. Wohlverschanzt liegt am anderen Weserufer eine zweite feindliche Abteilung. Doch einmal im Siegen, kennt der Jäger keine Hindernisse mehr. Kühn den Fluß durchwatend, dringt eine Jägerabteilung vor und haut nieder, was nicht gefangen genommen wird. Das feindliche Lager wird angezündet und im Triumph führt man die Gefangenen aufs Schiff. Jäger und Marine haben die Schlacht gewonnen!

„Die Garde stirbt – doch sie ergibt sich nicht.“ Bald entbrennt ein neues Gefecht. Nach mehreren ver- geblichen Vorstößen in der Nähe des Götzenhofes werden die Jäger nach heißem Kampfe von den Husaren in die Flucht geschlagen und verfolgt, bis sie zerstreut sind.

„Das Ganze halt!“ erschallt’s jetzt auf der ganzen Schlachtlinie, und nach kurzer Kritik geht’s zum Versöhnungstrunke. Die festlich geschmückten Jungfrauen werden mit1) Musik abgeholt, und nun tritt der Tanz in seine Rechte.

Der zweite Tag brachte im wesentlichen dasselbe wie der erste, endete jedoch mit Angriff auf einen vorbeifahrenden Eisenbahnzug, dessen Insassen ersichtlich verdutzt dreinschauten, als ihnen plötzlich die blauen Bohnen nur so um die Ohren flogen.

Am dritten Tage gaben die Marineoffiziere ihren Kameraden von der Landarmee an Bord der Schiffe ein „opulentes“ Frühstück, wobei die Musik der Kasseler Husaren konzertierte. Hoch auf Hoch klang von den auf der Mitte der Weser ankernden Schiffen herüber und gab Zeugnis davon, daß das Schlachtbeil nunmehr endgültig begraben war. –

Am Nachmittag wurde zunächst der „König“ ausgeschossen und darauf wieder getanzt, bis gegen Abend urplötzlich ein Haufen Frauen aus dem Hinterhalte hervorbrach und die Musik vom Platze holte. Die ganze Festgesellschaft schloß sich an, und unter Schreien und Jauchzen wogte der Trubel hinter der schmetternden Musik im ganzen Orte umher. Aus jedem Kreuzwege und freiem Platze wur- de im rasendsten, wildesten Tempo ein Reigen aufgeführt und alles mit fort und herumgerissen; selbst den baumlangen Kapellmeister sah man in dem tollen Wirbel, obwohl er sich heftig gesträubt hatte und durchaus seine Würde behaupten wollte. Man ernannte das den „Hexentanz“ und kann wohl an- nehmen, daß sein Ursprung im grauen Heidentum zu suchen ist. –

Kinderschützenfest. Eine frohe Erinnerung aus meiner Jugendzeit“ – so erzählte mir der leider so früh verstorbene treffli- che Bauermeister Heinrich Niedermeyer in Eschershausen – „ist das Kinderschützenfest, das, wie hier und da im Sollinge, auch in unserm Dorfe ein paarmal abgehalten wurde. Schon viele Wochen vor dem Feste begann unter Aufsicht einiger Familienväter (alter hannoverscher Soldaten) das Exerzieren und Manöverieren, Uniformen wurden beschafft und Waffen (hölzerne Säbel und Lanzen) hergestellt, und man kann sich denken, mit welch freudiger Aufregung sich die ganze Schuljugend diesen Vorbe- reitungen hingab. Aber auch die Alten selbst waren mit Leib und Seele dabei. Besonders des alten Schormann muß ich immer noch gedenken, der sich die größte Mühe mit uns gab, mit uns exerzierte und manöverierte, Säbel schnitt und Lanzen schmiedete und sich überhaupt nichts verdrießen ließ, welche Anforderungen auch an ihn gestellt wurden.

Endlich war der große Tag angebrochen. Kaum daß man noch das Ende des Nachmittags- Gottesdienstes abwarten konnte. Die uniformierten Knaben versammelten sich an einer bestimmten Stelle, um von hier aus unter den Klängen einer Handharmonika die kranzgeschmückten Mädchen

1) Im Originaltext des Buches steht hier nur „mt“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 93 abzuholen. Vor dem Hause eines jeden Offiziers wurde Halt gemacht und präsentiert. Offizier zu wer- den, war natürlich der Knaben höchster Ehrgeiz, schon allein wegen des mächtig wallenden Federbu- sches, den er dann auf seinen Helm von Pappe stecken konnte. Die Gegenleistung der Offiziere oder vielmehr ihrer Eltern für die Ehrung bestand in Butterbröten und selbst gebrautem Braunbier, abwech- selnd mit Kaffee und Kuchen, womit also der ganze Festzug zu bewirten war. Dabei wurde aber so gut eingeteilt, daß man die Hälfte der Bewirtung für den anderen Tag aufsparte.

Auf dem Festplatze angelangt, teilte sich die Schar der jungen Krieger in zwei Abteilungen, und nun wurde richtig Krieg gespielt. Sogar eine Kanone hatte jede Abteilung. (Auf Pfluggestellen befestigte eiserne Rohre, durch die von Erwachsenen mit der Flinte geschossen wurde.) Unter lautem Geschrei stürzten die feindlichen Abteilungen auseinander; hin und her wogte der Kampf, bis die eine Abtei- lung zurückgedrängt war, die damit verspielt hatte. Auch Gefangene wurden gemacht, die sich durch irgendeine Kleinigkeit wieder loslaufen mußten.

War so der Krieg beendet, ging’s alsbald ans Tanzen, damit die Mädchen auch was davon hatten.“

Ein Stück Jugendglanz legt sich noch in die Züge des Bauermeisters, wie er davon erzählt, und la- chend fährt er fort: „Wie mögen sich unsere Väter und Mütter und all die älteren Leute, die uns zusa- hen, über uns ergötzt haben, wenn wir nun so nach den bewährten Mustern unserer Tanzfeste ebenfalls flott und fein zu tanzen suchten. Das war ein Schubsen, Hüpfen und Springen, ein Probieren und Stu- dieren, um in den richtigen Takt zu kommen, daß der Tanz für manchen meist zu Ende war, wenn er es endlich erfaßt zu haben glaubte.

Abends bei neun oder zehn Uhr war es für uns Schulkinder mit der Herrlichkeit zu Ende. Dafür kamen nun die jungen Burschen und Mädchen an die Reihe, und sie führten das Fest, während wir uns tod- müde zu Bett legten, fröhlich weiter.

Am anderen Morgen war unter Leitung unseres Lehrers Preisschießen; aber nicht mit dem Gewehr wurde geschossen, sondern mit dem sogenannten Pusterohr. Damit man auch wußte, wofür man den besten oder besseren Schuß gab, wurden allerhand kleine Preise verteilt, wie kleine Bücher, Schreib- hefte, Federhalter, Bleistifte usw. Im übrigen verlief der zweite Tag ähnlich wie der erste. Noch lange nachher wurde von uns Schulkindern von dem Feste gesprochen, und es ist eigentlich schade, daß es sich nicht dauernd bei uns eingebürgert hat.“

Flachsbräuche. Kein landwirtschaftlicher Zweig war so sehr und mannigfaltig mit Sitten und Bräuchen umgeben wie der Flachsbau, der in seiner besten Zeit geradezu eine Art Kristallisationspunkt für das Volkstum bil- dete.

Eine ganze Fülle abergläubischer Vorstellungen weist auf die Wichtigkeit und große Bedeutung des Flachsbaues hin. In der Christnacht greift die Bauersfrau dreimal in einen Beutel mit Leinsamen und sät jede Handvoll für sich in einen Blumentopf. Der zuerst gesäte ist der Frühflachs, der zweite der Mittel- und der letzte der Spätflachs (Lateflaß). Welcher von den dreien am besten aufgeht und am längsten ist, der gerät auch im Laufe des Sommers am besten.

Am hundertsten Tage im neuen Jahre, also am 10. April, muß der Flachs gesät sein. Lichtmeß muß Puffer gebacken werden, damit der Flachs gut gerät.

Gut gedeihen soll der Flachs, wenn Lichtmeß zwischen elf und zwölf die Sonne auf den Altar scheint, und gar geschmeidig soll er werden, wenn, man Lichtmeß tüchtig Puffer und „Fettmänneken“ bäckt. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 94

Um besondere langen Flachs zu erzielen, soll man einen langen Feuerbrand vom Osterfeuer nehmen und in den Flachsacker stecken; oder man muß zwischen elf und zwölf Uhr, wenn es lange Reihe schlägt, den Leinsamen säen. Man hängt auch wohl einen Maibaum in die Bodenluke, um recht langen Flachs zu bekommen. Aber der Baum müsse recht lang sein, wird versichert. Aus dem gleichen Grun- de lassen die Schönhäger den Sack beim Einkaufen des Leinsamens recht lang im Nacken herunter- hängen. Je länger der Sack, desto länger der Flachs.

Beim Einkauf des Leinsamens wurde der Kaufmann gebeten, noch eine Handvoll zuzugeben. Tat er das, so sagte man: Soviel Samen – soviel Bauten (Baten). Dann wurde ein blankes Zweitalerstück auf den Tresen gelegt, worauf der Kaufmann erwiderte: „So blank Geld, so blank Flaß!“

Der Leinsamensack spielt auch beim Säen eine nicht unbeträchtliche Rolle: Wenn der Samen gesät ist, muß der Sämann den leeren Sack dreimal über den Kopf werfen, damit der Flachs recht in die Höhe geht. Die „Blume“ am Sacke, der Leinsamen enthält, darf nicht gedreht werden, da sonst der Flachs bricht. Manche Bauern benutzen für den Flachssamen immer einen bestimmten Sack.

Eine vorausschauende Bäuerin verfehlt nicht beim Leinsamensäen ein ordentliches Speck- und Schin- kenstück mitzugeben, denn sie weiß, daß dann der Flachs recht geschmeidig wird.

Man sät den Flachs nicht bei „fleuitens Moon“ (abnehmendem, schleichendem Mond), sondern bei „wassens Moon“. In Fürstenhagen rät man, morgens zu säen, dann blühe der Flachs den ganzen Tag. Der Leinsamen müsse aber ein Jahr lang mit rostigem Eisen in einem langen Sacke gehängt haben. Übrigens wird auch erst im Kalender nachgesehen, ob nicht gerade Krebs auf den Säetag fällt, da der Flachs sonst nicht gerät. Was so wie so immer fraglich ist. Ein altes Sprichwort sagt: „Flachs is ’ne Ape (Affe), et wässet, wo et will, bale in’n Howe, bale an’n Wäge, bale an Ranne, bale upp’n Lanne“. Nach einer alten Regel kann man nach dem hundertsten Tage Flachs säen, sonst muß man sich ärgern.

Es gab Frühflachs, der vor der Ernte gerupft wurde, und Spätflachs, dessen Reife in die Ernte fiel.

Der Leinsamen geht auf und denkt an den Sack, der dreimal über den Kopf des Säers geworfen wurde; aber da kommt der böse Feind in Gestalt des Erdflohs. Und so muß der junge Flachs von einer „reinen Jungfer“ besprochen werden, indem sie mit einer gelben Weidenrute dreimal um das Flachsland geht und spricht:

„Erdfläe, packet jöck, ’ne reine Jungfer klappet jöck!“

Ein anderer Bautespruch lautet: Christus und Petrus gingen über ein Land, da wuchs ein Kraut auf. Da sprach Petrus: „Dies Kraut wird aufgefressen!“ Antwortete Christus: „Das soll nicht geschehen!“, nahm einen Klumpen in die Hand, warf ihn über das Land. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Zum Flachsrupfen wurde weißer Kuchen gebacken wie zu einem Feste. Kam eine Frau oder ein Mäd- chen auf das Flachsfeld, begrüßte sie die dort schon tätigen Rupferinnen mit folgender Anrede:

„Guten Morgen, ihr Jungfern und Weiber! Ich wollte wünschen, ihr Flachs wäre wie Samt und Seide.“

Worauf die Rupferinnen erwiderten:

„Prosten Dank, ihr Wohlgemut, Ich wollte wünschen, ihr Flachs wäre ebenso gut.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 95

Kommt während des Flachsrupfens der Bauer oder sonst ein Mann auf den Acker, wird ihm von einer der Frauen eine Riste angebunden und folgendes Sprüchlein dazu gesprochen:

„Eck binne deck ’ne Riste an in Ahren (Ehren), Wenne meck nitz gifst, biste ’n äalt Bäre.“

Wiederholt sich auch beim „Repen“ (Flachsriffeln). Natürlich will er kein alter Bär sein, holt darum ein Fünfgroschenstück aus der Tasche und reicht es der Frau mit den Worten: „No, denn langet ’n lüttchen Seuiten!“

In Dinkelhausen bei Uslar wurden drei zufällig auf den Flachsacker kommende fremde Herren mit folgendem Verse gebunden:

„Ich habe es vernommen, Daß drei reiche Herren sind gekommen; Darum habe ich mich resolviert und wohlbedacht Und habe ihnen eine schöne Riste gebracht.“

Natürlich ließen sich die Herren nicht lumpen, sondern gaben „ordentlich einen“ zum besten, so daß hernach die Lieder noch mal so lustig klangen.

Plötzlich jauchzt eine Rupferin hell auf: Sie hat einen Seidenspinner gefunden und zeigt den Schmet- terling dem Flachsherrn, dessen Flachs nun wie Seide wird.

Eine Riste ist eine gute Handvoll Flachs; 60 Risten bilden einen Baten, in Fredelsloh gehören aber 82 Risten dazu. Die „Baten“ werden auf einen Leiterwagen geladen, die Rupferinnen setzen sich obenauf und fahren mit. Hellem Gesang ins Dorf hinein, wo dann aber der Gesang oft in hellem Aufkreischen endet. Ist es doch ein alter Brauch, daß man den Flachsrupfern heimlich auflauert und ihnen einen vollen Eimer Wasser über die Köpfe gießt.

Beim Flachsriffeln, wenn also der Flachs ristenweise durch die Raufe gezogen wird, so daß die „Knut- ten“ (Samenköpfe, Knoten) abgerissen werden, steigert sich die frohe Laune zum Höhepunkt. Bur- schen und Mädchen aus der näheren Freundschaft stellten sich dazu ein, und es wurde beim Riffeln gesungen, daß es durch das ganze Dorf schallte. Man sagte: Beim Riffeln müsse tüchtig gesungen werden, sonst klänge der Flachs nicht aus, und beim Flachsbrechen spränge sonst die Schewe nicht so glatt ab.

Ist man mit dem Riffeln fertig, so pflegen die Mädchen mit der linken Hand einen „Repetopp“ (in der Raufe zurückgebliebene Flachsreste) in die Scheunenluke zu werfen. Gelingt es, daß er oben bleibt, so haben sie Glück in der Liebe.

Der von den „Knutten“ durch das „Repen“ befreite Flachs heißt „Fiul“, das Bund „Fiul“ ist der „Wa- terbaten“, der in die „Raten“ (Rotte), also ins Wasser kommt. Als in Eschershausen der Bauermeister Niedermeyer den letzten „Waterbaten“ (Fiul) gebunden hatte, hörte ich ihn sagen: „Säau, dat was de letzte! Härr’ we den teerst enohmen, wöre we gleuik fertig ewest!“ In diesem frohmütigen Dorfe beo- bachtete ich 1900 auch folgenden Vorgang: Als man mit dem Riffeln fertig war, wurde aus dem ge- sammelten „Repetoppe“ „de Harle“ (einzelne gute, Flachsstengel) gelesen, wobei die Frauen und Mädchen auf dem Scheunenboden knieten, „Seuiten“ tranken und u. a. folgendes Lied sangen, von dem es übrigens, wie die Volksliedersammlungen zeigen, zahlreiche Varianten gibt:

„Auf der Elbe bin ich gefahren Den 15. Mai; Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 96

Schöne Mädchen hab’ ich empfangen Bei der Nacht eins, zwei, drei.

Was die Schönste war von diesen drei, Wollt so gerne, gerne mit mir gehn, Aber sie konnte vor allem Weinen Den Weg nicht mehr sehn.

Kehre wieder um, getreues Mädchen, Denn der Weg, der ist noch viel zu weit, Denn es fängt schon an zu tagen, Und was sagen dann die Leut’.

Wenn du Lust hast an mich zu schreiben, So versiegle du den Brief mit Not, Denn mein Schifflein schwimmet auf dem Wasser, Und mein Name heißt Matros’.

Soll ich sterben wohl auf dem Segelschiffe, So bekommst du einen Totenschein, So zerbrich du dann den schwarzen Siegel Und betraure mich ganz allein.

Soll ich sterben wohl in dem Hospitale, So begraben sie mich ganz hübsch und fein, So bekomme ich von meinem Gelde Einen schönen Leichenstein.

Bei dem Spiel und bei dem Tanze Wird so manches junge Mädchen verführt, Ei, so wärst du junges Mädchen Auf der Elbe dann ja auch verführt.“ –

Als ich darauf den Frauen sagte, daß ich das Lied nicht so ganz verstände, erklärte mir eine mit hellen Flachsblütenaugen: So hätte der Matrose das Mädchen getröstet. Nämlich wenn es mitgefahren wäre, würde es auch verführt worden sein.

Wenn der Flachs gebreitet oder „gestukt“ ist, setzt man auf alle vier Ecken des Raumes, den er ein- nimmt, einen Kranz von Stroh und spricht im Davongehen:

„Eck sette deck ’ne Häaut, Datte magst wärn witt un gäaut; Wer von deck nümmt ’ne Stiuken, Den fall de Duiwel sliuken.“

Ein Beispiel dafür, in welchem Umfange noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf der Weper und im Sollinge Flachs gebaut wurde, entnehme ich einem kleinen Aufsatze, den ich im Jahre 1881 für die Göttingen-Grubenhagensche Zeitung schrieb. Die Angaben bezogen sich auf das Dorf Nienhagen auf der Weper. Danach wurden im Winterhalbjahre 1880/81 von 38 bäuerlichen Fa- milien 316 Stiegen (eine Stiege gleich 20 Ellen) Leinwand produziert. Die einzelnen Anteile der 38 Familien an diesem Ergebnisse veranschaulichte ich durch folgende Zahlen: 17, 5, 8, 7, 9, 11, 6, 20, 10, 7, 6, 16, 2, 5, 6, 12, 8, 7, 15, 10, 5, 3, 15, 3, 9, 8, 7, 5, 3, 5 1/2, 4, 12, 9, 6, 17, 2, 7, 4. Zwei Famili- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 97 en hatten krankheitshalber den geernteten Flachs nicht verarbeiten können, sonst hätte sich das Ergeb- nis noch um mindestens zehn Stiegen günstiger gestaltet.

Um jene Zeit erhielt in der Regel jeder Knecht und jede Magd eine Metze Lein ausgesät, manchmal auch mehr. Dazu bekamen sie eine Stiege oder anderthalb Leinwand. Natürlich mußten die Mädchen dafür auch tüchtig spinnen; und wenn einmal eine war, die dazu keine Lust oder kein Geschick hatte, so klagten die Frauen, daß sie überhaupt nichts tauge. War die Dreschzeit vorüber, so daß die Mäd- chen früh aufstehen konnten, mußten sie „Taal“ (Schoningen) oder „Tall“ (Fredelsloh) spinnen, täg- lich zwei Lopp.

Auf dem großen Dorfanger, der leider überall der Verkoppelung zum Opfer gefallen ist, sowie in allen Grashöfen, wurde die junge Leinwand im Mai zum Bleichen ausgespannt, und so schloß mein vorhin erwähnter jugendlicher Artikel: „Das Auge hat in diesem Wonnemonate wohl kaum einen eigenartige- ren und anmutigeren Anblick als den: Des Hauses Töchter mit den blankgescheuerten Eimern vom Born unter der Linde zur Bleiche eilen zu sehen, wo sie die Leinwand, für deren Hervorbringung sie das meiste getan, von Zeit zu Zeit „lecken“ (d. h. mit der Hand aus dem Eimer netzen oder bespren- gen, da die Gießkanne mit der Brause damals noch nicht eingeführt war). Daß dabei hin und wieder manch junger Knecht, der sich allzu keck an die Leckerin heranwagt, das Los der Leinwand teilen muß, ist ein Vorgang heiterster Art, der durchaus zum Leinwandbleichen gehört.“

In den Baumhöfen hatten die größeren Bauern kleine Bleichhütten errichtet, in denen Angehörige des Hauses über Nacht schliefen, um die Leinwand zu bewachen. An Sonntagabenden insbesondere sam- melte sich wohl auch ein Trupp Jungvolk vor der Bleichhütte, saß schäkernd auf der Bank davor und sang die alten Spinnlieder vom Lieben und Leiden bis tief in die Nacht hinein. So ist ja auch aus einer Äußerung von Bürger bekannt, daß ihn ein vor der Bleichhütte gesungenes Lied zu seiner Ballade „Lenore“ anregte. Auch manches Dorfgeschichtenmotiv wäre von der Bleichhütte zu holen gewesen.

Ist die Feldarbeit getan, bei der es auf die Frauen mit ankam, die also nun wieder die Hände frei haben, so geht’s ans „Boken“ und „Breken“ des Flachses. Beim „Boken“ handelt es sich darum, den holzigen Teil des Flachsstengels durch Stampfen mit der „Treite“ zu zerbrechen und von dem eigentlichen Flachse abzusondern. Während das „Boken“ mehr noch Manneskräfte erfordert, ist das darauffolgende „Breken“ (Brechen) des gebokten Flachses, das auf der „Breke“ (Breche) geschieht, ausschließlich Frauensache. Gewöhnlich gehen mehrere Brekerschen“ zusammen ans Werk, und dann hört man an den verschiedensten Stellen des Dorfes die weithin schallenden Klopfkonzerte. Natürlich hat die Bäuerin wieder weißen Kuchen gebacken und zur festlichen Gestaltung des Abendessens den belieb- ten Reisbrei (ganz früher Hirsebrei) mit einer dicken Zuckerschicht und reichlich brauner Butter ange- richtet. Die „Brekersche“ legt jede Riste nach dem Breken neben sich, bis sie 60 Risten zusammenlie- gen hat. Zählt sie nun und findet zufällig, daß es gerade 60 Risten sind, so ist das ein „Passebate“, und dann gibts ein lustiges Hallo. Denn wer einen „Passebaten“ hat, wird entweder Gevatter oder macht Hochzeit. Jede ordentliche Brekersche soll am Tage zwei Baten bewältigen, bis zum Nachmittagskaf- fee einen und nach dem Kaffee den anderen. Und dann pflegt der Bauer oder die Bäuerin den Breker- schen zuzurufen: „Wer seiine twei Baten hat, kann ’rinkomen un Reuisbreui eten!“

In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als der Zucker noch nicht so Mode war, gab’s nachmittags „seuiten“ Kaffee, der mit Sirup gesüßt war, wie man auch Sirupskuchen dazu aß, da es Zuckerkuchen noch nicht gab.

Zieht man dazu noch den Volkstumsbestand der schon geschilderten Spinnstube in Betracht, so sehen wir, daß der Flachsbau von der Saat bis zur fertigen Leinwand mit einer Fülle von Sitten und Bräu- chen, geselligen und festlichen Veranstaltungen umwoben war. Tatsache ist denn auch, daß das Auf- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 98 hören des Flachsbaues in das ursprüngliche ländliche Volkstum eine weite, klaffende Lücke riß, die durch nichts mehr gutgemacht werden konnte.

Humor auf der Wiese. Wenn man die Sollinger auf ihren herrlichen Waldwiesen mähen sieht und sie dabei ihre köstlichen Witze machen hört, sollte man fast meinen, es gäbe nichts Lustigeres auf der Welt, als so ein halbes oder ganzes „Tagewerk“ im Wiesengrunde. Man rechnet nämlich das Mühen in altgewohnter Weise noch nach „Tagewerken“, wobei z. B. in dem Dorfe Eschershausen bei Uslar auf einen Morgen acht Mann kommen, während in dem Nachbarorte Dinkelhausen die gleiche Leistung auf vier Mann ver- teilt wird1).

Vergegenwärtigt man sich aber, daß ein halbes Tagewerk etwa von zwei oder vier Uhr früh bis zehn Uhr vormittags oder von vier bis annähernd zehn Uhr nachmittags dauert, und daß ein solches viel- stündiges, ununterbrochenes Mühen namentlich in den ersten Tagen „Blaut in de Darmen gift“ (Blut in die Därme gibt), wie mir der selige Bauermeister Wüstefeld in Nienhagen einmal versicherte, d. h. also außerordentlich anstrengend ist, so wird man einsehen, daß die Sache sozusagen auch eine ernste Seite hat.

Zumal da man goldene Schätze beim Mühen in frühern Zeiten nicht erwerben konnte. Ein halbes Ta- gewerk wurde in Eschershausen mit 12 1/2, in Dinkelhausen, wo die Tagewerker doppelt so viel als dort zu mühen haben, mit 25 Pfennig gelohnt. Das Schwergewicht lag so nach althergebrachter Weise in der Verpflegung und in den ebenfalls sehr gering berechneten Gegenleistungen der Bauern, dem Pflügen und Fahren.

Was insbesondere die Verpflegung anbetrifft, so begreift sie alles in sich, was eine gute „Räakkamere“ (Rauchkammer) aufzuweisen hat. Als richtiges Mäherfrühstück gilt eine reiche Auslage von Mett- wurst, Schinken und Sülze, wohingegen Rotwurst und Käse für ein so schlechtes Frühstück angesehen wird, daß die Bauern, die ein solches geben, das nächste Mal so leicht keine guten Mäher wiederbe- kommen.

An einem merkwürdigen Mäherschmause habe ich einmal auf dem „Wolfsanger“ bei Eschershausen teilgenommen. Ein größerer Bauer hatte da eine hochgelegene Wiese, die er wegen der „donnerwetter- schen drachenköppigen Schmelen“ gar nicht leiden konnte und darum nicht allein mähen wollte. So machte sich denn eines Tages gegen Abend ein starker Trupp von Nachbarn, Freunden und Verwand- ten daran und mähte darauf los, wie „n’ Ungewitter“. Der Bauer aber hatte zur Labe nicht Schinken und Wurst, sondern ein großes Becken voll Heringssalat mitgebracht, der mit bester und reichlicher Sahne angemacht und mit Zwiebeln und Pfeffer so herzhaft gewürzt war, daß beim Schmause der Schweiß noch stärker floß als beim Mähen. Ich kann aber versichern, daß es ein sehr schmackhafter und vor allem ein sehr fröhlicher Schmaus war.

1) Der Heinrichvetter aus Schoningen gibt mir dagegen über das Tagewerk folgende Auskunft:

„Unter Tagewerk Wiese versteht man einen Morgen. Darauf werden wohl an keinem Orte mehr als zwei Mann zum Mühen gerechnet oder aber ein Mann morgens und nachmittags. Da der Mittag wegen des Frühaufstehens zur Ruhe verpflichtet, gleicht das dem ganzen Tage, also einem Tagewerk. Oder zwei Spann: das heißt, der Mä- her muß zweimal anspannen, um ein Tagewerk Wiese mähen zu können. Acht Mann mähen vier Morgen, gleich vier Tagewerk. In einigen Ortschaften, z. B. Bollensen, zieht man die Leistungsschraube noch stärker an und läßt, wenn möglich, den Mann bis ein Tagewerk in einem Spann mühen.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 99

Zu einem guten Mäherschmause gehört nach altem Brauch eine Rolle Priemtabak, vor allem aber ein guter Mähertrunk, ein reichlicher Strom von Branntwein. Ja, auf den Branntwein wurde „Vor dieser Zeit“ fast zu viel Gewicht gelegt, in dem einen Dorfe allerdings mehr als in dem andern. Während man z. B. in Eschershausen auf den Mann einen halben Liter oder aus ein „half Spann“ ein „half Bätzeln“ rechnete, beanspruchte man in Sievershausen auf jeden Mann oder auf jedes „Spann“ (ein Morgen) einen Liter. In Sievershausen soll es überhaupt so gewesen sein, daß derjenige die besten Mäher be- kam, der am meisten zu trinken gab. Manche gaben daher so viel Branntwein, wie der Mäher über- haupt trinken wollte.

Als warnendes Beispiel diente der alte Schormann. Der war so’n rechter „Kreumekenseuker“ (Kru- mensucher, Geizkragen) und nahm zum Mähen einen blauen Buddel mit, bei dem man nicht sehen konnte, ob was drin war oder nicht. Es war aber nichts drin, und er sagte zu seinem Knechte: „Säau däaun (so tun), as wenn we drinket!“ Damit die Leute wunder meinten, wieviel Branntwein Horst- mann gäbe. Was tat aber nachher der Knecht? Er schlug die Sense ab, mähte mit dem bloßen Sensen- baume und antwortete auf das Schelten seines Dienstherrn: „Säau däaun, as wenn we mäget!“

Könnte man den Sollingern auch nicht nachsagen, daß sie bei solchen Gelegenheiten der Unmäßigkeit frönten, so darf doch nicht verschwiegen werden, daß sie gewöhnlich schon sehr früh am Morgen an- fingen. Das bringt eben die Gemeinschaft so mit sich. Noch sitzen die Vögel auf den Zweigen und die – Flöhe auf den Zähnen, wenn man sich in der Wiese aufstellt. Das Wetzen beginnt und schrechzt weithin durch den Wiesengrund; doch ehe zum Sensenschwunge ausgeholt wird, müssen, wie der stehende Ausdruck lautet, „de Flähe von den Tehnen ejaget wern“. Eine Entschuldigung, die jedem einleuchtet. Man trinkt also erst ’mal ’rum.

So setzt die Arbeit gleich mit einem herzhasten Witze ein, und wer einmal im Sollinge dabei war, der weiß, daß der Witz auch nach Stunden angestrengtester Tätigkeit noch lange nicht versiegt.

Fegt die Sense in der Morgendunkelheit durch einen „Multhuken“ (Maulwurfshaufen), so daß es einen kleinen Aufenthalt gibt, meldet sich der Spottvogel mit dem Rufe: „Hei is ’n Wärtshius, da mäaut innekährt wern!“ Ein andrer, dem’s ebenso geht, ruft: „Alle weer’n Wärtshius!“ Darauf ein Dritter, der seine Sense aus einer Bülte zieht: „Donner un Doria, met allen Wärtshuisern!“ Bei solchen Gelegen- heiten ist auch das Sprichwort entstanden: „Alle ein Lock fläter steken!“, d. h. die Sense höher richten, damit sie flacher geht und über die Unebenheiten leichter hinwegkommt.

Mag nun auch der „Ziegenbüscher“ (Branntweinbrennerei Ziegenbusch bei Uslar) für manchen Witz ein guter Helfershelfer sein, so hieße es doch, den Charakter des Sollingers völlig verkennen oder schief beurteilen, wollte man den Branntwein als die Quelle der witzigen Laune ansehen. Diese liegt vielmehr durchaus in der Natur des Sollingers und wird eher geweckt und angefeuert durch das Ge- meinschaftsmähen, das Bauer und Anbauer, Knechte und Holzhauer, Nachbarn und Verwandte zu einem Ziel zusammenführt und das eben nicht mit gewöhnlicher Tagelöhnerarbeit, wie sie z. B. auf den Rittergutswiesen geleistet wird, zu Vergleichen ist; denn hier pflegt der Scherz ein seltener oder ein garstiger Gast zu sein.

Natürlich macht sich der Scherz und Witz vor allem über die Schwächlinge und Stümper her. Huscht einer mit der Sense so über das Gras hinweg, daß es sich hinter ihm wieder unversehrt aufrichtet, so ruft das Gras, wie ich die Fredelsloher sagen hörte: „Juchhe, eck häau meuin Lewe noch nennen Mä- ger seihn!“ Oder, wie es in der Eschershäuser Gegend heißt, wenn ein Büschel oder eine Blume sich hinter dem Mäher wieder aufrichtet: „Hütte – ba’e, häst meck doch snech edrapen!“

Als in der Eschershäuser „Grund“, dem großartigsten Wiesenplane des Sollings, ’mal ein Mäher nicht recht mitkommen konnte und immer weiter hinter den andern Mähern zurückblieb, warf er die Sense Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 100 hin und rief: „Leiwer (lieber) will’k dat Swad verlaten, as meuinen Kameraden!“ Und lief den Mähern ohne Sense nach. Ein anderer rief: „Man deiht (tut) seuine Schläge un – geiht seuiner Wege.“ Einer aus Vahle tröstete sich angesichts seiner schwachen Leistung: „Wat ne chupsitt (aufsitzt), kann nech afsitten“ (absitzen). In ähnlicher Lage sagt ein anderer: „Dat kreuige (kriegen) wi be der Grommet!“ Wenns aber beim Grummetmähen nicht „aufsitzt“, entschuldigt man sich: „Dat Hornveih mäaut äauk wat hebben.“ Wer hoch stehen läßt, „mäget ’n Kamm“, und dann ruft der eine Mäher dem andern zu: „Stah öhne mal up’r Seissen!“ (Tritt mal auf seine Sense.) Um es noch etwas deutlicher zu beschrei- ben: Einen Kamm mäht, wer nicht weit genug nach links, also dem Schwabe zu, durchhaut, so daß ein dünner kammartiger Streifen Gras stehen bleibt. Darum die Redensart: „Junge, watte stahn läßt, dat lat rechts stahn!“ – Da nun die Polen, um Sense und Knochen zu schonen und doch viel Schwaden zu liefern, im Durchschnitt sehr hoch mähen, so sagt man von einem schlechten Mäher auch: „Dei mäget met’n Polackenvisier!“

In der Regel kommt der schwächste Mäher hinten ans Ende, und der braucht dann für Spott nicht zu sorgen. Er muß; die „Hüppers“, also die verwundeten Frösche, verbinden. Die Frauen aber, wenn sie die Schwaden streuen, kichern und schützen Knoten in die stehengebliebenen Grashalme; das sind dann die „Hüpperstühle“ (Froschstühle). Da es aber niemand unter den Mähern gewesen sein will, so wird gesagt, daß es der war, der die folgende Nacht – „int Bedde pisset!“

Zu allem Überfluß gibt es noch ein „astpreußische“ Lachen im Solling, das mit einem dem Kreise Insterburg entstammenden Arbeiter hereingekommen ist, der beim Bahnbau vor dreißig Jahren im Sollinge hängen blieb und hier seitdem ein vergnügtes Fuhrmannsleben führte. So erzählt er, wie auf einem ostpreußischen Gute der Verwalter einmal einen Hafermäher gemahnt hätte, besser zu wetzen und schärfer anzuhalten, damit nicht soviel stehen bliebe. Darauf der Mäher: „Och, Herr Verwalter, was Gott im Herzen hat, das kommt mit, aber was den Teufel im Nacken hat, das bleibt stehen und sagt: Juchhe, Herr Verwalter!“ Eben jener Verwalter pflegte zu sagen: „Klä-ine Hä-ichen (kleines Hauen) und kurze Strä-iche, das gibt ’ne glä-iche Wiese.“

Wollen die Sensen nicht mehr recht anpacken, wird weidlich geschimpft auf die „Wirtshäuser“ und lustig gemahnt: „Junge, wette, dat snitt!“ Wehe, wer nun das Wetzen nicht ordentlich versteht. Der kriegt gar bald „Bläaut in de Darmen“. Überhaupt das Wetzen! Oben und unten voll von Scherzen und Witzen. So heißt’s, sowohl vor dem „Wirtshause“ wie dahinter müsse gewetzt werden. Ist das Gras nur klein und fusselig, wird gespottet: „Junge, wette, dat Pund kostet ’n Dregger!“ Eine poetische Mahnung lautet: „Wetze, wetze, lieber Mann, sonst die Braut nicht kriegen kann!“ Als ich die Eschershäuser nach der Bedeutung dieses Ausrufes fragte, wurde folgende Geschichte erzählt: Ein reicher Bauer hatte eine einzige Tochter, um die gar viele Freier kamen. Da ward unter den Bewerbern ein Wettmähen veranstaltet, wobei es aber so ging, daß einer, dem der Bauer seine Tochter am liebsten gegeben hätte, nicht mit kam und immer weiter zurückblieb. Da trieb ihn der reiche Bauer mit den Worten an:

„Wetze, wetze, lieber Mann, Sonst die Braut nicht kriegen kann!“

„Böuere, klampere moal!“ ist eine andere Redensart, von welcher die Bewohner der Weper folgende Sage erzählen: „’n ender (ungefähr) fünf Mann mähten einmal in den Krummelwiesen im Solling und dachten an nichts, als mit einem Male Stöpke dahergefahren kam. Er sagte, das Mähen möchte er wohl auch einmal probieren. „Man zu,“ sagten die Bauern, und Stöpke machte mit ihnen aus: wenn er sein Schwad eher herüber kriegte als die Bauern, so müßten alle seine sein. „Einverstanden!“ riefen die, und dann ging es ans Wetzen, „dat et dor dei ganzen Krummeln klung“. Die Bauern hatten dem „Dui- vel“ aber statt der Sense eine Pflugschleife gegeben, und da er gehört hatte, daß das Wetzen die Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 101

Hauptsache wäre, so wetzte er ebenfalls sein allermeistes, brachte jedoch mit seiner Pflugschleife, so gewaltig er sich auch anstrengte, nichts vor sich und kam natürlich auch nicht mit. Da meinte er, daß wohl sein „Klampern“ (wie er das Wetzen nannte) nicht ordentlich gewesen wäre; und als die Bauern wieder ein frisches Schwad anfingen, lief er zu dem einen und zu dem andern und bat: „Böuere, klam- pere moal!“ Darum sagt man das Wort noch heutigen Tages und besonders gern zu solchen Männern, die wohl mähen, aber nicht recht wetzen können.

Übrigens hat der Hintermann, wenn gewetzt wird, drei Wetzsteinlängen gegen den Vordermann zu- rückzubleiben, wenn er nicht in die für diesen Fall vorgesehene Strafe von 20 Pfennig („Sluckgeld“) verfallen will. Kann der Hintermann aber den Vordermann beim Mähen selbst überholen, so muß letz- terer die Strafe zahlen, die gesetzt ist.

Indessen darf der Wetzestein nicht allzu häufig aus der „Seissentute“ genommen werden, will der Mä- her sich nicht in den Verdacht bringen, daß er nur wetze, um sich zu erholen.

Mähern, die die Zeit verschliefen, darum bis in den heißen Mittag hinein mähen müssen, ruft’s von allen Seiten zu: „Dütt sind awer Sunnenmägers, dei köönt ’n Morgen nech äsut ’n Bedde kum’n.“

Vor dem Nachhausegehen muß abgewetzt werden, sonst kommen die Hexen an die Sensen; und be- gegnete den Mähern eine schwangere Frau, so würde deren Sohn einmal nicht mähen können.

Auf den weit entfernt gelegenen Waldwiesen, wie z. B. aus dem Bremke der Schoninger oder dem Ithalsgrund der Vahler oder dem Marienhagen der Dinkelhäuser, wird gewöhnlich Biwak bezogen. Die Mäher gehen mittags fort, mähen bis zum Dunkelwerden, schlafen dann auf der Wiese und gehen bei Tagesgrauen wieder an die Arbeit. Fängt einem während des Schlafens an zu frösteln, so hört man’s wohl aus dem Haufen von Gras und Menschen rufen: „Recket meck emal (reich mir einmal) dei Wärmeflasche her!“ Womit natürlich der bauchige Branntweinkrug gemeint ist.

Selbst der Grimm über getäuschte Erwartungen pflegt sich auf der Wiese gern in witziger Form zu äußern. Ein Bauer schalt: „Düsse verfluchten donnerwetterschen drachenköpfigen Smelen, awer dat Boddengras seilt (Bodengras fehlt)!“ Als es einmal während der Heuzeit immer wieder regnete und das Gras schon Verderben wollte, ging der alte Schormann, der das Rasse überhaupt nicht gut leiden konnte, mit seiner Hacke im vollen Regen auf die Wiese und rief nach dem Himmel: „Eck kann deck’t Regen nech verbei’n, döu sast meck awer äakt’t Wennen nech verbei’n!“ (Ich kann dir – Gott – das Regnen nicht verbieten, du sollst mir aber auch das Heuwenden nicht verbieten.) Und wandte sein Heu im Regen.

Neues Leben entsteht, wenn die jungen Mädchen auf der Wiese erscheinen, um die Schwaden zu streuen oder die dünner liegenden Gräsereien zusammenzuharken. Da pflegt sich denn die Lebenslust gern auszujauchzen in den alten Volksliedern des Sollings:

„Schatz, ach Schatz, reise nicht zu weit von hier, Im Rosengarten Will ich deiner warten, Im grünen Klee – Im weißen Schnee“ –

Oder wie sie sonst heißen, die althergebrachten seltsamen Lieder, von denen im Sollinger Walde noch ein so reicher Teil geborgen ist.

Es ist aber auch einer da, der das Singen nicht gut leiden kann. Kein Wunder, denn er kennt ja die Liebe nicht, es ist ja ein dürrer, alter Hagestolz. „Ihr immer mit eurem Schatz, Schatz! Weiter wißt ihr Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 102 nichts!“ brummt er. Zu seinem Unglück heißt er aber Heinrich, und sofort schallt es ihm auf der gan- zen Linie entgegen:

„Ach, Heinrich, deine Liebe ist ja ganz umsonst, Denn bei mir da findest du ja keine Gunst; Deine Falschheit kenne ich so sehr, Andere Mädchen liebest du viel mehr“ ...

Ich habe im Sollinge noch keinen Mann gefunden, der sich für das Mähen zu gut gehalten hätte. Wie mir aber das letzte Mal, als ich dort war, erzählt wurde, hätte es neulich doch einen gegeben, nämlich eines Sollingsschäfers Sohn, der ein Jahr lang in der Fremde gewesen war und zurückkam, gerade als die Sensen geklopft wurden. Da sagte der Schäfer zu seinem Sohne: „Morgen freu maußte (mußt du) mee nahn Mägene vor iusen Ackermann!“ Der Sohn aber zog höchst verächtlich die Achseln und sag- te, steif und stolz: „Ich schneide kein Kras!“ Der Narr hatte in dem einen Jahre nicht nur das Mähen, sondern auch seine Muttersprache verlernt!

Eine hübschere Geschichte wurde mir von einer Hochzeit in Vahle berichtet. Als der Schluß der Hochzeitsfeier nahte, meinte der Hochzeitsvater: Mit der Hochzeit wären sie nun fertig, aber nicht mit der Wiese, denn die wäre noch ungemäht. Da ging ein frischer Wind durch die Gäste, und alle, die mit der Sense umzugehen wußten, eilten nach Hause, um bald darauf im Alltagszeuge mit der Sense zu- rückzukehren. Die ganze Hochzeitsgesellschaft begab sich in fröhlichster Stimmung nach der Wiese, und zwei Stunden später lag das Wiesengras auf der Seite. Das soll ein Leben gewesen sein, als wäre die Zeit vor 25 Jahren, da der Gemeindeanger noch gemeinsam gemäht und gemacht wurde, wieder zurückgekehrt.

„Grummet mott me up’r Harken druigen“, lautet eine Erfahrungsregel; d. h. es muß viel mehr als das Heu gewandt werden. Als ein junger bäuerlicher Eulenspiegel das hörte, steckte er die Harke in die Wiese, häufte Grummet darauf und legt sich daneben schlafen.

Ein wahres Glück nur, daß die Frohlaunigkeit und Witzlust nicht auch dem Zeitenwechsel und der Feldmarksverkoppelung untergeordnet ist, wie so manche Sitte des Volkes, wie z. B. jene schnurrige Heuverlosung, die ich in den achtziger Jahren zu Lauenberg im Sollinge kennen lernte. Kam die Zeit der Heu- oder Grummeternte, so zog das ganze Dorf wie eine große Familie auf den Gemeindeanger, um hier gemeinschaftlich zu mähen und zu heuen. Wer nicht persönlich erscheinen wollte oder konn- te, mußte sich durch fünf Groschen loslösen, die dann zu einem gemeinsamen Labetrunke verwandt wurden. War das Heu in Haufen gebracht, so fand die Verlosung statt. Jeder Teilhaber brachte ein Los und legte es an den Angerstein. Zu Losen aber wurden die verschiedenartigsten und kunterbuntesten Gegenstände ausgesucht. Da fand man bunte Flicken, „Plaschenblae“, „blage Späaulen“, „blagen Draum“, „briunen Kaul“, „Ringelken“, „Eschenlaaf“, „hölten Leppels“ usw. Die Person, die das Aus- losen besorgte, tat sämtliche Lose in eine Schürze und ging, gefolgt von den gesamten Teilhabern, zwischen den duftigen Heuhaufen hin, indem sie jeden mit einem blindlings herausgelangten Lose bewarf. Der Gemeinheitsberechtigte hatte nun denjenigen Haufen als den seinen anzusehen, auf dem er das von ihm gelieferte Los, also das Hufeisen oder den braunen Kohl oder den hölzernen Löffel, sah. Der Haufen war sein, mochte er auch nur halb so groß und gut sein wie ein anderer. War es ein gutes Jahr, so mußte natürlich die Auslosung einige Male wiederholt werden. Die ausgeworfenen Lose wurden wieder eingesammelt, und die Verlosung begann aufs neue. Einen überzähligen Haufen emp- fing gewöhnlich der Loswerfer als Lohn für seine geleisteten Gemeinschaftsdienste. Daß es bei einer solchen Verlosung ebenfalls an allerlei Scherzen und Späßen nicht fehlte, können wir getrost als selbstverständlich ansehen.

Die Verkoppelung hat dann dieser Sitte, wie so mancher andern, ein jähes Ende bereitet. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 103

Als kleine Beigabe noch ein Wiesenrätsel, das mir Großmutter v. Ohlen in Fredelsloh zu raten aufgab:

„As eck jung was, Noch nech kunterbunt was, Keimen alle Knechte, Deen seck up meck fechten, Nöu sin eck äalt un riuh – Wer kümmt niu?“

(Lösung: Die Wiese im urwüchsigen und gemähten Zustande.)

Der Johannistag. Seht da, die Lewaisewase1) aus Lauenberg! Wie helläugig sind ihre blauen Äugelein und wie hellhörig ihre Ohren! Sie sieht mehr und hört mehr als zehn andere Lauenbergerinnen zusammen, und es ist ein wahres Vergnügen, sich mit ihr zu unterhalten. Ich treffe sie auf einem Holzgange, es ist um die Jo- hanniszeit, und so forsche ich sie vor allem aus, was es mit dem Johannistage auf sich habe und wel- che geheimen Dinge es da zu merken gäbe. Sie steht noch mit beiden Beinen in dem alten Glauben, die wackere Alte.

Lassen wir sie darum selber reden, und sollte es auch für diesen und jenen etwas- unbequem sein, las- sen wir sie in ihrer eigenen Sprache, also rein Lauenbergisch reden2).

„Heuern Se tau: drei Dage vor oder drei Dage nah Johannesdag mött me Lain säen, denn werd hei düchtig lank un slank. Main Aule haïlt strenge darup. Up Johannesdag mött me auk de Kissenken- blaumen (Fliederblüte) afplücken – denn sind se grade an besten. Wenn’t Middag is twischen ölmen und twölwe, stahet upp’n mal alle Baukdöppe (Blütenkapsel der Buche) open; up Johannesdag däht Busch un Baum den Johanneeschuß; up Johannesdag dräget (dreht) seck ’t Blatt, denn hölt Busch un Bäaum kein Schiuer (Schauer-Obdach) mähr, et regent’r dor (regnet durch). Me segt denn: Dat Blatt hät seek edräget. Eins is vor allen nich te vergettene (vergessen): Wenn Kindere up Johannesdag afe- wihnt (abgewöhnt) werd, sau werd se höllesch klauk .... Un niu härr’k baule wat vergetten: Hexenkrui- tere mött me plüeken düssen laib’n Dag, Hexenkruitere.“

Ich will hier starke Einwendungen machen, besinne mich aber rechtzeitig, daß ich nicht als Weltver- besserer zu der Alten gekommen bin, und so bleibt sie denn auch im Fluß ihrer Mitteilungen und fährt fort, mir weitere Geheimnisse des Johannietages zu offenbaren: „Me seggt, dei Minschen, dei in der Johannesnacht geboren sind, können mähr eseihn as andre Luke, un eck hewe’t mährfach erliwet, dat’t wahr is. Me seggt auk: De Johannesdag lait (liegt) in’n hauchbeinten (hochbeinigen) Verteljahre. Ja, ja ... Dat hauchbeinte Verteliahr is de duiere Taid (teure Zeit) in Jahre: Dat Aule iz uppegetten (aufgeges- sen), un dat Naïe is noch nich wier annekumen. Me segt denn: Et is Johannesdag in der Haunders- macht (Hühnerschmacht), da möttet si-eben Fri’un in einen Backomen backen. Awer me mött ümmer weer hopen (hoffen). Möget dei Früchte in Felle auk noch sau slecht stahn – et hät: up Johannesdag kann ebensaugaut noch’n Feld ewern as verdarmen ...“

1) Base, Wase, Vaters- oder Mutterschwester oder entfernterer Verwandtschaftsgrad, aber auch Ausdruck eines nur freundschaftlichen Verhältnisses. – Es war Großmutter Luise Schaper, geb. Eckhard, gest. 1890.

2) Das au hat hier nur einen ganz schwachen Vorlaut und ist deshalb nicht näher angedeutet. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 104

Ich sage – auf den Busch klopfend – ich hätte erzählen hören, am Johannistage zwischen elf und zwölf Uhr mittags ließe sich eine wunderholde weiße Jungfrau sehen, mit einem Bund Schlüssel an der Sei- te.

„Ganz recht!“ fällt mir die Lewaisewase auch schon in die Rede, „sneiwitte Kläre (schneeweiße Klei- der) hät se anne, ganz recht! Säau aine (so eine) lätt seck alle sieben Jahre up Johannesdag twischen ölmen und twölwe in’n Hailigengaistbusche seihn; an der Saite dat Bund Slötele, in der Hand drei Blaumen: ’ne Nilge (Lilie), ’ne Rose un’n Vergißmeinnicht. Aïne bedüt Starmen, aïne Raikdium (Reichtum) un aïne himmlische Freuden. Lätt seek nöu’n Minsche seihn, sau wenket se den met ühren Slötelbunne, un gäht denn dei Minsche dahen, sau mött hei seck von den drei Blaumen aine iutwihlen, un je nadem, wat dei Blaume bedüt, dei hai seck wiehle, dat krigt hei auk ... assau entweder (dat Star- men oder Raikdium oder himmlische Seligkät .... Wer dei witte Jungfere erleusen will, mött se dreimal ümme den Hailigengaistbusch dragen. Is dat glücklich eschaihn, gift’t up einmal ’n starken Knall – un denn steiht ’n graut, wunderhübsch Sloß da .... Vor der Sloßdüer lait ne graute Slange, dei mött dei Glückliche, dei dei Jungfrau erläset hät, dreimal up’n Swanz kloppen, upper Sti-eh is die Slange ’n blank Goldstraipen ewuren.“

Kundig wie die Lewaisewase aus Lauenberg war auch der alte Henze aus Delliehausen im Sollinge, aber mit dem Unterschiede, daß er nicht nur erzählen konnte, sondern auch selbst noch im Sinne seiner Erzählungen handelte. So hatte er schon öfter aus seinem Fenster einen blinkenden Gegenstand in seinem Garten liegen sehen. Immer aber, wenn er hinkam, war das Gesehene verschwunden. Einst nun, als Johannistag gerade auf den Sonntag fiel, verschwand der Schein nicht, und da wußte er als kundiger Mann in solchen Sachen sogleich, daß hier ein Schatz verborgen liege. Er rief also seinen Knecht herbei und machte sich mit ihm sofort an die Arbeit, um den Schatz zu heben. Der lag heute auch gar nicht tief. Schon hatte man den großen eisernen Topf bis zum Rande mit Gold gefüllt, an die Oberfläche der Erde gehoben, als im nahen Stalle das Vieh ein furchtbares Gebrüll anfing. Beide Schatzgräber ließen den Topf stehen und stürzten nach dem Stalle, wo sie indes alles völlig ruhig fan- den. Als sie nun zu dem Schätze zurückkamen, ja, da konnten sie lange suchen. Er war verschwunden und blieb verschwunden. Hätten sie das Gold, ehe sie auf das Gebrüll in den Stall liefen, wenigstens vorher mit ihrer Hand berührt, so hätte es der unsichtbare Geist nicht mehr in der Gewalt gehabt und es ihnen keiner mehr nehmen können.

„Da fällt merk noch in,“ bemerkte ein alter Holzhauer, den ich ebenfalls auf den Johannistag angeredet hatte, „dat up Johannisdag de Kuckuck anhalen mött met räaupen. Iuse Aulen plegten ümmer te seg- gen: Säa vele mal as de Kuckuck nah Johannisdag noch röppet, ümme säa vele Gröschen stigt dat Käaurn in Praise.“ (Fredelsloher Gegend.)

Wie mein Notizbuch mir sagt, habe ich diese Aufzeichnungen schon im Jahre 1887 gemacht; als ich aber Mai/Juni 1922 wieder mal den Solling durchzog, konnte ich in fast allen seinen Ortschaften fest- stellen, daß diese altüberlieferten Bräuche und abergläubischen Vorstellungen dort noch ziemlich all- gemein bekannt sind, wie auch, daß noch manches von manchem geglaubt und geübt wird.

Eine 55jährige Fredelsloherin, in derem Hause ich 1922 Hochzeitsgast war, erinnerte sich aus ihrer Mädchenzeit folgenden Brauchs: Ein junges Mädchen müsse am Johannistage mittags zwischen 11 und 12 Uhr drei Donnerbohnen (Sedum Telphium) verschiedener Größe suchen und mit den knolligen Wurzeln aus der Erde ziehen, sich bei jeder einen Mann denken, dann die drei Donnerbohnen zusam- menbinden und in der Kammer an die Wand hängen. Es würde dann denjenigen zum Manne bekom- men, den es sich bei der am längsten grün bleibenden Bohne gedacht hätte. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 105

Eine achtzigjährige Frau aus Fredelsloh hörte ich sagen: Die jungen Mädchen müßten sich am Johan- nistage zwischen elf und zwölf „Fraïekriut“ in den Busen stecken; wie der Mann heiße, der ihr danach zuerst begegne, so heiße ihr zukünftiger. (Fraïekriut ist Erdrauch, Fumaria.)

Eine Fredelsloher Lebensregel lautet: „Me mäat seek Johannesdag Weihnachten vorrstellen, denn kann ’n seck Weihnachten Johannestag vorrstellen.“ (Man soll Johannistag für den Winter sorgen.

In Schönhagen wurde noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts am Johannistage ein großer soge- nannter Johannisbaum, eine Tanne, unter dem Jubel des Jungvolks aus dem Walde geholt, abgeschält und auf der Meinte ausgerichtet. Nahe der Spitze hatte man ein Querholz angebracht, an dem neue Hemden, Brusttücher, Hüte usw. hingen. Wer bis obenhin klettern konnte, durfte sich einen der Klet- terpreise aussuchen. Auf dem „Goseplacke“, einem Teile des Dorfangers, fanden dann ein Pferderen- nen und Wettschießen nach einer Flakscheibe statt. Ein unbescholtener junger Mann, der auf einem Stuhle saß, diente als Zielscheibe. Nach einem blinden Schuß mußte er tot umfallen, um nach einiger Zeit wieder aufzuleben, worauf er dann mit runden Salzkuchen bewirtet wurde.

In Wahmbeck hat sich der Johannisbaum noch bis auf den heutigen Tag (1922) erhalten. Die Kinder gleichen Alters tun sich zusammen und stellen einen Johannisbaum auf. An einer hohen Stange ist ein Halbbogen befestigt, den man mit frischem Laub, Johannisblumen, bunten Bändern und farbigen Eier- schalen schmückt. Die Eltern des Kindes, vor dessen Hause der Johannisbaum aufgestellt ist, müssen die kleine Gesellschaft am Nachmittag mit Kaffee bewirten, Kuchen bringt jedes Kind mit. Die Mäd- chen ziehen an diesem hohen Festtage ihre schönsten Kleider an und tragen Kränze aus Kornblumen. Am Abend kommen auch die Knaben zu ihrem Rechte: Sie werfen mit Steinen nach den Eierschalen und plündern den Baum. Sonst ist vom Johannisbaume im ganzen Solling keine Spur mehr zu finden. (Lehrer Baumann in Wahmbeck hat in Tecklenburgs Heimatkalender 1912 eine ausführlichere Be- schreibung mit Bild gegeben.)

Der Erntehahn. Der Solling ist an nennenswerten Erntebräuchen arm, der Erntekranz heute jedenfalls eine seltenere Erscheinung als früher. In Derenthal wurde er ehemals an einem Baume befestigt, der ähnlich wie der Johannesbaum ausgerichtet war, und man versicherte mir, das Erntefest wäre dort ebenso lebhaft ge- feiert worden, wie anderwärts die Kirmes.

In Würgassen, einem am westlichen Fuße des Sollings und hart an der Weser gelegenen Bauerndorfe, sah ich im August 1920 einen Erntebrauch ganz besonderer Art, wie er in keinem anderen Sollingsorte vorkommt. Am Torpfosten eines Scheuneneingangs hing eine Stange, an deren Spitze ein geschnitzter und bunt bemalter Hahn befestigt war, unter ihm ein Kranz aus Laub, Blumen und Feldfrüchten. Wie mir der Ortslehrer Hartmann sagte, hätte dieser Kranz früher nur aus Eierschalen bestanden. Der Hahn wird beim Einholen des letzten Fuders mit ins Feld genommen und oben auf das Fuder gesteckt. Die Familienglieder und etwaige Tagelöhner sitzen um ihn herum, und unter fröhlichem Gesang zieht man ins Dorf hinein.

Ich sah den Hahn allerdings nur an zwei Bauernscheunen, und wie mir der Lehrer versicherte, wären auch nur noch wenige alte Bauernfamilien, die bis jetzt an der Sitte festgehalten hätten. Er wolle aber gern meiner Anregung folgen und die Jugend anhalten, die Sitte wieder allgemeiner zu Ehren zu brin- gen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 106

Würgassen ist das einzige Sollingsdorf, das trotz seiner Lage am rechten Weserufer zum Stifte Pader- born gehörte, wie es auch das einzige katholische Dorf des ganzen Sollingsgebietes ist1) außer Lüch- tringen; denn auch Lüchtringen, daß ebenso wie Würgassen hart an der Weser liegt, aber noch zum Sollingsgebiet gerechnet werden muß, ist ein katholisches Dorf. Der Erntehahn ist jedenfalls im Stifte Paderborn allgemeiner gebräuchlich gewesen, und man muß somit annehmen, daß er von dort seinen Flug nach dem Sollinge nahm2).

Ein Überbleibsel früherer Erntefeiern in Würgassen ist der folgende, wohl nicht mehr vollständige Erntespruch, der von der Großmagd am Erntedankfeste gesprochen wurde:

„För den Giebel hängt de Kranz Un up de Diäle is de Danz, De Musikanten up de Hille, Ein jeder spielet, wat he will. Un de Diärns met gollen Kappen, Kruse Röcke un knappe Jacken, Wat de springet, wat de queiiket, Met de Jungens herümmer sleiiket.“

Kirmes. Wenn die Ernte in der Hauptsache eingebracht ist, beginnt die lustige Kirmeszeit. „Pfingstbier“ und „Schüttenhoff“ werden nicht alle Jahr abgehalten, aber „Kermisse“ ist in jedem Jahre, „Kermisse“ ist das höchste weltliche Fest des Dorfes. Es muß schon ganz schlimm kommen, wenn sie ausfallen soll; ja, nur ein so gewaltiges Ereignis wie der Weltkrieg konnte es bewirken, daß die Kirmesfeier während mehrerer Jahre ausgesetzt wurde.

Die Ernte also ist größtenteils beendet, man hat Geld, hat Zeit, und da ergibt sich die Stimmung für ein paar fröhliche Tage ganz von selbst.

Während an den einen Orten das Fest immer auf ein und denselben, von jeher dazu bestimmten Tag fällt, z. B. in Espol wird der Tag an anderen Orten von der Gemeinde alljährlich aufs neue festgesetzt.

In der Uslarer Gegend beginnt die Kirmes Anfang September, manchmal schon Ende August, und endet mit der Wienser Kirmes, so um Martini herum. Man pflegt deshalb dort zu sagen: „Up’r Woin- schen Kermisse werd de leßten Fleigen in’n Käauken ebacket.“ Von Nienhagen (auf der Weper), wo die Kirmes gewöhnlich auch spät gefeiert wird, hörte man vor der Kriegszeit: „De Neggenhäger Ker- misse is up Böureinige settet, weil de Kreuger den Saal vull Hawern banset hät, hei mott irst daschen.“

Natürlich erfordert die Kirmes als bedeutendstes Volksfest im Jahre allerlei wichtige Vorbereitungen. Schäden an Haus und Hof müssen vor der Kirmes abgestellt werden. Man sieht daher in den letzten Wochen vor dem Feste alle Tage den Wittchebinder (Weißbinder) im Dorfe an der Arbeit. Der Kalk- putz der Hauswände wird erneuert, Stuben und Kammern und Diele, ja mitunter selbst die Ställe wer- den geweißt, alle Ecken umgekramt und Spinnweben beseitigt; denn man hat doch auf Besuch von

1) Folgender Rest des Satzes ist im Originaltext am Buchende als Berichtigung aufgeführt.

2) In den Lebenserinnerungen von Waldeyer-Hartz, Bonn 1920, ist ein Erntefest im Kreise Höxter erwähnt, bei dem auch der Erntehahn eine Hauptrolle spielt. Er war nicht nur mit bunten Bändern, Knittergold und Fruchtäh- ren geschmückt, sondern auch mit Taschentüchern behangen, mit denen die Knechte beschenkt wurden. Siehe auch Klick und Sohnrey, Feste und Spiele, S. 117 und 173. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 107

Verwandten und Bekannten aus den Nachbardörfern und weiterher zu rechnen, – na, und die sollen sich denn doch nicht schlecht umsehen. Ob geladen oder nicht geladen, – zur Kirmes ist jeder will- kommen, der kommt.

Am Sonnabend – die Kirmes fällt immer auf Sonntag und Montag – schlachtet der Vater „’n Bock“, während die Mutter mit den weiblichen Gliedern des Hauses ganze Berge von Kuchen bäckt: Butter-, „Smant“-, Zwetschen- und Apfelkuchen, ergänzt noch durch zwei oder drei ansehnliche weiße „Luf- fen“, mit und ohne Rosinen. Geschäftig eilen die Frauen mit den Kuchenblechen zwischen Backhaus und Wohnhaus hin und her, und der frische Kuchenduft erfüllt bald das ganze Dorf. Die Menge der Kuchen richtet sich natürlich einigermaßen nach der Zahl der Gäste, auf die man ungefähr rechnen kann, und da diese Zahl, wie sich aus der allgemeinen Gastfreiheit ergibt, ungewiß ist, so pflegt eine vorsorgliche Hausfrau der Kuchen so viele zu backen, daß sie nicht in Verlegenheit kommen kann. Gehört es doch zur Gastfreundschaft, daß jeder auswärtige Kirmesgast beim Abschiede zwei große Kuchenstücke erhält – „ als „Reisepaß“, wie wohl scherzweise gesagt wird. Eine rechte Bauersfrau würde es geradezu als etwas Schimpfliches empfinden, wenn sie nicht so viel Kuchen gebacken hätte, daß sie jeden Gast in der üblichen Weise beschenken könnte.

Im Oktober 1899 erhielt ich sogar eine Kuchensendung nach Berlin und einen Brief aus Eschershau- sen im Solling, in dem es hieß: „Weil wir morgen unsere Kirmes feiern, schicken wir Ihnen die Probe von unserem Kermeskäauken. Geschlachtet haben wir dies Jahr zur Kirmes nicht, sonst hätten wir Ihnen auch die Probe von der frischen Wurst mitgeschickt. Es hat aber manch armes Zicklein und manch alter Schafbock sein Leben lassen müssen, denn ein altes Sprichwort sagt: ,Wat seiin mott, dat mott seiin, un Kermisse mott ’r Fleisch seiin. Ziege, du most starben.‘ Der Zickenschlachter aus Uslar hatte einen ganzen Sack voll Ziegenfelle.“

Schmiedskonrad in Schönhagen schildert mir die dortigen Kirmesse früherer Jahre also:

„Geschlachtet wurde oder doch Fleisch eingekauft, daß wirtschaftlich Schwächere daran das ganze Jahr abzuzahlen hatten. Alle Verwandten und guten Bekannten von auswärts wurden geladen. Je mehr Kirmesgäste, desto größer die Ehre. Frühmorgens schon kam der erste Besuch zu Fuß und der andere gefahren. Scharenweise sah man die lieben Kirmesgäste von allen Seiten ins Dorf strömen, zu Fuß und zu Wagen. Und man begrüßte die Gastgeber mit den Worten: „Gun Dag, Kermesvader un Kermes- mudder!“ Und dann gab der Gast das große, meist rote Taschentuch ab, das er abends gut gefüllt am Stocke über der Schulter nach Hause trug.“

Wie mir die 88jährige Hannewase in Delliehausen (im Sommer 1922) noch sehr jugendfrisch erzählte, hätte sie in ihren Mädchenjahren mal eine Kirmes in Schönhagen mitgemacht, bei der die jungen Knechte die Hemdkragen so hoch gezogen trugen, daß sie ihnen bis an die Ohren reichten.

Am ersten Kirmesabend gibt es (z. B. in Espol) die wohlschmeckenden „Schapzapperls“1). Alle Gäste, die da kommen, essen mit, natürlich nachdem jung und alt sich am Tanze auf dem Krugsaale weidlich erfreut hat.

