Verfassungsschutz 1952–2012

Festschrift zum 60. Jubiläum des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg

Verfassungsschutz 1952–2012

Festschrift zum 60. Jubiläum des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg

Herausgegeben in Stuttgart im Dezember 2012 Herausgeber: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg Taubenheimstraße 85 A 70372 Stuttgart www.verfassungsschutz-bw.de Redaktionsleiter: Georg Spielberg Redaktionsschluss: 31. Juli 2012 Umschlaggestaltung: Maren Schnizer Gesamtherstellung: Gebr. Knöller GmbH & Co KG, Stuttgart

Für den Inhalt der Beiträge sind die Autorinnen und Autoren verantwortlich. Die Beiträge sind keine amtliche Veröffentlichung des Landesamts für Verfassungs- schutz Baden-Württemberg.

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Vervielfältigung von Text und Bildern sowie Verbreitung über elektronische Medien, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Herausgebers.

PrintedinGermany

ISBN: 978-3-00-040132-9 Auflage: 1.500 5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...... 9 Innenminister Reinhold Gall, MdL

Einführung ...... 13 Präsidentin Beate Bube

VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG: ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG, RAHMENBEDINGUNGEN

60 Jahre Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg ...25 Frank Dittrich, Herbert Landolin Müller, Svenja Schneider, Harald Woll

60 Jahre Landesamt für Verfassungsschutz – Gedanken zur parlamentarischen Kontrolle einer modernen Sicherheitsbehörde ...... 55 Ständiger Ausschuss des Landtags von Baden-Württemberg

Zur Bedeutung des Datenschutzrechts für die Tätigkeit des Verfassungsschutzes am Beispiel des Landesamts Baden-Württemberg ...... 69 Michael Zügel

ÖFFENTLICHKEITS- UND PRÄVENTIONSARBEIT Spagat zwischen »Geheim« und »Transparent«: Öffentlichkeitsarbeit des Landesamts für Verfassungsschutz .....97 Georg Spielberg

»Nobody does it better?« – Verfassungsschutz und Öffentlichkeit . .111 Holger Schmidt

Verfassungsschutz und Öffentlichkeit – Zur Rolle des Nachrichtendienstes in der deutschen Demokratie ...... 127 Winfriede Schreiber 6 INHALTSVERZEICHNIS

RECHTSEXTREMISMUS

Antisemitismus im Rechtsextremismus Externe und interne Funktionen, formale und ideologische Varianten ...... 139 Armin Pfahl-Traughber

Der neonazistische Kult um am Beispiel Baden-Württemberg ...... 155 Walter Jung

LINKSEXTREMISMUS

Kurze Geschichte des Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland ...... 179 Klaus Schroeder

Jugendarbeit von Linksextremisten ...... 203 Bettina Blank

INTERNATIONALER EXTREMISMUS UND TERRORISMUS

»Ihr seid unsere Zukunft!« – Muslimische Jugendszenen in Deutschland ...... 227 Claudia Dantschke

Die Takfir-Bewegung im deutschsprachigen Raum: Radikale Ideologie einer elitären salafistischen Subströmung ....243 Michael Reinhard

»Ausländerextremismus« im Wandel? ...... 267 Sercan Bayrak, Ilker Vidinlioglu ˘

SCIENTOLOGY-ORGANISATION

Wohin steuert Scientology? ...... 283 Tobias Faller INHALTSVERZEICHNIS 7

GEHEIMSCHUTZ

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001: Personenüberprüfungen im Dienst des Sabotageschutzes ...... 305 Stefan Schnöckel

AKTUELLE FRAGESTELLUNGEN

Zusammenarbeit des Generalbundesanwalts mit dem Verfassungsschutz bei der Terrorismusbekämpfung ...... 325 Rainer Griesbaum

Der »Nationalsozialistische Untergrund« – Singuläres Phänomen im deutschen Rechtsterrorismus? ...... 343 Christian Menhorn

Besuch in einer salafistischen Moschee ...... 369 Albrecht Metzger

Deradikalisierung und Ausstieg aus dem islamistischen Extremismus – eine Illusion? ...... 381 Benno Köpfer

»Wie viel Islam verträgt das Land?« Warum die Islamfeindschaft ein gesellschaftliches Problem ist – und nicht der Islam ...... 395 Jochen Müller

ANHANG

Autorenverzeichnis ...... 411

Gesetz über den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg (Landesverfassungsschutzgesetz – LVSG) vom 5. Dezember 2005 ...... 415

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Vorwort

INNENMINISTER REINHOLD GALL, MdL

Im Dezember 1952 wurden die drei wortlichen, die zuständigen Stellen, bereits vor der Gründung des Landes aber auch die Bürgerinnen und Baden-Württemberg bestehenden Bürger unseres Landes über Ent- Verfassungsschutzämter in Tübingen, wicklungen und drohende Gefahren Freiburg und Stuttgart zum Landes- zu unterrichten. Dabei hat sich das amt für Verfassungsschutz Baden- Aufgabenspektrum des Landesamts Württemberg mit Sitz in Stuttgart zu- für Verfassungsschutz im Laufe der sammengeschlossen. Zeit kontinuierlich vergrößert. Heute gehören dazu beispielsweise auch die Deutschland hat aus den schmerzvol- Beobachtung der Scientology-Orga- len Erfahrungen seiner Geschichte nisation und die Bekämpfung der gelernt. Der Weimarer Republik Wirtschaftsspionage. wurde die Wehrlosigkeit gegenüber ihren Feinden zum Verhängnis. Nach In der Anfangsphase des Amtes ging dem Ende der NS-Diktatur sollte den es vor allem darum, »staatsfeindliche Gegnern der Demokratie keine Bestrebungen«, die sowohl von na- Chance gegeben werden, die freiheit- zistischer als auch von kommunisti- liche demokratische Ordnung des scher Seite ausgingen, zu erkennen Grundgesetzes abzuschaffen. Die und diesen entgegenzuwirken. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes Arbeit war daneben vom »Kalten entschieden sich daher für eine wehr- Krieg« geprägt. Die Bedrohung der hafte Demokratie. Bundesrepublik Deutschland durch kommunistische Staaten machte die Grundvoraussetzung für die Abwehr Aufklärung und die Abwehr entspre- der von den Feinden der Demokratie chender Spionageaktivitäten zu ei- ausgehenden Gefahren ist eine um- nem Schwerpunkt der Tätigkeit des fassende Information über derartige Verfassungsschutzes. Die 1970er Bestrebungen und Entwicklungen. Jahre waren geprägt durch den Links- Zu diesem Zweck wurden beim Bund terrorismus, vor allem die Heraus- und den 16 Ländern die Verfassungs- forderung des Staates und der Gesell- schutzbehörden eingerichtet. schaft durch die »Rote Armee Fraktion« (RAF). Nicht zuletzt Der Verfassungsschutz versteht sich durch die Stammheimer Prozesse als »Frühwarnsystem« der freiheitli- war Baden-Württemberg in besonde- chen demokratischen Grundordnung rer Weise von diesen Ereignissen in Deutschland. Seine Aufgabe ist es, betroffen. verfassungsfeindliche und sicher- heitsgefährdende Bestrebungen zu Seit Anfang der 1980er Jahre nahm beobachten und die politisch Verant- die Bedeutung des Rechtsextremis- 10 VORWORT mus und des Ausländerextremismus finden. Das Landesamt für Verfas- stetig zu. Seit rund zehn Jahren stellt sungsschutz leistet dazu einen wich- der islamistische Extremismus und tigen Beitrag. Die Aufklärungs- und Terrorismus die größte Bedrohung Öffentlichkeitsarbeit ist eine zentrale für die Sicherheit der Bundesrepublik Aufgabe des Verfassungsschutzes. Sie Deutschland dar. Die Anschläge vom wird durch weitere Aktivitäten im 11. September 2001 haben die Welt Bereich der Präventionsarbeit er- verändert. Eine Spur dieser An- gänzt, die zu Recht eine zunehmende schläge führte auch nach Deutsch- Bedeutung erlangt hat. land. Etliche Terroristen hatten lange unerkannt in Hamburg gelebt. Trotz Entgegen vieler Fehlvorstellungen des beachtlichen weltweiten Fahn- über die tatsächlichen und rechtli- dungsdrucks hat sich der islamisti- chen Möglichkeiten des Verfassungs- sche Terrorismus bislang als äußerst schutzes erlangt das Landesamt für zählebig und sehr wandlungsfähig Verfassungsschutz einen Großteil erwiesen. Das Anschlagsrisiko ist un- seiner Informationen aus sogenann- verändert hoch. Wir müssen weiter- ten offenen Quellen. Daneben dürfen hin mit konspirativ vorbereiteten Informationen auch verdeckt be- Anschlägen durch jihadistische schafft und die dafür im Landes- Gruppen oder Einzeltäter in verfassungsschutzgesetz genannten Deutschland rechnen. nachrichtendienstlichen Mittel, zum Beispiel Observationen oder Vertrau- Die Herausforderungen, die sich dem ensleute, eingesetzt werden. Landesamt für Verfassungsschutz in der Zukunft stellen werden, sind Das Landesamt für Verfassungs- keinesfalls geringer, wie die jüngsten schutz unterliegt deshalb einer viel- Ereignisse zeigen. Die Mordserie schichtigen rechtsstaatlichen Kon- des sogenannten »Nationalsozialisti- trolle. Hier haben innerbehördliche schen Untergrunds« hat bundesweit Maßnahmen, zum Beispiel Kontrol- für Bestürzung gesorgt. Eine derar- len durch den behördlichen Daten- tige terroristische Vorgehensweise schutzbeauftragten des Amtes, eine hatte sich im Bereich des Rechtsex- zentrale Funktion. Die Dienst- und tremismus bis dato nicht gezeigt. Fachaufsicht durch das Innenminis- Gemeinsam mit den Sicherheitsbe- terium sowie die externen Kontrollen hörden werden wir uns dieser Bedro- der parlamentarischen Kontrollgre- hung entschlossen entgegenstellen. mien, aber auch des Landesbeauftrag- ten für den Datenschutz oder des Zum dauerhaften Schutz der freiheit- Rechnungshofs, stellen sicher, dass lichen demokratischen Grundord- der gesetzliche Rahmen nicht über- nung ist die politische Auseinander- schritten wird. setzung mit Extremismus jeglicher Couleur notwendig. Sie muss auf Die vorliegende Festschrift mit Bei- allen gesellschaftlichen Ebenen statt- trägen unterschiedlicher Autoren REINHOLD GALL 11 gibt einen Einblick in das vielfältige für Verfassungsschutz zu seinem Aufgabengebiet des Landesamts für 60. Jubiläum. Den aktiven und den Verfassungsschutz und seine Ent- früheren Mitarbeiterinnen und Mit- wicklung in den letzten 60 Jahren. Sie arbeitern des Landesamts für Ver- beschäftigt sich auch mit den aktuel- fassungsschutz danke ich für ihren len Herausforderungen und aktuel- Einsatz für unsere freiheitliche de- len Entwicklungen der Sicherheits- mokratische Verfassung. politik. Ich gratuliere dem Landesamt

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Einführung

PRÄSIDENTIN BEATE BUBE

Jubiläen bieten regelmäßig einen An- sammenarbeitet, muss natürlich auch lass, einen Blick zurück, aber auch in den Stimmen von außen Raum geben. die Zukunft zu werfen. Wir haben Ich freue mich, dass es uns gelungen uns im Landesamt für Verfassungs- ist, insgesamt 14 Autorinnen und schutz früh die Frage gestellt, in wel- Autoren aus den Bereichen Politik, cher Form wir das 60-jährige Beste- Justiz, Wissenschaft und Medien für hen unseres Amtes, das in das Jahr des einen Beitrag zu gewinnen. Ganz be- 60. Jubiläums des Landes Baden- wusst sollen auch Spannungsfelder Württemberg fällt, begehen wollen. wie das Verhältnis zwischen Verfas- Im Frühjahr 2011 fiel die Entschei- sungsschutz und Presse oder biswei- dung für die Herausgabe einer Fest- len gegenläufige Zielsetzungen, wie schrift. Strafverfolgung und weitere Infor- mationsgewinnung, nicht ausgespart, sondern gezielt aufgegriffen werden. Welche Gründe sprechen für Der Diskurs des Verfassungsschutzes eine Festschrift? mit anderen gesellschaftlichen Ak- teuren ist unerlässlich für einen Ver- Die Erfüllung des gesetzlichen Auf- fassungsschutz in der Mitte der trags des Landesverfassungsschutz- Gesellschaft. Mein Dank gilt deshalb gesetzes ist breit und vielfältig in in besonderer Weise allen Autorinnen jeder Hinsicht. Dies gilt für die und Autoren, die nicht dem Amt an- verschiedenen Erscheinungsformen gehören und einen Beitrag zu dieser verfassungsfeindlicher und sicher- Festschrift geleistet haben. heitsgefährdender Bestrebungen, hinsichtlich der Wege und Mittel der Aber selbstverständlich soll auch die Informationsgewinnung sowie bezüg- breite Expertise aus unserem Haus lich der Adressaten der gewonnenen zum Ausdruck kommen. Wir verfü- Informationen. Die Breite der Aufga- gen über eine stattliche Zahl hoch- benwahrnehmung soll zum Aus- qualifizierter Fachleute, die ihre teils druck kommen und aktuelle Themen über mehrere Jahrzehnte gewonnene und Fragestellungen sollen aufgegrif- Erfahrung in diese Festschrift einge- fen werden. Auch wollen wir einen – bracht haben. Auch allen Mitarbeite- kursorischen – Rückblick auf die Ge- rinnen und Mitarbeitern, die an der schichte des Amtes, die Veränderung Entstehung dieser Festschrift mitge- seiner Aufgaben und seiner gesetzli- wirkt haben, danke ich sehr. chen Grundlagen geben. Hätten wir den Mut gehabt, eine Fest- Eine Verfassungsschutzbehörde, die schrift herauszugeben, wenn wir im mit einer Vielzahl anderer Stellen zu- Frühjahr letzten Jahres schon gewusst 14 EINFÜHRUNG hätten, in welche schwere Krise der Warum ist die Arbeit des Verfassungsschutz im November 2011 Verfassungsschutzes als geraten würde? Möglicherweise nicht. Frühwarnsystem der ImAmtherrschtseitherallesandereals Demokratie weiterhin sinnvoll Festtagsstimmung. Da ist Entsetzen und notwendig? über die menschenverachtenden Ver- brechen des sogenannten »National- Nicht zum ersten Mal, aber diesmal sozialistischen Untergrunds«, die besonders nachdrücklich wird der nicht verhindert und nur durch Zufall Verfassungsschutz insgesamt infrage aufgeklärt wurden. Da ist die Mitwir- gestellt. Die Meinung »bestenfalls kung bei der Suche nach den Ursachen überflüssig, wenn nicht sogar schäd- für das nicht rechtzeitige Erkennen des lich« wird nicht nur von Medienver- Terrortrios und seines Unterstützer- tretern,sondernauchinTeilender umfelds. Die Umsetzung erster Politik vertreten. Um politisch moti- Reformschritte wie die Einrichtung vierte Kriminalität kümmert sich des gemeinsamen Abwehrzentrums doch der polizeiliche Staatsschutz, Rechts und die Rechtsextremismusda- und sofern es nicht um die Verhin- tei erfordern organisatorische und per- derung oder Verfolgung von Gewalt- sonelle Veränderungen, die noch lange anwendung oder mindestens um nicht abgeschlossen sind. Und da ist Straftaten geht, liegt doch gar keine auch Frustration über eine öffentliche Gefährdung der öffentlichen Sicher- Wahrnehmung und Darstellung des heit vor, denken manche. Verfassungsschutzes, die teilweise jede Sachlichkeit vermissen lässt und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Um welche Gefährdungen geht tern – bei allemVerständnisfür berech- es eigentlich? tigte Kritik – das Gefühl auslöst, pau- schal für Fehler und Versäumnisse Die Aufgabe des Verfassungsschutzes AndererinnichtgerechtfertigterWeise ist in den Verfassungsschutzgesetzen mitverantwortlich gemacht zu wer- von Bund und Ländern definiert. In den. Keine guten Voraussetzungen für § 3 Abs.1 des baden-württembergi- ein festliches Jubiläum. schen Landesverfassungsschutzge- setzes (LVSG) heißt es: Gut, dass die Frage theoretisch bleibt und das Entstehen der Festschrift im »Das Landesamt für Verfassungs- November 2011 bereits in vollem schutz hat die Aufgabe, Gefahren Gang war. Denn gerade jetzt ist es so für die freiheitliche demokratische dringend wie vielleicht kaum zuvor Grundordnung, den Bestand und in den vergangenen 60 Jahren not- die Sicherheit der Bundesrepublik wendig, darzustellen, was Verfas- Deutschland und ihrer Länder früh- sungsschutz in der Vergangenheit ge- zeitig zu erkennen und den zuständi- leistet hat und welche Aufgabe er gen Stellen zu ermöglichen, diese Ge- auch in Zukunft noch haben wird. fahren abzuwenden.« BEATE BUBE 15

Vor dem Hintergrund der deutschen Ich erinnere mich an Gespräche mit Geschichte hat sich der Gesetzgeber Kollegen ausländischer Nachrichten- sehr bewusst für eine wehrhafte De- dienste, in denen es um die Unter- mokratie und in Anlehnung an die schiede zwischen den gesetzlichen Entscheidungen des Bundesverfas- Aufgaben unserer Behörden ging. sungsgerichts zu den Verboten der Sinngemäß fiel da einmal der Satz: Sozialistischen Reichspartei (SRP)1 »Wenn die Demokratie auf demokra- und der Kommunistischen Partei tischem Weg abgeschafft würde, dann Deutschlands (KPD)2 für die Kern- müsste eine solche demokratisch ge- elemente der freiheitlichen demokra- troffene Entscheidung hingenommen tischen Grundordnung als Schutzgut werden.« Die nachrichtendienstliche entschieden. Diese sind in § 4 Abs.2 Beobachtung konzentriert sich des- LVSG im Einzelnen genannt. halb in manchen anderen europäi- schen Staaten auf gewaltbereiten Damit ist der gesetzliche Auftrag des Extremismus, internationalen Terro- Verfassungsschutzes nicht deckungs- rismus und Spionageabwehr. Eine gleich mit der polizeilichen Gefah- solche Aussage würde in Deutsch- renabwehr und der Strafverfolgung, land aufgrund der entsetzlichen Fol- auch wenn es vielfach Überschnei- gen der legalen Machtübernahme der dungen gibt. Der Auftrag der nach- Nationalsozialisten wohl kaum richtendienstlichen Informationsge- breite Zustimmung finden. winnung ist in Deutschland – über eine strafrechtliche Relevanz hinaus – Natürlich sind nach über 60 Jahren auch auf sogenannte »legalistische« die Grundwerte unserer Gesellschaft extremistische Bestrebungen gerich- fest in ihr verankert. Es besteht aber tet, die die zentralen Grundwerte un- nach wie vor ein breites Interesse der serer Verfassung durch eine andere Öffentlichkeit an verfassungsfeindli- Gesellschaftsordnung ersetzen wol- chen Organisationen, Bewegungen len. Soweit es um Gefahren für die und deren Aktivitäten, auch wenn freiheitliche demokratische Grund- diese nicht mit der Begehung von ordnung geht, die von politisch moti- Straftaten einhergehen. Es wird bei vierter Kriminalität ausgehen, setzt weitem nicht nur nach der polizeili- der Beobachtungsauftrag des Verfas- chen Statistik der politisch motivier- sungsschutzes weit im Vorfeld eines ten Kriminalität gefragt, sondern strafrechtlichen Anfangsverdachts an selbstverständlich will sich unsere und ist auf das Verständnis der hinter Gesellschaft ein umfassendes Bild politisch motivierten Straftaten ste- von extremistischen Strukturen, Par- henden Gruppierungen und Struktu- teien und Gruppierungen machen. ren gerichtet. Man will wissen, wie viele Extremis-

1 BverfG, Urteil vom 23. Oktober 1952 – 1 BvB1/51, NJW 1952, 1407. 2 BverfG, Urteil vom 17. August 1956 – 1 BvB 2/51, NJW 1956, 1393. 16 EINFÜHRUNG ten der jeweiligen Szene angehören, lichen demokratischen Grundord- wie ihre ideologische Ausrichtung ist, nung zur Verfügung gestellt. wie ihre Aktivitäten und Propagan- dastrategien aussehen, wie sie sich entwickelt haben und welche Gefah- Wie soll die Arbeit des ren künftig von ihnen ausgehen wer- Verfassungsschutzes den. Diese Antworten kann nur der in Zukunft aussehen? Verfassungsschutz geben. Nur mit ei- nem solchen Gesamtbild können Die Arbeit des Verfassungsschutzes wirksame Gegenmaßnahmen entwi- wird auch in Zukunft gebraucht wer- ckelt werden. den.