1) Das seltsame Wort „Schapzapperl“ für Kaldaunen hat mir einiges Kopfzerbrechen verursacht. Ich hörte es selbst im Sollinge nicht, sondern fand es in einem Kirmesaufsatze von Hauptlehrer Nagel in Dassensen, früher in Espol. Meine gelegentlichen Umfragen hatten das Ergebnis, daß niemand im Sollinge den Ausdruck kannte. Ich begab mich deshalb eigens nach Espol, um dem Worte näherzukommen. Aber siehe da, es fand sich auch dort niemand, selbst nicht unter den ganz alten Leuten, denen das Wort geläufig war. So machte ich mich wieder auf und fuhr nach Dassensen, um Herrn Nagel selbst noch einmal ins Gebet zu nehmen. Er versicherte und blieb dabei, das Wort in Espol gehört zu haben, wo er mehrere Fahre wirkte. Seine Frau, eine Espolerin, konnte sich Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 108

Kurzum, es ist alles so, wie der kundige Volksreim es schildert:

„Wenn Kermisse is, wenn Kermisse is, Denn slachtet mein Voader ’n Bock; Denn danzet meine Mudder, denn danzet meine Mudder, Denn slüggt de räahe Rïck.“

Natürlich ist das Tanzen die Hauptangelegenheit der jungen Leute, doch sieht man im Laufe des Abends auch immer mal die einen oder anderen Alten im Takte sich drehen, zumal wenn die leider längst außer Kurs gesetzten Tänze ihrer Jugend auf nachdrückliche Anregungen hin wieder aufs Spiel kommen, wie z. B. der Hopswalzer:

„Säaune lüttchen Topp Hägen, Topp Hägen, Topp Hägen, säaune lüttchen Topp Hägen, Topp Hägen, Topp Flaß ...“, oder die beliebten alten Rheinländer:

„Wenn se alle eine herowet, will eck iiauk eine hebben, Dat eck gar keine hewwe, mag eck äauk nich gärn …“

Oder:

„Drück’ die Augen zu, drück’ die Augen zu, Du bist noch viel zu jung dazu ...“

Oder der Rundtanz:

„Dat Bräaud (Brot) is all, dat Bräaud is all, Charlotte mäaut nah’r Möhlen ...“

Wie hoch der Kirmestag z. B. in dem Dorfe Espol steht, beweist auch die merkwürdige Einrichtung, daß dort der Kirmes-Sonntag der einzige Sonntag im Jahre ist, an dem in dem Filialdorfe von Fredels- loh Morgengottesdienst abgehalten wird. Aber nur die Männer gehen dann zur Kirche, während die Stände der Frauen, die ja an diesem Tage auch alle Hände voll haben, vollständig leer bleiben. Zum Festmahl begeben sich Prediger und Lehrer in das Haus eines der vier großen Bauern, die mit ihrer festlichen Verpflegung nach einer geschichtlichen Bestimmung ausdrücklich „belastet“ sind und in der Ausübung dieser ihnen obliegenden Pflicht Jahr um Jahr miteinander abwechseln. Geschichtlich ver- hält sich das so: In älterer Zeit war in Espol überhaupt kein Predigtgottesdienst; der damalige Besitzer des Gutes, das später in die vier großen Bauernhöfe aufgeteilt wurde, bewog indes den Pastor von Fredelsloh, alljährlich einmal in Espol zu predigen; der Gutsherr versprach dafür gute Verpflegung und lud Pastor und Lehrer, der von Fredelsloh mit herüberkam, nach dem Gottesdienste regelmäßig zur Tafel. Als der Gutshof dann verkauft wurde, ließ der Gutsherr das Kirmesmahl in aller Form als „Last“ auf die vier Käufer ins Grundbuch eintragen1). Aber wenn auch dies Festmahl dokumentarisch als eine Last festgelegt ist, so versteht es sich doch bei dem überaus gastfreundlichen Sinne der Espo-

hingegen nicht auf das Wort besinnen. Somit kann es hier nur mit Vorbehalt wiedergegeben werden. Es hängt jedenfalls mit „Schaf“ zusammen, aus dessen Eingeweiden vorwiegend die Kaldaunen bereitet werden.

1) Die Akten der Klosterkammer zu Fredelsloh (Ruhr. 24, Schrank II, Fa. 8, Ar. 2) enthalten eine die Kirmespre- digt und die Kirmesmahlzeit in Espol regelnde Verfügung vom 1. Dez. 1718, aus der hervorgeht, daß wegen der Kirmespredigt und der Speisung Streitigkeiten entstanden waren. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 109 ler ganz von selbst, daß sie die „Last“ niemals als wirkliche Last empfunden haben. So lebhaft wie Pastor und Lehrer bewillkommnet werden, so herzlich ist es auch in der Tat gemeint.

Pastor Keßler, der in den achtziger Jahren amtierte und seiner seltsamen Eigenheiten wegen in keinem Hause etwas annahm, machte allein in Espol eine Ausnahme, um die alte Volkssitte zu ehren und die Leute nicht vor den Kopf zu stoßen. Er ärgerte sich aber doch darüber, wie man mir erzählte, daß alle Mann aus einem und demselben großen Reisbreinapfe aßen.

Wenn in früherer Zeit der Pastor von Fredelsloh den Kirmesplatz in Espol besuchte, galt es als zum guten Ton gehörig, daß ihm die jungen Bauern ihre Frauen zum Tanze brachten, um ihn dadurch zu ehren. Anderseits gehörte dazu, daß die jungen Männer mit der Frau Pastor tanzten, und was ein rech- ter Pastor und eine rechte Pastörsche war, die brauchten auch nicht zu fürchten, daß dabei die Pastoren würde Schaden litt.

Sonst ist die ursprüngliche kirchliche Bedeutung des Festes im Laufe der Zeit völlig verloren gegan- gen.

Pastor Harland in Schönhagen predigte darum einmal am Kirmessonntage, man solle nicht meinen, Kirmes wäre dazu da, die Spinnweben aus den Ecken zu kehren, die Küchen blitzblank zu putzen und die Höfe rein zu fegen und Gäste zu laden, sondern es wäre ein kirchliches Fest, und so sollte man vor allem zur Kirche kommen.

Von dem hohen Alter und der Unverwüstlichkeit der Kirmes möge folgender Bericht aus Hardegsen zeugen, den ich in der Göttingen-Grubenhagenschen Zeitung vom 20. Oktober 1921 fand:

„Da, wo heute das Gasthaus „Zur Krone“ – auch wohl „Die Klus“ genannt – steht, lag vor einigen hundert Jahren das Dorf Bartshausen, und noch heute läßt es sich die Kronenwirtin nicht nehmen, für „ihr Dorf“ die Kirmes abzuhalten. Auch dies Jahr fand die Kirmes unter reger Beteiligung von alt und jung statt. ...“

Heinrich Schomburg in Moringen begegnete, wie er mir mit Behagen erzählte, einem Lutterhäuser, der so angegriffen und übernächtigt aussah, daß er ihn fragte, wo er denn diese Nacht gesteckt hätte. ,Up’r Barthshiuser Kermisse‘. ,Wo liegt denn Bartshiusen?‘ Das läge überhaupt nirgends mehr, ant- wortete er; es habe aber vor einigen hundert Jahren nicht weit von der Kluswirtschaft bei Hardegsen gelegen, sei in Kriegszeiten zerstört und nicht wieder aufgebaut worden. Die Bartshäuser Kirmes wäre erhalten geblieben und würde seither noch alle Jahre in der Kluswirtschaft bei Hardegsen gefeiert.

Als die Espoler Kirmes in einem Jahre verboten war, weil dort Ungehörigkeiten sich zugetragen hat- ten, entstand ein Lied, das also anhub:

„Lieben Leute wollt ihr wissen, Wie es um die Kirmes steht?

Das Lied hat nicht weniger als 36 Verse, die in der Spinnstube gemacht waren, jeden Abend einer. Die Melodie hatte der Holzhauer Krauß ersonnen. Ein Espoler, der hineingezogen war und sich dadurch beleidigt fühlte, brachte die Sänger zur Anzeige. In der Gerichtsverhandlung wurde gefragt, wer das Lied könne und wer es nicht könne. Zehn sagten, sie könnten es, während vier schlauerweise die Kenntnis des Liedes ableugneten. Die vier wurden freigesprochen.

Zu Neuhaus, hoch oben im Sollinge, schilderte man mir die Begrüßung der Kirmesgäste in dem Nach- bardorfe Silberborn wie folgt: Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 110

Man haute dem Gast auf den Schädel, daß ihm die Zähne im Munde klapperten, oder man schlug ihm mit dem selbstgemachten Weißdornstocke, den man mit nach dem Festplatze brachte, vors Schien- bein, daß er einknickte. Dabei, so bemerkte der Neuhäuser, der mir dies erzählte, mußte man noch ein freundliches Gesicht machen, um nicht als Spielverderber zu gelten. Das Hauptfest in Silberborn wie in Neuhaus war die Kirmes. Die Silberborner kamen zur Kirmes in Neuhaus und die Neuhäuser zur Kirmes in Silberborn. Natürlich keine Kirmes ohne Schlägerei. Die Neuhäuser hauten die Silberbor- ner, und die Silberborner hauten die Neuhäuser, daß das Blut in Strömen floß. Wieviel zarter und ge- sitteter ist man doch inzwischen geworden, obgleich Kirmes-Schlägereien auch heute nicht gerade zu den äußersten Seltenheiten gehören.

Sonstige Merkwürdigkeiten gibt es von der Kirmes nicht zu berichten; leider nicht, möchte ich sagen, denn die Kirmes ist mit der Zeit zu einem ausschließlichen Tanzfeste herabgesunken, dem man wohl außer der schönen Betätigung der Gastfreundschaft auch sonst noch einen höheren Inhalt wünschen möchte. Jugend- und Volksspiele sollten damit verbunden sein und edelste Freuden gepflegt werden. Eine Aufgabe, die ich hiermit angeregt haben möchte.

„Bäauklesen“. Zu den mancherlei alten Berechtigungen, die die Sollinger früher an ihren Wäldern hatten, gehört auch das Buchlesen, aus das man allerdings nicht jedes Jahr rechnen kann, da die Buchen eben nicht jedes Jahr tragen. Ein gutes Buchsamenjahr kündigt sich im Frühjahr durch einen starken Blütenstaub an, davon einem im Walde nicht selten die Schuhe grün werden. Nach dem Volksglauben entscheidet sichs am Johannistage (siehe Johannistag S. 103), ob ein gutes Bucheneckernjahr zu erwarten ist oder nicht. An diesem Tage soll sich nämlich die Blüte der Buche öffnen, und regnet es dann hinein, so verdirbt die Blüte.

Ist das „Buch“ gut geraten, so wandert man im Oktober von allen Seiten in die Wälder, um die Bäume zu klopfen. Um den Leib einen Gürtel, in dem ein Beil steckt, klettert ein Mann in den Buchenbaum und schlägt, während seine Angehörigen unten ein Laken aufhalten, auf die Zweige. Ist ein Baum abgeklopft, so schwingt er sich oft mit der Behendigkeit eines Eichkätzchens auf den nächsten Baum. Natürlich geht das nicht immer ohne Unglücksfälle ab: Der Buchklopfer greift im Hinüberschwingen vorbei, oder der Zweig bricht, und der Klopfer fällt herunter.

Diese Art der Buchernte ist übrigens immer seltener geworden, und soviel ich selbst bei der letzten Buchernte im Solling sehen konnte, wird heute das Buch durchweg auf dem Boden „gefegt“ oder auch gelesen, nachdem zuvor der Wind das Klopfen der Buchen besorgt hat. Nur insofern kann das „Bäauk- fegen“ noch gefährlich werden, als nämlich der Förster unversehens dazukommen kann; denn die Be- rechtigung ist nicht schrankenlos, sondern durch forstamtliche Vorschriften sehr eingeschränkt.

Wie Pastor Harland in Schönhagen feststellte, wurden zu seiner Zeit oft an einem Tage dreizehn Himpten Buch gelesen und dann in Säcken zur Ölmühle gebracht. Das Öl war insbesondere für die kleinen Leute, denen es in früheren Jahrzehnten noch nicht so gut ging wie heute, ein wichtiges Ernäh- rungsmittel. Pellkartoffeln wurden in Buchöl gestippt, Puffer in Buchöl gebacken, kurzum, das Buchöl diente der Hausfrau in mancherlei Nöten.

Wenn in früheren Jahren eine gute Buchernte war, gingen die Burschen und Mädchen von Fohlen- placken bei hohem Schnee mit Köze und Karren nach Mackensen zur Schlagmühle, und es dauerte manchmal drei Tage, bis sie zurückkamen. Man blieb so lange in dem Mühlorte, bis das „Buch“ ge- schlagen war und wartete aufeinander, um in lustiger Gemeinschaft den Heimweg anzutreten. Lange- weile hatten die jungen Leute aber keineswegs, denn sie besuchten fleißig die Spinnstuben und waren Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 111 dort mit ihren Liedern immer willkommene Gäste. So erklärt sich’s denn auch, daß die alten Fohlen- placker von dem „Bäaukgahn“ wie von ordentlichen Festtagen reden.

Zwetschenbüttchen. Zu den dörflichen Arbeiten, die nach Gemeinschaft rufen, auch eine Gemeinschaftsfreude mit sich bringen, gehört, wie das Musmachen überhaupt, so insbesondere das Zwetschenbüttchen. So nennt man das Aussteinen der Zwetschen, das seiner Natur nach eine Frauenarbeit ist. Hilfsbereit kommen in dem Hause, wo Zwetschenmus gemacht werden soll, die jungen Mädchen und Frauen aus der Nach- barschaft, Verwandtschaft und Freundschaft zusammen und „büttchen“, ein der Küche oder Stube sitzend, emsig und lustig einen Zentner nach dem anderen. Das dauert dann wohl, wenn es ein so über- reiches Obstjahr ist, wie das Jahr 1922, viele Stunden lang und bis weit über Mitternacht hinaus. So emsig die Hände, so munter der Mund. Das ganze Dorf wird durchgenommen, und wer irgendeine Schnurre weiß, gibt sie zum besten. Und daß es dann auch an Liedern aller Art nicht fehlt, versteht sich von selbst.

Zwischendurch wird auch gnickernd ausgemacht, wem man den Haufen Zwetschenkerne vor die Tür bringen will, denn es ist alter Brauch, daß man die Kerne Leuten heimlicherweise hinträgt, denen man gern einen kleinen Tort oder einen harmlosen Schabernack antun oder die man doch ein wenig hänseln möchte. Und so sieht denn in der Musmachezeit am frühen Morgen manche Familie einen großen Haufen Zwetschenkerne vor ihrer Haustür liegen und hat nun nichts Eiligeres zu tun, als die Besche- rung über die Seite zu bringen, ehe andere Leute sie sehen.

Liebesleben. In städtischen Kreisen wie in den Kreisen der Gebildeten begegnet man der landläufigen Anschauung, daß die bäuerlichen Heiraten gewöhnlich nichts mit der Liebe zu tun hätten, sondern sich lediglich nach dem gegenseitigen Maße von Geld und Gut bestimmten. Das ist ebenso falsch, wie es richtig ist. Im großen und ganzen genau so falsch und genau so richtig wie etwa die Behauptung, in den städti- schen oder in den gebildeten Kreisen würde nur aus Liebe und nur aus rein idealen Gründen geheira- tet.

Die Liebe als elementare Erscheinung richtet sich nicht nach Stand und Vermögen, wirkt sich im bäu- erlichen Leben genau so aus wie im städtischen, wenn auch ihre Erscheinungsformen hüben und drü- ben natürlich grundverschieden voneinander sind.

Allerdings muß zugestanden werden, daß die Liebe in den Kreisen der großen und größeren bäuerli- chen Besitzer in der Regel nur dann zur Heirat führt, wenn die gegenseitigen Vermögensverhältnisse und das damit verbundene Ansehen sich annähernd gleichen. Ich glaube überhaupt, daß die Söhne dieser Bauernschichten in dem ihnen angeborenen Standesgefühl, von gelegentlichen Abschweifungen abgesehen, ihr Herz von vornherein ernstlich nur solchen Mädchen zuwenden, die nach Vermögensla- ge und Ansehen ihren Familien genehm und für eine Heirat unbedingt in Betracht kommen.

Hat indes zu der Zeit, da eine junge Frau auf den Hof kommen soll, das eigene Herz noch nicht ent- scheidend gesprochen, oder liegt die Unentschlossenheit, vielleicht auch Schüchternheit im Charakter des jungen Mannes, so sorgt dann schon die Verwandtschaft, nötigenfalls auch ein bäuerlicher Frei- werber – aber dies nur selten – dafür, daß die passenden Leute zusammenkommen. Das ist in den wohlhabenderen Bauernfamilien so feststehend wie in den Fürstenhäusern.

Wo dieser altgeregelte Verlauf dennoch einmal unterbrochen wird, also die Ausnahme von der Regel eintritt, da gibt es dann die stillen und lauten Stoffe für den – Dorfgeschichtenerzähler. Ich habe z. B. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 112 in den letzten zwanzig Jahren im Sollinge drei sehr tragische Fälle aufgezeichnet, in denen leiden- schaftlich erregte junge Bauernknechte ihrem Leben wegen verschmähter Liebe ein Ende machten.

Von den Liebesbräuchen, wie sie im Solling, namentlich zu bestimmten Zeiten des Jahres, z. B. am Mathiastage, geübt wurden, solange das altüberlieferte Volkstum noch in Blüte stand, habe ich bereits einen ganzen Strauß dargeboten (S. 49). Hier möge noch eine kleine Blumenlese sonstiger Liebes- bräuche gegeben sein, die sich also nicht an bestimmte Tage knüpfen. Dabei ist indes ein gut Teil des alten Glaubens in Abzug zu bringen. Vielfach ist es mehr Schalkheit, Lust am Ungewöhnlichen oder auch heller Übermut als Aberglaube, was die überlieferten Bräuche am Leben erhält.

Beim Schluckauf sagt man:

„Schluckauf vergehe, Hat mich mein Schatz noch lieb, so stehe; Ist er mir aber gram, So schluck noch neunmal an.“

Wer gern wissen möchte, nach welcher Gegend er heiratet, muß den Stengel vom roten Henderk aus der Erde ziehen. Die Richtung der Wurzel zeigt dann die Gegend an. Legt sich ein „Deer“ (Dirn) ein Blatt vom Storchenschnabel in den Schuh, so soll der erste Bursche, der ihr begegnet, einmal ihr Mann werden. Will sie den Beruf ihres zukünftigen erfahren, muß sie von einem Gänseblümchen die Blü- tenblätter einzeln abrupfen und dabei sagen:

„Eddelmann, Beddelmann, Kapmann, Pastor, Schuster, Schneider, Pritschenmajor.“

Das letzte Blatt fällt dann auf den Beruf des Zukünftigen.

Wer noch keinen Schatz hat, muß jeden Freitag beim Zubettegehen rufen:

„Deckbett, eck träe deck bet in den Grund, Datte meck läßt wärn kund, Wer meuin Schatz will seuin: Dei kome und late seck düsse Nacht vor merk in Drame seihn.“

Geraten wird auch: Aus einem Kornwagen drei Kornähren ziehen, dabei aber nicht sprechen, die Äh- ren einwickeln, hinlegen und nicht wieder sehen. Am ersten Christmorgen mit den drei Ähren auf die Straße gehen. Wie der erste Mann heißt, der ihr begegnet, so heißt ihr Zukünftiger.

Findet ein Mädchen ein Stück Eisen, wie einen Nagel oder dergleichen, oder löst sich ihm die Schürze von selbst, daß sie fällt, oder verliert es das Strumpfband, so denkt der Schatz an es. Scherzweise heißt es dann wohl: „De ale Junge denket an einen.“ Aus dem gleichen Grunde soll man, wie ich in Nienha- gen auf der Weper hörte, ein brennendes Streichholz am verkohlten Ende fassen. Brennt es aus, so denkt der Schatz an sie oder ihn.

Wenn zwei junge Mädchen draußen an die Haustürkleppe heimlich einen Stein binden, sich unbe- merkt an einer Ecke aufstellen und an dem Bande „tocken“, so bollwerkt’s natürlich, und die Hausbe- wohner stürzen ans Fenster. Sieht als erster ein Mann heraus, so bekommt er die beiden jungen Mäd- chen zur Frau – natürlich nacheinander.

Ein altes Weib wollte gern ihre liederliche Tochter mit einem reichen Bauernsohne verheiraten, und sie „besprach“ ihn so, daß er dem Mädchen nachlaufen mußte, ob er wollte oder nicht, und gar nicht Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 113 von ihm lassen konnte. Eines Abends aber legte ihm jemand Mist in seine Schuhe, und als er damit zu dem Mädchen kam, war auf einmal seine Liebe vergangen – stinkend geworden.

Wenn sich ein Mädchen beim Waschen die Schürze naß plätschert, ist anzunehmen, daß ihr Liebster einmal ein Säufer wird. – Der Bräutigam soll seiner Braut keinen Kamm kaufen, denn der Kamm sticht die Liebe tot. – Kauft einer seiner Braut gar ein Paar bunte Schuhe, kann er sicher sein, daß er sein Leben lang nicht mit ihr zusammenkommt, denn da „trampelt“ sie die Liebe mit Füßen.

Spinngewebe im Hause eines jungen Mädchens bedeuten Brautlaken. (Der Städter soll also nicht gleich falsche Schlüsse ziehen, wenn er in ein Bauernhaus kommt und da Spinngewebe sieht.)

Selten kommt es vor, daß ein junger Mensch ein Mädchen heiratet, das älter ist als er. Häufiger sind sie gleichaltrig; vielfach ist aber auch das Mädchen, die Braut, erheblich jünger. Es heißt:

„Dat Meken in Bae, Dei Mannsminsche in Swae, Dei köönt seek noch efreggen.“ (Das Neugeborene im Bade, der Mannsmensch im Schwade, die können sich noch freien.)

Dazu wird ein Fall aus Espol verbürgt: Ein Bauer mähte (Schwaden), als er es zur Kindtaufe läuten hörte. Lachend sagte er: „Dat sall meuine Briut wärn.“ Richtig ist es auch so gekommen; daher die Redensart.

Ein Spinnreim, der beim Spiel in der Spinnstube oder auch sonst wohl gehört wurde, lautet:

„Spinn, Meken, spinn, Dei Fregger will erin, Hei will ’r nech weer eriut – Melusine is de Briut.“

Die Unruhe der Verliebten wird drastisch und treffend mit dem Reime gekennzeichnet:

„Meck bitt ne Lius, meck bitt ne Flah, Eck mäaut nah Hius, meuin Schatz is da.“

In den drastischen kleinen Geschichtchen, die so von Mund zu Mund laufen, fragt einer den anderen: Was wohl am besten schmecke? Ohne sich lange zu besinnen, antwortet der andere mit Begeisterung: Ein Kuß von meiner Lieserl! „Denn,“ so darauf der erstere mit schmatzender Zunge, „häste noch deiin Liewe neine Arften met Sweuinepätchen egetten!“ (keine Erbsen mit Schweinepfötchen gegessen).

Das „Fensterln“ – ich meine den Ausdruck – der Oberbayern kennt man im Sollinge nicht; daß aber etwas Ähnliches wie das „Fensterln“ im Sollinge nichts gar so Ungewöhnliches ist, beweist u. a. das folgende Geschichtchen, das ich in Eschershausen (bei Uslar) hörte: Ein junger Eschershäuser hatte das Messerschmieden erlernt und ging nach der Lehre in die Fremde, nämlich über den Solling nach Bevern, etwa fünf Stunden von Eschershausen. Seine Liebste diente in der Eschershäuser Mühle, und der junge Messerschmied kam ihretwegen recht häufig zum Besuche von Bevern herüber. Eines frü- hen Morgens nun, so bei drei Uhr, sieht ein Bauer, der zu mähen in die Grundwiesen will, den jungen Mann mit einer langen Leiter auf dem Rücken von der Mühle herkommen und ruft ihn erstaunt an: „Minsche, wo kümmst denn döu alle her?“ – „Ko – ko – kome von Be – Be – Bevern her!“ stottert der Messerschmied in seiner großen Verlegenheit. Der alte Bauer wundert sich schmunzelnd, daß der jun- ge Mensch schon so früh und mit der Leiter auf der Schulter von Bevern hergekommen ist. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 114

Vom alten L. aus Cammerborn weiß man, daß er als Soldat in Einbeck gar manchmal bei Nacht und Nebel den gut fünfstündigen Weg nach Cammerborn flitzte, um seine Braut zu sehen. Er sah sie mei- stens nur durchs Fenster von außen, denn ihm blieb gewöhnlich nicht soviel Zeit, um auch durchs Fenster zu klettern. Hatte er sie gesehen, so war er beruhigt und trat alsbald wieder den Rückweg an, um ihr dann einen langen Brief zu schreiben. Morgens zum Wecken ist er immer wieder pünktlich zur Stelle gewesen.

Daß die Mädchen schon von früh auf die altüberlieferten Bräuche üben, kann man ihnen wahrhaftig nicht verdenken, heißt es doch: Wenn ein Mädchen erst über 20 Jahre alt wird, dann bekommt es „gee- le“ (gelbe) Beine.

Von einer Braut, die nichts hat, sagt man im Sollinge: „Wenn se up’n Bam stigt, hät se up’r Ern nitz verlorn.“

In der Regel kommt aber bei richtigen Bauernhochzeiten ordentlich was zusammen, denn der richtige Bauer heiratet eben keine, die auf der Erde nichts verloren hat, wenn sie auf den Baum steigt.

Einem ungetreuen Mädchen wird nicht selten in der Nacht ein Strohkerl vor die Haustür gestellt oder zu Pfingsten in den Maibusch gehängt, was allemal ein großer Schimpf ist. Gleiches widerfährt auch wohl einer Witwe, die allzufrüh oder allzu begierig auf einen neuen Mann aus ist.

Will man in Schönhagen oder einem der Nachbarorte einem Mädchen einen Tort antun, sei es aus Eifersucht oder Mißgunst, so wird ihm heimlicherweise Flachsschewe1) gestreut. Fehlt es daran, so werden Sägespäne benutzt. Ist das Mädchen, das man aus diesem oder jenem Grunde aufs Korn ge- nommen hat, klatschsüchtig, so geht die Spur zum Wasser; ist es grob, zum Bullenstall; ist es hochmü- tig, zum Ziegenbock. Heimliche Liebe wird schnöderweise durch eine Spur Sägespäne, die vom Brauthause zum Bräutigam führt, verraten. In Fällen, die größeres und allgemeineres Ärgernis erregen, werden Strohkerle gemacht und heimlich vor dem betreffenden Hause oder an dem zu ihm hinführen- den Wege ausgestellt. In anderen Orten ist wieder mehr das Häckerlingstreuen üblich, das z. B. in Schlarpe in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren zweimal vorkam.

Vor geschlechtlichem Verkehr wird das Jungvolk gewarnt, wenn die – Haselnüsse tüchtig voll sitzen, weil in einem solchen Jahre die unehelichen Kinder (man braucht einen dreisteren Ausdruck) gut gera- ten.

Es fehlt aber für heiratslustige Mädchen auch nicht an drastischen Warnungen. Z. B. hörte ich: Wenn die Mädchen geheiratet hätten, gingen sie bald und ließen die Flügel hängen. Eine junge Frau, die auch die Flügel hängen ließ, kam an einer Gans vorüber, deren Flügel an der Erde schleppten. „Och Gaas,“ sagte sie da, „häste äak efregget?“

Und eine alte Großmutter sagte angesichts einer Hochzeitsfeier zu ihren lustigen Enkelinnen: „Huite hänget de Himmel vull Geigen, awer up’t Jahr sind et liuter Baßgeigen und Quarrgeigen.“

Hochzeit. Ob im Altertume die Hochzeiten zu ganz bestimmten Zeiten des Jahres, etwa zu „mittervasten“ oder um die Sommersonnenwende, gefeiert wurden, läßt sich wohl nicht erweisen; jedenfalls verschob sich mit dem Fortschritt des Ackerbaues das Fest immer mehr nach dem Herbst und Winter hin. Man kann

1) Schäbe, die Acheln oder Splitterchen des zerbrochenen Flachsbastes, wie sie beim Brechen, Schwingen und Hecheln abfallen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 115 heute wohl sagen, daß im Sollinge die Hochzeiten vorwiegend in die Zeit zwischen Martini und Weihnachten fallen. Die Landleute haben jetzt Muße, und so kann eine Hochzeit ganz gemütlich über mehrere Tage ausgedehnt werden. Drei bis vier Tage z. B. dauerte sie um 1900 noch in dem gastfreien Dorfe Espol, dessen Gebräuche hier in erster Linie herangezogen wurden. Heute sind die Hochzeiten allerdings so dauerhaft nicht mehr.

Wochenlang vorher wird von der Hochzeit im Dorfe geredet, bis endlich der Tag der Eheverschrei- bung da ist. Man fährt oder geht nach der Amtsgerichtsstadt, zu der man gehört, und macht bei der Gelegenheit auch die nötigen Einkäufe.

Der Bräutigam beschenkt seine Schwiegermutter und Schwägerinnen mit Kleidern, und der Vater der Braut erfreut Mutter und Schwestern des Bräutigams in ähnlicher Weise.

Ist die Eheverschreibung gewesen, so merkt man bald, daß im Hochzeitshause etwas los ist. Es wird von innen und außen instand gesetzt, gewaschen und gescheuert, was nur zu waschen und zu scheuern ist. Und dann wird geschlachtet und nicht zu knapp: Je nach der Größe der Hochzeit ein oder mehrere Schweine, eine Kuh oder ein Rind, wobei man sich den Kalbsbraten noch extra von dem städtischen Schlachter liefern läßt. Man glaube aber nicht, daß der Bauer ein altes Tier, ein „Schnittchen“, ver- wendet; er will doch mit dem Essen Ehre einlegen, ganz abgesehen davon, daß sich nach dem von ihm gemachten Aufwande auch das klingende Hochzeitsgeschenk richtet. Ein großer Bauer auf der Weper, der zur Hochzeit seiner einzigen Tochter eine dürre alte Kuh schlachtete, verfiel derartig dem Gespötte der zahlreichen Hochzeitsgäste, daß er sich sein Leben lang nicht mehr davon erholen konnte. Ich habe davon anderweitig erzählt1).

Am Polterabend werden (Neuhaus, Mühlenberg u. a. O.) „Baller- oder Klapperpötte“ geworfen, was man sonst „Biutz“ nennt. Die Braut fegt die Scherben aus, der Bräutigam trägt sie fort.

In der Regel gehen die Hochzeitsgäste (wie in Espol) am Polterabend nur zum Essen und Trinken ins Hochzeitshaus. Die Männer spielen ihren „Schafskopp“, die Frauen schälen Kartoffeln, die Mädchen winden Kränze und singen die schönsten alten Spinnlieder dazu.

Hat die Braut die Katze im Hause gut gefüttert, darf sie auch einen schönen Hochzeitstag erwarten. Regnet’s am Hochzeitstage, so heißt es allgemein, aber mehr scherzweise: „Sie habe ihre Katze nicht gut gefüttert2).

Am Hochzeitsmorgen begibt man sich zunächst im gewöhnlicheren Sonntagsstaate zum Frühstück ins Hochzeitshaus, begrüßt von den munteren Weisen der Musikkapelle. Es wird warm und kalt aufgetra- gen, dazu Bier, Schnaps, der Kälte wegen auch Grog gereicht. Nach dem Frühstück eilen die Frauen zum Umkleiden nach Hause. In rauschender Seide kehren sie wieder, manche mit Vaters Zylinder in der Hand, den er absichtlich vergessen hat; denn er mag dies „Stück Möbel“ nicht gern tragen.

Die Trauung soll möglichst nicht am Nachmittage sein. Als ein Lehrer in Schönhagen, der als Organist zur Trauung zu spielen hatte, um die Verlegung der Hochzeit auf den Nachmittag bat, um nicht die Schule versäumen zu müssen, wurde ihm geantwortet: Man wolle keine Nachmittagstrauung, denn da gäb’s eine „tündelige“ Frau.

1) In meiner Dorfgeschichtensammlung „Die hinter den Bergen“, S. 150.

2) Siehe auch A. Harland, Reste heidnischen Glaubens im Solling. Zeitschrift des historischen Vereins für Nie- dersachsen. Jahrg. 1880, S. 186. Hannover 1880. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 116

Bereits vor dem Frühstück haben die Spinntroppfreundinnen der Brautleute das Gotteshaus prächtig geschmückt, den Altar besonders mit Myrten und Rosmarin geziert, die nun mit ihrem Dufte die ganze Kirche erfüllen. Altar und Gotteshaus werden jedoch nur bei Trauungen „im Kranz“ geschmückt; bei anderen wird Glockengeläut, Orgel- und Kindersang versagt. So ist’s – nach Hauptlehrer Nagels Mit- teilung – in Espol üblich; in dem Nachbardorfe Trögen ist es so: Bei „Trauungen mit Ehren“ werden drei ordentliche Glockenschauer geläutet, während es bei kranzloser Hochzeit nur ein kurzes Schauer gibt. Bei ersterer Gesang und Orgelspiel, bei letzterer nur Gesang.

In dem an der Weserseite gelegenen Dorfe Wahmbeck bleiben die Hochzeitsgäste bei Ehrenhochzei- ten auf dem Chor stehen, während sie sich bei kranzloser Hochzeit in die Bänke oder Stühle setzen. In einem Falle, der sich in den letzten Jahren abspielte, verlangte der Mann gegen die Sitte die Gebräuche für eine Trauung in Ehren. Da er auf Grund der vorliegenden Tatsachen abschlägig beschieden werden mußte, unterblieb dann die kirchliche Trauung.

Heimlich soll man Geld in die Brautschuhe stecken, damit das junge Ehepaar immer Geld hat. Dem Hochzeitsulke ist es heute wohl nur noch zuzurechnen, wenn es heißt: Zieht die Braut am Hoch- zeitstage ein klatriges Hemd an, so wird ihr Flachs immer gut stehen.

Auf dem Traugange dürfen Braut und Bräutigam sich nicht umsehen, sonst könnte es kommen, daß er sich später nach einer anderen umsieht, ebenso wie sie nach einem anderen. Als mißlich gilt es, wenn dem Hochzeitszuge ein altes Weib in den Weg kommt; es käme dann Unglück in die Ehe, sagt man. Hingegen sind Kinder gern gesehen. – In Schönhagen rät man dem jungen Ehepaare, die Hochzeits- stiefel nicht aufzutragen, es bliebe sonst nicht eins und prügelte sich.

Nach der Trauung, die (in Espol) gewöhnlich um ein Uhr stattfindet, empfängt die Brautmutter das junge Ehepaar mit einem Glase Wein vor dem Eingange des Hauses. Sie trinkt auf das Wohl des Paa- res und reicht das Glas dem Schwiegersohne, der es an seine Frau weitergibt. Nachdem auch sie Be- scheid getan, muß sie das Glas nebst dem Rest rücklings über den Kopf werfen. Die am Boden liegen- den Scherben bedeuten Glück, das unzerbrochene Glas dagegen soll Unglück bringen.

Jetzt tritt das Ehepaar über die Türschwelle, auf die man ein Gesangbuch gelegt hat, das den Blick aufwärts richten soll. Auf dem Hausflur wird der jungen Frau ein frisches Brot gereicht. Der obere Knust ist abgeschnitten, hängt aber noch mit einem Teil der Rinde fest. Die Braut muß ihn mit ihren Zähnen vom Brote losziehen und, ohne ihn anzufassen, unter die aufgeknöpfte Taille fallen lassen. Das übrige Brot wird von ihr einer eigens ins Hochzeitshaus bestellten Dorfarmen als Geschenk gege- ben, während der an der Brust ruhende Knust nach dem Hochzeitsmahle wieder ans Licht gefördert und in den Leinenkoffer der jungen Frau getan wird, um dort bis an ihr Lebensende als eine Art Hei- ligtum aufbewahrt zu werden. Nach dem Volksglauben soll dieser Brautknust, der, hauptsächlich aus Rinde bestehend, steinhart wird und nicht schimmelt, das Ehepaar vor Hunger schützen; jedenfalls heißt es (in Espol), die Frau, die den Knust umkommen lasse, müsse bald verhungern.

Nachdem das junge Paar dann noch die Glückwünsche aller Gäste entgegengenommen hat, beginnt das Hochzeitsmahl, an dem auch Pastor und Lehrer teilnehmen. Der Pastor oder der junge Ehemann spricht das Tischgebet. Tischreden werden in der Regel nicht gehalten; jedoch wird mit einigen kurzen Worten das Hoch auf die jungen Eheleute ausgebracht

Das Hochzeitsmahl ist bei aller Einfachheit immer reichlich und kräftig und im großen und ganzen heute noch so, wie es Pastor Brose in Lauenberg, dessen Vater von Dassel aus das Sollingsdorf Hil- warthausen zu pastorieren hatte, aus seiner Jugendzeit in den sechziger Jahren in lebhafter Erinnerung geblieben ist: Eine sehr kräftige, fette Fleischbrühe, Rindfleisch mit Meerrettig und Rosinensauce, Schweinebraten mit Sauerkohl und zuletzt Reisbrei mit Zwetschen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 117

Nach Schluß des Mahles erhielt jeder Hochzeitsgast ein großes Stück Kuchen, das er mit nach Hause nehmen durfte.

In Lauenberg war es früher noch Sitte, daß jeder Hochzeitsgast einen Korb mit Teller, Löffel, Messer und Gabel mitbrachte. Man stellte die Körbe zwischen die Füße unter den Tisch, um die Reste des Festmahls, die zur Verteilung gelangten, gleich in sie hineinbugsieren zu können. Die draußen schon bereitstehenden Kinder holten dann die Körbe ab und brachten sie nach Hause.

Der Bräutigam mußte die Gäste bedienen. Dabei kam es vor, daß ein Gast, der sich in seiner Ver- gnügtheit nicht zu bergen wußte, ihm ein halbes Pfund Butter auf den „Pinkel“, den schwarzen Bräuti- gamsrock, schmiß. Alle Knochen wurden von den Gästen gesammelt, auf eine Schüssel gelegt und dem Bräutigam zum Abnagen übergeben.

An das Hochzeitsmahl schließt sich unmittelbar der Brauttanz auf dem schön geschmückten Saale des Kruges, bei nicht so großen Hochzeiten auf der Scheunendiele. Der junge Ehemann, im neuen Zylin- der und mit Glacéhandschuhen, tanzt mit seiner Frau dreimal rund; darauf je dreimal mit der „Pastör- schen“ und der „Schaulmesterschen“, sodann mit den nächsten Verwandten seiner Frau und zuletzt, mag er auch schon ganz außer Atem sein, mit den eigenen Verwandten. In der gleichen Reihenfolge tanzt die junge Frau mit den männlichen Gästen, früher auch mit dem Pastor, was aber in der neueren Zeit nicht mehr geschieht. Jedenfalls muß dieser Brauttanz von Braut und Bräutigam mit jedem Gaste getanzt werden, ob jung oder alt, ob er tanzen oder nur hüpfen kann. Weigert sich jemand, so setzt ihm die ganze Hochzeitsgesellschaft solange zu, bis er sich im Tanze, wenn auch noch so holpernd, dreht. Da nach dem Tänze der Großen auch mit den Kindern herumgehüpft werden muß, kann man sich vor- stellen, welche Anstrengungen ein solcher Brauttanz, namentlich bei größeren und großen Hochzeiten, für das junge Paar mit sich bringt.

Sehr beliebt war immer der sogenannte Spiegeltanz bei Hochzeiten: Die Braut sitzt aus einem Stuhl und hält einen Spiegel in der Hand. Der junge Ehemann tritt von hinten hinzu und macht eine Verbeu- gung. Die Braut sieht das im Spiegel und schüttelt den Kopf. Sie will ihn also nicht. Andere Männer folgen, indem sie ebenso wie der Bräutigam hinter der Braut ihre Verbeugung machen. Es geht ihnen nicht besser, bis endlich einer kommt, mit dem sie unter allgemeinem Halloh tanzt.

Am zweiten Tage der Hochzeit werden die Gäste, die sich nicht rechtzeitig einstellten, auf Mistschlit- ten oder in sonstiger grotesker Weise nach dem Hochzeitshause geholt. Mir selbst passierte es in mei- ner Junglehrerzeit einmal, daß ich am zweiten Hochzeitsmorgen von handfesten Hochzeitsgästen unter dem Jubel der Kinder aus der Schule geholt, auf einen riesigen Ochsen gesetzt und von der ganzen Hochzeitsgesellschaft im Triumphe nach dem Festhause gebracht wurde.

Den Männern wird ein großartiges Katerfrühstück aufgetragen, wobei ganze Schweineschinken, ge- kocht oder gebraten, nebst reichlichem Sauerkraut obenan stehen. Die Musik schmettert ihre lustigen Weisen darein, und wenn sich alles gehörig gesättigt und getränkt fühlt, eröffnet ein grotesker Humor seinen Reigen. Ein Stuhl wird in die Mitte des Saales oder der Scheunendiele gestellt und der junge Ehemann genötigt, sich darauf zu setzen. Die Burschen oder jüngeren Männer tragen Besen, Schaufel, Grepe herbei, und einer kommt sogar mit einer Karre gefahren. In einem großen Waschbecken wird Seifenschaum geschlagen, ein mächtiger Maurerpinsel wird gebracht, und nachdem alles von den be- brillten und sehr gelehrt ausschauenden Männern vorbereitet ist, kommt der Herr „Professor“ selbst, um den jungen Mann zu rasieren. Sein Oberkörper wird in ein Wachstuch gehüllt, der Pinsel in Bewe- gung gesetzt und das Opfer nach Strich und Faden gehörig eingeseift. Mit einem großen Holzmesser schabt dann der Professor die stoppeligen Barthaare, die nach Meinung der sachverständigen Frauen der jungen Frau lästig sein müssen, herunter. Eine im Gurt des Professors steckende Schafschere dient dazu, das Kopfhaar des jungen Ehemannes zu scheren. Eilfertig fegen und schaufeln die umstehenden Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 118

Gehilfen die Masse des Schaums in die dastehende Karre und forken mit gewaltiger Anstrengung das abgeschnittene Kopfhaar – unbemerkt fallengelassene Schweinsborsten – oben drauf. Nach dieser Prozedur erst wird der Hochzeiter als „echter und wirklicher Ehemann“ allseitig anerkannt.

Einmal am Orte, erkundigt sich der Professor auch gleich nach dem Befinden der jungen Frau. Er merkt und sieht schon an ihrem Sprechen, daß sie einen Zahn zu viel hat. Ein Wink, und die Gehilfen reichen ihm die Schmiedezange. Der Kopf der jungen Frau, mag sie sich auch noch so sehr sträuben, wird gehalten, und unter Aufwendung aller Kräfte der überzählige Zahn entfernt. Meine Güte, was für ein Zahn! Groß und dick wie eine „Runksche“ (die es in Wirklichkeit auch ist und von einem hinter der Frau stehenden Manne unmerklich bereitgehalten war). Einen solchen Zahn hat man im Leben noch nicht gesehen, und er muß daher als Gemeindeeigentum zu jedermanns Ansicht im Spritzenhause aufbewahrt werden. Nunmehr ist auch die frisch gebackene Ehefrau der anderen Frauen würdig und wird freudig in ihre Mitte genommen.

Einige Tänze folgen, worauf sich die ganze Hochzeitsgesellschaft unter Vorantritt der Musikanten zum Drechsler begibt. Die junge Frau geht aber nicht an der Seite ihres Mannes, sondern hat sich zwei von ihren „Spinnknechten“ ausgesucht und „eingehakt“. Im Drechslerhause werden der Hochzeiterin von zwei Freundinnen aus ihrem Spinntropp mit dem üblichen Reimspruche Haspel und Spinnrad mit einem üppig großen Flachswocken übergeben. Dies Geschenk der beiden Spinnfreundinnen läßt die junge Frau von ihren Begleitern heimtragen, die sich den Dienst zur besonderen Ehre anrechnen.

Nach dem Festmahle des zweiten Tages folgt der große feierliche Schenkakt. Ganze Berge von Ku- chen werden in den Saal gebracht oder, wenn die Hochzeit kleiner ist, auf den Tischen oder Tafeln der großen Stube aufgeklaftert. Hinter einer langen, mit weißem Laken bedeckten Tafel stehen vier Stühle, zwei für das Ehepaar, die anderen für zwei schreib- und wortgewandte Männer. Dem einen wird Pa- pier und Feder, dem anderen ein großer weißer Kump mit einem Teller darauf gereicht. Und nun kommt der große Augenblick, den man scherzweise wohl das „Schloßenschauer“ oder „Hagelwetter“ genannt hat. Die Musik spielt, und die ganze Hochzeitsgesellschaft singt das schöne alte Lied:

„Schön ist die Jugend, bei frohen Zeiten, Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr. Sie kehrt nicht mehr, nicht mehr, Sie kehrt nicht wieder ... Schön ist die Jugend, sie kehrt nicht mehr!“

Alt und jung haben das Lied stehend gesungen, und manche Frau fährt sich bei den ergreifenden Klängen mit der Schürze an die Augen. Der eine der Beisitzer am Tische hält eine kurze Ansprache an das Brautpaar und wünscht ihm viel Glück, worauf er sich an die Gäste wendet und sie an all die Auf- wendungen, Ausgaben und Mühen des Hochzeitgebers erinnert, der doch nichts versäumt und keine Ausgaben gescheut habe, um das Fest ihnen allen so recht schön und gemütlich zu machen. Darum sollten sie nun auch ihrer Pflicht eingedenk sein und ein entsprechendes Geschenk geben. Mit einem dreimaligen Hoch auf den Hochzeitsgeber schließt die Rede. Die nächsten Anverwandten treten nach- einander an den Tisch, und jeder legt (diese Hochzeit war um 1900) ein Goldstück oder auch einige harte Taler auf den Teller. Der erste Beisitzer erhebt sich und vermerkt mit lauter Stimme: August Merke schenkt dem jungen Ehepaare 20 Mark und wünscht ihm Glück und Segen dazu. Die entfernte- ren Verwandten und Freunde verständigen sich inzwischen über die Höhe ihrer baren Geschenke, die man in sorglicher Überlegung der Güte und Menge der Hochzeitsgerichte anpaßt. Dann treten auch sie an den Tisch, und bald hört man: Wilhelm Ahlborn schenkt dem jungen Paare 16 Mark usw. Der an- dere der Beisitzer muß über den Namen des Schenkers, wie über die Höhe des Geschenkes ein genau- es Protokoll führen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 119

Das junge Ehepaar kann aber nicht müßig dabei sitzen. Hat der Gast das Geld auf den Teller gelegt, so kredenzt ihm der junge Ehemann ein Glas Wein, während die Frau ihm einen halben Kuchen übergibt.

Nach den Geschenken der Männer kommen die Geschenke der Frauen, die meist praktischer Natur sind, und schließlich folgen die Kinder mit einer Tasse, einer Zuckerdose oder Blumenvase. Sie alle erhalten ihr Glas Wein und ihren Kuchen.

War die Hochzeit durch den Freiwerber zustande gekommen, so fehlte auch er nicht unter den Gästen. Er ist aber nach dem Herkommen frei, braucht also nichts zu schenken, bekommt vielmehr noch etwas geschenkt, nämlich ein Hemd ohne Armel. Daher noch heute die Redensart im Sollinge: „Kriegst ’n Hemd ohne Armel!“

Das Schenken vollzog sich mitunter auch in dramatischer Form. So traten z. B. in Schönhagen ein Dorfmädchen und ein Stadtmädchen aus, ersteres mit Sleif (großem Schöpflöffel) und hölzernem Eß- löffel, letzteres mit einem tenernen (zinnernen) Löffel. Aus ihrem Dialog sei hier bruchstückweise einiges wiedergegeben:

Stadtmädchen: Aus der Erde tiefem Schacht Wurde dieses Metall hervorgebracht; Mit Mühe ist es gefunden, Gar mancher hat sich dabei geschunden.

Dorfmädchen: Un düsse häauk (habe ich) in Sollinge iut ’n Bämen sneen un meck oftmals dabeii in de Paute (Pfote, Hand) sneen.

Stadtmädchen: Diese braucht man derart zum Servieren ...

Dorfmädchen: Un öwer düsse kann Karleiine öhren Mann balberen.

Stadtmädchen: ... zu Erdbeersaft und Limonade.

Dorfmädchen: Un düsse passet täau seiiner Kaule (?) grade.

Zuletzt schließt das Dorfmädchen die Szene: Doch Karleiine (die Braut) mag entscheiden, wecke de besten sind von beiden.

Ein Spinnrad wurde in Lauenberg von den Brautjungfern (Spinnschwestern) mit folgenden Reimen überreicht:

Ich schenke Braut und Bräutigam ein Mädchen, Daß die Braut gewesen ist ein artiges Mädchen. An diesem Mädchen sitzt auch ein Wocken, Daß die Braut kann fleißig spinnen und tocken. An diesem Mädchen sitzt auch ein Steg, Daß die Braut nicht sein soll so frech. An diesem Mädchen sitzen zwei Mollen, Daß die Braut kann spinnen Flachs und Wollen. An diesem Mädchen sitzt auch eine Flucht, Ich wünsche den Brautleuten eine gute Kinderzucht. An diesem Mädchen sitzen auch Haken, Denn wenn die Braut schläft, kann sie nicht waken. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 120

An diesem Mädchen sitzt auch eine Warwe, Daß die Braut sich des Armen erbarme. An diesem Mädchen sitzt auch eine Schnur, Daß die Braut nicht gewesen ist eine Hur. An diesem Mädchen sitzt auch eine Schraube, Daß die Braut jetzt gekommen ist unter die Haube. (Bei diesen Worten wurde der Braut die Haube oder der Hut aufgesetzt, dem Bräutigam der Zylinderhut.) An diesem Mädchen sitzt auch eine Drift, Daß der Mann immer tun soll seine Pflicht. An diesem Mädchen sitzt auch ein Knechtstock, Daß der Mann nicht sein soll so grob. An diesem Mädchen sitzt auch eine Tretebank, Die die Braut soll gebrauchen ihr Leben lang. Ich schenke der Braut eine Dieße Flachs, Daß die Braut gewesen ist wie Milch und Wachs. An dieser Dieße sitzt auch ein Band von Seide, Es tut mir leid, daß ich von meiner Freundin scheide. Ich stoße das Mädchen wohl auf den Boden Und wünsche der jungen Frau einen kleinen Sohnen. Ich stoße den Haspel auf den Boden Und wünsche den Brautleuten einen kleinen Sohnen, Und nächstes Jahr ein Töchterlein, Dazu will ich Gevatter sein! An diesem Haspel sitzt ein Klipp-Klapp, Und damit geh ich ab – Vivat!

Ist der Schenkungsakt endlich vorüber, so dankt der Hochzeitgeber allen Gästen, um nun der jungen Frau den ihr zukommenden Brautgriff zu gestatten, d. h. sie darf aus dem hochgehaltenen Kumpe so viel Geld herausnehmen, als sie mit einer Hand greifen und halten kann. Der Rest gehört dem Hoch- zeitgeber, der hernach an der Hand des Protokolls leicht nachrechnen kann, wieviel Geld die Tochter gegriffen hat.

Ist soweit alles zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufen, ladet der Hochzeitgeber die Gäste ein, sich wieder an den Tisch zu setzen und kräftig weiter zu feiern, was denn auch männiglich geschieht. Zum Schluß des Festes kommt so gegen Mitternacht ein ansehnliches Vesper auf den Tisch, wozu Kaffee geschenkt wird.

Erscheint auf der Tafel die mit Myrte geschmückte Butter, „Brautbutter“ genannt, so will das sagen, daß die Festlichkeit aus ist; bleibt aber die Butter weg, so wird die Hochzeitsfeier noch am anderen Tage fortgesetzt.

Unzweifelhaft mythischen Ursprungs ist der Brautreigen, den Pastor Harland in Schönhagen noch in den achtziger Jahren sah: Wenn der sogenannte Brautreigen, an dem sich alle Hochzeitsleute beteili- gen müssen und alle eine lange Kette bilden, durchs Dorf zog, so mußte der ganze Zug über vorgehal- tene Heugabeln springen und sich mit Wasser besprengen lassen. Die Braut wurde um das ganze Haus und um jeden Baum im Garten herumgeführt und den Leuten auf der Straße von den Hochzeitgebern tüchtig zugetrunken. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 121

Falls die junge Frau im Dorfe bleibt, wird sie von der ganzen Hochzeitsgesellschaft im Laufe des zweiten Festtages in ihr neues Heim gebracht. Zum ersten Male trägt sie das äußere Zeichen der Frau, den Capothut, ein Geschenk der Schwiegermutter. – „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus“ spielt die Musik, und ist man vor dem Hause angekommen, wo die junge Frau nun wohnen soll, so übernehmen zwei sachkundige Frauen ihre Führung. Der erste Weg geht zum Spiegel, in dem sich die neue Hausherrin besehen muß, und unter allerlei guten Ratschlägen wird sie dann in Küche, Kammer, Keller, ja selbst in die Ställe geführt, damit sie überall Hausgelegenheit weiß. Währenddessen hat der junge Hausherr die Hochzeitsgesellschaft fleißig und freudig zu bewirten.

Heiratet die Frau in ein anderes, nicht zu weites Dorf der Nachbarschaft, so wird sie womöglich von der ganzen Hochzeitsgesellschaft nach dort gebracht, bei Frost und Schnee in langem Schlittenzuge mit lustigem Schellengeläute.

Beschrieben ist hier eine ausgesprochene „Geldhochzeit“. Es gibt aber auch „freie“ Hochzeiten, zu denen nur die Frauen ein kleines Geschenk machen, und da geht es dann nicht so hoch her.

In Schönhagen sah ich (im Mai 1922) einen kleinen Hochzeitszug, in dem die Brautjungfern, die dem Brautpaare unmittelbar voranschritten, einen großen Blumenreifen trugen, den sie vor dem Altare niederlegten. Das Brautpaar stand während der Trauung in dem Kranze1). Der Bräutigam war aus Eschershausen (bei Uslar), und als am Abend des zweiten Hochzeitstages die Hochzeitsgäste das Brautpaar nach dem Hause des Bräutigams brachten, fand man alle Türen verschlossen und alle Klap- pen und Fenster, durch die man hätte eindringen können, vernagelt. Es mußte scheinbar erst große Gewalt angewandt werden, bis man in das Haus kam, wo nun die Schwiegereltern sich lachend darein fügten, daß die junge Frau in das Haus einzog. Der Gesangverein brachte im Beisein fast aller Dorf- bewohner ein Ständchen, der Dirigent, ein nach Uslar verschlagener, aber ganz Sollinger gewordener Tiroler (!), hielt eine gar schwungvolle Ansprache, und der Bräutigam, ein junger Holzhauer, antwor- tete, indem er sich bedankte und die Sangesbrüder trotz der Ungunst der Zeit nach dem Kruge nötigte. Und dorthin folgte dann das Brautpaar nebst den noch vorhandenen Hochzeitsgästen mit weißen Tel- lern, auf denen die Butterstreifenkuchen hochgeschichtet waren. (In anderen Orten haben übrigens die Gesangvereine mit Rücksicht auf die teure Zeit die Vereinbarung getroffen, daß Bewirtungen seitens des Brautpaares nicht mehr angenommen werden dürfen.)

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Früher wurde der Schleier von den Hochzeitsgästen zerrissen, und jeder nahm sich einen Fetzen mit. Das ist aber nun ganz abgekommen. Sehr lebhaft ist dagegen noch das Hochzeitsschießen. Als ich im Mai 1922 einer Hochzeit in Fredelsloh beiwohnte, gab es, während wir nach der Kirche gingen und von der Kirche kamen, Straße auf, Straße ab ein Krachen und Ballern, als ob eine große Schlacht ent- brannt sei. Es war freilich eine große Hochzeit und der Bräutigam ein Kriegsteilnehmer, so daß sich hauptsächlich seine Kameraden aus dem Felde veranlaßt fühlten, ihn mit gewaltigem Donnerkrachen zu ehren. Bei „kleinen“ Hochzeiten ballert es natürlich nicht so, und als der alte Feuerriegel in Fredels-

1) Nach dieser Schönhagener Trauung wurden im gastfreundlichen Schmiedehause die alten Schönhäger Hoch- zeitsbräuche besprochen, und da stellte sich heraus, daß die heutigen Bräuche nur sein ganz schwacher Abglanz der ehemaligen sind. Es ist darum für den Zweck dieses Werkes unerläßlich, daß wir uns mit den früheren Schönhäger Hochzeitssitten noch etwas eingehender befassen. Leider gingen meine Aufzeichnungen darüber mit dem erwähnten Verluste meines letzten Notizbuches verloren; um so dankbarer bin ich Herrn Hauptlehrer Jüne- mann in Schönhagen, daß er auf meine Bitte die Aufzeichnungen wieder herstellen half. Diese besondere Be- schreibung der alten Schönhäger Hochzeitssitten bleibe mit anderen Ergänzungen einem späteren Bande vorbe- halten. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 122 loh Hochzeit hielt – er ging ganz allein mit seinem Reuikschen zur Kirche – da schoß überhaupt nie- mand. Feuerriegel hatte aber Vorkehrung getroffen und die Pistole mitgenommen „un schot seck nöu up’n Kerkwege sülben wat.“ Da er immer wieder laden und deshalb immer wieder stehenbleiben muß- te, hörte man die Braut beständig mahnen: „Heinrich, säau kumm doch!“ –

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In Wiensen wird das Brautpaar auf einen Wagen geladen und von dem jungen Volke nach dem neuen Heim gezogen. Bergunter, ohne zu bremsen, in haarsträubendem Sausen. Das ganze Dorf ist sozusa- gen dabei. Der Bräutigam wird von der ältesten Verheirateten, die Braut von dem ältesten Verheirate- ten ins Haus geführt. 1921 mußte das junge Paar in einer Kutsche fahren, die von einer Kuh nach der neuen Wohnung gezogen wurde. Es geschieht aber auch, daß die Jungverheirateten selbst an den Wa- gen gespannt werden und ihn ziehen müssen, während die Hochzeitsgäste sich aufsetzen. So kommt der Humor und Witz auf alle möglichen Einfälle, die immer neue Abwechselung in den sonst manch- mal recht eintönigen Verlauf der Hochzeitsfeier bringen.

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Am zweiten Hochzeitsmorgen wird ulkeshalber das Bettlaken im Baumhofe hinter dem Hause aufge- hängt und, um die Besichtigung durch die Hochzeitsgesellschaft recht effektvoll zu machen, so oder so bemalt. Ist das nun bloß Ulk? Es scheint doch viel mehr dahinter zu stecken. So erinnerte mich Pastor Dunsing in Dassensen daran, daß im Altertum bei den verschiedensten Völkern das Bettlaken nach der Hochzeitsnacht öffentlich ausgehängt wurde als Zeugnis der Jungfrauschaft. Hatte so öffentlich die Bezeugung stattgefunden, konnte der Mann hernach der Frau keinen Vorwurf mehr machen, daß sie nicht als reine Jungfrau in die Ehe gekommen sei. Es liegt demnach nahe, anzunehmen, daß der im Laufe der Zeit zu einem Ulk ausgeartete Hochzeitsbrauch auf jene uralte Sitte zurückzuführen sei.

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Der schon erwähnte Pastor Brose in Lauenberg, dessen Vater Pastor in Dassel war, begleitete diesen als Junge oft nach dem Filialdorfe Hilwartshausen und hatte nicht selten Gelegenheit, an dortigen Hochzeiten teilzunehmen. Aus dieser Zeit erinnerte er sich sehr lebhaft des folgenden Vorkommnis- ses: Sie waren eben am Sonntagmorgen in der Schule angekommen, und Vater Brose schickte sich an, den Morgengottesdienst zu halten, nach dessen Schlusse eine Trauung stattfinden sollte.

Da erschien der Bräutigam und meldete mit verlegenem Gesicht, die Braut sei eben von einem kleinen Jungen entbunden. Er meinte aber, sie würde sich wohl so schnell erholen, daß die Trauung noch zur festgesetzten Zeit stattfinden könne. Das ging nun nicht an, wenigstens wollte der Pastor nicht, und so unterblieb die Trauung. Acht Tage später wurden dann Trauung und Kindtaufe zusammen gefeiert.

Auf den Hochzeiten, die der junge Brose erlebte, ging es immer sehr ausgelassen her. Vor allem wur- de immer tüchtig geschossen, manchmal bis in die Kirche hinein, weshalb er diese Sitte eine „Unsitte“ nennt. Einmal hatte ein junger Mensch beim Heraustreten des Pastors aus der Kirche in seiner unmit- telbaren Nähe losgeknallt. Das wurde dem Geistlichen aber doch zu stark, und in seinem Zorne wollte er den Unfug zur Anzeige bringen. Als der junge Mensch das merkte, kam er und bat um gut Wetter. Pastor Brose wollte sich jedoch nicht erweichen lassen, als es dem Übeltäter gelang, ihn an der rechten Seite zu fassen. „Herr Pastor,“ sagte er recht herzhaft zu ihm, „Sie predigen uns doch, daß wir alle uns einander vergeben müssen ...“ Da war der Geistliche entwaffnet.

* * * Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 123

In Lauenberg kam in den letzten Jahren folgender Fall vor: Ein Mädchen war seinem alten Schatze untreu geworden und hatte durch Vermittlung eines Freiwerbers eine äußerlich bessere Partie gemacht. Als nun Polterabend war, versammelten sich die Kameraden des verschmähten Bräutigams mit ihm in der Nachbarschaft und brachten dem Brautpaare auf Stühlen und allen möglichen Geräten, wobei auch der Dreizack nicht fehlte, eine „stille Musik“. Beim Kirchgange aber sorgte die Bräutigamspartei da- für, daß die Braut auch zu ihrem wohlverdienten Häcksel kam: Ein Freund des ersten Bräutigams schritt dem Hochzeitszuge zeitig voran und ließ den Häcksel aus den Hosenbeinlingen auf den Kirch- weg fallen. Beim Kirchhofstore aber war eine Strohfigur aufgestellt, die wahrlich kein Ehrenposten sein sollte. Der Pastor zeigte die Sache leider beim Gerichte an, und die Übeltäter kamen ins Loch. –

Im Anfang des vorigen Jahrhunderts war in Fredelsloh ein alter Pastor, zu dessen mancherlei Eigen- tümlichkeiten es gehörte, daß er in der Predigt „platt prahlte“ und seine Traurede immer sehr drastisch zuspitzte. So wandte er sich z. B. an die Braut mit einer ganzen Reihe von Fragen, etwa der Art: ob sie ihrem Manne auch treu und gehorsam sein, ihm „recht wat upwahren“, ihm, wenn er abends aus dem Felde käme, die „Sleifen undern Omen stellen, die Gamaschen iuttrecken, warm Eten up’n Disch bringen wolle usw. Alles faßte er zusammen in die Frage: „Wutte dat?“ – „Joa“, gelobte schüchtern die Braut, und nun ging’s an den Mann. Ob er seiner Frau auch alles tun würde, wat öhr täaukeime, also „of hei öhr Holt in de Köken dragen, Futter rundersmeuiten un Woater langen wolle, und of hei se auk nech fla’n wolle ... Denn segg ja.“ „Joa“, sagte natürlich der junge Mann, und hierauf wurden sie in aller kirchlichen Form zusammengegeben.

Die Pastörsche, Hannengel mit Vornamen, war ebenfalls mit auf der Hochzeit, denn daß die Pastors- leute solche Feste ordentlich mitfeierten, war damals noch ganz selbstverständlich. So erhielt die Pa- störsche denn auch nach dem Hochzeitsschmause gleich allen anderen Frauen ein großes Stück Ku- chen nebst einigen Fleischresten, die gewöhnlich ins Taschentuch gebunden und mit nach Hause ge- nommen wurden. Es waren die sogenannten „Pröben“.

Als nun einmal in stichdunkler Nacht „Pastors“ wieder aufbrachen, wurde ihnen ein Junge mitgege- ben, der ihnen mit der „Lüchte“ voranging. Aber es war nur ein gar spärliches Licht, das so eine dama- lige Rübölleuchte durch die vier meist blinden Scheiben von sich gab. Mehr als einmal kriegte die Pastörsche das Stolpern, wobei dann der Pastor jedesmal ganz besorgt rief: „Hannengele, verluiß de Pröben nech!“

Der Leuchtejunge, der ein alter Mann geworden ist, hat diese Geschichte oft erzählt, wodurch das Mahnwort sprichwörtlich geworden und bis auf unsere Zeit gekommen ist.

Zum Schluß möchte ich doch meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß im Sollinge offenbar alle Ehen im Himmel geschlossen werden. Obgleich ich mich nun bald ein halbes Jahrhundert hindurch dort umgesehen und umgehört habe, konnte ich immer und überall feststellen, daß die Eheleute, von gelegentlichen Temperamentsausbrüchen abgesehen, durchweg gut miteinander auskommen, wie ich mich denn auch keines einzigen Falles einer Ehescheidung entsinne.

Die Leibzucht1). Dies Kapitel rührt an die Urtriebe der Menschen. Von der Kultur verfeinert und gezügelt, treten sie in den Reibungen des Zusammenlebens oft jäh und grell wieder zutage, auf dem Lande wie in der Stadt,

1) Vgl. hierzu Prof. Dr. M. Sering, Die Vererbung des ländlichen Grundbesitzes im Königreich Preußen, VI. Provinz Hannover, insbesondere § 30 (S. 149) Die Vererbung im Gebiete der Anerbensitte. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 124 also nicht etwa nur im Sollinge, wo sich allerdings das Triebleben des Menschen unverhüllter offen- bart als dort.

Können wir die natürliche Bestimmung und Aufgabe des Bauern, die Bewahrung und Fruchtbarma- chung des Grundbesitzes, als die bäuerliche Grundsitte bezeichnen, auf die alle Sitten und Gebräuche zurückführen, so müssen die bei der Vererbung des Besitzes mitunter zutage tretenden üblen Erschei- nungen, die ich hier mit einigem Widerstreben schildere, lediglich als Ausartungen der bäuerlichen Grundsitte angesehen werden. Sie treten an dem einen oder anderen Orte krasser auf als in manchen anderen. So äußerte ein Lehrer aus einem Dorfe in der Uslarer Gegend, mit dem ich mich über diese bäuerlichen Verhältnisse unterhielt: „Wenn es sich um Mein und Dein handelt, gibt es nicht Vater, nicht Sohn, nicht Bruder, nicht Schwester, sondern nur das eigene Ich in höchster Potenz.“ Nicht in der Regel, bei Gott nicht, wie ich nach meiner sonstigen Kenntnis des Bauerntums im Sollinge sagen kann, aber doch in Ausnahmen, die häufiger sind, als sonst die Ausnahmen zu sein pflegen.

Sehen wir uns nun die Zustände etwas näher an, wie sie sich aus der im Sollinge herrschenden Aner- bensitte hier und da ergeben. Vorab sei bemerkt, daß immer der älteste Sohn als der nächste Erbfolge- berechtigte gilt, und daß der Besitz im Erbgange durchweg geschlossen bleibt. Die herkömmliche Form der Vererbung ist der Übergabevertrag.

Die Übergabe des Hofes erfolgt regelmäßig in den älteren Lebensjahren des Besitzers, und den unmit- telbaren Anlaß dazu bildet gewöhnlich die bevorstehende Heirat des ältesten Sohnes. Manchmal gibt man aber auch schon ab, obgleich man noch ganz rüstig ist. Das geschieht namentlich dann, wenn der Älteste die ihm Erkorene nach dem Willen ihrer Eltern nur unter der Bedingung haben soll, daß er mit der Hochzeit auch Herr des Hofes wird. Es handelt sich da gewöhnlich um eine besonders „gute Par- tie“. Ist ein Stiefvater auf dem Hofe, so muß er den Hof übergeben, wenn der älteste Sohn seiner Frau aus erster Ehe großjährig geworden ist.

Die Abgabebedingungen regeln sich nach dem allgemeinen Herkommen, sind aber in den einzelnen Fällen sehr verschieden. Die einen geben ab mit großer Vorsicht gegen das eigene wie gegen das fremde Blut; die andern lassen in ihrer Vertrauensseligkeit, Gutmütigkeit und Unüberlegtheit alle Vor- sicht und Voraussicht vermissen. Wir bleiben ja doch beisammen, denken sie, und wollen’s unserem Jungen, unserer Tochter nicht so schwer machen. Ja, es sind Fälle genug bekannt geworden, daß die Alten sich überhaupt nichts vorbehalten hatten und hernach völlig auf die Gnade der Kinder angewie- sen waren. Sehen wir uns die Übergabebedingungen etwas näher an.

Erstens: Es wird eine bestimmte Menge Getreide von allen Gattungen nebst Klee und Gras ausbedun- gen, aber mit dem Rechte, das Ausbedungene nach Belieben auf dem Halme wählen zu dürfen. Man nennt das „iutnöhmen“ (ausnehmen), ein Wort, an das sich bei gespannten Verhältnissen vor allem die Mißhelligkeiten zwischen den Alten und Jungen knüpfen. Das Vieh, das sich die Alten vorbehalten haben, wie z. B. eine Kuh und ein Schwein, wird in diesem Falle von ihnen selbst gefüttert.

Zweitens: Man behält sich so und soviel Zentner Getreide vor nebst einer „eisernen“ Kuh oder auch zweien, je nach der Größe des Hofes, dies an der Krippe des Anerben mitgefüttert werden. „Eiserne“ Kuh heißt soviel wie eine immer milchende Kuh. Steht die Altenteilskuh trocken, so hat der Leibzüch- ter während dieser Zeit das Recht, eine andere Kuh dafür zu melken. Die Schlachtschweine werden vom Leibzüchter selbst gemästet. Statt der eisernen Kuh macht man sich auch wohl eine bestimmte Anzahl Liter Milch und Butter für Tag und Woche aus, nebst einem gemästeten Schwein im Jahre, das ein bestimmtes Gewicht haben muß.

Drittens: Die ganz Vorsichtigen, die das Jüterboger Wort von der Keule kennen, mit der man die Alten totschlagen soll, die ihren Besitz zu früh an die Kinder abgeben, pflegen sich die Leibzucht auf zwei- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 125 oder auch dreierlei Art auszubedingen, immer aber so reichlich bemessen, daß ein Mangel auf ihrer Seite nie eintreten kann. Wir können immer noch ablassen, sagen sie; wer bürgt uns dafür, daß keine Sterbefälle eintreten? Unser Junge kann sterben, die Frau heiratet wieder, und wir sitzen dann zwi- schen fremden Leuten. Tatsächlich ist dieser Fall oft genug vorgekommen und meistens böse ausge- gangen.

Am schroffsten wirkt sich die übersteigerte Leibzucht begreiflicherweise aus, wenn an Stelle des rech- ten Vaters ein Stiefvater getreten ist. Als ich in einem Dorfe bei Uslar mit mehreren Leuten zusammen stand, hörte ich im Hinblick auf einen vorübergehenden, sehr wohlgenährt aussehenden Leibzüchter sagen: „De Leiiftüchter sind’n leiben Gott seiine Mästesweiine.“ Der betreffende Leibzüchter, Stiefva- ter eines jungen Hofherrn, hatte sich bei seiner Verheiratung mit der Witwe eine besonders gute Leib- zucht gesichert.

Mit den großen und größeren Höfen sind durchweg eigene Leibzuchtshäuser verbunden, schöne Häu- ser im alten Fachstil, in denen die Leibzüchter, wenn sie für sich allein wohnen, ein ganz geruhsames Leben führen können. Meistens leben aber die Alten und Jungen zusammen im Haupthause, und mag es auch manchmal blitzen und krachen, so kommt man doch im allgemeinen gut miteinander aus und übersiedelt erst in das Leibzuchtshaus, wenn das Zusammenleben der Alten und Jungen, sei es aus welchem Grunde es sei, sich als zu ärgerlich erwiesen hat. „Aault (alt) vor seck, jung vor seck“ ist ein auf diese Erfahrungen gegründetes Sprichwort.

Zu welchen Gereiztheiten, ergreifenden und erschütternden Zuständen das Leibzuchtsverhältnis führen kann, wenn die Alten und Jungen sich nicht vertragen, das sei hier an einigen charakteristischen Vor- gängen veranschaulicht, die ich genau so schildere, wie sie das Leben an die Oberfläche gebracht hat:

Ein größerer Ackerhof in ...1). Die Tochter hat einen jungen Bauern von auswärts geheiratet, der Soldat gewesen ist, während der Schwiegervater nicht gedient hat. Der junge Mann ist sehr selbstbewußt und will alles anders machen, als der Alte es gewohnt ist und für richtig hält. So geraten sie in ein immer gespannteres Verhältnis, das sich eines Morgens beim Frühstück in folgender Weise entladet. Der junge Bauer zum Kleinknecht: „Nöu ett mant orndlich Wost, datte stark werst un Zaldate weren kannst. Vor Loien (Leuten), dei kein Zaldate west sind — dat sind dei Krummen un Scheiwen – häau eck keinen Respekt vor. Iuse Feldwebel dei sä jümmert: Wenn ihr mal einem vorbeikommt, der kein Soldat gewesen ist, dann müßt ihr ihn gleich so in den Bauch treten, daß er noch krümmer wird.“ Dar- auf legt der Alte Wurst und Brot aus der Hand, steht auf und sagt zu dem erst einjährigen Enkel: „No Junge, nöu ett awer äak mant düchtige Wostenstücke, datte säau stark werst asse deuin Vader und äak Zaldate werden kannst.“

Die Selbstbeherrschung des Alten hat einen weiteren Spektakel, auf den es der junge Mann offenbar abgesehen hatte, vereitelt; er mußte seinen Haß an anderen Dingen auslassen, die ihm in den Weg kamen.

Bauersleute in E. haben vor dem drohenden Gewitter noch eilig ein Fuder Weizen hereingebracht; in der Hast aber ist der Vater beim Ausfahren auf die Scheunendiele so gegen eine Kluft Holz gefahren, daß die Hälfte des Fuders draußen bleibt und verregnet. Darüber kommt er mit dem Sohne, dem jetzi- gen Hofherrn, ins Wortgeplänkel, und auf die Vorwürfe des Sohnes erwidert der Alte im aufsteigen- den Arger: „So, siehste, das ist dafür, daß ich noch immer so für euch gesorgt habe ...!“ Darauf die junge Frau: Dafür hätte er ja auch sein Essen bekommen. Nun aber wird der Alte ganz wild, wirft Peit- sche und Leitseil hin und ruft: „So, jetz gönnst döu merk äak alle dat Eten nich mähr?“

1) Da Beteiligte noch leben, will ich die Ortsnamen in solchen Fällen lieber nicht nennen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 126

Sollte man es für möglich halten, hörte man den alten Sp. einmal gegen seinen Sohn klagen, daß er es fertig gebracht hätte, ihm bei der Kartoffelablieferung die kleinen vormaligen Düngersäcke ins Haus zu schicken. Die hielten ja kaum etwas mehr wie einen Zentner, während man doch im allgemeinen unter einem Sack Kartoffeln anderthalb Zentner verstände. Darauf Sp. jun.: Er wäre dem Vater 40 Sack Kartoffeln schuldig, vom Gewicht stände aber nichts geschrieben. Die alten Düngersäcke wären auch Säcke, und damit basta.

Ein in guten Verhältnissen lebender Bauer in W. ..., der keinen Sohn hatte, übergab seinen Hof der ältesten Tochter, die sich nun mit einem Ortsfremden verheiratete. Die Männer wurden sehr bald un- eins, und da sich der alte Bauer bei der Festsetzung seiner Leibzucht nicht vorgesehen hatte, mußte er schließlich in Tagelohn gehen. Wollte die Tochter ihren Eltern auch gern das Notwendige zukommen lassen, so durfte sie es doch des Mannes wegen nicht wagen.

Noch schlimmer erging es dem alten T., der zur Sicherstellung einer Anleihe für seinen Sohn Bürg- schaft übernahm und seine Leibzucht verpfändete. Das Anwesen geriet in Konkurs, und die Leibzucht des Alten ging mit verloren. Hätte er sich nicht verbürgt, so wäre seine Leibzucht der ersten Hypothek voraufgegangen.

Ein junger Bauer aus B. hatte die einzige Tochter eines Ackerhofbesitzers in O. geheiratet. Die Schwiegereltern gehörten auch zu denen, die sich nicht genug vorgesehen hatten. Als es dem jungen Manne in Q. nicht mehr gefiel, verkaufte er den Hof mitsamt den Eltern und zog wieder nach B. Die Tochter vermochte sich nicht durchzusetzen. Bald nun zeigte sich, daß die verkauften Alten mit dem Käufer ihres Hofes nicht in einen Kopf kommen konnten, sie gerieten in Streit miteinander, der nicht mehr aufhörte und die beiden Parteien alle paar Wochen vor Gericht führte. Der neue Hofbesitzer hatte z. B., wie aus den Gerichtsverhandlungen hervorging, die Leibzuchtskuh so kurz angebunden, daß sie nicht ans Futter konnte. Ein anderes Mal hatte er heimlich den Wasserhahn geöffnet, damit die Leibzuchtskuh ersöffe. Die Alten wieder hatten im Kuhstall des Besitzers eines Nachts alle Kühe los- gebunden, hoffend, daß sie sich gegenseitig kaputt machten.

Ein geradezu verhängnisvoller Brauch im Leibzuchtsverhältnis ist das „Utnöhmen“. Nehmen wir den Fall: Der Leibzüchter hat das Recht, zwei Morgen Roggen auf dem Felde auszusuchen oder auszuwäh- len. Er kann aber eine Fläche von vorgenannter Größe mit tadellosem Fruchtstande an einem Stück nicht finden, wählt darum auf zwei Stellen und zwar dort, wo der Roggen am besten steht. Natürlich ist dem Anerben diese Art Wählerei zuwider, und es kommt zu Streit und Hader, der nun an der Ta- gesordnung bleibt, besonders dann, wenn der Leibzüchter noch für jüngere Kinder zu sorgen hat, oder noch besonders sorgen will, obwohl diese ihre Abfindungssumme schon erhalten haben.

Um die ausbedungene Kuh möglichst leistungsfähig zu machen, wird sie von den Leibzüchtern, wenn man nicht miteinander „harmoniert“, mit allerlei Futterzugaben bedacht, natürlich mehr heimlicher- weise. Der Hofherr ist davon wenig erbaut, zumal weil dies extra Füttern für das übrige Vieh sehr störend ist. Zank und Reibereien sind die Folgen.

Ich habe diese Verhältnisse an anderer Stelle1) dichterisch, aber durchaus getreu nach dem Leben dar- zustellen gesucht, u. a. in meinem Bauerndrama „Düwels“ einen Vorfall behandelt, den ich in den achtziger Jahren auf der Weper erlebte. Die alten Bauern, die sich mit der von einem anderen Dorfe hereingekommenen Schwiegertochter nicht zu stellen wußten, übrigens auch beide dem Trunke zu-

1) Heinrich Sohnrey, Düwels, Bauerndrama in vier Auszügen; Derselbe, Die hinter den Bergen. Darin insbeson- dere do Stück „Beim Flachsbrechen“, das einen wirklichen Vorgang schildert. (Berlin, Deutsche Landbuchhand- lung.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 127 neigten, ließen sich den Naturalbestand ihrer Leibzucht vom Sohne für 600 Taler ablaufen. Das Geld war, da die Alten das Rechnen vergaßen, in wenigen Jahren verbraucht, und nun lagen die immer mehr Heruntergekommenen völlig mittellos auf der Straße.

Welchen weiteren Verlauf solche Mißverhältnisse mitunter nehmen können, schilderte mir der Pastor eines an der Weserseite des Sollings gelegenen Dorfes:

Eines Tages – es war am Sonnabend vor einer Abendmahlsfeier – kam in die Studierstube des Geistli- chen die junge Frau W. gefegt. Sie „fegte“ immer, denn sie war ein wütiges Weib und hatte z. B. ein- mal geschworen, nie wieder zur Kirche zu gehen, weil der neue Pastor darin ein – Kirchenkonzert veranstaltet hatte. So etwas gehöre nicht in die Kirche. Diesmal nun wollte sie wissen, ob der „Alte“ andern Tags zum Abendmahl gehe. Der „Alte“ war ihr Schwiegervater, ein zusammengefallenes asthmatisches Männlein, das aber trotz Asthmas und schlechter Behandlung von einer beneidenswer- ten Lebensfähigkeit war. Der alte Wassermeier saß Leibzucht. Was in diesem Falle soviel bedeutete wie – in der Folterkammer. Jahrelang schon spielte zwischen dem alten und dem jungen Paare, dem er den Hof übergeben hatte, ein Prozeß um die eiserne Kuh. Auf dem Amtsgericht bekamen Richter und Schreiber stets einen nicht gelinden Schrecken, wenn Rieke oder der Alte erschien. Denn auch der Alte war von einer Hartnäckigkeit ohnegleichen.

Doch zurück zu Riekes Besuch bei dem Pastor. Als er ihre Frage bejaht hatte, antwortete sie auftrump- fend: „Denne kumet wei nich!“ (Dann kommen wir nicht.) Ehe der Geistliche ihr sagen konnte, daß das bei einer so unversöhnlichen Gesinnung wohl auch richtiger sei, wie Matthäus im 5. Kapitel zu lesen, war Rieke Wassermeier schon hinausgefegt. Nach vierzehn Tagen aber erschien sie mit Gustav Wassermeier, ihrem Manne, zum Abendmahl, welche Gelegenheit sich dann der Geistliche nicht neh- men ließ, in einer Beichtrede über die Unversöhnlichkeit der Menschen ihnen ordentlich ins Gewissen zu reden.

Es floß jedoch an ihnen herunter wie der Regen am Baum.

Als nach vielen, vielen Terminen der Prozeß um die eiserne Kuh endlich beendet war, begann alsbald ein neuer um die Zwetschenernte. Der Alte hatte bei der Verschreibung als ein alter Fuchs an allesge- dacht und u. a. auf die Bestimmung gedrungen, daß ihm alljährlich der sechste Teil der Zwetschenern- te zu liefern sei. Als nun einmal eine besonders gute Zwetschenernte war, was bekanntlich nur alle sieben Jahre vorkommt, hatte die rachgierige Rieke dem Alten als seinen Anteil eine Molle mit ausge- sucht faulen Zwetschen vor die Tür gesetzt. In dem letzten Abschnitt dieses Prozesses spielte eine scharfkantige „Bäukensplidder“ eine böse Rolle, die der unnachgiebigen Frau im Kampfe gegen den Schwiegervater als Waffe diente. Da hielt es denn der alte Wassermeier trotz seiner Zähigkeit auf dem Hofe nicht länger aus, und es ereignete sich das, was in all’ den Jahren der Amtstätigkeit meines Ge- währsmannes sich nicht wieder ereignete: Der alte Wassermeier verließ den Hof und begab sich in ein Alteleutespital der Kreisstadt. Die jungen Wassermeiers bezahlten alljährlich 450 Mark Pflegegeld und waren dafür von den Leistungen der Leibzucht befreit. Rieke triumphierte und richtete die Leib- zuchtstube zu einer „guten Stube“ her.

Der alte Wassermeier lebte noch einige Jahre im genannten Stift. Als es dann zu Ende ging, reichte ihm der Heimatpastor das Abendmahl. Der Sterbende bedang sich ein Grab auf dem Friedhofe des Dorfes aus, wollte aber nicht noch einmal im Sarge auf seinen Hof gebracht werden; es sollte von der Stadt gleich zum Friedhofe gehen. „Wenn meine Schwiegertochter nicht mit zum Begräbnis kommt, ist es auch woll besser“, grollte er noch hinterher. Der Pastor konnte ihm nicht Unrecht geben, und Rieke Wassermeier blieb der Beerdigung fern. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 128

So endete dies trübste Kapitel aus den Leibzuchtsstreitereien, die der betreffende Pastor am Sollinge erlebt hatte.

Mit meinem alten Gewährsmanne Heinr. Schomburg aus Schoningen stimme ich darin überein, daß diejenigen Leibgedinge am wenigsten Veranlassung zu Streitigkeiten geben, welche auf ganz genau bestimmte Abgaben gegründet sind, so daß es also z. B. heißt: Der Hofannehmer hat den Leibzüchtern jährlich zu liefern: sechs Malter marktfähigen Roggen, zwei Malter Weizen, fünf Malter Hafer, ein Schwein von 150 Kilo Gewicht und 30 Sack Kartoffeln, den Sack zu 75 Kilo, sowie den Tag zwei Liter Milch und die Woche ein Kilo Butter. Es leuchtet ein, daß da so leicht kein Streit entsteht, als wenn der Leibzüchter das Getreide auf dem Halme nach Belieben wählen kann, oder die Leibkuh an der Krippe des Hofherrn füttern läßt und dann die Milchnutzung durch Zuschußfutter zu erhöhen sucht.

Der Scheffel bleibt im Hause. In einem Dorfe bei Uslar wurde mir ein altes Bauernhaus bezeichnet, wo es durch alle Geschlechter, die meine Gewährsmännin, eine 80jährige Bauersfrau, gekannt hat, immer so gewesen ist, daß die auf die Leibzucht gekommene Mutter von den Kindern schlecht behandelt wurde. Der Hof war klein und vermochte keine erhebliche Leibzucht zu tragen; ein gewichtiger Grund mehr für Alte und Junge, mit- einander in Frieden zu leben und an einem Strange zu ziehen. Aber um den Frieden stand es immer schlecht, und so kam es, daß alle für sich aßen, statt gemeinsam an einem Tische zu sitzen. Auch in der letzten Zeit war’s so, daß die Mutter in ihrem Stübchen für sich allein aß, obgleich sie doch mit- dreschen mußte. Während nun der Sohn mit seiner Familie in der großen Stube Kaffee trank, ist die Mutter heimlich aus die Scheune gegangen und hat sich die Tasche mit Frucht gefüllt, um damit ihre Kuh zu füttern. Die Kuh gehörte zu ihrer Leibzucht und war an der Krippe des Hauses zu versehen. Der Sohn ließ sie aber hungern und spannte sie immer mit an, während er die eigenen Kühe schonte und doch viel besser fütterte. Kein Wunder, daß die Leibzuchtskuh sehr mager war, ganz „grate Äa- gen“ hatte und keinen Tropfen Milch gab, wie sie auch in acht Jahren nur einmal gekalbt hatte. Kein Wunder auch, daß die alte Frau ihrer Kuh ein weniges heimlich zuzustecken suchte, worüber dann der Hader immer wieder aufs neue aufflackerte.

„Se stehlt meck ’t undern Hännen weg“, sagte der Sohn und sagte die Schwiegertochter.

Die Nachbarin, eine alte brave Frau, hatte schon lange den Kopf darüber geschüttelt; endlich über- wand sie sich und sagte zu der Schwiegertochter: „Döu sast seihn, deck werd ’t mal grade säau gahn. De Scheppel blift in Hiuse.“

Der Scheffel bliebe im Hause. Das Merkwort hatte, wie mir meine alte Gewährsmännin erklärte, eine sehr naheliegende Beziehung: Das Hausgerät wurde früher unter die Kinder verteilt, nur der Scheffel durfte nicht aus dem Hause gegeben werden, sondern mußte drin bleiben und seine Dienste bis zu Ende tun. Der Scheffel ist – je nachdem, entweder Schuld oder Segen; in diesem Falle war er die Schuld, die im Hause blieb und von Geschlecht zu Geschlecht fortwuchs.

Der Tod im Sollinge.

1. Die Vorzeichen des Todes. Außerordentliche Erscheinungen in der Natur werden häufig als Vorboten des Todes aufgefaßt. Trifft man z. B. im Spätsommer oder Herbst auf einen blühenden Baum oder Strauch, so muß man sich auf den Tod eines Angehörigen gefaßt machen, wie ich in Trögen und Lauenberg hörte, auch ziemlich allgemein im Solling geglaubt wird. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 129

Zeigt sich auf der Wiese ein ungewöhnlich großer „Multhucke“ (Maulwurfshaufen), so stirbt, wie die Fredelsloher glauben, die Frau; ein großer „Multhucke“ auf dem Acker kündigt dagegen den Tod des Herrn an. Wirft der Maulwurf auf dem Mittelrücken eines Ackerstückes oder dicht am Hause einen grabähnlichen Haufen, so wirft er den Hausherrn hinaus.

Ganz allgemein ist der Glaube, das Ticken der Totenuhr in den Balken, das Schreien der Eulen, das Trauern der Hühner, das Heulen des Hofhundes kündige den nahenden Tod an. Das Heulen des Hof- hundes kann allerdings auch Feuer bedeuten.

Auch durch unerklärliches Klappern des Küchengeschirrs soll sich der Tod anmelden. Als der Mann der Lewaisewase in Lauenberg in der Dreschmaschine verunglückte, hatten abends vorher die Fla- schen in der Küche geklappert.

Will der Tod in ein Haus einkehren, brennt tags zuvor aus dem Schornstein ein Licht. Wird ein auf den Tisch gelegtes Brot unangeschnitten wieder vom Tische getragen, stirbt der Hausherr. Ist bei einem frischgebackenen Brote die Oberrinde geborsten, oder zeigt der weiße Kohl, ehe er ansetzt, ein buntes Blatt, oder fallen beim Flachsrupfen plötzlich die Risten übereinander, ist anzunehmen, daß die Tage eines Hausangehörigen gezählt sind. An den eigenen Tod aber muß man denken, wenn einem im Traume Erde auf den Kopf geworfen wird.

In Delliehausen sagte man mir (1922): Der Tod am Sonntage zieht bald wieder einen anderen Tod nach sich. Das wäre dreimal hintereinander eingetroffen.

„Mir hat vom großen Wasser geträumt, ich komme bald in Trauer“, hört man in Schoningen die Frau- en sagen. Oder: „Ich habe von dicken Pflaumen geträumt, es wird bald einer sterben.“

Die alten Leute in Lauenförde glaubten, wenn ein langer Wasserstreifen am Himmel erscheine, dann müsse einer aus der Familie sterben. Bräche Feuer aus, so sähen sie vorher einen roten Streifen am Himmel. Diese Zeichen sähe aber nur der Vater. So sah denn auch einmal ein Familienvater einen Wasserstreifen am Himmel und wußte nun, daß einer in der Familie sterben müsse. Ängstlich achteten die Eltern auf ihre Kinder, daß ihnen nichts geschähe. Aber wen der Tod haben will! Eines Tages hatte es geregnet, und es stand ein Regenfaß draußen, das ganz vollgelaufen war. Als nun die Mutter eben ins Haus gegangen war, fiel ihr jüngstes Kind, das draußen gespielt hatte, in das Regenfaß und ertrank.

Viele glauben an Ahnungen, sowie an die Fähigkeit einzelner Sonntagskinder, den Tod bestimmter Personen und ihre Leichenzüge vorherzusehen.

Eine alte Frau in Lauenberg, Hannichen Jürges, die in der Christnacht geboren ist, muß oft nachts, von Ahnungen getrieben, aus dem Fenster sehen. Gewöhnlich sieht sie dann einen Leichenzug und erkennt aus den Leidtragenden hinter dem Sarge den Toten. Sie sieht auch das Trauerhaus. Hat sie nicht alle Einzelheiten genau erkannt, so muß sie nachts zwischen elf und zwölf Uhr nach dem Kirchhofe gehen und sich zwischen die Gräber setzen, um über den bevorstehenden Trauerfall volle Gewißheit zu er- langen. Der Sägereibesitzer O. in Lauenberg bezeugt, daß er sie dort nachts gesehen hat. Das ganze Dorf glaubt an ihre Sehergabe.

2. Der Tod. In der Johannisnacht wandern die Seelen derer, die im folgenden Jahre sterben, nach dem Kirchhofe, um sich dort ihren Platz auszusuchen.

Wenn die Seele den Körper verläßt, fliegt sie in Gestalt eines „kleinen weißen Dinges“ aus dem Fen- ster, weshalb beim Eintreten des Todes alle Fenster an der Sterbekammer aufgemacht werden. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 130

Als das Kind des Kantors Helmold in Espol im Sterben lag, sagte eine Bauersfrau zu ihm: Sie könne das Kind retten, aber es bliebe dann etwas von der Krankheit zurück, womit das Kind sein ganzes Le- ben behaftet wäre: Entweder würde es lahm oder geistesschwach. Die Frau hatte eine Art Besprechen vor; Herr Helmold verzichtete aber auf ihre Hilfe.

Dauert der Todeskampf lange, so kommt man (in den Weperdörfern) wohl auf die Vermutung: der Sterbende habe gewiß ein Hemd an, an dem Sonntags genäht sei. Man glaubt dann den Todeskampf dadurch zu verkürzen, daß man mit der Schere in das Hemd „knipschet“ (schneidet). Auch soll der Todeskampf bald aufhören, wenn die „Spunnige“ (Bettstelle) „’rumgeschlagen“ wird.

Ein alter Mann in dem Holzhauerdorfe Fohlenplacken, der sein Ende nahen fühlt, läßt sich von der Schwiegertochter Branntweinflasche und Gesangbuch geben. Dann muß sie den Sterbegesang auf- schlagen und ihm laut vorsingen. Er brummt mit. Es waren „grausame Töne“, wie „Bartels Unkel“ in Mühlenberg bemerkte. Dann schickt er die junge Frau hinaus, das Vieh zu besorgen. Als sie wieder hereinkommt, ist er tot. Das Gesangbuch liegt auf dem Gesichte, die Branntweinflasche auf der Bett- decke. Sie ist leer.

Nach dem Tode des Hausherrn muß im Hause alles „annereget“ (angerührt) werden, z. B. die Blumen auf den Fensterbänken und die Bäume im Garten, damit sie nicht absterben. Als der Lewaisewase in Lauenberg die zwölfjährige Tochter starb, wurden alle Myrten trocken, weil sie nicht angerührt waren.

Die Frucht auf dem Kornboden wird umgeschaufelt; auch die Saat auf dem Felde ist anzurühren, da sie sonst nicht gedeiht.

Den Tieren im Stalle meldet man den Tod mit den Worten: „De Häre is däaute!“ Auch die Bienen- stöcke darf man nicht vergessen anzurühren. Mein alter Freund K. von Ohlen in Fredelsloh wollte (1920) in Trögen einige Bienenstöcke kaufen, deren Besitzer verstorben war. Da sagte ihm ein Bauer, den er nach dem Hause fragte: „Dä käap man nich, dei Stöcke gaht kaput, weil de Häre storben is.“ Man sagt auch, das Vieh müsse fortwährend schlafen, wenn es nicht angerührt würde.

Die Totenfrau geht, wenn sie den Toten gewaschen und angezogen hat, bei den Verwandten und Be- kannten herum und sagt ihnen den Tod an. Sie darf nicht „willkommen“ geheißen und nicht zum Kaf- fee genötigt werden. Als Entgelt erhielt sie früher außer einer geringfügigen Summe Hemd, Handtuch und Bettzeug des Toten; heute wohl allgemein nur noch Geld, natürlich zeitgemäß erhöht. Das Gefäß, aus dem der Tote gewaschen ist, wird aufgehoben. Wäscht man daraus krankes Vieh, oder läßt es dar- aus saufen, so zeigt sich eine heilende Wirkung. Die Hand oder das Gesicht des Toten darf man nicht mit Tränen benetzen, sonst findet die Seele keine Ruhe. (Lauenberg.)

Während der Tote ausgeläutet wird, soll man nicht essen, sonst stirbt jemand aus der Familie. Um das Grauen vor dem Toten zu verlieren, muß man ihn an die große Zehe fassen; oder man muß, wenn der Sarg hinausgetragen ist, mit einem Sarglichte stillschweigend im ganzen Hause herumgehen und in alle Ecken leuchten.

Die Beileidsbezeugung gipfelt in Fredelsloh in dem Troste: „Da moste deck niu inne sinnen!“ (Da mußt du dich nun dreinfinden.)

Man „hat sich“ beim Eintritt des Todes sehr, wie mir ein Lehrer im nördlichen Solling sagte. Auch auf dem Kirchhofe hört man noch sehr übel tun; auf dem Rückwege ist es aber schon so, als wäre alles gleich. In Hellenthal hörte man bei einer Beerdigung rufen, als das Gejammer gar zu groß war: „Nöu latet de Kattenpauerie seïn, schenket noch einen in, un denn riut mit’n Ohl’n“ (raus mit dem Alten). Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 131

3. Das Begräbnis. Genesende soll man nicht zum Begräbnisse laden, da sie sonst zuerst dem Tode verfallen, wie Kranke überhaupt nicht auf den Friedhof gehen dürfen. In Fredelsloh, wie auch in Schoningen und anderen Sollingdörfern graben die Nachbarn des Toten das Grab, suchen auch die Grabstelle aus, wobei sie sorgfältig darauf sehen, wo schon ein Verwandter oder ein Freund von ihm liegt. Trat diese Sitte in neuerer Zeit mehr und mehr zurück, so ist doch der Brauch bestehen geblieben, daß die Nachbarn den toten Nachbar zu Grabe tragen. Das gilt nun einmal für eine Ehrenpflicht. Verheiratete werden nur von Verheirateten, Junggesellen nur von Junggesellen getragen; letztere haben auch die gestorbenen Jung- frauen und Kinder nach dem Friedhofe zu bringen. Freilich, wo der Totenwagen in Aufnahme ge- kommen ist, hat sich auch diese Sitte entsprechend geändert.

Der Brauch, Taschentücher an den Sarg zu heften, die beim Grabe abgenommen und von den Trägern angesteckt wurden, ist, soweit ich feststellen konnte, heute ganz abgekommen, und zwar hauptsächlich infolge des Stoffmangels während des Krieges. Nachträglich wird mir aber aus Lauenberg noch mitge- teilt, daß jeder der Träger von unverheiratet Verstorbenen, wie von Kindern, ein Taschentuch mit dem schwarzen Monogramm des Toten erhält, das von der Totenfrau ausgehändigt wird. Angesteckt wer- den jedoch die Tücher nicht mehr. Auch der große Zwieback, den früher in Lauenberg die Träger er- hielten, wird nicht mehr gebacken, und bedauerlicherweise ist auch der „Buschbäaumquick“1), der den Trägern dort angesteckt wurde, außer Gebrauch gekommen. Die Träger erhalten nur noch Geld und Kuchen. Es wird eben heute alles verstandesmäßiger eingerichtet und das Zweiglein Poesie achtlos beiseite getan. Aber in der Stadt Moringen ist es auch heute noch Brauch, daß die Träger einen Ros- marinzweig zwischen den Lippen halten.

Naht die Stunde der Leichenfeier, so läßt man gewöhnlich die Leiche im halboffenen Sarge auf dem Hausflur aufstellen, damit alle den Toten noch einmal sehen können. Erst nach der Ankunft des Predi- gers wird der Sarg geschlossen. Nach einem stillen Gebet entblößten Hauptes setzte man in Dinkel- hausen noch ausgangs des vorigen Jahrhunderts den Sarg auf den hinteren Teil eines gewöhnlichen Leiter- oder Mistwagens. Vorn saßen zwei Frauen, gewöhnlich Verwandte des Verstorbenen, die für diesen Ehrendienst immer ein neues schwarzes Umschlage- oder Kopftuch geschenkt bekamen. Predi- ger und Lehrer gingen vor dem Wagen her. Die Männer trugen lange blaue Röcke und den meist vom Urgroßvater ererbten Zylinder, dem man durch verkehrtes Bürsten einen Trauerrand gab. (Bei freudi- gen Festlichkeiten, wie Hochzeiten oder Kindtaufen, wurde der Zylinder wieder glatt gebürstet.)

In der verflossenen Branntweinzeit, wie man die Zeit vor dem Kriege wohl nennen könnte, wurde vor und nach dem Leichenbegängnis im Trauerhause dem Glase manchmal so tüchtig zugesprochen, daß es dicht an der Grenze herging.

So hatten die Träger bei dem Begräbnis des alten Albrecht in Fredelsloh des Guten so viel getan, daß sie unter der Bahre wackelten und den Toten um ein Kleines an der Klostermauer in die „Nunnenbi- eke“ (Nonnenbach) geworfen hätten. Als der Pastor Keßler dann in seiner Grabrede das Schnapstrin- ken scharf geißelte, fiel ihm der alte „Küraß“ Tute mit den Worten in die Rede: „Da versteihst diu nitz von, wei könnt nich alle Water siupen, asse diu deist!“

Eine Strafanzeige des Pastors brachte dem respektlosen Kerl vierzehn Tage Gefängnis ein. Nachher wurde er nur noch „Feldprediger“ genannt.

Hinter dem hinausgetragenen Sarge wurde ausgefegt, wie ich vereinzelt hörte, um Schnecken- oder Raupenplage zu verhüten. Man sieht auch nach dem Leichenzuge die Angehörigen mit dem Besen den

1) Sträußchen von Buchsbaum. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 132

Steinweg fegen, wofür keine Erklärung gegeben wird. Die Lichter auf dem Sarge dürfen nicht ausge- löscht werden, da der Tote sonst keine Ruhe hat.

Als die Leichenmähler noch nicht durch kirchliche Einwirkung abgekommen waren, kehrten die Trä- ger mit dem bestellten Gefolge vom Friedhofe ins Trauerhaus zurück, wo nun mit allem Aufwand ein Festmahl angerichtet wurde, das die Gesichter wieder hell machte. In Hilwartshausen soll man bei solch einer Begräbnisfeier sogar einmal getanzt haben. Auch von anderen Orten wird wohl berichtet, wie lustig es bei solchen Leichenfeiern schließlich zuging. Derartige Vorgänge wurden aber immer übertreibend geschildert, von Leuten namentlich, die nicht selbst dabei waren, sondern nur mal etwas gehört hatten. Jedenfalls möchte ich sagen, daß diese Leichenfeiern unverdientermaßen in Verruf ge- kommen sind. Die Synoden haben in diesen wie in anderen Fällen oft einen allzu großen Übereifer entwickelt. Ich halte es hier mit der Auffassung Professor D. Freybes, der in seinen trefflichen Schrif- ten über die christliche Volkssitte das Urteil über die Leichenmähler auf das richtige Maß zurückge- führt hat und ihr völliges Verschwinden mit Recht beklagt1).

Leise erinnert in Espol an das alte Gastmahl im Trauerhause noch der Brauch, daß jedem, der dem Sarge folgte, vom Trauerhause ein Topf mit Kaffee und Kuchen gebracht wird. Ist übrigens früher auch anderwärts üblich gewesen, z. B. in Neuhaus und Fohlenplacken.

Ausgangs des vorigen Jahrhunderts waren die „Singeleichen“, d. i. die Sitte, den Toten nach dem Friedhofe zu singen, im Sollinge noch ziemlich allgemein. Das ganze Dorf pflegte sich daran zu betei- ligen. Ich selbst habe in den achtziger Jahren als junger Lehrer in einem Weperdorfe noch alle Lei- chenzüge singend anführen müssen.

In der Uslarer Gegend war es so: Nachdem der Lehrer mit seinen Schulknaben im Trauerhause ein Lied gesungen hatte, mußten sich die Sänger zunächst an Kuchen und einem Glase Branntwein laben. Ein zweiter und dritter Gesang wurde auf dem Wege zum Friedhofe, ein vierter am Grabe gesungen. Jeder mitwirkende Knabe erhielt einen guten Groschen, der Lehrer nebst Kuchen noch die üblichen Leichengebühren.

Aus den Erinnerungen an diese Zustände sprang folgendes Geschichtchen hervor: In Sohlingen, einem Dorfe im Kreise Uslar, hatte die Frau eines Schmieds acht Jahre lahm gelegen, und als sie starb, wollte der alte Lehrer Keese dieses langen Siechtums in ausdrücklicher Weise gedenken. Er wählte deshalb einen Gesang, in dem es hieß: „Endlich, endlich muß es doch mit der Not ein Ende nehmen ...“ Als nun der Schmied, ein etwas eigenartiger „Krauter“, diese Strophe hörte, riß er das Fenster auf und schrie hinaus: „Meiine Friue hät noch nenne Naut elieen!“ (Meine Frau hat noch keine Not gelitten.)

Die Männer wurden in der Uslarer Gegend mit langen, in Uslar verfertigten Tonpfeifen beschenkt. Ein Kasten mit Tabak stand immer auf dem Tische, so daß sich jeder nach Belieben bedienen konnte. Da- her die Redensart: „We willt ’ne wegsmäken.“ In neuerer Zeit trat dann die Zigarre an die Stelle der Tonpfeifen.

In der „alten Zeit“ pflanzte man Wermut oder Rosensträuße auf die Gräber, jetzt nur Rosensträuche. Das Mädchen, das den Strauch trägt, erhält (in Schoningen) ein Tuch, auch heute noch.

Um die Vögel von der Saat abzuhalten, soll man vom frischen Grabe Erde nehmen und aufs Land streuen.

1) Dr. Albert Freybe, Züge deutscher Sitte und Gesinnung. Gütersloh. 1889. Derselbe, Züge zarter Rücksicht- nahme und Gemütstiefe in deutscher Volkssitte. Gütersloh. 1900. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 133

Wie Pastor Harland hörte, sollen die Seelen der Verstorbenen oft als Hühner oder als Vögel erschei- nen.

Der Anblick dürrer Bäume im Obsthofe des Verstorbenen erweckt (auf der Weper) die Vorstellung: „As de Loie (Leute) in der Aren (Erde) vergaht, säau vergaht äauk de Bäme.“ Auch von dem Zeuge des Toten glaubt man das.

Noch sei erwähnt, daß nicht nur die Pietät, sondern auch der Aberglaube im Sollinge die Gräber vor Beraubung schützt; denn wer unbefugterweise Blumen oder sonst etwas vom Grabe fortnimmt, dem lassen die Toten keine Ruhe.

Die „Buntmakers“. Vor allem merkwürdig erscheinen die Bräuche, die in Wiensen bei der Beerdigung von Kindern und von unverheirateten Leuten beiderlei Geschlechts üblich sind.

Im Gegensatz zu dem Begräbnis der Verheirateten, die man auf gewöhnlichen Wagen fährt (die Wohlhabenderen lassen sich den Totenwagen von Uslar kommen), werden die Kinder, Junggesellen und Jungfrauen den zwanzig Minuten langen Weg zum Friedhof auf der Bahre getragen. Der Friedhof liegt außerhalb Wiensens zwischen Wiensen und der Stadt Uslar und zählt mit seiner alten starken Fichtenheckenumfriedigung zu den schönsten Friedhöfen des Sollings. Eine alte Steinkapelle, die Kluskapelle, die nach einer Inschrift über der Eingangstür im Jahre 1373 erbaut wurde, läßt darauf schließen, daß an dieser Stelle ein Klausner gewohnt haben muß.

Je nach dem Alter der Leichen wechselt die Zahl der Träger zwischen zwei und acht. Den Altersstufen entsprechend sind drei Bahren im Gebrauch, die in der alten Kluskapelle auf dem Friedhofe aufbe- wahrt werden. Die Träger werden von den Angehörigen bestimmt und aus der nächsten Nachbarschaft genommen. Ebenso wählen die Angehörigen aus der Nachbarschaft so viel junge Mädchen wie Trä- ger, deren Obliegenheit es ist, die Leiche „bunt“ zu machen.

Die „Buntmakers“, wie diese Mädchen genannt werden, gehen dann im Dorfe herum und holen sich aus den einzelnen Hausgärten, wo Lebensbäume, Buchsbäumen und Blumen stehen, so viel grüne Zweige und Blumen zusammen, wie sie zum Schmücken der Leiche brauchen, und jedermann öffnet zu diesem Zwecke aufs bereitwilligste seinen Garten. Jedes Mädchen bindet einen Kranz; dazu kaufen sie gemeinsam einen großen Kranz von einem Gärtner aus Uslar. Eine gewisse Zeit vor dem Begräb- nis begeben sie sich mit Kränzen und sonstigem Grün nach dem Trauerhause, um die Leiche „bunt“ zu machen.

Das Hauptstück des Sargschmuckes ist eine alte, mit bunten Bändern gezierte Krone auf einem weißen Kissen. Es sind nur noch ein paar alte Leute im Dorfe, die solche Sargkronen bewahren und an das Trauerhaus verleihen, aber ohne jede Gegenleistung. Die Krone kommt auf das Kopfende des Sarges, der gemeinschaftlich gekaufte Kranz aus das Fußende.

Noch merkwürdiger sind die Begräbnisfackeln. Jede „Buntmakersche“ besorgt sich zum Begräbnis selbst eine Fackel, nämlich einen Holzstab, um den Buchs- und Lebensbaum gewunden sind und Pa- pierstreifen in allen Farben sich schlingen. Der Stab läuft oben in eine vergoldete Kugel aus, zu der man eine mit Knittergold umwickelte Kartoffel verwendet, was später, wenn das Knittergold abgefal- len ist, einen recht ernüchternden Eindruck macht. Als ich 1920 an jenen Kindergräbern stand und die bloßen eingetrockneten Kartoffeln auf den Fackeln sah, habe ich erstaunt darüber nachgedacht, was diese Kartoffeln wohl für einen Sinn haben könnten; sie haben aber anscheinend nur den rein prakti- schen Zweck. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 134

An jeder Fackel hängt ein Taschentuch, das die Eltern des toten Kindes kauften.

Das Begräbnis beginnt mit dem Glockengeläut, indem die große Glocke zuvor neunmal anschlägt. Die fackeltragenden Mädchen schreiten dem Zuge paarweise voran, die jüngsten vorn und so weiter nach dem Alter abgestuft. Dem Sarge folgen die nächsten Angehörigen, die Männer in bloßem Kopf, den Zylinder in der Hand, einerlei, ob gutes oder schlechtes Wetter ist. Aus jedem Haus des Dorfes folgt mindestens eine Person und zwar unbestellt und ganz gleich, ob armer oder reicher Leute Kind begra- ben wird. Die Männer voran, hinterher die Frauen.

Der Geistliche von Uslar, der Wiensen mit zu versorgen hat, erwartet den Leichenzug am Tore des Friedhofes. Trotzdem die Kapelle vorhanden ist und Raum genug böte für alle, wird sie doch nicht benutzt und die Predigt selbst bei dem schlechtesten Wetter am offenen Grabe gehalten.

Nach der Einsegnung der Leiche treten zunächst die Träger an das Grab und werfen drei Schaufeln Erde in die Gruft. Die Mädchen lösen die Tücher von den Fackeln und heften sie den Trägern an die Brust, und zwar nach festem Brauche in der Weise, daß das jüngste Mädchen sein Tuch dem jüngsten Träger spendet. Dann legen sie die Fackeln sorglich beiseite neben das Grab, und nachdem die Leute vom Kirchhofe sich entfernt haben, schaufelt der Totengräber das Grab zu, pflanzt die Fackeln auf dem Hügel in einer Reihe auf, legt die Kränze auf das Grab und schmückt es mit Blumen und Schlei- fen, die mitgebracht sind. Ist es ein Jungmädchengrab, so darf eine Myrtenkrone darauf nicht fehlen.

Nirgends in der Welt habe ich reicher, vor allem eigenartiger geschmückte Kindergräber gesehen als hier auf dem schönen alten Friedhofe von Wiensen. Ich wundere mich um so mehr, daß Uslarer, mit denen ich darüber sprach, von dieser Begräbnissitte nichts wußten, trotzdem der Friedhof kaum mehr als eine Viertelstunde von der Stadt entfernt liegt. Doch wir sind mit unserer Beschreibung noch nicht am Ende. Geschmückt mit den Taschentüchern, gehen die Träger feierlich ins Dorf zurück. Die Bunt- makers schließen sich ihnen an; die beiden jüngsten tragen die Kissenkrone und den gekauften Kranz, die von den Buntmakers in die Kapelle des Dorfes gebracht und zu beiden Seiten des Altars niederge- legt werden, wo sie vier Wochen liegen bleiben.

Am vierten Sonntag müssen die jüngsten beiden Buntmakers den Gottesdienst besuchen, um am Schlusse Krone und Kranz wieder vom Altar wegzunehmen, den Kranz in das Trauerhaus und die Kissenkrone wieder in das Haus der Verleiher zu tragen.

Als noch die althergebrachte Begräbnisfeier mit den reichlichen Leichenschmäusen üblich war, wurde natürlich auch in Wiensen ordentlich gefeiert, so daß man manchmal am Schluß, wie mir jemand über- treibend sagte, nicht mehr wußte, ob Begräbnis oder Hochzeit war. In den letzten Jahrzehnten spielte der Totengräber dabei eine große Rolle. Er war mit bei Langensalza gewesen, wußte den Kampf und die eigenen Heldentaten immer mit packender Anschaulichkeit zu schildern und hatte, da man von der unvergeßlichen Schlacht nicht genug hören konnte, immer bewundernde Zuhörer um sich.

Heute gibt es keine Leichenschmäuse mehr; wohl aber suchen die Buntmakers und Träger mit den nächsten Angehörigen noch einmal das Trauerhaus auf, trinken ein paar Tassen Kaffee und essen wei- ßen Kuchen dazu, um dann still nach Hause zu gehen.

Die Läutejungen von Sievershausen. In Sievershausen erinnert man sich noch lebhaft an das Läutejungenamt in seiner früheren Beschaf- fenheit. Stand eine Beerdigung bevor, so hatte der Lehrer vier der stämmigsten Schüler auszuwählen, deren Aufgabe es war, den althergebrachten Bestimmungen gemäß das Sterbegeläut zu besorgen und die Leichenbahre nach dem Sterbehause zu bringen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 135

Es gab dreierlei Bahren: Eine große für Erwachsene, eine mittlere für größere Kinder und eine kleine. Die ersten beiden wurden von allen vier Jungen, die kleine von zweien getragen. Dazu kamen die „Geffeln“, gegabelte, krückenartige Stützhölzer, die die Träger beim Gehen benutzten und während der Ruhepause zum Stützen der Bahre verwendeten.

Waren die Jungen mit Bahre und Geffeln im Trauerhause angekommen, so stellten sie sich in der Stu- be oder auf der Diele, wo der offene Sarg stand, in Reihe und Glied auf und empfingen angesichts des Toten verschiedene Streifen Kuchen, sowie einen „sanften Heinrich“, einen süßen Likör. Der aus Sie- vershausen gebürtige Postsekretär Susebach in Göttingen, der als Sievershäuser Lehrerssohn den Eh- renposten oft bekleidete, bemerkt dazu: „Daß die Bissen mitunter nicht recht hinunter wollten, ist er- klärlich, während dagegen der »sanfte Heinrich« immer ziemlich geläufig nach unten kam.“ Schau- dernd denkt er noch heute an einen im Sarge liegenden Gendarmen mit einem großen schwarzen Schnurrbart, der die Jungen bei dem Kuchenessen so gruselig anglotzte.

Auch ein anderer Vorgang hat einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht. „Wir brachten die Leichenbahre“, so erzählte er, „nach einem Hause, in dem ein kleines Kind gestorben war. Als wir nun unsere Bahre hingesetzt hatten und uns zum Empfange von Kuchen und »sanftem Heinrich« aufstell- ten, stürzte die junge Mutter plötzlich nach dem Sarge, riß das Kind heraus, preßte es an sich, herzte und küßte es und konnte sich nicht von ihm trennen. Mir blieb der Kuchen im Halse stecken, und der »sanfte Heinrich« wollte diesmal auch nicht rutschen.“ Wenn der Mann heute, nach 45 Jahren, nach Sievershausen kommt, treibt es ihn immer wieder, an dem Hause vorüberzugehen, in dem er jenen erschütternden Jugendeindruck erhielt.

Dieser Teil des Läutejungendienstes spielte sich vormittags ab, und nachmittags fand dann die Beerdi- gung statt. Bei älteren Toten amtierten der Pastor und der Lehrer (Küster und Organist) zusammen, bei kleinen Kindern ging der Kantor allein.

Wie im ganzen Sollinge, so gab es auch in Sievershausen die „Singeleichen“, bei denen also das Ge- folge die Leiche singend begleitete. Sie bildete aber dort nicht so die Regel wie an anderen Sollingsor- ten, namentlich in den Weperdörfern.

Zur festgesetzten Stunde stellte sich ein Läutejunge im Trauerhause ein, um die notwendigen Signali- stendienste zu tun. Sobald der Pastor das Vaterunser anfing, machte sich der Junge wieder auf den Weg und lies nach dem „Deiike“ (Feuerteich) mitten im Dorfe, um von dort aus, wo seine drei Kame- raden im Schalloch des Kirchturms ihn sehen konnten, das Zeichen zum Beginn des Läutens zu geben. Bis er an den Teich kam, war nämlich der Pastor mit Vaterunser und Segen fertig, worauf sich der Leichenzug in Bewegung setzte. Es wurde sehr darauf gesehen, daß alles ordentlich klappte, beim Verlassen des Sterbehauses vor allem pünktlich die Glocken einsetzten.

Gelegentlich des Leichenzuges ereigneten sich mitunter auch Vorgänge, die mehr oder weniger spaßig wirkten. Wenigstens ist aus der Zeit vor 40 bis 50 Jahren noch ein leichtes Schmunzeln übriggeblie- ben. Pastor und Schulmeister – damals Pastor Schr., ein dicker und jovialer Herr, und der Kantor, lang und dünn – gingen dem Leichenzuge voran, und der Weg zudem am Ende des großen Dorfes liegen- den Kirchhofe war lang und langsam. Hatten nun die Träger ihre Geffeln unter die Bahre gestellt, um sich auszuruhen, konnte es wohl vorkommen, daß Pastor und Kantor, sich angelegentlich unterhaltend, arglos weitergingen, zu dem Leichenzuge in einen lächerlich großen Abstand gerieten und schließlich, aufmerksam gemacht, wieder umkehren mußten. Etwas lose Zungen haben dann wohl behauptet, daß die beiden ehrwürdigen Herren an etwas ganz anderes gedacht hätten als an das Leichenbegängnis. Da sie gern ab und zu ein Spielchen machten, hätten sie wohl zu eifrig darüber diskutiert, wie das letzte Whist- oder L’hombrespiel im „Philipps-Kruge“ ausgefallen wäre, wenn der Pastor diesen oder der Kantor jenen Trumpf rechtzeitig eingesetzt hätte. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 136

War die Grabfeier kurz vor dem Ende, so gab der Totengräber von einer Ecke des Kirchhofes, wo er vom Kirchturm aus gesehen werden konnte, dem am Schalloch auslugenden Läutejungen ein Zeichen, das Geläut einzustellen.

Damit war der Läutejungendienst zu Ende, und jeder erhielt als seinen Lohnanteil für eine Beerdigung zweieinhalben Silbergroschen. Das Geld wurde aus die hohe Kante gelegt und, wie man mir sagte, auf dem Dasselschen Markte alljährlich in Karussellfahren, in Pfefferkuchen und Schießbuden usw. „ver- pulvert“, da man damals ja an Schulsparkassen und andere Sparkassen noch nicht dachte. Schon aus diesem Grunde drängten sich die Jungen zu dem Ehrenposten, und sie hätten nichts dagegen gehabt, wie mir ein Sievershäuser sagte, wenn alle Tage einer „tot gegangen“ wäre.

Ihres Amtes war es übrigens auch noch, den Pastor zu begleiten, wenn ein Todkranker das heilige Abendmahl verlangte. Der betreffende Läutejunge hatte dann das Abendmahlsgerät zu tragen. Er blieb gewöhnlich mit im Krankenzimmer und wohnte der heiligen Handlung bei, die immer einen tiefen Eindruck in dem jungen Gemüte hinterließ.

Zu den Obliegenheiten der Läutejungen gehörte es ferner, bei Feuersbrünsten, Waldbränden sowie in der Neujahrsnacht den Glockendienst zu besorgen, und sie waren immer flink am Platze, wenn es not tat.

Mit der Einführung des Totenwagens und der Abschaffung der Leichenbahren büßte das Läutejunge- namt den wesentlichsten Teil seiner Eigentümlichkeit ein; man kann sagen: Die Läutejungenromantik fuhr mit dem schwarzen Totenwagen zu Grabe.

Die alten und älteren Sievershäuser aber, ob sie nun daheim oder in weiter Ferne weilen, denken noch oft mit Stolz und Wehmut an ihre Läutejungenzeit zurück. Und als neulich der Postsekretär Susebach in Göttingen den Besuch eines Sievershäusers erhielt, den er nicht gleich erkannte, führte dieser sich mit der begeisterten Versicherung ein: „Wir waren doch Läutejungens zusammen!“

Aus dem kirchlichen Leben. Zur Parochie Uslar, der Metropole des Sollings, gehören nicht weniger als sieben Landgemeinden: Dinkelhausen, Fahle, Eschershausen, Sohlingen, Wiensen, Bollensen1), Allershausen. Mögen die Sol- linger auch keinen besonders entwickelten kirchlichen Sinn haben, so wird doch die kirchliche Sitte in Ehren gehalten, wie auch der Kirchenbesuch im allgemeinen noch als etwas Selbstverständliches gilt, wenigstens muß möglichst ein Mitglied des Hauses am Sonntag in der Kirche gewesen sein.

Jedes konfirmierte Mitglied der christlichen Gemeinde geht jährlich zweimal zum heiligen Abend- mahl: an Himmelfahrt gewöhnlich das „junge Volk“, am grünen Donnerstage die „Alten“. Für die Kränklichen und Altersschwachen wird in dem heimatlichen Dorfe gewöhnlich in der Herbstzeit eine besondere Kommunion abgehalten.

Die Landleute pflegen jedoch nur den Vormittagsgottesdienst in der Stadtkirche zu besuchen; dafür sieht man sie nachmittags in reger Zahl in die örtliche Kapelle gehen, wo der Lehrer Gottesdienst mit Kinderlehre abhält.

1) Kirchenrechtlich gilt Bollensen als eine selbständige Parochie, sogen. mater·combinata mit Uslar, also gewis- sermaßen durch Personalunion verbunden. Der zweite Geistliche von Uslar ist zugleich Pastor von Bollensen. Die Gesamtparochie heißt Uslar-Bollensen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 137

Die Konfirmierten beiderlei Geschlechts besuchen noch zwei Jahre nach der Konfirmation das Chor der Kirche zur Kinderlehre und dürfen erst nach diesem Zeitpunkte in die Reihen der Erwachsenen einrücken.

Die Frauen und Mädchen sitzen in dem unteren Teile der Kirche, die Männer auf dem höher gelegenen „Mannhause“.

Die meisten der Dorfkapellen sind uralt und mit ihren festungsartigen gewaltigen Mauern beredte Zeugen vergangener Zeiten. Eine dieser Kapellen, die den früheren Bewohnern von Bollensen zu- gleich als Zufluchtsstätte in Kriegszeiten diente, wurde 1882 leider abgerissen und an ihrer Stelle ein zeitgemäßes Kirchlein gebaut. In dieser Kapelle waren noch hinter der mächtigen eichenen, mit Eisen beschlagenen Tür die Vertiefungen in dem gewaltigen Gemäuer zu sehen, in die der zur Verrammlung dienende Balken gelegt wurde.

Ähnlich ist die Kapelle zu Gierswalde, ein fast quadratischer Bau, an dessen Ostseite die Mauer für ein Fenster durchbrochen wurde. Die Mächtigkeit der über einen Meter starken Mauer, sowie die geringe Ausdehnung des Baues brachten es mit sich, daß die Fensternische einfach als Altar benutzt wurde.

Überhaupt leiden alle diese Kapellen, ganz abgesehen von ihrer teilweise sich bemerkbar machenden Baufälligkeit, an ihrer Kleinheit. So kann man sehr häufig an Festtagen, bei großen Hochzeiten usw. die Andächtigen aus der Treppe zum Mannhause, auf der Türschwelle und dicht vor der Tür sitzen sehen. Bei einzelnen Umbauten in neuerer Zeit hat man meistens keine glückliche Hand gehabt, so z. B. die uralte Steinkirche in Nienhagen aus der Weper in geradezu haarsträubend naturwidriger Wei- se „renoviert“. Man begreift die Baubehörde nicht, die das zuließ. –

Diese alten Kapellen sind zumeist recht schmucklos und öde. Die an den Wänden oder Priechen hän- genden sog. Totenkästchen fielen leider dem modernen Geiste, den gewöhnlich ein neuer Pfarrer mit- brachte, zum Opfer und sind heute wohl ganz verschwunden. Biereckige Glaskästchen (etwa 30 cm hoch und breit), die eine aus Immortellen und bunten Bändern hergestellte Krone einschlossen, waren befestigt auf dem oberen Teile eines etwa 3/4 m langen und 1/3 m breiten Breites, das den Namen des Verstorbenen, Geburts- und Todestag, sowie einen Gedenkspruch enthielt. Ich habe sie immer als sinnige Einrichtung empfunden und begreife nicht, warum sie verschwinden mußten1).

Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bestand noch die Einrichtung der sog. „Donnerkir- chen“: Sobald ein schweres Gewitter heraufstieg, ließ der Lehrer, der zugleich auch Küster war, zur Kirche läuten. Die Dorfbewohner eilten dann ohne weiteres zur Kapelle, und es fand ein einfacher Gottesdienst statt. Für die Abhaltung dieser gottesdienstlichen Feier bekam der Lehrer später von je- dem Bauern ein sog. Donnerbrot. Von einem alten, sehr praktisch denkenden Lehrer in Lutterbeck auf der Weper wurde mir erzählt, daß er auch manchmal läutete, wenn sie in Kassel mit Kanonen schossen und das dumpfe Dröhnen davon hörbar wurde.

Die Donnerkirchen sind verschwunden, aber noch in den letzten Jahren enthielten die Dienstanschläge verschiedener Schulen das Donnerbrot als Einnahme. –

Jacobi (25. Juli) begeht man in den sieben erstgenannten Ortschaften, aber auch anderswo, z. B. in Gierswalde, die „Hagelfeier“. Infolge eines ehemaligen verheerenden Hagelschlages eingerichtet, gilt der Tag als Bußtag, an dem zweimal Gottesdienst abgehalten wird. Bevor nicht der erste Gottesdienst beendet ist, darf niemand sein Weidevieh austreiben. Ich habe mehrere Hagelfeiertage im Sollinge

1) Über die Dorffriedhöfe im Sollinge habe ich im „Land“ geschrieben: Juni 1923, Nr. 9. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 138 erlebt, die alle feierlich ernst anfingen und in größter Vergnügtheit und Lustigkeit im Wirtshause en- deten.

Bis zum Jahre 1878 war Neuhaus, früher auch Silberborn, das höchste Sollingsdorf, in Schönhagen eingepfarrt. Wenn die Kinder zur Pfarre gingen, wöchentlich zweimal, mußten sie immer zwei Stun- den weit durch tiefe Wälder hindurch. Diese Wege waren in sittlicher Hinsicht nicht ohne Gefahr. Eine Konfirmandin soll gar Mutter geworden sein.

Der Pastor von Schönhagen mußte alle sechs Wochen in Neuhaus predigen, und die dortige Gestüts- verwaltung war verpflichtet, ihm ein Reitpferd zu stellen. Da der Pastor aber gewöhnlich nicht reiten konnte, so wurde ihm ein Wagen heruntergeschickt. Bedenkt man dabei, in welchem zustande sich damals die Wege im Solling befanden, die überhaupt keine Wege waren (Schmiedemeister Utermöhle sah einmal fünf Heuwagen hintereinander umkippen), so kann man sich vorstellen, welche Tortur mit diesem Pfarrdienst verbunden war. Lebhaft erzählen noch die Schönhägener vom Pastor Schleicher, der ein tüchtiger Prediger, aber auch ein leidenschaftlicher Jäger gewesen sei. „Er war ein Lebemann“, aber in der Kirche war er Pastor und duldete keine Schläfer und Unaufmerksamen Zuhörer. So kam es vor, daß er sich in der Predigt plötzlich unterbrach: „Weckt mir mal den Schläfer da auf! Denkt er, ich predige den Bänken?“ Und als einmal, während er die Epistel las, der alte T. dem alten O. aus Cam- merborn fortwährend etwas zu erzählen hatte, obgleich O. von ihm abwich, weil er den Pastor schon unruhig werden sah, geschah dieses: der Pastor klappte die Bibel zu, ging auf T. zu und schlug ihn auf den Kopf, faßte ihn ins Genick und warf ihn zur Kirche hinaus. Es wäre so geschwind gegangen, daß die Rockschöße und Beine und Arme durcheinander sausten wie Buttervögelflügel.

Schleicher war ein hervorragender Imker und Jäger. Manchmal pflegte er den Dienstgang nach Neu- haus zu Fuß zu machen, um gleichzeitig die Jagd auszuüben, und so hatte er sich eines Sonntagmor- gens auch in seinem Jagdeifer verspätet. Auf den Ossenstellen über Neuhaus hörte er plötzlich die Glocke läuten und merkte nun zu seinem Schrecken, daß es bereits das Glockengeläut zu dem Gottes- dienste war. Da saust er los, mitten durch die „Schluchtern“ und kommt gerade in der Kirche an, als die Gemeinde beim zehnten Verse des Gesangs ist. Der Kantor hatte schon fürsorglich einen sehr lan- gen Gesang ausgewählt, um dem Pastor noch Zeit zu lassen, der ja wegen des schlechten Weges nicht immer so pünktlich sein konnte. Der Geistliche, so erzählt man, stellte das Gewehr an den Altar, warf sich den Chorrock über und predigte, daß den Leuten Herz und Nieren zitterten.

In Neuhaus wurde er abwechselnd beköstigt beim Kantor und beim Gestütsverwalter. Diese beiden aber standen sich nicht gut, und als einmal der Gestütsverwalter den Lehrer bei dem Geistlichen schlecht zu machen suchte, hauptsächlich wegen seiner Amtstätigkeit, sagte der: „Von dem Menschen können Sie reden, aber den Beamten kenne ich besser als Sie“ – und ließ aus ihn nichts kommen. Ja, der Pastor stand aus, ging zum Lehrer und aß bei ihm zu Mittag. Aus Ärger darüber schickte der Ge- stütsverwalter dem Geistlichen zum nächsten Gottesdienste ein lahmes und sehr abgemagertes Pferd (Pastor Schleicher, ein Bauernsohn, ritt immer). Der Pastor sagte zu dem Reitknecht: „Führen Sie das Pferd wieder heim, ich gehe zu Fuß“ – schrieb dann nach Hannover und meldete den Vorgang dem Königlichen Hofe. Sogleich wurde aus dem Reitstalle des Königs ein fein zugerittenes Damenpferd, vermutlich eins, das die Königin selbst geritten hatte, mit einem weißen Hinterfuße, gesandt und der Gestütsverwalter beauftragt, es nur unter seiner persönlichen Aufsicht führen zu lassen. Er selbst (?) also mußte das Pferd dem Pastor vorführen, Zügel und Reitbügel halten und das immer zweimal, her und wieder hin ....

Das sieht schon ganz wie eine Sage aus, und es ist wohl auch nicht daran zu zweifeln, daß der Schön- häger Phantasie davon ein gut Teil zugesprochen werden muß.

* * * Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 139

Eine besondere Eigentümlichkeit des Sollings bilden die aus Festungstürmen entstandenen Kirchen in Fürstenhagen, Offensen, Verliehausen, Gierswalde und Bollensen. Es ist eine ganz außerordentlich interessante Frage, wie man sich die Entstehung und Bedeutung dieser Türme, die teilweise durch Anbauten zu Kirchen erweitert sind, zu denken hat. Superintendent D. Hardeland in Uslar ist, wie er mir freundlicherweise mitteilte, zu folgender Ansicht gekommen, zu der er sich leiten ließ durch die Tatsache, daß es in den sächsischen Dörfern Siebenbürgens, wie auch im Frankenlande noch heute ähnliche Anlagen gibt. In der Zeit, als die öffentliche Sicherheit noch recht wenig gesichert war – man denke z. B. an die Regierungszeit Ottos des Quaden –, haben sich die einzelnen Dorfschaften auf Ver- teidigung gegen alle möglichen Überfälle einrichten müssen. Dazu kann nun freilich der einzelne Turm nicht ausreichend gewesen sein; er ist daher zu denken als Mittelpunkt einer größeren Erdum- wallung, in die bei erfolgendem Angriff das Vieh und die bewegliche Habe gebracht wurde. Daß die Türme ursprünglich nicht für Kirchenzwecke errichtet waren, ergibt die Besichtigung im Innern mit größter Wahrscheinlichkeit.