Auch sind die Grenzen zwischen ge- Die Aufgabenstellung hat sich nicht waltfreiem und gewaltbezogenem etwa erledigt. Die in § 3 LVSG be- Extremismus fließend. Radikalisie- stimmten Gefahren bestehen weiter- rungsprozesse Einzelner bis hinein in hin. Sie können an dieser Stelle nur terroristische Strukturen nehmen ih- unvollständig angerissen werden. ren Anfang häufig in extremistisch ausgerichteten Gruppierungen, deren Besondere Herausforderungen wer- Aktivitäten aber nicht unbedingt den weiterhin in der Bekämpfung des Strafgesetze verletzen müssen. Ge- internationalen Terrorismus liegen. rade zur Bewertung und Einordnung Deutschland steht bereits seit vielen politisch motivierter Kriminalität be- Jahren im Fadenkreuz islamistisch- darf es einer langfristig angelegten terroristischer Gruppierungen und Beobachtung der jeweiligen Szenen, von der Ideologie des heiligen Kriegs um deren Gefährlichkeit zutreffend inspirierter Einzeltäter. Die gravie- einschätzen und Entwicklungen vor- renden Umwälzungen im Nahen hersehen zu können. Dies gilt im in- Osten und in mehreren afrikanischen ternationalen Extremismus und Ter- Staaten werden nicht ohne Aus- rorismus wie auch im Rechts- und wirkungen auf hier lebende An- Linksextremismus. Auf diese Kern- hänger extremistisch-terroristischer kompetenz des Verfassungsschutzes Bewegungen bleiben. Ohne einen darf nicht verzichtet werden. fundierten Blick auf internationale »Brandherde« können Sicherheitsge- Das Landesamt für Verfassungs- fährdungen für deutsche Interessen schutz hat in den vergangenen Jahr- nicht rechtzeitig erkannt werden. Im zehnten viele dieser Antworten gege- Internetzeitalter gibt es keine schüt- ben. Es hat sich immer wieder auf zenden Entfernungen mehr. Ideolo- Veränderungen und Neuausrichtun- gienundEmotionenwerdeninrasen- gen extremistischer Phänomene und der Geschwindigkeit rund um den Spionageaktivitäten eingestellt und Globus getragen und können sich je- Politik und Gesellschaft Analysen derzeit auch in Deutschland entladen. über Gefährdungen unserer freiheit- Undimmerwirdesauchdarumge- BEATE BUBE 17 hen, Unterstützerstrukturen ausländi- abgleiten. Das Problem fängt schon scher terroristischer Vereinigungen – viel früher an, wenn junge Menschen auch vermeintlich legal operierender ihr Vertrauen in unsere freie, demo- Organisationen – aufzudecken. kratische Gesellschaft verlieren und ihr Heil in verlockend einfachen Ant- Der Rechtsextremismus und -terro- worten und schlichten Gut-Böse- rismus ist Aufgabenfeld des Verfas- Schemata suchen. sungsschutzes seit seinem Bestehen. Die Bekämpfung rechtsextremisti- Anders als von manchen nach dem scher Denkmuster wird eine Schwer- Ende des Kalten Kriegs erwartet, ist punktaufgabe bleiben. Vor dem auch die Spionageabwehr nicht ar- Hintergrund der Lehren, die aus der beitslos geworden. Verlagert haben Aufarbeitung des »Fallkomplexes sich teilweise die »Täterländer« und NSU« zu ziehen sind, wird hier eine die Spionageziele, die heute vorrangig besondere Verantwortung des Ver- auf für Wirtschaft und Forschung re- fassungsschutzes liegen. Die Infor- levantes Wissen ausgerichtet sind. mationsgewinnung wird zu intensi- Die größte Herausforderung liegt vieren sein, Erkenntnisse müssen in dabei in den Spionagemethoden des Gefahrenanalysen und -prognosen digitalen Zeitalters. Dabei ist der so- zusammengeführt werden, um ge- genannte »Cyberwar« nicht nur pro- waltorientierte Gruppierungen bis bates Mittel zur Ausspähung von hin zu terroristischen Strukturen Computernetzen durch fremde Ge- frühzeitig zu erkennen. heimdienste, sondern kann auch gezielt von terroristischen Gruppie- Eine tiefe Ablehnung unseres Staats- rungen zur Verursachung größter wesens, seiner Organe, Institutionen Schäden eingesetzt werden. und Vertreter ist das verbindende Ele- ment extremistischer Ideologien – In welchem rechtlichen Rahmen sich egal ob islamistisch, rechts- oder die Arbeit des Verfassungsschutzes in linksextremistisch ausgerichtet. Eine Zukunft bewegen wird und welche besondere Gefahr liegt darin, wenn Ressourcen ihm hierfür zur Verfü- sich junge Menschen, sei es aus emp- gung stehen werden, bestimmen der fundenerPerspektivlosigkeit,jugend- demokratisch legitimierte Gesetz- licher Sinnsuche oder dem Bedürfnis geber und die politisch verantwort- nach Anerkennung und Gemein- lichen Stellen. Die Reformdebatte ist schaft, in einen Hass auf diesen Staat in vollem Gang und erstreckt sich und seine Werteordnung hineinstei- von Rufen nach Auflösung über Zen- gern. Das ist nicht nur dann eine Ge- tralisierung bis hin zu einzelnen kon- fahr,wennsichsolcherHassz.B.in kreten Vorschlägen, z.B. zur Verbes- gewalttätigen Ausschreitungen mili- serung der Zusammenarbeit im tanter Autonomer Bahn bricht oder Verfassungsschutz und von Verfas- einzelne radikalisierte – oft noch ju- sungsschutz und Polizei. Wie die gendliche – Täter in den Terrorismus Sicherheitsarchitektur der Zukunft 18 EINFÜHRUNG aussehen wird, ist noch offen. Jeden- hörden und darüber hinaus mit der falls wird es ein schlichtes »weiter so« Wissenschaft und der Zivilgesell- nicht geben können. schaft.

Veränderungen und Reformen gab es Gefahren können nur gemeinsam er- auch in der Vergangenheit vielfach. kannt und unter Zusammenführung BeispielhaftseienhiernurdieVerlage- aller relevanten Informationsbau- rungen der Aufgabenschwerpunkte steine analysiert werden. Das fängt nachdemFallderMauerundnachden innerhalb der Verfassungsschutzbe- Terroranschlägen des 11. September hörde bei der Zusammenarbeit zwi- 2001 genannt. Aber gerade was die schen den einzelnen Abteilungen und bereits angesprochenen Themen, Zu- Referaten an, die nur mit einem rei- sammenarbeit im Verfassungsschutz- bungslosen Informationsfluss funkti- verbund und zwischen Verfassungs- oniert. schutzundPolizei,angeht,fandinden letzten Jahren ein intensiver und Der intensive und kontinuierliche erfolgreicher Optimierungsprozess Austausch im Verfassungsschutz- statt. verbund und mit Polizei und Straf- verfolgung gehört für uns bereits Ungeachtet der Ergebnisse der Re- zum Standard bei der Erstellung von formdiskussion muss der Ausgangs- Gefahrenanalysen und in der konkre- punkt für eine kritische Prüfung der ten Fallbearbeitung. Die Zusammen- bisherigen Aufgabenwahrnehmung arbeit muss weiter intensiviert und der gesetzliche Auftrag des Verfas- durch die Festlegung konkreter For- sungsschutzes sein, dessen Fortbe- men und Methoden der Zusammen- stand hier unterstellt wird. arbeit institutionalisiert und standar- disiert werden. Die Einrichtung von gemeinsamen Abwehrzentren auf »… Gefahren … frühzeitig … Bundesebene und Informations- und erkennen …« Analysestellen auf Landesebene ist ein richtiger Schritt, der fortlaufend Die Gefahrenanalysen des Verfas- weiterzuentwickeln sein wird. Das sungsschutzes als »Frühwarnsystem« Schaffen der Instrumentarien zur Zu- müssen aussagekräftig sein und den sammenarbeit allein reicht jedoch »zuständigen Stellen« so früh wie mög- nicht aus. Der Geist des Miteinanders lich zur Verfügung gestellt werden. wird noch stärker als bisher Leitlinie der alltäglichen Arbeit sein müssen. Dafür braucht der Verfassungsschutz nicht nur das hierfür entsprechend Gefahren können nur frühzeitig er- qualifizierte Personal. Zur Analyse- kannt werden, wenn die gesetzlichen kompetenz des Verfassungsschutzes Befugnisse dafür zur Verfügung ste- gehört auch der enge Austausch mit hen. Hierzu gehört neben den Maß- den kooperierenden Sicherheitsbe- nahmen nach dem G 10-Gesetz der BEATE BUBE 19

Einsatz nachrichtendienstlicher Mit- und Zweck der Informationsgewin- tel, insbesondere der Einsatz von nung allein der ist, die Informationen V-Leuten. Das vom Verfassungs- den »zuständigen Stellen« zur Verfü- schutz zur Verfügung zu stellende gung zu stellen, damit diese die erfor- Gesamtbild lebt von dem Zusam- derlichen Maßnahmen zum Abwen- menführen der aus offener und ver- den der Gefahren ergreifen können. deckter Beobachtung gewonnenen Die Informationsübermittlung ge- Informationen. Ohne die in der Öf- schieht in vielfältigen Formen und fentlichkeit vehement kritisierten richtet sich hinsichtlich Inhalt und V-Leute können konspirativ agie- Geheimhaltungsgrad nach dem rende Szenen und eine sogenannte »Bedarfsträger«. Die Aufklärung ex- »hidden agenda« von sich nach außen tremistischer und terroristischer demokratisch präsentierenden Orga- Strukturen erfolgt in Form von Lage- nisationen nicht erkannt werden. bildern und Gefahrenanalysen. Im Freilich ist der V-Leute-Einsatz nicht Rahmen der verschiedenen Formen ohne Inkaufnahme von Risiken mög- der Öffentlichkeitsarbeit fließen die lich, die sich beispielsweise aus einer gewonnenen Informationen in Vor- Enttarnung oder auch aus mangeln- träge, Publikationen oder Presse- der Kontrolle und Steuerung ergeben arbeit ein. In Ermittlungs- und können. Dem wird durch ein sorgfäl- Strafverfahren oder Personenüber- tig abwägendes Risikomanagement prüfungsverfahren nach § 3 Abs.3 zu begegnen sein. LVSG werden personenbezogene Er- kenntnisse eingebracht. Die Reich- weite des Geheim- und Quellen- »… den zuständigen Stellen … schutzes – ohne den nachrichten- ermöglichen, diese Gefahren ab- dienstliche Arbeit nicht möglich ist – zuwenden« muss dabei im Einzelfall im Lichte des gesetzlichen Auftrags bestimmt Adressaten der Gefahrenanalysen des werden. Verfassungsschutzes sind Regierung, Politik, Verwaltung, Polizei, Justiz, Eine besondere Herausforderung Medien und die Öffentlichkeit, ins- wird es sein, den Verfassungsschutz besondere die Bürgerinnen und Bür- in der Öffentlichkeit wieder als das ger. Die Zeiten in denen es hieß, der erscheinen zu lassen, was er vielfach Verfassungsschutz arbeite für seine schon ist und in Zukunft noch stärker Stahlschränke, sind seit langem vor- sein muss: ein Dienstleister der Ge- bei. sellschaft, der über demokratiefeind- liche Bestrebungen aufklärt und Gleichwohl werden wir in Zukunft informiert, der sich als Berater und den Weg der Öffnung und Transpa- Kooperationspartner in Sachen De- renz konsequent weitergehen und mokratie versteht, der sich bei Prä- verstärken müssen. Es darf kein ventionsprojekten als konzeptionel- Zweifel daran bestehen, dass Sinn ler Begleiter und Ansprechpartner 20 EINFÜHRUNG einbringt und in der Gesellschaft neuen Bedrohungen richtig und an- breit vernetzt und präsent ist. gemessen einschätzen zu können. Dazu gehört eben auch, dass sie sich in Bundespräsident Dr. h. c. Joachim der jeweils neuen Situation wieder Gauck hat diese Herausforderung bei klarmachen müssen, wie eigentlich seinem Festvortrag,denerinseiner die Grundausstattung dieser Gesell- Funktion als Vorsitzender des Ver- schaft ist, die sie verteidigen. Es ist für eins »Gegen Vergessen – für Demo- mich unglaublich wichtig, dass sie sich kratie e. V.« anlässlich des Festakts mit ihrem besonderen Auftrag des zum 60-jährigen Bestehen des Bun- Schutzes der Verfassung in Beziehung desamts für Verfassungsschutz am setzen zu denen, die die Werbung für 6. Dezember 2010 in gehalten die Freiheit und die Freude am hat, treffend wie folgt beschrieben: Rechtsstaat und das Erlernen der Demokratie zu ihren Aufgaben zäh- »… Ich hatte bereits angemahnt, dass len …«. die Mitarbeiter und Chefs von Nach- richtendiensten einen sehr engen Die im Verfassungsschutz des Landes Kontakt zum Geist der Zeit brau- Baden-Württemberg tätigen Mitar- chen. Ich meine nicht, dass sie ein Op- beiterinnen und Mitarbeiter sind den fer des Zeitgeistes werden sollten, son- Aufgaben des Verfassungsschutzes dern dass sie die Debatten der Zeit der Zukunft gewachsen und werden und die Entwicklungen im Land zur die anstehenden Herausforderungen Kenntnis nehmen müssen, um so die annehmen und umsetzen!

VERFASSUNGSSCHUTZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG: ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG, RAHMENBEDINGUNGEN

60 VERFASSUNGSSCHUTZ 1952 – 2012

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60 Jahre Landesamt für Verfassungsschutz

FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL

1. Überblick über die Historie fugnisse haben.« 1 Auf dieser Grund- des Landesamts für lage wurde dem Bund im Grund- Verfassungsschutz gesetz (GG) vom 23. Mai 1949 die ausschließliche Gesetzgebungskom- Nach den Erfahrungen der Weimarer petenz für »die Zusammenarbeit des Republik, in der es möglich war, dass Bundes und der Länder in […] Ange- die Nationalsozialistische Deutsche legenheiten des Verfassungsschutzes« Arbeiterpartei die Demokratie mit eingeräumt. Die Bundesregierung ihren eigenen Waffen schlug, wurde wurde weiterhin ermächtigt, eine nach der Kapitulation Deutschlands Zentralstelle »zur Sammlung von und der Übernahme der Regierungs- Unterlagen für Zwecke des Verfas- gewalt durch die Alliierten am 8. Mai sungsschutzes« einzurichten. 1945 klar, dass die noch junge Demo- kratie parlamentarisch kontrollierte, Bereits vor dem Grundgesetz trat im staatliche Institutionen brauchen Dezember 1946 die Verfassung für würde, um sich vor verfassungsfeind- Württemberg-Baden in Kraft. Im lichen Bestrebungen zu schützen. Mai 1947 folgten die Verfassungen Diese Notwendigkeit war auch den des Landes Baden sowie des Landes alliierten Siegermächten bewusst, die Württemberg-Hohenzollern. Anfang nach und nach den Bundesorganen 1950 ermächtigte der Landeskom- Hoheitsrechte übertrugen. Mit dem missar für Württemberg-Baden der »Schreiben der Militärgouverneure Alliierten Hohen Kommission2 die an den Parlamentarischen Rat über Landesregierung von Württemberg- die Polizei-Befugnisse der Bundes- Baden unter bestimmten Vorausset- regierung« vom 14. April 1949 (so- zungen »eine kleine Dienststelle zur genannter Alliierter Polizeibrief) Beschaffung von Informationen über räumten Lucius D. Clay, Brian H. subversive Tätigkeit einzurichten Robertson und Pierre Koenig der undzuhalten.«3 Nach längeren Bundesregierung das Recht ein, »eine Verhandlungen zwischen der Lan- Stelle zur Sammlung und Verbreitung desregierung und der Hohen Kom- von Auskünften über umstürzleri- mission wurde am 23. Oktober 1950 sche, gegen die Bundesregierung ge- entschieden, ein »Landesamt für Ver- richtete Tätigkeiten einzurichten.« fassungsschutz« auf Basis eines Aus- »Diese Stelle soll[te] keine Polizeibe- führungsgesetzes zum Gesetz über

1 Schreiben der Militärgouverneure an den Parlamentarischen Rat über die Polizei-Befugnisse der Bundesregierung vom 14. April 1949. 2 Nachfolgeorganisation des Alliierten Kontrollrats nach Ausscheiden der Sowjetunion. 3 Schreiben des Landkommissars für Württemberg-Baden der Hohen Kommission vom 2. Februar 1950. 26 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ die Zusammenarbeit des Bundes und Hausbewohner eine Garantie gegen der Länder in Angelegenheiten des dieses Ungeziefer. Wir bedauern Verfassungsschutzes (Bundesverfas- deshalb, dass die politischen Kam- sungsschutzgesetz) zu errichten. Die- merjäger im Landesamt für Verfas- ses Gesetz war bereits im September sungsschutz vorläufig mit unzurei- 1950 in Kraft getreten. Das Ausfüh- chenden Mitteln ausgestattet sind«.5 rungsgesetz trat nach der Beratung und Beschlussfassung im Landtag mit Anfänglich war das Landesamt Wirkung zum 5. Januar 1951 in Kraft. Württemberg-Baden auf Dienstfahr- Am 30. Juni 1951 nahm das »Landes- zeuge des Innenministeriums ange- amt für Verfassungsschutz« mit wiesen, wenn Fahrten notwendig Dienstsitz in Stuttgart schließlich un- wurden. Für die Mitarbeiter war es ter der Leitung von Ministerialrat eine große Freude, als Mitte Mai 1951 z. D.4 Hans-Heinrich Picht seine Ar- ein Kraftfahrer vom Innenministe- beit auf. rium mit seinem »schon asthmati- schen, aber doch einsatzfähigen Mer- Die Schaffung der neuen Behörde in cedes 170 V zum LfV abgeordnet Württemberg-Baden wurde von den wurde«.6 Im Sommer 1951 konnte »Stuttgarter Nachrichten« offen- dann sogar noch ein Motorrad mit sichtlich befürwortet, denn die Re- Beiwagen angeschafft werden. Auch daktion sorgte sich um den Etat der die Beschaffung von Büroausstattung Behörde: »Vordringlicher erscheint wie einem einzigen Telefon und uns eine Intensivierung der Arbeiten einem Aktenschrank stellten die des Landesamtes für Verfassungs- junge Verwaltung vor fast unlösbare schutz, das der ungeheuren Aufgabe Probleme. So erforderte die Anschaf- gegenüber steht, in das Halbdunkel fung dieser Einrichtungsgegenstände von Organisationen und Zellen hin- einen umfangreichen Schriftverkehr, einzuleuchten, die in der politischen bis die Genehmigung für den Kauf Wühlarbeit über jahrzehntelange erteilt wurde. Übung, große Vorbilder und reiche Geldquellen verfügen. ›Es sind viel In Württemberg-Hohenzollern ent- mehr, als wir denken‹ – heißt es in ei- schied sich die Landesregierung, ein ner ausgezeichneten Broschüre eines Amt für Verfassungsschutz aufgrund Bundesministeriums über diese Ele- einer Verordnung zur Ausführung mente, und sie sind hartnäckig und des Bundesverfassungsschutzgeset- erfindungsreich wie Insekten. […]‹ zes einzurichten. Diese Verordnung Auch in Württemberg-Baden sind trat mit ihrer Verkündung Anfang weder die schwäbische Sauberkeit Dezember 1950 in Kraft. Die Schaf- noch die sprichwörtliche Ruhe der fung dieser Behörde wurde in der

4 »z.D.« bedeutet »zur Disposition« und stammt ursprünglich aus der Militärsprache. Es entspricht dem »einstweiligen Ruhestand«. 5 Stuttgarter Nachrichten vom 2. August 1951. 6 Erinnerungen eines Mitarbeiters des LfV Württemberg-Baden an die Gründungszeit. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 27

Presse mit dem Argument begrüßt, badische Landesregierung dem Ent- dass »die schwäbischen Moskowiter wurf des Bundesgesetzes in Angele- (Kommunisten, Anm. d. Red.) […] genheiten des Verfassungsschutzes nämlich recht schlau [seien] und zu. Auf Basis dieses Kabinettsbe- manche unserer biederen Landsleute schlusses nahm die »Informations- […] ihnen sogar auf den Leim [gin- stelle der Badischen Staatskanzlei« als gen].«7 Ende März 1951 gab das Verfassungsschutzbehörde mit Sitz in Innenministerium des Landes Würt- Freiburg ihren Dienst am 15. März temberg-Hohenzollern die Grün- 1951 unter Leitung von Oberregie- dung des Landesamts für Ver- rungsrat Trippel auf. Der Informati- fassungsschutz, ebenfalls unter der onsstelle unterstanden vier Neben- Leitung von Ministerialrat Picht, mit stellen in Appenweier, Baden-Baden, Dienstsitz in Tübingen bekannt. Offenburg und Wehr/Wiesental, die Hans-Heinrich Picht leitete von nun später aufgelöst wurden. an die Landesämter in Württemberg- Baden und Württemberg-Hohen- Infolge einer Volksabstimmung Ende zollern gemeinschaftlich, da ein 1951 gingen die drei Bundesländer Zusammenschluss der Länder im Württemberg-Hohenzollern, Baden Südwesten Deutschlands bereits ab- und Württemberg-Baden am 25. Ap- sehbar war. ril 1952 im neugegründeten Bundes- land Baden-Württemberg auf. Nach Am 1. Februar 1950 erteilte der Lan- dem Zusammenschluss der Länder deskommissar der Hohen Kommis- wurde eine vorläufige Regierung ge- sion für Baden dem Staatspräsidenten bildet, die in der »Dritten Verordnung des Landes die Ermächtigung, »in be- der vorläufigen Regierung zur Über- schränktem Umfange einen Dienst leitung von Verwaltungsaufgaben« zu unterhalten, der berechtigt ist, anordnete,dassdasInnenministerium Auskünfte einzuziehen und Informa- die Angelegenheiten des Verfassungs- tionen sich zu verschaffen über um- schutzes übernehmen sollte. Darauf- stürzlerische Umtriebe.«8 Der Lan- hin beschloss der Ministerrat am deskommissar bestimmte, dass die 10. November 1952 eine Verordnung Kontrolle und Befugnisse dieses über die Errichtung eines Landesamts Dienstes gesetzlich zu regeln seien.9 für Verfassungsschutz Baden-Würt- Bereits zuvor hatte das badische In- temberg (LfV). Damit wurden das nenministerium die Landratsämter Ausführungsgesetz zum Bundesver- und Polizeidirektionen angewiesen, fassungsschutzgesetz des ehemaligen verfassungswidrige Vorgänge zu be- Landes Württemberg-Baden sowie obachten und darüber zu berichten.10 die württembergisch-hohenzolleri- Im März 1950 stimmte schließlich die sche Verordnung über die Ein-