Nicht unbeträchtliche Kunstwerte besitzen die Kirch en in Uslar und Offensen. Die erstere hat wert- volle, neuerdings renovierte Glasgemälde aus dem 15. Jahrhundert und einen holzgeschnitzten Altar- aufsatz (Triptychon). Am Altaraufsatz in Offensen sind die vor kurzem erneuerten Gemälde aus alter Zeit, die die Flügel des Altaraufsatzes schmücken, eine bisher kaum sonderlich beachtete, doch jeden Kenner erfreuende Sehenswürdigkeit. Dies um so mehr, als die Kapellen und Kirchen des Sollings sonst durchweg im Innern recht nüchtern und leer aussehen.

* * *

Recht eigenartig hat man in dem weserseitigen Dorfe Lüchtringen das Pfingstfest früher gefeiert: Am ersten Pfingsttage eilte dort zur Kirche, wer irgend abkommen konnte, denn es gab da ein sehr eigen- artiges kirchliches Schauspiel. Von der Orgel aus wurden zur Veranschaulichung des biblischen Pfingsttextes Funken unter die Leute geworfen. Damit sollte die Ausgießung des heiligen Geistes ver- sinnbildlicht werden, der zur Zeit der Pfingsten einst in Feuerflämmchen über die Jünger des Herrn kam. Wie erzählt wird, sollen durch diesen Brauch hin und wieder kleine Brandschäden entstanden sein, weshalb er dann abgeschafft wurde.

* * *

Witzlustig wie der Sollinger ist, verliert er auch in der Kirche den Humor nicht. Von den vielen „Stip- störeken“1), die man sich im Sollinge erzählt, seien nur diese beiden aufgefrischt: Der Pastor, Sohn eines reichen Bauern, predigt über den Text: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“ und wiederholt den Text unzählige Male. Da stößt Hanorg an der obern Beke seine Frau an, steht auf und sagt: „Kumm, Fröue, eck kann dat Geprahle nich leggen!“ – Ein andrer Pastor predigt gerade über den guten Hirten, als der „lange Karl“, der Gemeindeschäfer, mit seinem Hunde in der Kirche ist. Da er nun immer wiederholt: „ein guter Hirte verläßt seine Schafe nicht“, wird der Lange unruhig und sagt zu seinem Hunde: „Wasser, kumm, de Pasteor stichelt’!“

1) Soviel wie Histörchen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 140

Sonstige Bräuche, Charakterzüge und Gestalten.

Hiusbörige. Ich will mit einem Richtefeste („Hiusbörige“, „Richtige“, „Richtebier“) beginnen, wie es im Jahre 1877 in dem großen Dorfe Schoningen bei Uslar stattfand, also zu einer Zeit, da die althergebrachten Sitten und Gebräuche im Sollinge noch in voller Blüte standen. Mitteilungen aus Dinkelhausen, Eschershausen, Sohlingen, Schönhagen, Neuhaus, Fredelsloh und Lauenberg werden die Schilderung ergänzen.

Der Ackermann Welhausen hatte nach langem Überlegen endlich den Beschluß gefaßt, ein neues Wohnhaus zu bauen, und wenn die Schoninger bauen wollten, gingen sie entweder zum Zimmermei- ster in Uslar oder zu dem in Fernawahlshausen, dem nahen hessischen Dorfe über der Weser. Welhau- sen ging zum Zimmermeister in Uslar und ließ sich von ihm den Anschlag machen: So und soviel Kubikmeter Eichenholz, reichlich bemessen, und für das Dachbalkenwerk so und soviel Tannenholz. Welhausen hätte natürlich auch für das Dach lieber Eichenholz genommen, wie es die Väter bekom- men hatten; aber seit einigen Jahren hatte die Forst Fangefangen, mit dem Eichenholze am Dachbal- kenwerke sparsamer umzugehen.

Es war für die Bauern immer noch die schöne Zeit, da sie nur zum Fiskus zu sagen brauchten, sie müßten neu bauen, um das erforderliche Bauholz alsbald angewiesen zu bekommen. Und es kostete nichts als den Hauelohn; denn darin war freilich seit einiger Zeit auch eine Wandlung eingetreten: Während früher die Bauern das Bauholz selbst schlagen konnten, ließ die Forstverwaltung die be- stimmten Bäume jetzt durch ihre Holzhauer fällen.

Welhausen ging also mit seinem Anschlage ins Forsthaus zu Uslar, und es wies ihm die Stelle an, wo er das Holz holen sollte. Als es so weit war, daß das Abfahren aus dem Walde beginnen konnte, ver- ständigte der Bauherr die benachbarten und befreundeten Bauern, sagte noch zu dem einen oder an- dern: „Döu föhrst äauk woll mee!“ und verabredete mit ihnen den Tag der Abfahrt. Da das Holz mit- unter sehr weit herzuholen war, z. B. einmal gar von Fohlenplacken und vom Moosberge, also von der entgegengesetzten nördlichen Seite des Sollings weg, so mußte natürlich schon in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen werden.

Gewöhnlich tat sich eine Kolonne von fünf bis zehn Wagen zusammen, und altem Herkommen gemäß fuhren alle umsonst, nur für die Beköstigung hatte der Bauherr zu sorgen. Ein Holster voll Würste und eine große, bauchige Kruke mit „Sluck“ durfte darum nicht fehlen. Man war noch nicht weit gefahren, als schon die Kruke einmal zu kreisen begann, denn man mußte doch in Stimmung kommen. Die gute Stimmung war denn auch bald da und hielt für den ganzen Tag an, so daß er wie ein Festtag war.

Auch die Unbespannten leisteten gern ihren Beitrag zu dem Neubau. „Na, döu helpest doch mal’t Fundamente mee iutgraben“, hatte Welhausen schon unter der Hand zu diesem und dem gesagt, und alle erklärten sich bereit und leisteten gern, was sie leisten konnten. Insbesondere war das Ausgraben des Kellers ihre Sache.

Konnte der Tag der Hiusbörige endlich festgesetzt werden, so ließ sich der Bauherr vom Dachdecker ausrechnen, wieviel Fuder Dachsteine nötig wären. Diese wurden nämlich erst am Richttage von den Bauern gemeinschaftlich herangefahren, in der Regel mit zwei Pferden, selten mit vieren. Daß sie bei dem lustigen Fahren nicht zu schwer luden, machte ja bei der großen Anzahl von Wagen nichts aus. Es wurde so früh gefahren, daß man etwa mittags ein Uhr am Bauplatze sein konnte. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 141

Von diesen Dachsteinfahrten hört man die Alten, wenn die Rede darauf kommt, immer noch mit gro- ßer Lebhaftigkeit erzählen. So fuhren einmal nicht weniger als 28 Wagen zusammen vom Speerberge jenseits des Jagdhauses. Mitten in der Nacht war man weggefahren. Auf der Rückfahrt wurde in Eschershausen bei Johannings Wirtschaft an der Meinte zum letzten Male gehalten und noch einmal herum getrunken, auch ein letzter Imbiß gereicht.

Nun aber trat der Ehrgeiz der Fuhrleute in Kraft, denn jeder wollte mit seinem Fuder der Erste am Richtplatze sein. Erhielt doch der zuerst Ankommende ein seidenes Halstuch, während der Letzte tüchtig ausgelacht wurde. Einzelne, die solange hinten gewesen waren, brachen jetzt plötzlich aus dem Hinterhalt hervor und versuchten vorzujagen. Die Vorderen wollten sie natürlich nicht vorkommen lassen, und so rasten die Wagen mit ihren allerdings nicht übergroßen Lasten auf der Landstraße ne- beneinander und aneinander vorbei, doch immer so geschickt, daß man nicht auf- und ineinander fuhr. Es war zu verwundern, wie selten einmal ein Unglück geschah. Manche Dachsteine freilich flogen von den Wagen und blieben zerschmettert auf den Straßen liegen. Bei einem solchen Wettfahren in Neu- haus fuhr einer, weil ihn die anderen nicht vorbeilassen wollten, mit seinem Fuder den steilen Berg hinauf und wurde dadurch richtig der Erste.

Auf dem Bauplatze angekommen, erhielt jeder Fuhrmann einen halben Kuchen, den er mit nach Hause nahm. In Dinkelhausen gab’s einen ganzen, der inzwischen schon in das Haus des Fuhrmannes ge- bracht war.

Der Bauherr wurde an dem Richttage kaum anders als mit der großen Branntweinskruke gesehen. In Sohlingen ging es folgendermaßen zu: Morgens Frühstück mit „Sluck“, aus den Mann einen halben Oord oder „Össel“, wie man in Sohlingen sagt. Das ist ein Achtelliter; es floß aber immer noch etwas über. Um 11 Uhr gab es den „Ölfiuhrsluck“, nämlich auf den Mann einen „Großen“, also einen Gro- schenschnaps. Mittagessen gab es nicht, dafür um 3 Uhr wieder Vespersluck, den üblichen halben Oord auf den Kopf. Dann folgte der „Feuifiuhrsluck“, nämlich wieder ein „Großer“. Bei der eigentli- chen „Richtige“ wurde der Branntwein nicht oordweise, sondern kannenweise getrunken. Die Kanne ging immer herum. Der alte Schmied Küster, ein eigenartiger Witzbold, machte dies nicht mit, son- dern hielt mit dem Feuerwasser zurück, wie er auch nicht für Fleisch zum Festmahle genügend gesorgt hatte. Er sagte immer: Erst solle das Haus hoch sein. Als es dann hoch war, steckte er gleich ein gan- zes Faß Branntwein an, aber eins mit so hochgradigem Spiritus, daß nach kurzem Trinken die ganze Gesellschaft „dicke“ war. Küster hatte richtig gerechnet: Als das Festmahl beginnen sollte, lagen alle und schliefen. – Wenigstens wird in den Nachbardörfern so erzählt.

Die letzten Vorgänge beim Aufrichten des Hauses gestalteten sich in den verschiedenen Orten in mehr oder weniger eigenartiger Weise. So hörte ich in Fredelsloh, daß dort und in Lauenberg von den Bau- ern ein Dachsparren irgendwo versteckt wurde und die Zimmerleute deshalb nicht fertig werden konn- ten. Sie wurden dann viel gefoppt: Den hätten sie wohl vergessen. Es konnte vorkommen, daß stun- denlang im Dorfe nach dem verschwundenen Sparren gesucht werden mußte, ehe die eigentliche Rich- tige vonstatten gehen konnte. Gewöhnlich fand man den Sparren schließlich auf einem entlegenen Bauernhofe, dessen Besitzer nun auf den Sparren gesetzt und durch das ganze Dorf nach dem Bauplät- ze transportiert wurde.

Wie mir alte Leute in Eschershausen erzählten, hat man in „ganz früher“ Zeit, z. B. bei dem 1640 er- bauten und noch heute stehenden Heinr. Niedermeyerschen Bauernhause daselbst, den Giebel aus dem Hause liegend zusammengefügt und dann in eins zusammen ausgerichtet. Dabei wurde Sturm geläutet, um Hilfe herbeizuholen.

War der letzte Sparren ausgerichtet, was bei einer ordentlichen „Hiusbörige“ immer mit Musik ge- schah, so eilte man nach Hause, um sich festlich anzuziehen und die Kranzjungfern mit Kranz oder Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 142

Krone abzuholen. Meistens wurde (und wird auch heute noch) statt einer eigens geflochtenen Krone ein Tannenbaum benutzt, der mit bunten Bändern und Blumen geschmückt ist und an dem auch ein Tuch für den Zimmermeister hängt. Die Kranzjungfern in weißen Kleidern und mit Kränzen im Haar gingen mit der Krone an der Spitze des Festzuges. Ihnen schloß sich die „Musik“ an. (Bei einfacheren Richtefesten begnügte man sich mit einem Handharmonikaspieler.) Wohlgeordnet folgte der Bauherr mit dem Meister und seinen Gesellen, darauf die Nachbarn und sonstigen Festteilnehmer. Die Kranz- jungfern, sowie Meister und Gesellen und junge Burschen stiegen bis oben in das gerichtete Haus. Der Baum wurde von einem Zimmergesellen auf dem Dachgiebel befestigt, worauf sich alles feierlich aufstellte, um Gott die Ehre zu geben. Man sang den Choral „Bis hierher1) hat mich Gott gebracht ...“, der ergreifend über das ganze Dorf klang. Dann hielt der Zimmermeister oder auch der Altgeselle die „Predigt“, vielfach in Reimen, aber auch, wenn die Gabe dazu ausreichte, in der Form einer freien Rede, in der die Verhältnisse des Bauherrn geschildert und Glück und Segen zu dem Neubau ge- wünscht wurde. Am Schluß der Rede fragte der Baumeister den Bauherrn (um sich vor übler Nachrede zu schützen): „Wie gefällt dir dieser Bau?“ Antwortete der Bauherr, wie es die Regel war: „Gut!“, so fuhr der Meister fort: „Gefällt der Bau dem Bauherrn gut, gefällt er Meister und Gesellen auch gut.“ (Es konnte dann nachher niemand mehr den Bau tadeln.) Zuletzt wurde ein kräftiges Lebehoch ausge- bracht auf den Bauherrn und seine Familie, auf die Kranzjungfern, die Bauhandwerker, die Ortsbehör- de, sowie auf alle, die irgendwelche Hilfe beim Bau geleistet hatten. Sodann reichte der Bauherr dem Meister ein Glas Wein mit dem üblichen Trinkgeld darin. Nachdem der Meister es leergetrunken hatte, übergab er den Gesellen das Trinkgeld und warf das Glas rückwärts über den Kopf. Zerbrach es in dem Gebälk, so bedeutete das Glück. Mit dem Choral „Nun danket alle Gott ...“ schloß der feierliche Akt.

Aus Dinkelhausen ist noch zu erwähnen, daß dort die Mägde immer etwas später zum Feste kamen als die Töchter der Bauern. Sie wurden von dem Knechte eingeladen, dessen Herr bei dem festlichen Dachplattenfahren das Tuch gewonnen hatte.

Nach den Aufzeichnungen von Pastor Harland über eine „Hausrichtung“ in Schönhagen soll früher das Richtefest sogar mit einem Gottesdienste in der Kirche begonnen haben. Einige weitere Besonder- heiten, die es in Schönhagen gab, seien aus Harlands Bericht noch hervorgehoben: Die alten Leute, die sonst nichts Rechtes mehr tun konnten, aber doch auch dabei sein sollten, sagten Eichenholz und machten im Schatten eines Baumes „hölzerne Nägel“, – so lautete der Kunstausdruck des Zimmer- manns. „Wer Pflöcke sagt, ärgert den Zimmermann und kriegt Schläge.“ Ein lustiger Gesang verkün- dete die Vollendung der Hausrichtung. Nach Anlegung der Sonntagskleider und Abholung der Kranz- jungfern und Krone mit Musik wieder vor dem neuen Hause angekommen, spielte und sang man: „Heil dir im Siegerkranz ...“ Dabei schwenkten zwei Mädchen die Krone und sechs andere ie einen Birkenbusch, an denen die den Zimmergesellen zugedachten Tücher flatterten und das von der Haus- frau für den Zimmermeister gestiftete Hemd hing. Darauf Marsch durchs ganze Dorf, voran die fest- lich geschmückten Schulkinder mit Kränzen auf dem Kopfe. Dreimal umzog man das neue Gebäude, worauf von einigen flinken Burschen der Kranz auf dem Giebel befestigt und von dem ersten Gesellen die sogenannte Predigt gehalten wurde. Vom Bauernstande als einem zwar mühsamen, aber ehrenwer- ten und gesegneten Stande war die Rede, den kein Geringerer als Kaiser Josef einst dadurch ehrte, daß er eigenhändig pflügte. Der Pflug sei noch vorhanden. –

Bereitwillig haben die Nachbarn des Bauherrn ihre Räume zur Verfügung gestellt, in vier Häusern sind große Tafeln hergerichtet, in der besten Stube für den Bauherrn, den Maurer- und Zimmermeister, die Honoratioren des Dorfes, wie Pastor, Lehrer und Förster, sowie die nächsten Verwandten. Jeder

1) Im Original-Buchtext steht an dieser Stelle „hieher“. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 143

Eingeladene hatte nach alter Gepflogenheit Messer und Gabel mitzubringen; nur die Kranzjungfern fanden beides an der Festtafel vor. Das Festmahl bestand gewöhnlich aus Suppe, Rindfleisch, „Bö- uernschinken“ (Vorderschinken vom Schwein), gekocht in Sauerkohl, nicht zu vergessen den Reisbrei, noch früher Hirsebrei.

Daß ein solches Festessen, an dem sich fast das ganze Dorf beteiligte, keine geringe Sache war, läßt sich denken. Ein größeres Stück Vieh war geschlachtet, eine Kuh, ein Schwein, und je nachdem mußte auch noch allerlei Kleinvieh daran glauben. Zwei Tage vorher schon war Kuchenbacken, wozu aus allen beteiligten Häusern Milch, Butter, Sahne und Eier in schwerer Menge geliefert wurden. In Soh- lingen schickten die Frauen des Dorfes auch geschälte Kartoffeln in die Küche des Festhauses. Selbst die kleinen Leute standen bei diesen Lieferungen nicht zurück.

Wie mir Bauermeister Niedermeyer in Eschershausen sagte, wurden dort in seiner Jugendzeit zu einer „Hiusbörige“ geschlachtet und verzehrt: Ein Rind und ein Kalb, ein Schwein und verschiedenes Ge- flügel. Dazu an 80 bis 100 Kuchen, die aber dem Bauherrn nicht so teuer zu stehen kamen, steuerten doch sämtliche geladene Familien, wie schon erwähnt, Milch, Butter, Eier und Sahne unentgeltlich bei. Nach dem Festmahl begann der Tanz, gewöhnlich auf einer Scheunendiele, oft aber auch auf dem Krugsaale. Den ersten Tanz hatte der Bauherr mit sämtlichen Kranzjungfern der Reihe nach zu tanzen. Pastor Harland sah noch folgende Ehrentänze: Der Zimmermeister mit seinem flatternden Strauße auf der Brust tanzte mit der Bauherrnfrau oder deren Tochter; der Maurermeister mit dem Kronenmäd- chen, der Hausherr mit der Zimmermannsfrau. Waren diese Ehrentänze getan, so begann auf ein vom Meister gegebenes Zeichen der Tanz der Gesellen.

Gegen Abend gab’s Kaffee und Kuchen, und um zehn Uhr wurde wieder warm gegessen. Erst gegen Morgen war das Fest aus. Die reichen Überreste wurden, wie Harland berichtet, von den im Festhause beschäftigten Frauen gewöhnlich in die Häuser des Dorfes getragen, so daß auch auf die Alten und Kranken noch ein Strahl der Richtfestfreude fiel.

Hausinschriften. Die schöne alte Sitte, dem Hause eine Inschrift zu geben, aus der ein frommer und sinniger Gedanke zu dem Vorübergehenden spricht, ist im Sollinge noch allgemein, im inneren und westlichen Gebiete allerdings mehr als im östlichen; auf der Weper z. B. fand ich sie gar nicht. Die Sitte haftet eben mehr am niedersächsischen Hauscharakter als am mittels deutschen. Aber auch das niedersächsische Haus muß schon ein gewisses Alter haben, wenn es noch durch Inschrift zu uns reden soll; bei Neubauten ist die Inschrift leider mehr und mehr in Vergessenheit geraten, allenfalls daß man noch den Namen des Besitzers liest. Warum aber soll so ein sinniger, kräftiger Spruch, zumal wenn nachdenkliche Leute im Dorfe selbst ihn erdacht haben, nicht auch einem neuen Hause gut anstehen? Möchte die gute Sitte immerdar lebendig bleiben, oder doch wieder lebendig werden!

Immerhin sind es noch zahlreiche und auch durchweg kernhafte Sprüche, die ich, manchmal in mehr, manchmal in weniger gelungener Form, in dem starken Eichenbalken über den Eingängen der Bau- ernhäuser, dem „Dörholm“, las, oder die mir von Freundesseite übermittelt wurden.

Eine vollständige Sammlung der Hausinschriften im Sollinge zu geben, verbietet sich des beschränk- ten Raumes wegen, erscheint mir aber auch deshalb nicht durchaus erforderlich, weil die Sprüche im großen und ganzen den Hausinschriften ähneln und gleichen, die man in Sammlungen aus andern Landschaften schon findet. Somit möge hier eine kleine Auswahl genügen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 144

Schönhagen:

Als man zählte 1608 Peter Holand mich hat gemacht; Georg Pohlmann ist mein Nam’, Den ich von Gott dem Herrn bekam.

Durch Blitzschlag brannt’ es nieder – Gott aber gab es wieder. Hier wechselt Freud’ und Leid, Dort aber ist Beständigkeit. 1886.

Dies Haus ist mein und doch nicht mein; der nach mir kömmt, bleibt auch nicht drein; im Himmel soll meine Wohnung sein. Erbaut von Karl Steingräber und dessen Ehefrau Johanna Steingräber geb. Kla- ges, den 28. Mai 1884.

Es ist ein höflich Ding, geduldig sein und aus die Hülse des Herrn hoffen – Nehmet ein Büschel Yso- pen und tunket in das Blut und berühret damit die Überschwelle und die zwei Pfosten. Wenn der Herr das Blut sehen wird, wird er für der Tür übergehen und den Verderber nicht in eure Häuser kommen lassen. Johann Ernst Piper Hans Jürgen Rekel. Anno 1729.

(Anmerkung: Der letzte Teil dieser Hausinschrift gibt in abgekürzter Form die Verse 22 und 23 aus 2. Mose 12 wieder.)

Sievershausen:

Inschriften hier auffallend wenig.

Ich baue nicht aus Lust und Pracht, die Not hat mich dazu gebracht. Karl Schrader. Amalie Schwerdt- feger. Anno 1838, H. E. U. D. S.

An dem Hause des Schneiders August Bojahn steht die Inschrift:

Vor Gottes Segen und großer Kunst ist vergeblich, was ich tue.

An dem Hause der Frau Eckhardt steht folgende Hieroglyphen ähnliche Inschrift:

S H P M I C H I N G; ------J V A M S C H E E E R Anno 1778.

An dem Hause des Mühlenbesitzers Wedekind:

B H H H M G G B A G T S G I A L G G E K A B T D S L T E R Anno 1788.

Silberborn:

Mißgunst der Menschen kann mir nicht schaden, Was Gott haben will, das muß geraten. Anno 1771. Joh. Justus Gundelach. Christine-Lowise Sturm.

Delliehausen:

Gott beschütze dieses Haus Vor Sturm, Brand, Hagel, Wetter Der früh von meiner Jugend auf mein Helfer und mein Retter. Drum will ich ihm den Bau ergeben, ich mag sterben oder leben. Wilh. Brüll. 1883. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 145

Hier will ich ein ganz klein wenig wohnen, bis mir Gott schenkt die Himmelskronen. Der göttliche Segen erfülle dies Haus und die da gehn ein und aus. Heinr. Kohrs.

Wahmbeck:

Die Flammen rissen mich nieder Durch Menschenhülf und Gottes Macht steh ich hier prachtvoll wie- der. Anno 1892.

Allen, die vorübergehn und die mich kennen Und meinen Namen nennen, Denen gebe Gott, was sie mir gönnen.

Dem Hause Frieden, dem Gaste Freude, den Scheidenden ein frohes Wiedersehn. Ein Grüßgott denen, die vorübergehn.

Ich kam mal in ein fremdes Land Da stand geschrieben an der Wand: Seid fromm und zufrieden Was nicht deine gehört, das laß liegen.

Gott bewahre dießes Haus Und beglücke die Bewohner. Anno 1801.

Die mir nichts gönnen und auch nichts geben, Müssen doch leiden, daß ich lebe. 4. Juni Anno 1736.

Lauenberg:

Am Hause des früheren Bauermeisters Sieburg: Anno domini, 19. April. 1661. Hans Tebach. Ilsabel Neura.

Diese Namen kommen heute in Lauenberg nicht mehr vor, aber Feldorte werden noch danach benannt. So gibt’s dort „Tebachs Fleck“ und „Neuras Holz“. Dies alte Haus wurde nie verkauft, ist immer in derselben Familie geblieben, nur daß es zweimal an die weibliche Linie überging.

Ich baue nicht aus Lust und Pracht, Die Not hat mich dazu gebracht. Schau her, du Bösewicht auf die- sen Platz, was du vernichtet hast den 1. Dezember 1880. Gott wird dich vor Gericht führen. Friedrich Gremmel und Karoline Gremmel, geb. Lüchte.

Eschershausen:

Über dem Scheunentor des Hauses von Bauermeister Ebeling steht, eingeschrieben in den „Dörholm“:

Hier samlet man die Nahrung ein, Die Gott der Herre thut verleihn. Allein durch Gottes Weisheits- Macht Dazu erbauet mit Bedacht Von Christian Jörn und Justiene Friederieke Geborne Fuhrmann.

Am Torständer rechts, über dem Holm, liest man:

„Bete und Arbeite. 1813.“

Am Ständer links in gleicher Höhe:

„Ch. Bast. Z.-M.“

Drollig klingt die Inschrift über dem Schafstall, der sich gleich neben der Scheune befindet:

„Gott segne diesen Stall Mit vielen guten Schaaffen Und Lämmern überall, Das Futter wächst in Schlafen. Ein guter Schäfer läßt sein Leben vor die Schaaffe.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 146

Die Volkstracht. Professor Dr. Naumann verficht in seinem schon genannten Buche „Grundzüge der deutschen Volks- kunde“ die Ansicht, alle Erscheinungen des primitiven Volkstums, also auch die Volkstracht, seien als gesunkenes Volksgut anzusehen. Volksgut würde nämlich nur in der Oberschicht gemacht. Das „Volk“ selbst produziere nicht, sondern reproduziere nur. „Die sogenannten Volkstrachten“, heißt es dann, „sind nicht etwa im Volke entstanden, stellen keineswegs den schaffenden Geist des Volkstums dar, wie die romantische Volkskunde so gern es glaubte, sind also nicht primitives Gemeinschaftsgut, sondern gesunkene Kulturgüter aus höheren Schichten, sind die aufs Land gewanderten und hier scheinbar erstarrten Modekleidungen der Edelleute und Bürger vom 16. bis zum Anfang des 19. Jahr- hunderts.“

Daß diese Ansicht nicht uneingeschränkt richtig ist, dürfte sich, wie aus vielem anderen, so auch aus den nachfolgenden Ausführungen ganz von selbst ergeben. Richtig bis zu einem gewissen Grade ist sie ohne Zweifel, soweit die alten, namentlich festtägigen Volkstrachten in Frage kommen. Eine alte Volkstracht aber, wie sie z. B. im Bückeburgischen oder in der Schwalm und anderen Trachteninseln noch zu sehen ist, gibt es im Sollinge nicht mehr. Im Gegensatz zu der sonstigen Dauerhaftigkeit von Sitte und Brauch ist sie im Solling, wie überhaupt im südlichen Hannover, schon von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an rasch zurückgegangen. Um das Ende des Jahrhunderts fanden sich noch ver- einzelte alte Leute, hauptsächlich Frauen, die ihre alte Tracht ganz oder teilweise festgehalten hatten; heute findet man nur vereinzelte Stücke von Frauenhauben und dergleichen in den Truhen oder Ecken der Böden.

Dr·. Peßler hat in seinem „Niedersächsischen Trachtenbuche“ (Hannover 1922) den Solling überhaupt nicht erwähnt; es bleibt aber auch hier über Vergangenes und Gegenwärtiges einiges zu sagen. Ich halte mich dabei der größeren Bestimmtheit wegen an zwei Sollingsdörfer, in denen das volkstümliche Wesen sich mit am kräftigsten ausgeprägt und ausgewirkt hat: Schönhagen im innern und Lauenberg im nördlichen Sollinge1).

Die Festtagskleidung oder, wie man in Schönhagen sagt, das „Ehrenkleid“, war keineswegs etwas einheitlich Erstarrtes, sondern durchweg sehr mannigfaltig. Die Männer trugen blaue Tuch- oder

1) Auf das „Gewesene“ in anderen Orten noch einzugehen, verbot sich aus räumlichen Gründen. Höchst erfreu- lich und ergötzlich waren namentlich die Ergebnisse in Lauenförde auf der Weserseite. Hauptlehrer Könecke daselbst hatte, hilfsbereit wie immer, meine bezüglichen Fragen an die Mädchen der oberen Schulklasse weiter gegeben, und sie machten sich in hellem Eifer daran, ihre Eltern und Großeltern nach den alten Trachten auszu- fragen, sowie Truhen und Kammerecken nach ihren etwaigen Resten zu durchforschen. Über das Ergebnis be- richteten mir die Mädchen in einer Reihe reizender Briefe. Sie hatten noch so viele einzelne Stücke gefunden, daß sie mit Hilfe ihres Lehrers und der ältesten Leute mehrere vollständige Trachten wieder erstehen lassen konnten. Vier Mädchen und zwei Knaben konnten vollständig nach alter Weise bekleidet werden, und Herr Könecke stellte mit Hilfe seines photographischen Apparates ein hübsches Bild her. Eine allen Freude machende heimatkundliche Lektion, deren Nachahmung an anderen Orten ich empfehlen möchte. Vielleicht daß damit zugleich der Anfang zu einem kleinen Dorfmuseum gemacht werden könnte. Inzwischen hat Freund Könecke die Nachforschungen eifrig fortgesetzt und noch eingehendere Aufzeichnungen gemacht, auch eine Anzahl hüb- scher Bilder dazu gezeichnet und damit ein gut Stück Volkskunde des Sollingsgebietes gesichert.

Meine Trachtenskizze, bei der mich die Freunde Jünemann und Traupe wacker unterstützten, wird durch die Köneckesche Studie in wesentlichen Stücken ergänzt und deutlicher gemacht; um so mehr bedaure ich den Zwang der Umstände, der es mir an dieser Stelle verbot, auf das mir in freigebigster Weise zur Verfügung ge- stellte reiche Material einzugehen. Möge es denn einstweilen in dem angeregten Lauenförder Ortsmuseum sorg- lich verwahrt bleiben. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 147 schwarze Sammethosen. In den älteren Zeiten reichten sie nur bis an die Knie. Um so mehr Gewicht wurde auf die Strümpfe gelegt, die mit Zwickeln in den verschiedensten Farben geziert und, da man nur niedrige Schuhe trug, ausgiebig sichtbar waren. Im Winter wurden hohe Gamaschen über die Strümpfe gezogen. Die Weste war kurz gehalten und mit blanken Metallknöpfen besetzt. Wer sichs leisten konnte, trug eine seidene Weste, durchgängig in schwarzem oder blauem Grundton, von wei- ßen Streifen unterbrochen. Der „allmächtige“ Tuchrock erhielt sein besonderes Gepräge durch den kurzen „Kniep“ und den gewaltig langen Schoß, der fast bis auf die Schuhe reichte. Den Höhepunkt im doppelten Sinne des Wortes bildete der langhaarige Filzzylinder.

Das Ehrenkleid der Frauen bestand aus schwarzem Tuch oder schwarzer Seide. Der weißen baum- wollnen Strümpfe wegen trugen die Frauen ebenfalls nur niedrige Schuhe, die mit Gimpe oder Kokar- de besetzt waren. Sogar Einstopfetücher gab es, bunte seidene oder weiße aus Leinen, und damit sie hübsch hervorstachen, paßte sich ihnen das Kleid mit einem tiefen Ausschnitt an. Die Kopfbedeckung war schon in früheren Zeiten der Mode stark unterworfen. Charakteristisch war namentlich die „Strichmütze“ (in der die Großmutter des heutigen Kirchenvorstehers Bickmeier, „Bickmeiers Lotte- wase“, noch bis Ende des vorigen Jahrhunderts zur Kirche ging). In der Scheitelrichtung stand, nach der Beschreibung der Schönhägener, „ein Draht nach schräg rückwärts“, der mit einem „Strich“ aus weißem Tüll besetzt war. Bei besonderen Feierlichkeiten trugen die Frauen große Umschlagetücher, die bei den jungen Mädchen aus bunter Seide bestanden. Wie noch besonders vermerkt wird, gingen die Mädchen vielfach in Hemdsärmeln zur Kirche. Das ärmellose Leibchen, das die Hemdärmel frei ließ, wurde dann durch das große Umschlagetuch verdeckt, das in Grün, Veilchenblau und anderen lebhaften Farben schillerte. Wie Schmiedskonrad bemerkte, machte das die Evastöchter sehr eitel, so daß manche „vertwäsch“ (sich über die Schulter guckend) zur Kirche gingen und, wenn’s das Unglück wollte, mitten zwischen die Sauherde und ihre Hinterlassenschaften gerieten.

Soviel über die Sonntagstracht in Schönhagen; wie aber war’s und ist’s mit der alltäglichen Beklei- dung? War oder ist sie auch gesunkenes Volksgut? Ganz gewiß nicht, denn sie regelte und richtete sich nach dem Worte: „Selbst gesponnen, selbst gemacht, ist die beste Bauerntracht.“ In jedem Hause wurde an der Herstellung gearbeitet, darum auch auf Flachsbau, Schafzucht, Spinnen und Weben viel Gewicht gelegt. Da Flachs und Wolle für die Herstellung der heimischen Webwaren nicht völlig ge- nügten, so mußte noch reichlich viel Baumwolle hinzugekauft werden.

Wie das Spinnen so wurde auch das Weben vor dem industriellen Aufschwunge Deutschlands fast in allen Häusern von Schönhagen und den Nachbardörfern noch aufs eifrigste gepflegt. Wer den Winter über gerade Zeit hatte, schwang sich auf den Webstuhl, einerlei, ob Mann, ob Frau. Und doch wurde durchweg nur für den eigenen Bedarf gewebt.

Daß in Uslar eine „Legge“ war, also eine Anstalt zum Messen und Prüfen der Leinwand, ist nur noch wenigen Leuten bekannt. Beim häuslichen Weben wird aber auch heute noch das Wort „Leggemal“ für Maßzeichen gebraucht. Nur schlichte Leinwand wurde hergestellt; Drell, eine Art gemustertes dreidrähtiges Leinengewebe, hin und wieder von auswärtigen Webern bezogen. Nicht nur Leibwäsche, auch Oberkleidung machte man aus der selbsterzeugten Leinwand. In leinenen Kleidern gingen die Frauen im Sommer einher, die Männer in Jacken und Hosen aus gebleichter Leinwand. Besonders liebte man Kleidungsstoffe aus „Kümmel und Salz“, d. h. einem Stoffe, bei dem der Einschlag weiß und die Kette blau war.

Der hauptsächlichste Stoff, der auch heute noch in reichem Umfange zur Herstellung der Oberklei- dung dient, war und ist „Beierwand“ (Beiderwand)1), den man geradezu als Symbol echten und an-

1) In der Sprache der Sollinger ist „Beierwand“ männlich. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 148 spruchslosen bäuerlichen Wesens bezeichnen könnte. Ein älterer Einwohner (der alte Lohmann), der auch auf Bestellung webt, hob mit Nachdruck hervor: „Als der große Götte Bauermeister war, ist er im Beiderwandsanzuge zum Oberlandesgericht nach Celle gemacht und ist wiedergekommen.“ Damit wollte er sagen, daß man im Beiderwandsrocke durch die ganze Welt kommen könne.

Je nach Geschmack wird als Kette blaues oder weißes Garn genommen, in den meisten Fällen wohl ist die Kette gezwirnte Baumwolle und der Einschlag mehr oder weniger dunkles Wollgarn.

Soll Beiderwand zu Frauenröcken oder Schürzen verwendet werden, so bringt man gern durch anderes farbiges Garn Abwechslung ins Gewebe. In dieser Hinsicht finden die einfachsten Leute vielfach eine solche geschmackvolle Zusammenstellung, daß die Kleidungsstücke oft schöner aussehen als die ge- kauften Fabrikerzeugnisse.

Die Eintönigkeit der für Männer und Knaben bestimmten Beiderwand wird durch einen Flausüber- wurf, den sie in einer Walkemühle erhält, fürs Auge gefälliger gemacht. (Die Beiderwand wird durch- gewalkt, daher auch die Redensart: einen „durchwalken“.) Eine sehr alte Walkemühle ist in Moringen; neuere sind in Uslar und in Bollensen bei Uslar angelegt.

Es sei noch erwähnt, daß Beiderwands auch zu Sonntagskleidern verarbeitet und zu diesem Zwecke schwarz gefärbt wird.

Noch ist nicht der blaue Kittel erwähnt, ein hemdartiges Männeroberkleid, das aus blaugefärbtem Lei- nen bestand und bis zur Wende des Jahrhunderts sich noch erhalten hatte, auch wohl heute noch da und dort vereinzelt getragen wird. Der ältere blaue Kittel hatte einen so großen runden Ausschnitt, daß man ihn bequem über den Kopf ziehen konnte; die neueren Kittel dagegen erhielten feinen hemdarti- gen Einschnitt und wurden mit Haken zugemacht, so daß sie sich eng an den Hals anschlossen. Da der. Kittel bei der Arbeit leicht hinderlich war, wurde gewöhnlich ein Lederriemen umgeschnallt (der dann auch als häusliches Erziehungsmittel gleich bei der Hand war). Die Hinderlichkeit bei der Arbeit dürf- te wohl die Ursache seines allmählichen und völligen Verschwindens gewesen sein. An seine Stelle trat das graue Beiderwandwams oder die blaue Leinenjoppe.

Wie der Bahnbeamte Heinrich Schomburg in Moringen, ein Großbauernsohn aus Schoningen und einer meiner besten Gewährsmänner, mir sagte, ist er 1862 noch im blauen Kittel nach Göttingen zur Einstellung gegangen. Auch der Hofbesitzer Fritz Nüsse in Lauenberg, jetzt Altenteiler, ist, wie er mit Stolz erzählt, im blauen Kittel annähernd um die gleiche Zeit (10. Sept. 1871) zur Dragonerkaserne nach Lüneburg gefahren, und dort hieß es, als man ihn kommen sah: „Die Sollinger kommen!“

Nach des letzteren Gewährsmannes Erinnerungen sei nun noch folgendes über die Trachteneigentüm- lichkeiten in Lauenberg mitgeteilt:

Der tägliche Arbeitsanzug des Bauern bestand aus blauleinener, in ganz alter Zeit aus weißleinener Hose und blauem Kittel. Der schmutzige Kittel wurde umgedreht, „dann trug er sich wieder rein“. In Nüsses Jugendzeit herrschten blaue Kniehosen und lange Hosen, dazu Gamaschen aus grauem Leinen, die an der Seite zugeknöpft wurden. Gamaschenschneider, deren es im Dorfe mehrere gab, gingen im Winter von Haus zu Haus, um neue herzustellen oder alte zu flicken. Die Gamaschen waren bei langen Hosen kurz, bei den Kniehosen lang, wenn nicht einfach die Strümpfe über die Hosen gezogen wur- den. Die Hemdkragen wurden Sonntags über das Halstuch geklappt, alltags untergebunden. Als Kopf- bedeckung diente eine einfache Schirmkappe, die Sehnsucht der Knaben, die bis zur Konfirmation warten mußten, bis sie ihre erste Mütze erhielten, ebenso wie es dann auch die ersten Schuhe gab.

Zur Hochzeit trug man den schwarzen Lakensrock mit Schößen, die bis über die Knie reichten, dazu hohen Zylinder. Nach Kirchgang und Festmahl wurden die Lakens-Capütter mit zwei Reihen blanker Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 149

Knöpfe angezogen. Die Bräute trugen schwarze Tuchkleider mit weißgestickter Schürze. Schleier gab es nicht. Hatte eine Braut ihre Jungfrauenschaft verloren, so ging sie nicht im Kranze, sondern in der Bändermütze zur Kirche. Das war nun mal so Gesetz der strengen kirchlichen Sitte.

Bei festlichen Ausmärschen wurde der Sonntagsrock getragen; nach den ersten drei Tänzen aber zogen die jungen Leute die Röcke aus und tanzten in Unterjacken. Auch die Mädchen entledigten sich bald ihrer guten Kleider und tanzten in Beiderwandsröcken mit Samtstreifen. Die Jacke (Polkajacke) hatte einen Schoß, der über den Rock fiel. Hüte trugen die Mädchen nicht; dem Schatze aber wurde ein Strauß an die Mütze gespendelt. Die Schaffer (beim Pfingstbier oder Schützenfest) trugen anstatt einer Schärpe ein buntes Tuch auf der Schulter.

Die Hirten (Schäfer, Swän, Rinderhirt) hatten eine besondere Amtstracht: Weißen Schoßrock mit ro- tem Futter, Filzhut mit breitem Rand. Der alte Hansmann in Lauenberg ließ sich von dem Fell eines Schäferhundes eine Pelzmütze machen, von der der Schwanz seitwärts herunterhing. (Siehe auch S. 174 und 181.) Noch sei ein Volksreim wiedergegeben, von dem ich allerdings nicht weiß, ob er tatsächlich ältere Gewohnheiten widerspiegelt oder etwa nur, wie dies und jenes Volkslied, von außen in den Solling verpflanzt wurde:

„’n aulen Duitschen nah rechter Art tuiht iut seiinen Pelz an Himmelfahrt, un ’n Dag nah Johanne trecket he ’ne weer anne.“

Im Hinblick auf die erwähnten reichen Ergebnisse der Nachforschungen in Lauenförde (S. 146) möch- te ich dies Kapitel nicht schließen ohne eine eindringliche Bitte an die Lehrer im Sollinge, die mir großenteils aufs bereitwilligste spüren halfen. Möchten sie doch alle nach dem Beispiel ihres Kollegen Könecke mit Hilfe der ältern Schüler den Überbleibseln der alten Tracht in Schränken, Truhen und Bodenwinkeln angelegentlich nachforschen und auf ihre sorgsame Bewahrung (möglichst in einem kleinen örtlichen Museum) Bedacht nehmen. Die Schülerinnen insbesondere werden, wie das Beispiel in L. zeigt, dem Lehrer, der ihren Heimatsinn geweckt hat, immer gern und begeistert zur Hand gehen.

Brot und Brotknust in der Volkssitte. Nun haben sie an einzelnen Orten seit einigen Jahren auch schon angefangen, statt selbst zu kneten und den Backofen zu heizen, wie es vordem in jedem Dorf Haus bei Haus üblich war, das Brot aus der Stadt mitbringen zu lassen. Zu einem guten Teile ist das wohl mit durch den Milchwagen gekommen, der seit der Begründung der Molkerei alle Morgen nach der Stadt fährt und jeden Tag frisches Brot mitbringen kann. Es gibt also nun gewiß auch in den Dörfern, wo man auf das Selbstbacken verzichtet hat, kein schimmliges Brot mehr: – es gibt aber auch kein so kräftiges, schwarzkrustiges, herrlich duf- tiges „Bauernbrot“ mehr, denn Bäckerbrot ist Bäckerbrot.

Wo indes noch selbst gebacken wird – ich gewann übrigens aus meiner letzten Sollingsfahrt (1922) den Eindruck, daß das Selbstbacken seit dem Kriege doch wieder allgemeiner geworden ist–, da wird die backende Frau vermutlich auch die drei Kreuze noch nicht vergessen haben, die die Mütter und Großmütter über den Brotteig zu machen pflegten, damit die Hexen nicht daran könnten, wie mir eine Frau sagte. Einen bestimmten Grund dafür wußte man meistens nicht anzugeben; es läßt sich indes annehmen, daß die drei Kreuze ebensosehr im Aberglauben, wie im rechten Glauben gemacht wurden.

Ein Pastor, der nur den Aberglauben darin sah, verbot seiner Magd, diese Kreuze zu machen. Als sie nun wieder einmal buk, vergaß sie den Sauerteig, und als sie hernach sah, daß der Teig nicht angehen Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 150 wollte, rief sie den Pastor: „Da sehen Sie ’mal, Herr Pastor, wie es ist, wenn man keine Kreuze macht, nun können wir den Teig wegschmeißen.“

„Mache denn also die Kreuze nur wieder!“ soll der Pastor darauf nachgegeben haben.

Wenn der alte Bauer Nickel in Dinkelhausen ein Brot anschnitt, so machte er immer erst drei Kreuze unter dem Brote und sagte: „In Gottes Namen.“

Das Brot ist das Kostbarste und Ehrwürdigste im Leben, man muß darum auch ehrfürchtig mit ihm umgehen: Wenn ein Brot aus dem Rücken liegt und ein Kind ins Messer fällt, soll man erst das Brot auf die rechte Seite legen, ehe man das Kind rettet.

Eine schöne Sitte war es bei den alten Sollingern, daß sie das erste Brot vom ersten Back nach der Ernte den Armen brachten.

„Eine Bauersfrau in Dinkelhausen, die Steuineweesche, hat aus Dank dafür, daß die Schnecken ihre Saat nicht abgefressen hatten, zu Weihnachten einen ganzen Malter Korn zu Brot für die Armen ver- backen. Als ihr Kind krank und wieder gesund geworden war, tat sie ein gleiches für die Armen. Wenn hernach ein Kind im Dorfe krank wurde und man nach dem Doktor lief, wurde gesagt: „Sollen mant de Dokters weglaten un ’t säau maken as de Steuineweesche!“

Eine ganz besondere Bedeutung hat im alten bäuerlichen Volkstum immer der Brotknust gehabt. Ich entsinne mich dessen von Jugend an. Als ich, kaum 14 Jahre alt, von Hause Abschied nahm, um auf eine ferne Schule zu gehen, hatte mir meine Mutter in meinen Reisepucken auch einen Brotknust zwi- schen Strümpfe und Hemde gelegt. So ist es auch im Solling alter Brauch gewesen, daß man dem Ab- schiednehmenden einen Brotknust so zwischen das Zeug legte, daß er nichts davon wußte und merkte. Dann sollte er vor dem Heimweh bewahrt bleiben.

Mich hat’s freilich dennoch gepackt und stärker mitgenommen, als irgendetwas anderes in der Welt.

Der erste Knust, der von einem ganzen Brote geschnitten wird, ist der „Lachekniust“; der letzte dage- gen, mit dem das Brot zu Ende geht, der „Huilekniust“ (Weineknust), – zwei Bezeichnungen, die deut- lich genug für sich sprechen1). Daß der Brotknust auch als bedeutsamer Bestandteil der althergebrach- ten Hochzeitssitte galt, wurde bereits in dem Hochzeitskapitel erwähnt. (Siehe S. 116.)

Die Vesperzeit im Sollinge. In den Zeiten, als im Solling Schmalhans noch Küchenmeister war, mag es wohl gewesen sein, daß sich für das Vesper (Vieruhrbrot) eine bestimmte Zeitregelung herausbildete. Es wurde nicht das gan- ze Fahr, sondern nur, wenn die sauern Tage waren, gevespert. Die Vesperzeit begann, wenn die Lin- denblätter aufbrachen:

„Wenn dat Linnenblatt is ’n Gröschen gräet, krigt dei Böuere Vesperbräat.“

Sie hörte auf mit dem Bartholomäustage2), der darum als Dieb des Vesperbrotes verschrien ist: „Bar- telmeiwes, Stückedeirves!“ Statt des Vesperstückes gibt der gestrenge Bartholomäus den Bauern den

1) Dr. Eduard Kück nennt in seinem ganz vortrefflichen Werk „Das alte Bauernleben der Lüneburger Heide“ (Leipzig 1906) auch noch den „Brummknust“ und schreibt dazu (S. 156): „Ißt ein Mädchen den untersten Brot- knust, den Brummknust, so sind die »Jungens« fortgesetzt brummig zu ihr; sollen sie mit ihr scherzen, so muß sie den obersten, den Lacheknust essen.“

2) 24. August. Schambach, Wörterbuch der niederd. Mundart, hat auch „up olen Bartelmeiwes“, d. i. 5. Septbr. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 151

Dreschflegel in die Hand, wie eine andere Redensart klagt. Aber der heilige Bartholomäus stiehlt, nebenbei gesagt, nicht nur das Vesperstück, er raubt auch dem Köhler den Mittagsschlaf, weshalb man im Sollinge auch sagen hört: „Bartelmeiwesdag stehl ’n Böuern dat Vesperbrat, un ’n Köhlers ’n Mid- dagsslap.“ Ein Ackerknecht soll aber gesagt haben: Wenn Bartholomäus das Vesper hole, könne er auch die Arbeit holen.

Eine Ausnahme von diesem alten bäuerlichen Sparsamkeitsgesetze machen jedoch die Kinder, und hochpoetisch ist das darauf bezügliche Wort:

„Wenn dei Dannenbäaum greun is, kreuiget dei kleinen Kindere Vesperbräaut.“

Die Vesperzeit der Kinder währt also ohne Unterbrechung das ganze Jahr.

Ob die so streng abgegrenzte Vesperzeit der Alten heute noch von allen Sollingern innegehalten wird, vermag ich nicht zu sagen. Es läßt sich ja auch nicht immer erforschen, ob alle diejenigen, welche die weisen Gesetze ihrer Vorfahren so eifrig im Munde führen, nicht doch in einer verschwiegenen Spei- sekammer anders denken.

Der Hexenglaube. Wer glaubt heute noch an Hexen und Hexerei? „Kein Mensch!“ versichert der Großstädter mit einer weitabweisenden Geste, derselbe Großstädter, der auf meine Frage, wie es ihm ginge, eben erst ge- antwortet hat: „Danke, recht gut, – unberufen!“ Als ob dies unberufen, das man in Berlin noch immer hört, nicht unmittelbar beim Hexenglauben läge, ja, ein unmittelbarer Ausfluß desselben wäre. Es mag als solcher allerdings den meisten Menschen unbewußt bleiben, ebenso wie der Urgrund eines oft zu beobachtenden Vorgangs, daß man wieder umkehrt oder umkehren möchte, wenn einem eine Katze über den Weg läuft.

So stößt man trotz der großen neuzeitlichen Umwälzung des deutschen Volkstums in Stadt und Land noch immer wieder auf hartnäckige Wurzeln des Hexenglaubens, wie man ja auch in den Tageszeitun- gen noch manchmal Berichte über seine ungeheuerlichen Auswirkungen lesen kann. Mag sich’s auch immer nur um Fälle handeln, die als solche Ausnahmen sind.

Ausgangs des vorigen Jahrhunderts habe ich in einem süddeutschen Redaktionsbüro, in dem Zeitun- gen aus vielen Gegenden gehalten wurden, während mehrerer Jahre alle Berichte über Hexenglauben und neuzeitliche Hexenprozesse gesammelt und soviel Material zusammengebracht, daß ich ein statt- liches, aber auch ein haarsträubendes Buch daraus hätte machen können.

Natürlich habe ich auch dem Hexenglauben in meiner engeren Heimat, insbesondere dem Sollinge, nachgespürt und ausgangs des vorigen wie anfangs dieses Jahrhunderts mancherlei Aufzeichnungen gemacht, aus denen hier eine kleine Blumenlese zusammengestellt sei.

Daß dieser Aberglaube sich keineswegs nur in die abgelegenen Bergdörfer verloren hat, bewies mir im Jahre 1900 die Frau eines Bahnbeamten in Northeim i. H., die in Gegenwart meiner Familie den Tod eines ihrer Kinder wie folgt schilderte: Das Kind wäre immer ganz „kregel“ gewesen, dann aber von einer gewissen Frau aus der Nachbarschaft, die öfters aus Besuch kam, behext worden. Seitdem hatte das Kind immer mehr abgenommen und besonders an starken Hustenanfällen gelitten. Eines Tages nun hatte es ruhig schlafend in der Wiege gelegen, weshalb die Mutter auf ein Weilchen hinausging, um die Wirtschaft zu besorgen. Nach einiger Zeit zurückgekehrt, kam ihr plötzlich eine große schwar- ze „Bolze“ (Kater) aus der Kammer entgegengesprungen, worüber sie gleich sehr erschrocken war. Welch Entsetzen aber, als sie in die Kammer kam und das Kind mit blauangelaufenem Gesicht tot in der Wiege fand! Unbeirrt blieb sie dabei, die scheußliche Bolze wäre niemand anders gewesen als die Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 152 bewußte Nachbarin. Hernach wäre sie gekommen und hätte Mitleid geheuchelt; aber da hätte sie’s zu hören gekriegt!

Um dieselbe Zeit wurde das Dorf Lüthorst nördlich vom Solling, wo Wilhelm Busch oft geweilt hat, noch gern als „dat Hexendörp“ bezeichnet. Von einer dort wohnhaft gewesenen Hexe hörte ich im Sollinge zwei Geschichten erzählen, die uns so recht das Wesen des diabolischen alten Aberglaubens veranschaulichen: Eine Hexe hatte ein Kind, das schrie die Mutter kläglich an, es wäre so hungrig. „Teuf, bett Nawers Käauh kalwet hät, denn saste Melk genäaug hebben!“ gab die Mutter zur Antwort. Als aber Nachbars Kuh gekalbt hatte, bekam das hungernde Kind doch keine Milch, es weinte und rief, nun bekäme es ja doch keine Milch. Worauf die Hexe grimmig erwiderte: „Häaut der Käauh ge- ben Dill und Dust, dat hät de äaule Hexe nech ewußt (Haben der Kuh Dill und Dost gegeben).“

Die Tochter eben dieser Hexe wollte ihre ungeratene Magd los werden und schickte sie deshalb zu ihrer Mutter. Das Mädchen merkte aber die böse Absicht und nahm heimlich Dill in den Mund. Als es nun zu der Hexe kam, schickte die es wieder zurück, es solle der Frau sagen, das Fleisch wäre „be- dillt“.

Um diese Antwort zu verstehen, muß; man wissen, daß der Dill, ebenso wie der Dost, nach altem Glauben die Kraft besitzt, bösen Zauber abzuwehren, wenn man etwas davon in den Mund nimmt, der Kuh nach dem Kalben und der Ziege nach dem Lammen zwischen das Futter mengt, oder an besonde- ren Orten heimlich niederlegt.

Aus dem eigentlichen Sollinge (mit der Weper) habe ich mir in jener Zeit folgende Aufzeichnungen gemacht: Ein Bauer hatte eine Tochter, die war rot und frisch wie nur eine. Auf einmal begann sie zu kränkeln, zu verwelken und erschreckend abzunehmen. Niemand wußte, was ihr fehlte, und man frag- te sie lange vergeblich, ob sie sich denn aus „ganz und gar nichts besinnen“ könne. Da erinnerte sie sich, daß ihr die alte K...tsche etliche Tage vorher ein Vesperstück geradezu mit Gewalt aufgenötigt hatte. „Ha, nöu is’t riut!“ rief der Vater ergrimmt, machte sich auf und ging nach „der“ Schlarpe, wo einer wohnte, der was gegen Verhexungen „konnte“. Der gab denn auch ein Mittel. Das kranke Mäd- chen nahm es ein, und „was meinste bloß“?, bald befand sich eine „Egeditze“ (Eidechse) im Urin. „Teuf!“ rief der Vater, nahm das unheimliche Tier und warf es in einen glühenden Kessel, stülpte ei- nen Deckel darauf und heizte tüchtig unter. Ui! gab’s nun ein Geschrichze, ein Quietschen und Spek- takeln, ganz fürchterlich anzuhören. Möchte es nun Neugierde oder Angst sein, genug, der Bauer hob den Deckel ein wenig auf, und – wutsch! war die Eidechse heraus und nirgends mehr zu finden.

Auf einer Wetfrau (Witwe) lastet der Verdacht, sie stehe mit Stöpke (Teufel) in Verbindung, der all- nächtlich durch den Schornstein zu ihr komme. Sonst immer in dürftigen Verhältnissen, zeigte sie seit einiger Zeit einen ungewohnten Aufwand und fing sogar an, eine Scheune zu bauen. Nun fanden die Zimmerleute eines Morgens eine mit Butter fingerhoch bestrichene Brotscheibe aus dem Zimmerplat- ze, die ihnen gleich unheimlich vorkam, darum auch von niemand angerührt wurde. Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch das ganze Dorf und wuchs sich zu größter Unheimlichkeit aus. Eine allgemeine Erregung entstand, denn nun war es ja am Tage: Das üppige Butterbrot konnte niemand anders als Stöpke selbst bei seiner nächtlichen Visite verloren haben. Die Wetfrau hörte schließlich von der Sage und nahm sich vor, einen Spinntropp zu belauschen, um mit ihren eigenen Ohren zu hören, wie sie dort durchgehechelt würde. Sie duckte sich hinter den Zaun, der den kleinen Garten vor den Fenstern umgab, und konnte von da das ganze unsinnige Geschwätz der Spinnerinnen deutlich verstehen. Aufs äußerste empört, stürzte sie plötzlich in die Stube und schrie der obersten der Klatsch- basen zu: „Döu sost mant frah seuin, wenn döu hexen könnest, döu härrest ’t wahrhaftig gräat enäaug nädig.“ Worauf dann die so Angeschriene boshaft erwiderte: „Häaut (habt) jeh ’t nöu ehärt, dat sei ’t sülben seggt, dat se ’ne Hexe is?“ – Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 153

Eine erst vor wenigen Jahren gestorbene Oldenroderin, die Fredelsloher Töpfergeschirr im Lande he- rumtrug, konnte auf keinen grünen Zweig kommen, weil man überall, wo kleine Kinder waren, die Tür vor ihr zumachte. Man glaubte, daß sie den Kindern was antun könne.

Der aus Fredelsloh gebürtige Lehrer Schwabe hörte einmal eine Disputation über Hexerei an, in der versichert wurde, ein gewisser Bauer im Nachbarorte könne nicht nur hexen, sondern auch einen Be- hexten wieder kurieren. Als Schwabe erwiderte, er wolle mal hin und sich behexen lassen, warnte ihn ein alter Bauer davor. Und als Schwabe meinte, der Hexenmeister könne ihn gleich wieder kurieren, erwiderte der Alte, der Hexenmeister dürfe in solchen Fällen nicht eingreifen, da er sonst seine Fähig- keit verlöre. Einer seiner Schwiegersöhne, der über das Gehörte laut lachte, wurde von dem Alten „ungläubiger Thomas“ gescholten; einem anderen Schwiegersohne (Schulvorsteher) pflichtete er leb- haft bei, als dieser behauptete, daß ihm in einem Jahre mal zwei Kühe und zwei Schweine behext und von dem genannten Hexenmeister wieder kuriert worden seien. Dieser zweite Schwiegersohn glaubte auch noch daran, daß die Hexen in der ersten Mainacht nach dem Blocksberge ritten, weshalb er im- mer vor dem ersten Mai auf sämtliche Türen am Hause drei Kreuze machte.

Ein anderer Fall im gleichen Orte wäre fast in einen Prozeß ausgeartet: Eine Frau sollte ein Kind be- hext haben, und es war ganz offen ausgesprochen worden, es könne nur die und die Frau gewesen sein.

In Delliehausen war in den achtziger Jahren ein junges Mädchen schwer erkrankt; es wurde aber nicht der Arzt, sondern eine weise Frau geholt, und die sagte, die Kranke wäre behext. Die erste Person, die ins Haus käme, wäre die Hexe. Da kommt eine Frau, die in ihrer gutmütigen Art der Kranken einen Topf Suppe bringen will. Sie wurde arg Verprügelt, und die Sache ging bis ans Gericht.

In Volpriehausen, so wurde mir dort im Sommer 1921 von einem sehr verständigen Bauern erzählt, hatte eine Familie ein dickes, gesundes Kind, das auf einmal erkrankte, nachdem eine alte Frau aus dem Dorfe im Hause gewesen war. Der Vater hatte ihren Namen aber nicht nennen wollen, weil sie, wie er sich gutmütig äußerte, wohl selbst nichts dazu gekonnt hatte, als sie das Kind mit den Worten bewunderte: „Ah, wat for ’n schäne, dicke Kind!“ Seitdem nahm das Kind zusehends ab und verwelk- te immer mehr. Als der Arzt nicht helfen konnte, ging man zu einem sehr empfohlenen Homöopathen, der gleich sagte: „Das Kind ist ja behext.“ Er verabreichte ein Pulver, davon sie dem Kinde dreimal eingeben sollten; beim dritten Male würde sich die Hexe einstellen. Wie es dann weiter wurde, konnte mir nicht gesagt werden.

Einen ähnlichen Fall klagte mit eine Frau auf der Weper: Ihr Kind, seit mehreren Tagen so eigentüm- lich erkrankt, wolle ganz und gar die Brust nicht nehmen; sie wisse aber wohl, welche Ursache das hätte, nämlich die Nachbarin wäre vor einigen Tagen zu ihr gekommen, hätte das Kind freundlich gestreichelt und gesagt: „Ach, wat for’n nüdlich Kind!“ Aber darin hätte es gerade gesteckt ... Jetzt solle die Frau dem Kinde indes nichts mehr anhaben können, denn sie habe ein wirksames Mittel ge- gen sie erhalten. Auf meine Frage, was für ein Mittel das sei, erwiderte sie: Die alte Knöksche hätte das Kind „besprochen“.

Derartige Anschauungen und Behauptungen kehren überall und immer wieder, sie gründen sich auf den „bösen Blick“, den manche alten Weiber haben sollen und womit sie Kinder wie Kälber und Fer- kel „versehen“ oder „berufen“, so daß sie von diesem Blicke krank werden und sterben.

Erst nach vielen vergeblichen Umfragen ist es mir gelungen, von einer der Zauberformeln, deren man sich bei Verhexungen bedient, Kenntnis zu erhalten. Man höre: Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 154

Zwei feurige Augen sahen dich! Ein falscher Mund küßte dich! Eine falsche Zunge stach dich! Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.

Hinwiederum begegnete ich des öftern noch jener Volpriehäuser Entschuldigung: Manche Frauen „könnten da nichts zu“, daß sie Hexen wären.

Natürlich darf man, wenn eine Verhexung vermutet wird, die verdächtige Frau mit dem kranken Kinde nicht zusammenbringen, muß auch das Schlüsselloch verstopfen; und wenn sonst eine Frau, der man nicht traut, Kind, Kalb oder Ferkel bewundert und preist, soll man für sich sagen: „Unberufen! Gott sei Dank!“

Hier sei auch erwähnt, daß man abgeschnittene Haare, Nägel oder ausgefallene Zähne unter einem Holunderbaum vergraben muß, damit einem die Hexen nichts anhaben können.

Wenn ein Ferkel verhext ist und „verwelkt“, nimmt man, wie ich in Vahle vernahm, das Herz heraus, macht das Haus richtig zu, daß niemand herein kann, und brät das Herz. Dann kommt die Person, die das Ferkel behext hat, nach dem Hause gelaufen und will mit Gewalt hinein. Daran kann man also sehen, wer es gewesen ist. Aus Vahle habe ich noch aufgezeichnet: Wenn ein Schwein krepiert ist und Verhexung vermutet wird, nimmt man das Herz, legt es in einen Topf Wasser und setzt diesen in den geheizten Ofen. Dann macht man das Licht aus, worauf mit der Gabel immer nach dem Herzen gesto- chen wird.

In Schönhagen werden die Klauen von geschlachteten Kühen in den Ställen aufgehängt, damit die Hexen nicht kommen.

Der Kreuzknoten, der die Garben zusammenhält, darf beim Futterschneiden nicht aufgelöst, sondern nur zerschnitten werden; sonst tun die Hexen den Pferden Schaden, oder die Kühe verkalben.

Einem Bauern, der sich für behext hielt, wurde geraten, nachts mit einem Hammer an die Bettstelle zu schlagen. Das machte er denn auch so ausgiebig, daß die Nachbarn vor dem Lärm nicht schlafen konn- ten. (Pastor Harland, der dies in Schönhagen aufzeichnete, glaubte hier einen Nachklang von Donars Hammer zu hören.)

Wie kann man sonst wohl eine Hexe erkennen? Man stecke sich ein am Gründonnerstag gelegtes Ei in die Tasche und nehme es mit in die Kirche, halte es aber recht fest. Steht dann der Geistliche vor dem Altare, so wird sich die Hexe umdrehen; man muß sich jedoch sehr in acht nehmen. (Uslar.)

Überaus harmlos sind die Ursachen, denen manche Frauen ihre unglückselige Eigenschaft verdanken: Ein Kind, das die Mutter entwöhnt, aber nach drei Tagen, weil es schreit, wieder an die Brust legt, kann erwachsen weder kleines Vieh noch kleine Kinder sehen ... Ein Mädchen, das sich in der Kirche umsieht, während der Geistliche den Segen spricht, wird einmal eine Hexe werden, weshalb früher auch manche Mutter ihre zur Kirche gehende Tochter mahnte, sich beim Segen aber ja und ja nicht umzusehen.

Daß die Hexen gern Katzengestalt annehmen, ist ja ein allgemeiner Volksaberglaube. In einem Dorfe auf der Weper hörte ich indes, sie könnten sich auch in die Hasengestalt verwandeln. So sei einmal bei der Zehntscheuer in Nienhagen ein dreibeiniger Hase gesehen worden, der den Kühen auf dem be- nachbarten Ackerhofe die Milch ausgesogen und verdorben hätte. Doch für gewöhnlich erscheinen die Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 155

Hexen ja nicht verwandelt, sondern als alte Weiber, die mit verbundenem Kopfe einhergehen, rötliche, triefende Augen haben und gern alles „besweugen“ (beseufzen).

Hexen stehen natürlich in innigster Verbindung mit dem Teufel, dem sie ganz ergeben sein müssen. In dem Dorfe Espol lebte vor „noch nicht langer Zeit“ eine alte Hexe, die stets um Mitternacht aus dem Bette verschwand. Der Mann band sie fest, aber ehe er sich’s versah, war sie immer wieder weg. Die Espoler versicherten, als sie mir dies ausgangs des vorigen Jahrhunderts erzählten, der Teufel hätte die Alte in jeder Mitternacht dreimal ums Dorf „geklappt“ (gepeitscht).

Es ist natürlich nicht anzunehmen, daß alle diese Dinge heute noch allgemein geglaubt werden. Das Groteske ist mit der Zeit Sage geworden und wird erzählt, ohne daß man daran noch glaubt. Das ei- gentliche Feuer ist in den meisten Orten ausgebrannt, man kann aber hie und da immer noch ein leises Glimmen unter der Decke wahrnehmen. Als ich im vorigen Sommer mit dem sechzigjährigen Schmiedskonrad in Schönhagen über das Thema sprach, sagte er: Heute höre man nichts mehr von Hexerei, während in seiner Kindheit noch alles behext gewesen sei. In den neunziger Jahren lebte in Schönhagen noch eine alte Holzhauerfrau, die im Rufe stand, Ferkel und Sauen behexen zu können. „Dat aule Weiif hät se weer eseihn“, hieß es durchweg, wenn ein Schwein krank wurde. Lobte die Unglückselige ein Kind oder ein Stück Vieh, mußte man energisch denken oder sagen: „Licke meck in ...“ Sollte die Kuh zum Bullen gebracht werden, so vermied man sorglich den Weg, der am Hause der verrufenen Alten vorbeiführte. Schmiedskonrad schloß seine Erzählung: Ganz viel getaugt hätte sie auch wirklich nicht. „Se was äak ’ne aule Hexe.“

Auch in Fredelsloh wurde mir versichert, daß es mit der Hexerei so ziemlich vorbei sei, daß man aber immer wieder noch einen träfe, dem sie aus dem Kopfe nicht heraus wolle. So kam im Kriegswinter 1916 ein Bauer aus Trögen mit einem Pferde nach Fredelsloh, der auf die Frage, ob er jetzt nur noch ein Pferd hätte, antwortete: „Nä, eck häau noch ’n Föllen, awer ’t is krank.“ Gefragt, was ihm denn fehle, versicherte der Tröger mit dem ernstesten Gesichte: „Et is behexet!“ – „Minsche, an säau wat glöwst döu noch? Wahrhaftig? Wat feilt ine denn?“ – „’t hät ’n dicken Hals, de Seiwer (Speichel) löppt ’ne iuten Halse riuter, ’t kann nech efreten.“ – Man setzte ihm nun auseinander, daß das Füllen an Kehldrüse litte. Überlegen aber schüttelte der Tröger den Kopf: Knoke in Espol hätte ganz dasselbe mit seinem Pferde gehabt, das wäre auch behext gewesen. Aus die Frage, wer denn das Behexen täte, versicherte der gutgläubige Bauersmann: „’t sind ’r doch noch ümmer wekke in Dörpe, dei hexen köönt un ein’n dat nech gönnet.“ Der Mann ließ sich auch nicht eines Besseren belehren.

Ja wahrhaftig, es sind noch immer welche im Dorfe, die hexen können. So hörte ich im Sommer 1922 in Espol noch folgendes.

Eine 40jährige Bauersfrau kommt in ein Haus, wo die Mutter gerade ein Kind an der Brust hat. Als die Frau weg ist, will das Kind die Brust nicht mehr nehmen. Seitdem steht jene Frau im Rufe einer Hexe.

Da hatte die alte Nickelsche in Dinkelhausen denn doch einen helleren Kopf, die man einmal erzählen hörte: Es solle auf einem Hofe in Dinkelhausen immer das Vieh behext gewesen sein, und es hätte in der Tat auch so ausgesehen. Da wäre ein junger Mann auf den Hof gekommen, der tüchtig gefüttert und das Vieh überhaupt ordentlich behandelt hätte, – und seither – wären keine Hexen mehr an das Vieh gekommen. –

Bekanntlich galt nach dem alten Aberglauben die Walpurgisnacht allgemein als die Festzeit der He- xen. So auch im Sollinge. (Siehe das Stück vom ersten Mai S. 69.) Einige unheimliche Sagen, die davon reden, sollen in „Tchiff-tchaff, toho!“, dem zweiten Bande dieses Sollingswerks, mitgeteilt werden. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 156

Schließlich sei noch ein ganz absonderlicher Fall von Verhexung verzeichnet, der im Jahre 1896 weit- hin von sich reden machte, auch in den Zeitungen behandelt wurde: Der zwölfjährige Sohn des Tisch- lers Schwerdtfeger in Sievershausen sollte verhext worden sein und dadurch die Wahrsagekunst und eine große magnetische Kraft gewonnen haben. Von nah und fern strömten die Leute herzu, um sich von dem Wunderknaben wahrsagen zu lassen. Sie bewunderten das Wunder und gaben, obgleich nichts von ihnen verlangt wurde, anstandslos reichliche Trinkgelder. Auf einmal aber hatte der Knabe seine Wunderkraft verloren, und das war so gekommen: Nach einem der bei ihm regelmäßig eintre- tenden Krampfanfälle – der Junge war also Epileptiker – mußte er sich erbrechen, und siehe da, mit dem Auswurfe kam eine lebendige Eidechse zum Vorschein, die aber sofort in einem Mauseloche verschwand. Von dieser Stunde an war es mit der magnetischen Kraft und der Wahrsagekunst des Jungen vorbei. (Siehe auch den Schluß des „Schützenfestes in Bodenfelde“ S. 92.)

Der Besen im Volksmund. Die am Walpurgistage ausgerichteten Maibäume waren ursprünglich, wie Wuttke in seinem „Deut- schen Volksaberglauben“ (S. 123) bemerkt, grüne, nach oben gerichtete Besen; oft ist jetzt noch ein Besen oben aufgesteckt. Die im Dienste Donars stehenden Priesterinnen scheinen Besen geführt zu haben.

Die Spuren dieser urgermanischen Bedeutung des Besens finden wir heute im Solling noch in man- cherlei seltsamen Äußerungen über den stumpfen Besen:

Um eine vermutete Hexe kennenzulernen, wird ein stumpfer Besen vor die Tür gelegt. Kommt dann eine Frau auf das Haus zu und geht wieder zurück, so ist das ein Zeichen, daß sie nicht über den stumpfen Besen kann, also eine Hexe ist. Diese oder jene Frau wird wohl auch charakterisiert: „Die kann äauck nech owern stumpen Bessen egahn.“

Brennt man stumpfe Besen auf, kriegt man viele alte Weiber zu Besuch, oder, wie ich jemand auf der Weper sagen hörte: „Säau komet de alen Weuiwere iut allen Ecken.“ Als sich einmal in einem Bau- ernhause mehrere Frauen angesammelt hatten, hörte ich den Bauern rufen, allerdings scherzweise: „Donnerwär, eck häau doch kennen äalen stumpen Bessen uppebrennt!“

Will ein verärgerter Liebhaber einem Mädchen einen rechten Tort antun, pflanzt er ihr in der Pfingst- nacht statt eines Maibaumes einen stumpfen Besen vors die Haustür. Damit ist sie einem großen Spott und Schimpf ausgesetzt.

Einen verhaßten Menschen jagt man mit einem alten stumpfen Besen zum Hause hinaus. Man hört dann wohl sagen: „Jag ’ne doch met’n äalen stumpen Bessen täaun Hiuse riut!“ Besonders pflegt der Vater dies Mittel anzuwenden, wenn ein ihm nicht genehmer Bursche hinter seiner Tochter her- schleicht; er droht: „Kümmte meck weer, kriegte ’n äalen stumpen Bessen up’n Balg!“

Wieder heißt es auch, wenn man einen Arger loswerden will: „Mäaußt (mußt) up’n stumpen Bessen p.....!“

Auf Matthias gießt man geschmolzenes Blei durch einen Dornbesen. Und daß die Hexen aus einem stumpfen Besen nach dem Blocksberge reiten, ist ja allgemein bekannt. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 157

Das „Besprechen“. Bei gewissen Erkrankungen, wie Gicht oder „hilge Wark“ (siehe S. 159), oder wenn das Kind „dat Suirken“1) (Mundfäulnis) hat, wendet man sich nicht an den Arzt, wenigstens noch lange nicht, son- dern an die Jette-, Reuike- oder Christinewase, oder auch an den Orgvetter, die das Besprechen verste- hen. Unter Umstellen des kranken Gliedes mit den drei Fingern der rechten Hand flüstern sie einen geheimen Spruch, worauf sie die kranke Stelle dreimal anpusten. Man nennt das auch „Bäaute däaun“ (Baute2) tun). Es ist ein Gemisch heidnischer Zauberei, verbunden mit christlichen Namen und Zei- chen, wie denn auch jedem Spruche die Formel: „Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes“ angehängt wird. In der Regel werden die Besprechungsformeln oder Bautesprüche vererbt und zwar von Frau zu Mann, oder von Mann zu Frau. Vererbungen unter dem gleichen Ge- schlecht gelten als unwirksam. Es gibt aber auch geheime Bücher, in denen die Zauberformeln ge- schrieben stehen. Einzelne Leute machen ein förmliches Gewerbe aus dem Besprechen; andere wieder üben es mehr aus Gefälligkeit. Bezahlung wird nicht verlangt, aber freiwillig gegeben, da sonst das „Besprechen“ nicht helfen würde.

Einige Bäautesprüche, wie ich sie gelegentlich im Sollinge hörte, seien hier wiedergegeben:

Gegen die Flechte:

„Die Flechte und das wilde Meer, die flogen über die See; das wilde Meer kommt weer, die Flechte nimmermehr. Im Namen des usw.“

Oder:

„Die Flechte und die Fliegasche, die gingen miteinander fechten, die Fliegasche die verbrannt’, und die Flechte die verschwand. Im Namen des usw.“

Oder:

„Die Wolle und die Flechte, die gingen zusammen nach Roland, um zu fechten. Die Wolle gewann, und die Flechte verschwand. Im Namen des usw.“

Gegen gewöhnliche Schnittwunden:

„Ich ging mal in Jesu Blumengarten, da standen drei rote Rosen; die erste hieß Wehmut, die zweite Demut, und die dritte Stilldasblut. Im Namen des usw.“

„Ich ging an den Jordan, da sah ich drei Lilien stehn; die erste hieß Blutstropfen, die zweite Blutstop- fen, die dritte Blutstillestehn. Im Namen des usw.“

Eine Formel gegen Gicht lautet:

„Heute ist Karfreitag, da trat der Herr Jesus seine Marter an, da kam der Judenrichter und sprach: ,Jesus, du bist gichtisch.‘ Jesus sprach: ,Ich bin nicht gichtisch, will auch nicht gichtisch werden.‘ – Wer diese meine Rede hört und glaubt, den spreche ich frei von der Reißenden und Schwellenden, Brechenden und Stechenden (Gicht), vertreibe sie aus deinem Fleisch und Blut usw.“

1) Nicht zu verwechseln mit „Schüerken“, Schäuerchen, Fieberkrampf bei kleinen Kindern.

2) Hängt mit Buße, Besserung zusammen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 158

Gegen Suirken (Säuerchen):

„Der Herr Jesus Christus wurde geboren in Bethlehem, erzogen in Nazareth, ist gestorben in Jerusalem usw.“ Oder: Man schreibt die Stelle aus der Offenbarung von den sieben Städten auf ein Blatt Papier, das man den Kindern in den Mund legt.

Wenn (in Delliehausen) jemand schlimme Augen hat, muß er an ein fließendes Wasser gehen, sich die Augen „belecken“ (benetzen) und sagen:

„Eck gah be-i düsse Fläaut, eck wasche weg dat Mal un dat Bläaut. Im Namen usw.“

Auf dem Wege hin und her zum Wasser darf man kein Wort sagen, auf keine Anrede erwidern, auch nicht lachen, sonst ist das Mittel unwirksam. – War einem etwas ins Auge geflogen, sagte man (auf der Weper):

„Herr Jesu, gräuip eher täau as eck.“

Bei Zahnweh wendet man (in Cammerborn) folgenden Spruch an:

„Petrus stand unter einem Eichenbaume und war traurig, da sprach der Herr zu Petrus: Warum bist du so traurig? Ach Herr, warum sollt’ ich nicht traurig sein, mir wollen ja die Zähne im Munde verfaulen. Da sprach der Herr zu Petrus: Petrus, Petrus, Petrus, geh’ in den Grund, nimm Wasser in den Mund und speie es wieder in den Grund.“

Diese Sprüche scheinen übrigens mehr offenkundiges Gemeingut zu sein; sie werden in leichten Fäl- len, wie bei kleinen Schnittwunden, von den Leuten selbst angewandt, also ohne daß man zu der Jet- tewase oder dem Orgvetter geht. Es gibt für jede Krankheit, die sich besprechen läßt, wieder besonde- re Verse, die man aber nicht jeden Tag anwenden kann. So wird für die Gicht nur Freitag, und zwar am geeignetsten vor Sonnenaufgang „gebraucht“, soll ein Erfolg gesichert sein. Denn am Karfreitage, so wird erzählt, hat der Herr Jesus noch einem Judenrichter die Gicht besprochen.

Auch das Vieh wird besprochen. Hat sich ein Stück verfangen, oder ist es an einem Gliede erkrankt, so wird ihm über den Rücken oder über das erkrankte Glied gestrichen und dabei gesagt:

„Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.“

In Nienhagen schrieb ich anfangs der achtziger Jahre folgendes auf:

„Herr Jesus Christus war gefangen, am Kreuze gehangen – nimm diesem Vieh das Verfangen. Im Namen usw. Amen.“

(Dies letzte dreimal.)

Wenn (in Dinkelhausen) Ferkel eben geboren sind, so daß sie noch niemand gesehen hat, werden sie besprochen:

„Unberäaupen sin je geboren, unberäaupen söll je bleiiben. Im Namen Gottes usw. Amen.“

Ehe man (in Kammerborn) einen Fremden in den Stall läßt, sagt man:

„Gottes Segen mank de Fickeln!“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 159

Harland verzeichnet den Spruch:

„Beist, bist döu beräaupen, oder Beist, häst döu deck verfongen? Eck besträpe deck unberäaupen un unbefangen, äußerlich un innerlich.“

„Dat Hilge“, „dat hilge Wark“ usw.1) Ich litt als Junge an einer starken Erkältung, und meine Mutter ließ darum die Lotteweesche vom „Berge“ kommen, die Krankheiten besprechen konnte und viel Erfolg damit hatte. Sie kam, die kluge Alte, sah mich an und sagte: „Dei Junge hät dat Hilge owern dower!“ (über und über). Dann strich sie mir mit ihrer schwieligen Hand sanfte Kreuze übers Gesicht, pustete mich an und flüsterte dazu, ohne daß man das Geflüsterte verstehen konnte.

Der Erfolg ließ dann auch nicht lange auf sich warten, ich wurde wieder gesund.

Unter „Hilge“ verstand man in meiner Heimat, wie überhaupt im südlichen Hannover, eingeschlossen das Sollingsgebiet, bestimmte Erkältungserscheinungen, die sich durch stechenden Schmerz, durch Hitze, Röte, Geschwulst und im schlimmsten Falle durch Blasenbildung auf der Haut (Erysipelas) zu erkennen geben, also die verschiedenen Anzeichen der Gesichtsrose, des Rotlaufs oder Erysipelas, wie in der medizinischen Wissenschaft diese Krankheitsarten zusammenfassend benannt sind.

In meinen Aufzeichnungen aus dem Sollingsgebiete finde ich nun folgende auf das Hilge bezügliche Bautesprüche:

„Johannes und Jakobus die gingen über Land, Sie suchten gut Kraut für das hilge Werk; Johannes und Jakobus kamen wieder zurück Und nahmen das hilge Werk Und den kalten Brand auch zurück. Im Namen Gottes usw.“

„Dat Hilge, dat eck finne, Dat verswinne, As dei äaule Mann verswand2), As iuse Herr Jesus Christus am Kreuze hang“ .. Im Namen usw.

Und dann ein Spruch, der mir von ganz besonderer Merkwürdigkeit erscheint:

„Eck segge deck, döu hilge Wark, Sast fahren durch der Mutter Maria Kind3).

1) Diesen Aufsatz habe ich bereits 1884 in der von mit mitbegründeten volkskundlichen Zeitschrift „Am Urds- Brunnen“ (Jahrg. 3, Bd. 11, Heft 4 und 5, 1884) veröffentlicht. Eine kleine Zahl junger Volksschullehrer war es, die sich hier in einhelliger Begeisterung zum Dienst am ursprünglichen Volkstum zusammengefunden hatte und bei ihren bescheidenen Verhältnissen nicht geringe Opfer für die Durchführung der Zeitschrift brachte. Schrift- leitung und Verlag besorgte Lehrer Heinr. Carstens in Dahrenwurth bei Lunden (Holst). Die Zeitschrift geriet später leider nach – Wien, wo sie ihren ursprünglichen Charakter verlor und bald verfiel.

2) Der „alte Mann“ wird aus Mond entstellt sein, wie ja der abnehmende, schleichende Mond im Volksaberglau- ben immer eine besondere Bedeutung hatte.

3) Durch die Anrufung Jesu. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 160

Sast nich heken, Sast nich steken, Sast nich hellen, Sast nich swellen ... Im Namen usw.

Daß im übrigen das „Hilge“, oder „hilge Wark“, „hilge Fuier“ nicht etwa nur eine südhannoversche Eigentümlichkeit ist oder war, zeigt uns ein Blick in verschiedene Idiotiken. In seinem Holsteinischen Idiotikon II z. B. führt Schütze auf Seite 138 als volkstümliche Bezeichnung für Rose, Erysipelas „dat hillige Ding“ auf und gibt die Erklärung dazu, daß die Krankheit darum so genannt würde, „weil sie heilig, gewissenhaft verpflegt sein wolle“ (?!). Genau so gebucht und erklärt steht „dat hillige Ding“ in Richeys Hamburgischem Idiotikon, Seite 95, sowie im Bremer Wörterbuch II, Seite 632. Nach einer brieflichen Mitteilung von Lehrer Carstens in Dahrenwurth bei Lunden in Holstein heißt Erysipelas in Stapelholm „dat hillig Ding“, „Hillding“, in Dithmarschen „hilli Ding“, „Hillding“, „Roos“ und „Bell- roos“. Müllenhofs bekannte Sammlung bringt auf S. 514 bis 516 u. a. die folgenden Formeln:

Ick segg: Helldink, Helldink, Du schast ni stäken, Du schast ni bräken. Helldink, Helldink, Du schast ni kellen, Du schast ni schwellen. Dat schast du ni doen, Dat schast du ni doen. Im Namen usw.

Peter un Paul gingen äwert Moer. Wat begegnet äer daer? Helldink, Helldink! – „Helldink, wo wullt du hin?“ Na’n Dörp. „Wat wullt du daer?“ Kellen un schwellen un wee doen. „Dat schast du ni doen, Dat befäel ick di in Gottes Namen ...“

Aus dem „Hansjochenwinkel“ (Altmark) sandte mir (1884) Lehrer Meyer-Markau, der auch zu unsrer Urds-Brunnen-Vereinigung gehörte, einen Bautespruch, der als Variante des oben mitgeteilten beach- tenswert ist:

„Du sollst nicht hell’n, Du sollst nicht schwell’n, Du sollst nicht weh tun! Im Namen usw.“

Die seltsamen Krankheitsbezeichnungen bergen ein Stück unheimlicher Geschichte, die uns in das tiefe Mittelalter und in eine Zeit grauenvollsten Sterbens zurückführt. In Meyers Konversationslexikon wird unter „Antoniusfeuer“ darüber folgendes berichtet: „Höllisches oder heiliges Feuer“ ist der Name einer epidemischen Krankheit, die im 9. bis 13. Jahrhundert in ganz Europa herrschte und dadurch charakterisiert war, daß sich unter heftigen Schmerzen Brand einzelner Glieder, selbst des Gesichts, der Genitalien und der Brüste, vorzugsweise aber der Hände und Füße einstellte. Die ergriffenen Teile Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 161 wurden kalt und schwarz, das Fleisch fiel von den Knochen und verpestete die Luft. Die meisten, wel- che von dieser Krankheit befallen wurden, gingen daran zugrunde, nur wenige genasen und boten dann wegen der Verstümmelung ihrer Glieder einen schaudervollen Anblick dar. Das höllische oder heilige Feuer wurde später nach dem heiligen Antonius „Antoniusfeuer“ genannt, angeblich, weil viele daran Erkrankte in der Kirche zu St. Didier la Mothe durch Anrufung jenes Heiligen genesen sein wollten. –

In Häsers Geschichte der epidemischen Krankheiten kann man noch Näheres nachlesen. Danach ist anzunehmen, daß jene furchtbare mittelalterliche Epidemie identisch sein dürfte mit der durch den Genuß des Mutterkorns erzeugten Kriebelkrankheit, morbus cerealis, die in ihren äußeren Erscheinun- gen große Ähnlichkeit mit Erysipelas hatte, zumal in dessen höchster Entwicklung. Und so erklärt sich’s, daß die mit jener schrecklichen Epidemie gebildeten und sich unauslöschlich ins Volksbewußt- sein prägenden Namen später auf die Rose und den Rotlauf übertragen wurden.

Was nun die heilige Verpflegung anbetrifft, mit der in dem holsteinischen Idiotikon die Namen erklärt werden, anscheinend ohne Kenntnis des geschichtlichen Untergrundes, so könnte man wohl mit eini- gem Grunde eine solche annehmen; jedenfalls war es in der Jugendzeit meiner Mutter noch ständige Sitte im südlichen Hannover, daß der an der Rose Erkrankte sich in das sogenannte „hilge Laken“, ein großes weißes Leinentuch, auch „Twele“ genannt, einhüllen mußte, um sich so von der Krankheit freizumachen.

„Dat hilge Wark“ soll übrigens auch verschwinden, wenn man sich die Haut mit dem Wasser benetzt, in dem eine Frau nach dem „Säuern“ sich die Hände gewaschen hat. Das Hauptmittel aber gegen „dat Hilge“ bleibt die Baute oder das Besprechen, und so war jedenfalls noch zu meiner Jugendzeit jedes Dorf so eine Art „St. Didier la Mothe“1).

Sonst ergeben meine Aufzeichnungen über „dat Hilge“ noch dieses: Will jemand, der mit einer Wunde behaftet ist, über eine Straße oder ein Wasser gehen, muß er vor dem Verlassen des Hauses einige Spiere Salz und Asche, hie und da auch einige Brotkrumen in die Schuhe streuen, „dat ’r dat Hilge nech ankümmt.“

Eine alte Krügerin in Nienhagen auf der Weper, ein riesenhaftes hageres Weib, vertraute mir (1883) folgendes an: „Weil Sei’t sind, will ’k Se mal äns te wäten däaune, awer wen Se dat äauk in ’t Nuor- tensche Wochenblatt2) settet, wird Se von meck nitz weer gewahr. Asse wat eck seggen woll: Wenn Sei ’ne Wunne häaut un dat Hilge sall ’r nech ankuomen, säau gaht Se nah Sunnenündergange an ’n fleitend Water, lecket (besprengt) afwarts wat ower dei Wunne un spräket dabeui:

„Ich schöpfe dieses Wasser durch Christi Blut, Das ist für meine Wunden gut. Im Namen usw.“

1) In den Hessischen Blättern für Volkskunde, Band XIX, 1920, teilt Dr. Alfred Martin folgende Besprechungs- formel der Rose mit: „Elis Ding verschwind wie der Wind, wie der Gott die Wände ab Mann in Mann ††† ...“ Dr. Martin bemerkt dazu: „Ich weiß mit der Formel nichts anzufangen. Vielleicht ist Elis Ding aus elbisches Ding, entstanden, wobei ich aber bemerke, daß im Anhaltischen das heutige Volk Elben nicht kennt.“ Nun, wir gehen wohl kaum fehl, wenn wir statt dessen annehmen, daß die in langer Überlieferung offensichtlich sehr entstellte Wortfassung sich sofort aufhellt, wenn wir statt „Elis“ heilig sagen, natürlich im dortigen Dialekt. – Ob bei dem „Mann in Mann“ nicht an Mond zu denken ist?

2) Göttingen-Grubenhagensche Zeitung in Northeim i. H., in welcher ich meine ersten volkskundlichen Aus- zeichnungen von der Weper veröffentlichte. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 162

Ein anderer Brauch, von dem mich die alte „Kreugersche“ in Kenntnis setzte, ist wegen seiner entsetz- lichen Derbheit hier leider gar nicht wiederzugeben.

* * *

Die feurige, blasenbildende Gesichtsrose wurde auch „dat wille Fuier“ genannt, das nicht verwechselt werden darf mit jenem wirklichen wilden Feuer, das angewandt wurde gegen den Rotlauf der Schwei- ne. Zur Zeit nämlich, als das Hütewesen noch in voller Blüte stand, die Menschen überhaupt noch mehr an „Zimperteggen“ (Sympathien) glaubten als heute, wurden alle vom Rotlauf befallenen Rüs- seltiere nur mit dem „willen Fuier“ kuriert und zwar auf folgende Art: An ein starkes, möglichst in einem tiefen Hohlwege quer ausgespanntes Seil wurde ein gehöriger Knüppel geschürzt, den zwei kräftige Männer so lange an dem Seil hin und her rieben, bis durch die Reibung Feuer entstand – „dat wille Fuier“. Ein im Hohlwege aufgetürmter mächtiger Strohhaufen wurde damit entzündet, und die vierfüßigen Patienten mußten, von einer Menge von Leuten getrieben, die Flammen im Sturm durch- laufen. Ich habe noch alte Leute gekannt, die (in der Gegend von Einbeck) solch ein „wildes Feuer“ mit erlebt hatten. – Es wird anderwärts auch „Notfeuer“ genannt.

Gastfreundschaft. Im Solling steht die Gastfreundschaft noch hoch in Ehren, und sie ist so tief im Wesen seiner Bewoh- ner begründet, daß auch die verwüstende Macht des Weltkrieges ihr kaum irgendwelchen Abbruch tun konnte. Freilich darf man, um das zu erfahren, nicht als ganz Fremder in den Solling kommen.

Vor allen Ortschaften des Sollings zeichnet sich besonders das am Ostrande gelegene Dorf Espol durch seinen lebhaften gastfreundschaftlichen Sinn aus. Wer bei einer Festlichkeit die meisten Gäste hat, der hat auch das größte Ansehen. Findet der Espoler auf dem Festplatz bekannte Leute aus den Nachbardörfern, so wird nicht geruht, bis sie mit zum Kaffeetrinken oder zum Abendbrot kommen. Auch der „Kreuger“ (Gastwirt) tat früher bei solchen festlichen Gelegenheiten den ortsfremden Gästen gegenüber gern ein übriges. Forderte der Gast z. B. einen „Kleinen“, so brachte er einen „Großen“, trank aber auch mit und holte den nächsten, den er nun ganz zum besten gab. (Siehe S. 168.)

Eine in der Gastfreundschaft wurzelnde besondere Eigentümlichkeit der Sollinger, wie der hannover- schen Landleute überhaupt, ist das „Nötigen“, dem ich schon in meinem Buche „Die hinter den Ber- gen“ ein eigenes Kapitel gewidmet habe. Kommt man in ein Bauernhaus auf Besuch, so ist es selbst- verständlich, daß man sehr bald an den Tisch genötigt wird. Und hat man am Tische Platz genommen, auf dem Wurst und Schinken und was es sonst gibt, überreichlich aufgetragen ist, wird man immer wieder genötigt, auch tüchtig zuzulangen. Dies Nötigen gehört so sehr zum Vesper, daß man sich un- willkürlich geniert, weiter zu essen, wenn das Nötigen aufhört. Es hört aber nicht auf.

(Selbst fern vom Sollinge, in Groß-Berlin, geht es mir so, daß ich in einem gastlichen Hause mich nur sattessen kann, wenn ich anhaltend genötigt werde.)1)

1) Wie aber manchmal die Empfindungen und Anschauungen der alteingesessenen Sollinger durch die von aus- wärts hinzugezogenen Beamten in Verwirrung gebracht werden können, das bezeugte mir Hauptlehrer Jünemann in Schönhagen mit folgendem kleinen Erlebnis: „Als bereits am Freitag vor Palmsonntag im Solling viele Dorf- straßen nach frischem Konfirmationskuchen dufteten, hatte ich in Cammerborn in einem Hause zu tun, in dem am Sonntage darauf auch Konfirmation gefeiert werden sollte. Auf dem Tische stand ein Teller mit der ersten Probe des Kuchens, und die Muhmen, die beim Backen geholfen hatten, schickten sich gerade an, den Kuchen bei einer gehörigen Kanne Kaffee zu probieren. Ich mußte mit an den Kaffeetisch und mich gleichfalls gütlich tun. Die Hausfrau, Frau Fettköter, die als junges Mädchen auf dem Knobben, einem Forsthause bei Uslar, ge- dient hatte, erklärte mir von vornherein: langes Nötigen solle ich von ihr nicht erwarten; Frau E., die Försters- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 163

Indes kann man auch hier sagen: Keine Regel ohne Ausnahme. Und ein paar drastische Ausnahmen seien hier mitgeteilt:

Ein Bauer kommt ins Nachbarhaus, wo man gerade beim Vesper sitzt, wird aber nicht genötigt mitzu- vespern, trotzdem das Nötigen doch eine allgemeine Selbstverständlichkeit ist. Eine Weile sieht er ruhig zu, und dann sagt er: „Damee dat’t Quälen ’n Enne hät ...“ Tut also, als ob er gewaltig genötigt wäre, setzt sich an den Tisch und langt ebenfalls nach der Wurst.

Ein Bauer, der nicht besonders gastfrei war, also eine seltene Ausnahme bildete, aber doch ums Nöti- gen nicht herumkommen konnte, nötigte dann mit den Worten: „Etet jöck mant satt, eck sin meiin Liewe nein Vielfraß ewest.“

Eine resolute Bäuerin nötigte eine fremde und gewiß etwas aufdringlich gewesene Besucherin beim Kaffeetrinken: „Seben hewwet Se, – willt Se noch eine?!“ (Sieben Tassen hätte sie also schon getrun- ken, – ob sie noch eine wolle.) Eine Redensart, die man bei bäuerlichen Kaffeebesuchen hin und wie- der in scherzhafter Weise angebracht hören kann.

Als ich im Sommer 1921 einmal wieder den Schmiedskonrad in Schönhagen besuchte, um mit ihm mein Sollingsmaterial durchzugehen, nötigte er mich zum Mettwurstvesper mit den Worten: „Wir haben nicht zuviel, aber reichlich.“ Auf dem Tische stand ein Teller mit einem geringen Rest Butter. Er holte ein frisches Stück, das er auf einen zweiten, frisch gewaschenen Teller legte, dabei erinnerte er sich seiner Mutter, die im Punkte Sauberkeit eine besonders eigene Frau gewesen sei und z. B. nicht leiden konnte, daß man ein frisches Stück Butter auf einen bereits gebrauchten Teller tat: das sähe aus, pflegte sie zu sagen, als wenn ein Schaf darauf gelammt hätte.

Eins fehlte: Der Branntwein, der bis zum Kriege beim Vesper noch eine allgemeine Selbstverständ- lichkeit war. Man hatte sich also schon gewöhnt, zu vespern ohne zu trinken.

Eigenartige Überraschungen erlebt mitunter der aus der Stadt gekommene Pastor, wenn er in seinem Kirchspiel Hausbesuche macht. In einem solchen Falle kochte die Bäuerin eine ordentliche Kanne Kaffee und trug das Beste auf, was Küche und Rauchkammer bot. Als dann der geistliche Herr auf ihre unablässigen Nötigungen endlich zu essen beginnt, setzt sich die Frau in die äußerste Ecke hinter den Ofen. Der Pastor wundert sich darüber und fragt, warum sie sich denn so weit von ihm wegsetze? Darauf ihre Antwort: „I, meint Se denn, Herr Pastor, eck woll Sei ’t Miul wahren?“ (Meinen Sie denn, ich wollte Ihnen auf den Mund sehen?)

Das Nötigen kann aber auch zu einer sozialen Bedeutung erhoben werden, wenn z. B. die Bauersfrau- en im Winter die Tagelöhnerfrauen, wie es früher zur Zeit der Spinntröppe wohl üblich war, zum „Spinnen kommen“ einluden und sie dann ordentlich mit Kaffee und weißem Kuchen bewirteten. Das wird dann auch im Sommer nicht vergessen, wenn man Hilfe auf dem Felde braucht. Denn eine Liebe ist der anderen wert, und wo eine Tagelöhnerin in der Winterzeit Gastfreundschaft genoß, da wird sie auch gern wieder hingehen, wenn man in hiller Zeit ihrer Hilfe bedarf.

Ein kleines Erlebnis, das ich in den hungrigen Kriegsjahren hatte, sei doch auch noch erwähnt. Ich wollte in Wahmbeck (an der südlichen Weserseite), wo ich seit vielen Jahren nicht mehr gewesen war, noch einiges zu erkunden suchen und kehrte nach langem Marsche bei starkem Sonnenbrand hungrig und durstig in einem an der Straße gelegenen Wirtshause ein. Aber auf meine Bitte um Kaffee und einen bescheidenen Imbiß dazu erhielt ich von den Wirtsleuten den Bescheid, Kaffee könnte ich wohl frau, habe ihr gesagt, die Leute, die immer nötigten, gönnten ihren Gästen das Essen nicht; darum solle ich un- genötigt zugreifen; sie wolle nicht in einen falschen Verdacht kommen.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 164 bekommen, aber nichts zu essen. Auch meine dargebotenen Brotkarten fruchteten nichts; man blieb dabei, daß man weder Brot noch sonst etwas abgeben könne. Mich den Leuten, die ja wie wir alle unter dem harten Druck der Zeit lebten und durch die Fülle der obrigkeitlichen Verbote und Gebote verwirrt waren, eingehender zu erklären, widerstrebte mir, hätte auch wohl kein Brot geschafft. So ging ich denn ins Dorf, um ans Telephon zu gelangen und mich mit einem andern Dorfe in Verbin- dung zu setzen, wo ich besser bekannt war. Das Telephon befand sich in einem Bauernhause, und als nun die Frau des Hauses – Großmutter Erdmann war’s, warum soll ich sie nicht nennen – von meinem Mißgeschick hörte, nötigte sie mich sogleich in die Stube, bedauerte mich und sagte, die Zustände wären ja gewiß schlimm und müßten den Herrgott im Himmel jammern; aber das wäre ja noch schö- ner, wenn ich hungrig und durstig aus Wahmbeck hinausgehen sollte. So viel hätten sie doch immer noch ... Kurz und gut, Großmutter Erdmann kochte eine gehörige Kanne Kaffee, schnitt von dem schwarzrindigen Roggenbrot sehr ansehnliche Scheiben und bestrich sie in beinah märchenhafter Wei- se dick mit frischer, goldiger Butter. Und ich konnte mich, obendrein noch anhaltend herzlich genö- tigt, köstlich laben. Nicht genug damit, gab sie mir auch noch ein kostbares Vesperbrot mit auf den Weg. – Großmutter Erdmann, das bleibe dir unvergessen!

Wie sehr einem rechten Sollinger die Gastfreundschaft im Blute steckt, erfuhr ich noch im Sommer 1922 in besonders rührender Weise. Ich besuchte den Köhler Heere aus Dassel in seiner Köte hoch droben in den Wäldern und wurde von ihm in der gastfreundlichsten Weise aufgenommen. Er briet Kartoffeln in der glimmenden Kohle, kochte Kaffee und bot alles an, was er in seiner Köte zur Verfü- gung hatte. Freunde aus Dassel und Hellental kamen noch mit Proviant dazu, und wir verlebten einen köstlichen Waldabend, bei welcher Gelegenheit mir dann der Köhler auch seine ganzen Lebensum- stände eingehend schilderte.

Der Köhler lebt wochenlang in der Einsamkeit der Wälder, ohne einmal einen Menschen zu Gesicht zu bekommen, und freut sich darum um so mehr, wenn er unversehens Gelegenheit erhält, Gast- freundschaft zu üben. Einmal kam ein Handwerksbursche durch den Wald daher, müde und hungrig nach dem rechten Wege suchend. Meister Heere lud ihn zu sich in seine Hütte, gab ihm zu essen und zu trinken und beherbergte ihn bis an den anderen Morgen, so daß der „arme Reisende“ frischgestärkt wieder von dannen ziehen konnte. Das unter den heutigen Zeitumständen erstaunliche Vertrauen des Köhlers zu dem wildfremden Menschen war in diesem Falle einmal nicht getäuscht worden.

Zwei sprichwörtliche Redensarten mögen das Kapitel beschließen: Wenn abends spät noch gern gese- hene Gäste kommen, ruft man ihnen zu:

„Je länger de Dag, je schänder de Luie!“

Wenn aber unerwarteter Besuch kommt, der wenig angenehm ist, so heißt es:

„Et is grade, as wenn ’ne Söu int Jä-udenhiuz kümmt (Sau ins Judenhaus kommt).“

Gehen dann solche Gäste endlich wieder, so wird geraten:

„Hänget mant ’n Dörenbusch hindern Wagen, dat se de Spiur nich weer finnet!“

Als sie noch den Branntwein tranken. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wollte ein Bauer aus dem Kreise Uslar nach Amerika ziehen. Es war alles verpackt und verstaut, bloß die große dickbauchige Branntweinskruke noch nicht. Sie ließ sich auch nirgends mehr recht unterbringen, weshalb die Frau sehr lebhaft von der Mitnahme abriet. Da aber wurde der Mann ganz wild und bollerte: „Dei Kriuken sall mee, un wenn döu alle Drüppha- ken äak nech mee kümmst!“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 165

Zu diesem Geschichtchen eine alte Ortsbezeichnung, die uns erklärt, weshalb die Frau so lebhaft von der Mitnahme der Branntweinskruke abriet. In Schoningen bei Uslar nämlich wird eine Stelle vorn am alten Gemeindeplatze genannt „Up ’n Weuiwergramme“ (Weibergram). Es hätte dort, sagt man, in früherer Zeit ein Krug gestanden, der von den Männern so fleißig besucht wurde, daß die Frauen dar- über viel Gram hatten.

Daß die Schoninger jedenfalls im Trinken hinter den übrigen Sollingern nicht zurückstanden, bestätig- ten mir alte Schoninger, die erzählten: Wenn „früher“ – das wird bis um die Mitte des vorigen Jahr- hunderts gewesen sein – von der Arbeiterbevölkerung Kartoffeln gerodet wurden, und man hatte kei- nen Schnaps, half man sich wohl dadurch, daß man einen Sack oder einen halben, soviel einer gerade tragen konnte, nach der nächsten Branntweinbrennerei brachte und in Branntwein umsetzte. Es gab ja damals noch viele kleine Brennereien, z. B. eine für Schoningen leicht erreichbare in Ferliehausen, so daß man es leichter hatte als heute, an die Urquelle zu kommen.

Die Sollinger sind in der Tat immer recht trinkfeste Leute gewesen, und leider war ihr ausschließliches „Nationalgetränk“ der Branntwein.

Einen im Laufe des Jahres oft wiederkehrenden starken Anreiz zum „Püttchen“ gab das alte Gemein- schaftsleben im Dorfe. Kamen die Hausherren nach dem Trommelschlage des Bauermeisters oder Gemeindedieners zusammen, um auf dem Tie oder unter der Dorflinde eine Gemeindeangelegenheit zu beraten, – selten dann, daß nicht zusammengelegt und eine Kanne geholt wurde. Ebenso bei allen Gemeinschaftsarbeiten, wie Köpfen der Gemeindeweiden, Holzhau im Gemeindeholze, beim „Multhucken“-Streuen (Maulwurfshaufen) auf dem Gemeindeanger oder der „Meinte“, oder beim Schneeschippen auf den Gemeindewegen, wie beim Mähen des Gemeindeangers; oder wenn man auf dem Anger gemeinsam hütete, sich Ostern und Pfingsten auch zum allgemeinen Spiel dort versammel- te; desgleichen, wenn im kalten Herbst die Schafe gewaschen wurden,— ja, da ging es gar nicht an- ders, da mußte die Gemeinschaft verkittet werden, indem man zusammenlegte und ordentlich einen nahm.

In Schönhagen grüßten sich die Mäher auf der Wiese, wenn auch scherzhafterweise, mit dem Morgen- gruße: „Brenneweiin!“ – Auf den Mann und halben Morgen kam regelmäßig ein Oort, ein viertel Li- ter, wenn nicht mehr. Ein Mäher in Eschershausen, der spät abends noch die Sense klopfte, antwortete mir auf eine entsprechende Anrede vergnügt: Man müsse früh aufstehen, um sein Liter auszukriegen.

Der bekannte Geheimrat Professor Dr. Post, in jungen Jahren auf einem Gute am Sollinge als Land- wirtschaftseleve tätig, erzählte mir einmal, er wäre an einem frühen Morgen zu den Mähern auf die Wiese gekommen und hätte, als die Sonne in der Harzgegend ausging, auf das wundervolle Natur- schauspiel aufmerksam machen wollen. Die Mäher hätten aber kaum aufgesehen; ja, einer, dem der Gaumen wohl schon ganz ausgetrocknet gewesen wäre, hätte mit einer gleichgültigen Geste geantwor- tet: „Herr Verwalter, geben Se meck ’n Snaps, – un eck will’t meuin Li-ewe nech weer seihn!“ –

In Fohlenplacken, dem kleinen braunschweigischen Sollingsdorfe, werden am zweiten Ostertage in der Kohlenglut des Osterfeuers, über dem zu diesem Zwecke die Asche zusammengehäuft ist, von der ganzen Gemeinde Kartoffeln gebraten und mit Hering gegessen, alles aus freier Faust. Und das einzige Getränk dabei ist natürlich der Branntwein.

Nachhaltig begünstigt wird die Neigung zum Branntweintrinken durch die Beschaffenheit der bäuerli- chen Kost. Während für die Mittags- oder Abendmahlszeit – wenn erstere nicht überhaupt wegfällt, wie im Sommer – vorwiegend gesalzenes Schweinefleisch verwandt wird, besteht das Achtuhrfrüh- stück wie das Bieruhrvesper durchweg aus Wurst und Schinken, die immer kräftig gewürzt sind, – und da verlangt der Gaumen auch immer nach einem herzhaften Trunke. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 166

Ich kann hier wohl ein wenig aus eigener Erfahrung sprechen, denke da vor allem an das Frühstücken mit meinen Holzfuhrleuten. Gar manchmal bin ich in meiner Junglehrerzeit früh um drei oder vier Uhr mit den Bauern den mehrstündigen Weg nach der Holzstelle in den tiefen Solling hineingefahren, und hatte sich dann so morgens bei sechs Uhr ein vortrefflicher Appetit eingestellt, war das Frühstücken mit Wurst und Schinken und selbstgebackenem schwarzrindigen Roggenbrot und einem ordentlichen Schluck aus der rundbäuchigen Branntweinskruke ein Genuß, den nur derjenige recht würdigen kann, der ihn selbst in jener eigenartigen Weise einmal gehabt hat.

Als ich vor Jahren in einer Tagung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke in Münster einen Vortrag über das Wirtshaus aus dem Lande zu halten hatte, versuchte ich das Brannt- weintrinken aus den hier angedeuteten Ursachen und Gründen erklärlich und begreiflich zu machen, kam aber übel damit an. Der extreme Teil der Versammlung wurde fuchsteufelswild und erhob den Vorwurf gegen mich, daß ich ja nicht gegen, sondern für den Branntwein spräche. Es kam so, daß der Vorsitzende der Versammlung, der bekannte Senatspräsident von Strauß-Torney, wohl etwas hätte zur Glättung der Wogen tun können, was er aber, halb und halb in Verlegenheit, unterließ.

Da fügte es sich nun ein paar Jahre später, daß ich mit eben demselben Präsidenten während der Sommerferien zu Neuhaus hoch oben im Solling zusammentraf. Und trotzdem ich ihm noch wegen der Erfahrung in Münster ein klein wenig grollte, verlebten wir doch überaus frohe und vergnügte Tage zusammen. Eines Abends nun gab es in dem Düsterdiekschen Gasthause, in dem wir wohnten, Hüttenkartoffeln mit rohem Schinken und Speck – im Glasofen geröstete Kartoffeln –, eine Art Natio- nalgericht in den Glasmacherorten des Sollings. Es mundete uns außerordentlich gut, und als sich dann ein leises Verlangen nach einem herzhaften Trunke in den Tischgästen regte und die meisten Herren sich ein Gläschen Korn einschenken ließen, fragte ich mein ehrwürdiges Gegenüber – nicht ohne ein bißchen verhaltener Niedertracht –: „Herr Präsident, möchten Sie jetzt lieber ein Glas Limonade oder ein Gläschen Korn trinken?“ Etwas unruhig sah er auf die vielen kleinen Korngläser und entschied sich, während er mir eigentümlich zuzwinkerte, wahrhaftig ebenfalls für ein Gläschen Korn. Es blieb dann aber nicht bei dem einen Gläschen, sondern es wurden –weiß Gott! – drei daraus.

Ich war gerächt, versprach dem ausgezeichneten alten Herrn aber – er war schon über die Siebzig –, von seinem Sündenfalle niemand etwas zu erzählen, habe bis dahin auch Wort gehalten. Wenn wir uns später in Berlin gelegentlich trafen, war immer ein verhaltenes Lächeln zwischen uns. Exzellenz von Strauß-Torney ruht nun im Grabe, und es wird seinem ehrenvollen Andenken gewiß keinen Abbruch tun, wenn ich dies erzähle. –

Ein rechter Krebsschaden war die ständige Trinkgelegenheit im Hause. Denn wie man in den Weinge- genden den Wein saß oder fässerweise im Keller hat, so hatten die Sollinger bis vor dem Kriege viel- fach auch ihr Fäßchen im Hause, dem gegenüber es natürlich sehr verschiedene Grade von Wider- standsfähigkeit gab. Bei Besuchen verstand sich’s von selbst, daß die Begrüßung mit einem Gläschen Branntwein geweiht wurde. Der Hausherr holte sogleich die Branntweinskruke aus der Küchenkam- mer, oder den Branntweinsbuddel aus dem Brotschranke, schenkte ein Stutzglas voll, trank an und reichte es dem Gaste mit dem Worte: „Prost, willkomen!“

Zu der alten Gewohnheit gesellte sich die Meinung, der Branntwein sei für alle Dinge gut. Bei plötzli- chen Erkrankungen galt er allgemein als die erste und beste Arznei, die man ja auch immer zur Hand hatte. „Schüdde man rasch eest emal ’n Sluck in!“ wurde geraten. Stillende Frauen konnte man früher nicht selten mit der Branntweinflasche im Bette finden; meinte man doch, das Kind schliefe, wenn die Mutter Branntwein getrunken hätte, viel ruhiger als sonst. War ein heftig schreiendes Kind nicht zu beruhigen, so wurde der Mutter von Wasen und Weeschen geraten: „Döu mößt mal ’n Sluck drinken.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 167

Anderseits heißt es aber auch wieder: Wenn die Mutter ein Kind an der Brust hat, darf sie keinen Branntwein trinken, sonst wird das Kind einmal ein Säufer. –

Auch die Kuh, die frisch gekalbt hat, bekommt einen ordentlichen Schnaps in den Trank. (Wird übri- gens auch in der Tierarzneikunde empfohlen.)

Der Trunksüchtige oder Trinklustige charakterisiert sich selbst durch ein hübsches Selbstgespräch:

„Feuitchen, wutte Frost leggen? Oder Münneken, wutte Dost leggen?“ – „Münneken, Dost kannste nech eleggen! Feuitchen, denn moßte Frost leggen“! („Füßchen, willst du Frost leiden? Oder Mündchen, willst du Durst leiden?“ – „Mündchen, Durst kannst du nicht leiden! Füßchen, dann mußt du Frost leiden!“)

Einen unverbesserlichen Trunkenbold schilderte man in Eschershausen drastisch wie folgt: Ein An- bauer, der sich als Heckenschnipper betätigte und täglich eine Kanne (zwei Liter) trank, ohne daß man ihm etwas anmerkte, sagte zu seinen Kindern: „Bräatschuld werd nech emaket, willt leiwer ’n kleinen Schluckschen drinken!“ Schickte er seine hungrigen Kinder nach Uslar, so lautete seine Anweisung: „Nöu, gah je nah’r Stadt un langet vor tein Pennige Omenswärte (Ofenschwärze), un dat andere dat wete je! (Das war nämlich der Branntwein.) Un denn läape (lauft) je den Loien nech in ’n Hömen (Hö- fen) rüm, süst meint se, we härren nein Bräat in Hiuse.“ –

Daß das aus dem Branntweinsglase kommende Unheil bei alledem noch immer in erträglichen Gren- zen blieb, ist wahrscheinlich in erster Linie den Frauen zu danken, die im Solling ein strammes Re- giment führen, wohl auch mal mit „insnippen“, wie man sagt, aber dabei immer sehr aufs Schickliche halten und dem fraulichen Anstand selbst in lustigster Geselligkeit so leicht nichts vergeben. Ich habe während vieler Jahre im Sollinge überhaupt nur einmal eine betrunkene Frau gesehen, und das war nicht mal eine Bauersfrau, sondern eine, die sich mit allerlei Handeleien abgab und oft unterwegs war. Auf das strenge Walten der Frau deutet der Seufzer eines Bauern aus Delliehausen hin, dem seine „Alte“ des Trinkens wegen oft schwer zusetzte: „Eck un iuse swarte Kals krei-iget an meisten geschul- len: Dat Kalf, weil ’t nech siupen will, un eck, weil eck te vele siupe.“ –

Wie frohlaunig es im übrigen bei der Branntweinskruke zuging, d. h. wenn mit Maßen – ich meine mäßig getrunken wurde, das tönt uns aus dem eigenartigen Brauch entgegen, der sich in dem gemütli- chen Zusammensein am Tische herausgebildet hat:

„a Mann ’n Vogel un Kasper ’n Bäaukfinken!“ sagt man in Lutterbeck beim Herumtrinken; es bedeu- tet, daß jeder sein Glas austrinken muß. In Schönhagen hörte ich den Prostreim:

„Pröust, mäin Tröust!“ – „Dank, Vedder Ratz, mäin Schatz!“

Allgemein wird das Herumtrinken in vorgerückter Stimmung mit folgenden Prostworten begleitet: A. (indem er B. zutrinken will): „Eck seihe deck!“ B.: „Dat freuet meck!“ A.: „Eck drinke deck täau!“ B.: „Dat däau!“ A. (nachdem er getrunken hat): „Eck häau deck täaue esopen –“. B.: „Denn häste ’n rech- ten dropen!“ – Beim Weiterreichen des Glases klopft man auf den Tisch und schüttelt sich kräftig die Hände.

Wer nicht mittrinkt, bleibt auch außerhalb der Gemeinschaft. In Fredelsloh kommt der Bauermeister an einem kalten Wintertage in das Gasthaus und trifft da einen andern Bauern, der den neuen Pastor Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 168 vom Bahnhofe geholt hat. Es entsteht folgendes Zwiegespräch: Bauermeister: „Na, wo is et denn met iusen niggen Pasteore, passet hei?“ Der andere darauf: „Ja, hei hät underwegs drei Kognaks met meck edrunken.“ Bauermeister: „No, denn passet hei!“

Der Pastor von Fürstenhagen soll einmal gepredigt haben: „Fürstenhagen, bessere dich, sonst kommt Heisebeck über dich! Siebenundzwanzig Faß Schnaps in einem Jahre, das ist doch ein bißchen stark.“ Der Pastor soll aber, wie mir vertraulich versichert wurde, selbst sehr stark getrunken haben, worüber sich die Leute zu seinem Ärger sehr aufhielten. Da hätte er also den Spieß umgedreht und jenen Text in seine Predigt verwebt.

Die Gastwirtschaften des Sollings, die „Krüge“, waren und sind im allgemeinen von guter bäuerlicher Art, sind doch die Krüger fast durchweg Bauern, deren Haupterwerb in der Landwirtschaft liegt. Ein Typ des guten alten Sollingskrügers war z. B. Hermann Grote in Fredelsloh, der regelmäßig um zehn Uhr Feierabend bot. Wollte die Jugend dann noch weiter trinken, sagte er: „Dummen Jungens, gaht nah Hius! Je hewwet moorn jöuen Gröschen nädig enäaug.“ Den älteren Leuten konnte er so grob nicht kommen, ihnen pustete er einfach das Licht vor der Nase aus.

Ich will nichts beschönigen, aber auch nichts schwärzer malen, als es ist, wenn ich nun, zusammenfas- send, sage, daß die Sollinger bei all ihrer Trinkfreudigkeit doch durchweg überaus solide Leute blie- ben. So nachsichtig sie auch immer gegen den Branntwein waren, haben sie sich doch nicht so leicht von ihm zugrunde richten lassen, sondern ihm immer wieder hartnäckigste und unverdrossenste Arbeit entgegengesetzt. Ja, ihren Sehnen voll ursprünglicher und urwüchsiger Kraft konnte der Alkohol so leicht nichts anhaben, er konnte nur leise unterhöhlen.

So wird man aber doch sagen müssen, daß bis Ende des vorigen Jahrhunderts der Branntwein in den Dörfern des Sollings vielfach verheerend, jedenfalls Leben verkürzend gewirkt hat. Manche kraftvolle Männergestalt habe ich früh ins Grab sinken sehen, in einem Dorfe (auf der Weper) geradezu reihen- weise, weil man sich – ohne eigentlich Säufer in dem üblen Sinne des Wortes zu sein – zunichte ge- trunken hatte. Aber alle sind sozusagen in den Sielen gestorben. Sie haben gepflügt und gesät, sie ha- ben gearbeitet, solange sie überhaupt noch ein Glas in der Hand halten konnten. Und immer wieder hat sich der kraft- und saftvolle Volksschlag, diese unmittelbare Nachkommenschaft der alten Cherusker und Sachsen, in neuen blühenden Geschlechtern erhoben, denen nichts von jenen verheerenden Wir- kungen anzusehen und anzumerken ist. Die gütige Mutter Erde hat die alten Sünder in ihren Schoß aufgenommen und die neuen Geschlechter mit neuer Kraft und Fülle ausgestattet.

Um die Wende des vorigen Jahrhunderts hatte übrigens das ausschließliche Branntweintrinken mehr und mehr nachgelassen. Die Entwicklung des Verkehrslebens brachte es mit sich, daß die jungen Ge- schlechter allmählich dem Biergenusse zuneigten, wie auch die Einführung von Obstweinen dem Branntweingenusse Abbruch tat. Der Krieg räumte dann mit den Branntweinfässern in den Bauern- häusern fast völlig auf; auch die Zahl der Branntweinskruken und Branntweinsbuddel verminderte sich wegen der großen Verteuerung des Branntweins sehr rasch. Daß diese jähe Wendung für die richtigen Branntweintrinker hart war, manchmal geradezu katastrophale Wirkungen hatte, wird man sich denken können.

Läßt sich nun auch wohl sagen, daß die „gute alte Branntweinszeit“ für immer dahin ist, so dürfen wir doch nicht glauben, der um das Vielhundertfache verteuerte Branntwein würde nicht mehr getrunken. Die große Geldflut, die über das Land gekommen ist, ermöglicht es ja den Bauern und Arbeitern, auch den teuersten Branntwein zu trinken. Anzunehmen ist aber wohl, daß er allgemeines Hausgetränk wie vor dem Kriege nicht mehr ist und nicht mehr sein wird, wie sich ja auch die alte Gastsitte in den we- nigen Jahren seit der Verteuerung des Branntweins schon merklich geändert hat. Wenn früher der Wirt einen „Kleinen“ brachte (kleines Stutzglas Branntwein), sagte er: „No, säau Prösterchen!“ und trank Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 169 selbst an. Das Unterlassen des Antrinkens empfanden die Gäste wie eine Art Zurücksetzung, und man sagte: „No, döu häst seck woll Gift ebrocht!“ Heute ist das Antrinken nicht mehr üblich; als es neulich in Fredelsloh nach alter Gewohnheit ein Wirt wieder tat, erhielt er das Glas als nicht voll zurück.

In Eschershausen erzählt man sich eine Geschichte, mit der das Kapitel beschlossen sei: Ein Schuster und ein Bauer daselbst hatten sich beim Bränntweinglase gelobt, sie wollten einmal mit Donner und Blitz zum Himmel fahren. Der Schuster starb, und merkwürdig, der mit ihm verschworene Bauer starb einen Tag darauf, und sie wurden zusammen beerdigt. Da wäre dann aber ein Gewitter über Uslar heraufgekommen „met säaun Doondern un Blitzen, as ’t noch keiner in Dörpe erlewet harre“. –

Holzdiebstähle. Holzdiebstähle stehen seit der Revolution in heller Blüte. Es ist aber verkehrt, anzunehmen, wie das vielfach geschieht, daß sie überhaupt erst durch die Schrankenlosigkeit der Revolution hervorgerufen seien. Holzdiebstähle hat es bis zu einem gewissen Grade, wie in allen Waldgebieten, so auch im Sol- linge immer gegeben, wenn auch nicht in dem Ausmaße der neuen Zeit.

Ich habe in dieser Beziehung auch einiges erlebt. Als junger Dorflehrer bezog ich drei Klafter Holz, das Klafter von sechs Fuß Länge, Breite und Höhe, also – 216 Kubikfuß, dazu noch etwa ein Schock Wellen. Das mußte man zeitig bis Johanni herangeholt haben, denn es wurde nur bis dahin von einem gemeinsamen Holzwächter, damals Fritze Brüll in Delliehausen, der von den holzberechtigten Ge- meinden gemeinschaftlich angestellt war, „bewachtet“.

Es waren oft stundenweite Wege, die nicht nur mit Pferden, sondern auch mit Ochsen und Kühen ge- fahren wurden. Trotzdem wurde das Holz für „’n Schaulmester“ immer bereitwillig umsonst gefahren. Ja, und das waren dann in der Regel ganz vergnügte Wege, denn es wurde von den Bauern nicht zu schwer geladen, während der Schulmeister immer tüchtig zu laden hatte, nämlich Wurst und Schinken und Branntwein.

Ein Holzfrühstück so bei 6 Uhr früh im Walde – man war in der Regel schon gegen 3 Uhr losgefahren, gehörte zu den schmackhaftesten Kostbarkeiten der Welt. Auch mir hat es immer köstlich geschmeckt, wenn ich dabei war, und ich war, wie schon erwähnt, oft dabei.

Hatte man nun einmal die rechte Zeit versäumt, so daß man jenseits Johanni seine Klafter laden woll- te, so konnte man gewöhnlich vergeblich danach suchen. Sie waren bereits von anderer Seite aufgela- den, und die Holzfuhrleute suchten dann dem Schaden für „’n Schaulmester“ wieder nachzukommen, indem sie irgendein anderes Klafter aufluden, das von saumseligen Berechtigten noch nicht abgeholt war. Ein zartes Gewissen gab es dabei nicht.

Es konnte einem aber auch passieren, daß man selbst vor Johanni seine Klafter nicht mehr fand. Dann wurde so lange zwischen den Holzschlägen herumgesucht, bis man Fritze Brüll, den Wächter, fand. Er hatte ja für die Klafter aufzukommen und kam auch nie in Verlegenheit, denn er führte einen zu dem nächsten besten Klafter oder wählte solche, deren zuständige Berechtigte nach seiner Erfahrung als sehr saumselig im Holzabfahren galten, jedenfalls doch denselben Tag nicht mehr kommen würden. Fritze Brüll zwinkerte ein wenig mit den pfiffigen Augen, und man verstand: Unter dem Siegel der Verschwiegenheit.

Es gab Kuhbauern auf der Weper, auch sonst in den Grenzorten des Sollings, die fast das ganze Jahr hindurch, wenn nicht gerade zwingendste Ackerarbeit es verbot, in den Solling fuhren, dort ein Klaf- terteil aufluden, soviel die beiden Kühe gerade ziehen konnten, und damit am anderen Tage den gut Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 170 dreistündigen Weg nach Northeim zogen, wo sie das Kluftholz zu den damaligen billigen Holzpreisen absetzten.

Ich mußte mir sagen, daß sie dabei sicher nicht auf ihre Kosten kamen. Aber das war nun einmal eine alte Gewohnheit, von der sie nicht lassen konnten, eine Art Leidenschaft, wie etwa das Wilddieben.

Natürlich wußte jedermann, daß sie so oft nicht nach den Klaftern fahren konnten, die aus ihre Höfe entfielen, wie man denn auch ziemlich allgemein vermutete, daß sie mit dem Holzwächter gut dran wären und die Freundschaft mit ihm durch Erbsen, Bohnen und Speck unterhielten. Wodurch das Holzfahren natürlich noch unrationeller wurde.

Als ich einmal mit einem Kuhbauern von der Weper aus dem Sollinge zurückfuhr, hielt er in der Ge- gend des Strahlenkampes plötzlich an und bat mich, mal ein bißchen auf das Fuhrwerk zu passen. Dann verschwand er mit der unter blauem Kittel verborgenen Axt im Walde, aus dem ich nach einiger Zeit helle Axtschläge erschallen hörte. Mit einem schlanken Jungbaume kam er zurück, guckte um und um und lud den Baum so zwischen das Kluftholz, daß er nicht gerade dem ersten Blicke auffiel. „Eck häau ’ne negge Deuissen (Deichsel) nädig“, entschuldigte er sich dann, als er mir das Leitseil wieder abnahm. Ich sage wohl nicht zu viel, wenn ich sage, daß die neuen Deichseln im Sollinge und um ihn herum großenteils auf diese Weise erstanden wurden.

Bitte, nur nicht so entrüstet, daß man sich aus diesen Holzdiebstählen so wenig ein Gewissen machte! Denn diese „Gewissenlosigkeit“ erklärt sich geschichtlich.

Ehemals waren ja doch die Bauern soweit Mitbesitzer der Holzung, daß sie sich soviel Brenn- und Bauholz hauen konnten, als sie nach der Größe ihres Besitzes brauchten. Diese alte Holzberechtigung wurde im Laufe des letzten Jahrhunderts auf forstbürokratischem Wege immer mehr beschnitten und zurückgedrängt und auf eine bestimmte Zahl von Klaftern begrenzt: Soviel Klafter Kluftholz und so- viel Hausen Wellholz. In den achtziger Jahren wurde dem Bauern aber auch diese so verminderte Be- rechtigung auf dem Verwaltungswege abgesprochen und mit einigen hundert Talern abgelöst. Durch- weg gegen den Willen der Bauern, die durchaus an ihrem alten Erbe festhalten wollten.

„Holzberechtigt“ im Sollinge waren auch sieben Leinedörfer, die mit den Weper- und Sollingsbauern gemeinsam dem Forstfiskus widerstanden und jahrelang einen Anwalt unterhielten, der ihre Sache mit hohen Kosten gegen den Forstfiskus führte. Da diesem aber das Gesetz zu Hilfe kam, so unterlagen schließlich die Bauern und verloren ihre Holzberechtigung.

Das Geld ging durch die Finger, verleitete diesen und jenen zu leichtsinnigem Leben und war jeden- falls nicht von Segen. Welch ungeheuren materiellen Schaden – von den ideellen und idealen Ge- sichtspunkten ganz abgesehen – diese gewaltsamen Holzablösungen für die Bauern des Sollings be- deuten, wird ihnen wohl in dieser Zeit erst völlig zum Bewußtsein gekommen sein, wo die Holzpreise so ins Ungeheuerliche emporgeschnellt sind. An anderer Stelle1) habe ich diesen Prozeß, der nahezu 20 Jahre dauerte, eingehender geschildert und auch den von fiskalischer Seite ins Treffen geführten Grund, daß die Ablösung der Holzberechtigung zur Förderung einer rationellen Waldwirtschaft erfor- derlich sei, näher ins Licht gerückt. Tatsächlich waren ja die Holzberechtigungen bereits so völlig in die Hand der Forstverwaltung gegeben, daß die Berechtigten eine rationelle Waldwirtschaft in keiner Weise mehr hindern konnten. Der Fiskus hatte eben nur seine eigenen finanztechnischen Gesichts- punkte im Auge, handelte also wie ein Privatbesitzer, der sich um höhere Gesichtspunkte nicht zu kümmern braucht.

1) Im ersten Jahrgang der von mir begründeten Zeitschrift „Das Land“ 1893, S. 191 bis 195. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 171

So wird man auch jenen Vorgang nicht allein vom moralischen oder religiösen Standpunkte würdigen können, der mir seinerzeit in Nienhagen auf der Weper verbürgt wurde. Ein dortiger Bauer war bei einem Holzdiebstahle ertappt worden und ins Forstverhör nach Moringen gekommen. Er bestritt den Diebstahl und schwur ihn kurzweg ab. Als nachher mein Gewährsmann, der einer anderen Sache we- gen mit im Forstverhör war, mit dem Falschschwörer dem heimatlichen Dorfe zuging, sagte er zu ihm: „Awer Minsche, wo konnst döu dat eswären?“ „Och, swieg stille,“ darauf der andere, „et was doch mant ’n höltern Aed“1).

Wenn’s Haus abbrennt. Früher hieß es im Sollinge: „Wer sein Haus versichert, der will es anstecken.“ Da war denn nun auch so ein altes baufälliges Haus, das noch aus dem Anfang des sechs zehnten Jahrhunderts stammte, dar- um schon ein Anrecht darauf hatte, morsch und wackelig zu sein. Beim Mühen im Felde klagte der Besitzer, daß er auch wieder am Hause was bauen müsse. Darauf ein anderer: „Ach, wat wutte da noch anne rüm doktern! Dat kostet deck de Welt un werd doch nitz Gescheites mähr. Häst ja doch versi- chert.“ ..

Noch einige Zeit vergeht, da fällt den Nachbarn auf: Die Miste wird rein gefahren. Eines Abends muß der Junge mit dem Vieh auf die Waldwiese und soll vor dem anderen Tage nicht wiederkommen. Der Nachbar fragt, ob sie den trockenen Klee nicht einholen wollten? Er wäre heute an dem Kleestücke vorbeigekommen und hätte gefunden, daß er gerade gut zum Einholen wäre.