7 Mitschrift der Mittagsnachrichten des Südwestfunks Studio Tübingen vom 12. Dezember 1950, 12.10 Uhr. 8 Schreiben des Landeskommissars für Baden der Hohen Kommission vom 1. Februar 1950. 9 Ebenda. 10 Schreiben des Badischen Ministeriums des Innern vom Februar 1950. 28 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ richtung eines Landesamts für Ver- bunden wurde. Anschließend versah fassungsschutz gegenstandslos. Im er seinen Dienst im Geschäftsbereich Dezember 1952 wurde Hans-Hein- des Staatsministeriums. rich Picht als Leiter des neu errichte- ten Landesamts mit der Wahrneh- Nur wenige Monate später stand der mung der Geschäfte beauftragt. Verfassungsschutz erneut im Brenn- punkt der Ereignisse, als sich der ehe- In den siebziger Jahren ereilten den malige Mitarbeiter des LfV Hans- Verfassungsschutz Baden-Württem- Werner Wagenknecht am 31. Januar berg aufsehenerregende Vorkomm- 1974 in die DDR absetzte und sich nisse, von denen zwei nicht ausgelas- gegenüber den dortigen Behörden of- senwerdensollen: fenbarte. Wagenknecht war als Ange- stellter fünf Jahre beim baden-würt- Der ehemalige CDU-Bundestagsab- tembergischen Verfassungsschutz geordnete Julius Steiner sollte Geld tätig.13 Die Staatsanwaltschaft Stutt- von der Regierung der Deutschen De- gart hatte gegen Wagenknecht schon mokratischen Republik (DDR) erhal- im Dezember 1973 ein Strafverfahren ten und im Gegenzug dafür Informa- wegen Amtsanmaßung eingeleitet, da tionen weitergegeben haben.11 Steiner ihmvorgeworfenwurde,freiberuflich wurde als einer der beiden Abgeord- bei einer Stuttgarter Detektei gearbei- neten bekannt, die sich 1972 bei der tet und dabei seinen Dienstausweis Abstimmung über das konstruktive missbraucht zu haben.14 Daraufhin Misstrauensvotum Rainer Barzels ge- wurde Wagenknecht fristlos entlas- gen Bundeskanzler Willy Brandt ent- sen. Der Übertritt Wagenknechts in halten hatten. Steiner behauptete, für die DDR hatte umfangreiche Über- dieses Votum Geld von der DDR er- prüfungen zur Folge. Es sollte festge- halten zu haben. Diesen Umstand stellt werden, welchen Wissensstand habe er dem Landesamt für Verfas- Wagenknecht hatte und welche Infor- sungsschutz mitgeteilt, woraufhin er mationen er an den DDR-Nachrich- von diesem Aufträge im Hinblick auf tendienst hätte preisgeben können. seine Kontakte mit der DDR erhalten Die Ermittlungen führten zu dem Er- habe.12 Der Wahrheitsgehalt seiner gebnis, dass der Mitarbeiter »nur in Aussagenließsichnichtmehraufklä- untergeordneter Position tätig und ren. Der Vorgang führte jedoch dazu, nicht mit umfassendem Wissen ausge- dass der damalige Präsident Peter stattet war«.15 Lahnstein zunächst von seinen Auf- gaben suspendiert und am 10. Okto- Im Jahr 1952 waren 71 Personalstel- ber 1973 von der Leitung des LfV ent- len beim LfV vorgesehen und

11 Stuttgarter Nachrichten vom 4.Juni 1973, »War Steiner überhaupt in Ostberlin?«. 12 Der Spiegel vom 30.September 1974, »Der Agent der aus dem Kloster kam«. 13 Rhein-Neckar-Zeitung vom 2.Oktober 1974, »Wagenknecht hatte kein umfassendes Wissen«. 14 Mannheimer Morgen vom 2.Oktober 1974, »Keine Fluchtgefahr bei Wagenknecht«. 15 Stuttgarter Nachrichten vom 2.Oktober 1974, »Wagenknecht hatte kein umfassendes Wissen«. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 29

956.000 DM an Personal- und Sach- 2. Gesetzliche Grundlagen der kosten veranschlagt.16 Schon ein Jahr Arbeit des LfV nach der Gründung des LfV Baden- Württemberg standen 1,23 Millionen 2.1 Grundlagen DM Personal- und Sachmittel zur Verfügung und die Personalstellen Rechtliche Grundlage und gleichzei- wurden auf 92 Beamte, Angestellte tig wichtigstes Werkzeug in der tägli- und Arbeiter erhöht.17 Im Jahr 1988 chen Arbeit ist das Landesverfas- standen dem LfV 411 Stellen für sungsschutzgesetz (LVSG), das am Beamte, Angestellte und Arbeiter so- 1. November 1978 in Kraft trat und wie rund 25,6 Mio. DM zur Verfü- damit gleichzeitig die bisher gelten- gung.18 Unmittelbar nach der Wende den Regelungen außer Kraft setzte. 1990 betrug die Anzahl der Stellen Bis November 1978 wurde auf der 410 und der Gesamtetat ca. 26,6Mio. Grundlage des Bundesverfassungs- DM.19 Aufgrund der gravierenden schutzgesetzes von 1950 und der Ver- Aufgabenveränderungen nach dem ordnung über die Errichtung eines Ende der DDR wurde 1991 die Zahl Landesamtes für Verfassungsschutz der Personalstellen auf 375 zurückge- vom November 1952 gearbeitet. führt, der Gesamtetat jedoch auf Diese Verordnung bestand aus nur 28,6 Mio. DM erhöht.20 Es folgte ein vier Paragraphen. Im Wesentlichen weiterer Stellenabbau. Nach den An- wurdedarinin§ 1geregelt,dassfürdie schlägen vom 11. September 2001 er- Bearbeitung von Angelegenheiten des hielt das LfV zusätzliche 15 Stellen Verfassungsschutzes ein Landesamt zur Bekämpfung des islamistischen für Verfassungsschutz in Stuttgart er- Extremismus und Terrorismus. Auch richtet wird. Außerdem bestimmte die Sachmittel wurden aufgestockt, die Verordnung, dass das Landesamt so dass dem Amt 337 Stellen zuge- für Verfassungsschutz Auskünfte an wiesen waren und 14,65 Mio. c zur die Landesregierung, das Innenminis- Verfügung standen.21 Im Jahr 2011 terium, das Bundesamt für Verfas- waren dem Amt insgesamt 338 Perso- sungsschutz sowie die im Bundesver- nalstellen zugewiesen und der Ge- fassungsschutzgesetz bezeichneten samtetat betrug 16,3 Mio. c.22 Behörden erteilt. Darüber hinaus er-

16 Staatshaushaltsplan für das Jahr 1953. 17 Ebenda. 18 Verfassungsschutzbericht Baden Württemberg 1988, S.10. 19 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1990, S.11. 20 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1991, S.10. 21 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2001, S.12 f. 22 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2011, S.21. 30 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ hielt das Landesamt für Verfassungs- hat sich bisher zu der Frage, ob das schutz einen Anspruch auf Amtshilfe Trennungsgebot aus Artikel87 Abs.1 gegenüber anderen Behörden und Satz 2 GG hergeleitet werden kann, Dienststellen im Hinblick auf die nicht festgelegt.25 Teilweise wird die Übermittlung von Auskünften über Auffassung vertreten, dass das Tren- Bestrebungen gegen die freiheitliche nungsprinzip keinen Verfassungs- demokratische Grundordnung. rang erlangt hat, da es sich weder wörtlich noch im Wege der Ausle- Ein eigenes Landesgesetz wurde erst gung aus Artikel 73 Abs.1 Nr.10 b zum 1. November 1978 geschaffen. GG noch aus Artikel 87 Abs.1 Satz 2 Es bestand aus acht Paragraphen und GG herleiten lässt.26 Nach dieser definierte in § 1: »Der Verfassungs- Auffassung lässt sich ein verfassungs- schutz dient dem Schutz der freiheit- rechtliches Trennungsgebot erst recht lichen demokratischen Grundord- nicht für die Länder begründen27,da nung, des Bestandes und der Sicher- sich z.B. in der baden-württembergi- heit der Bundesrepublik Deutschland schen Verfassung keine mit den Arti- und der Länder.« Dieser grundle- keln 73 und 87 GG vergleichbaren gende Auftrag gilt noch heute, Vorschriften finden. Nach anderer 60 Jahre nach Gründung des baden- Auffassung handelt es sich bei dem württembergischen Verfassungs- Trennungsgebot um eine Aufgaben- schutzes und 34 Jahre nach Inkraft- und Zuständigkeitsverteilung, die für treten des ersten Verfassungsschutz- das demokratische Gemeinwesen gesetzes unverändert fort. grundlegend ist.28 Auf die Arbeit des Verfassungsschutzes wirkt sich der In § 2 Abs.3 LVSG (1978) war und ist mehr akademische Streit über die bis heute einer der wichtigsten recht- Rechtsnatur des Trennungsgebotes lichen Grundsätze verankert: das nicht aus, da es seit Erlass des LVSG Trennungsgebot.23 Diese Vorschrift auch einfachgesetzlich verankert ist. beruht auf der Anordnung des Alli- Die Trennung von Verfassungsschutz ierten Polizeibriefs vom April 1949, und Polizei ist auch nicht ernsthaft wonach der Verfassungsschutz keine infrage gestellt. Umstritten ist nach Polizeibefugnisse haben durfte.24 Bis wievorseineReichweiteinsbeson- heute ist dieses Prinzip jedoch nicht dere bei der Überschneidung der ausdrücklich im Grundgesetz veran- Aufgabenfelder wie z.B. bei der Ter- kert. Das Bundesverfassungsgericht rorismusbekämpfung.

23 Zum Trennungsgebot siehe auch: Ronellenfitsch, Abschied vom Trennungsgebot, in: Verfassungsschutz in der frei- heitlichen Demokratie – Festschrift zum 60-jährigen Bestehen des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, S. 71 ff. 24 Schreiben der Militärgouverneure an den Parlamentarischen Rat über die Polizei-Befugnisse der Bundesregierung vom 14.April 1949. 25 BVerfG, 2 BvF 3/92 vom 28.1.1998 in NVwZ 1998, S. 495 ff. 26 Borgs/Ebert, Das Recht der Geheimdienste, Rn. 126 zu § 3 BVerfSchG. 27 Borgs/Ebert, a.a.O., Rn. 127 zu § 3 BVerfSchG. 28 4. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, S.29. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 31

2.2 Gesetzesänderungen Mit der Gesetzesänderung wurde in § 12 auch die Verpflichtung des LfV Im Laufe der Jahre wurde das LVSG zur periodischen Unterrichtung der zwei großen Novellierungen unter- Öffentlichkeit über Bestrebungen ge- zogen. Am 22. Oktober 1991 wurde gen die freiheitliche demokratische ein überarbeitetes LVSG verkündet, Grundordnung in das LVSG aufge- das im Wesentlichen Neuerungen im nommen. Auch ohne diese ausdrück- Bereich des Datenschutzes einführte. liche Regelung gab das LfV bereits So erhielt das LfV in § 5 erstmals eine seit dem Jahr 1978 einen Jahresbe- gesetzliche Grundlage für die Verar- richt heraus und informierte so die beitung personenbezogener Daten. Bürgerinnen und Bürger über extre- Zusätzlich wurde in § 6 die Erhebung mistische Bestrebungen. personenbezogener Daten mit nach- richtendienstlichen Mitteln geregelt. Nach den Anschlägen vom 11. Sep- Darüber hinaus wurden in den tember 2001 erfolgte zunächst auf §§ 7–11 Regelungen zur Speicherung, Bundesebene eine Überarbeitung Veränderung, Nutzung und Über- verschiedener sicherheitsrelevanter mittlung personenbezogener Daten Gesetze auf Basis der sogenannten getroffen. Gleichzeitig wurde die Po- »Anti-Terror-Gesetze«.30 Nachdem sition der Bürgerinnen und Bürger auch im Bundesverfassungsschutzge- durch den in § 13 verankerten Aus- setz verschiedene Änderungen einge- kunftsanspruch gestärkt. Dieser An- führt wurden, zog der baden-würt- spruch gibt dem Betroffenen die tembergische Gesetzgeber nach. Die Möglichkeit, auf Antrag Auskunft Änderungen auf Bundesebene um- über die zu seiner Person gespeicher- fassten insbesondere die Befugnis, ten Daten zu erhalten. Voraussetzung Bestrebungen gegen den Gedanken hierfür ist, dass ein konkreter Sach- der Völkerverständigung zu beob- verhalt und ein besonderes Interesse achten und Auskünfte bei nicht-öf- dargelegt werden. Diese Änderungen fentlichen Stellen (z.B. Luftfahrtun- beruhten auf der Änderung des Bun- ternehmen und Finanzdienstleistern) desverfassungsschutzgesetzes vom einzuholen. Der Schwerpunkt der 20. Dezember 1990, mit der wie- Gesetzesänderungen in Baden-Würt- derum die vom Bundesverfassungs- temberg lag zum einen darin, die auf gericht im sogenannten »Volkszäh- Bundesebene mit dem Terrorismus- lungsurteil«29 festgelegten Grund- bekämpfungsgesetz vom 9. Januar sätze der Zulässigkeit staatlicher 2002 geänderten gesetzlichen Befug- Informationsverarbeitung umgesetzt nisse auch auf Landesebene um- wurden. zusetzen. Zum anderen sollten dem baden-württembergischen Ver-

29 BVerfGE 65, S.61ff. 30 Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus vom 9. Januar 2002 (Terrorismusbekämpfungsgesetz), BGBl. 2002, Teil I, S.361 ff. 32 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ fassungsschutz die nötigen gesetz- Sowohl im Bereich des Rechtsex- lichen Befugnisse gegeben werden, tremismus als auch bei militanten Is- damit er seinen Aufgaben, insbeson- lamisten war und ist bis heute eine dere in der Bekämpfung des Terroris- fortschreitende Verjüngung des po- mus, besser gerecht werden konnte.31 tenziellen Täterkreises zu beobach- ten. Um eine zuverlässige Einschät- Am 5. Dezember 2005 trat ein über- zung des Bedrohungspotenzials zu arbeitetes LVSG in Kraft, dessen ermöglichen, wurde es erforderlich, wesentliche Änderungen wie folgt Erkenntnisse über Jugendliche auch zusammengefasst werden können: vor Vollendung des 16. Lebensjahres inDateienzuspeichern.MitderGe- Da dem Verfassungsschutz bei der setzesänderung wurde die Alters- Terrorismusbekämpfung im Rahmen grenze zur Speicherung von perso- der Vorfeldaufklärung eine wichtige nenbezogenen Daten in Dateien von Aufgabe zukommt, erhielt die Be- 16 Jahren auf 14 Jahre herabgesetzt.34 hörde entsprechend dem Bundesver- fassungsschutzgesetz das Recht, auch solche Bestrebungen zu beobachten, 2.3 Gesetzliche Aufgaben die sich gegen den Gedanken der Völ- kerverständigung oder gegen das Nach diesen Gesetzesnovellen beste- friedliche Zusammenleben der Völ- hen die gesetzlichen Aufgaben des ker richten.32 LfV gemäß § 3 Abs.1 LVSG darin, Gefahren für die freiheitliche de- Mit der Bestimmung des § 5 a LVSG mokratische Grundordnung, den über das Einholen von Auskünften Bestand und die Sicherheit der Bun- bei nicht-öffentlichen Stellen (z.B. desrepublik Deutschland und ihrer bei den bereits erwähnten Finanz- Länder frühzeitig zu erkennen und dienstleistern) wurde ein neues In- den zuständigen Stellen zu ermögli- strument zur Terrorismusbekämp- chen, diese Gefahren abzuwehren. fung geschaffen33, um unter anderem Nach § 3 Abs.2 LVSG sammelt das Geldströme und Kontobewegungen LfV zur Erfüllung dieser Aufgaben extremistischer und terroristischer Informationen, insbesondere sach- Organisationen nachvollziehen zu und personenbezogene Auskünfte, können. Nachrichten und Unterlagen von Organisationen und Personen über

31 Landtagsdrucksache 13/4524, Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung zur Änderung des Landesver- fassungsschutzgesetzes, des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz, des Landessicher- heitsüberprüfungsgesetzes und des Landesdatenschutzgesetzes. 32 Landtagsdrucksache 14/1857, Große Anfrage der Fraktion »Die Grünen« zur »Bilanz des Anti-Terror-Kampfes in Ba- den-Württemberg« und Antwort der Landesregierung, S.20. 33 Ebenda, S.19. 34 Ebenda, S.20. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 33

– Bestrebungen, die gegen die frei- wie freiwillige Auskünfte. Daneben heitliche demokratische Grund- können Informationen auch verdeckt ordnung, den Bestand oder die Si- beschafft werden. Dazu nennt § 6 cherheit des Bundes oder eines LVSG mehrere nachrichtendienstli- Landes gerichtet sind oder eine che Mittel. Informationen können ungesetzliche Beeinträchtigung danach heimlich durch den Einsatz der Amtsführung der Verfas- von Vertrauensleuten und Gewährs- sungsorgane oder eines Landes personen oder im Zuge von Observa- oder ihrer Mitglieder zum Ziele tionen gewonnen werden, bei denen haben, auch Bild- und Tonaufzeichnungen – sicherheitsgefährdende oder ge- gefertigt werden sowie Tarnpapiere heimdienstliche Tätigkeiten im und Tarnkennzeichen verwendet Geltungsbereich des Grundgeset- werden. Nach § 6 Abs.5 LVSG darf zes für eine fremde Macht, die Anwendung der nachrichten- – Bestrebungen im Geltungsbereich dienstlichen Mittel nicht erkennbar des Grundgesetzes, die durch die außer Verhältnis zur Bedeutung des Anwendung von Gewalt oder da- aufzuklärenden Sachverhalts stehen. rauf gerichtete Vorbereitungs- Bei einem Einsatz nachrichtendienst- handlungen auswärtige Belange licher Mittel ist nach dieser Vorschrift der Bundesrepublik Deutschland ebenso abzuwägen, ob der Sachver- gefährden, halt nicht auf weniger beeinträchti- – Bestrebungen im Geltungsbereich gende Weise zu erforschen ist. des LVSG, die gegen den Gedan- ken der Völkerverständigung, ins- Daneben darf das LfV unter strengen besondere gegen das friedliche gesetzlichen Voraussetzungen nach Zusammenleben der Völker, ge- dem Gesetz zur Beschränkung des richtet sind. Brief-, Post- und Fernmeldegeheim- nisses (Artikel 10-Gesetz) den Brief-, Post- und Fernmeldeverkehr über- Um Erkenntnisse über verfassungs- wachen. feindliche Bestrebungen beschaffen zu können, darf sich das LfV gemäß Die so gewonnenen Informationen seiner gesetzlichen Grundlage ver- werden schließlich ausgewertet und schiedener Methoden bedienen. Ein innerhalb des gesetzlichen Rahmens Großteil der Informationen wird aus an die Bedarfsträger weitergegeben sogenannten offenen Quellen ge- (§ 10 LVSG). Der Verfassungsschutz wonnen.35 Dazu gehören die Aus- unterrichtet neben den verschiedenen wertung von Medien, beispielsweise Adressaten aus Politik, Polizei, Ver- von Zeitungen, Zeitschriften, sonsti- waltung und Justiz auch die Öffent- gen Publikationen und dem Internet, lichkeit über seine Erkenntnisse. der Besuch von Veranstaltungen so-

35 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2011, S.23. 34 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ

Als Aufsichtsbehörde des baden- Somit ist sichergestellt, dass das LfV württembergischen Verfassungsschut- als wichtiges Instrument der wehr- zes unterrichtet das Innenminis- haften Demokratie selbst nicht im terium den sogenannten Ständigen rechtsfreien Raum agiert, sondern Ausschuss des Landtags halbjährlich vielmehr seine Aufgabe, die freiheitli- über die Tätigkeit des Inlandsnach- che demokratische Grundordnung richtendienstes. Der Ständige Aus- und den Bestand und die Sicherheit schuss stellt durch seine wichtige der Bundesrepublik Deutschland Arbeit die parlamentarische Kon- und ihrer Länder zu schützen, auf ge- trolle des Verfassungsschutzes sicher. setzlicher Grundlage wahrnimmt. Daneben kontrolliert das »Gremium nach dem Artikel 10-Gesetz« (G 10- Gremium des Landtags) alle Eingriffe 3. Aufgabenfelder des indasPost-undFernmeldegeheimnis, Verfassungsschutzes im die durch das LfV auf Basis des LVSG Wandel der Zeiten in Verbindung mit dem Artikel 10- Gesetz vorgenommen werden. Die Zur Zeit des »Kalten Kriegs« vom vom Landtag bestellte G10-Kommis- Kriegsende 1945 bis zum Zusammen- sion prüft die Rechtmäßigkeit der bruch der Sowjetunion 1991 lag ein beantragten Post- und Telekommuni- Schwerpunkt der Beobachtungstätig- kationsüberwachungsmaßnahmen. keit auf dem Linksextremismus, ins- besondere auch dem Linksterroris- Neben der parlamentarischen Kon- mus der »Rote Armee Fraktion« trolle kann jeder Bürger bei der Be- (RAF) und der »Revolutionären hörde einen Antrag auf Auskunft Zellen« sowie anderer linksterroristi- über die zu seiner Person gespeicher- scher Strukturen und deren Unter- ten Daten stellen. Dafür ist es erfor- stützerbereiche.36 Auch die Spiona- derlich, dass er auf einen konkreten geabwehr war in dieser Zeit verstärkt Sachverhalt hinweist und ein beson- gefordert. deres Interesse an einer Auskunft darlegt. Zusätzlich hat auch der Lan- Infolge einer Welle rechtsextremis- desbeauftragte für den Datenschutz tisch motivierter Gewalttaten, vor Kontrollbefugnisse, um die Einhal- allem in den Jahren 1992 und 1993, tung der datenschutzrechtlichen Re- sowie umfassender Verbotsmaßnah- gelungen zu überwachen. men neonazistischer Gruppierungen wie der »Nationalistischen Front« im Alle diese Überwachungsfunktionen November 199237, der »Nationalen bilden ein engmaschiges Netz zur Offensive« Ende Dezember 199238 Kontrolle des Verfassungsschutzes. sowie der »Wiking-Jugend e. V.« am