„Och nä,“ erwidert der Mann des alten Hauses, „will ’ne huite mant noch stahn laten.“ –

Abends vorher sind schon einige Sachen zu dem Bruder getragen, was aber noch nicht sonderlich auf- gefallen war. Es kommt den Leuten erst zum Bewußtsein, als in der folgenden Mitternacht, während alles in tiefem Schlafe liegt, das alte brackelige Haus in Flammen aufgeht. Es brennt bis aus die Grundmauern ab. Wohl wurden Rettungsversuche gemacht, sie waren aber nicht ernst zu nehmen.

Die ganze Gemeinde hielt sich überzeugt, daß hier Brandstiftung vorlag; aber als nachher die Untersu- chung kam, war aus keinem Menschen etwas herauszubringen. Heute steht auf jener Brandstelle ein großes, stattliches Haus.

Ein Bauer und Gastwirt in dem östlich gelegenen Dorfe T. soll den jungen Leuten am Abend vor dem Brande seines Hauses zugerufen haben: „Mekens, danzet huite mant noch mal orndlich, moren geiht ’t warm af!“ Als in der benachbarten Ortschaft ein Haus abgebrannt war, sagte der betreffende Besitzer zu dem Lehrer, wie dieser mir mitteilte: „’ne Afreuitekasse (Abreißekasse) gif’t doch nech, awer ne Brandkasse ...“

In den letzten 25 Jahren vor dem Kriege sollen in den beiden Dörfern zwölf Brände gewesen sein, die auf gleiche Ursachen zurückgeführt werden; ob mit Recht, muß dahingestellt bleiben. Man ist ja bei diesem Kapitel ganz und gar auf „Hörensagen“ angewiesen und muß darum wohl manche Übertrei- bungen abziehen. Die Gerüchte halten sich auch gewöhnlich nur an einzelne Orte, denen man „so et- was“ leichter zutraut als den Sollingern in der Allgemeinheit. Ich will mich aber hüten, bestimmte Namen zu nennen, wie auch eine Brandkasse, mit der ich über diese Frage korrespondierte, trotz ge- wisser Erfahrungen und Mutmaßungen nicht offen mit der Sprache heraus wollte. In einem Falle, der ein gerichtliches Nachspiel hatte, mußte der Abgebrannte das Brandkassengeld zurückzahlen und eini- ge Zeit „brummen“.

1) „Es war doch nur ein hölzerner Eid.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 172

Ein Geschichtchen, das man sich im nördlichen Solling von Hilwartshausen erzählt, wird wohl den „äalen Vijoileken“ (alten Violen) zuzuzählen sein, die ihren Duft verloren haben: Ein Gendarm suchte bei einem schweren Gewitter Schutz in einer Scheune. Als es nun so recht blitzte und krachte, hörte er plötzlich eine helle Stimme von oben: „Mutter, sall ’ck jetz anstieken?“ –

Beim Brennen des Hauses verschwindet viel Gerät, ohne daß jemand etwas davon zu bemerken scheint; steht aber das neue Haus da, ist auch das verschwundene Gerät bis auf das letzte Stück wieder zur Stelle. Die ganze Gemeinde hält da heimlich zusammen, vorausgesetzt immer, daß der Abgebrann- te sonst ein ordentlicher Mensch ist. Wäre der Hausrat offensichtlich gerettet worden, hätte er aller- dings dafür keine Entschädigung bekommen; während er so das Brandkassengeld einstecken kann und heimlich das Gerät zurückerhält.

Aus gleichen Gründen zeigt man beim Brennen eines alten Hauses auch wenig Neigung, in nach- drücklicher Weise löschen zu helfen; man tut manchmal so, als wolle man retten hilft aber in Wirk- lichkeit dem Einsturz des Hauses noch ein wenig nach. „Wat brennt, dat brennt.“

In lebhafter Erinnerung ist mir eine Gemeindeversammlung geblieben, der ich 1901 beiwohnte. Der Landrat suchte die Gemeinde für den Anschluß an die Wasserleitung zu gewinnen, die von der Kreis- stadt geplant war und durch den betreffenden Ort geführt werden mußte. Aber einzelnen Mitgliedern der Gemeinde wollte das Projekt durchaus nicht einleuchten, so lebhaft der Landrat auch die Notwen- digkeit des Anschlusses begründete und so naheliegend die großen Vorteile waren. Mit Nachdruck wies er darauf hin, daß man insbesondere brennende Häuser vermittels der Wasserleitung viel leichter löschen könne, als das bisher möglich gewesen sei; aber gerade dieser Grund machte am allerwenig- sten Eindruck auf die Querköpfe. Der eine, durch dessen Wiese die Wasserleitung geführt werden mußte, bedauerte sehr, in seiner Gutmütigkeit beim ersten Auftauchen des Projektes bereits seine Zu- sage gegeben zu haben. Nur weil er sein einmal gegebenes Wort nicht brechen könne und nicht bre- chen wolle, solle es bei der Zusage bleiben, obgleich er jetzt gegen die Wasserleitung wäre. Aus mei- nem vertraulichen Verkehr mit den Leuten, durchweg charakterfesten, gradlinigen und gutartigen Menschen, wußte ich, warum gerade dieser so bedeutsame Grund nicht anschlug. Der Landrat kam aber nicht dahinter, und es wird ihm vielleicht heute erst, wenn er, fern vom Sollinge, dieses liest, ein Licht aufgehen.

Ob es nach solchen Erfahrungen nicht sehr zweckmäßig wäre, neben der Brandkasse auch eine Abrei- ßekasse einzurichten? Jedenfalls sollte das betreffende Bauernwort, das mir der Lehrer übermittelte, in dieser Hinsicht zu denken geben.

Übrigens brennt es seit 1914 gutwillig nicht mehr. „Wer will huite noch afbrennen!“ hörte ich in T. sagen.

Die „Hümmelke“. Um 1900 hörte ich in Eschershausen bei Uslar zum ersten Male von der „Hümmelke“ erzählen, einem zitherartigen Musikinstrument, das der Zither in der äußeren Form, wie auch in der Anordnung der Saiten ähnelt, aber von gröberer, ursprünglicherer Natur ist als jene. Von dem brummenden, summen- den Tone der Begleitsaiten, der an das Summen einer fliegenden Hummel erinnert, hat das Instrument den Namen „Hümmelke“ erhalten, wie man im Solling für Hummel sagt.

Ein lustiger Krugwirt in Eschershausen, der, 1777 geboren, die Napoleonischen Kriege als Tambour mitgemacht hatte und wegen seiner lustigen Fabeleien „Fameljäneken“ genannt wurde, soll nach den Erzählungen der alten Leute ein großer Meister im Hümmelkenspiel gewesen sein. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 173

Mancher kehrte nicht nur des Branntweins, sondern hauptsächlich der Hümmelke wegen in seinem Kruge ein, und blieb einer zu lange sitzen, wußte man eigentlich nie, ob der Branntwein oder die Hümmelke schuld daran war.

Eines Wintertages waren drei Sievershäuser bei dem lustigen Hümmelkenspieler eingekehrt, der gera- de eine Auseinandersetzung mit seiner Frau beendete, indem er seine Hümmelke kräftig riß und dazu sang: „Lottchen, du verdienst mir wenig ...“ Mit großer Hingebung hörten die drei Sievershäuser dem summsenden Spiele zu, verfehlten dabei natürlich auch nicht, tapfer zu zechen. Der eine, Schwertfeger Hockschen, war rechtzeitig aufgebrochen, die anderen beiden hatten sich aber noch gar nicht satthören können und waren sitzen geblieben. Erst spät in der Nacht brachen sie bei Sturm und Schneegestöber auf, um aus der von Uslar über den hohen Solling führenden Dasseler Straße heimzuwandern.

O Jemine! Auf dem Spanne, der höchsten Erhebung der Straße, tobte ein derartiges Unwetter, daß ihnen Hören und Sehen verging. Keuchend meinte der eine: „Wören we doch mant met Hockschen nah Hius egahn!“ – „Denn härreste awer de Hümmelke nech ehärt!“ wandte noch ganz begeistert sder andere ein.

Ob der Nachklang der Hümmelke bis nach Sievershausen angehalten hat, konnte nicht mit Gewißheit gesagt werden, ist aber wohl anzunehmen, da die beiden Zechgenossen und Hümmelkenfreunde trotz des furchtbaren Unwetters unversehrt zu Hause angekommen sind.

Ob „Fameljäneken“ das merkwürdige Musikinstrument aus dem Kriege mitgebracht hatte, oder ob es damals im Sollinge noch allgemeiner gebräuchlich war, konnte ich nicht feststellen, wie ich auch das Instrument selbst damals nicht zu Gesicht bekam. Es war, wie mir ein Enkel des Fameljäneken versi- cherte, bei einem Fastnachtsulke verlorengegangen.

Annehmen läßt sich indes, daß die Hümmelke vor mehreren Geschlechtern in der Sollingsgegend noch weiter verbreitet gewesen ist. Ich schließe das daraus, daß ich einige Jahre später in Oberdorf- Moringen an der Weper eine richtige Hümmelke mit einem richtigen Hümmelkenspieler entdeckte. Es ist der heute noch lebende Tischlermeister Adolf Hilke, der die Hümmelke, wie er mir sagte, von ei- nem Leineweber kennenlernte und sich nach dem alten Modell eine neue anfertigte. Er muß das derbe Instrument in seinen jungen Jahren wohl recht tüchtig und recht anhaltend bearbeitet haben, denn sei- ne Mutter, die das Brummsen und Summsen schließlich nicht mehr hören konnte, versteckte die Hüm- melke. Mit knapper Not hielt Adolf es ein paar Tage ohne sie aus; dann horchte er im ganzen Hause herum, wo sie etwa versteckt sein konnte, indem er kräftig mit dem Fuße auftrat. Auf das Stampfen meldete sie sich allemal, und so gelangte er immer wieder in ihren Besitz.

Als ich ihn Ostern 1923 wieder einmal besuchte, war auch die alte Hümmelke bald wieder unter uns, und ich erlebte ein höchst originelles Hümmelkenkonzert, wobei schließlich auch der äußerst talent- volle Sohn auf einer selbstgefertigten Gitarre begleitete. Erwähnt sei noch, daß die Länge des Instru- mentes etwa 1 m, die Breite 30 cm und die Höhe des Resonanzkastens etwa 10 cm beträgt1).

Daß nun die Hümmelke etwa ein nur dem Sollinge eigentümliches Musikinstrument ursprünglicher Art gewesen sei, ist nach meinen weiteren Nachforschungen nicht anzunehmen. Ich sehe vielmehr in ihr ein altes bäuerliches Musikinstrument, das in früherer Zeit in Norddeutschland einer allgemeineren Verbreitung sich erfreute.

1) In der „Gartenlaube“ (1922, Nr. 31) habe ich Meister Hilke mit seiner „Hümmelke“ auch bildlich wiedergege- ben. (Zeichnung von A. Nolte.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 174

Das geht auch aus einem Artikel hervor, den Gadso Weiland im Jahrgang 1900/01 der Zeitschrift „Niedersachsen“ auf Seite 132 veröffentlichte. Es heißt da u. a., daß die Hummel noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Schleswig—Holstein vielfach im Gebrauch war. Man tanzte danach, ließ aber auch im Gottesdienste die Choräle damit begleiten. Die Saiten sollen mit einer Federspule gerissen sein. Nach einem anderen Artikel, den Julius Johannsen in der Schleswig-Holsteinschen Monatsschrift „Die Heimat“ (Kiel), 26. Jahrg. Nr. 1, veröffentlichte, besitzt das Museum Vaterländischer Altertümer in Kiel zwei Exemplare, deren eins aus der Gegend von Kellinghusen stamme. Johannsen selbst hat eine „Hummel“ auf der Insel Amrum aufgetrieben, die sich heute im Flensburger Museum befindet. (Siehe auch Kück u. Schönhagen, Heidjers Tanzmusik. Berlin. 2. Aufl., S. 12.)

Die alten Hirten. Bald nach Ostern setzte der Austrieb der Gemeindeherden ein. Die Weidezeit begann. Schon vor Ostern erschien der Kuhhirt in den Stallungen und schnitt den Kühen die spitzen Enden der Hörner ab, um zu verhüten, daß sie sich gegenseitig verletzten. Dafür mußte ihm jeder Bauer zu Ostern drei bis vier Eier liefern.

Als noch die Glanzzeit der Hirten war, gab es auch eine besondere Hirtentracht, die mir Großmutter Ohlen in Fredelsloh also beschreibt: Schwarze Kniehosen mit Knöpfen und Schleifen, blaue Rei- fenstrümpfe, Schnallenschuhe, langer weißleinener Schoßrock mit rotem Futter (Tuch) und Silber- knöpfen, sowie breitkrempigen schwarzen Hut. Dazu trugen sie einen langen Stab mit Messingbe- schlag.

Der Kuhhirt trieb gewöhnlich morgens um vier schon aus, und da mußten die Mädchen gar sehr auf der Hut sein, um nicht den Austrieb zu versäumen und dem Dorfgespött zu verfallen. Denn der Lang- schläferin galt das Lied, das der Hirt alle Morgen blies:

Wer so ein faules Gredel hat, Kann der wohl lustig sein? Sie schläft ja alle Morgen, Morgen, Bis daß die Sonne scheint Und der Gänsehirte treibt.

Der Vater aus dem Bett aufstand, Das Gredel, das schlief noch. „Schlaf du nur, Tausendteufel, Teufel, Unser Hirt ist schon im Wald, Unsre Kuh steht noch im Stall.“

Das Gredel aus dem Bett aussprang, Den Eimer in die Hand, Sie tät das Kühlein melken, melken Mit der ungewaschenen Hand, Ist das nicht eine große Schande?

Als sie nun gemolken hat, Da gab sie Wasser zu, „Nun sieh doch, lieber Vater, Vater, Soviel Milch gibt unsre Kuh, Sieh, das macht die lange Ruh.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 175

Drauf nahm sie’s Kühlein an die Hand Und führt es in den Wald. Sie tut das Kühlein jagen, jagen, Jagen in den grünen Wald, Bis daß sie den Hirten fand.

„Ach Hirt, ach Hirt, ach lieber Hirt, Was hab ich dir getan, Daß du nicht jeden Morgen, Morgen Blasest vor meiner Tür: Schönes Gredel, komm herfür?“

„Gifst diu meck desine Bottermelk Und seute äauk datäau, Denn will eck jeden Morgen, Morgen Blasen vor desiner Dür: Schönes Gredel, komm herfür!“

Um sieben Uhr trieb der Gänsehirt aus, der in Fredelsloh ein irdenes Horn blies und eine Stange mit einer roten Fahne führte. Der „Swän“ folgte um ein halb zehn Uhr morgens, indem er mit einer kurz- stieligen und langschwänzigen Peitsche, die er um den Kopf schwang, mächtig klappte.

Die Musik, die der Kuhhirt vermittels seines Blashorns durch das ganze Dorf ertönen ließ, hatte eine bestimmte Tonreihe, der folgende Worte untergeschoben wurden:

„Mäken, lat de Käue öut, döu bist auk meiine beste Bröut!“

Bis zum Jahre 1892, als mit der Forstablösung alle Hirtenromantik aufhörte, wurden Schweine, Kühe und Schafe ins „Holz“ getrieben und innerhalb einer bestimmten Grenze gehütet. Die Schafe durften nicht in den „Bestand“, sondern nur auf offene Weide, die „Blumenweide“. Die Kühe wurden nach bestimmten Regeln in den Bestand gelassen; so mußte z. B. eine junge Anpflanzung 60 Jahre ruhen, ehe das Vieh hinein konnte.

Auch die Pferde durften früher im Walde weiden; die Gemeinden hatten bestimmte Pferdeweiden, zum Beispiel auf dem Moosberge, wo Hackelberg begraben liegt, einen großen Pferdekamp. Dafür haben die Berechtigten bei der Forstablösung dann Grund und Boden bekommen.

Schönhagen und Cammerborn durften auch ihre Ziehochsen in den Wald treiben, was den Eschershäu- sern nicht gestattet war. Eschershausen, Vahle, Sohlingen und Uslar hatten überhaupt keinen bestimm- ten Weidefleck, konnten überall hüten, weshalb sie auch schlechter abgefunden sind als die Schönhä- gener und Cammerborner.

Von Kreuzerhöhung (14. September) ab gingen die Pferde aus Eschershausen nach dem Jägeranger an dem oberen Hennekenbache, der wohl dem Fiskus gehört haben muß, weil Erbzins dafür zu zahlen war.

Natürlich gab es auf dieser Pferdeweide auch Pferdehirten. Aber erst vom 14. September ab wurde ordnungsmäßig gehütet. Mitternachts um 12 Uhr begann ein großes Wettjagen zwischen den Knech- ten. Wer zuletzt kam, mußte „einen“ ausgeben, oder er kriegte Prügel. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 176

Von dieser Zeit ab sollten auch die Kühe nicht mehr in den Wald gehen, sondern auf die Wiesen ge- trieben werden; in der Regel wurden jedoch zwei Wochen zugegeben, weil die Eschershäuser Eigen- weide für Kühe hatten; und wo nicht überall! Am Moosberge, auf dem Spann, am neuen Teiche im Steinigen Loche, auf der Franzosenallee (der alten französischen Heerstraße), am Viereichenberge, in der Eichenwassergrund, dem Bärenbruche, der Hahnenbreite, auf dem Hülsebruche im Ilmetale herun- ter, in der Speerbergsgrund hinauf, in der Breiten Grund, in der Fahrengrund, am Lümckerstrang, an der Spitzen Buche, am Ulenhol – das waren so die gemeinschaftlichen Weiden für Eschershausen, Vahle, Uslar und Sohlingen. Sie wurden später alle für Geld abgelöst. Als – so erzählt man – der alte Dörnte bei diesen Ablösungsverhandlungen den Forstrat Müller bat: „Herr Forstrat, lassen Sie uns doch so!“, antwortete der: „Nein, wir wollen was verdienen, sonst gäben wir uns ja nicht solche Mü- he.“

Uslar hatte bei dem jetzigen Forsthause Steinborn einen besonderen Rinderstall mit Hirtenwohnung. Das Jungvieh, das im ganzen Sommerhalbjahr draußen blieb, erhielt die hintere Weide, das Milchvieh die vordere, so daß es nach Hause kommen konnte. Die Schoninger Jungviehweide war in Bremke, einem Waldwiesentale zwischen Stehberg und Eichenzuschlag. Es gab eine besondere Milchstelle, wo der Hirt pünktlich sein mußte, wenn die Frauen und Mädchen zum Melken kamen. In einem Waldtale bei Schoningen heißt der betreffende Ort im Volksmunde heute noch „Melksti’e“, Milchstelle.

Der Hirt blieb das ganze halbe Jahr draußen, schlief unter den Bäumen oder in verlassenen Köhlerhüt- ten. Die Gemeinde war übrigens auch gehalten, besondere Hirtenhütten zu bauen, wozu die Forst das Holz zu liefern hatte. Jakobi jedoch mußte der Hirt mit dem Milchvieh nach Hause kommen. Auf dem Haibrockshügel war der Stumpf einer Doppelbuche zu einem „Hundenappe“ ausgehöhlt. Heute noch wird die Gegend, wo sich der Hundenapf befand, bezeichnet: „Be-in Hunnenappe“. Den Kindern pflegte man zu sagen, jener Hundenapf wäre von Natur so gewachsen.

In Lauenberg wurden die Milchkühe nicht geweidet, sondern nur die Rinder, mit denen der Hirt am ersten Mai austrieb und erst zu Michaelis wieder zurückkehrte. Die hauptsächliche Weide war die „Heerstraße“, eine lange breite Straße, die sich von Lauenberg bis vor Vahle hinzog. (Angelegt von Erich von Braunschweig-Lüneburg, bildete die Straße die Verbindung zwischen der Lauenberger und der Uslarer Burg, auf denen die Verweser (Drosten) des Herzogs wohnten.) Lauenberg genoß die Weideberechtigung bis zum sogenannten Blumengarten an der Grenze der heutigen Oberförstereien Seelzerturm und Knobben. Wie weite Flächen der Weide dienten, läßt sich annähernd den Erzählun- gen der alten Leute entnehmen. Danach hätte man früher von der Lauenberger Bergweide bis nach Vahle bei Uslar, bei klarem Wetter sogar den Herkules bei Cassel sehen können. Dort oben auf der Weide hatte der Hirt seine Köte, in der er auf offenem Feuer in einem am verstellbaren Haken hän- genden Kessel sich sein Essen selbst bereitete. Die Nahrungsmittel wurden in der Regel wöchentlich zweimal von seinen Angehörigen hinaufgebracht. Die Rinder kannten ihre Übernachtungsstelle bei der Köte und kamen abends allein dahin zurück. Mitunter irrte wohl auch ein Rind von der Herde ab und verwilderte, so daß es schließlich erschossen werden mußte. Das erste Austreiben und Einholen der Herde im Frühling war immer ein Fest, an dem das ganze Dorf Anteil nahm, indem es Hirten und Rin- der reichlich mit Blumen schmückte.

Die Schweine durften im Winter nicht ins Holz, sondern erst vom 1. Mai an und nicht länger als bis 1. August, dann gehörten sie wieder ins Feld. In der Mast wurden die Schweine vom 1. Oktober ab wie- der in den Wäldern zugelassen, wofür aber besonders bezahlt werden mußte. Man unterschied Vier- telmast, halbe und volle Mast. Für volle Mast war ein Himpten Hafer an die Rentei zu liefern. Die Forst handelte mit den Gemeinden, ob es Viertel- oder volle Mast gewesen sei. So hat der alte Dörnte einmal nur einen Mühlenkopf (7 1/2 Pfd.) gegeben, weil nur so wenig gewachsen war. Bei halber oder voller Mast konnte man weiden, wo man wollte, auch nachts, es gab also keine Grenze. Freilich mußte Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 177 dann die Gemeinde noch ein oder zwei Leute stellen, die dem Hirten zu helfen hatten, damit er schla- fen konnte. War nur eine Viertelmast, so vereinbarte die Gemeinde gewöhnlich mit dem Hirten, daß er’s mit seinen eigenen Leuten zwang. Der Hirtenlohn bestand aus reinem Roggen: acht Malter Rog- gen der Schweinehirt und neun Matter der Kuhhirt. Wohl in jedem Dorfe war ein Hirtenhaus, in dem die Familien der Hirten wohnten. Ein gutes Stück Gartendienstland gehörte dazu, wie es auch an son- stigen Vergünstigungen nicht fehlte.

Vor allem gab es freies Holz und völlige Abgabenfreiheit. War der Hirt zugleich Nachtwächter, so wurde er dafür noch besonders bezahlt, ebenso wie für mancherlei andere Nebenverdienste: Der „Swän“ hatte die Ferkel „iuttesneggen“ (auszuschneiden), der Kuhhirt in den Ställen nachzusehen; was alles seine guten Groschen, auch manches Frühstück oder Vesper einbrachte. Dazu kam das „An- seggen“, wenn eine Kuh oder Sau belegt war, was gewöhnlich fünf und zehn Pfennig eintrug. Nicht zu vergessen die Opfer der Festtage, die dem Hirten aus jedem Bauernhause ein breites Kuchenstück einbrachten. Wer das schlechteste und kleinste gab, wurde „anneteiket“ (angemerkt).

Daß die Hirten auch die tierärztliche Praxis ausübten, lag ja so in der Natur der Sache. JM Sommer sammelten sie Kräuter aller Art, wie Arnika, Kümmel, Rainfarren, Christwurz, Kamille, Tausendgül- denkraut, Heideckern usw., und trockneten sie. Im Winter gingen sie dann von Stall zu Stall und gaben den Tieren Gewürz und Salz. Auch besprachen sie die Krankheiten der Tiere, wozu sie besonders ge- heimnisvolle Sprüche verwandten. Wenn zum Beispiel die Kälber sich verfangen hatten, ging man ihnen nur mit einem solchen geheimnisvollen Spruche zu Leibe. Hitzige Kühe wurden zur Ader gelas- sen. Vom Rotlauf (Breunige) befallene Schweine wurden geheilt, indem man die Ohren durchbohrte, eine Christwurzel hineinsteckte und in den Schwanz schnitt. Kaum ein Schlachtefest gab’s, zu dem nicht auch die Hirten eingeladen wurden. Der „Swän“ bekam die „Swänswost“ (aus dem verkrüppel- ten Darmende am Magenausgange gemacht). So nahmen die Hirten auch an den abendlichen „Woste- zoppens“ teil, in denen die Schlachtefeste früher allgemein gipfelten.

Geschickte Hirten verschafften sich einen weiteren Erwerb durch Schnitzen des hölzernen Küchenge- schirrs, wie der „Löppel“1) und „Sleiwe“, sowie durch Flechten von Wannen und Körben, oder auch durch Besenbinden.

Kurzum, die Hirten standen sich alle gut, konnten sich auch meistens eine Kuh halten und „haben sich alle Geld gemacht“, zumal wenn sie mit den Leuten auch „’n bißchen gut prahlen konnten“ und sich um das Vieh besorgt zeigten.

Manchmal freilich erhielt die Harmonie, die in der Regel zwischen Hirten und Bauern bestand, einen jähen Riß, wie z. B. in folgendem Falle:

Am Sonntag nach Kreuzerhöhung hütete der Eschershäuser Hirt am Jägeranger, und der Bulle des Bauermeisters, dem der Hirtenhund wohl zu arg zugesetzt hatte, brach ein Bein, so daß er ihn auf dem Wagen ins Dorf holen mußte. Natürlich ist der Geschädigte nicht bester Laune und schimpft den Hir- ten gehörig aus. Der aber zuckt nur mit den Achseln und sagt: „Mein Gewissen beißt mir nicht!“ – „Ja“, darauf der Bauermeister, „de Hund hät ’ne betten!“

Gestreift sei noch das eigenartige Verhältnis der Hirten zu den Wilddieben und Förstern. „Häste kei- nen Föster eseihn?“ „Nä!“ – „Häste keinen Wilddeiw eseihn?“ – „Nä!“ – Die Hirten waren ängstlich vor den Wilddieben, die sich für einen Verrat gelegentlich leicht dadurch rächten, daß sie ein Stück Vieh erschossen. Und mit den Förstern wieder durften die Hirten es nicht verderben, weil das Vieh,

1) Zinnerne Löffel wurden zu der Zeit – also bis weit in die siebziger Jahre – nur Festtags gebraucht. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 178 wenn sie lagen und schliefen, oft genug über die Grenze ging. Den Schaden hatte dann nicht die Ge- meinde, sondern der Hirt zu bezahlen. Übrigens wurde mir noch versichert, die Hirten seien die Wild- diebe meistens selber gewesen. „Unsere Urur- und Urgroßväter waren auch waschechte Wilddiebe“, versicherte mir eine Fredelsloherin von altem angesehenen Hirtenstamme.

Wie Großmutter von Ohlen noch zu erzählen wußte, pflegte der Lauenberger Kuhhirt für die jungen Mädchen, die im Sommer zum Melken gingen, einen vom Bast befreiten weißen Birkenreiserbesen mit Stiel und roter Schleife anzufertigen, den er am Pfingstmorgen an einem Ende des Pfingstangers aufstellte. Lustig kamen die jungen Mädchen herbei und veranstalteten barfüßig ein Wettlaufen nach dem seltsamen Besen. Wer die Erste wurde, bekam ihn.

Der Forstverwaltung war natürlich die alte bäuerliche Weideberechtigung ein Dorn im Auge, und sie setzte sich über sie hinweg, indem sie Teile der Weideflächen anpflanzte. Vor allem bot der um den Sollinger Wald sehr verdiente Forstmeister Christian von Seebach seinen ganzen Einfluß und alle sei- ne Machtmittel auf, um die alte Berechtigung, die die rationelle Waldkultur erschwerte, immer mehr einzuschränken und dann ganz zu beseitigen. Auf geraden und krummen Wegen suchte man das Ziel zu erreichen. (Siehe „Bulle von Uslar“ im zweiten Bande: „Tchiff tchaff toho!“) Wohl lehnten sich die Weideberechtigten gegen die immer größer werdenden Einschränkungen auf, und es kam nicht selten vor, daß die von der Forst auf den Weideflächen gemachten Anpflanzungen heimlicherweise wieder ausgerissen wurden. Aber Fett schwimmt oben, und die Forstverwaltung konnte eines Tages trium- phieren: Die alte Berechtigung wurde gegen gewisse Entschädigungen an Grund und Boden aufgeho- ben, und die breiten Triften, die dem Sollinger Wald ein so eigenartiges Gepräge gaben, wurden forst- lich bepflanzt. Die Verkoppelung der Feldmarken hatte eine ähnliche Wirkung, indem sie die Gemein- heiten und damit auch die schönen alten Weidegelegenheiten in den Feldmarken beseitigte.

Die Hirtenromantik war dahin, das Vieh blieb in den Ställen, und die Hirten mußten sich einen ande- ren Wirkungskreis suchen. Die Hirtenhäuser wurden allgemeine Gemeindehäuser oder zum Verkauf gestellt, oder sie – brannten gutwillig ab, wie z. B. in Lauenberg, als dort 1905 das Feuer mit den alten Häusern überhaupt aufräumte. –

Aber die Kultur- und Wirtschaftsentwicklung bewegt sich zirkelweise fort, wie uns insbesondere die Kriegsjahre gezeigt haben. So manches ist wiedergekommen, was wir längst erstarrt und erstorben glaubten. Auch das Vieh geht wieder auf die Weide, nachdem man es jahrzehntelang in die dunklen Ställe gebannt hatte. Allein was einst die Hirten machten, das machen heute die Hürden.

Schäfer Mahlmann, der „Prijadekommandeur“ des Sollings. An anderer Stelle habe ich schon einmal getreu nach dem Leben einen „General“ aus dem Sollinge geschildert. Das war der „General Schwartenhauer“1). Nun möge einer daran kommen, der in seiner Art nicht weniger ein General war als jener. Ich meine den Schäfer Mahlmann, der seinen Standort lange Jahre in Eschershausen bei Uslar hatte. 1825 in dem Sollingsdörfchen Gierswalde geboren, wo sein Vater Schäfer war, wurde er nach der Regel, daß der Junge nichts Besseres und nichts Schlechte- res werden solle als der Vater, ebenfalls zum Schäfer ausersehen. Beim Vater hatte er ja schon alle Vorkenntnisse für den Beruf erhalten; nichtsdestoweniger mußte er noch eine ordentliche Lehre durchmachen, kam daher zu einem Schäfer in Ferliehausen als Schäferknecht. Da hat er, wie man ihn oft erzählen hörte, erst jeden Abend einen „Lopp“ Garn spinnen müssen, ehe er zu den Spinnmädchen gehen konnte. Es war nämlich dazumal Mode, daß die Knechte das dickhedene Garn spannen.

1) Siehe die Erzählung „Wie General Schwartenhauer zu einem Bauernhöfe kam“ in „Die hinter den Bergen“, S. 237 (Berlin Deutsche Landbuchhandlung). Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 179

In Ferliehausen kommandierte aber noch ein zweiter General dieser Art, und wie es denn die Natur der Dinge so mit sich bringt, herrschte zwischen den beiden Kollegen kein sonderlich gutes Einverneh- men, man neidete einander die guten Plätze. Eines Nachts nun liegt der andere mit seiner Herde oben auf dem Berge, d. h. der Schäfer liegt in seiner Hütte, als der junge Mahlmann heimlich hinzukommt und die Karre losmacht, so daß sie vom Berge hinuntersaust. Mit diebischer Freude pflegte Mahlmann diese Geschichte zu erzählen.

Nach seiner Lehrzeit Soldat in Hildesheim geworden, brachte er es wegen seiner Willigkeit und An- stelligkeit sehr bald zum Burschen beim Leutnant. Natürlich wußte er auch aus dieser bedeutsamen Zeit immer lebhaft zu erzählen, erzählte aber immer so, als wäre er der Leutnant gewesen. In Steuer- wald waren einmal zwei gefährliche junge Hengste, die keiner hatte bändigen können. „Mott Mahl- mann mal rup!“ hieß es da. Und er machte es, kriegte die beiden Ungetüme aufs frisch gepflügte Land und jagte sie so lange „herum und hendum“, bis die beiden schwarzen Tiere schneeweiß geworden waren. „Fa, de Schaper was ’n ganzen gefiährlichen Kiärl!“ Wollte er sich später bei einer besonderen Gelegenheit noch mehr hervortun, hörte man ihn mit starkem Ausdruck sagen: „Weil eck up ’n Steu- erwalle de gefiährlichen Hengste reen häau ...!“

Zu gleicher Zeit stand Ellermeyer, damals der erste Bauer von Eschershausen, als Soldat in Hildes- heim, und beide wurden gute Kriegskameraden. Dieser Kameradschaft hatte Mahlmann es auch zu danken, daß er bald nach seiner Dienstzeit zum Gemeindeschäfer von Eschershausen berufen wurde.

Die Schäferei war um jene Zeit noch überall in festem Schwunge; doch gab es in Eschershausen nur vier „Schafherren“ (oder Stabberechtigte), die den alleinigen Nutzen der Schafhaltung, den Hürden- schlag hatten, dafür freilich auch für alles sorgen mußten. Die andern Eschershäuser waren nur „unter- triftsberechtigt“, konnten also ihre Schafe mittreiben, ohne Anspruch auf Hürdenschlag zu haben. Was dies Privilegium der Schafherren bedeutete, drückte Mahlmann in dem Sprüchlein aus:

„Dat Schap hät ’n güllen Fäaut, Wo et hentrett, da werd et gäaut.“

Daß Mahlmann mit der Schäferstelle Eschershausen keinen schlechten Griff getan hatte, werden wir gleich sehen, wenn wir uns die damals noch herkömmlich üblichen Einkünfte vergegenwärtigen: So erhielt er von den vier berechtigten Schafherren alljährlich 14 Schafe ausgefüttert, dazu einen „Hun- deplack“, d. h. für zwei Taler gedüngtes Kartoffelland, etwa 1/4 Morgen. Ferner einen Scheffel Lein gesät, von jedem Stabberechtigten eine Metze; außerdem eine Metze Sommersaat zu öl, damit er seine „Lüchte“, die er zum nächtlichen Revidieren der Ställe brauchte, hellhalten konnte. Weiter standen ihm zu: 6 Scheffel Roggen, 5 Scheffel Gerste, 1 Metze Erbsen und 1 Metze Salz, letzteres eigentlich für die Schafe, die aber gewöhnlich nichts davon gekriegt haben sollen. Mit Recht sagte einmal eine Frau, es fehlten bloß noch die Kaffeebohnen, dann hätte er alles.

Dabei haben wir noch längst nicht alles gehört, was zu Mahlmanns Einkommen zählte: Mußten doch die vier Schafherren während des Winterhalbjahres für ihn auch Mist, Laub und Holz fahren; ferner standen ihm im Herbst vier Nachthürden zu. Zu diesem allen kamen die Einkünfte aus der Untertrift: 75 Pf. bar für jedes Schaf, nicht eigentlich für das Hüten, sondern für das Schmieren und Nachsehen. Wer von den Untertriftigen viel Schafe hatte, etwa 10 bis 40, fütterte dem Schäfer auf je 10 ein Schaf durch. Aus gutem Willen verstanden sich manche auf ein oder ein paar Schafe mehr; hatte Mahlmann doch oft an 200 bis 300 eigene Schafe. In diesem Herdenbesitz steckte der eigentliche Vorteil und Reichtum des Schäfers, zumal er nie recht zu kontrollieren war. Wurde im Herbst „aufgestallt“, hatte Mahlmann immer die besten Lämmer, und merkwürdig, nie krepierte eins, das ihm gehörte. Was ein- ging, gehörte immer den Berechtigten und Untertriftigen. Er brachte das Fell hin, und sie konnten Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 180 nicht sagen, daß es ihr Lamm nicht gewesen wäre; sie kannten ja ihre eigenen Schafe und Lämmer nicht, aber Mahlmann kannte sie.

Nun, so etwas mußte man ihm schon zugute halten, denn er war ein Mann, der sein Fach verstand wie einer.

Auch als Lehrmeister erfreute Mahlmann sich eines außerordentlichen Rufes. Die Schäferhunde, die er aufzog, waren berühmt, wie er selber mit Recht sagte, „dor den ganzen Sollg“. Kein Wunder, wenn wir hören, daß er seine Hunde sogar Französisch lehrte. Zum Beispiel kommandierte er auf Franzö- sisch: „Firmelaputt!“1) Das hieß: „Türe zu!“ – Einen sehr tüchtigen Hund verkaufte er für 10 Taler. Der Käufer brachte ihn jedoch nach einigen Tagen wieder, da er nichts mit ihm anfangen könne. Un- willig sagte Mahlmann: „Bist ’n Lapperjäneken dor den ganzen Sollg! Kumm mal her, eck will deck emal de Prijade vorföhren.“ Dabei guckte er nach der Tür seiner Karrenhütte, guckte den Hund an und legte los: „Firmelaputt!“ – Ja, siehst du, man muß ihm nur richtig kommen! Schon hatte der Hund die Tür zugemacht.

„Ja,“ sagte kleinlaut der Käufer, Französisch könne er aber nicht. Worauf Mahlmann beruhigte, sein Hund könne natürlich auch Deutsch. Und nun wolle er ihm erst die „Prijade“ mal richtig vorführen. Er sah auf die weitauseinandergezogene Herde, seine „Prijade“, sah den Hund an und kommandierte: „De ganze Prijade sall stahn“! Der Hund hatte ihm schon das Kommando vom Munde genommen, sauste wie ein Wind dahin, und die ganze Schafherde stand sofort da in strammer, gerader Front. Mit leuch- tenden Augen kam der Hund zurück, um den Eindruck festzustellen, den die Sache gemacht hatte. „Stah stille, Tewe!“ gebot Mahlmann, und der Hund stand wie angewurzelt. „Gah vorup, Tewe!“ und der Hund ging schlank vorauf. – „eck will deck garnich sein!“ Und der Hund ging de- und wehmütig nach der Seite ab. – „Gah drei Fohren betthen!“ Wahrhaftig, der Hund zählte ganz genau drei Furchen ab und blieb in der dritten gespannt stehen. „Ganze Prijade an ’n Bodden (Boden)!“ Da streckte sich der Hund in der Furche lang.

Nun sah Mahlmann, in dessen gutmütig schlauem Gesichte alle Züge unverändert geblieben waren, den erstaunten Käufer an und sagte: „Ja, so in Schaper is ’n ganzen tirpen Kiärl!“ (Das Eigenschafts- wort „tirpen“ hatte er selbst gebildet, es kam sonst im ganzen Sollinge nicht vor.) „Kumm mal her,“ wandte er sich wieder an seinen Hund, „döu mäaust deuinen Hären gefiährlich an der Hand licken.“ Das tat der Hund denn auch, ohne gerade gefährlich zu werden, – und der Käufer zog wieder befrie- digt mit ihm ab.

Selbst als Lehrmeister für Schäferknechte hatte unser Kommandeur seinesgleichen nicht. Alle Schäfer, die bei ihm gelernt hatten, waren gesucht, denn sie verstanden nicht nur das Hüten und Schmieren, sondern auch das Handeln, wie weit und breit keiner. Und das wollte schon etwas sagen. Im Handel pflegte er seinen Lehrjungen sogar ordentliche Unterrichtsstunden zu geben, die meistens in die stille Winterzeit fielen. Einer, der einer solchen Unterrichtsstunde einmal beigewohnt hatte, gab mir ihren Verlauf folgendermaßen an: Der Junge mußte hinaus auf die Diele und wie ein Fremder anklopfen. Mahlmann: „Herein!“ – Junge: „Gun Dag, Heinrichvedder!“ – „Gun Dag, Hansmann!“ (Hansmann hieß der von Lauenberg herkommende Schafhändler.) „Nümm deck Platz.“ – „Heinrichvedder, eck woll gärn Lämmere käuipen.“ – „Kannste käuipen.“ – „Wat söllt se kosten?“ – „’t Paar tein Daler.“ – „Dei will’ek gieben“ – sagt der Junge.

Eine Ohrfeige aus Mahlmanns nicht zu knapper Hand zeigte ihm an, daß er nicht richtig gehandelt hatte. „Wutte mal riut! Firmelaputt! seggt de Franzose, mäaust met Anstand komen!“

1) fermez la porte! – Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 181

Der Junge also wieder hinaus, kommt abermals herein und bietet nun zwei Taler weniger, als der Heinrichvetter gefordert hatte. Da klopft Mahlmann ihm wohlwollend auf die Schulter und lobt, so wäre es richtig.

Man wird diese Lehrlings- oder vielmehr Handelsschule erst richtig zu würdigen vermögen, wenn man in Betracht zieht, wie eng der Schafhandel mit dem Schäferberufe sich berührte. So stand auch Mahl- mann natürlich immer im Mittelpunkte des Eschershäuser Schafhandels. Die verkauften Schafe hatte er gewöhnlich nach Ottbergen zu bringen, von wo sie dann weiter nach Belgien kamen. „De Schaper is ’n ganzen gefiährlichen Kiärl dor den ganzen Sollg, von Belgien bett nah Ottbergen!“ lautete darum eine andere seiner eigensten Redensarten.

Gewöhnlich hatte er aus der Rückkehr ganz gehörig einen gefaßt, wie der Schafhandel, zumal mit dem „Weinkauf“, überhaupt nie trocken verlief. Leider war er nicht die einzige Gelegenheit im Schäferbe- rufe, sich innerlich zu begießen. Welche reichen Anlässe dazu bot nicht allein die Schafwäsche! Sie wurde in dem „Schaperkolk“ bei Eschershausen vorgenommen, den die vier Schafherren instand zu setzen hatten. Vor dem Kolke war ein Schütt, wozu die Hintertür aus einem Hause der vier Berechtig- ten verwandt wurde. Sollten die Schafe gewaschen werden, nahmen die vier Herren die Hintertür des Ellermeyerschen Hauses aus und luden sie auf die Karre, die Mahlmann nach dem Kolke hinauf fuhr. Bevor das Waschen begann, mußte man natürlich erst ordentlich einen nehmen, damit die Leute in dem kalten Wasser „Hitze kriegten“; und während des Waschens wie nach dem Waschen wurde eben- so natürlich immer wieder nachgegossen, damit die Hitze nicht ausging.

Und wie manche Gelegenheit, zu einem guten Schlucke zu kommen, gab es nicht den langen Winter hindurch ging Mahlmann mit der Schmierkanne in der Rocktasche auf die Höfe. Er wußte immer Be- scheid, wo geschlachtet wurde, und hatte dann stets dort auch die Schafe nachzusehen. Da kam es wohl kaum vor, daß er nicht hereingenötigt wurde, zum Leberfrühstück oder zum „Biukstücke“ (Bauchfleisch) und sauern Kohl; und mußte er auch immer erst ein bißchen genötigt werden, worauf er anstandshalber hielt, so ließ er sich dabei doch die Rockschöße nicht abreißen. Wo er erst einmal war, da war er auch ein dauerhafter Gast; er „wämmelte“, wie einer sagte, mit seinen langen Rockschößen während des ganzen Schlachtefestes in der Stube herum und trank reichlich, natürlich Branntewein, mit dem ja beim Schlachtefeste nicht gespart werden durfte. Der Ellermeyerschen war das viele Trin- ken ärgerlich, und so hatte sie einmal die Schluckflasche über die Seite gebracht. Als Ellermeyer kurz nachher Gewürz aus dem Schranke kriegen will, meint Mahlmann, er wolle die Flasche suchen, und ruft ihm zu: „Da bleuif mant weg, Minsche, da steiht se nich, da häau’ck alle täau sein!“ –

Auch bei sonstigen Festlichkeiten fehlte er selten und trug mit seinen Döneken, Redensarten und lusti- gen Einfällen immer das meiste zur Unterhaltung und Erheiterung der Gäste bei.

Mahlmann wird geschildert als ein großer, starker Mann, „strack wie ein Talglicht“. Er trug Winter und Sommer einen breitkrempigen Hut von dickem Filz, einen langen grauen Beiderwandsrock, der bis über die Knie fiel, und lange Stiefel, die ihm bis an den Leib gingen. Sein Gesicht war pfiffig und bieder und immer glatt rasiert. Einmal beim Schlachten sollte er einer fünfhundertpfündigen Sau so auf die Bürsten gepackt haben, daß der Schlachter, als die Sau blank war, noch alle zehn Finger sehen konnte. Es mochte wohl so arg nicht sein, und der Schuster erzählte es zum Spaß; aber Mahlmann glaubte selbst fest daran und triumphierte: „Häst ’tehärt, wo stark de Schaper is? Ja, ha, de Schaper hät gefiährliche Fingerkräfte!“

Als er einmal mit dem kleinen Pierotz, einem Sattler aus Uslar, in Streit geriet, donnerte er ihn an: „Harenkamp, Harenkamp, Pröpping bleibt Meister!“, faßte über den Kopf des Sattlers und zog den ganzen Kerl mit der einen Hand am Hosenboden umgekehrt in die Höhe, wobei diesem, der in der Mühle Treibriemen geflickt hatte, das beigefummelte Leder aus den Rockschößen fiel. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 182

In Gierswalde, seinem Geburtsdorfe, waren nämlich in seiner Jugendzeit zwei Spinnradmacher, Ha- renkamp und Pröpping, die in ihrem Handwerk miteinander wetteiferten. Da hätte denn einmal einer den Harenkamp gestachelt: „Harenkamp, Harenkamp, Pröpping bleibt Meister!“ Dies Wort gehörte zu Mahlmanns Leibworten und wurde bei allen entsprechenden Gelegenheiten, abwechselnd mit dem „gefiährlichen Kiärl“, ins Treffen geführt.

Im übrigen war Mahlmann nichts weniger als gewalttätig. „Eck sin gäaut – frag Ellermeyern,“ sagte er stets, wenn er einen im „Timpen“ hatte, und sein Kriegskamerad stellte ihm ein gutes Zeugnis aus. Daß er kein Unrecht sehen konnte, hätte ihm in einem Falle beinahe das Leben gekostet. Im Walde hatte sich eine Zigeunerbande gelagert, und Mahlmann sah, wie ein Zigeuner seine Frau erbärmlich prügelte. Da mußte er doch der Frau zu Hilfe kommen und schlug mit seinem Schlickerhaken auf den prügelnden Zigeuner, daß er von der Frau abließ. Nun aber standen alle Zigeuner mitsamt der geprü- gelten Frau gegen ihn auf und schlugen ihn trotz seiner mächtigen Gegenwehr halbtot.

So leicht war Mahlmann auf solche Weise jedoch nicht totzukriegen, und er lebte vergnügt weiter. Er war, was nicht unerwähnt bleiben darf, auch so eine Art Wunderdoktor, besprach das „wilde Foier“, das Verfangen und anderes mehr, indem er mit heimlichem Lispeln über die kranke Stelle strich. Die Frauensleute gingen deshalb besonders gern zu ihm. Sein Mittel, womit er alles kurierte, was nicht gerade durch Besprechen besser werden wollte, war der Spiritus, von ihm „Posaner“ genannt. Alles rieb er damit ein, Menschen und Vieh, und Spiritus hatte er darum immer zur Stelle.

Leider kriegte ihn selbst mit der Zeit der Spiritus mehr und mehr unter, und leider trugen die Leute im Wirtshause das Ihrige dazu bei, um ihn zum Trinken noch besonders zu reizen. Er hatte immer so kunstvoll mit verkehrter Hand trinken können. „Dat kannste nich mähr!“ sagte dann wohl einer, wor- aus Mahlmann ihm sofort bewies, daß er es noch konnte. Indes stellten sich immer mehr Ungläubige ein, und Mahlmann bewies ihnen seine Kunst so lange, bis er vom Stuhle fiel. „Das Umdrehen mit der Hand war nicht schlimm, aber das Austrinken,“ hörte ich einen Bauern sagen, als mal wieder von Mahlmann die Rede war. Mit den Jahren ist es dann sogar so weit gekommen, daß seine Frau ihn manchmal auf der Schubkarre von den Schafen hat wegholen müssen. Hätte er nicht so kluge Hunde gehabt, würde er den Schaden gar nicht haben bezahlen können, den die Schafe gemacht hätten. „Dat ale Sweuin is alle weer dieke!“ sagte die Frau, wenn sie ihn auf der Karre heimholte.

Auf einer Hochzeit wollte er eine Rede halten, stieg auf den Tisch und stieß mit dem Kopfe derart unter den Balken, daß er rücklings in den Hirsebrei fiel. Da rief er seine beiden Hunde Fips und Wip- per, die mit auf der Hochzeit waren, und sie mußten ihn wieder blanklecken.

Auch im Singen war er ein Meister, er konnte „gefiährlich hoch“ singen; ja, er konnte ganz großartig tirolerisch jodeln: „Läteldijüdeljüdeljü!“ Angetrunken, setzte er sich gerade auf den Stuhl, schlug sich vor die Brust und jodelte: „Lätelälä–jüdeljüdeljü!“ Und er nahm’s nicht leicht, wenn er sang, sondern strengte sich immer „gefiährlich“ an, wie mir noch versichert wurde. Sein Lieblingslied aber war:

„Es trieb ein Schäfer seine Herde wohl aus, Truderalla, truderallilallila, Er trieb sie dem Edelmann wohl vor sein Haus, Der Edelmann der schaute zum Fenster heraus, Truderalla usw. Und bot dem Schäfer einen schönen Grauß. Herr Edelmann, lassen Sie doch mir mein Leben, Truderalla usw. Ich will Sie auch zwanzig Lämmelein geben. Zwanzig Lämmelein, das ist ja für den Edelmann kein Geld, Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 183

Truderalla usw. Schäfer, du mußt sterben, wenn mir’s gefällt – – –“

Ach ja, und dieser Natur- und Kraftmensch ist, 68 Jahre alt, elend an Schwindsucht gestorben.

Sein Gedächtnis ist aber bis heut im Solling noch nicht erloschen. „Säau’n Schaper werd nech weer jung,“ hört man sagen, wenn wieder mal die Rede auf ihn kommt.

Auch erinnert gelegentlich noch eine sprichwörtliche Redensart an ihn: „O weih, wei (wir) sind ge- schlagen von A bett Z, seggt Mahlmann, as hei noch li-efte.“

Töpferweisheit. „Welches ist das älteste Handwerk?“

„Das Töpferhandwerk! Denn als der liebe Gott den Adam machen wollte, mußte er vorher schon Ton kneten.“

„Hat der liebe Gott schon eine Drehscheibe gebraucht?“

„Nein, sonst würden die Menschen noch verdrehter geworden sein, als sie sind.“

Das sind einige Fragen, die in dem Töpferexamen, das gelegentlich des Pfingstbieres der Fredelsloher Töpfergilde zwischen Altgesellen und Junggesellen abgehalten wurde, der alten Überlieferung gemäß gestellt zu werden pflegten.

Das am Ostrande des Sollings gelegene große Acker- und Töpferdorf Fredelsloh ist ohne Zweifel das bekannteste Dorf des Sollings, weit und breit von altersher bekannt und berühmt durch seine glorrei- chen Töpfereien, die in den Tonlagern der Feldmark ihre natürlichen Existenzbedingungen fanden, auch heute noch finden, soweit sie noch im Betriebe sind. In der Blütezeit des deutschen Handwerks, im 13. oder 14. Jahrhundert entstanden, wie man annimmt, haben sich die Töpfereien frühzeitig zu einer Innung oder Gilde zusammengeschlossen, die von dem Landesfürsten besondere Vorrechte er- hielten. Solche Rechte wurden im Jahre 1529 der Fredelsloher Töpfergilde von Herzog Erich dem Jüngeren1) feierlich bestätigt.

Ein altehrwürdiges Handwerk, das seinen Ursprung im Paradiese hat, ist also die Töpferei. Ihre Glanz- zeit war, als noch jeder deutsche Bauer und Handwerker seinen hölzernen Löffel in eine irdene Schüs- sel tauchte. Da gab es zu Fredelsloh Töpfereien in großer Zahl, und da wimmelte der Ort sozusagen von Meistern, Gesellen und Lehrlingen. Unter ihnen auch immer einige größere oder kleinere Philoso- phen waren, die die Sprüche erdachten oder ausfindig machten, mit denen Teller und Näpfe nach alter Weise beschrieben und geschmückt wurden. Um jene Zeit war eine in aller Welt bekannte Erschei- nung der „Pöttekiärl iut Frehlse“2). Mit schwerbepackter Keïpe, aber leicht beschwingten Herzens, wanderte er oder wanderte sie – denn der „Pöttekiärl“ konnte auch ein „Pötteweiif“ sein – über Berg und Tal den nahen und fernen Dörfern und Städten zu, Haus für Haus die vielgestaltigen, buntbe- druckten Schalen, Bütten, Kruken, Kannen und Kümpe feilbietend. Ein kärglicher und mühseliger Verdienst war es nach unserer heutigen Anschauung, aber es lebten doch viele Familien schlecht und recht davon, und die neuzeitlichen Fredelsloher Tonwarenverkäufer sprechen von jener Zeit beinahe

1) Handschriftliche Notiz im Buch: „Älteren“.

2) Dem berühmtesten derselben, August Sommer, dessen außerordentlicher Mutterwitz noch in aller Munde ist, gedenke ich im zweiten Bande ein Denkmal zu setzen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 184 schon wie von einer goldenen Zeit. Denn sie ist nun längst dahin, und „Pöttekiärls“ und „Pötteweiiwe- re“ gibt es heute nur noch wenige. Die stolz vorwärtsschreitende Zivilisation hat die Bauernküchen revolutioniert und die schlichten Fredelsloher Tonwaren außer Kurs gesetzt. Das Verhältnis der Töpfe- rei zur Zivilisation läßt sich als ein umgekehrtes bezeichnen: Je größer diese, desto geringer jene. Im- merhin hat diese Entwicklung doch nicht so radikal abgeschlossen, wie es in den achtziger Jahren schien, als ich mich zum ersten Male mit diesem Thema befaßte, mit den Fredelsloher Töpfern in Füh- lung trat und in den Bauernküchen der umliegenden Dörfer nach ihrer Philosophie forschte. „Philoso- phie“? Nun, es gibt wahrhaftig eine solche, die freilich nicht in Büchern, sondern in Tellern in ureige- ner Töpferschrift niedergelegt ist. So besitze ich aus jener Zeit eine ansehnliche Sammlung von Sprü- chen und Knüttelversen, in denen sich eine hausbackene Lebensweisheit, ein echter religiöser Sinn, eine feine Satire, aber auch eine derbe Spottlust bekundete. „Die Töpfer sind die Satiriker und Philo- sophen des Alltagslebens“, habe ich in meinen damaligen Aufzeichnungen bemerkt. Nicht alle Sprüchlein, aber gewiß die meisten sind von ihnen selbst ersonnen; ab und zu haben sie auch Anleihen bei unserem guten alten Sprichwörterschatze gemacht und Strophen aus alten Liedern verwendet, wenn diese ihrem besonderen Zwecke entsprachen. Die Absicht dabei war, auf den Käufer in dieser oder jener Weise einzuwirken, die Sprüche sollten den Verkauf erleichtern, wie das in der Tat auch der Fall war. Der Vers reizt zum Kaufe des Tellers, wie im Buchladen der Titel zum Kaufe des Buches. Ich fand aber mitunter auf diesem oder jenem rauchgeschwärzten Teller oder Becken auch Inschriften so derben, um nicht zu sagen zotigen Inhalts, daß mir, zumal in der rauchigen Küche, fast die Augen überliefen. Als ich mein Erstaunen darüber äußerte, wie solche Sprüche in das Haus gekommen seien, erhielt ich die Erklärung, daß manchmal so ein „Pöttekiärl“ aus Übermut und Schabernack einer alten keifenden Frau, die schwache Augen hatte, einen frommen Spruch vorlas, ihr aber einen Teller mit einem haarsträubenden Spruche unterschob. Zu Schaden kam er deshalb in der Regel nicht, denn man war in solchen Dingen nicht gar so empfindlich. Der Wechselbalg erregte gewöhnlich im Hause all- gemeine Heiterkeit, und wenn der Pöttekiärl wiederkam, wurde ihm wohl lustig gedroht, aber doch neue Ware abgekauft, nur daß man sich dann die Sprüche genauer ansah. Spaß muß sein, sagte der Teufel, da kitzelte er seine Urgroßmutter mit der Heuforke.

Hier nun eine Auswahl der Töpfersprüche:

Vom Töpferhandwerk. Mit Gott und mit der Zeit verricht’ ich meine Arbeit. – Aus der Erde und mit der Hand macht der Töp- fer allerhand. – Von Erde bin ich ein Topf gemacht, wenn du mich brichst, der Töpfer lacht. – In der Hölle ist es heiß, und der Töpfer schafft mit Fleiß. – Ohne Bier und Branntewein möchte ich kein Töp- fer sein. – Zerbräche die Magd keine Töpfe, was würde aus dem Töpferstand? Arbeiten doch Gottes Geschöpfe einander geschickt in die Hand. (Rückert.) – Pötte, Aäppe, Breuimen, wer se nech köfft, lett’t bleuimen.

Frommer Sinn und Lebensweisheit. Sing’, bet’ und geh’ auf Gottes Wegen, Gebet und Arbeit bringt Gottes Segen. – Alles vergeht, Gottes Liebe besteht. – Ohne Gottes Gunst ist unser Tun umsunst. – Betrug und Lüge hilf mir mein Gott von ganzem Herzen hassen. – Gott muß es schicken, wenn es soll glücken. – Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut. – Mit Gott will ich in allen Sachen den Anfang machen. – Kaiser, König, arm und reich, vor Gottes Thron sind alle gleich. – Hin geht die Zeit, her kommt der Tod, o Mensch, tu recht und fürchte Gott. – Lieber Sand und Land verloren, als einen falschen Eid geschworen. – Glück und Glas, wie leicht bricht das. – Im Takte fest, im Tone rein soll unser Tun und Sinnen sein. – Wie die Rosen gehen auf, so ist unser Lebenslauf. – Alles bricht und alles fällt mit dem Leben in der Welt. – Die Morgen- stund’ hat Gold im Mund; wer die versäumt, der geht zu Grund’. – Wer weit will gehen, muß früh Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 185 aufstehen. – Arbeite treu und glaube fest, daß Faulheit ärger ist als Pest. – Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb’ in Ewigkeit.

Die Liebe. Wenn das Mädchen spinnen kann, fängt es auch das Lieben an. – Ich liebe dich so fest und treu, wie die Katz’ den heißen Brei. – Ich liebe, was fein ist, wenns auch nicht mein ist. – Liebe mich allein, sonst lass’ das Lieben sein. – Rosen und Nelken blüh’n und verwelken, aber wie Immergrün soll unse- re Liebe blühn. – Blümelein, Vergiß nicht mein. Es wächst unter deinen Tritten ein Tal von Blumen schön und dicht. Und ich erwähle aus der Mitten ein liebliches Vergißmeinnicht. – Keine Rosen ohne Dorn, keine Liebe ohne Zorn. – Schönheit kann die Augen füllen, aber nicht den Hunger stillen. – Im Himmel ist noch Platz für mich und meinen Schatz. – Liebst du mich, so lieb ich dich, doch du darfst nicht untreu werden. – In dem schönen Rosengarten will ich meinen Schatz erwarten. – Alle Mädchen auf der Erden wollen gerne Frauen werden. – Alles, alles liebet sich, ich allein bleib’ überig. – Rosen blühen viel auf Erden, aber ohne Dornen nicht, Mädchen, willst du glücklich werden, vergiß Gott und die Tugend nicht. – Lieben und geliebt zu werden, ist das größte Glück auf Erden. – Das allerärgste auf der Erden, ist eine alte Jungfer zu werden. – Ist die Mutter gut von Sitten, magst du um die Tochter bitten. – An einem Myrtentopfe stand: Diese Blume ist feil für eine Jungfrau, die nicht fiel. – Drei Rosen auf einem Stiel, reine Jungfern gibt’s nicht viel.

Ehe- und Wehestand. An der Mutter Brust liegt das Kind mit Lust. – Meine Frau ist gut und schöne, doch singt sie oft zu hohe Töne. – Meine Frau ist lobenswert, sie hütet sich vor dem Feuerherd. – Meine Frau, die kleine, schläft nicht gern alleine. – Meine Frau heißt Lisebeth, ich wollt’, daß ich ’ne andere hätt’. – Einen Stock von Weißendorn, der ist gut für Weiberzorn. – Lieber will ich ledig leben, als dem Weibe die Hose geben. – Da ist eine große Pein, wo die Weiber Meister sein. – Der Mann ist töricht und ver- rückt, der seine Hose selber flickt. – Wenn dem Bauern Frauen sterben, ist’s für ihn noch kein Verder- ben; wenn die Pferde ihm verrecken, ist’s fürwahr ein großer Schrecken. – Wenn die Weiber waschen, backen, haben sie den Teufel im Nacken. – Wenn die Flöh’ die Weiber necken, dann gibt’s bald ein ander Wetter. – Wenn die Weiber Branntwein trinken, tanzen sie wie Distelfinken!

Vom Essen und Trinken. Unser täglich Brot gib uns heute. – Zum Essen und zum Trinken lass’ ich mir gerne winken. – Wie ist mir doch so wohl, wenn ich was essen soll. – Füll’ auf, iß auf, das ist der beste Lebenslauf. – Wer seinen Leib will tüchtig laben, muß dieser Näpfe viere haben. – Brock’ in, frett ut! – Der Braten steht im Ofen, laß nur kommen meinen Schatz. – Mutter, back den Kuchen fertig, die Esser sind schon da. – Unser Knecht, der grobe Knoll, nimmt den Löffel gar zu voll. – Mein Kind, iß deine Suppe bald, ge- sünder ist sie warm als kalt. – Gemüs’ und Fleisch bekommt nur der, der seine Suppe aß vorher. – Magst du nicht Fleisch, so iß Fisch, oder mach’ dich von dem Tisch. – Doktor Martin Luther spricht: „Wasser tut es freilich nicht.“ – Kann es etwas Schön’res geben, als ’n guten Schnaps im Leben? Kirsch und Kümmel, Minze, Rum, wer das nicht mag, ist wahrlich dumm! – Alle Morgen Brannte- wein, macht die großen Taler klein. – Die Kart’ und die Kanne, machen zum armen Manne. – Ich ko- che, was ich kann, was die Sau nicht frißt, das frißt mein Mann.

Mahnung zur Sparsamkeit. Ein Mann ohne Geld ist halbtot in der Welt. – Junges Blut, spar dein Gut, Armut im Alter wehe tut. – Ein jeder strecke sich nach der Decke. – Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert. – Herren und Narren rauchen Zigarren. – Wenn du willst den Kuchen teilen, nimm das Messer und nicht das Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 186

Beilen. – Wer will borgen, komme morgen. – Tanzen, Kartenspiel und Wein reißen oftmals Häuser ein. – Es spielen sich eher zehn arm als einer reich.

Verschiedenes. Wer nicht will betrogen sein, halte das Haus von Juden rein. – Unsere Magd, die faule Hur, schläft alle Morgen bis sieben Uhr. – In der Still’ und in der Ruh’ bringe deine Tage zu. – Gleich der Sonne hel- lem Blick umstrahle dich stets reines Glück. – Ohne Sorge, ohne Plage erlebe viele frohe Tage. – Wer früh aufsteht, der viel verzehrt, wer lange schläft, den Gott ernährt. – Lust und Liebe zum Dinge macht Mühe und Arbeit geringe. – Ein Esel und ein Pferd sind beide Reiters wert. – Der reiche Mann ist im- mer froh und denket nicht an Lazaro. – Der Mensch ist eine Blume im Garten des Lebens.

Die Fredelsloher Töpfergilde betätigte in ihrer Blütezeit eine; wahre Fülle von Sitten und Bräuchen, wie sie auch ihre eigenen Feste feierte. Man könnte ein ganzes Buch darüber schreiben. Ich kann diese Aufgabe aber einem guten Freunde überlassen: dem aus Fredelsloh gebürtigen Lehrer A. von Ohlen in Kassel, der tiefer eingeweiht ist als ich und sich mir gegenüber auch bereit erklärt hat, sein reiches Material herauszugeben, sobald es die Verhältnisse im Verlagsbetriebe gestatten.

Bäuerliche Rangunterschiede. (1900.)

Meine diesjährigen Sommerferien verlebte ich wieder in Eschershausen unter 10 Ackerleuten (Titel: „Ackermann“), 5 bespannten Kötnern („Großkötner“), 16 unbespannten Kötnern („Kleinkötner“ und „Brinksitzer“), 5 Anbauern und ungefähr 15 Häuslingen. Die Bedeutung dieser bäuerlichen Rangun- terschiede läßt sich am besten klar machen an der Auseinandersetzungsberechnung über die Ablösung der althergebrachten „Holzberechtigungen“. (Das mir vorliegende Schriftstück datiert vom 3. Juni 1893.) Danach entfallen von dem Brennholzablösungskapitale: a) auf einen Ackermann (mit 8 1/2 Klafter Bezug) =1276,80 M. b) auf einen bespannten Kötner, Großkötner (6 1/2 Klafter Bezug) ... = 976,38 M. c) auf einen unbespannten Kötner, Kleinkötner und Brinksitzer (4 1/2 Klafter Bezug) ... = 675,95 M. d) auf einen Anbauer (3 Klafter Bezug) ... = 450,64 M.

Unter unbespannten Kötnern oder Kleinkötnern, auch Brinksitzern sind die Kleinbauern zu verstehen, die nicht mit Pferden oder Ochsen, sondern nur mit Kühen ackern. Unter den Kleinkötnern und Brink- sitzern wird aber noch wieder in folgender Weise unterschieden: Wenn ein Kleinkötner mit Ochsen oder Pferden wirtschaftet, was ja hin und wieder vorkommt, so steht ihm noch der Bezug von Deich- seln und Wagenleitern zu; diese Vergünstigung wird dem Brinksitzer, auch wenn er mit Kühen oder Pferden ackern sollte, abgesprochen. In der Auseinandersetzungsberechnung wird noch ein besonderer Fall angeführt. Danach hat der Kleinkötner Wilhelm Klages die Berechtigung zum Brennholzbezuge gleich einem bespannten Kötner mit 6 1/2 Klafter beansprucht, weil er seit einer Reihe von Jahren bespannt sei. Fiskus hat den Anspruch zwar bestritten, aber anerkannt, daß Klages seit einer Reihe von Jahren zwei Stück Spannvieh gehalten, wonach ihm ein erhöhter Anspruch zustände. Unter Zugrunde- legung einer 30jährigen Durchschnittsbezugszeit und unter Annahme, daß Klages 7 1/2 Jahre Spann- vieh gehalten, gebühre ihm 1/4 des Mehrbezuges einer bespannten Kötnerstelle gegenüber einer unbe- spannten, das ist gleich 1/2 Klafter.

Auf einen ganzen Ackerhof kommen durchschnittlich 100 bis 120 Morgen Acker und Wiese. Man unterscheidet aber auch zwischen ganzen und halben Ackerhöfen; letztere haben nur etwa 60 Morgen, doch besteht im übrigen kein Unterschied. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 187

Die Großkötner besitzen in der Regel 50–60 Morgen, die Kleinkötner durchweg 20, die aufstrebenden Brinksitzer etwa 10, die Anbauer 3–4 Morgen. Die Häuslinge haben mit einzelnen Ausnahmen kein eigenes Land, doch Gelegenheit genug, Land billig zu pachten, einmal weil ein ganzer Ackerhof von 120 Morgen in einzelnen Morgen verpachtet ist, sodann auch, weil des Tagelöhnermangels wegen manche Bauern gern einen Teil ihrer Acker meistbietend verpachten.

Es sind 25 Kuhbauern im Dorfe, die alle mehr oder weniger Ackerland oder Wiesen zugepachtet ha- ben. Diese Kuhbauern sind größtenteils aus den früheren Tagelöhnern hervorgegangen, gehen heute nicht mehr zu den Bauern in Tagelohn, sondern, soweit ihnen Zeit übrig bleibt, lieber als Holzhauer in den Wald. Auch die Häuslinge sind meistens Holzhauer, die im Walde natürlich mehr verdienen kön- nen als bei den Bauern. Eine Bauersfrau äußert sich: Hätte man früher mal im Garten was zu tun ge- habt, so wären die alten Frauen gleich angekommen und hätten für ’n Topf Milch oder ein Stück Speck gern geholfen; heute käme kein Mensch mehr.

Unter den kleinen Leuten herrscht heute (1900) ein allgemeiner Wohlstand.

Bei der letzten Wahl wurden 15 sozialdemokratische Stimmen abgegeben; doch habe ich im Orte nichts von Sozialdemokraten oder überhaupt einer sozialdemokratischen Stimmung gemerkt. Auf meine Nachfrage erfuhr ich, daß die 15 sozialdemokratischen Stimmen erst in der Stichwahl zum Vor- schein gekommen seien; es wären dieselben Stimmen, die bei der ersten Wahl auf den welfischen Kandidaten fielen. Also aus sozialpolitischen Gründen dürfte hier kaum eine sozialdemokratische Stimme gefallen sein. –

Durch die eben hier bewerkstelligte Verkoppelung sind die letzten gemeinsamen materiellen Grundla- gen der alten Rangeinteilungen gänzlich beseitigt. Eine bedeutsame alte soziale Dorfeinrichtung ist damit ins Grab gesunken; denn fortan werden alle Lasten und Leistungen nach der Steuerliste berech- net; nur der „Ziegenbock“ wird noch nach der alten Weise abgefüttert. Der Ackermann „kriegt“ ihn 7 Tage, der Großkötner 5 Tage, der Kleinkötner und Brinksitzer 3 Tage, der Anbauer 2 Tage, der Häus- ling 1 Tag. Der „Ziegenbock“ ist nämlich der 76jährige Insasse des Armenhauses, dem wir –gleichsam als einem Sinnbild böser Vergangenheit – noch ein besonderes Plätzchen einräumen wollen. (Siehe S. 199.)

In Volpriehausen – um die Rangstufen noch durch ein Beispiel zu ergänzen – wurden die Reihebe- rechtigten unterschieden: Vollmeier, 200 Morgen mit Schafweide. Halbmeier (Ackerhof), etwa die Hälfte des Vollmeierhofes. Großkötner, wenn der Vollmeierhof in etwa drei Teile ging, unter die auch die Weideberechtigung verteilt wurde. Großkötner etwa 60 Morgen, Kleinkötner 40 Morgen. Mitunter wurde von einem Hofe für einen zweiten oder dritten Sohn ein kleiner Hof mit einem Stück Reihebe- rechtigung abgeteilt, was sonst in der Regel nicht geschah. Der hieß dann Brinksitzer. (Brink: auf dem Rand des Dorfes.)

Die Anbauer bezahlten keine Steuern, wurden aber später zur Steuer herangezogen, jedoch ohne Stimmrecht.

Ein Hof konnte früher nur mit Genehmigung der Gemeinde verkauft werden; versagte sie die Zerstük- kelung, mußte man ihn im ganzen verkaufen.

Ein altes „vierblättriges Kleeblatt“. Als es im ganzen Sollinger Walde noch keine Raiffeisenkassen, keine Sparkassen, keine Molkerei- Genossenschaft, keine Volksbibliothek und dergleichen Wohlfahrtseinrichtungen gab, fand sich in einem Dorfe bei Uslar jenes vierblättrige Kleeblatt, das ich hier etwas näher beschreiben will. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 188

Heute müßte man lange suchen, um ein solches Blatt an einem und demselben Orte ausfindig zu ma- chen; ich glaube, es fände sich keins, – und so dürfen wir diese vier alten „Britten“, die das Kleeblatt ausmachten, ruhig schildern, ohne befürchten zu müssen, daß die Lebenden sich davon getroffen füh- len.

1. Der rote Düker. „Eck sin de rare Düker“, pflegte er zu antworten, wenn man ihn „rae“ (roter) Düker rief. Er wollte damit sagen, daß er ein ganz rarer, seltener Vogel wäre, und das traf in der Tat zu. Er war der Sohn und der Erbe des größten Bauern im Dorfe, fing es aber, zur Herrschaft gekommen, um- gekehrt an wie sein Vater. Der hatte durch Fleiß und Sparsamkeit und durch zweckmäßigen Zukauf sein Gut immer mehr vergrößert und gut, instand gesetzt. Der Sohn ließ es wieder drauf gehen, ritt statt ins Feld am liebsten nach Uslar, wo er sich tagelang herumtrieb, ohne nach Hause zu kommen. Er hatte die Eigentümlichkeit, in jedem Satze, den er sprach, die Silbe „sen“ einzuschalten; so fragt er einmal beim Glase am Wirtshaustische: „Wat is sen woll better, wer sen tauköfft, oder wer sen ver- köfft?“ Die guten Freunde sehen ihn an: „Wo meinste dat?“ Er antwortet: „Meuin Vader hät sen tau- köfft un eck verkäp sen.“ Gefällig antworteten die Zechgenossen: „No, wat kann woll better seuin, as wenn einer verkäpen kann!“ Also wer verkaufen könne, stände sich natürlich am besten.

Das hatte der rote Düker gerade hören wollen, triumphierend schlug er auf den Tisch: „Dat meuin eck sen awer äauk!“ – Und verkaufte bei der ersten besten Gelegenheit wieder einen Morgen. Dabei stieß er zu seinem Glück auf die Schwierigkeit, daß er nur das Zugekaufte wieder verkaufen konnte, da der alte Bestand des Hofes nach dem Gesetze bleiben mußte.

Zwei Frauen hat der ebenso rare wie rote Mann gehabt, und das war ihm auch nicht zum Glück gera- ten, denn hätte er die erste behalten, die tüchtig war, würde es mit ihm nicht so weit bergab gegangen sein. Die zweite war schluderig und ließ es gehen, wie es ging. „Sä-u ’n äalt Mümpel!“ schalt er sie aus vollem Halse, und „Mümpel“ war denn auch bald ihr Spitzname im ganzen Dorfe.

Das Ende vom Liede war, daß er sich in der Luke am Balkenseil erhängte. Als seine Frau ihn hängen sieht, jammert sie immerzu: „Meuin leiwe Hennigen, meuin leiwe Hennigen (Heinrich)!“ Der alte „Kreitger“ bindet ihn los, hält ihn aber erst noch am Seile fest und läßt ihn bammeln: „Nöu salle äauk eest emol ’n Jägerschottschen danzen!“

Der Hof kam dann unter den Hammer, und der aufwachsende Sohn mußte sich als Dienstknecht ver- dingen. Er hat es schließlich noch zum Fuhrunternehmer gebracht, aber wenn er von dem verlorenen väterlichen Hofe erzählte, standen ihm allemal die Tränen in den Augen.

2. Fettköthers Fischer. Er war der zweite im Bunde, hieß Fischer und hatte in Fettköthers Haus gehei- ratet, weshalb er dann Fettköthers Fischer wurde. Der Hof, in dessen Besitz er durch die Heirat gelangt war, rangierte als „ganzer Ackerhof“ und war in gutem, einträglichem Zustände. Umsonst wurde ja auch der Schwiegervater nicht „Kräaumensäuker“ (Krumensucher) genannt. Fettköthers Fischer war aber in allen Stücken das Gegenteil seines Schwiegervaters und brachte die Krumen wieder auseinan- der. Die ihn noch gekannt haben, wissen zu erzählen, daß er „furchtbar stark“ gewesen sei und seiner Stärke keinen Rat gewußt hätte. Und mit dieser furchtbaren Stärke verband sich ein ungeheurer Jäh- zorn. Seine Pferde prügelte er, daß es krachte; einmal mußte man gar sehen, wie er ihnen mit der For- ke in die Rippen stach. Da hatte Gott ein Einsehen und nahm ihn durch einen plötzlichen Tod hinweg.

Aber seine Frau heiratete wieder, erst den Hanfritz, und als der nach einem Jahre starb, dessen Bruder, der im ganzen Dorfe „Karlvetter“ genannt wurde, weil er bei allen Leuten sehr beliebt und immer zu- frieden war. Und der „Karlvetter“ brachte den heruntergewirtschafteten Hof wieder auf den alten Stand. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 189

3. Kaarls Kaarl (Karl Karl). Er hatte nur einen halben Ackerhof, aber eine große Familie, konnte sich’s also viel weniger leisten als seine Kumpane, tat dennoch, als hätte er mindestens auch einen ganzen Ackerhof zu verzehren. Da er keine Vernunft annahm, fing die Frau, eine Schwester von Fettköthers Fischer, schließlich auch an zu „püttcherieren“. Und so haben sie sich dann beide „orndlich einen emöppelt“. Das dicke Ende kam bald nach, und der halbe Ackerhof wurde gerichtlich verkauft. Mer Bauern des Dorfes kauften ihn gemeinsam. Als sie ihn aber untereinander verteilen wollten, machte ihnen das Gericht einen Strich durch die Rechnung und gab die Teilung nicht zu. Der Hof mußte blei- ben und kam nun in die Hände eines anderen.

4. Der alte Ellies, der Vierte im Bunde, war Großkötner wie der rote Düker. Von seinen Kumpanen, die alle drei baumstarke Kerle waren und bärtige oder doch stark stoppelige Gesichter hatten, unter- schied er sich durch seine Mittelschlagsgestalt, seine mehr gebückte Haltung und sein glatt rasiertes Gesicht. Sein Glück war eine besonders tüchtige Frau, die zwar nur ein Auge hatte, aber damit mehr sah, als die andern drei Frauen mit ihren sechs Augen. So wußte sie meistens klug und geschickt zu verhindern, daß er Geld in die Finger bekam. Freilich glückte ihr das nicht immer. Als sie einmal eine Kuh verkauft hatte und das Geld auf dem Tische nachzählte, unterbrach er sie: „Rappelsweuin, Klap- persweuin, kannst döu äauk etellen?“, schob sie beiseite und zählte das Geld noch mal. Dabei fummel- te er einen Taler beiseite, der nachher im Wirtshaus „vermöppelt“ wurde. Er triumphierte: „Einen hä- au’ck (habe ich) den Eichele von der blinnen Halwe (Seite) weg enohmen!“ (Eichel: Ekel, aber mil- der.)

Als sie wieder einmal eine Kuh verkauft hatten, versteckte die Elliessche die erlösten 25 Taler aus dem „Balken“ (oberen Boden) ins „Windbendsloch“. Ellies suchte indes so lange, bis er das Geld entdeck- te, und brachte es eilends ins Wirtshaus. Auf die bitteren Vorwürfe seiner Frau antwortete er ohne irgendwelche Skrupel: „Lat seuin, wat will, ’t is Geld for de Käau!“ Sonst pflegte sein Wort, mit dem er alles ins Gleiche brachte, immer nur zu sein: „Lat schluiern!“ (Laßt’s schludern!)

Wenn die Frau gar kein Erbarmen mit ihm hatte und vor seinen Bitten um Geld hart wie Holz blieb, geschah es nicht selten, daß er Stroh, Frucht, Eier und was noch alles ins Wirtshaus trug, um „Schluck“ zu bekommen. So hatte er einmal die Kitteltasche voll frischer Eier, als die Frau es bemerk- te und in ihrem gerechten Zorn dagegen schlug, daß alles ein Rührei wurde.

Wenn Ellies „dicke“ war, machte er durch sein Singen das ganze Dorf wach. Einmal in ein Wagenrad gelaufen, aus dem er nicht wieder heraus konnte, sang er ununterbrochen: „Ein Bad, ein Rad, ein Wa- genrad ...!“ Und was er gerade noch dran hängen mochte. Sang’s von da an alle Tage wieder. Sonst war sein Lieblingslied:

„Sara Ismael, ist den Juden ihr Gesell, Stammt nicht weit vom Tempel Moses.“

Wenn er, angeschossen, über den Hennekensteg wollte, blieb er erst an der nächsten Hausmauer einen Augenblick regungslos still stehen, als besänne er sich; dann schlug er sich an die Mütze und schoß mit großer Sicherheit, aber ganz still hinüber, um auf der anderen Seite sofort wieder vergnügt zu sin- gen: „Sara Ismael, ist den Juden ihr Gesell ...“ Oder: „Ein Rad, ein Rad, ein Wagenrad ...“

Ellies befand sich übrigens unter denen, die nicht unter Napoleon dienen wollten. Das Dorf gehörte damals zum Königreich Westfalen, und Napoleons Bruder, Jerome in Cassel, war sein König. Ellies war in die Konskriptionsliste eingetragen, und um dem Soldatendienste zu entgehen, hielt er sich im unwegsamen „Bräauke“ (Bruch) in der Nähe des Dorfes versteckt. Heimlich trugen ihm seine Ange- hörigen das Essen zu; er wurde aber doch „geschnappt“ und nach der Festung Ziegenhain abgeführt. Er sollte als Deserteur erschossen werden wie viele andere und stand schon auf dem Fort bei Cassel Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 190 vor der Mündung der Gewehre. Da lief die Nachricht von dem Siege der Verbündeten bei Leipzig ein, und die Exekution wurde nicht mehr ausgeführt. Gern erzählte er in späteren Jahren von diesem Er- eignis seines Lebens, und dann war seine stehende Redensart: „Ziegenhain ist eine grausame Fe- stung.“ –

* * *

Das war also das vierblättrige Kleeblatt, das unentwegt zusammenhielt und nie uneins wurde. Im Wirtshause spielten die vier, solange es ihr Zustand erlaubte, das damals noch allgemein übliche Kar- tenspiel „Solo“ mit der Kreuzdame als „Besten“ und hauten auf den Tisch, daß noch in den Nach- barstuben die Milchsätten bebten. Natürlich wurde dabei immer feste herumgetrunken. „We willt eest noch einen up’t Gastenblatt drinken!“, pflegten sie zu sagen. Einmal nämlich waren sie nach der Ger- stensaat nach Uslar gegangen und hatten solange getrunken, bis die Gerste aufgegangen war. Daher also die Redensart, aufs Gerstenblatt trinken.

Sonst lauteten ihre stereotypen Redensarten am Wirtshaustische, die sich bis auf den heutigen Tag im Dorf erhalten haben, folgendermaßen: Kaarls Kaarl: „Einmal kön we noch!“ Fettköthers Fischer: „Sä- au wat is dat nich.“ Rae Dürer: „Vor diusend Daler!“ Alte Ellies: „Oh Jungens, lat schluiern!“

Ein findiger Drehorgelspieler aus Uslar, oder vielmehr seine Frau, die „Heiden-Kathrine“, dichtete darauf ein Lied, dessen Verse immer mit einem der obigen Worte als Refrain schlossen. Sie sang das Lied mit ihrem Manne auf den Märkten und begleitete es mit der Orgel. Es soll ein sehr zugkräftiges Lied gewesen sein, zugkräftiger selbst als die grausamste gereimte Mordgeschichte.

Der Spott wurde den vier Bundesbrüdern schließlich doch zu arg, und obgleich sie ihr Geld nirgends lieber hinbrachten als in das Wirtshaus, bezahlten sie der Heiden-Kathrine eine runde Summe dafür, daß das Lied nicht mehr gesungen und gespielt wurde.

Während der rote Düker, Fettköthers Fischer und Kaarls Kaarl früh zugrunde gingen, ist Ellies, dank seiner einäugigen Frau, noch lange obenauf geblieben und hat noch viele Kindtaufen, Schlachtefeste und Hochzeiten mitgemacht, als seine Bundesbrüder längst vermodert waren.

Der Quälbauer. Schon die Alten waren so rechte „Piuler“, wie die Leute sagen, wenn sie einen Quäler bezeichnen wollen, der sich in der Arbeit und im Zusammenscharren gar nicht genug tun kann.

Sie besaßen ein geringes Gütchen, auf dem sie knapp zwei Kühe halten konnten; aber was ihren weni- gen Ackern an Breite abging, das suchten sie ihnen um so mehr nach der Tiefe abzugewinnen. Wäre es nur menschenmöglich gewesen, hätten Hunzelmanns wohl bis auf die andere Seite der Erdkugel ge- graben oder gepflügt. Drei Söhne hatten sie, im Dorfe Sem, Ham und Japhet genannt. Dem ältesten blieb natürlich der Hof vorbehalten, die beiden anderen ließ der Vater das Maurerhandwerk erlernen, denn, so meinte Vater Noah, „te mäuerken is ümmer wat in der Welt“. Könne er seinen Kindern auch nicht viel Geld mitgeben, sollten sie doch soviel mithaben, daß sie sich und der Welt nicht zum Scha- den gingen. Und er verschrieb jedem Sohne zweitausend Mark, die dem Hofe nicht weh taten. Denn solange der Alte lebte, brauchte der Sohn nur einen Teil seiner Kraft auf die eigene Wirtschaft zu ver- wenden. Das wußten die Bauern im Dorfe, und hatte jemand einen tüchtigen Mäher, Drescher oder Roder – nötig, so schickte er zu Sem. Und kam Sem, war es so gut, als kämen sonst drei; und was er so verdiente, das wurde arg zusammengehalten. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 191

Als Vater Noah starb – er stand erst in den Vierzigern – hatte Sem schon ein ansehnliches Sonder- sümmchen auf die hohe Kante gelegt. Es konnte ihm darum nicht schwer fallen, den beiden Brüdern die Raten ihres Erbteils so prompt auszuzahlen, wie es das Vermächtnis ihres Vaters bestimmte.

Diese aber waren, was sich bei einem solchen eisernen Bauerngeschlechte von selbst versteht, nicht minder erpicht auf die Arbeit. Sie galten als die tüchtigsten und fleißigsten Maurer des Sollings und hatten sich, als sie ihr Erbteil ausgezahlt erhielten, jeder an seinem Teile schon ebensoviel erspart. Und ehe einer sich ein Weib nahm, hatte er gesorgt, daß er sie in ein eigen Haus führen konnte. So ergab es sich, daß sie neben der Maurerei auch die Landwirtschaft betrieben und schließlich mehr Bauern als Maurer waren.

Der Erbe des väterlichen Hauses blieb ihnen allerdings immer meilenweit voraus. Seine Kraft und Arbeitswut waren so unbändig, daß der Hof bald für ihn nicht mehr ausreichte. Seine Schwaden muß- ten länger und breiter werden. Als er sich dann auf die Frauen besonnen und ein Weib genommen hatte, was ihm wahrhaftig nicht leicht ankam, deuchte ihn der Hof noch viel kleiner; denn er hatte sie nicht genommen, um sie auf den Präsentierteller zu setzen, wie man wohl so sagt, sondern um einen tüchtigen Quälgenossen zu haben.

Also verkaufte er sein unzulängliches Anwesen dem einen Bruder und erstand einen ordentlichen Bauernhof mit sechzig Morgen Acker und Wiesen. Es war ein guter, schwerer Boden, er mußte zwei Pferde und einen Ochsen als Gespann halten. Biel Geld legte er indes für die Pferde nicht an: fünfzig, wenn es hoch kam, sechzig Taler. So hatte er jahrelang einen kreuzlahmen Fuchs und einen hinkenden Braunen, mit denen er alles beschickte. Er hielt keinen Knecht und keine Magd; denn er zwang alles selbst mit seinen gewaltigen Fäusten. Wo er nicht hinkam, da mußte eben seine Frau einsetzen, und als das einzige Töchterchen heranwuchs, mußte es auch schon tüchtig mit zugreifen, und nicht aus der Art geschlagen, verstand es sich schon mit sieben Jahren auf alle Arbeit.

Hunzelmann war eine starke, große Gestalt, sozusagen aus lauter Kraft und Fähigkeit zusammenge- setzt und unermüdlich. Es gab für ihn nur einen Gedanken: Arbeit und immer nur Arbeit. Wenn andere Leute noch lange im Bette lagen, fuhr er mit seinem kreuzlahmen Fuchs und seinem hinkenden Brau- nen schon aus dem Dorfe hinaus.

Ganz übermenschlich aber war sein Tun in der Heuzeit. Um zwei Uhr spätestens stand er auf und mähte seine zwanzig Morgen Wiesen ganz allein. Er mähte solange, bis die steigende Sonne ihm die Sense aus der Hand nahm. Aber auch dann dachte er noch lange nicht an Ruhe, sondern begann nun sofort, die Schwaden auseinanderzustreuen und das etwa schon am Vortage gemähte Gras zu wenden. Kam’s ans Einfahren und ließ sich das Wetter dabei gut an, brachte er’s immer auf drei bis vier Fuder nachmittags. Das Abladen dauerte in der Regel bis etwa elf Uhr abends. Und selbst dann konnte er noch nicht an Ruhe denken, mußte er doch für seine acht bis zehn Stück Vieh noch Futter schneiden, womit er frühestens um zwölf Uhr mitternachts fertig wurde. Nun erst legte er sich zum Schlafen nie- der und meistens gleich in die Futterlade, einmal, weil er vor Müdigkeit nicht weiter konnte, dann auch, um die Zeit nicht zu verschlafen. Legte er sich aber ins Bett, ließ er gewöhnlich ein Bein heraus- hängen, um sich von dem kaltgewordenen Beine wecken zu lassen.

Nicht nur im Sommer ging’s so, sondern auch im Winter, denn es gab damals noch keine Dampf- dreschmaschinen, und wenn sie’s gab, so dachte dieser Quälbauer doch nicht daran, sie zu benutzen. Wofür hatte er denn seine Frau, die doch den Doppeltakt halten konnte! Also wurde im Winter regel- mäßig um zwei Uhr aufgestanden und mit der Frau gedroschen. Weinte das Kind – es blieb bei dem einzigen Töchterchen – wurde es herausgeholt und auf der Scheunendiele in die Ecke gesetzt. Seine Frau war indes die Stärkste nicht und konnte nicht immer soviel leisten, wie er als selbstverständlich Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 192 verlangte. Sie lebten darum nicht gut miteinander, und die Frau sagte: Wenn ihr Mann mal stürbe, nähme sie ihr Leben keinen Hunzelmann wieder.

Aber wie konnte der, noch keine vierzig Jahre alt, sterben! Wer sollte denn auch die ungeheure Arbeit bewältigen, wenn Hunzelmann stürbe?

Und doch saß ihm der Tod schon im Nacken! Er hatte sich bei der ungeheuren Anstrengung in der Mähzeit erkältet, bekam die Gicht, verging wie der Tag und schwankte schließlich nur noch auf den Beinen. Da nötigte er wohl seine kleine Tochter: „Ett mant, freuer, wo eck ’t noch mochte, häau eck ’t meck nech etemet; jetz mag eck ’t nech mähr.“ (Iß nur, früher, wo ich’s noch mochte, habe ich’s mir nicht gegönnt, jetzt mag ich es nicht mehr.) Kundige Leute wollten ihm mit dem „Gichtbaume“ helfen, indem sie die Krankheit in einen Baum oder Busch zu bannen suchten; aber da er nicht recht daran glaubte, half es auch nichts; ebensowenig wie eine andere „Baute“ ihn bei seinem Mangel an Gläubig- keit von seinem Leiden befreien konnte.

Als der Vierzigjährige seinen Tod nahen fühlte, plagte ihn der Gedanke, daß seine Frau wieder heira- ten würde. Deshalb vermachte er seinen Hof, der einen Wert von 20000 Talern hatte, dem nächstälte- sten Bruder. Ausgemacht waren für die Leibzucht u. a. wöchentlich sieben Gier; die Witwe solle aber nur dreieinhalb zu beanspruchen haben. Zur Mitgift der Tochter bestimmte Hunzelmann 4000 Taler, die der Hofübernehmer zu einem bestimmten Zeitpunkte auszuzahlen und sofort mit zwei Prozent zu verzinsen hatte. Dazu kam für den Fall der Verheiratung eine volle Aussteuer mit Kühen und Schwei- nen. – Die Tochter hatte, wie man mir versicherte, 34 bis 40 Bewerber, trotzdem sie für geruhiges Strümpfestricken und stille häusliche Arbeit ganz und gar nicht veranlagt war. Sie hatte vom Vater die Quällust geerbt und fühlte sich am wohlsten, konnte sie ein Fuder nach dem anderen auf- und abladen. Die Forke mußte nur so fliegen, wenn sie auf dem Wagen stand. Von Liebesglück konnte da kaum die Rede sein; aber der Bauer, der sie heimgeführt hatte, konnte viel fremde Arbeitskräfte entbehren und viel Geld auf die hohe Kante legen. Was brauchte es da Liebesglück!

Die Mutter des Quälbauern. Die alte Mutter Hunzelmann, gemeinhin „Frau Noah“ genannt, wurde von den Leuten im Dorfe so gekennzeichnet: Sie hätte mal einen Stein vom Dache fallen sehen und wäre so schnell hinzugesprun- gen, daß sie ihn noch in der Schürze auffing. Auf ihrem Acker kam nichts um, und sie war immer acht Tage früher fertig als die anderen. Man sagte, sie könne ruhig drei Stunden länger schlafen als die anderen, sie schaffe es doch; aber sie stand eher drei Stunden früher auf.

So herzhaft und handfest, so hellhörig und gescheit war sie auch. Hörte sie von Hexereien – es war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – machte sie immer ein recht voreingenommenes Ge- sicht. Sie glaubte nicht mehr so recht an Hexereien und wußte zu erzählen: In einem Hause sollte auch immer das Vieh behext gewesen sein, man kam aus dem Hexensuchen bald gar nicht mehr heraus. Da freite ein junger Mann ins Haus, der tüchtig fütterte und das Vieh überhaupt ordentlich behandelte, – und seither wäre kein Vieh mehr behext worden.

Nur sechzehn Jahre hatte sie ihren Mann gehabt und ihn, als ich sie dahingehen sah, ein Tuch um den Kopf geknüpft und den starken Kropf durch ein Tuch verhüllt, schon neununddreißig Jahre überlebt. Sie war sich immer gleichgeblieben und konnte es auch in ihren alten Tagen noch mit mancher jungen Frau aufnehmen. Sie lebte auf der Leibzucht bei ihrem Sohne „Japhet“, der unverheiratet geblieben war. In ihrer Charakterschilderung wird besonders hervorgehoben, daß sie vor dem Essen noch immer betete, was sonst schon recht selten geworden ist. Der Großvater habe seinen Kindern die Gebote ein- geprägt mit den Worten: Das wäre die Richtschnur durchs ganze menschliche Leben. Zur Kirche zog Mutter Hunzelmann regelmäßig ihr schwarzes, unverwüstliches Hochzeitskleid an. Sie hatte bestimmt, Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 193 es solle ihr auch auf dem letzten Wege mitgegeben werden: „Dat Kläd, wo eck meck meuinen Mann inne häau gi-eben laten, sölltise meck äauk anteihn, wenn ’ck emol daute sin.“ (Das Kleid, in dem ich mir meinen Mann habe geben lassen, sollen sie mir auch anziehen, wenn ich mal tot bin.)

Der Oberholzhauer. (Geschrieben im dritten Kriegsjahr.)

Er ist 1840 geboren, der Oberholzhauer Kraus aus Espol, den ich da – im dritten Kriegsjahr – tief im Walde im Forstgarten mit einigen Frauen arbeiten sehe. Der Förster, dem er untersteht, hatte ihn be- reits auf meinen Besuch vorbereitet, und da er schon manchmal von mir gehört hatte, sogar von mei- nen Dorfgeschichten wußte, die im Sollingsgebiete spielen, so hatte ich sein Vertrauen schon im vor- aus gewonnen und nicht erst mit der Zugeknöpftheit zu kämpfen, die so ein alter Sollinger Waldbär Fremden gegenüber an den Tag zu legen pflegt.

Also setzten wir uns gemütlich zusammen in die schöne Jagdhütte, die in der Nähe stand und voller Tannenduft war, denn zu Pfingsten hatte er sie, wie alljährlich, mit frischen Tannenreisern ausge- schmückt, die nun allerdings knackedürr waren. Ich bot dem Alten, der den blauen Kittel ausgezogen und die Schirmkappe etwas harmlos schief nach dem linken Ohr sitzen hatte, eine Zigarre an, die er auch annahm, aber im Laufe des Gespräches immer wieder ausgehen ließ. Und dann erzählte ich, und dann erzählte er, denn will man so einen abseitigen Waldmenschen dahin bringen, sein Inneres aufzu- schließen, muß man erst selbst etwas zu erzählen wissen, natürlich etwas, das sein eigenes Erleben berührt und verwandte Erinnerungen in ihm weckt. Ich sprach platt, er hochdeutsch, und so oft ich ihn ermunterte, nur platt zu sprechen, so oft verfiel er doch immer wieder ins Hochdeutsche; denn er hatte sich in der langen Zeit seines Waldlebens nun einmal gewöhnt, mit „gebildeten Leuten“ hochdeutsch zu sprechen.

62 Jahre ist er ununterbrochen in den Wäldern des Sollings tätig gewesen, und hat er auch in all den Jahren nicht viel von der großen Welt gesehen und erfahren, so sind ihm doch die großen Wendungen und Wandlungen der Zeit und Zeitverhältnisse nicht verborgen geblieben. Denn soweit weg von der Welt er lebte, griffen jene Wandlungen doch deutlich genug in sein persönliches Leben ein.

In seiner Jugendzeit, als er so acht und neun Jahre zählte, mußte er schon um drei Uhr aufstehn und spinnen helfen. Die Mutter spann Flachs, die Kinder spannen die Grobhede und spulten. Der um eini- ge Jahre ältere Bruder webte. Damals stand beinah in jedem Hause Espols ein „Werketäau“ (Web- stuhl), nur die ganz großen Bauern webten selbst nicht. Heute ist der Webstuhl völlig verschwunden.

Die einzige Leidenschaft des Vaters und Bruders war der Kautabak, ohne den sie nicht leben konnten. Noch ehe sie aufstanden, setzten sie schon ein „Prümeken“ in die Backe. Hinrich hat sich das aber nie angewöhnt und sein ganzes Leben nicht gepriemt. Einmal war dem Vater der Kautabak alle geworden, da mußte Hinrich nach Uslar, also gut zwei Stunden Weges über Berg und Tal durch Wald und Feld, um dort neuen Kautabak einzukaufen. Der Vater gab ihm einen heilen halben Gulden mit, und für 50 Pfennig nur sollte er holen. Nach zwei Stunden war er wieder zurück, es fehlten noch fünf Minuten daran, so flink war er gewesen. Es fehlte indes noch etwas, nämlich die Hälfte von dem halben Gul- den. Die hatte der Junge in der Hast vergessen, sich zurückgeben zu lassen. „Da kriegte ich aber ’n Puckel voll,“ versicherte der Alte. Sofort mußte er sich wieder auf die Beine machen und noch einmal nach Uslar flitzen, um die vergessenen 50 Pfennige zu holen. Dieser „Denkzettel“ wirkte noch so lan- ge nach, daß Kraus in seinem ganzen Leben nie mehr was Wichtiges vergessen hat.

Seine flinken Beine stellten in der damaligen Zeit, wo die Eisenbahn noch weit war, überhaupt das vortrefflichste Verkehrsmittel, zugleich auch das billigste. Der Vater war einmal sehr krank geworden, Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 194 und es mochte wohl ganz schlimm stehen, da Hinrich nach der anderthalb Stunden weiten Stadt Mo- ringen laufen und den Doktor holen mußte. Der Doktor kam mit Wagen und Pferd und schrieb ein Rezept, das Hinrich in der Apotheke zu Moringen besorgen lassen sollte. Er könne sich mit auf den Wagen setzen, sagte der gutmütige Doktor; aber Hinrich meinte, es wäre doch eilig, so wollte er lieber auf den Beinen bleiben. Und weg war er wie ein Hase, der einen Hund jachten hört. Als er dann, das Rezept in der Tasche, zurückkehrte, begegnete ihm der Doktorwagen erst bei dem Martinikirchhofe über Oberdorf-Moringen. Und die Doktorgäule waren doch auch nicht sachte gegangen. Die Tour hätte er aber drei Wochen in seinem Leibe gefühlt.

Der Vater fing als Häusling an und wohnte mit seiner Familie bei einem Bauern zur Miete, mußte also auch immer für den Hausherrn „parat“ stehen. Er wollte es aber besser haben, und da alles, was ein guter Haken werden will, sich früh krümmen muß, gönnte er sich nur kurzen Schlaf und stand so lange krumm, bis er es zu einem eigenen kleinen Anwesen mit einem Morgen Ackerland und anderthalb Morgen Wiese gebracht hatte. Sie hielten eine Kuh, für die im Walde gekrautet werden mußte. Es war nichts Leichtes; doch das Gefühl, auf eigenem Grund und Boden zu schaffen, machte einem Lust und half über alles hinweg.

Was jammert man heute, daß es keinen echten Kaffee mehr gibt, und was für ein bitteres Gesicht macht man vor dem Kriegskaffee! So ein bitteres Gesicht brauchte man, als Kraus jung war, nicht zu machen, da gab es keinen Kaffee, sondern Suppe; da hatte man doch was Ordentliches im Leibe.

War das Brot alle, so hängte sich der Vater abends ein Laken um und ging damit nach Moringen zur Mühle. Er hätte ja auch nach Schnedinghausen, Hevensen oder zu einer der dorti- gen Mühlen gehen können, denn die Espoler konnten mahlen, wo sie wollten, während andere Dörfer, wie Nienhagen auf der Weper durch den Mühlenzwang gebunden waren. Der Vater kaufte dann in der Mühle die nötige Brotfrucht und wartete, bis sie gemahlen war, was gewöhnlich bis spät in die Nacht hinein dauerte. Trotzdem war er am Morgen früh wieder bei der Arbeit. Im Jahre 1847 ging der Vater mit 5 Talern in der Tasche nach Moringen, um Brotmehl zu kaufen; er kam aber ohne Mehl wieder nach Hause, weinte und sagte: „Kindere, eck häau jöck bett jetz dorebrocht, awer nöu geiht’t nech mähr!“ Andern Tages ging er über Moringen hinaus nach Schnedinghausen, wo es ihm gelang, Erbsen und Bohnen zu bekommen, die er dann mahlen ließ.

Damals war’s, wo in der Mühle am Opferteich in Oberdorf-Moringen der alte Koch allen, die dort mahlen ließen, aus dem „flüchtigen Pater“ prophezeite. Wagen ohne Rosse würden kommen. (Das hat dann auch nicht lange mehr gedauert.) Und wenn die Frauensleute erst Mannestracht trügen, dann käme nach der guten Zeit der Weltkrieg. (Gerade wie es nun eingetroffen sei.)

Verschlimmert wurden in jener Zeit die Lebensverhältnisse vor allem dadurch, daß die Kartoffeln meist so schlecht gerieten. Die wenigen, die man hatte, wurden mit der Schale gekocht und in Pfeffer und Salz gestippt. Fragte man jemand: „Wutte Kartuffeln ro’n?“, so antwortete er: „Nä, Kartuffeln seuken (suchen).“

Mit Hinrichs Konfirmation trat das erste außerordentliche Ereignis in seinem Leben ein: er bekam eine Mütze, die erste Mütze, denn bis dahin war er wie alle Jungens im Dorfe in bloßem Kopfe gegangen. Außer einem neuen Anzuge erhielt er vor allem den „Lakes-Rock“, der aus schwarzem Laken gemacht und hauptsächlich für das Abendmahl bestimmt war, das von der Konfirmation an regelmäßig alle Jahre zweimal begangen wurde. Nach der Konfirmation ging Hinrich mit seinem Vater täglich in den Wald, zum Holzhauen, zum Wegeverbessern oder zur Arbeit in den jungen Kulturen. Jin ersten Jahre bekam er fünf, im zweiten sechs Mariengroschen, im dritten sieben gute Groschen (Mariengroschen = 8 Pfennige, gute Groschen = 12 Pfennige). Sieben gute Groschen erhielt übrigens auch der Vater nur im Tagelohn. Von einer zweimonatlichen Unterbrechung abgesehen, ist Hinrich seither jahraus, jahr- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 195 ein, Sommer und Winter im Walde tätig gewesen. Besonders gering war der Verdienst im Jahre 1873, weshalb sich manche Männer nach den Kohlenzechen im Westfälischen wandten. Auch Hinrich Kraus hat dort einmal sein Heil versucht. Langendreer hieß der Ort und Herberts Anlage die Stätte, wo er Arbeit fand. Aber es zog ihn mit unwiderstehlicher Gewalt nach seinen Sollingswäldern zurück. Nach zwei Monaten gab er die Arbeit in der Zeche wieder auf und machte, daß er nach Hause kam. Selbst der kläglichste Verdienst im Sollinge vermochte ihn seither nicht mehr fortzutreiben.

Wie heute war auch damals das Beerenpflücken im Sommer ein wichtiger Erwerbszweig, damals al- lerdings weit mehr noch als heute. Alle kleinen Leute pflückten, so daß man die Beeren manchmal fünf Stunden weit weg holen mußte und abends nicht mehr nach Hause kommen konnte. Da machte man sich mitten im Walde ein Feuer an, blieb dabei die Nacht sitzen und pflückte am frühen Morgen- weiter, bis der Korb voll war. Mit den vollen Körben war es aber noch nicht getan, sie mußten auch an den Mann gebracht werden, und das war zu der Zeit nicht so leicht wie heute; zumal in der Kriegszeit, wo den Leuten die Beeren aus dem Hause geholt und das Pfund durchschnittlich mit einer Mark be- zahlt wird. Habt ihr eine Ahnung, Leute und Kinder, von den Mühen, die es damals kostete, bis man das Geld für die Beeren in der Tasche hatte, und wie kläglich wenig sie bei alledem eintrugen? Stun- denweit mußte man sie manchmal in der Köze tragen, um sie los zu werden. Kraus erzählt, daß er manche Tracht nach Osterode am Harz gebracht und für das Pfund 4 Pfennige bekommen hätte. Mit 70 Pfund etwa auf dem Rücken gingen sie abends, einzeln oder in Trupps, bis Dorste und hatten zu ihrer Stärkung nichts als ein Stück trockenes Brot. In Dorste setzte man sich über Nacht auf eine Scheunentenne neben die Kiepe, und morgens gegen 3 Uhr wurde wieder aufgebrochen, denn es muß- te am gleichen Tage auch der zehn Stunden weite Rückweg nach Hause wieder zurückgelegt werden. Himbeeren hatte man einmal an einen Händler in Göttingen verkauft, das Pfund zu 5 Pfennigen, wofür sie dem Händler noch ins Haus zu liefern waren. Als man hinkam, war der Ausläufer nicht zu Hause, und sie erhielten kein Geld. Da gingen sie von Göttingen mit ihren Lasten nach Northeim, also einen Weg, wozu der Personenzug heute eine halbe Stunde braucht, und verkauften dort das Pfund für 3 Pfennige.

Den Kopf ließ man aber deshalb noch lange nicht hängen, und manchmal war in den Dörfern, durch die sie kamen, folgende Rede und Gegenrede: „Wat hewwet Se denn up öhrn Huckenacken?“ „De Keuipe.“ „Wat hewwet Se denn in der Keuipen?“ „Heilebeern.“ „Euile Heilebeern?“ „Ja, uppesmert hewwe se nich.“ (Euile – eitel Heidelbeeren, also nichts weiter.)

Den Kopf ließ man überhaupt nicht hängen. Hinrichs Vater, der noch die Kosaken erlebt hatte, pflegte manchmal zu sagen: „Kindere, wenn je jöck abends ruhig te Bedde leggen köönt un hewwet äak weg- ger nitz as’n Stücke drüge Bräaud, denn sied herzlich tefreen“ ....

Und nun macht unser Alter eine Bemerkung, die es vor allem verdient, daß man sie sich zu Gemüte führt: „So schlecht wie es früher war, so waren doch die Leute dabei alle munter und fidel, Spiel und Tanz und Scherz und Lustigkeit war damals mehr im Dorfe als heute, selbst bei Hochzeiten, die mit Pfeffer und Salz gefeiert wurden. Man hatte nur wenig Geld, machte sich darum auch nur wenig Ko- sten. Zur Kirmes oder zum Pfingstbier ging man im einfachen blauen Leinenkittel, den man noch selbst gewebt hatte, und da jauchzte sich’s noch mal so schön, als in dem städtischen Buckskinrocke und dem steifen weißen Vorhemd mit Stehkragen.“ ...

In der Tat ist mit dem gewaltigen Kulturfortschritte auf dem Lande und der großartigen wirtschaftli- chen Entwicklung die innere Lebensfreude unseres Landvolkes, wie sie besonders in seinen Sitten und Bräuchen und seinem unerschöpflichen Reichtum an ureigenen Liedern zum Ausdruck kam, nicht gewachsen, sondern zurückgegangen. Die Kulturentwicklung ist zu äußerlich geblieben und an dem inneren Volkstum wie ein scharfes Messer vorübergegangen, so daß die Blüten und Blätter des alten Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 196

Volkstums noch mitten in der Pracht wie abgeschnitten zu Boden fielen. Die dadurch entstandene innere Leere äußerte sich dann in dem sozialen Unbehagen der unteren Schichten unseres Landvolkes, so daß es vor dem Kriege Leute gab, wie der Alte bedeutsam hervorhebt, die, wenn sie Steuern bezah- len sollten, darauf los schimpften: es müsse erst mal alles auf der Welt ordentlich durcheinander ge- schlagen werden, anders würde es nicht besser ... Heute sähen sie es ein, wie gut sie es gehabt hätten, ja, zu gut. „Und wenn es dem Esel zu wohl wird, dann wälzt er sich.“ Hat er nicht recht, der alte Ober- holzhauer Kraus im Sollinger Walde?

An dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwunge, den der Lauf der Zeit mit sich brachte, hat natür- lich auch Kraus seinen vollen Anteil gehabt. Mit seinem älteren Bruder, der siebzigjährig starb und nun schon zwölf Jahre tot ist, hatte er einst das kleine väterliche Anwesen übernommen und es ge- meinsam mit ihm durch all die Jahre bewirtschaftet. Sie haben ihr Anwesen von einem Morgen Acker- land auf 16 Morgen, von anderthalb Morgen Wiese auf annähernd acht Morgen gebracht, und in ihrem Stalle stehen drei Kühe. Und alles das viele Jahre lang ohne Frauenhilfe, denn sie sind beide unverhei- ratet geblieben. Der ältere Bruder mochte nicht heiraten, „Frauensleute sind Frauensleute“, meinte er bedenklich und wollte es lieber ihm überlassen, eine Frau ins Haus zu bringen. Hinrich hatte auch ein Mädchen, das ihm gefiel und wohl auch eine tüchtige Frau geworden wäre; da aber der Bruder aller- hand an ihm auszusetzen hatte, so ließ er es wieder fahren und blieb ebenfalls ledig. Da galt’s dann früh und spät auf dem Posten sein, denn die Wirtschaft sollte bestehen, ohne daß man den Verdienst im Walde aufgab. Was gemacht werden mußte, wurde in der Hauptsache vor Tage und nach Tage gemacht. „Ich habe keine Gastwirtschaft gekannt, sondern Tag und Nacht gearbeitet.“ Während der Bruder, wenn sie abends heimgekommen waren, Kühe und Schweine fütterte und Futter schnitt, hatte er vor allem das Buttern zu besorgen. Und das Buttern war damals keine Kleinigkeit, denn Zentrifugen oder Molkereien gab es noch nicht. Man butterte noch mit der Keule, mit der man in dem großen, aus Fredelsloh bezogenen Milchbecken so lange im Kreise herumfuhr, bis sich die Sahne allmählich von der Magermilch löste und zu Butter verdickte. Dann war sie aber noch nicht weg, sondern mußte erst nach der Stadt gebracht werden, was sich natürlich nur am Sonntag machen ließ. Viel Geld gab’s nicht dafür, um so mehr sparte man am Schuhwerk. Noch als Vierziger ist Hinrich stundenweit barfuß ge- gangen; erst wenn er in ein Dorf kam, zog er die mitgenommenen „Slepen“ an.

Später zog eine verwitwete Schwester zu ihnen, da ging es dann im Hause leichter, und Haus und Hof wurden auch immer „hübscher“. „Wenn wir wieder Geld hatten, haben wir angebaut.“

Ehe der Bruder starb, machten sie ein Testament und verschrieben Haus und Hof dem ältesten Sohne der Schwester, ohne die beiden anderen Neffen zu vergessen, so daß unserem Alten rechtlich eigent- lich nichts mehr gehört. Übrigens stehen die Neffen im Felde, und der zweite ist schon gefallen. „Und wer mag wissen, wie das noch kommen kann!“

Wenn der Alte zurückdenkt, und er denkt manchmal an die Vergangenheit zurück, so gesteht er sich: Bei allem Glück, das er gehabt hat, ist er in Wirklichkeit doch nicht glücklicher geworden, als er in den Zeiten der größten Armut war. Das Beste im Leben ist eben nicht der Preis, sondern die Anstren- gung, das Ringen danach; denn ist erst der Preis da, so ist auch weiter nichts mehr. So läßt sich wohl seine Lebenserfahrung zusammenfassen. –

„Ich bin nun schon 76, mein Vater starb mit 69 Jahren, mein Bruder mit 70. Und alte Leute sind wun- derlich. Ich bin auch ein Wunderkraut und manchmal zu aufgeregt. Es kostet mir alles zu viel gegen früher.“ ...

Auch auf den Tod kommen wir folgerichtig zu sprechen. Der macht ihm ganz und gar keine Sorgen, er setzt sich über ihn hinweg mit dem Worte: „Wie unser lieber Herrgott einem nun eben das Ende ge- setzt hat ...“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 197

Er ist übrigens sein lebelang gesund gewesen, und es fehlt ihm trotz seines hohen Alters noch immer nichts, wenn auch das linke Auge etwas tränt und etwas eingedrückter ist als das rechte. Der Wald, der liebe schöne frische Wald, der ihm ans Herz gewachsen ist und dem er ans Herz gewachsen ist, hätte ja schließlich doch auch noch ein Wort mitzureden. Da kann der Tod noch lange warten, der ja auch anderswo mehr als genug findet.

Seinen siebzigsten Geburtstag feierte sozusagen der halbe Solling mit, und es wurde dem einfachen alten Manne auf Veranlassung von Geheimrat Rüther, seinem früheren Oberförster, eine ganz unge- wöhnliche Ehrung zuteil, indem eine Wegkreuzung zwischen dem Trockenen Meiler und der Jäger- wiese als Krauseck getauft wurde. Man hatte gerade diese Stelle gewählt, weil dort eine Bank stand, auf der Kraus gern zu sitzen pflegte. Die Ehrung wurde mit einer ordentlichen Feier verbunden, an der fast alle Förster und Holzhauer, die mit Kraus zu tun gehabt hatten, nebst Familien und Freunden teil- nahmen und bei der es hoch her ging. Der Revierförster hielt eine schöne Rede, in der er die großen Verdienste des Oberholzhauers, insbesondere seine unwandelbare Treue und Unermüdlichkeit, gebüh- rend würdigte und ihn als ein Vorbild für alle hinstellte, die beruflich im Walde zu tun haben. Man brauche nicht immer erst ein König, oder ein großer Feldherr, oder ein Minister, oder ein großer Ge- lehrter zu sein, um ein Denkmal zu bekommen, man könne es auch als einfacher Holzhauer durch ein tüchtiges Leben, wie Kraus es gelebt hätte, zu hohen Ehren und sogar zu einem Denkmal bringen. Es wäre ja nur ein einfaches Denkmal, das hier ausgerichtete Schild mit dem Namen Krauseck, aber es würde für immer bleiben und noch der spätesten Nachwelt von dem Manne erzählen, zu dessen Ge- dächtnis dieser Waldort genannt worden sei. – Dabei saß der alte Kraus aus der Bank, und es polterten ihm dicke Tränen über die Backen. Dann wurde ein Faß Bier angesteckt, das die Forstverwaltung ge- spendet hatte, und ein Lied nach dem andern angestimmt.

Vor kurzem noch besuchte der Geheime Forstrat von der Regierung in Hildesheim den alten Kraus in seinen jungen Fichtenkulturen, begrüßte ihn herzlich, gab ihm die Hand und sagte: „Guten Tag, mein lieber alter Kraus. Bin eben von Ihrem Denkmal hergekommen, wo ich mich sehr über gefreut habe. Und ich bedanke mich aber auch für die gute Arbeit, die Sie immer für unsern lieben Solling getan haben.“ ... Mit strahlender Wohlgefälligkeit erzählt Kraus mir das und fügt mit gehobener Stimme hinzu: „Mit hundert Forstbeamten habe ich zu tun gehabt und nur mit einem einzigen, der mir duzen wollte, Unannehmlichkeiten gekriegt.“ Das Duzen meinte er mehr in sinnbildlicher Weise. Er wollte sagen: Der betreffende Forstbeamte hätte einen scharfen Ton gegen ihn angeschlagen. Und so ein Ton hätte ihn sehr verdrossen, obgleich er sonst nichts weniger als „übelnehmerisch“ wäre. Bis auf den einen haben denn auch alle Förster, Oberförster und Forsträte immer nur in freundlicher Weise mit ihm geredet.

Die Herren wußten ja auch alle, was sie an ihrem Oberholzhauer hatten. Man konnte unter ihresglei- chen erst einen suchen, der in den weiten, über Berge und Täler rauschenden Wäldern so gut Bescheid wußte wie er. So gut wie seine Stube kennt er den Solling, und was die Förster und Oberförster in ihren Büchern haben, das hat er alles in seinem Kopfe, so daß er überall Bescheid geben konnte, wo mitunter kein Förster und kein Oberförster und kein Geheimer Forstrat sich mehr herauszufinden ver- mochte. „Mir konnte keiner was vormachen.“ Aufs höchste erstaunt über sein großartiges Gedächtnis rief der damalige Oberförster zu Hardegsen, Herr von Windheim, einmal ganz begeistert aus: „Hen- derk“ – von Windheim nannte ihn immer nur Henderk –, „Sie sollen sofort Oberforstmeister in Han- nover werden! Nehmen Sie sich einen Sekretär an, Ihren Namen mögen Sie ja leicht unten hinkraxeln ....“

Seine genaue Kenntnis aller Waldgeheimnisse wußten sich besonders auch die Jäger zunutze zu ma- chen. Wollte einer mal einen guten Hirsch oder eine Wildsau schießen, brauchte er nur beim Ober- holzhauer Kraus anzufragen. Wo der einen Jäger hinführte, da schoß er auch sicher was, wenn er nicht Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 198 gerade vorbeischoß. Manchem hohen Herrn, der zur Jagd in den Solling kam, hat er so auf die richtige Fährte geholfen. Ein jetziger Oberforstmeister in Magdeburg, der als Oberförster des Revieres gar manches Stück Wild schoß, das der Alte ausgespürt und eingekreist hatte, ließ ihn vor acht Jahren noch grüßen: „Was macht denn mein alter Henderk?“ hatte er gefragt und ihn den „Schnelläufer“ ge- nannt, denn er war als bejahrter Mann noch ebenso schnell auf den Füßen wie in seinen jungen Jahren. Mit treuer Anhänglichkeit erzählte der alte Holzhauermeister dann noch manches von dem ehemaligen Oberförster, nachherigem Geheimrat Rüther und charakterisierte sein Verhältnis zu ihm wiederholt mit den Worten: „Ich war wie sein Kind.“ –

So ließe sich aus dem Leben und den Erlebnissen dieses alten Mannes wie von seiner treuen Einfalt noch manch hübscher Zug berichten, der freilich in der großen Geisteswelt wenig oder nichts bedeuten würde. Aber ich denke, der Wald hat gerauscht, die Hauptsache ist gesagt, und auch zur Genüge deut- lich gemacht, weshalb uns dies Lebensbild eines einfachen alten Mannes in weltferner Verborgenheit besonders in unserer harten Zeit so beachtenswert und wohltuend erscheint. Es möge darum zum Schluß nur noch bemerkt werden, daß der Alte, sorgsam und bedachtsam wie er in allem ist, schon im Sommer die Christbäume aussucht und kennzeichnet, die zu Weihnachten ringsum in den Dörfern strahlen.

Nachschrift: Am 26. Jan. 1922 ist Kraus, 81 Jahre alt, gestorben. Die „Göttingen-Grubenhagensche Zeitung“ widmete ihm einen längeren Nachruf, in dem es u. a. heißt: Der in Espol verstorbene Ober- holzhauer Kraus war eine weit über die Grenzen seiner engen Dorfheimat hinaus bekannte Persönlich- keit. Namentlich die Holzkäufer wendeten sich gern an ihn und erhielten immer genaue Auskunft von dem freundlichen Alten. Eine strenge, unter mancherlei Not und schwerer Arbeit bei rechtschaffenen Eltern verbrachte Jugend hat in Verbindung mit der stillen Waldarbeit auch wohl den Grund zu den guten Eigenschaften gelegt, die den biederen Alten besonders auszeichneten: Fleiß, Unermüdlichkeit, Wahrheit, Ehrlichkeit, Anhänglichkeit und Bescheidenheit. Sein höchster Lebenszweck und größte Lebensfreude war die Pflege des Waldes, und hierbei hat „der Alte im Walde“ in seiner stillen unei- gennützigen Weise vieles geleistet. Ist doch in der ganzen Forst kein Eckchen und Fleckchen, wo er bei Begründung oder Pflege der Bestände nicht selbst mit Hand angelegt hat. Besonders auch bei der Ausforstung des früheren kahlen Weperrückens war Kraus mit Kopf, Herz und Hand erfolgreich betei- ligt. Wo er als Vorarbeiter hingestellt wurde, da war es um die Waldarbeit wohl bestellt. Unermüdlich war seine Tätigkeit als Kreiser und Treiber bei den Jagden auf Hirsche, Wildschweine und Hasen; gerne erinnern sich die hierbei beteiligten Jäger noch des wetterfesten, rüstigen Obertreibers. Seine Verdienste sind denn auch von allen seinen Vorgesetzten anerkannt worden. Äußerlich ist dies zum Ausdruck gekommen durch Verleihung des Allgemeinen Ehrenzeichens und des Kreuzes des Allge- meinen Ehrenzeichens ...“

„Jeremias“. Ein Sollinger Bauer, der meine Erzählung „Der Hunnenkönig und die Spinnmädchen“ gelesen hatte, strahlte mich an und sagte: In seinem Dorfe gäbe es auch so eine Art Hunnenkönig, aber er würde „Jeremias“ genannt, weil er gern Klagelieder anstimme. Er war also eigentlich das gerade Gegenteil vom Hunnenkönig.

Ich machte dann auch noch die persönliche Bekanntschaft dieses Doppelgängers meines „Helden“. Es war ein früherer Schäfer, der es mittlerweile zu einer Brinksitzerstelle gebracht hatte und sein kleines Anwesen inwendig und auswendig ganz allein versah. Er plagte sich und klagte darüber. Auf den Rat, zu heiraten, antwortete er gewöhnlich: „Ower Winter!“ Auf die eindringlichere Vorstellung, sich eine Frau zu nehmen, die um ihn sei, erwiderte er: „Dat wöre äauk recht, dat eck andere Loie mank meuin Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 199

Wart un Leuinen komen leite.“ (Das wäre auch recht, oder vielmehr nicht recht, daß er andere Leute zwischen sein Werk und Leinen kommen ließe.)

Eine viel größere Freude als an den Frauen hatte er an den Schafen, deren treue Seelen er kannte. Die Schafe waren überhaupt seine allergrößte Freude, wie er auch bei allen Gesprächen von den Schafen ausging oder doch auf sie zurückkam. Sein größter Arger dagegen und ein ständiger Anlaß von Klage- liedern waren die Flöhe. Sie kamen seiner Meinung nach von des Nachbars „Mischen“ (Miste), die gerade vor seiner Schlafkammer lag. Käme er abends nach Hause, klagte er, so säßen alle auf der Fen- sterbank, als warteten sie schon auf ihn.

Vergeblich suchten die Leute im Dorfe ihm klarzumachen, daß die Flöhe nur Rache an ihm nehmen wollten, weil er keine Frau hätte, an der sie sich gütlich tun könnten.

Jeremias folgte leider nicht dem schönen Beispiele des Hunnenkönigs, dessen Geschichte er auch nicht gelesen hatte, sondern blieb mit seinen Schafen und seinen Flöhen für sich.

Der letzte Armenhäusler. Der augenfälligste Beweis dafür, wie sehr sich die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Sol- linge gegen früher gebessert haben, ist das Überflüssigwerden und teilweise Verschwinden der Ar- menhäuser, die, soviel ich sehen konnte, in den meisten Dörfern völlig entbehrlich geworden sind, allenfalls jetzt (1920) wegen der Wohnungsnot wieder in Anspruch genommen werden. So wurde in Eschershausen das Armenhaus, trotzdem es noch lange hätte stehen können, bereits vor Jahren abge- rissen und an seiner Stelle ein freundlicher Gemüsegarten angelegt.

Sein letzter Freibewohner, der um die Wende des Jahrhunderts höchst selbstzufrieden darin hauste, war ein recht ungewöhnliches Menschenexemplar, fast zu sagen mehr Tier als Mensch. In früheren Jahren hatte er sich, wie man ihm allgemein nachsagte, tüchtig gequält und war überall zur Stelle ge- wesen, wo es was zu verdienen gab, ob in der Nähe oder in der Ferne. Er hatte aber alles Geld in Branntwein umgesetzt.

Das ging so lange, bis er krank und elend wurde; da hatte er nichts und fiel der Gemeinde zur Last. Sie räumte ihm das Armenhaus ein und gab ihm – wohl oder übel – das „Reiheessen“. Man dachte, er würde doch nicht lange mehr machen und wohl kaum einmal die Reihe ganz herum kommen, so elend war er. Aber das Reiheessen schlug so gut an, daß er wieder auf den Damm kam, rund und gesund wurde und noch ein langes Leben vor sich sah. Doch nun schon an das bequeme Leben gewöhnt, hatte er keine Lust mehr zu arbeiten und ließ sich von der gutmütigen Gemeinde weiter füttern, Jahr um Jahr.

Er hatte auch eine Frau, die indes keinen guten Tag bei ihm erlebte, von ihm gequält und mit den ärg- sten Schimpfworten tituliert wurde. Es mochte ihm wohl, wie das bei solchen Menschen so ist, ein Bedürfnis sein, wenigstens einen Menschen zu haben, auf dem er herumtreten und den er noch tiefer entwürdigen konnte, als er selbst entwürdigt war. Sonst konnte er auch sehr seine Worte finden, die er von seiner Arbeit in der Fremde mit heimgebracht hatte, und wenn er ganz höflich sein wollte, sagte er sogar „bitte“ und „danke“, wie ich das selber gelegentlich eines Besuchs im Armenhause erfuhr.

Als seine Elendsfrau gestorben war, fiel es ihm gar nicht ein, das Stroh aus dem Bette zu nehmen, er ließ es drin und hat noch, wie die Eschershäuser versicherten, „jahrelang“ darauf geschlafen.

Sein Reinlichkeitsbedürfnis war so gering, daß er weder sich noch sein Eßgeschirr wusch. In Esebeck hatte er einmal mit an den Koppelwegen gearbeitet. Als man ihn fragte, wie es ihm dort gefallen hätte, Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 200 antwortete er: „Ganz gäaut, ganz fermoste Wertin; awer – eck moßte merk alle Morgen waschen.“ – „Ah, Minsche, dat is woll nech wahr!“ – „Doch, wirklich un wahrhaftig!“

Dagegen hatte er ein großes Wärmebedürfnis, und um es zu befriedigen, versah er sich mit einem tüchtigen Vorrat von Stuken aus dem Walde. Er heizte bei jeder Jahreszeit, selbst bei der stärksten Sommerhitze, sah deshalb auch immer wie „gedampft und geschmort“ aus. Im Sommer heizte er, um Asche zu bekommen, Asche in zwiefachem Sinne, denn für die Asche erlöste er das Geld zum Branntwein. Der Branntwein war sein einziges Ideal. „Ich bin ein feiner Kerl, wenn ich gesoffen ha- be!“ prahlte er. – „’n Swinegel biste!“ antwortete ihm jemand.

In seiner früheren Zeit nannten ihn die Leute „mein Lieber“, weil er in seiner feinen Weise alle Leute mit „mein Lieber“ anredete. Später hieß er nur noch „Ziegenbock“, und als Ziegenbock ist er auch gestorben.

Ortsneckereien. Der Sollinger muß immer etwas haben, woran er seinen Witz auslassen kann; und überaus gern reibt er sich am Nachbardorfe oder einem anderen Orte, mit dem er in nähere Berührung kam. Irgendeine Eigentümlichkeit des Ortes, eine drollige Begebenheit greift er auf und backt sie in einen charakteristi- schen Namen oder in eine witzige Erklärung, die bei aller Übertreibung meist eine mehr oder weniger treffende Charakteristik des betreffenden Dorfes enthalten. Parierend gibt das geneckte Dorf den Spott gewöhnlich in der Weise zurück, daß es dem Dorfe des Spötters oder Stichlers wieder etwas anhängt. Und so finden wir kaum ein Sollingsdorf, das nicht mit einem bezeichnenden Spitznamen oder einer drastischen Charakteristik bedacht wäre. Die Spottlust der Sollinger ist aber niemals bösartig, sondern durchweg von derb-drastischem Humor, der nicht eigentlich verletzen, sondern nur lachen will. Trotz- dem können die betreffenden Dorfleute manchmal recht empfindlich sein, wenn jemand in ausgespro- chener Weise darauf ausgeht, sie mit dem Spitznamen oder der charakteristischen Erzählung zu „her- ken“.

Damit kein Dorf sich durch die Reihenfolge gekränkt fühle, lasse ich die geneckten Orte hier in alpha- betischer Reihenfolge aufmarschieren:

Ahlbershausen, das südwärts von Uslar gelegene Dörfchen, wird die „Kaffeestadt“ genannt, wahr- scheinlich deshalb, weil die Ahlbershäuser gelegentlich eines Festes auf eins ihrer Festtransparente den Vers gesetzt hatten:

„Ist das Städtchen noch so klein, Muß es doch geschmücket sein.“

Die Einwohner von Allershausen, dem sehr kleinen, aber sehr wohlhäbigen Dorfe bei Uslar, sind die „Teiifitike“. Wahrscheinlich von Kiebitz, der sich vor der Verkoppelung dort gern in den Sümpfen aufhielt.

Die Glocke aus der Allershäuser Kapelle war beim Läuten aus dem Schalloch geflogen, und man konnte sie nicht wiederfinden, trotzdem überall tief danach gegraben wurde. Es half nichts, die Allers- häuser mußten eine neue Glocke kaufen, wohl oder übel. Was denn auch geschah. Als nun im näch- sten Frühjahr der Schweinehirt wieder austrieb und die Schweine zwischen die Brennesseln gerieten, ging es auf einmal klingling, – und da hat wahrhaftig die Glocke an einer Brennessel gehangen.

Bodenfelde: Bodenfelle – da feilt et in Loien an Gelle. – Aus der Zeit, als das Pferdehüten an der We- ser noch üblich war, stammt der den Bodenfeldern nachgesprochene Reim: Iuse Gäuile gaht an Hafen- beuile. – De „Wesergäse“ (Frauen) kommen auch daher. Man sagt nämlich von den Bodenfelder Frau- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 201 en, daß sie so „rawwelig“ mit dem Munde wären, also eine „Rawwelsniute“ hätten. Was, natürlich eine ganze Schändlichkeit ist, denn die Bodenfelder Frauen sprechen so schön wie nur irgendwo die Frauen in der Welt.

Bollensen bei Uslar besingt man wie folgt:

„Weißt du nich, wo Bollensen lait? Bollensen lait in Grunne; Wo de wackern Mäkens sind, Da sind de fi-ulen Jungens. Wenn se morgens freuh upstaht, Kucket sei nah ’r Sunne; Wenn de Sunne baben steiht, Slapet se noch twei Stunne. Ä-use Acker is lang, ä-use Päre sind blank, Ä-use Käuhe sind dicke, hebbet Melk in de Titte, Tjuch Basenblatt, fleig ower de Stadt Met sebentein Soldaten, konn ’t Sä-upen nich laten.“

Bollensen wird auch wohl „Gardeuinenbollensen“ genannt, weil dort zuerst die Gardinen aufgekom- men sein sollen, worüber dann in den anderen Orten gespottet wurde, bis sie selbst auch Gardinen anschafften.