36 Landtagsdrucksache 13/441, Aufgaben, Methoden und zukünftige Strukturen des Landesamtes für Verfassungs- schutz, S.3. 37 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1992, S.40. 38 Ebenda, S.38. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 35

10. November 1994 auf Bundesebene ganisation durch den Verfassungs- und der »Heimattreuen Vereinigung schutz beobachtet werden sollte.42 Deutschlands« im Sommer 1993 Diese Arbeitsgruppe kam zu dem durch den Innenminister des Landes Ergebnis, dass Scientology politisch Baden-Württemberg wurden neue relevante Bestrebungen gegen die Schwerpunkte gesetzt.39 Es wurden freiheitliche demokratische Grund- organisatorische und personelle Än- ordnung verfolgt.43 In Baden-Würt- derungen im LfV vorgenommen und temberg war bereits mit Wirkung im besonderen Maße die Bekämp- vom 1. Januar 1997 die nachrichten- fung des Rechtsextremismus voran- dienstliche Beobachtung von Scien- getrieben, ohne aber die anderen tology aufgrund der vorliegenden Beobachtungsfelder wie Linksextre- Erkenntnisse und ihrer rechtlichen mismus und Ausländerextremismus Bewertung eingeleitet worden. zu vernachlässigen.40 Seit den Anschlägen vom 11.Septem- Die Spionageabwehr ist, entgegen ber 2001 gehört der islamistische Ex- den ersten Erwartungen nach dem tremismus und Terrorismus zu den Fall der Mauer, ein wichtiges Betäti- Arbeitsschwerpunkten des Amtes. gungsfeld des Verfassungsschutzes in Dabei hatte sich der baden-württem- Baden-Württemberg geblieben. Die bergische Verfassungsschutz schon gestiegene politische und wirtschaft- frühzeitig personell und organisato- liche Bedeutung Deutschlands hat risch auf die neue Gefahrenlage ein- ein intensives Aufklärungsinteresse gestellt. Die Auseinandersetzung mit fremder Staaten zur Folge. Mittler- dem Salafismus, der erst vor kurzer weile stehen die Bereiche Wirtschaft, Zeit in den Fokus der breiten Öffent- Wissenschaft und Technik im Fokus lichkeit gerückt ist, gehört als verfas- ausländischer Nachrichtendienste.41 sungsfeindliche Ideologie und Nähr- Gerade Baden-Württemberg ist mit boden für den Terrorismus bereits seinen hochspezialisierten und viel- seit vielen Jahren zum Aufgaben- fach auch auf dem Weltmarkt führen- spektrum. den High-Tech-Unternehmen ein lohnendes Spionageziel. 3.1 Rechtsextremismus und Im November 1996 setzte die Innen- -terrorismus ministerkonferenz eine Bund-Län- der-Arbeitsgruppe ein, die die Frage Rechtsextremismus begleitet als ge- klären sollte, ob die Scientology-Or- sellschaftlich relevantes Phänomen

39 Landtagsdrucksache 13/441, Aufgaben, Methoden und zukünftige Strukturen des Landesamtes für Verfassungs- schutz, S.3. 40 Ebenda, S.3. 41 Ebenda, S.3. 42 Abschlussbericht der Arbeitsgruppe SC der Verfassungsschutzbehörden, S.8. 43 Ebenda, S.103. 36 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ die Geschichte der Bundesrepublik auch nationalsozialistische Einstel- Deutschland seit ihren Anfängen. lungen den Untergang des »Dritten Reiches« überlebt hatten bzw. neu Dabei waren die Ausgangsbedingun- entstanden. In Westdeutschland be- gen für nationalsozialistische oder gann sich eine netzwerkartige rechts- andere rechtsextremistische Bestre- extremistische Szene herauszubilden. bungen im Deutschland der späten Bis heute bekanntestes Beispiel dafür 40er und frühen 50er Jahre denkbar ist die bereits im Oktober 1949 ge- schlecht: Der historische National- gründete »Sozialistische Reichspar- sozialismus hatte nicht nur eine ver- tei« (SRP), die im Oktober 1952 nichtende militärische Niederlage durch das Bundesverfassungsgericht erlitten, sondern auch durch die aufgrund ihrer Wesensverwandt- unfassbare Dimension seiner Ver- schaft zur NSDAP verboten wurde. brechen sich selbst vollständig ethisch-moralisch diskreditiert. Da- Rechtsextremismus blieb trotz der mit hinterließ er dem deutschen stabilisierenden Wirkung des »Wirt- Nachkriegsrechtsextremismus ein schaftswunders« auch zwischen fortwirkendes Erbe. Deutsche Mitte der 50er und Mitte der 60er Rechtsextremisten werden bis heute Jahre ein gesellschaftliches Phäno- immer wieder an diesem historischen men in der Bundesrepublik. Neben Bezugspunkt gemessen, selbst dann, anderen Gründen bescherte die Nach- wenn sie hinsichtlich ihrer ideologi- kriegsrezession der Jahre 1966/67 dem schen Überzeugung zwar als Rechts- Rechtsextremismus dann vermehrten extremisten, nicht aber als Neonazis Zulauf. So errang die erst im Novem- im eigentlichen Sinne zu verorten ber 1964 gegründete »Nationaldemo- sind. Zudem setzten die konkreten kratische Partei Deutschlands« Machtverhältnisse im frühen, besetz- (NPD) in den Jahren 1966 bis 1968 ten Nachkriegsdeutschland einem innerhalb von nicht ganz anderthalb Wiederaufkeimen rechtsextremisti- Jahren bei sieben aufeinanderfolgen- scher Umtriebe Grenzen. Hinzu den Landtagswahlen Ergebnisse über kam, dass bei der Gründung der Bun- der 5-Prozent-Marke. Ihr bis heute desrepublik Deutschland Instru- höchstes Landtagswahlergebnis er- mente einer wertegebundenen und zielte sie mit 9,8 % im Jahr 1968 in wehrhaften Demokratie verfassungs- Baden-Württemberg. Mit dem Ab- rechtlich verankert wurden, die es – flauen der Umbruchs- bzw. Krisener- anders als noch in der Weimarer Re- scheinungen der späten 60er Jahre publik – ermöglichten, sich präventiv blieben jedoch auch weitere Erfolge und repressiv gegen die Feinde der der NPD aus. Demokratie zur Wehr zu setzen. Langfristig betrachtet führte die In den Jahren der Nachkriegszeit Studentenrevolte um 1968 zu einer zeigte sich jedoch schon bald, dass erheblichen Verschlechterung der rechtsextremistische und darunter Rahmenbedingungen für rechtsex- FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 37 tremistische Bestrebungen in der noch hatten punkten können, traten Bundesrepublik Deutschland. Denn in der öffentlichen Diskussion vorü- die Studentenbewegung positionierte bergehend in den Hintergrund. sich nicht nur entschieden gegen die damaligen NPD-Erfolge. Ihre Fragen Mit der 1990 vollzogenen Vereini- nach den NS-Verstrickungen der vo- gung der beiden deutschen Staaten rausgegangenen Generation rückten zeigte sich der Rechtsextremismus als vor allem die NS-Verbrechen der Ver- gesamtdeutsches Phänomen. Nicht gangenheit ins Rampenlicht und tru- erst in ihrer Spätphase waren auch in gen damit auch zu einer stärkeren, bis der DDR trotz der antifaschistischen heute nachwirkenden Sensibilisie- Staatsdoktrin Ansätze für Rechts- rung der bundesdeutschen Gesell- extremismus festzustellen gewesen. schaft gegen rechtsextremistische Die teils sehr schwierigen wirtschaft- Umtriebe bei. lichen und sozialen Folgen der Wiedervereinigung mögen die Rah- Dennoch waren die 70er und 80er menbedingungen für den Rechts- Jahre in Westdeutschland keinesfalls extremismus in Ostdeutschland be- frei von rechtsextremistischen Um- günstigt haben, sie waren jedoch trieben, wie nicht zuletzt u.a. nicht dessen alleinige Entstehungs- die Existenz der »Wehrsportgruppe ursache. Hoffmann« und die Straftaten der rechtsterroristischen »Deutschen Zunehmend rückten nun diejenigen Aktionsgruppen« oder der »Hepp- Themen wieder stärker in das Blick- Kexel-Gruppe« belegen. feld der öffentlichen Diskussion, auf denen der Aufschwung des Rechtsex- Ende der 80er Jahre konnten mit tremismus in Westdeutschland Ende der 1987 gegründeten »Deutschen der 80er Jahre beruht hatte. Im Zuge Volksunion« (DVU) und der 1983 ge- der sogenannten Asyldebatte Anfang gründeten Partei »DIE REPUBLI- der 90er Jahre stieg die Anzahl rechts- KANER« (REP) wiederum rechtsex- extremistisch motivierter Gewaltta- tremistische Parteien Wahlerfolge in ten bundesweit explosionsartig. Im der Bundesrepublik erzielen. Diese Jahr 1992 waren 1.485 Gewalttaten Erfolge lösten zugleich eine intensive im Vergleich zu 849 aus dem Vorjahr gesamtgesellschaftliche Debatte über zu verzeichnen. Auch in Baden- die Gefahren des Rechtsextremismus Württemberg kam es fast zu einer aus. Die rechtsextremistischen Wahl- Verdoppelung der Zahlen (1991: 58; erfolge im Westen Deutschlands 1992: 129). Die Situation nahm insbe- wurden durch die revolutionären Er- sondere bei Angriffen und Anschlä- eignisse in der DDR abrupt unter- gen auf von Migranten bewohnte Ge- brochen. Themen wie etwa die bäude – auch in Baden-Württemberg Zuwanderungs-, Ausländer- und – erschreckende Ausmaße an. Damit Asylpolitik, mit denen rechtsextre- gingen Wahlerfolge rechtsextremisti- mistische Parteien bei Wahlkämpfen scher Parteien einher, etwa der REP 38 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ bei den Landtagswahlen 1992 Die im November 2011 bekanntge- (10,9 %) und 1996 (9,1 %) in Baden- wordenen Verbrechen des rechts- Württemberg sowie später der NPD terroristischen, selbsternannten »Na- und DVU in einzelnen ostdeutschen tionalsozialistischen Untergrunds«44 Ländern. Aber nicht nur rechtsex- liefern einen weiteren Beweis für eine tremistische Parteien konnten im seit langem bekannte Tatsache: dass wiedervereinigten Deutschland Teil- Gewalt – bis hin zum Terrorismus – erfolge erzielen. So hat die Neonazi- eine dem Rechtsextremismus imma- szene trotz diverser Vereinigungs- nente letzte, mögliche Konsequenz verbote in den 90er Jahren bereits seit ist. Jahren in Bund wie Land personelle Zuwächse zuverzeichnen.Dierechts- extremistische Skinheadszene erlebte 3.2 Linksextremismus und bisinsJahr2005sogareinenregelrech- -terrorismus ten Boom, der sich auch in Baden- Württemberg bemerkbar machte. Mit Für die Entwicklung des Linksextre- ca. 1.040 rechtsextremistischen Skin- mismus in der Bundesrepublik heads, 26 Skinheadkonzerten und 18 Deutschland sind verschiedene Weg- im Land beheimateten Bands erlebte marken von grundsätzlicher Bedeu- Baden-Württemberg im Jahr 2005 tung. Als eine erste Zäsur kann die eine bislang nicht dagewesene und Zeitspanne von 1945 bis 1949 gelten: auchindenFolgejahrennichtmehrer- Die Ausgangsbedingungen für Kom- reichte Hochphase rechtsextremisti- munisten nach dem Ende des Zwei- scher Skinheadaktivitäten. ten Weltkriegs waren zunächst grundsätzlich positiv. Ihr unbestreit- Während die rechtsextremistischen bar opferreicher Widerstand gegen Parteien und dieSkinheadszene in den den Nationalsozialismus spielte da- letzten Jahren mit sinkenden Mitglie- bei ebenso eine Rolle wie die Beteili- derzahlen zu kämpfen haben, machen gung der kommunistischen Füh- neonazistische Zusammenschlüsse rungsmacht Sowjetunion am Kampf durch neuartige Aktions- und Er- der Kriegsalliierten und deren Sieg scheinungsformen, wieaktuelldie mi- über »Hitler-Deutschland«. litanten »Autonomen Nationalisten« (AN), immer wieder von sich reden. Von einem solchen positiven Nimbus In Baden-Württemberg traten AN vermochten Linksextremisten in den erstmals Mitte 2005 als Anmelder Anfangsjahren auch zu profitieren. oder Veranstalter von Demonstratio- Nach 1945 war die KPD zunächst nen in Erscheinung. Anfänglich noch nicht nur in fast allen westdeutschen eine Randerscheinung, machen sie in- Landtagen vertreten, sondern da- zwischen über ein Drittel der baden- rüber hinaus auch an den damals württembergischen Neonazis aus. üblichen Allparteienregierungen auf

44 Die Ermittlungen des Generalbundesanwalts waren zu Redaktionsschluss noch nicht abgeschlossen. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 39

Landesebene beteiligt. Bei den Wah- merat aus der Auseinandersetzung len zum ersten Deutschen Bundestag mit den Verstrickungen der Elternge- im Jahr 1949 erreichte die KPD neration in den Nationalsozialismus, 5,7 %, 1953 aber nur noch 2,2 %. aus Protesten gegen den Vietnam- Höhepunkt einer maßgeblich dem krieg, gegen die Notstandsgesetzge- »Kalten Krieg« geschuldeten Ent- bung und einer Hinterfragung und wicklung war das KPD-Verbot von Ablehnung von Traditionen und Au- 1956. Zu der zunehmenden Front- toritäten zugrunde. stellung gegenüber dem Kommunis- mus in Politik und Gesellschaft der Die Jahre 1968/69 brachten dreierlei: Bundesrepublik hatte die repressive im Zuge der Entspannungspolitik die Politik der russischen Besatzungs- erneute Zulassung einer moskauori- macht in ihrer Zone, man denke an entierten kommunistischen Partei ab die Zwangsvereinigung von SPD und 1968, eine »Diversifizierung« des KPD zur SED im April 1946 oder die deutschen Linksextremismus sowie erste Blockade 1948/49, maß- die Herausbildung eines deutschen geblich beigetragen. Mit der Grün- Linksterrorismus. Die 1968 »neu dung der DDR bezeichnete die konstituierte« Partei vermochte aller- Teilung Deutschlands zugleich die dings nicht mehr an den erfolgreichen geografische Trennlinie zwischen Start ihrer Vorgängerorganisation dem kommunistischen Machtbereich von 1945 anzuknüpfen. Als verlän- und der »freien Welt«. gerter Arm der SED mit einem Nega- tivimage in der Bevölkerung behaftet, Andere Rahmenbedingungen setzten kam die »Deutsche Kommunistische die Jahre 1968/69: Der erfolgreichen Partei« (DKP) nicht über marginale Westintegration der Bundesrepublik Wahlerfolge von höchstens 0,3 % bei folgte ein neuer politischer Ansatz im Bundestagswahlen hinaus, an denen Umgang mit dem Osten: »Wandel sie schließlich ab 1983 nicht mehr durch Annäherung« beschrieb das teilnahm. Trotz der einsetzenden Konzept einer allmählichen Entspan- wahlpolitischen Bedeutungslosigkeit nung des Verhältnisses zur DDR im verfügte die DKP in den 70er und Interesse der dortigen Bevölkerung. 80er Jahren relativ konstant noch im- Die »neue Ostpolitik« der Regierung mer über ca. 40.000 Mitglieder. Dank Brandt/Scheel intendierte unter An- massiver finanzieller und logistischer erkennung der politischen Realitäten Unterstützung durch die SED gelang einen Abbau der politisch-ideologi- es der Partei in diesen Jahren, spürba- schen Frontstellung zwischen beiden ren Einfluss auf die öffentliche Mei- deutschen Staaten. Innenpolitisch nung und die außerparlamentarische führte die sogenannte »Jugend- Willensbildung in Westdeutschland revolte« oder auch »Studentenrevo- zu nehmen. lution« zu einem Umbruch in der politischen Kultur der Bundesrepu- Parallel zur traditionskommunisti- blik. Dieser Revolte lag ein Konglo- schen DKP entstanden neue Spielar- 40 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ ten des Marxismus-Leninismus in ZeitistnochheutemitStichworten Gestalt zahlreicher Zirkel und Klein- wie »Brokdorf«, »Wackersdorf« oder gruppen – sogenannter »K-Grup- »Startbahn West« als den Orten hefti- pen« –, die sich an Leo Trotzki oder ger Proteste und massenmilitanter Vorbildern wie Mao Tse-tung und Auseinandersetzungen mit der Poli- Enver Hoxha orientierten, von denen zei verbunden. Heute richten sich allerdings nach einer Blütezeit in den Kampagnen des autonomen Spek- 70er Jahren die wenigsten bis heute trums gegen den staatlichen »Re- politisch überlebt haben. Militantes- pressionsapparat«, gegen Krieg und ter Ausfluss der 68er-Bewegung war Bundeswehr, gegen »Nazis« und die Entstehung des Linksterrorismus. »Faschismus«, »staatlichen Rassis- Dieser nahm seinen Ausgang mit mus« und »Imperialismus« oder ge- zwei Kaufhausbränden in Frankfurt gen »Ausbeutung und Unterdrü- am Main im April 1968 und erreichte ckung« in der kapitalistischen Gesell- seinen Höhepunkt mit dem »Deut- schaft. Neben militanten Aktionen schen Herbst« – der Entführung der richtet sich die Gewalt auch gegen Lufthansa-Maschine »Landshut« Personen. Adressaten der Auseinan- und der Ermordung Hanns-Martin dersetzungen sind neben Rechtsex- Schleyers – Ende 1977. Die Ausei- tremisten vermehrt auch Polizeibe- nandersetzung mit dem Linksterro- amte als Repräsentanten eines ver- rismus der »Rote Armee Fraktion« hassten Staates. (RAF), die über 30 Mordopfer zu ih- rer Bilanz zählen konnte, war und Einen Epochenwechsel bedeuteten blieb die größte innen- und sicher- schließlich die Jahre 1989/90. Nicht heitspolitische Herausforderung der nur das Scheitern des »real existieren- Bundesrepublik Deutschland bis den Sozialismus«, sondern auch die zum Aufkommen der neuen Form deutsche Wiedervereinigung wurde des islamistischen Terrorismus. von Linksextremisten als eigene Nie- derlage begriffen. Das Ende der DDR Linksextremistisch motivierte Ge- und die spätere Auflösung der Sow- walt, wenn auch auf deutlich niedri- jetunion hatten besonders für den gerem Niveau, geht bis heute noch orthodoxen Linksextremismus gera- von einem anderen politischen Phä- dezu katastrophale Folgen: Mit dem nomen aus, das Ende der 70er/An- »Wettbewerb der Systeme« war die fang der 80er Jahre aus der »Sponti- Alternative zum kapitalistischen Ge- szene« des antiautoritären Flügels der sellschaftssystem weggefallen und 68er-Bewegung entstanden ist: Die damit auch der politisch-ideologische sogenannten Autonomen, eine in sich Orientierungs- und Fixpunkt. Die sehr heterogene Szene, betrachteten Idee des Sozialismus schien über- von Anfang an Militanz als unver- haupt weitgehend diskreditiert. Für zichtbaren Bestandteil ihrer »Poli- die DKP und ihr nahestehende Orga- tik«. Ihre Hochzeit waren die achtzi- nisationen bedeutete das Ende der ger Jahre. Die Erinnerung an diese DDR den weitgehenden finanziellen FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 41 und organisatorischen Zusammen- 3.3. Spionageabwehr bruch sowie massive Mitgliederver- luste. Verantwortlich für letzteres war Uraltes Problem und aktuelle bei der DKP neben Resignation und Herausforderung Abkehr die Herausdrängung der den Reformkurs Gorbatschows unter- Spionage – ein weltweit geführter stützenden Mitglieder aus der Partei. Machtkampf »hinter den Kulissen« mit Mitteln wie Diebstahl, Betrug, Parallel zu dem vermeintlichen Ende Bestechung und Erpressung, der der kommunistischen Bedrohung zuweilen den Lauf der Geschichte und dem Zerfall des orthodox-kom- nachhaltig beeinflusst hat – ist keine munistischen Lagers nahm die ehe- Besonderheit der Neuzeit. Schon seit malige Staats- und Regierungspartei Jahrtausenden befassen sich die Men- der untergegangenen DDR einen schen damit, Absichten, Strategien neuen politischen Anlauf, jetzt auf und Fähigkeiten ihrer Feinde auszu- gesamtdeutscher Bühne. Nach mehr- spähen, um das eigene Verhalten fachen Umbenennungen – von SED rechtzeitig darauf einstellen zu kön- zu SED-PDS, dann PDS, dann nen. Und ebenso lange gehören Ver- Linkspartei.PDS – und vor allem rat, Hinterlist oder mangelnde Loya- nach dem Zusammengehen mit der lität sowie das Streben nach Macht, »Wahlalternative Arbeit & soziale Reichtum und Anerkennung zu ihren Gerechtigkeit« (WASG) – trat sie als Grundeigenschaften. Der Begriff Spi- die »neue« Partei »DIELINKE.« an. onage kann daher auch als Sinnbild Der Beitritt der WASG diente einer menschlicher Schwächen und Nei- deutlichen Stärkung des Standbeins gungen verstanden werden. der Partei im Westen, wo sie sich im Unterschied zu ihrer weiterhin gege- Während des Ost-West-Konflikts ab benen Verankerung im Osten völlig 1945 bis zum Zusammenbruch der neu hatte etablieren müssen. Die Par- Sowjetunion 1991 erlebte die Spio- tei ist nach 1990 nicht nur zum Kris- nage eine historische Hochphase. Die tallisationspunkt und Hoffnungsträ- im Vergleich zur Gegenwart enorme ger wesentlicher Teile des deutschen Anzahl von Spionagefällen und Ver- Linksextremismus geworden, son- urteilungen macht dies auf beeindru- dern sie stellt darüber hinaus auf- ckende Weise deutlich. Aber auch grund ihrer pluralistischen Struktur danach hat sie nicht wesentlich an ein neuartiges Phänomen dar, das sich Aktualität verloren. Seit einigen Jah- u.a. in der Existenz verschiedener in- ren befindet sich die Welt in einem nerparteilicher Strömungen manifes- fundamentalen Umbruch, der fast tiert. Demgegenüber ist die weiterhin alle Lebensbereiche umfasst. Gerade »traditionell« orientierte DKP, einst in solchen Zeiten haben Staaten ein stärkste linksextremistische Kraft in ausgeprägtes Interesse, sich umfas- Westdeutschland, kaum mehr als eine send zu informieren und eigene Defi- Randerscheinung geblieben. zite möglichst schnell und kosten- 42 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ günstig auszugleichen, um politisch, rung durchaus als legitimes Mittel im wirtschaftlich und militärisch kon- weltweiten wirtschaftlichen Kon- kurrenzfähig zu sein. Teilweise setzen kurrenzkampf betrachtet und auch sie dafür auch ihre Nachrichten- eingesetzt. Und wie sich als Folge dienste ein. Wegen ihrer geopoliti- wechselnder weltpolitischer Kon- schen Lage, der wichtigen Rolle in- stellationen Zielsetzung und Schwer- nerhalbderEUundderNATOund punkte der Spionage sowie die als Standort zahlreicher High-Tech- Motive der Agenten verändert haben, Unternehmen ist die Bundesrepublik wurden auch die nachrichtendienstli- Deutschland nach wie vor ein begehr- chen Methoden ständig den aktuellen tes Ausspähungsziel. Als rohstoffar- Notwendigkeiten angepasst und mes Land muss sie beispielsweise ein durch technische Neuentwicklungen besonderes Augenmerk darauf legen, optimiert. ihre spezifischen Stärken wie techno- logisches Know-how und wirtschaft- Auch der Stellenwert der Spionage- liche Kompetenz wirksam zu schüt- abwehr war – unabhängig von der zen. Sonst drohen erhebliche Schäden tatsächlichen Bedrohung durch oder sonstige Nachteile. fremde Nachrichtendienste – immer wieder erheblichen Schwankungen unterworfen. Über Jahrzehnte hin- Spiegelbild weltweiter weg ein anerkannt wichtiges Aufga- Veränderungen benfeld des Verfassungsschutzes, glaubte man Ende der 80er und An- Das Phänomen Spionage und die da- fang der 90er Jahre, angesichts der mit verbundenen geheimdienstlichen Annäherung von Ost und West auf Aktionen fremder Staaten spiegeln die Spionageabwehr fast völlig wie kein anderes Beobachtungsfeld verzichten zu können. Dies hat sich des Verfassungsschutzes die wich- allerdings sehr bald als Trugschluss tigsten weltweiten politischen Ent- herausgestellt. Und die Ereignisse des wicklungen der letzten sechzig Jahre 11. September 2001 sowie die nach- wider. folgende Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terrorismus ha- Während der Auseinandersetzung ben nicht nur zu einem spürbaren zwischen Kommunismus und Kapi- Personalabbau bei der Spionageab- talismus ein unentbehrliches Instru- wehr des Landesamts für Verfas- ment zur Beschaffung bestens gehü- sungsschutz geführt, sondern auch teter politischer, militärischer und die Bedrohung durch ausländische technischer Informationen der je- Spionage weitgehend aus dem Be- weils anderen Seite, um im ideologi- wusstsein der Öffentlichkeit ver- schen Wettstreit beider Systeme nicht drängt. Aktuelle Vorkommnisse ins Hintertreffen zu geraten, wird belegen allerdings, dass die Spionage- Spionage im Zeitalter der Globalisie- risiken weiterhin präsent sind. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 43