Blankenhagen, das höchstgelegene Dorf der Weper, ist, wohl wegen seiner hohen Lage, zur „Insel Pippi“ geworden.

Carlshafen, das am linken Weserufer so romantisch gelegene Hessenstädtchen, charakterisieren die Sollinger durch den Neckreim:

„Carlshafen am Hafen, Da leben die Leute wie die Grafen Und können des Nachts vor Hunger nicht schlafen.“

Dies wird noch bekräftigt und veranschaulicht, indem man zugleich die Sprache der Carlshäfer nach- zuahmen sucht: „Henner, geh in Keller, da hängt’en halben Hering hal – reiß’en Latzen runner; das annere lass’en Vatter, der hat och noch nit gefrihschtückt!“ (Das r als reines Gaumen-r gesprochen.)

Delliehausen: „Schnarrepötte.“ „Juten Schnarreborn edrunken.“ Man ruft den schnarrenden Delliehäu- sern auch wohl nach: „Meiin Vader schnarrt, un meiine Mudder schnarrt, awer eck segge alles reiine, reiiwe riut.“ Dabei schnarrt er erst recht. Die Delliehäuser werden auch „Arftenbuikere“ genannt (Erb- senbäuche), weil Erbsenbrei dort das eigentliche Nationalgericht ist.

Derenthal: Wenn einer beim Kartenspiel von jeder Karte eine Farbe hat, heißt es: „Von jeden Dörpe ’n Hund – und von Derendal twei.“ In Lauenförde sagt man, wenn bei einer Frau der Unterrock länger ist als der Oberrock: Dat hät Meinbrexen ower Derendal etogen. (Meinbrexen ist das unten am Fuße des Sollings an der Weser gelegene Nachbardorf von Derenthal, das auf dem Höhenrande des Sollings liegt.)

Seit etwa 20 Jahren werden die Derenthaler als „Löwenjäger“ angesprochen, und das schreibt sich daher: In der winterlichen Feldmark des Dorfes trieb sich ein Untier herum, dessen Klauenspuren, die nachts bis ins Dorf führten, auf einen Löwen deuteten. Die Derenthaler gerieten in eine große Aufre- gung, zumals als hie und da verlautete, man hätte den Löwen auch von ferne gesehen. Die ganze Ge- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 202 meinde wurde aufgeboten und eine richtige Löwenjagd ins Werk gesetzt, auf der das Untier denn auch nach schwerer Mühe richtig zur Strecke gebracht wurde. Als man nun aber das tote Tier besah, war es gar kein Löwe, sondern ein – Bernhardiner.

„Äaugust, häst’n schöuten?“ spotteten und spotten noch heute die Nachbardörfer, und die Lauenför- der, die reinere Vokale sprechen, nehmen die Gelegenheit war, gleichzeitig das Derenthaler Platt (Hauptvokal mit vertönendem Nebenvokal) nachzuahmen, indem sie spotten: „Öuse Äaugust hät ’ne schauten.“ Dem Faß schlug den Boden aus ein Lauenförder, der einen Derenthaler uzte: „Kannst’r meck nich einen (kleinen Löwen) be leggen laten?“ Der Gefoppte nahm die Neckerei sehr übel und verklagte den Spötter bei dem Gendarm, der sich gerade im Orte aufhielt. Der ließ sich den Vorgang ganz ruhig erzählen und sagte dann: „Den Gefallen können Sie ’n doch tun!“

Dinkelhaus en: Die Bewohner dieses Ackerdorfes sind die „Salatköppe“, weil es beim Mühen dort immer nur Salat mit Pfannkuchen gegeben haben soll. Das war in der Zeit, als der Mäher noch 25 Pfennige den Tag verdiente.

Ertinghausen, das kleinste Sollingsdorf, zwischen Hardegsen und Volpriehausen am Bollert gelegen, soll der Teufel aus der Kiepe verloren haben. Weil es so klein und kläglich war, ließ er’s liegen. „Sper- linge“ werden die Ertinghäuser wohl auch gerufen und zwar, weil es früher da keine gegeben haben soll.

Eschershausen (bei Uslar) wird geneckt: „Eschershuissche Seisenbäme!“ Weil dort früher die Sensen gemacht wurden.

Espol, am Ostrande des Sollings, zwischen Wald und Weper, nach meinem Empfinden überhaupt das schönste Dorf des Sollings, hat immer viel Kirschenbäume (Kesperbäme) gehabt; seine Bewohner werden darum „Kesperhacker“ genannt. In früheren Zeiten ernährte sich ein Teil der Bevölkerung kümmerlich mit Einsammeln von Baumschwämmen, die man mit Stangen von den Bäumen herunter- stieß, um sie dann als Zunder im Lande zu verkaufen. Das war die Zeit, als es noch keine Streichhölzer gab, sondern Zunder und Feuerstein zum Feuermachen gebraucht wurden. Daher die Espoler auch wohl als „Tunderstokers“ bezeichnet wurden. Ein Fremder fragte einen Jungen, wo sein Vater wäre. Der Junge antwortete: „Dei is met Tunder herunder nah Noorten (Northeim).“

Fredelsloh, das altberühmte Töpferdorf, wird, wie schon erwähnt, „Potsdam“ genannt, da die Töpfe plattdeutsch Pötte heißen.

In den Dörfern bei Einbeck spricht man von „Pott Frehlsche Auhren (Ohren)“. Die Fredelsloher sollen nämlich ungewöhnlich lange Ohren haben, was ich aber bei meinen wiederholten Besuchen in dem schönen Dorfe nicht habe finden können. Nicht genug mit dieser kleinen Bosheit, sagt man auch in den Bördedörfern zwischen Einbeck und Leine, wenn ein Junge beim Sitzen mit den Beinen schlen- kert: „Hei lütt den Frehlschen Iesel iut!“ (Er läutet den Fredelsloher Esel aus). Aber den habe ich in Fredelsloh selbst auch nicht bemerkt. Die Neckerei weist vielmehr auf die frühere Zeit zurück, als noch in Fredelsloh viele Esel gehalten wurden, die man zum Sandtragen in die nahe und ferner gele- genen Dörfer benutzte. Die Lauenberger schimpfen darum die Fredelsloher „Pottesel“, worauf diese die Lauenberger wiederum „Mistesel“ titulieren, weil die kleinen Besitzer den Mist die steilen Acker hinauftragen.

Gierswalde: „Kartuffellöeker“, weil früher die kleinen Leute, die keinen Keller hatten, ihre Kartoffeln in die höhlenartigen Löcher am Berge bei Gierswalde brachten. Leute, die schon etwas poetischer dachten, nannten die Gierswalder aber nicht „Kartuffellöcker“, sondern „Schwalben“. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 203

Hardegsen ist die „Eselstadt“, weil früher viele Hardegser sich dadurch nährten, daß sie, wie die Fre- delsloher, mit Eseln nach den Sandgruben im Sollinge zogen und den Sand in alle Welt brachten. Das ist natürlich längst vorbei, solche kümmerlichen Erwerbsverhältnisse kennt man im Sollinge nicht mehr; es ist darum auch begreiflich, daß die Hardegser an den alten Spitznamen nicht gern erinnert werden wollen. Als einmal ein Fremder an den Wirt die Frage richtete, ob es wahr wäre, daß es in Hardegsen so viel Esel gäbe, antwortete er: „Jawohl, früher schon, aber jetzt nicht anders, als wenn mal einer zugereist kommt.“ Eine nicht minder gute Antwort wurde zwei Göttinger Studenten zuteil, die eine Frau mit einem Esel daherkommen sahen, der einen Sack Sand auf dem Buckel hatte. Die müsse doch gewiß aus Hardegsen sein, meinten sie untereinander, und schon grüßte der eine: „Guten Tag, Eselsmutter!“ – „Gu’n Dag, meiin Söhneken!“ war der schlagfertige Gegengruß der Hardegserin.

Wenn Espoler mit Hardegsern ins Wortgefecht kamen, hieß es auf dem Höhepunkte der Auseinander- setzung: „Was wollt ihr?“ Man nahm dabei die Zipfel vom Rock hoch, verlängerte damit die Ohren und sagte: Das wären sie.

Hellenthal im braunschweigischen Teile des Sollings charakterisiert man als „Keilbuil“ (Keilbeutel). Wenn die Hellenthaler Männer nach auswärts zur Waldarbeit gingen, trugen sie über der Schulter ei- nen Doppelsack, der zur Aufnahme von Keilen (zum Holzspalten) und Lebensmitteln diente.

Hettensen: „Pulke.“ – Die Hettenser sollen sich mal miteinander geschlagen haben, wobei einer rief: „Gewet meck mal meiinen Pulken (Hut) her!“

Forsthaus Lakenhaus, das tief in den Sollingswäldern liegt, hat im Volkswitze eine ganz besondere Wichtigkeit erlangt: „Seui (sei) man te freen, sast äauk mee nah’n Lakenhiuse, wenn de Sweuine wa- schen werd!“ sagt man zu jemand, der über etwas ohne Grund unzufrieden ist. – Auf die neugierige Frage, wohin man wolle, gibt’s die Antwort: „Eck will nah’n Lakenhiuse nah’n Sweuinewaschen – un döu sast de Säpen (Seife) dragen.“ (In Wiensen sagt man: „Säpenbuil“ dragen.)

Lauenberg ist, ohne sich gerade durch besondere Frömmigkeit auszuzeichnen: „Herrgotts Lauenbar- ge“.

Lauenförde, das von der Stadt Beverungen nur durch die Weser getrennt, aber durch die Weserbrücke mit ihr verbunden ist, ärgert die Beverunger: „Et gift drei Sorten Minschen: gaue, bäse un – Beverun- ger.“

Lichtenborn: „Julenköppe.“ Wegen der vielen Käuze, die es da früher gab.

Lippoldsberge: „Dat sind dä Twarge von Lippoldsbarge.“ (Auch mit dem bekannten Liede geuzt: „Daß wir die Zwerge sind, das weiß ein jedes Kind ...“)

Die Lutterbecker (Lutterbeck auf der Weper) hat man als „Fleigenansetters“ gekennzeichnet. Sie gel- ten trotz ihrer Wohlhabenheit als sehr „genau“, namentlich wenn sich’s um Geldausgaben handelt. Man nennt aber auch solche Leute so, die andern gern und meist hinten herum etwas anhängen.

Meinbrexen ist schon bei Derenthal erwähnt, aber noch nicht ausgiebig genug. Man neckt die Mein- brexer mit dem Rufe: „Manbrexer Pe-ilegäse!“ (Piele – Gänse.) – Übrigens muß es in dem Orte wohl immer hoch hergegangen sein, denn in Lauenförde pflegt man, wenn es lustig hergeht, zu sagen: „Sä- aun Li-eben (Leben) in ’ne Meinbrexen!“

Merxhausen hat sich die Bezeichnung „Klein-Berlin“ erworben. Es ist dort eine große (jüdische) Tuchfabrik, die immer eine größere Anzahl von Hausierern in die Welt hinausschickt. Diese haben dem Dorfe ihren Stempel aufgedrückt. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 204

Bekanntlich erwähnt Wilhelm Raabe die beiden Sollingsdörfer Merxhausen und Sievershausen in seiner historischen Novelle „Höxter und Corvey“, wo er folgendes erzählt: Der Teufel führte den Hei- land auf die Zinne des Tempels, zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sagte zu ihm: „Dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest, – bloß Merxhausen und Sie- vershausen dort im Sollinge behalte ich mir vor.“

Moringen: „Tüchtlinge.“ Wegen der in der Stadt befindlichen Korrigendenanstalt (Werkhaus).

Mühlenberg. Die Männer dieses kleinen braunschweigischen Holzhauerdorfes werden von den Nach- bardörfern als „Mühlenbarger Garde“ gefoppt und können sich leider bei der Kleinheit ihrer Zahl nicht dagegen wehren. So wird jemand, der eines körperlichen Fehlers wegen nicht Soldat werden konnte, geneckt: Er hätte bei den Mühlenbergern gedient.

Von dem Dorfe Offensen, das südlich vom eigentlichen Solling liegt, ist hartnäckig behauptet worden, daß dort der Hafer früher mit dem Preinen (Pfriemen oder Ahle, wie sie der Schuster gebraucht) aus- gerodet worden sei, so klein, dünn und weit hätte der Hafer gestanden. Offensen sei also im höchsten Grade kulturrückständig gewesen. Da hat sich nun ein Bauernknecht aus Iber bei Einbeck, wo man in der Kultur schon weiter vorgeschritten war, nach Offensen verheiratet und weit besseren Hafer geern- tet als die Offenser. Mit dem Sied, einer Sense mit kurzem Baum, hat er ihn abgemäht, während die Offenser noch immer mit dem Schusterpfriem rodeten. Einmal nun, als er Mittag macht, hat er das Sied aus seinem Acker liegen lassen, und es glänzt so in der Sonne, daß die Offenser, die da vorüber- kamen, meinen, es wäre ein Ungetüm, das den Hafer abfräße. Das ganze Dorf wird alarmiert, und da die Männer nicht zur Stelle sind, kommen die Frauen mit Knüppeln heraus und schlagen auf das Sied los. Es springt unter den Schlägen in die Höhe und dem Bauermeister so in den Nacken, daß er daran gestorben ist. Eine große Empörung bemächtigt sich des Dorfes, und zur Strafe dafür, daß durch die Dummheit der Frauen der Bauermeister sein Leben verlor, sollen sie bei der Neuwahl sich nackend aufstellen. Wer seine Frau von hinten erkennt, soll Bauermeister werden. Der Schweinehirt („Swän“) hat nun seiner Frau ordentlich eins mit der langen Peitsche übergezogen, so daß sie gut gezeichnet ist. „De Böuermester wäre eckt“ sagt er sich von vornherein, und richtig, er wird’s. Darauf neue Empö- rung, und man schimpft die Frauen aus: „Wenn je Fröuens nech säau ale Gäse west wören, härren weui keinen Swän taun Böuermestere kregen.“ Seitdem heißt man die Frauen von Offensen, natürlich, wenn sie es möglichst nicht hören, „de Offensenschen Gäse“.

Eine lustige Studentenverbindung aus Göttingen war einmal nach Offensen gekommen, um festzustel- len, was es dort mit den berühmten „Gäsen“ auf sich hätte. Eine große Zeche wurde gemacht, und als es ans Zahlen kam, banden die fidelen Brüder der Wirtin, die allein zu Hause war, ein Tuch vor die Augen und sagten ihr, wen sie griffe, der müsse bezahlen. Sie ging auch arglos aus den Spaß ein; die Studenten aber verkrümelten sich und verschwanden, ohne bezahlt zu haben. Nach langem Suchen glaubte sie endlich einen Studenten erwischt zu haben, der also nun bezahlen sollte. Aber siehe da, es war ihr Mann, der vom Felde heimkam. Von den Studenten keine Spur mehr. Als der Mann den Sach- verhalt erfuhr, schüttelte er den Kopf und schalt seine Frau: „Döu dumme Gas.“ Nach einigen Tagen schickten die Studenten eine reichliche Summe Geld und schrieben auf den Postabschnitt: „Das ist für die Zeche, das ist für den Spaß, – und dat is for de Gas!“

Polier, das Glasmacherdorf oberhalb von Bodenfelde, wird geneckt wegen seines vielen Pufferbak- kens, das da früher üblich war. Die Pufferpfanne stand, wie man mir in Schönhagen versicherte, aus jeder Haustür. Denn die Pfanne wäre so groß gewesen, daß zwei Mann anfassen mußten. Die Neckerei hat aber einen recht ernsten Hintergrund: Früher herrschte nämlich in Polier große Armseligkeit, so daß die Leute fast nur von Kartoffeln lebten: Morgens zum Kaffee „upgekokete“ (ausgekochte Kartof- feln); zum Frühstück Puffer, middags Klümpe (Kartoffelklöße), nachmittags Eisenkuchen (aus Kartof- Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 205 feln), abends wieder Kartoffeln. Die „oberen“ Arbeiter, nämlich die Glasmacher in dem Bruderdorfe Amelith, standen sich erheblich besser. Sie verdienten so viel, wie ich sagen hörte, daß sie nicht weg- zugehen brauchten; die unteren, die Spiegelmacher in Polier, so wenig, daß sie nicht fortkonnten. (Man sagt auch sonst von ärmlich wohnenden Leuten, bei denen also der Herd schon auf der Diele steht: „Beï den kucket äak de Pannenstihl iut dr Hiusdör.“)

Oldenrode, auf dessen Weperbergen ganze Haselwälder stehen, ist der Ort der „Nottkläppers“.

In dem Ackerdorfe Schlarpe (man sagt „up’r Slarpe“) „werd de Heilebeern upeklachtert“ (von Holz aufklaftern). Die Schlarper werden, wenn’s heftiger zugeht, auch „Heilebeerenhengste“ gerufen. Aber ich möchte niemand raten, sich diesen, Spaß zu machen. Dafür eine kleine Geschichte: Es war eine Hochzeit in Schlarpe, der Bräutigam stammte aus Delliehausen, und es waren deshalb auch Delliehäu- ser mit auf der Hochzeit „up’r“ Schlarpe. Als nun das Fest in vollem Gange war, ließ der Bauermeister von Delliehausen in wohl etwas vorgerückter Stimmung die Seinen zusammenkommen und sagte laut, daß alle auf dem Tanzsaal es hören konnten: „Dat segge eck jöck awer, bedraget jöck anstännig, un keiner fänget meck von Heilebeeren an!“ Die Schlarper hörten aber den spöttischen Unterton sogleich heraus, und schon ging eine Holzerei los, die der Hochzeit ein blutiges Ende bereitete.

Die Schlarper Frauen können sich mit den Frauen von Sohlingen und Sievershausen trösten, wenn man, wie z. B. in Schönhagen, sagt: „Wer de Fröue von Slarpe hät, briuket keinen Hund.“ Darauf be- zieht sich wohl der Ausruf beim Kartenspiel: „Von jeden Dörpe en Hund, un von Slarpe en Bello.“ Es heißt auch: „Schlarpe, Lichtenborn un Fürstenhagen hät de Duiwel täaur Leiiftucht.“

Schönhagen ist das „Miutendörp“, von dem dort beliebten „Miutenbrei“. Es gibt „seuite Miuten“ und „siure Miuten“ (süßen und sauren Brei), auch „Rei-iwelmiuten“ (Reibebrei) gibt es. Wenn nämlich kein Mehl da war, wurden Kartoffeln gerieben. „Siure Mehlklümpe“ werden mit dicker Milch ange- rührt. Der frühere Bauermeister Utermöhle mochte sie so gern, wie mir sein Sohn erzählte, daß er sie als ein „Häreneten“ (Herrenessen) bezeichnete. Gern neckt man daher die Schönhäger mit ihrem „Miutenessen“: „Siure Miuten un seuite Miuten un Siuerdeigskäauken (Sauerteigskuchen), dei smec- ket gi-ut!“ – Daß aber Schönhagen kein armes Dorf ist, beweist uns der Reim, den ich in Lauenförde hörte: „Schönnhagen, da föhrt se’t Geld up’n Wagen.“ Wiederum heißt’s: „In Schönhagen sind de Hunne verfroren, un de Katten gaht barwesch“ (– die Katzen gehen barfuß).

Schoningen: „Heubalg“, „Heubälger“. (?)

Schorborn, am Nordrande des Sollings, wird mit dem Schorbornschen „Heilebeernfeste“ geneckt und mit den vielen „Heilebeernkäauken“, die da gebacken werden. In der Tat fehlte es den Schorbornern selbst in der Hungerzeit des Krieges nicht an dem gewohnten weißen Heidelbeerkuchen. – Aus ziem- lich durchsichtigen Gründen ist1 Schorborn im Volkswitze in „Ninive“ umgetauft worden.

Sievershausen, das schon erwähnte große schöne „Wilddiebsdorf“, führt den Beinamen „in Smolte“. Es hat noch allerlei unter seinem bösen Ruf aus früherer Zeit zu leiden. Man sagt, es wären Nach- kommen kroatischer Truppen aus dem 30jährigen Kriege in S. hängen geblieben. Was Wahres daran ist, ließ sich nicht feststellen. So viel ist jedenfalls gewiß, daß die Sievershäuser lebhaftere und vor allem gerissenere Charaktere sind als die Sollinger im allgemeinen. Aber das mag seinen Grund auch in folgendem haben: Noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts kamen die Sievershäuser als Hausie- rer, vor allem als „Hollandsgänger“ in der Welt herum. In den Dörfern bei Uslar hörte ich sagen: „Wenn me bläat ’n Seuivershiusschen Kerktoorn suiht, denn is ’me alle bedragen.“ Ich habe aber treff-

1) Im Original-Buchtext steht an dieser Stelle „st“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 206 liche Leute in Sievershausen kennen gelernt, vor denen dieser alte Ruf verblaßt. Es sei an dieser Stelle auch der Spruch angemerkt:

„Sievershausen lang, Hilwartshausen blank, Relliehausen rund, Lauenberg im Grund.“

Silberborn oben auf dem Moosberge, das „niege Dörp“, ist wegen seiner Entlegenheit von dem Holz- mindener Landbriefträger Eigener, einem Original, in „Algier“ umgetauft worden. Er ärgerte sich, um eines „lumprigen Kreisblattes“ halber so oft den zwei- bis dreistündigen Weg von Holzminden hinaus machen zu müssen. Das Wort wurde von den Sollingern schnell aufgegriffen und beibehalten.

Die Silberborner haben immer gut gesungen, wie ich an anderer Stelle nachwies. Trotzdem muß sich der dortige Gesangverein von den nächsten Dörfern gefallen lassen, daß ihm der Titel „Silberborner Grülekers“ angehängt wird. (Von „gröhlen“ = schreien.)

Sohlingen, zwischen Uslar und Schönhagen, muß, wie Schlarpe und Sievershausen, oft seine Frauen verteidigen. Ein alter (Eschershäuser) Maurermeister, der seine Frau von Sohlingen hatte, pflegte, wenn er mit ihr uneins war, in seiner Ungehaltenheit, aber immer mit einem scherzhaften Unterton zu sagen: „Wenn de Wind von Sohlingen kümmt (Westwind), dä döcht nech, wer awer dei Fröue von Sohlingen hät, dat is noch vele slimmer.“ Andere ergänzten das: Wenn einer die Frau von Sohlingen hätte, brauche er keinen Hofhund, denn die täte das Bellen allein. Wenn die Sohlingerin von ihrem Manne spricht, sagt sie „mein Kiärl“ (mein Kerl), was ich sonst nur von einer Frau auf der Weper hörte, die aus dem Einbeckschen dorthin geheiratet hatte.

Trögen: „Schettkempen“, oder auch „Hägenköppe“ (Häge-Hede). Auch: „Kempennest“. Erklären konnte man mir diese Spitznamen nicht.

Thüdinghausen, das schon außerhalb des Sollings vor den Ostbergen gelegene reiche Ackerdorf, teilt mit Schorborn den Namen „Ninive“, wahrscheinlich, weil es in Th. hoch hergeht. Als einmal gelegent- lich eines Festes dort eine kleine Meinungsverschiedenheit entstand, hörte man einen von außerhalb gekommenen Gast rufen: „No, tein Gerechte werd ja doch in Ninive (Sodom?) woll noch inne seuin!“

Uslar, die Kreisstadt, hieß früher „Ziegenstadt“, wurde aber von dem originellen Chausseewärter Klinge in Allershausen in „Luffendörp“ umgetauft. Vom Uslarer „Pänder“ (Windwehr) sagte man: „Achterluffen un Ratwost was den Windwehr seiine Leiifkost.“ Es gibt auch ein harmloses Spottlied auf die Uslarer, das sich auf die starke Bevorzugung der guten alten Gastwirtschaft „Deutsches Haus“ (früher Engelmarten) bezieht:

„Wenn die Glocken läuten Trinken wir ’n Klaren Und der Hirt treibt aus, Und auch ein Glas Bier; Sind wir schon bei Zeiten Dann kann man erfahren, In dem »Deutschen Haus«. Was in der Stadt passiert.“

Vahle neckte man mit seiner Glocke, die im Zwetschenbaume hängen und rufen soll: „Pankäauken, Söu’rdrinken!“

Volpriehausen: „Stippmelk“, weil die Besucher bei Festen früher hauptsächlich mit Stippmilch trak- tiert wurden, die von den Landleuten in der Regel nicht so recht gewürdigt wird. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 207

Wahmbeck: „Keiilhender“ (Henderk?). Wenn ein Wahmbecker in einen anderen Ort kam, hieß es: „Dat is ’n Keiilhender!“ Und man reizte ihn wohl auch: „Keiilhender, happ, happ!“ Bei W. hat es im- mer viel Wildschweine (Keiler) gegeben, worauf der Name zurückgeführt wird. Gelegentlich hört man die Redensart: „Et is heïgger better as vor Wahmbecke in Drecke.“

Wiensen nennt man „Breuiwiensen“ (Breiwiensen). „Die kunn ’s gemach!“ sagte ein Wollkämmer vom Eichsfelde, als er in dem Dorfe mehrere Wochen Wolle gekämmt hatte und nun in ein anderes Dorf kam. Und er begründete das charakterisierende Wort folgendermaßen: „Da kam ich hin nach Wikens, da gab’s Brie; da kam ich hin nach Papens, da gab’s abermals Brie; da kam ich denn nach Manshausen, da gab’s auch Brie; und bei Blomeyers gab’s Brie, bei Siebrechts gab’s Brie; und da kam ich denn nach dem Schulmester und denke: Da gibt’s kenen Brie – und da gibt’s denn den ganz blitz- blogen Heilebeerbrie ...! Hol mich der Teufel das ganze Briewiensen!“

Der arme Wollkämmer war aber noch nicht zu Ende. „Und da kam ich“, so erzählt er weiter, „nach Schoningen, bi di ole Johannings – die kunn’s gemach! Da gab’s dicke Bohnen mit Speck.“ Und da hat er denn seinen inneren Menschen wieder ins Gleichgewicht bringen können.

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Lebensanschauungen in Sprichwörtern und Redensarten. Es ist mir leider nicht möglich, den ganzen Sprichwörterschatz des Sollings an dieser Stelle unterzu- bringen; ich muß mich auf einzelne Gruppen beschränken, die aber auch zur Charakterisierung der Denkweise und der Sprache der Sollinger ausreichend sein werden. Wenn ein und dasselbe Wort nicht immer übereins geschrieben wurde, so ist das nicht etwa Willkür, sondern ein Zwang, der sich aus den örtlichen Abweichungen ergibt. Völlige Lautrichtigkeit läßt sich ja kaum erzielen; ich hoffe, ihr aber so nahe wie möglich gekommen zu sein.

Armut. Wenn iusereins mal wat Gäaues hät, will’t meuin Li-ewe nein Dag wär’n. (Wenn unsereiner mal was Gutes hat, will es mein Leben kein Tag werden. Ein armer Mann wollte schlachten und freute sich wie ein Kind auf das Schlachtefest. Die Uhr war aber um halb sechs stehengeblieben, und es blieb halb sechs, so oft er auch hinsah. Dabei hatte er aus Ungeduld den ganzen Branntwein ausgetrunken.)

Wenn de Beddelmann nitz hebben sall, fällt ’n dat Braud dor’n Buil. (– fällt ihm das Brot durch den Beutel.)

Ein fröhlich Harte un neinen Groschen Geld, dat is ’ne Gabe Gottes. (So sagte ein Schoninger. Er war so arm wie eine Kirchenmaus.)

Jetzt wäre ich mit meinem bloßen Gelde ein armer Mann, wenn ich nicht mein reiches Gemüt hätte. (Äußerung eines verarmten Sägeschneiders.)

Wenn eck auk nich sau visele verdeine asse dau, eck k... doch, wenn auk dünne! (Lauenf.)

Na-ut lährt bäen, un ’t Beddeln ’n Buil flicken. (Not lehrt beten und das Betteln den Beutel flicken.)

Leiwe Gott, wer deinen mott un hät blaut ein paar Schauh un gaht dami-e nahr Danzmuse-ik, denn gaht ser auk noch tau. (Lauenf.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 208

Vom Ackern und Rackern. Drespen un Ralen, kann de Biuere mie mahlen, awer bei Fosswanz un Merl mäut hei beddeln. (Wenn der Bauer seinen Acker so bearbeitet, daß als Unkraut nur Drespen und Baden zwischen der Frucht wachsen, dann kann er noch bestehen. Aber wenn er so schlecht ackert, daß nur Fuchsschwanz und Merl darauf wachsen, dann muß er bald betteln gehen.)

Wo dei kein Flaß krigt, da is keine Häge (Hebe) wossen. (Pflegt man von jemand zu sagen, der es versteht, etwas vor sich zu bringen.)

Hei hät’t sä hille, as ’n Hund in der Metten. (Ein in die Metze gestellter Hund läuft immer rundum.)

„Kumm, August, mütt Futter snei’n – dä Kauh hät nich mähr te freten!“ „Giff’ne lang, se sche-itet doch kort.“

Landschrapp is better as Schepelschrapp. (Wer das Stoppelfeld absucht, gewinnt mehr, als wer im Scheffel noch verlorene Körner finden will.)

Et is better, vor seck Scheuiten dragen, as vor andre Luie Gold graben.

Wer in Sommere Hasen jöggt, mäaut in Wintere Hunne futtern.

Kümmt me owern Hund, kümmt me äak owern Swanz.

Heuneken (Hühnchen), wutte freten, sä mäauste kleien (kratzen).

Tinsen un Plückeschullen etet mie iut ’n Nappe.

En klein Verdeinst, deiümmegeiht, is better as en graut, dei stille steiht. (Lauenberg.)

Wer de Egen sülben tuiht, dei weit, wo se geiht. (Wer die Egge selber zieht, der weiß, wie sie geht. Der Bauer zieht die Praxis dem Besuch der Ackerbauschule vor. Ist aber heute auch schon anders ge- worden, wie man an dem lebhaften Besuch der landwirtschaftlichen Winterschulen in Uslar und Nort- heim sieht.)

Wenn me teroie geiht, geiht me’n Duiwel in de Meute. (Wenn man zurückgeht, geht man dem Teufel entgegen.)

Dat is halw int Hemd, halw in de Hosen. (Soviel wie nichts Ordentliches.)

Wer’n Fostmann gäaut estreuiten kann, passet gäaut beui’n reuiken Mann. (Wer den Forstmann gut streicheln kann, paßt gut zum reichen Mann.)

Säa Luie, säa Wark! (So wie die Leute, so das Werk. Lauenf.)

Wenn de polsche Osse man ’n Dalder kostet und deck seilt ’n Grosche, denn kannste ’ne nich betalen. (Sagte ein Bauer in Schönhagen, der einen Morgen Land billig gekauft hatte, zu seinem Sohne, als der ihm vorhielt: „Vader, da mosteste mei’r keiipen“ (mußtest du mehr kaufen.)

Kümmt me iut der Na-ut, denn kümmt de bittre Da-ut. (Wenn man sich’s in langen Jahren hat blutsau- er werden lassen und es nun besser haben könnte, dann kommt plötzlich der Tod.)

As einer seek beddet, sä lait (liegt) hei.

Et is nich liuter Verdeinst, ’t kostet auk Slünke. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 209

Sä as de Minsche ett (ißt), sä arbeit hei auk.

Mancher leggt den leddigen Arm be-i den leddigen Darm. (Er tut nichts und hat nichts.)

As de Häre, säau de Päre. (Wie der Herr, so die Pferde.)

Hät de Duiwel de Zi-ege hoalt, kanne den Bock auk elangen. (Hat der Teufel die Ziege geholt, kann er den Bock auch holen. Bei schwerem Verlust mehr aus Arger denn aus Gleichmut gesagt.)

’ne Käau (Kuh) decket alle Armäet täau, un ’n Schoap lätt keinen Minschen nackend gahn.

Vor dem Kreiige wuren de Schoape „getreten“, un jetzt wäret se „gebeten“. (Sagt Lewaise Heise in Lauenberg.)

De Luise un dat Flicken sind iut der Welt herriut, sagte eine Frau aus Vahle. „Awer huite sind se weer da“, sagte (1922) die Minnatante in Dassel.

Vom Essen und Trinken. Better ’ne Lius (Laus) in Kauhle, as gar nein Fleisch. (Galgenhumor bei mangelhafter Mahlzeit.)

Klümpe füllt de Böuern de Rümpe.

Eiile Bräat tuit manche Schelme gräat. (Eitel Brot zieht manche Schelme groß.)

Eiile Bräat un da nitz täau, dat gewet dicke Buike, un wer dat nech ehebben kann, dei krigt de gele Suike. (Eitel Brot und da nichts zu, das gibt dicke Bäuche, und wer das nicht haben kann, bekommt die gelbe Seuche.)

Einmal schegger un denn kein Spegger. (Einmal schier und denn kein Spier. Bezieht sich auf Leute, die z. B. nach dem Einschlachten nicht einzuteilen wissen und schon im Frühjahr mit dem ganzen Schwein zu Ende sind, so daß sie dann das Brot trocken essen müssen.)

Eiile Bräaut un Ringen (Brotrinden) da kann’n gäaut nah springen.

Frisch Bräat un Mäaus (Mus) kann me noch Klümpe anne dal sliuken, as’n Gewehrkolben dicke.

Hunger un Dost, Hitte un Frost, un nitz in Leuiwe, dat sind feuiwe. (Hunger und Durst, Hitze und Frost und nichts im Leib, das sind fünf.)

Is dei Kirsche raut, is dei grötteste Naut, is dei Kirsche swart, is’r denn doch wat. (Ist die Kirsche rot, ist die größte Not, ist die Kirsche schwarz, ist denn doch etwas da.)

Man dor geraket, Herr Kanter, et gifft auk noch Smantstippenl (Wenn jemand zum Zugreisen ermun- tert werden soll.)

Rüttgereii (Grützebrei) un Pannekäauken mag Hawermann nich! (Früher wurde in Schönhagen beim Mähen auf der Wiese Miuten [Grützebrei] mit Pfannkuchen gegessen. Als dann der Kaffee aufkam, wollte ein gewisser Obermann keinen Brei mehr essen, und so bildete sich jenes Wort, das aus Ober- mann einen Hawermann machte.)

Eten un Drinken smecket, blat iümmer meue. (Antwortete ein Lauenberger dem Arzte, als der ihn fragte, wie er sich befände. Hörte die gleiche Redensart auch in Berlin.)

Wenn de Tropp dicke is, werd’t Speul dünne. (Bezieht sich auf kinderreiche Familien.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 210

Eck un de Mester, we möget nech vele! (sagte der Schmiedsjunge, als er mit zwei Kannen Branntwein in die Wiesen kam und von mehreren geneckt wurde, daß es zu wenig wäre.)

Wer seck nech satt ett, licket seek äauk nech satt.

Wer vele hacket, dei vele ..... (Wer viel verkonsumiert, hat einen tüchtigen Stoffwechsel.)

Wer teleßt kümmt, dei sitt öwel, oder ett öwel. (Wer zuletzt kommt, der sitzt übel oder ißt übel.)

Wat me spart dor’n Mund, dat frett Katte un Hund.

Wenn de Gäse (Gänse) Water seiht, säau willt se siupen ...

Wat dei Böuere nich kennt, dat ett (ißt) hei nich.

Eck häau (habe) säaun’n Hunger in ’n Kamisole.

Wenn eck wat ete, iher (eh’) eck wat ete, kann ’ck nich’e eten, wenn ’ck wat ete.

Drastische Kinderlehre. Wenn kleine Jungens die „Schnütte“ hängen lassen, sich also die Nase nicht wischen, sagt man in Eschershausen: „Die Mann von ’n Eikesfelle is äak alle weer da.“ „Was will denn der?“ „Aach, dei will dei kleinen Schnuttkindere langen!“ Und bedächtig wird hinzugesetzt, von den Jungens würden Hosenträger gemacht, von den kleinen Mädchen Schlipse. Dann stehen die Kinder aber und reiben sich mit den Ärmeln die Nasenlöcher.

Gah nah Olnrue nah’n Marke un lang deck’n Miul. (– und hol dir einen Mund. Ich fragte ein kleines Mädchen nach seinem Namen. Als es keine Antwort gab, fuhr die Mutter es mit dem Worte an. Olden- rode, ein ganz kleines Dorf auf der Weper, hat natürlich keinen Markt.)

Gah nah Esebeck un käp deck’n Smökemiul. (Geh nach Esebeck, Dorf bei Göttingen, und kaufe einen Smökemund. Ein Anfänger im Rauchen wird so zurechtgewiesen.)

„De Hase mutt’r nöu awer bäale riut!“ (Rufen die Mäher, wenn sie den Weizen oder Hafer bald abge- mäht haben, oder wenn es schwer zu Ende gehen will. Werden die Kinder, die man zur Hilfe mitge- nommen hat, müde, so ermuntert man sie noch auszuhalten, denn gleich würde der Hase herauskom- men. (Vgl. Kück u. Sohnrey, Feste und Spiele des deutschen Landvolks. 2. Aufl., S. 160.)

Spreck, wenn seck de Handäauk reget. (– Handtuch rührt. Gegen vorlaute Kinder.)

Hei lütt ’n Esel iut. (Er läutet den Esel aus, wenn ein Kind unschicklich die Beine schlenkert. Wenn es in ungehöriger Weise den Kopf stützt, heißt es: Hei töämet ’n I-esel. (Er zäumt den Esel.)

Junge, wer (werde) nitz, denn blifste, watte bist, un denn biste näaug. (Sagte Mutter Utermöhle in Schönhagen zu ihrem Sohne.)

Dei Jugend is ’n güllen Barg, awer wo lichte glippet (gleitet) me ’rund er. (Bemerkte ein alter Schäfer auf der Weper.)

Klein un kri-egel is better as-gräaut un’n Fli-egel.

Wer den Eldern nich folget, dei folget ’n Kalffelle. (Lernt hinter der Militärtrommel.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 211

Von manchen Jungen soll ’n Smandleppel (Sahnenlöffel) wern, un lt io ’n Sleiw (gwöhnlicher großer Schöpflöffel) davon ewurn.

Gun’ Morgen, segt de I-esel, wenn hei in die Möhle kümmt.

Ein Voader kann eher tein Kindere ernährn, az tein Kindere ennen Voader.

Gah nich an de Arften, da is dat Arftenweiif manke! (– Erbsenweib zwischen. So hörte ich in Eschers- hausen die Kinder warnen. Könnte mythischen Ursprungs sein.)

Sonstiges von Kindern. Kleine Kindere trä’t der Mutter up de Hänne, graute up dat Harte.

’ne Kinderhand is lichte te füllen.

Kindere häaut gräaute Aaugen, awer kleine Hänne.

De Kindere un de Narren dei plappert alles iut.

Lüttge Muise häaut auk Swänze.

De kleinen Kindere un de Mästeswäine die möttet den mährsten Dost leggen. (– mehrsten Durst lei- den.)

Speggekindere sind Deggekindere. (Sabbernde Kinder sind Gedeihekinder.)

Hai kann an ’ner Wägen (Wiege) seihn, wenn ’t Kind wat maken will.

In Gottes Nam – – (ein anderer einfallend) wird alle Horkindere doft, blaut in Cammerborn nich. Wo- rümme nich? Da komet se’r mee nah Schönhagen. (Die Cammerborner gehören zur Kirche nach Schönhagen.)

Wenn’t Kind edofft (getauft) is, willt alle Luie Vadder seuin.

Mädchen. En jung Mäken (Meken) mött nah einer Feddern ower si-eben Tuine springen. (Aach einer Feder über sieben Zäune springen.)

Wenn dei Mäkens sleitchet, huilt dei Engele in Himmele. (Wenn die Mädchen pfeifen, weinen die Engel im Himmel.)

Mäkens, dei fleitchet, un Häunere, dei kreihet, sind wert, dat me ’ne den Hals ümme dreihet.

Wenn de Mäkens edrunken häaut, säau willt de Feute danzen, oder: sleit de Rock in Fäalen (Falten).

Kort un dicke hät nein Geschicke, lang und slang hät nennen Gang; awer’n Mäken von meuiner Mäu- te, dat ziert de Straate.

Eine hölten Dochter is better as eine goldene Swägerdochter.

Den hübschen Minschen verschellet (verunstaltet) nitz, den häßlichen mag ’t sachte seuin. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 212

Nitz is wat in Aage, awer Ritz is nitz int Leuiw. (Nichts ist was ins Auge, aber Nichts ist nichts in den Leib. Will dasselbe sagen, was man hochdeutsch so ausdrückt: Schönheit kann die Augen füllen, aber nicht den Hunger stillen.)

Feute glatt, Kopp glatt, dat is de halwe Britoschatt. (Wenn ein Mädchen Schuh und Strümpfe gut in Ordnung hält und immer das Haar glatt kämmt, so ist das der halbe Brautschatz.)

’ne einzige Dochter un ’n Foßperd, wenn die inschla’t, sind se Geld wärt.

’n Melen kriegt säau grade ’n Lack as ’n witt Kläd ’n Plack.

Dat sall woll gahn, sise dat Mäken, da hart ’t ’n Kind mit ein’n Beine kri-egen (Schönh.)

Hochzeit. De Li-ewe fällt säau dra up sn Dreckllack (Käauschett), as up ’n Rosenblatt.

Käp Nawers Rind, freigge Nawers Kind, denn weißte, datte deck nich bedrogen findst.

Wat täasammen sall, kümmt täasammen, un wenn et de Duiwel up der Schindertaren täasams men bringen mäaut.

Wenn ’t Mäken as’n Gössel sreiet, kann’t niemals ’ne Gaus wiern.

De Liebe in Harten un ’t Mäken in Arm, dat eine maket selig, dat andere warm.

De eine hät Lust terr Dochter, de andere terr Mutter.

’n Malen ohne Brödegam itz a ’ne Gauss ohne Swanz.

Ett iz nech alläne ’n Gottgeben, ett iz ’r äak ’n betten mie nah hebben. (Es ist nicht allein ein Gottge- ben, sondern man muß sich auch ein bißchen mit danach haben, wenn man zu einer Frau kommen will.)

Täneweih-dage, dat is keine Plage, awer ne Schatz hebben un suit (sieht) ne nich alle Dage, dat is ne Plage.

Wo me wat Weihes hät, da gript me nah, und wo me wat Leiiwes hät, da geiht ’n nah. (Wo man was Wehes hat, da greift man nach, und wo man was Liedes hat, da geht man nach.)

Freiggerigge – Prahlderigge! (Freierei – Prahlerei.)

’n Freiggedoalder sind 7 1/2 Gröschen.

Vor der Hochtait sind ’t Gulden, nah der Hochtait sind ’t Schulden. (Lbg.)

Wenn de Näaut in Potte is, geiht de Li-ewe täaun Schornsteine riut. –

Weii willt iuse Lumpen täahäaupe (zuhauf, zusammen) smeiiten, sä’e de Brödegam – un denn steke weii se an un verkeiipet (verkaufen) de Asche, denn kreiige wei Geld, sä de Briut. (Schönh.)

Nieren werd mähr bedragen as bai Freiggen un Pärhandel.

De Daut un de Briut hei’rt ’n rechten Weg iut. (Der Tote und die Braut gehören den rechten Weg hin- aus; Leichen- und Hochzeitszüge sollen also keine Richterwege nehmen. Schönh.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 213

Is nein Pott säau scheif, ’t passet ’r ’n Deckel up. (Es ist kein Topf so schief, es paßt ein Deckel dar- auf. In Sievershausen heiratete einer eine Hinkende. Auf dem Wege zur Kirche lachten aber die Leute, und da sagte der Bräutigam: Hätte er das gewußt, hätte er sie nicht genommen.) Dennoch heißt es:

’n beten scheif hät Gott leif.

Me mäaut ’n Mann nöhm’n ao ’e kümmt un nech, az ’e’seuin sall. (Man muß den Mann nehmen, wie er ist und nicht, wie er sein soll.)

Frauen. Huite deit de Duiwel Hiusseukige. (– Haussuchung. Wenn eine wütende Frau im Hause herumrast.)

Weiiwerkranken un Hunnehinken nümmt nein Enne.

Et vergeiht ’r ’ne Krankheit. (Sagt man, wenn eine ein Kind bekommt.)

Sä lange as de Besse negget (neu) is, fegete reine; wenne awer äault is, denn kratzete. (Wird auf die junge, herein geheiratete Frau bezogen.)

Hatchö, Hannepa’e, eck backe in iöuen Backomen nech mähr. (Adieu, Hannepate, ich backe in euerm Ofen nicht mehr. Bei Enttäuschungen, schlechtem Entgegenkommen.)

Nawersche, nühmet merk täaun Bräaken, eck kann kort Flaß lang emaken. (Zu Schönhagen gesagt, wenn eine Frau beim Flachsbrechen den Flache nicht fest hielt, so daß die Risten unordentlich in die Länge gezogen wurden.)

Hundert Daler in der Slippen (Schürze) sind lichte te verwippen.

’ne Friue kann in der Slippen mähr iut ’n Hiuse riut dragen, as se Mann mit ’n Häauwagen rin führen kann. (D. h. eine Frau kann mehr verkunkeln, als der Mann verdienen kann.)

„Iut der gröttersten Naut terirst“, si’e de Friue, da hakke se ’n Backetrog korrt und make ’r dat Suirwa- ter inne warm. (Aus der größten Not zuerst, sagte die Frau, da hackte sie den Backtrog entzwei und machte das Säuerwasser damit warm. Lauenberg.)

Täaun Lihren (Lernen) is keiner te ault, si de Friue, da lihre se noch dat Hexen.

Wenneken sind Underröcke. (Wird geantwortet, wenn jemand, der Luftschlösser baute, die Reden darüber immer mit „Wenn“ anfängt.)

Sei kann nitz verswäigen, wenn se keine Minschen suit (sieht), vertellt se’t den Gäsen (– erzählt sie es den Gänsen.)

Wenn de leiwe Gott ’n Narren hebben will, denn lätte den Mannsluien de Fröuen starmen.

De Friue härt int Hiuz, de Besse hinder de Dör un de Hund up’n Hoff. In Schönhagen setzt man noch hinzu: Un ’t Bedde nich up de Sträate.

Sei hät kein Kehr in Miule. (Spricht alles unüberlegt glatt aus.)

Dei mott me met ’r Harken in Bedde seuiken (Die muß man mit dem Rechen im Bette suchen. Im Hinblick auf eine zu kleine oder zu magere Frau.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 214

Wene is denn düsse Flau (Floh) ins Bedde hucket? (ruft man in Schönhagen beim Anblick einer unbe- kannten dicken oder großen Frau).

Eck lofte, eck härr’n Slag ekregen, sä’e de aule Botzmersche, da harr ’r de Blitz ’n Bodden iut ’n Mel- kemmere slan. (Ich glaubte, ich hätte ’n Schlag gekriegt, sagte die alte Vosmersche, da hatte ihr der Blitz den Boden aus dem Milcheimer geschlagen. – Eine wahre Begebenheit, bemerkte Schmiedskon- rad in Schönhagen dazu. Ein Beispiel, wie Sprichwörter oder sprichwörtliche Redensarten entstehen können. – Auch die Entstehung folgender Redensart ist den Schönhägern noch in Erinnerung:)

Ett is, datt eck ’r up te küörn kuome, süst seggte eck’r nitz vonne, sä’e de aule Jdalsche, denn vetellde se ’t täaun hundertsten Male. (Es ist, daß ich darauf zu sprechen komme, sonst sagte ich nichts davon –.)

Ins Sexuelle spielend. Dat mag sachte ’ne Riupe seuin, dei ’n Kauhl besch ... (– Raupe sein, die den Kohl –, wenn ein körper- lich unzulänglicher Mensch außerehelich Vater wird).

Et is keine Kapelle säa ault, ’t werdter ümmer noch mal inne sungen. (Sievershausen.)

’t is keine Stadt säa ault, ’t werd’r ümmert noch mal Market inne haulen.

Is keine Zi’ege sä äault, sei licket göirn mal Säault. (Es ist keine Ziege so alt, sie leckt gern mal Salz.)

’n braven Mann, dei wat genütt, awer ’n Hunsfott, dei wat iutseggt. (Als ich an einem Sonntag abend mit dem alten Bauermeister Wüstefeld in Nienhagen die Dorfstraße hinaufging, kamen wir an einem „Tropp Jungens“ vorbei und hörten, wie einer sich seines Erfolges bei einem hübschen Mädchen rühmte. Da wandte sich der Bauermeister zu mir und sagte dies Wort.)

Me mäaut kenne Katte in Sacke käpen!

Dei maket Kindere as ’n Reuigemann (– wie ein Reiheberechtigter. Zu Schönhagen von einem kinder- reichen Anbauer oder Häuslinge gesagt, dem soviel nicht zustehe wie dem Reiheberechtigten.)

Freundschaft.

(Fründschop.) („Frünne“ sind die Verwandten, in zweiter Linie erst Freunde.)

Frünne sind Hünne.

Släge frünnet nich.

Wer vor der Hölle wuhnt, mäaut den Duiwel täaun Frünne hebben.

Be Frünnen is gäaut Wanken, awer nein Kranken. Oder: Be-i frömden Lui’n is gäaut Wanken, awer nein gäaut Kranken.

Better ’n Nawer an der Hand, as ’n Fründ ower Land.

Dat Harte mäaut ’n Fründ hebben, un wenn ’t äauk mant ’n Tiunstaken is. (Hier ist nicht an einen Verwandten, sondern an einen Liebsten gedacht; man hört das Wort, wenn der oder die Liebste auffal- lend häßlich ist.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 215

Warnungen. Wenn de Smeete iut der Hand is, fäau hät ’n de Duiwel in der Macht. (Wenn der Wurf aus der Hand ist, so hat ihn der Teufel in der Macht.)

Man wahre seck der Däat, der Lögen is woll Räat. (Man hüte sich vor der Tat, der Lügen ist wohl Rat.)

En’n besapenen Minschen mäaut’n met’n Foier Höu iut’n Wege gahn.

Vom Verrär frett weer Hund noch Katte.

Eck late meck nich an’n Wagen p ....!

O weih, Herr Kanter, awer dütt Sommer öhre Gante! (– aber diesen Sommer ihr Gänserich! Andro- hung einer Rache, oft nur scherzhaft.)

Wer seek mank de Kawe (Kaff, Spreu) menget, den fretet de Sweuine.

Kümmst merk ower weer und bringest ’n Bessen nech mi-e. (Kommst mit aber wieder und bringst den Besen nicht mit! Wenn er dann die Sache nicht in Ordnung gebracht hat, wird gehörig mit ihm abge- rechnet werden.)

Der Scheffel blift in Hiuse. (Siehe S. 128.)

Dei geteiketen Schape frett de Wulf äak. (Die gezeichneten Schafe frißt der Wolf auch.)

Hei kann seck mant met’n korten Stocke wehren.

Hei hät’n lang Speit (Spieß, lange Stange) nöädig. (Sagt man in Schönhagen von jemand, um dessen Sache es flau steht.)

De Ziegen hewwet dat Holt noch nich alle uppefreten. (Die Ziegen haben das Holz noch nicht alle aufgefressen. Androhung von Schlägen.)

Barg un Dal meutet (begegnet) seck nech, awer de Minschenkindere.

Barg un Dal leuit stille, awer Minschenkindere begegent seek.

Wer dat Perd suit, briuket nah’r Kriwwen nich ta fragem. (Wer das Pferd sieht, braucht nach der Krip- pe nicht zu fragen.)

Besondere Lebensregeln. Wat me met ne Bänne binnen kann, da briuket me neinen Strick täau. (Was man mit einem Bindfaden binden kann, dazu braucht man keinen Strick. Will etwa sagen, daß ein Konflikt besser durch ein klei- nes Opfer, als durch einen großen Prozeß gelöst wird.)

Ein Brand brennt nech lange. (Wenn zwei in Streit geraten sind.)

Vorher Bescheid, maket naher kennen Kreit (Streit, Zank.)

Wenn döu up’n rechtn Wege geihst, slat deck kenne Dörn int Gesichte.

Mit dein Hunnen, wo’n mi-e frett, mäaut ’n äak mi-e beuiten. (Mit dem Hunde, mit dem man fr..., muß man au mit beißen.) Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 216

Wer ümmer glatt is, is nich einmal glatt.

’n Hundsfott in de Tasche steken und seïner Wege gahn. (Sich mit dem Streitsüchtigen nicht erst ein- lassen.)

Gah döu beui Dage un nech beui Nacht, denn briukeste kenne Lüchte. (Geh du bei Tage und nicht bei Nacht, dann brauchst du keine Leuchte.)

Kopp käalt, Fäaute warm und de Poorte open, denn hät de Dokter nitz te hopen. (Kopf kalt, Füße warm und die Pforte offen, dann hat der Doktor nichts zu hoffen.)

Wenn eck meck meuine Nese afsnegge, verschelke eck merk meuin eigen Angesicht. (Wenn ich mir meine Nase abschneide, verunstalte ich mir mein eigen Angesicht. Die Erklärung ist in Sirach 3, 12, 13 zu finden. Wer über ein Glied seiner Familie afterredet, tut sich selbst damit einen Schimpf an. Das könnten sich vor allem auch gewisse Zeitungen, die uns in aller Welt verstänkern, hinter die Ohren schreiben, bemerkte ein helläugiger Bauer dazu.)

Geiz. Seuin Geneuis is ebosten. (Sein Genuß ist geborsten. Der Mann, den ich das Wort sprechen hörte, erklärte es mir mit Beziehung auf Judas’ tragisches Ende. Er ist mitten entzwei geborsten. Gerade so sei es mit dem Geizigen, von all seinen zusammengescharrten Gütern hat er keinen Genuß, denn der ist ihm geborsten.)

Reuike Vader, reuike Moime, un alle beide gaht barwesch. (Reicher Vater, reiche Mutter, und beide gehen barfuß. Kennzeichnung des Geizes oder auch der Prahlsucht. Vgl. Kück, Das alte Bauernleben, S. 184. Moime ist ein längst veraltetes Wort.)

Genügsamkeit. Et is better, ’n Sparlink in der Hand, as ’ne Diumen up’n Dake.

Enge un woll is better asse wait un üöwel.

Et is better, armselig gefahren asse häauchmeutig (hochmütig) gegangen.

De Knüppel leiit bei’n Hunne. (– liegt beim Hunde. Er muß sich begnügen, weil ihm die Mittel feh- len.)

Der Prahler, Wichtigtuer und Hochmütige. Hei is kläauk as negen lüttge Dörpern, wu keine (neine) Luie (Leute) inne wuhnt.

Hei kacket äauk nech mal an’n Emmere (Eimer) votbeii.

Hei hät Ledder an Miule.

Et is ’n Niegenklauk. (Neunmalkluger. Lauenf.)

Hei is säa kläok, hai kann an’n Strumpe feihn, wenn et Bein awe is. (Lauenberg.)

Die hät auk ’ne gäaue Snur vor der Peuitsche, dei kann gäaut eklappen. (Der hat eine gute Schnur an der Peitsche, der kann gut schwatzen. Schönh.)

Dei hät von dr Häaunderfott (Hühner-) efreten. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 217

Dat is kenne geringe Katte, dei ’n Pund sch....

Ruhig in der Wache, de Capral hät esch......

Dei meint gewiß, de gräate Hund wöre fäin Pa’e, is awer lange säin Vedder (Vadder) noch nich (– wäre sein Pate, ist aber lange sein Gevatter noch nicht. Vetter hätte doch wohl keinen Sinn.)

Dat sind Snittgen we-i halwe Appeln. (Schnitte wie halbe Apfel: dicke Lügen. Lauenf.)

Leddige Pötte klappert, un leddige Köppe plappert.

Je leger (magerer) de Pracher, je grötter de Kracher.

Wenn e-üten Buil ’n Sack werd, will de Timpel dull wären. (Wenn aus einem Beutel ein Sack wird, will der Zipfel toll werden.)

Hei is in Warke as Tweiile in Bleiike, hät ölmen Paar Handschen un in keiner ’n Diumen (Daumen) inne. (Schönh.)

Dummheit. Dei lachet as en Honnigkäukenpärd.

Dei is säu dumm, as ’t Water in der Keiipen. (– Kiepe. Schönh.)

„Dei hät ein’n met’n Holschen (Holzschuh) ekregen.“ (Als der Lehrer von Gierswalde einmal das Wort anwandte, wurde man im Dorfe sehr böse auf ihn, und er hatte lange zu tun, um den üblen Ein- druck, den er dadurch hervorgerufen hatte, zu verwischen.)

Gä-utheit (Gutheit) is Dummheit.

Dei hät kenne Mathemate-ik in Koppe. (Wenn einer sich konfus zeigt.)

Wu alle dumm sind, is lichte Böuermester spi-elen.

De Dummen weret nich alle, hinger Dingsda häaut se allwier ein paar Morgen seiet (gesäet). —

Der Langsame, Schwerfällige und der Faule. Dei ist auk nech von Haste, dei is von Lenglern. (Wenn einer langsam arbeitet. Haste und Lengelern sind Dörfer im Kreise Göttingen.)

Käauken backen will Weuile (Weile) hebb’n.

Wer löppt un leuit, wer sachte geiht, kümmt eben säau weuit. (Wer läuft und liegt, wer sachte geht, kommt eben so weit.)

Wer langsam geiht un gar nech steiht, kümmt eher hen, as wer grade geiht un ümmer steiht.

Eh de Esel tweimal geiht, drögte, datt ’ne ’t Leiif weih deiht. (– trägt er, daß ihm der Leib weh tut.)

Wenn dei Böuere nech mäaut, reget hei we’er Hand noch Fäaut.

Je hüller, je düller. (Je eiliger, desto toller.)

Hei is ’n richtigen Fall in de Grütte. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 218

Wenn de Dag is vergahn, härrn dei Fiulen auk gern wat edahn.

Wenn’t duister werd an’n Wännen, säau reget die Fiulen de Hänne.

Nachklang vom Schützenfeste. Wenn Sommermusik im Grünen veranstaltet wird, werden die Zelte mit Büschen begrenzt. Wer sich übel ausführt, „fleiget dor de Maibüsche“.

Wer des Guten zu viel genoß, „dä hät einen in’n Baste“, oder „hei hät seck einen int Gesichte goten“, oder „hei is stramm, dicke“.

Ist das Fest vorüber, und die Musikanten packen ihre Instrumente ein, müssen sie noch zum letzten Male aus dem Stegreif spielen, „einen iut der Mütze maken“, auch „einen im Stahn maken“.

Gelegentlich erinnert ans Schützenfest auch der Ausruf: „Meiers Mutter, iuse Heinrich is Könnig ewo- ren! Chrischan, bür de Fäahne hauch!“ Ebenso:

Janechen, de Musekanten blaset alle, un döu häst noch keine Schärten (Schürze) vor! (Silberborn.)

Müller, Bäcker, Schneider, Schäfer und Schinder. Dat is ’n ganz ander Küern (Korn), si-e de Mölder, da harr hei up’n Miuseköttel bi-eten.

Wenn man ’n Bäcker und ’n Mölder ’n Barg runder wältert, denn möget se liggen, wei se ligget – je- desmal liggt ’n Spitzbiube oben. (Lauenförde.)

’ne Müöhle in Dörpe, un ’n Kräaug beii der Kerken dei niert ühren Härn. (– und ein Krug bei der Kir- che, die nähren ihren Herrn.)

De Geschmäcker sind verschieden, si-e de Schnaier, da gaff hai der Zi-egen en Kuß mang de Hüren. (– sagte der Schneider, da gab er der Ziege einen Kuß zwischen die Hörner.)

De Schaper und de Schinder sind Swestern- un Bräauerskinder.

Das Alter. ’n ault Fohrmann härt gärn klappen.

’n gäaut Vormedag, ’n slecht Nahmedag. (Wer am Vormittag, also in jungen Jahren, wenn ’s ihm gut geht, nicht an den Nachmittag, also ans Alter denkt, muß hernach darben. Wenn’s einem solchen im Alter schlecht geht, hört man wohl: „Aach, dei hät’n gäauen Vormedag ehat, nöu mäaute äauk ’n slechten Nahmedag verdragen könen!“)

Wer vor Fufzigen ritt, mäaut nah Fufzigen te Fäaute gahn.

Eck häau alle manchen Snei edacht. (Ich habe schon manchen Schnee gedacht. Der alte erfahrene Sol- linger braucht mit Vorliebe diesen poetischen Ausdruck.)

Je ölder, je dölder. Dat Older krigt ’n Kolder.

Wat den Minschen in der Jugend feilt (fehlt), hät hei in Oldere genäaug (genug).

Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 219

Berichtigung.1)

S. 106 muß in dem letzten Absatze Zeile 3 eingeschaltet werden: außer Lüchtringen; denn auch Lüchtringen, daß ebenso wie Würgassen hart an der Weser liegt, aber noch zum Sollingsgebiet gerechnet werden muß, ist ein katholisches Dorf.

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1) Diese Berichtigung ist in dieser Neufassung in den laufenden Text mit aufgenommen. Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 220

Heinrich Sohnrey, „Tchiff tchaff toho!“, gedruckt 1929, Seite 395:

Als erster Band erschien:

Die Sollinger

Volksbilder aus dem Sollinger Walde 3. Tausend. Ganzleinenband M. 6.–

Halbpergamentband, numeriert u. vom Verfasser signiert, M.15.–

,,Die Sollinger« sind ein wundervolles Buch, es will mit einem feinen gläubigen Herzen gelesen wer- den, dann erquickt es aber auch und macht gesund und stark wie der Herbststurm, der durch die hohen Buchenwälder des Sollings braust. Prof. W. Feise-Einbeck im „Hannoverschen Kurier“.

... das gereifte Werk eines unermüdlichen Forschers ... Dabei wird, ohne daß der Wahrheit oder dem wissenschaftlichen Zweck Abbruch geschieht, die Darstellung durch viele persönliche Züge belebt, und da über dem Ganzen, neben der Liebe zur Sache und der Klarheit eines treffsicheren Urteils auch die Sonne eines goldenen Humors leuchtet, so ist ein Buch entstanden, das nicht nur für Hannover und seine Nachbargebiete einen Wert bedeutet, sondern das überall seine Freunde finden wird, wo man an einer meisterhaften Darstellung deutscher Volksart Freude hat. Prof. Dr. Ed. Kück in der „Deutschen Allgem. Zeitung“.

... Die Leute im Solling haben das Glück, daß ein Mensch unter sie geraten ist, der sie nicht bloß mit den Augen des interessierten Gelehrten, sondern auch mit dem warmen Herzen seines echten „Volks- mannes“ angesehen hat und der zugleich die sowohl zarte wie derbe Künstlerhand besitzt, um aus dem Gehörten das Lebensbild eines Menschenschlages zu formen .. Es ist ein Buch daraus geworden, das man nicht nur seines wissenschaftlich interessanten Inhaltes wegen zur Hand nimmt, sondern das man mit Behagen liest. Es ist sogar zu vergnüglichem Vorlesen am Familientisch geeignet. Alt und jung ergötzt sich daran und lernt zugleich daraus. Für den Wanderer ist ein solches Werk eine gute Vorbe- reitung, wenn er „auf Fahrt geht“. Er wird nun nicht mehr bloß für die Natur und die „Kunstdenkmä- ler“, sondern auch für das naturgewachsene Volk offene Augen haben und ein verständiges Urteil ... Besonders anziehend sind die einzelnen Menschengestalten von typischer Bedeutung, die Sohnrey vor uns hinstellt ... Dr. Wilhelm Stapel in „Der Deutsche“.

... Was er in seinen „Sollingern“ geschaffen hat, ist wie ein Quell, der immer sprudelt, immer auch gleich frisch und klar und köstlich. Literarische Umschau der „Deutschen Tageszeitung“.

... Jetzt, in Zeiten, in denen man sich überall bemüht, aus dem politischen Deutschland und seiner Aeußerlichkeit ein wirkliches Volk zu schaffen, werden solche Bücher von grundlegendem Werte sein. „Germania“, Berlin.

... aber das wissenschaftlich so hoch anerkannte Buch ist doch auch wieder kein allzu streng und eng wissenschaftlich abgegrenztes. Dazu schildert es die Menschen viel zu liebevoll. „Tägliche Rundschau.“

... ein Buch, das wir allen Freunden kernhaften deutschen Volkstums warm empfehlen. „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde“, Berlin.

... Wie in allen seinen Werken ist er auch hier weder Romantiker noch Moralist, vielmehr sorgsamer, pietätvoller Beobachter und wahrheitsliebender Berichterstatter, der die Menschen nimmt wie sie sind, Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 221 die Sollinger Bauern nicht anders. Was der Verfasser schreibt und schildert, hat er selbst erlebt oder wie ein anderer Riehl selbst erwandert und im Ort und Stelle selbst erforscht. „Kölnische Zeitung.“ Sohnrey, Die Sollinger Stand: 31.12.10 222

Anmerkungen: Der Buchtext wurde in digitaler Form im September 2010 erfasst von:

Armin Osenbrück Contzenstr. 1 b 50739 Köln

Die zum Zeitpunkt des Buchdrucks gültige Rechtschreibung wurde beibehalten.

Einige wenige Fehler, die beim Satz des Buchdruckes entstanden sind (Druckfehler), wurden korri- giert und in den Fußnoten markiert.

Die am Buchende aufgeführte Berichtigung wurde in den laufenden Text eingefügt und mit einer Fuß- note versehen.

Die Formatierungen (Text eingerückt, gesperrt gedruckt oder Verbindungsbögen über plattdeutschen Silben – sind nur mittels Fußnoten gekennzeichnet) sind noch nicht berücksichtigt.

Ebenso fehlt der Text der jeweiligen Kapitel in der Kopfzeile, dafür sind ist dort Autor und Buchtitel angegeben.

Es gibt eine zweite, erweiterte Auflage des Buches, die im Jahre 1935 gedruckt wurde.