Vom ideologischen Kampf merk galt neben Informationen aus zwischen Ost und West zum den klassischen Zielobjekten auch globalen »Wirtschaftskrieg« Einzelheiten zu den Strukturen sowie der Lebensweise in Westdeutschland, Während des als »Kalter Krieg« be- um beispielsweise eingeschleuste zeichneten Konflikts zwischen den Agenten nicht durch atypisches Ver- Westmächten unter der Führung der halten dem Risiko der Enttarnung USA und dem Ostblock unter der auszusetzen. Neben dem Informati- Ägide der Sowjetunion bekämpften onsabfluss hatten Spionageangriffe sich die Supermächte zwar nicht nicht selten auch noch enorme politi- direkt militärisch. Beide Systeme lie- sche Auswirkungen. 1974 trat Bun- ferten sich aber einen erbitterten deskanzler Willy Brandt zurück, weil ideologischen Konkurrenzkampf. sein persönlicher Referent Günther Permanentes Wettrüsten und der Guillaume als Agent des Ministeri- Wille, die eigene Einfluss- und ums für Staatssicherheit der DDR Machtsphäre auszudehnen sowie die enttarnt worden war. Gegenseite in allen wichtigen Berei- chen wie Wirtschaft, Wissenschaft Mit dem Ende des Ost-West-Kon- und Technologie, aber auch im Sport flikts – in der Geschichte der Spio- zu übertrumpfen, kennzeichnen die nage ganz ohne Zweifel das ein- damalige Situation. Die Nachrichten- schneidendste Ereignis der letzten dienste der beiden Hauptkontrahen- Jahrzehnte – haben sich die Struktu- ten und ihrer jeweiligen Verbündeten renderWeltpolitikgrundlegendver- spielten dabei eine wesentliche Rolle. ändert. Besonders hervorzuheben Spionageangriffe, gezielte Desinfor- sind der Übergang von der bipolaren mation, Versuche der politischen zur multipolaren Weltordnung sowie Einflussnahme und Propagandaakti- der Globalisierungsprozess, der sich onen gehörten zu ihrem üblichen Re- speziell ab den 90er Jahren enorm be- pertoire. Überläufer und profitgie- schleunigt hat. Fortan hatte man es rige Technologiehändler mischten in beispielsweise auf dem Territorium dieser Auseinandersetzung ebenfalls der ehemaligen Sowjetunion mit ei- kräftig mit. ner Vielzahl neuer unabhängiger Staaten mit eigenen Nachrichten- Besonders heftig wurde der Spiona- diensten zu tun. Und es bestimmten gekrieg im geteilten Deutschland, an nicht mehr ideologische Unter- der Nahtstelle zwischen Ost und schiede, sondern nationale Interessen West, ausgefochten. Weite Bereiche die Entscheidung, ob und ggf. mit von Politik, Wirtschaft, Bundeswehr welcher Zielrichtung und mit wel- und Gesellschaft waren von Agenten chen Mitteln Spionage betrieben der damaligen DDR regelrecht wird. Angesichts eines harten inter- durchsetzt. Teilweise konnten sie ihre nationalen Konkurrenzkampfes – Verratstätigkeit über Jahrzehnte hin- manche Fachleute sprechen gar von weg unerkannt ausüben. Ihr Augen- einem »Wirtschaftskrieg« – gibt es bis 44 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ heute eine Reihe von Staaten, die abgetarnte Beschaffungsaktionen nachweislich oder mutmaßlich ihre nachrichtendienstlicher Strukturen. Volkswirtschaft auch unter Einsatz ihrer Nachrichtendienste optimieren. In Baden-Württemberg spielen ge- Moderne Technik nützt auch der zielte Angriffe auf High-Tech-Unter- Spionage nehmen schon seit geraumer Zeit eine herausragende Rolle. Es ist noch gar nicht so lange her, da mussten bestens geschulte Agenten Speziell China hat unter Beteiligung unter großer Geheimhaltung in ris- seiner Geheimdienste eine konse- kanten Operationen beträchtliche quente und gut durchdachte Strategie Mengen an schriftlichen Unterlagen entwickelt, um seine hochgesteckten aus den jeweiligen Zielobjekten be- wirtschaftlichen Ziele zu erreichen. schaffen und ihrem Auftraggeber auf Und die Nachrichtendienste Russ- Wegen zugänglich machen, die stän- lands sind trotz der guten Beziehun- dig von der Gefahr der Enttarnung genzwischenbeidenLändernhierzu- bedroht waren. lande ebenfalls sehr aktiv. Auch wenn in Bezug auf westliche Staaten derzeit Der in den letzten Jahren immer stär- keine nachrichtendienstlich gesicher- ker zu beobachtende Einsatz mo- ten Erkenntnisse über eine systemati- dernster Technik hat die Spionage sche Ausspähung vorliegen, schaut wesentlich erleichtert. Über lange die Spionageabwehr schon längst Zeit bewährte, aber teilweise sehr nicht mehr nur nach Osten. Heute aufwendige Hilfsmittel und Metho- herrscht hier der 360-Grad-Blick vor. den wie spezielle Spionagekameras, als Container präparierte Spraydo- Nach dem Ende des Kalten Kriegs sen, Zündspulen, Reisenecessaires hat für die Spionageabwehr nach und oder andere Gegenstände des tägli- nach noch ein anderes, für die Sicher- chen Lebens zur sicheren Aufbewah- heit der internationalen Staatenge- rung und zum Transport von Nach- meinschaft äußerst bedrohliches Phä- richtenmaterial, Funkgeräte und nomen große Bedeutung erlangt: die Mikrate45 zur verdeckten Nachrich- eng mit der Wirtschaftsspionage ver- tenübermittlung waren plötzlich fast knüpfte Proliferation. Um die res- gänzlich out. triktiven Ausfuhrbestimmungen westlicher Staaten zu umgehen, un- Es gab kaum eine technische Ent- terstützen autoritär regierte Länder wicklung, die nicht über kurz oder wie Iran, Nordkorea, Pakistan und lang in irgendeiner Form für Spiona- Syrien ihre massiven Aufrüstungs- gezwecke genutzt worden wäre. Vor bemühungen bei ABC-Waffen und allem durch das Internet wurden völ- Trägertechnologien teilweise durch lig neue Möglichkeiten eröffnet. Die

45 Ein auf Punktgröße verkleinertes Negativ, das den Text einer DIN-A4-Seite enthält. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 45

Informationsbeschaffung stößt dort Neue Wege bei der Spionage- auf keine zeitlichen, geografischen abwehr oder sprachliche Barrieren, ist risiko- los und lässt sich wegen der in einer Das Landesamt für Verfassungs- offenen Gesellschaft in reichem Maße schutz hat den gesetzlichen Auftrag, frei verfügbaren Unterlagen be- geheimdienstliche Tätigkeiten einer sonders effektiv und kostengünstig fremden Macht zu beobachten und realisieren. Und die Übermittlung ge- abzuwehren. Dabei dürfen auch heimer Nachrichten kann jetzt we- nachrichtendienstliche Mittel einge- sentlich schneller und angesichts der setzt werden. Durch die Überwer- für das Netz typischen Anonymität bung eines bereits aktiven Agenten mit einem relativ geringen Entde- können zum Beispiel ganz aktuelle ckungsrisiko erfolgen. Erkenntnisse über Absichten, Struk- turen, Personal und Führungsmoda- Gezielte elektronische Attacken – litäten seines Auftraggebers erlangt etwa in Form von Trojanerangriffen46 werden. – auf DV-Systeme, das Abhören der global über Satelliten abgewickelten Lange Zeit bestand die Abwehr frem- Kommunikation, zu Abhörwanzen der Spionageangriffe vorwiegend in umfunktionierte Handys, gehackte der Bearbeitung von Verdachtshin- Notebooks, unbemerkt an das Fir- weisen aus verschiedensten Quellen, mennetz angedockte USB-Sticks und bis etwa ab Anfang der 1970er Jahre der einfache Diebstahl von Laptops die bundesweit praktizierte anlassun- mit schützenswerten Inhalten sind abhängige methodische Auswertung weitere Beispiele für Spionage im Zu- der bei den Verfassungsschutzbehör- sammenhang mit moderner Technik. den vorhandenen Erkenntnisse eine Sie machen die Spionage wesentlich deutliche qualitative Verbesserung gefährlicher und stellen gleichzeitig der Facharbeit möglich machte. So die Spionageabwehr vor völlig neue waren beispielsweise die Enttarnung Aufgaben. eingeschleuster Illegaler47 durch die akribische Suche nach Doppelgän- Der »Faktor Mensch« ist allerdings ger-Identitäten sowie die Identifi- auch in Zukunft unverzichtbar. Nur zierung von Personen mit nachrich- menschliche Quellen sind in der Lage, tendienstlichem Auftrag durch die kontinuierlich aus einem Zielobjekt zu systematische Überwachung be- berichten und gleichzeitig die beschaff- kannter Agenten-Reisewege beson- ten Informationen fachlich zu bewer- ders erfolgreiche Maßnahmen in der ten. Auseinandersetzung mit den Nach- richtendiensten der DDR.

46 Trojaner: Selbständige Programme mit einer verdeckten Schadfunktion. 47 Agent, der unter einer falschen Identität im Einsatzland nachrichtendienstlich tätig ist. Dabei nutzt er die biografi- schen Daten einer anderen, tatsächlich existenten Person und versucht auf diese Weise, sich mit einer möglichst plausiblen Legende zu tarnen. 46 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ

Als Reaktion auf die komplexen und Entwicklungsprojekte werden Veränderungen nach dem Ende des aus gutem Grund zu einem großen Kalten Krieges, die schlechter gewor- Teil geheim gehalten. Informationen denen Rahmenbedingungen für die und technische Innovationen verkör- repressive Spionageabwehr und im pern also einen enormen strategi- Zuge der generellen Öffnung des Ver- schen Wert. Vor diesem Hintergrund fassungsschutzes hat die Spionageab- ist fest davon auszugehen, dass Staa- wehr des Landesamts Anfang der ten auch zukünftig zum Mittel der 90er Jahre mit einer offensiven Spionage greifen werden. In welchem Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Umfang dies tatsächlich geschieht, begonnen und den Schwenk zu einer hängt ganz wesentlich von der inter- noch stärker ausgeprägten Präven- nationalen Lage und den konkreten tionsarbeit vollzogen. Mittlerweile Interessen einzelner Länder ab. Mög- gehören regelmäßige Pressekontakte, licherweise führt schon eine weitere Broschüren, Fachvorträge, Bera- Verschärfung der globalen Finanz- tungsgespräche, die Präsenz bei und Wirtschaftskrise zu einem An- Messen sowie die Beteiligung an Si- stieg der Spionageaktivitäten. cherheitspartnerschaften zum Stan- dardrepertoire. Ein weiterer wesent- Die Ausspähungsmethoden werden licher Bestandteil der präventiven auch in der Zukunft sehr stark vom Spionageabwehr ist der förmliche technischen Fortschritt geprägt sein. Geheimschutz48. Nachrichtendienste werden gleicher- maßen von der Leistungsfähigkeit und den Schwachpunkten moderns- Keine Entwarnung für die ter Verfahren und Geräte profitieren. Zukunft Und der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Aktuellen Meldungen zu- Globale und regionale Konflikte sor- folge versuchen Forscher im Auftrag gen auch weiterhin für Krisensituati- des US-Militärs, Insekten in steuer- onen. Im internationalen Vergleich bare Mini-Drohnen umzuwandeln. besteht nach wie vor ein erhebliches Die ersten Cyborgs werden angeb- wirtschaftliches und soziales Gefälle lich bereits getestet.49 Die Zukunft zwischen armen und reichen Län- der Spionage und der Spionageab- dern. Politische Planungen, militäri- wehr verspricht also sehr spannend sche Strategien sowie Forschungs- zu werden.

48 Gesetzlich definierte Aufgabe des Verfassungsschutzes, beim Schutz gegen Ausforschung von Staatsgeheimnissen mitzuwirken. Sie umfasst personelle Maßnahmen wie Sicherheitsüberprüfungen, technische und organisatorische Vorkehrungen sowie Beratungs- und Betreuungstätigkeit. 49 Spiegel Online vom 9. April 2012: »Insekten als Drohnen – Forscher basteln an fliegenden Mini-Cyborgs«, http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/0,1518,826389,00.html (gelesen am 29. April 2012). FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 47

3.4. Internationaler Extremis- strebungen innerhalb der oben ge- mus und Terrorismus nannten nationalen Gruppen berich- tet, doch nunmehr trat der Nahost- Der an dieser Stelle nur skizzierte Konflikt in den Fokus: Der Versuch, Phänomenbereich unterlag und un- eine Maschine der israelischen Flug- terliegt wie kaum ein anderer ständi- gesellschaft El Al am 10. Februar gen Veränderungen und zeigte sich 1970 in München-Riem zu entführen, schon in der Vergangenheit in starker könnte, neben anderen Anschlägen, Abhängigkeit von politischen »Groß- als Menetekel für das während der wetterlagen«, sei es auf internationaler Olympischen Sommerspiele 1972 er- Ebene oder im Hinblick auf innenpo- folgte Attentat mit 17 Toten gedeutet litische Verhältnisse innerhalb der werden. Nunmehr waren in den fol- Länder, aus welchen die beobachte- genden Jahren die Verfassungs- ten Organisationen und ihre Prota- schutzbehörden mit den »größten gonisten kamen. Organisationen des palästinensischen ›Widerstands‹ beschäftigt, denen es Unter den Vorzeichen des »Kalten gelungen war, im Bundesgebiet Fuß Krieges« erscheint es aus heutiger zu fassen und einen erheblichen Teil Sicht kaum verwunderlich, wenn das der hier lebenden Palästinenser für Thema im »Erfahrungsbericht über eine Unterstützung zu gewinnen.«51 die Beobachtungen der Ämter für Verfassungsschutz im Jahre 1968« Aber auch die Krise des zerfallenden unter der Überschrift »Kommunisti- Jugoslawien52 zeichnete sich bereits scher Einfluss unter ausländischen ab. Exilkroaten taten sich insbeson- Arbeitern« abgehandelt wurde50.Al- dere in Süddeutschland durch rege lerdings scheint die »Agitation der Propagandatätigkeit hervor: Gewalt- Kommunisten unter den Gastarbei- aktionen blieben nicht aus, wobei es tern«, was der Umfang und vor allem auch zu Mordanschlägen gegen Exil- die Faktendichte der Darstellung na- jugoslawen kam. In Baden-Württem- helegen, noch ein sehr randständiges bergwarimJanuar1982einTief- Thema bei Griechen, Spaniern, Italie- punkt erreicht: Drei Exiljugoslawen, nern und Türken gewesen zu sein. die ein unabhängiges Kosovo forder- ten, wurden in Heilbronn erschossen. Schon zu Beginn der 70er Jahre än- EinesderOpferhabesterbendden dert sich das Bild. Zwar wird immer jugoslawischen Geheimdienst be- noch von linksextremistischen Be- schuldigt, wusste die »Heilbronner

50 Bundesministerium des Innern (Hg.) Zum Thema: Erfahrungsbericht über die Beobachtungen der Ämter für Verfas- sungsschutz im Jahre 1968. Bergisch Gladbach 1969, S.101–104. Zur rechtlichen Einordnung Warg, Gunter: Extre- mismus und Terrorismus. Ein Definitionsversuch aus rechtlicher Sicht. Verwaltungsarchiv (102) 2011, S.570 ff. 51 Bundesministerium des Innern (Hg.): Betrifft: Verfassungsschutz 1969/70, Melsungen 1971, S.56. 52 Weithmann, Michael (Hg.): Der ruhelose Balkan. Die Konfliktregionen Südosteuropas. München 1993, bes. S.149ff. 48 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ

Stimme«53. Entsprechend markierten nen Krisenstimmung führte. Diese neben Gewalttaten Krisenerschei- nährte auch Angstgefühle, mitunter nungen die Auftragslage des Verfas- schlugen sie zu Beginn der achtziger sungsschutzes. Jahre in Aggression um. 4,6Millionen Ausländer lebten im Land, davon Der Putsch der türkischen Armee am kam fast ein Drittel aus der Türkei. 12. September 198054 ließ Auseinan- Gegen diese Menschen »richtete sich dersetzungen zwischen türkischen der Vorwurf, sie nähmen den Deut- Linksextremisten (Motto: »Tod den schen die Arbeitsplätze; über die Grauen Wölfen«) und den Vertretern Asylbewerber hieß es nicht nur an des extremen Nationalismus zu- deutschen Stammtischen (…) sie nächst in den Hintergrund treten. seien nicht politisch Verfolgte, son- Erstmals zu dieser Zeit erlangten kur- dern ›Wirtschafts- und Scheinasylan- dische Extremisten eine gewisse Be- ten‹ und missbrauchten das deutsche deutung, von der »Kurdischen Arbei- Sozialsystem«.56 Evidente Extremis- terpartei« war allerdings noch nicht men innerhalb fremd empfundener die Rede. Der »Föderation der Arbei- Gemeinschaften werden von vorur- tervereine aus Kurdistan in der Bun- teilsbeladenen Zeitgenossen durch- desrepublik Deutschland« (KOM- aus zur Bestärkung von Gegenhal- KAR) wurde zwar attestiert, sie tungen missbraucht. Umso mehr war richte »ihre Proteste vorrangig gegen und wird es für die Verfassungs- die ›Unterdrückung der Kurdischen schützer notwendig, differenzierte Bevölkerung‹ durch die türkische Re- Darstellungen zu erstellen, die hem- gierung«, jedoch wird sie dezidiert als mungslosen Vereinfachern keinen eine linksextremistische Gruppie- Ansatzpunkt liefern. rung wahrgenommen.55 In dieser Epoche machten auch arme- Im politischen und sozialen Zusam- nische Gruppen von sich reden. menhang waren diese Erscheinungen Attentate auf Diplomaten und nicht unproblematisch: Sprengstoffanschläge auf türkische Einrichtungen, aber auch zum Scha- Die Bundesrepublik befand sich seit den deutscher Interessen (Niederlas- dem Erdölschock von 1978/79 in ei- sung der Lufthansa am 10. Januar ner Rezession, was zu einer allgemei- 1980 in Rom) wurden in der Regel

53 Jacobi, Uwe: Drei Tote bei Attentat in Untergruppenbach. Exilkroaten im Auto erschossen. Heilbronner Stimme vom 18. Januar 1982, Nr.54, 27. Jgg. Kümmerle, Jürgen: Dreifachmord auf offener Straße ungeklärt. Heilbronner Stimme vom 4. Januar 2012, www.stimme.de, zuletzt abgelesen am 13. Juli 2012. »Das ganze sieht nach Hinrichtung aus«. In: Der Spiegel 4/1982, S.50–55. 54 Spuler-Stegemann, Ursula: Türkei. In: Ende, Werner; Steinbach Udo (Hgg.): Der Islam in der Gegenwart. 5. aktuali- sierte und erw. Aufl. München, Bonn 2005 (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd.501), S.229–246, S.236 f. 55 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1980, S.111, 118. 56 Winkler, Heinrich A.: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereini- gung. Bd. 2. 5. durchges. Auflage, München 2003, S.371. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 49 mit der »Armenischen Geheimarmee Was arabische Islamisten angeht, so zur Befreiung Armeniens« (ASALA) hatten diese längst in München einen verbunden. Ausgangspunkt geschaffen. Seit den 50er Jahren war dort die Planung für Im Gefolge der Revolution in Iran einen Moscheebau vorangetrieben 1979 machten auch die Aktivitäten worden, der später als die Basis für von iranischen Studentengruppen, die Entwicklung der »Muslimbruder- die wie die »Union der Islamischen schaft« in Deutschland angesehen Studentenvereine in Europa« (UISA) wurde.58 das neue Regime Khomeini unter- stützten, auf sich aufmerksam. Bei In Stuttgart hatten die Beobachter des der orthodox-kommunistischen TU- Verfassungsschutzes ab 1982 die Ab- DEH-Partei konnte um 1980 noch leger der islamistischen »Nationalen festgestellt werden, dass sie sich Heilspartei« (MSP) in Blick genom- »wohl aus vordergründigen Beweg- men, d.h. die Vorläuferorganisa- gründen« zu den politischen Zielen tionen der späteren »Islamischen Khomeinis bekannte.57 Gemeinschaft Milli Görüs« (IGMG) sowie den »Verband der Islamischen Diese Phänomene können in gewis- Vereine und Gemeinden« (ICCB), ser Weise als Vorboten zum Erschei- der später als »Kalifatsstaat« im De- nen weiterer Akteure gewertet wer- zember 2001 verboten werden den. Gegen das iranische Regime sollte.59 wird in Europa und Deutschland spä- ter die Organisation der »Volksmuja- Besorgnis äußerten die damaligen hedin« (PMOI) auftreten; der Putsch Verfassungsschützer zu einem beglei- in der Türkei veranlasst auch Men- tenden Phänomen: Im März 1982 er- schen, die die islamische Revolution folgte in Stuttgart die Festnahme an sich als beispielhaft erachten, in dreier syrischer Staatsangehöriger, Europa Zuflucht zu suchen. Sie er- »die dringend verdächtig waren, At- kennen sehr bald, dass sie unter den tentate gegen im Bundesgebiet le- sogenannten – und sträflich vernach- bende syrische Mitglieder der isla- lässigten – Gastarbeitern willige Zu- misch-fundamentalistischen ›Mos- hörer und Unterstützer finden. Es lembruderschaft‹ geplant zu haben«. sollte der Ausgangspunkt für die Ent- Man ging davon aus, dass kurzfristig wicklung des türkischen Islamismus Anschlagsteams aus Syrien, Irak oder in Deutschland sein. Libyen einreisen könnten.60 Unbe-

57 Ders., S.122f. 58 Johnson, Ian: Die vierte Moschee. Nazis, CIA und der islamische Fundamentalismus. Stuttgart 2011, S.154 ff. 59 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1982, S.134. Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1986, S.103. 60 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1982, S.139. 50 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ gründet war diese Sorge nicht: Am Heinrich Strübig und Thomas 17. März 1981 tötete ein Kommando Kemptner, die im Mai 1989 in Sidon vonzweiManninAachen»verse- entführt und erst im Juni 1992 frei- hentlich« die Ehefrau eines bekann- gelassen wurden. Die Bundesre- ten syrischen Politikers und Angehö- gierung hatte im Fall der Letzteren rigen der »Muslimbruderschaft«. Ziel ein Austauschgeschäft mit den in desAttentateswarder–außerHaus Deutschland inhaftierten Hamadis befindliche – Funktionär selbst gewe- abgelehnt.64 sen.61 In den 90er Jahren prägten die Ge- Zu Beginn des Jahres 1987 musste schehnisse um die »Arbeiterpartei die Öffentlichkeit feststellen, dass Kurdistans« (PKK) das Bild. Zwar weitere Akteure aus dem Nahen Os- war diese am 26.November 1993 vom ten in Deutschland aktiv geworden Bundesminister des Innern verboten waren. Am Frankfurter Flughafen worden, doch dies hinderte ihre An- wurden die Brüder Abbas und Mo- hänger nicht daran, mehrfach Auto- hammed Ali Hamadi »wegen des bahnen zu blockieren und schwere Besitzes von Flüssigsprengstoff be- Ausschreitungen zu inszenieren, wie ziehungsweise wegen Mordes und im März 1994 geschehen. Die Selbst- Entführung festgenommen«.62 Nach verbrennung zweier Kurdinnen in 19 Jahren Haft wurde einer der Brü- Mannheim bot der PKK den Anlass, der 2005 entlassen; er hatte im Ver- unterBeweiszustellen,dasssietrotz lauf des Prozesses gestanden, im des Verbots in der Lage war, auch Auftrag der libanesischen »Hizbal- kurzfristig Massen zu mobilisieren.65 lah« gehandelt zu haben, um 700 schiitische Gefangene in Israel frei- Die kriegerischen Auseinanderset- zupressen.63 Um die später verurteil- zungen in Bosnien und Herzegowina ten Straftäter freizupressen, wurden zwischen 1992 und 1995 wirkten sich deutsche Staatsbürger entführt, mut- ebenfalls in Baden-Württemberg aus: maßlich durch den Clan der In- Eine Brandstiftung an Hilfsgütern in haftierten: Der Hoechst-Manager Ulm (1994), einhergehend mit Diffa- Rudolf Cordes sowie der Siemens- mierungenvonMuslimeninder Techniker Alfred Schmidt wurden Taterklärung, sowie ein Sprengstoff- Anfang 1987 im Libanon entführt anschlag auf ein Fahrzeug eines in und kamen im September desselben Heilbronn lebenden Kroaten im sel- Jahres frei. Schlimmer erging es den ben Jahr verdeutlichten, dass der Zer- Mitarbeitern einer Hilfsorganisation, fall der Sozialistischen Föderativen

61 Artikel: Großzügigste Weise. In: Der Spiegel Nr.8/1983, S.75–76. 62 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1987, S.115. Artikel: Töten im Auftrag der »Partei Gottes«, Welt on- line, 10. Oktober 2007. 63 Flugzeugentführer Hamadi nach 19 Jahren aus Haft entlassen. FAZ von 20. Dezember 2005. 64 Ebenda; Mauz, Gerhard: »Im Auftrag Dritter tätig geworden …« In: Der Spiegel Nr.32/1988, S.60–61. 65 Bundesministerium des Innern (Hg.) Verfassungsschutzbericht 1994. Bonn 1995, S.182–183. FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 51

Republik Jugoslawien mögliche Ge- derten von Toten zwar ihre Fortset- waltpotenziale auch in Deutschland zung nicht in der schwäbischen Pro- hatte entstehen lassen.66 vinz fanden, aber dass zumindest ein mutmaßlicher Vertrauter Usama Bin Aber auch der bewaffnete Macht- Ladins und Mitbegründer al-Qaidas kampfinAlgerienzwischenden seinen Weg nach Ulm bzw. Neu-Ulm Militärmachthabern und dem 1991 fand. Er besuchte dort das »Multikul- in Parlamentswahlen obsiegenden turhaus« (MKH), dessen Trägerver- »Front Islamique du Salut« (FIS) ein in Ulm seinen Ausgang nahm und wirkt sich im Bundesgebiet aus. Wäh- in Neu-Ulm eine geeignete Immobi- rend FIS-Anhänger hier eher ein Re- lie als Moschee nutzte. Mamdouh fugium finden und Unterstützungs- Mahmud Salim, der als Bin Ladins leistungen tätigen, sahen sich die »Finanzchef« galt, pflegte Verbin- Sicherheitskräfte in Frankreich im dungen zu Persönlichkeiten des Dezember 1994 mit Flugzeugentfüh- MKH und wurde im September 1998 rern aus den Reihen der »Groupes verhaftet. Sowohl das Oberlandesge- Islamiques Arm´es« (GIA) konfron- richt München als auch das Bundes- tiert; die Aktion konnte durch Er- verfassungsgericht in Karlsruhe bil- stürmung des Flugzeuges in Marseille ligten seine Auslieferung an die USA, beendet werden.67 die ihn für die Anschläge in Afrika mitverantwortlich machten.68 Das Landesamt Baden-Württemberg stellte sich in dieser Zeit auf die neuen Zwei Jahre später sorgten vier Herausforderungen ein. Im Verlauf Männer für Schlagzeilen, die von Ba- einer Umstrukturierung wurde 1997 den-Baden als Ausgangslager aus in eine spezialisierte Abteilung geschaf- Straßburg im Dezember 2000 den fen, die sich des Phänomens »Auslän- Weihnachtsmarkt als Ziel einer Atta- derextremismus« inklusive »Islamis- cke erwählt hatten. Als sogenannte mus« annehmen sollte. »non-aligned Mujahedin« befand sie das Frankfurter Oberlandesgericht Bereits 1998 musste erneut festge- am 10. März 2003 wegen der Vorbe- stellt werden, dass Auseinanderset- reitung eines Terroranschlags für zungen und Anschläge, von welchen schuldig.69 die Bundesbürger im Zusammenhang mit Afghanistan, den USA und deren Innerislamische Gewalt beschäftigte mit Bomben attackierten Botschaften in dieser Periode sowohl den Verfas- in Nairobi und Daressalam mit hun- sungsschutz als auch Medien und Po-

66 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1994, S.122–125. 67 Verfassungsschutz des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS.[Düs- seldorf] 2003 (www.im.nrw.de/verfassungsschutz). 68 Artikel: Mutmaßlicher Terrorist ausgeliefert. Welt Online vom 21. Dezember 1998. Hirschkorn, Phil: Bin Laden aide sentenced to 32 years in prison for stabbing CNN.com vom 4.Mai 2004. Weiser, Benjamin: Reputed bin Laden Advi- ser gets life term in stabbing. New York Times vom 31. August 2010. 69 Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS.op.cit. S.4–5. 52 60 JAHRE LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ litik. Die aus Pakistan stammende im Dezember 2004 begründeten »Khatm-e Nabuwwat« (ungef. »Sie- »Gemeinsamen Terrorismusabwehr- gel der Prophetie«) beabsichtigte, die zentrum« (GTAZ) in Berlin wurden von ihr getragene Bekämpfung der als Mitarbeiter entsandt,72 die Koopera- Häretiker betrachteten Ahmadiyya, tion mit der Polizei, namentlich dem deren Angehörige selbst sich zu den Landeskriminalamt Baden-Würt- Muslimen zählen, auch in Deutsch- temberg, durch die Stellung eines land polemisch und handgreiflich zu Verbindungsbeamten gestärkt. verfolgen. Die Pakistaner, deren Nie- derlassung sich in Heilbronn befand, Der Forderung nach mehr Effizienz erhielten auch Unterstützung legalis- und nach Synergieeffekten in der Be- tischer Organisationen wie der »Isla- kämpfung des internationalen Terro- mischen Gemeinschaft Milli Görüs« rismus folgte auch die Einrichtung (IGMG).70 der Antiterrordatei (ATD)73.

Ungeachtet dieser Entwicklungen Neben der Beobachtung und Lage- waresfürvieleMenschenin analyse kamen weitere Aufgaben auf Deutschland ein Schock, feststellen den Verfassungsschutz zu. Die be- zu müssen, dass die »Terroranschläge reits im letzten Jahrzehnt des 20.Jahr- vom 11. September 2001 […] von hunderts erfolgte Öffnung hatte eine Mitgliedern der in Deutschland Verstärkung der Öffentlichkeitsar- operierenden islamistischen Szene beit mit sich gebracht: Neben den ob- maßgeblich mit vorbereitet und ligatorischen Jahresberichten wurden durchgeführt worden« sind.71 Der Broschüren zu speziellen Sachkom- sich auf den Islam berufende Ex- plexen, beispielsweise der PKK oder tremismus oder Islamismus rückte dem Islamismus, verfasst. Daneben nunmehr in das Zentrum der Auf- wurden Referenten für Fachvorträge merksamkeit. Auch in Baden-Würt- abgestellt. Nach 9/11 erhöhte sich die temberg wurden beim Landesamt für Nachfrage nach dieser Expertise, wo- Verfassungsschutz zusätzliche Islam- bei ebenfalls zahlreiche Presseanfra- wissenschaftler und Muttersprachler gen zu beantworten waren. Bei eingestellt. Mit der Etablierung der Durchsuchungsmaßnahmen der Po- »Kompetenzgruppe Islamismus« lizei fielen Mengen an Material an, wurde der Entwicklung auch organi- seien es herkömmliche Literatur oder satorisch Rechnung getragen. Zum Daten auf elektronischen Trägern, die

70 Landtag von Baden-Württemberg, 12. Wahlperiode, Drucksache 12,5547 vom 22. September 2000. Nordhausen, Frank; Senyurt, Ahmet: Militante Pakistani sind in Deutschland aktiv. Berliner Zeitung vom 18. Mai 1998. 71 Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1551, 15. Wahlperiode vom 8. September 2003. 72 BMI-Homepage – Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ). www.bmi.bund.de. Abgelesen am 23.März 2012. 73 Gesetz zur Errichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern (Antiterrordateigesetz – ATDG) vom 2. Februar 2006 (BGBL I, S. 3409). Lang, Kathrin Luise: Das Antiterrordateigesetz. Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten im Lichte des Trennungsgebotes. Frankfurt/M. u.a. 2011 (Rechtspolitisches Symposium 11). FRANK DITTRICH, HERBERT LANDOLIN MÜLLER, SVENJA SCHNEIDER, HARALD WOLL 53 begutachtet werden mussten. Auch Milieu, doch die eher aus der dritten vor Straf- und Verwaltungsgerichte Reihe heraus agierenden potenziellen wurden Verfassungsschützer als Attentäter stellten eine Herausforde- Sachverständige geladen. Im Verbund rung besonderer Art dar. mit dem Innenministerium, Auslän- derbehörden und der Polizei mussten Von einem Eindämmen der Gefähr- sogenannte Sicherheitsgespräche mit dung kann bis in die jüngste Zeit als problematisch eingeschätzten Ak- nicht gesprochen werden. Wenn Vi- tivisten geführt werden. deos wie im Februar 2012 auftauchen, in denen sich deutsche Staatsbürger Selbst in der Präventionsarbeit war gegenüber dem »bösen Vaterland« als der Verfassungsschutz zunehmend »Terroristen« zu erkennen geben74, gefordert, sowohl in bundesweiten kann dies nicht als reiner Verbalradi- Arbeitsgruppen als auch in dem in kalismus abgetan werden – nicht nur Baden-Württemberg mit der Landes- vor dem Hintergrund der Mordan- zentrale für politische Bildung entwi- schläge auf Soldaten und eine jüdi- ckelten Projekt »Team meX«, das sche Schule in Toulouse, sondern 2011 mit dem Preis »Ausgewählter auch angesichts des Faktums, dass die Ort« der Initiative »Deutschland. islamistische Propaganda über die Land der Ideen« ausgezeichnet angeblichen entwürdigenden Haft- wurde. bedingungen einer Terrorunterstüt- zerin in Deutschland dazu führte, Es ist hier nicht der Ort, auf jegliche dass ein aus Baden-Württemberg Ereignisse national wie international stammender Ingenieur in Nigeria einzugehen. Aber die Anschläge in entführt wurde, um ihn als Pfand bei Madrid (März 2004), London (Juli der angestrebten Freipressung der in 2005) und Mumbai (November 2008) Schwäbisch Gmünd einsitzenden blieben nicht ohne Auswirkungen Strafgefangenen einzusetzen. Dieser auf die Arbeit der Sicherheitsbehör- Fall zeigt sehr deutlich, dass Vor- den. Denn zwischendurch scheiter- gänge im In- und Ausland in einer ten im Juli 2006 die Pläne der soge- Wechselwirkung stehen und deutsche nannten Kofferbomber. Sie zeigten Staatsbürger in lebensbedrohende Si- jedoch deutlich auf, wie schwer sich tuationen geraten können. auch hochsensibilisierte Sicherheits- behörden mit relativ isolierten Klein- Der internationale Terrorismus und gruppen tun. Was die im September das ihn begünstigende Umfeld 2007 verhaftete »Sauerland-Gruppe« werden auch weiterhin die Aufmerk- betrifft, so kannten Polizei und Ver- samkeit des Verfassungsschutzes in fassungsschutz zwar das betreffende hohem Maße in Anspruch nehmen.

74 http://maalimfiltariq.wordpress.com.tag/chouka-bruder, abgelesen am 26. März 2012.

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60 Jahre Landesamt für Verfassungsschutz – Gedanken zur parlamentarischen Kontrolle einer modernen Sicherheitsbehörde

EIN BEITRAG DES STÄNDIGEN AUSSCHUSSES DES LANDTAGS VON BADEN-WÜRTTEMBERG

I. Einführung des bewußten verfassungspolitischen Willens zur Lösung eines Grenzpro- Das Bundesverfassungsgericht hat in blems der freiheitlichen demokrati- seiner Entscheidung über das KPD- schen Staatsordnung, Niederschlag Verbot vom August 1956 das Prinzip der Erfahrungen eines Verfassungsge- einer streitbaren Demokratie in der bers, der in einer bestimmten histori- Bundesrepublik Deutschland heraus- schen Situation das Prinzip der Neu- gearbeitet. Die Verfassungsrichter tralität des Staates gegenüber den führten seinerzeit aus, das Grundge- politischen Parteien nicht mehr rein setz nehme verwirklichen zu dürfen glaubte, Be- kenntnis zu einer – in diesem Sinne – »aus dem Pluralismus von Zielen und ›streitbaren Demokratie‹.«1 Wertungen, die in den politischen Par- teien Gestalt gewonnen haben, ge- Diese Grundmaxime liegt der Arbeit wisse Grundprinzipien der Staatsge- des Verfassungsschutzes in Deutsch- staltung heraus, die, wenn sie einmal land allgemein, aber auch der Arbeit auf demokratische Weise gebilligt unseres Landesamtes für Verfas- sind, als absolute Werte anerkannt sungsschutz zugrunde. Dass die Auf- und deshalb entschlossen gegen alle gabe des Verfassungsschutzes ein Angriffe verteidigt werden sollen; so- ständiger Balanceakt ist, für den eine weit zum Zwecke dieser Verteidigung ständige Kontrolle im Ergebnis ele- Einschränkungen der politischen mentar ist, machte das Bundesverfas- Betätigungsfreiheit der Gegner erfor- sungsgericht in einer Entscheidung derlich sind, werden sie in Kauf ge- knapp 20 Jahre später ebenfalls deut- nommen. Das Grundgesetz hat also lich: bewußt den Versuch einer Synthese zwischen dem Prinzip der Toleranz »Unbeschadet dessen, dass sich die gegenüber allen politischen Auffas- Bundesrepublik Deutschland als streit- sungen und dem Bekenntnis zu ge- bare Demokratie versteht und kraft wissen unantastbaren Grundwerten ihrer Verfassung auch verstehen muss der Staatsordnung unternommen. (...), bleibt sie doch primär auf die freie, Art. 21 Abs.2 GG steht somit nicht selbstbestimmte (Art.1 Abs.1 GG) In- mit einem Grundprinzip der Verfas- tegration aller politischen Meinungen sung in Widerspruch; er ist Ausdruck und Kräfte im Rahmen und durch die

1 BVerfG 1. Senat, 17. August 1956, 1 BvB 2/51, Rn. 214, zitiert nach Juris. 56 PARLAMENTARISCHE KONTROLLE EINER MODERNEN SICHERHEITSBEHÖRDE

Grundwerte der Verfassung ange- Verfassungsschutz Württemberg-Ba- legt.«2 den in Tübingen und die Informati- onsstelle der Badischen Staatskanzlei Das Landesamt für Verfassungs- in Karlsruhe seit März des Jahres schutz Baden-Württemberg, das in 1951. Mit dem Aufbau einer Verfas- diesem Jahr sein 60-jähriges Bestehen sungsschutzbehörde in Stuttgart feiert, blickt auf eine Geschichte zu- wurde im April 1951 begonnen5. rück, die von Veränderungen und ständig neuen Herausforderungen Mit der »Verordnung der vorläufigen geprägt ist, die auch für seine Arbeit Regierung über die Errichtung eines und deren parlamentarische Kon- Landesamts für Verfassungsschutz« trolle bedeutend geworden sind. vom 10. November 19526 schlossen sich nach der Gründung des Landes Die geschichtlichen Rahmendaten Baden-Württemberg im April 1952 lassen sich an folgenden Eckpfeilern die drei bestehenden Verfassungs- nachvollziehen: schutzämter zum Landesamt für Ver- fassungsschutz Baden-Württemberg Am 23. Mai des Jahres 1949 trat das mit Sitz in Stuttgart zusammen. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Um diese Im Jahr 1978 wurde dann in einem »deutsche Verfassung«3,dierechtli- eigenen Landesverfassungsschutzge- che und politische Grundordnung setz (LVSG) ausführlich geregelt, wel- des Staates, zu schützen, wurde in der che Aufgaben und Befugnisse das Folge das Landesamt für Verfas- Landesamt für Verfassungsschutz hat sungsschutz Baden-Württemberg ge- und wie eine parlamentarische Kon- gründet, das »Ausführungsgesetz trolle erfolgen muss7.Nochimmer zum Gesetz über die Zusammenar- untersteht es, wie in § 2 Abs.1 Satz 2 beit des Bundes und der Länder in LVSG festgehalten8, unmittelbar dem Angelegenheiten des Verfassungs- Innenministerium. schutzes« vom November 1950 bil- dete dafür die rechtliche Grundlage4. In § 3 Abs.1 LVSG wird die Aufgabe des Landesamtesklarumrissen:Eshat Noch vor der Gründung des Landes dieAufgabe,Gefahrenfürdiefreiheit- Baden-Württemberg arbeiteten auf liche demokratische Grundordnung, dieser Grundlage das Landesamt für den Bestand und die Sicherheit der

2 BVerfG 2. Senat, 29. Oktober 1975, 2 BvE 1/75, Rn. 17, zitiert nach Juris. 3 BVerfG 2.Senat, 14.Oktober 2004, 2BvR 1481/04, Rn.33, 35, zitiert nach Juris. 4 Zu diesem Selbstverständnis des Landesamtes für Verfassungsschutz und zu den folgenden Eckdaten siehe z.B. www.verfassungsschutz-bw.de – Geschichte des LfV BW, (gelesen am 26. Juni 2012). 5 S.o. Fn.4. 6 GBl. 1952, Nr.15, S.49 f. 7 Vgl. dazu z.B. Feuchte, Paul »Verfassungsgeschichte von Baden-Württemberg« Bd. 1, Stuttgart 1983, S.411. 8 Dies war auch schon in § 1 der Verordnung der vorläufigen Regierung über die Errichtung eines Landesamtes für Ver- fassungsschutz aus dem Jahr 1952 so geregelt. STÄNDIGER AUSSCHUSS DES LANDTAGS VON BADEN-WÜRTTEMBERG 57

Bundesrepublik Deutschland und ih- Organisation im Fokus der Tätigkeit rer Länder frühzeitig zu erkennen des Landesamtes. und den zuständigen Stellen zu er- möglichen, diese Gefahren abzuweh- Im Folgenden soll die parlamentari- ren. Allerdings stehen dem Verfas- sche Kontrolle des Verfassungsschut- sungsschutz keine polizeilichen oder zes in Baden-Württemberg näher Weisungsbefugnisse zu, auch nicht dargestellt und anderen Kontrollan- im Wege der Amtshilfe, § 5 Abs.3 S.1 sätzen gegenübergestellt werden (II.). LVSG . Anschließend sollen Zweck und Funktion der parlamentarischen Der erste Jahresbericht des Landes- Kontrolle grundsätzlich beleuchtet amtes für Verfassungsschutz erschien (III.) und perspektivische Überlegun- im Folgejahr des Inkrafttretens des gen zur parlamentarischen Kontroll- LVSG , 19 79 9. funktion angestellt werden (IV.).

Die Arbeitsschwerpunkte des Lan- desamtes haben sich seit Beginn der II. Parlamentarische Kontrolle Arbeit entsprechend den politischen und gesellschaftlichen Rahmen- 1. Parlamentarische Kontrolle bedingungen gewandelt – während des Verfassungsschutzes in anfangs schwerpunktmäßig der Baden-Württemberg Linksextremismus und die Spionage- abwehr gegenüber dem »kommunis- DieparlamentarischeKontrolledes tischen Machtbereich« die Tätigkeit Verfassungsschutzes ist in § 15 des ausfüllten (letztere ließ erst mit dem Landesverfassungsschutzgesetzes ge- Ende des »Kalten Krieges« Anfang regelt. Danach ist der Ständige Aus- der 1990er Jahre nach), nahm der Be- schuss des Landtags durch das Innen- reich des Rechtsextremismus und des ministerium zumindest halbjährlich Ausländerextremismus seit Beginn über die Tätigkeit des Verfassungs- der 1980er Jahre an Bedeutung zu. schutzes zu unterrichten. Mit den Anschlägen des 11.Septem- ber 2001 in den USA kam dazu dann DieVorschriftlautetimEinzelnen: der Bereich des islamistischen Extre- mismus und Terrorismus10. §15 Parlamentarische Kontrolle Daneben stehen – wie den Jahres- berichten entnommen werden kann (1) Das Innenministerium unterrich- – auch Phänomenbereiche wie Wirt- tet den Ständigen Ausschuss des schaftsspionage und die Scientology- Landtags über die Tätigkeit des Ver-

9 S.o. Fn.4. 10 S.o. Fn.4. 58 PARLAMENTARISCHE KONTROLLE EINER MODERNEN SICHERHEITSBEHÖRDE fassungsschutzes halbjährlich sowie schuss das geeignete Gremium zur auf Verlangen des Ausschusses und Kontrolle des Verfassungsschutzes aus besonderem Anlass. dar, weil hier die Abgeordneten mit rechtspolitischem Schwerpunkt ver- (2) Art und Umfang der Unterrich- treten sind. Dies stellt zum einen die tung des Ständigen Ausschusses wer- fachliche Qualifikation der »Kon- den unter Beachtung des notwendigen trolleure« und zum anderen den für Schutzes des Nachrichtenzuganges die Vertraulichkeit der Informatio- durch die politische Verantwortung nen unerlässlichen »kleinen Kreis« der Landesregierung bestimmt. der Empfänger sicher.

(3) Die Mitglieder des Ständigen Aus- Die Erfahrungen aus der Weimarer schusses sind zur Geheimhaltung der Zeit und dem Dritten Reich hatten Angelegenheiten verpflichtet, die ih- gezeigt, dass eine Demokratie Instru- nen im Zusammenhang mit der Be- mente zur Abwehr aggressiver poli- richterstattung über die Tätigkeit des tischer Bewegungen benötigt. Der Verfassungsschutzes im Ständigen Verfassungsschutz ist daher – auch Ausschuss bekanntgeworden sind. weiterhin – unerlässlich, um verfas- Dies gilt auch für die Zeit nach ihrem sungsfeindliche Bestrebungen zu be- Ausscheiden aus dem Ständigen Aus- obachten und so die Grundlage dafür schuss oder aus dem Landtag. zu schaffen, dass diese frühzeitig un- terbunden werden können. (4) Die Unterrichtung umfasst nicht Angelegenheiten, über die das Innen- Ein demokratisch legitimierter Ver- ministerium das Gremium nach dem fassungsschutz darf kein abgekapsel- Artikel 10-Gesetzzuunterrichtenhat. tes System sein. Er muss vielmehr in ein System demokratischer, insbe- Die Kontrolle des Verfassungsschut- sondere parlamentarischer Kontrolle zes in Baden-Württemberg erfolgt eingebettet sein. Damit wird dem also durch eine Unterrichtung des Verfassungsschutz auch seine demo- Ständigen Ausschusses, der damit kratische Legitimität sichergestellt. stellvertretend für die Öffentlichkeit Informationen zu Umfang und Tä- Die Unterrichtung des Ständigen tigkeiten des Verfassungsschutzes Ausschusses hat aber auf der anderen bekommt. Dabei unterliegt diese Un- Seite auch zur Folge, dass in vielen terrichtung den erforderlichen Ge- Fällen eine öffentliche und damit di- heimhaltungsbeschränkungen – vgl. rekter vermittelbare Auseinanderset- Absatz 3 der Vorschrift –, die dem zung mit Themen, Bewertungen und Wesen verfassungsschützender Tä- Funktionsweisen des Verfassungs- tigkeit geschuldet sind. schutzes im Landtagsplenum unter- bleibt. Hinzu kommt, dass Abge- Innerhalb der Organisation des ordnete nach Absatz 3 Satz 2 der Landtags stellt der Ständige Aus- Vorschrift auch nach Ausscheiden STÄNDIGER AUSSCHUSS DES LANDTAGS VON BADEN-WÜRTTEMBERG 59 aus dem Ständigen Ausschuss oder den entsprechenden Rechtsaus- dem Landtag zur Geheimhaltung schuss. Dort besteht vielmehr ein verpflichtet sind. Dies kann dazu füh- eigenes parlamentarisches Kontroll- ren, dass beispielsweise nach Wahlen gremium für den Verfassungsschutz. wichtige Erfahrung des Ständigen Dessen Rechtsgrundlagen sind im je- Ausschusses in Fragen des Verfas- weiligen Verfassungsschutzgesetz des sungsschutzes verlorengeht, da die Landes geregelt, lediglich in Bayern entsprechenden Informationen nur besteht ein spezielles Gesetz über das dem jeweiligen Abgeordneten per- parlamentarische Kontrollgremium14. sönlich vorliegen11.

In den letzten Jahren hat es Diskussi- a) Aufgabenumfang der onen zur Ausgestaltung der Kon- parlamentarischen Kontroll- trolle des Verfassungsschutzes gege- gremien in anderen Bundes- ben. Diese sind produktiv auch für ländern den Verfassungsschutz, der im demo- kratischen System verankert sein soll Die parlamentarischen Kontrollgre- und will. Die Positionen reichen da- mien in den übrigen Bundesländern bei von einer stärkeren Zentralisie- haben die folgenden Aufgaben und rung des Verfassungsschutzes und Befugnisse und sind dabei im Wesent- seiner Kontrolle12 bis zur kompletten lichen der Rechtslage auf Bundesebe- Auflösung des Verfassungsschutzes ne15 nachgestaltet: auf Länderebene13. Im Folgenden sollen Regelungen und Umfang der Es erfolgt eine parlamentarische parlamentarischen Kontrolle des Ver- Kontrolle der Regierung hinsichtlich fassungsschutzes in den Ländern dar- der Tätigkeit der Verfassungsschutz- gestellt werden. behörde, während die politische Ver- antwortung der Regierung unberührt bleibt. Für das Kontrollgremium be- 2.Situationinanderen steht eine Unterrichtungspflicht der Bundesländern Regierung über die allgemeine Tätig- keit der Verfassungsschutzbehörde, In den anderen Bundesländern er- über Vorgänge von besonderer Be- folgt die parlamentarische Kontrolle deutung und auf Verlangen über des Verfassungsschutzes nicht über Einzelfälle. Hinzu kommen Unterla-

11 Wenngleich der Ständige Ausschuss auch für die Zeit nach Ablauf der Wahlperiode oder nach Auflösung des Land- tags bis zum Zusammentritt eines neugewählten Landtags fortbesteht, vgl. Artikel 36 der Landesverfassung. 12 So etwa Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger im November 2011, die eine Fusion auf drei bis vier Landesämter vorschlug (http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-11/leutheusser-neonazi-verfassungsschutz; gelesen am 12. Juni 2012). 13 So LINKE-Politiker Lafontaine im Tagesspiegel am 26.Januar 2012, http://www.tagesspiegel.de/politik/linkspartei-la fontaine-verfassungsschutz-muesste-sich-selbst-ueberwachen/6112970.html (gelesen am 12. Juni 2012). 14 Bayerisches PKGG vom 27. Oktober 2010. 15 Dazu sogleich unter 3. 60 PARLAMENTARISCHE KONTROLLE EINER MODERNEN SICHERHEITSBEHÖRDE geneinsichtsrecht, Recht auf Stel- den Datenschutzbeauftragten beauf- lungnahmen, Zutrittsrecht sowie das tragen, die Rechtmäßigkeit einzelner Befragungsrecht von Bediensteten. Maßnahmen der Verfassungsschutzbe- Zum Teil besteht das Recht zur Be- hörde zu überprüfen.21 auftragung eines Sachverständigen, um Untersuchungen durchzuführen, und das Recht für Bedienstete der b) Beteiligung der Opposition Verfassungsschutzbehörden, sich mit Eingaben direkt an das Kontrollgre- Einzelne Bundesländer haben zudem mium zu wenden16. Die Unterrich- Regelungen, die stets eine angemes- tung des Landtags über die Tätigkeit sene Beteiligung der Opposition im des Verfassungsschutzes wird zum Kontrollgremium sicherstellen. Da- Teil zeitlich konkret bestimmt17. mitwirdauchinnerhalbdesGremi- ums eine zusätzliche Kontrolle der In Nordrhein-Westfalen genehmigt von den Mehrheitsfraktionen getra- das parlamentarische Kontrollgre- genen Regierung erreicht. In Sachsen mium überdies den Wirtschaftsplan besteht zu diesem Zweck eine Min- des Verfassungsschutzes und übt da- destmitgliedszahl der Opposition22. mit das eigentliche Budgetrecht ge- In Mecklenburg-Vorpommern findet genüber dem Verfassungsschutz aus18. ein jährlicher Wechsel des Vorsitzes Unter anderem in Schleswig-Hol- des Kontrollgremiums zwischen Op- stein hat die Regierung auch über Er- position und Regierung statt.23 lass und Einhaltung von Verwal- tungsvorschriftenzuberichten19.In Brandenburg muss die Regierung das 3. Kontrolle auf Bundesebene Kontrollgremium informieren, wenn sie ihr Einverständnis gegeben hat, Auf Bundesebene ist ein parlamenta- dass andere Verfassungsschutzbe- risches Kontrollgremium eingerich- hörden im Land tätig werden20. tet, dessen Befugnisse in einem Ge- Schließlich kann das Kontrollgremium setz geregelt werden24. Gegenstände beispielsweise in Mecklenburg-Vor- der Kontrolle sind hier die allgemei- pommern und Nordrhein-Westfalen nen Tätigkeiten der drei deutschen

16 Z. B. in Bayern und Nordrhein-Westfalen. 17 Z. B. in Brandenburg jährlich, in Bayern in der Mitte und am Ende jeder Wahlperiode. 18 http://www.mik.nrw.de/verfassungsschutz/verfassungsschutz/parlamentarisches-kontrollgremium.html (gelesen am 8.Juni 2012). 19 § 26 Abs.5 HS 2 LVerfSchG SH. 20 http://www.landtag.brandenburg.de/de/parlament/ausschuesse_und_gremien/ parlamentarische_kontrollkommission_ (pkk)/396499?_referer=396501 (gelesen am 8. Juni 2012). 21 MV: http://www.landtag-mv.de/landtag/gremien/weitere-gremien/parlamentarische-kontrollkommission.html (gelesen am 8. Mai 2012) / NRW: §25 Abs.5 VSG NRW. 22 http://www.landtag.sachsen.de/de/landtag/gremien/index.aspx (gelesen am 8. Juni 2012). 23 http://www.landtag-mv.de/landtag/gremien/weitere-gremien/parlamentarische-kontrollkommission.html (gelesen am 8.Juni 2012). 24 Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremiumgesetz – PKGrG). STÄNDIGER AUSSCHUSS DES LANDTAGS VON BADEN-WÜRTTEMBERG 61

Dienste25 und »Vorgänge von beson- schützender Tätigkeit zu betrachten, derer Bedeutung« 26.Esfindeteine was lange Zeit einem gesonderten Kontrolle der Regierung im Hinblick »Vertrauensgremium« vorbehalten auf die Dienste, aber keine unmittel- war29. bare Kontrolle der Dienste statt27. Deshalb besteht durch das Kontroll- gremium auch keine Kontrolle der 4. Kontrolle des Verfassungs- Details der Aufgabenerfüllung, viel- schutzes in anderen mehr steht das politische Handeln Staaten30 der Regierung im Vordergrund. Ne- ben der Unterrichtungspflicht der Zunächst ist festzuhalten, dass Regierungimo.g.Umfangstehtdem Vergleiche in Bezug auf die parlamen- Gremium eine Reihe von Instrumen- tarische Kontrolle in verschiedenen ten zur Kontrolle zu: Akteneinsichts- Ländern wegen der unterschied- recht, Anhörungsrecht von Mitarbei- lichen Systeme, vor allem auch der tern, Besuchsrecht bei den Diensten unterschiedlichen Bedeutung parla- und das Recht, Sachverständige hin- mentarischer Kontrolle im Allgemei- zuzuziehen. Überdies besteht die nen, schwierig sind. Die folgende Möglichkeit für Angehörige der Darstellung erschöpft sich daher in Dienste, sich mit Eingaben an das einer überblickshaften Erläuterung. Gremium zu wenden (»Ombuds- mann-Funktion«)28. Das parlamenta- In den USA besteht die Möglichkeit rische Kontrollgremium kann Regie- der umfassenden Kontrolle der Ge- rung und Dienste gegebenenfalls heimdienste durch die Abgeordne- zwingen, neue Richtlinien für die ten. Nach dem Gesetz können alle Arbeit und die Dienste zu erlassen. nachrichtendienstlichen Tätigkeiten DamitgehtdieKontrolleübereine der insgesamt 15 Nachrichtendienste unverbindliche Aufsicht hinaus und überprüft werden. Die Kontrollko- ist als dirigierende Kontrolle zu mitees haben hier fast unbegrenzte kennzeichnen. Einblickmöglichkeiten und können sogar bei der Entscheidungsfindung In diesem Zusammenhang ist auch bestimmter Operationen mitwirken. die Befugnis des parlamentarischen In der Praxis werden diese Möglich- Kontrollgremiums zu sehen, die Fi- keiten jedoch selten ausgeschöpft. nanzplanung der Dienste als Grund- lage für die Abwägung zwischen Eine sehr weitgehende Zielsetzung Aufwand und Erfolg verfassungs- der Kontrolle besteht auch in Groß-

25 Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Bundesnachrichtendienst (BND), Militärischer Abschirmdienst (MAD). 26 § 4 Abs.1 PKGrG. 27 Geiger in Smidt/Poppe/Krieger/Müller-Enbergs: Geheimhaltung und Transparenz, Berlin 2007, S.33 [38]. 28 Überblick bei Geiger in Smidt/Poppe/Krieger/Müller-Enbergs: Geheimhaltung und Transparenz, Berlin 2007, S.33 [38]. 29 Smidt in Smidt/Poppe/Krieger/Müller-Enbergs: Geheimhaltung und Transparenz, Berlin 2007, S.235 [239]. 30 Smidt in Smidt/Poppe/Krieger/Müller-Enbergs: Geheimhaltung und Transparenz, Berlin 2007, S.235 [239 f.]. 62 PARLAMENTARISCHE KONTROLLE EINER MODERNEN SICHERHEITSBEHÖRDE britannien, wo theoretisch sogar die Blicken der Öffentlichkeit entzogen Effizienz nachrichtendienstlicher Ar- ist. Insofern erscheint diese parla- beit erfasst ist. mentarische Kontrolle als ein rechts- staatliches Instrument unter mehre- Demgegenüber gibt es in Frankreich ren32. außer der üblichen Haushaltskon- trolle keine eigene parlamentarische Einzigartig erscheint die parlamenta- Kontrolle der französischen Diens- rische Kontrolle dagegen in ihrer te31. Dies ist sicher auch der starken Funktion als demokratische Instanz. Stellung des Präsidenten und der im Zwar lassen sich im demokratischen Vergleich zum deutschen System ge- Rechtsstaat letztlich auch alle ande- ringeren Rolle des Parlaments ge- ren Kontrollmechanismen unter den schuldet. Oberbegriff der demokratischen Kontrolle subsumieren33. Allerdings verbindet sich in keinem anderen III. Zweck und Funktion Kontrollmechanismus legislative Sou- parlamentarischer Kontrolle veränität gewaltenverschränkend mit der Erkenntnislage34 der Exekutive. 60 Jahre Landesamt für Verfassungs- DieparlamentarischeKontrolleer- schutz sind auch ein Anlass, um einen öffnet dem Souverän Zugang zum grundsätzlichen Blick auf Zweck und Geheimbereich und tritt so an die Funktion parlamentarischer Kon- Stelle einer Öffentlichkeit, deren ge- trolle zu werfen. naue Kenntnis von der Tätigkeit der Behörde die Arbeit derselben entwe- Offensichtlich verfolgt die Normie- der unmöglich machen oder auf die- rung einer Berichtspflicht gegenüber jenige eines wissenschaftlichen Insti- dem Ständigen Ausschuss des Land- tuts35 beschränken würde36. tags jedenfalls den Zweck, die Ge- setzmäßigkeit der Verwaltung auch in Kein anderer Kontrollmechanismus einem Bereich der Exekutive sicher- weist damit zugleich so deutlich auf zustellen, der durch besondere Vor- das Dilemma hin, das aus der kehrungen des Geheimschutzes den notwendigen Existenz geheimer

31 Abgesehen von der Überprüfung im Bereich der Telefonkontrolle, http://de.wikipedia.org/wiki/Nachrichtendienste_ Frankreichs (gelesen am 8. Juni 2012). 32 Zu nennen sind hier neben den weiteren Formen der parlamentarischen Kontrolle durch das Landtagplenum, mögli- che Untersuchungsausschüsse, das G10-Gremium und die G10-Kommission etwa die Kontrolle durch das Innenmi- nisterium im Rahmen der Rechts- und Fachaufsicht, durch den Landesbeauftragten für den Datenschutz, den Rech- nungshof Baden-Württemberg, die gerichtliche Kontrolle auf Veranlassung von Betroffenen und – informell – die Kontrolle durch die (Medien-)Öffentlichkeit. 33 So Krieger in: Smidt/Poppe/Krieger/Müller-Enbergs: Geheimhaltung und Transparenz, Berlin 2007, S.15. 34 Im Rahmen des § 15 Abs.2 LVSG. Zur Problematik öffentlicher Kontrollmechanismen: Droste, Handbuch des Verfas- sungsschutzrechts, Stuttgart u.a. 2007, S.619 ff. 35 Dieses Ziel strebt direkt an: Die Linke, Landesverband Baden-Württemberg, Landtagswahlprogramm 2011 »Original sozial – vor und nach der Wahl«, S.37. 36 Mit dieser Feststellung ist keine Abwertung der für parlamentarische Zwecke sehr hilfreichen Publikationen des Lan- desamtes für Verfassungsschutz verbunden. STÄNDIGER AUSSCHUSS DES LANDTAGS VON BADEN-WÜRTTEMBERG 63

Nachrichtendienste in einer dem Öf- zwischen (potenziellem) öffentli- fentlichkeitsprinzip verpflichteten37, chem Informationsbedürfnis und den demokratischen Staatsordnung folgt38. Informationsmöglichkeiten eines ge- Geheimhaltung schaltet faktisch die heimen Nachrichtendienstes weiter machtbegrenzende Kontrollfunktion vergrößern wird. Überspitzt formu- der Öffentlichkeit aus und hindert in liert: Je mehr staatliche Stellen vielen Fällen an der Inanspruch- Twitter-Accounts unterhalten, desto nahme gerichtlichen Rechtsschut- geheimnisumwitterter wirkt ein Ver- zes39. fassungsschutzamt.

Die sachliche Notwendigkeit zur Zwar haben sich Mechanismen Geheimhaltung im Bereich der herausgebildet, die ausgleichend zwi- Verfassungsschutzbehörden steht seit schen den unterschiedlichen Transpa- jeher im Spannungsverhältnis zu renzanforderungen der verschiede- Transparenzanforderungen, wie sie nen Bereiche wirken. In prozessualer in anderen Verwaltungs- und Lebens- Hinsicht sind hier insbesondere die bereichen gelten und nach Lage der Vernehmung von V-Mann-Führern Dinge gelten müssen. Der Grundsatz als Zeugen vom Hörensagen44,das »Kenntnis nur wenn nötig«40 ist zu »In-camera«-Verfahren45, die Erheb- Recht eine Maxime des Ge- lichkeit von (beschränkten) Aussage- heimschutzes und kein Kommunika- genehmigungen46, Sperrerklärungen47, tions- und Architekturprinzip einer die Abstufung der Darlegungslast48 arbeitsteiligen und vernetzten Infor- und die Berücksichtigung eines sach- mationsgesellschaft41.Angesichtsder typischen Beweisnotstands bei der fortschreitenden Informationsfrei- Beweiswürdigung49 zu nennen. Dem heitsgesetzgebung42, der Diskussion ultimativen Transparenzverlangen über den rechtlichen Schutz soge- kann mit diesen Hilfsmitteln aller- nannter »Whistleblower«43 und nicht dings nicht entsprochen werden. zuletzt angesichts der Online-Platt- form »WikiLeaks« scheint die Pro- Der Intransparenzvorwurf ist nicht gnose zulässig, dass sich die Kluft erst in den jüngsten Konflikten um

37 Maunz/Dürig GG – Grzeszick, Art. 20II, Rn.26. 38 Holt, Secret Intelligence and Public Policy – A Dilemma of Democracy, Washington D.C. 1995, S.5 f., 238 ff. 39 Geiger in: Smidt/Poppe/Krieger/Müller-Enbergs: Geheimhaltung und Transparenz, Berlin 2007, S.33 [36]. 40 Vgl. § 4 Abs.1 Satz 3 VSA. 41 Wenngleich natürlich der Schutz der natürlichen Person gerade hier datenschutzrechtliche Schutzvorkehrungen be- sonders dringlich erscheinen lässt. 42 Für Baden-Württemberg vgl. hierzu den Koalitionsvertrag 2011 von GRÜNEN und SPD »Der Wechsel beginnt«, S.78. 43 Vgl. etwa hierzu den Gesetzentwurf der GRÜNEN-Bundestagsfraktion auf BT-Drs. 17/9782. 44 Vgl. die Fallgestaltung bei BGHSt 41, S.42; BayVGH Beschl. v. 06.06.2007, Az. 24 ZB 06.2048, Rn.33, zitiert nach Juris. 45 § 99 Abs.2 VwGO, Sodan/Ziekow Verwaltungsgerichtsordnung – Lang, Baden-Baden 2010, § 99, Rn. 2. 46 §54 StPO; vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, München 2011, Rn. 1259. 47 §96 StPO entsprechend; Eisenberg a.a.O., Rn. 1036 ff. 48 BVerwGE 131, S.171 [180]; BVerwG NVwZ 1994, S.72 [73]; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 28.Januar 2010, Az.7A11075/ 09, Rn. 5, zitiert nach Juris. 49 BVerwGE 131, S.171 [179]; VGH Baden-Württemberg, VBlBW 2007, S.340 [341]. 64 PARLAMENTARISCHE KONTROLLE EINER MODERNEN SICHERHEITSBEHÖRDE

Großprojekte zu einer Chiffre für eben nur einen Teil der Tätigkeit ab- den allgemeinen Mangel an Vertrauen bilden55. Mit dieser so skizzierten in nicht mehr nachprüfbar erschei- Vertrauensproblematik überschneidet nende Expertise avanciert. Er trifft sich darüber hinaus die bereits angeris- den Verfassungsschutz umso prekä- sene Legitimationsproblematik56. rer, als die objektive Intransparenz dieses Bereichs für die Öffentlichkeit Geht man von der Prämisse einer sich gerade sachlicher Notwendigkeit vergrößernden Kluft zwischen entspringt50. Damit einher geht eine einer wachsenden gesellschaftlichen strukturell verminderte Fähigkeit Transparenzforderung und statischen des Verfassungsschutzes, aus eigener Informationsmöglichkeiten des Ver- Tätigkeit heraus Vertrauen zu gene- fassungsschutzes aus, wachsen zu- rieren. Zwar werden vereinzelt gleich die Anforderungen an die Ergebnisse seiner Arbeit der Öffent- Mittel, mit denen diese »Transpa- lichkeit bekannt. Es fehlt aber viel- renzkluft« überbrückt werden soll. fach an der Möglichkeit, diese valide Wirksame parlamentarische Kon- einzuordnen und zur Tätigkeit der trolle wird also tendenziell immer be- Behörde insgesamt ins Verhältnis zu deutsamer für die störungsfreie Ein- setzen51. Der Bürger kann weder ordnung des Verfassungsschutzes in wahrnehmen, wie die Verfassungs- unser Gemeinwesen. schutzbehörde im Geheimbereich an- fallende Aufgabenstellungen schritt- Dabei sieht sich die parlamentarische weise »kleinarbeitet«52,nochkanner Kontrolle ihrerseits – wiederum un- sein Vertrauen auf einen nachvoll- ter dem Gesichtspunkt der Vertrau- ziehbaren und durch wiederkehrend ensbildung – mit zwei durchaus sich bestätigende Erfahrungen veri- grundlegenden Problemstellungen fizierten Entscheidungsprozess konfrontiert. gründen53. Schließlich ist die Öffent- lichkeitsarbeit54 der Behörde zwar Einerseits scheint das Vertrauen in die notwendig und sinnvoll, kann aber »Kontrolleure« in der Bevölkerung

50 Zum Umfang des Quellenschutzes: Smidt in: Smidt/Poppe/Krieger/Müller-Enbergs: Geheimhaltung und Transpa- renz, Berlin 2007, S.235 [255 f.]. 51 Zur Tendenz, vermeintliche Misserfolge plakativ zu überzeichnen: Frisch in: Smidt/Poppe/Krieger/Müller-Enbergs: Geheimhaltung und Transparenz, Berlin 2007, S.57 [59]; ebenda: Borgs-Maciejewski, S.80 [82]. 52 Luhmann, Vertrauen, Stuttgart 2000, S.71. 53 Vgl. Luhmann a.a.O., S.64, 71. 54 Zum »Verfassungsschutz durch Aufklärung« [der Öffentlichkeit]: Droste, Handbuch des Verfassungsschutzrechts, Stuttgart u.a. 2007, S.454 ff. 55 § 15 Abs.2 LVSG verweist für die (Vertrauens-)Problematik der selektiven Information des Ständigen Ausschusses auf die politische Verantwortlichkeit der Landesregierung und damit auf die parlamentarischen Sanktionsmöglich- keiten nach Art. 35 Abs.1 (allerdings mit der Einschränkung aus § 14 Abs.2 Satz1 UAG) und Art. 54 Abs.1 der Landes- verfassung. 56 So ist einerseits die Aufnahmefähigkeit einer Verwaltungstätigkeit im Geheimbereich für legitimierende Funktionen not- wendig begrenzt, andererseits kann infolge der notwendigen Geheimhaltung die Legitimationsressource der Rechtspre- chung nicht umfänglich erschlossen werden, vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1983, S. 211ff. STÄNDIGER AUSSCHUSS DES LANDTAGS VON BADEN-WÜRTTEMBERG 65 nicht gerade ausgeprägt zu sein. Nach den Fragen gegeben werden. Je ver- dem GfK-Vertrauensindex 2011 ge- trauenswürdiger eine Kontrollin- nießen »Politiker« lediglich das Ver- stanz ist, umso geringer dürften die trauen von neun Prozent der reprä- gesellschaftlichen Anforderungen an sentativ Befragten57. Dagegen werden die öffentliche inhaltliche Darlegung Polizeibeamte mit 85 Prozent und der Kontrolltätigkeit ausfallen. Eine Richter mit 79Prozent für wesentlich stärkere Außendarstellung des Um- vertrauenswürdiger erachtet58.Ver- standes, dass parlamentarische Kon- kürzt stellt sich also die Frage, ob die trolltätigkeit stattfindet, könnte da- gewählte Repräsentanz des Volkes in mit ein Schlüssel für eine weitere der Kontrollinstanz dieselbe letztlich Stärkung ihrer vertrauensbildenden schwächt, womit zugleich andere Funktion sein61. Denn eine solche denkbare Kontrollsysteme angespro- Darstellung verwiese immer auch auf chen sind. eine von anderen Rollen differen- zierte »Kontrolleursrolle« der betei- Andererseits nimmt die parlamenta- ligten Parlamentarier. rische Kontrolle durch den Ständigen Ausschuss an der Geheimhaltung Zusammenfassend bleibt also vorläu- teil59 und teilt daher auch deren Fol- fig festzuhalten: Parlamentarische gen60. Die Kontrolle kann ihrem Kontrolle ermöglicht im Zusammen- Inhalt nach nicht expliziert werden, wirken mit anderen Kontrollmecha- ohne den Kontrollgegenstand zu ver- nismen eine wirksame Außen- raten und damit den Verfassungs- kontrolle des Verfassungsschutzes. schutz zu schwächen. Dieses grund- Zugleich spielt sie eine entscheidende legende Problem tritt unabhängig Rolle bei der institutionellen Über- vom gewählten Kontrollsystem auf. brückung unterschiedlicher Transpa- renzanforderungen. Letztgenannte Eine Lösung der aufgezeigten Pro- Funktion kann sie mutmaßlich umso blemstellungen im Rahmen dieser besser erfüllen, je stärker sie als ge- kurzen Betrachtung zu entwickeln, waltenübergreifender Kontrollme- kann nicht zufriedenstellend gelin- chanismus expliziert und damit gen. Es soll daher nur ein Hinweis auf öffentlich funktional wahrnehmbar den inneren Zusammenhang der bei- wird.

57 GfK Vertrauensindex 2011 der GfK Custom Research, zitiert nach http://www.gfk.com/imperia/md/content/presse/ pressemeldungen_2011/20110617_trust_index_dfin.pdf (gelesen am 26. Juni 2012). 58 GfK Vertrauensindex 2011 a. a. O. Das Vertrauen in Mitarbeiter des Verfassungsschutzes wurde – soweit ersichtlich – nicht erhoben. 59 § 15 Abs.3 LVSG. 60 Holt, Secret Intelligence and Public Policy – A Dilemma of Democracy, Washington D.C. 1995, S.6 bringt es auf den Punkt: »It helps if secret intelligence is shared with Congress, acting as the trustee of the public. But that still leaves the public having to take Congress on faith.« 61 In Bezug auf die inhaltliche Darlegung weitergehend: Borgs-Maciejewski in: Smidt/Poppe/Krieger/Müller-Enbergs: Geheimhaltung und Transparenz, Berlin 2007, S.80 [86 f.]. 66 PARLAMENTARISCHE KONTROLLE EINER MODERNEN SICHERHEITSBEHÖRDE

IV. Ausblick neten, um den ständig steigenden An- forderungen gerecht zu werden. Da- »Man muss das als gegeben hinneh- bei ist das Landesamt gehalten, den men: Demokratie ist nie bequem.« zur Geheimhaltung verpflichteten (Theodor Heuss) Abgeordneten möglichst viele Infor- mationen zur Verfügung zu stellen, Parlamentarische Kontrolle des Ver- damit sie ihre Entscheidungen auf fassungsschutzes bedeutet auch nach eine fundierte Basis stellen können 60 Jahren immer ein Ringen in Sachen und die notwendige Kontrolle auch streitbare Demokratie mit der Sorge funktioniert. Denn nur eine effektive um Eingriffe in die Grundrechte des parlamentarische Kontrolle führt zu einzelnen Bürgers. einer starken Legitimation des Ver- fassungsschutzes und dem notwendi- Die unterschiedlichsten (sicher- gen Vertrauen der Bevölkerung. heits-)politischen Ereignisse in der Bundesrepublik Deutschland, Eu- Eine Befassung des Landtags mit den ropa und der Welt – zum Beispiel Themen des Verfassungsschutzes fin- RAF, Mauerfall, Anschläge vom det aber nicht ausschließlich hinter 11. September 2001, »Zwickauer Ter- verschlossenen Türen statt. So kann rorzelle«, um nur einige Stichworte sich jeder Abgeordnete des Landtags zu nennen – haben den Verfassungs- oder jede Fraktion mit Anfragen und schutz in den zurückliegenden Anträgen an die Landesregierung 60 Jahren immer wieder vor neue He- wenden, die dann gemeinsam mit den rausforderungen gestellt. Parallel Antworten der Landesregierung als musste er sich auf sehr weitreichende Landtagsdrucksachen veröffentlicht technische Entwicklungen (z.B. das werden. Die Landesregierung hat bei Internet) einstellen, die es ebenfalls Beantwortung der parlamentarischen zu bewältigen gilt. Welchen Verände- Initiativen selbstverständlich auch die rungen sich der Verfassungsschutz in Grundsätze der Geheimhaltung zu dennächsten60Jahrenstellenmuss, beachten. Tatsachen, die nicht für eine kann deshalb niemand mit Gewiss- Veröffentlichung geeignet sind, wer- heit vorhersagen. den dann wiederum nichtöffentlich im zuständigen Ständigen Ausschuss Auch die zuständigen parlamentari- beraten. Die Parlamentsdokumenta- schen Gremien und Parlamentarier tion des baden-württembergischen musstenundmüssensichimmerwie- Landtagsweistfürdievergangene der auf diese neuen Gegebenheiten 14. Legislaturperiode insgesamt 28 einstellen. Neben den rechtlichen Vorgänge zum Stichwort »Verfas- Grundlagen im oben dargestellten sungsschutz« aus, in der 13. Legisla- Landesverfassungsschutzgesetz be- turperiode waren insgesamt 27 Vor- darf es darüber hinaus einer vertrau- gänge zu verzeichnen. Besonderes ensvollen Basis zwischen Landesamt Interesse erfreuten sich Verfassungs- für Verfassungsschutz und Abgeord- schutzfragen infolge der damaligen STÄNDIGER AUSSCHUSS DES LANDTAGS VON BADEN-WÜRTTEMBERG 67

Zusammensetzung des Parlaments in schuss wird durch eine ernstgenom- der 12. Legislaturperiode, in der ins- mene, sorgfältige Kontrolle, die aber gesamt 55 Vorgänge gezählt wurden. auch die besonderen Rahmenbedin- Diese Zahlen zeigen, dass das Parla- gungen berücksichtigt, denen die Ar- ment Anteil an verfassungsschutz- beit des Verfassungsschutzes immer rechtlichen Vorgängen nimmt. Das ist wieder unterliegt, seinen Teil dazu Zeichen der lebhaften Demokratie beitragen, dass die beschriebene Ba- und einer funktionierenden Kon- lance zum Wohle aller Bürger Baden- trolle durch den Landtag. Es zeigt Württembergs gewahrt bleibt. auch, dass der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg kein »abgekap- Dr. Stefan Scheffold, MdL seltes System« ist, sondern seine Ab- Vorsitzender des Ständigen läufe intensiv parlamentarisch disku- Ausschusses tiert werden. Bernd Hitzler, MdL Im Spannungsverhältnis zwischen Vorsitzender des Arbeitskreises Geheimhaltungsbedürfnis und be- »Recht und Verfassung« rechtigtem Informationsinteresse ist der Fraktion der CDU in jedem konkreten Einzelfall gegebe- nenfalls zu überlegen, ob man seitens Jürgen Filius, MdL des Landesamtes und des Ständigen Vorsitzender des Arbeitskreises Ausschusses die Information und »Recht und Verfassung« Aufklärung der Öffentlichkeit ver- der Fraktion GRÜNE stärken kann (s. o. III.), um auch bei den Bürgerinnen und Bürgern eine Andreas Stoch, MdL noch größere Sensibilisierung für ver- Vorsitzender des Arbeitskreises fassungsschutzrelevante Themen zu »Recht und Verfassung« erreichen. Damit sind die Herausfor- der Fraktion der SPD derungen des Verfassungsschutzes für die nächsten Jahre solche, denen er Dr. Ulrich Goll, MdL sich auch in den letzten Jahrzehnten Vorsitzender des Arbeitskreises immer wieder in verschiedener Aus- »Recht und Medien« der Fraktion gestaltung stellen musste: Die Grund- der FDP/DVP sätze einer »streitbaren Demokratie« und deren Bewahrung – auch mit Ein besonderer Dank gilt den Par- Hilfe des Verfassungsschutzes – mit lamentarischen Beraterinnen und den Rechten des Einzelnen in Ein- Beratern der Fraktionen, Dr. Björn- klangzubringenundimmerwiederan Christian Kleih (CDU), Jens Braune- neue Herausforderungen anzupassen well (GRÜNE), Simone Geßmann – dieser Herausforderung wird sich (SPD) und Dr. Christine Rex (FDP/ der Verfassungsschutz auch in den DVP), die an der Erstellung dieses kommenden Jahren immer wieder Beitrags des Ständigen Ausschusses neu stellenmüssen.DerStändigeAus- mitgewirkt haben.

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Zur Bedeutung des Datenschutzrechts für die Tätigkeit des Verfassungsschutzes1 am Beispiel des Landesamts Baden-Württemberg

MICHAEL ZÜGEL

Der1 administrative Verfassungs- ner Institutionen frühzeitig erkannt schutz steht in letzter Zeit2 im Blick- werden. Der Verfassungsschutz soll punkt der Öffentlichkeit. Aus ver- mit seinen Vorfelderkenntnissen schiedenen Gründen ist er der Kritik Politik und Öffentlichkeit aufklären von Politik, veröffentlichter und öf- und dadurch in die Lage versetzen, fentlicher Meinung ausgesetzt (dazu geeignete Abwehrmaßnahmen zu unter II.). Von einigen wird seine Ab- entwickeln (§§ 1, 3 Abs.1 Landes- schaffung gefordert, andere verwei- verfassungsschutzgesetz – LVSG). sen auf seine Aufgaben im Gefüge der Relevante Bedrohungen bestehen Sicherheitsbehörden. Beobachtet man dabei vor allem auf den Feldern des die Debatte aus juristischer Sicht, ist politischen Extremismus und Terro- zum Teil erstaunlich, wie wenig über rismus sowie der gegen Deutschland Rechts- und Arbeitsgrundlagen des gerichteten Spionagetätigkeit anderer Verfassungsschutzes bekannt ist Staaten. Gegenwärtig wird die (III.). Diese Unklarheiten führen bis- Gefährdungslage geprägt durch die weilen zu einer verzerrten Auseinan- anhaltende Bedrohung durch den dersetzung, wenn es um die Nach- islamistischen Extremismus, insbe- richtendienste geht. Der vorliegende sondere seine terroristischen Er- Beitrag will dem begegnen, indem er scheinungsformen, sowie durch das eine für die Tätigkeit des Verfassungs- Auftreten gewaltorientierter rechts- schutzes wichtige Rechtsmaterie her- extremistischer Strukturen.3 Ge- vorhebt (IV. und V.). sucht, gesammelt und ausgewertet werden vor allem Informationen zur Zielsetzung, Ideologie, Organisation I. Einleitung und Aktivität extremistischer Per- sonenzusammenschlüsse und zur Als Einrichtung der wehrhaften De- Tätigkeit ausländischer Nachrichten- mokratie sollen die Verfassungs- dienste in der Bundesrepublik. schutzbehörden dafür sorgen, dass Bedrohungen für den Kernbestand Die Informationsgewinnung (»Beob- der Verfassung sowie den Bestand achtung«) beginnt weit im Vorfeld und die Sicherheit des Staates und sei- etwaiger Straftaten oder konkreter

1 Dem Beitrag liegt die Rechtslage in Baden-Württemberg zugrunde. Er gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder. 2 Aktuelle Entwicklungen konnten bis Mai 2012 berücksichtigt werden. Die zitierten URL waren am 26. April gültig. 3 Vgl. dazu die einschlägigen Ausführungen in: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbe- richt 2011. 70 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS

Gefahren, erstreckt sich auf öffentli- kutivbefugnisse wie sie die Polizei che wie auf nicht-öffentliche Er- besitzt (wie zum Beispiel Vorladung, kenntnisquellen und erfolgt unter Ingewahrsamnahme und Durchsu- Zuhilfenahme offener und verdeckter chung von Personen und Objekten). Ermittlungsmethoden. Weil der Ver- Mit der Nutzung der gesammelten fassungsschutz als »Frühwarnsys- personenbezogenen Daten können tem« agieren soll4, sind die rechtli- gleichwohl Beeinträchtigungen des chen Schwellen für ein Tätigwerden Persönlichkeitsrechts des Einzelnen vergleichsweise niedrig. Anders als einhergehen, die denen polizeilicher die Polizei benötigt der Verfassungs- Maßnahmen gleichkommen. Man schutz keinen Verdacht einer Straftat denke beispielsweise an die Wei- (§ 152 Abs.2 StPO) oder eine kon- tergabe belastender Erkenntnisse zu krete Gefahr für die öffentliche Si- einer Person an die Strafverfol- cherheit und Ordnung (§§ 1, 3 PolG). gungsbehörden oder an die Einbürge- Ausreichend für eine – auch breit an- rungsbehörde im Zuge eines Ein- gelegte – Beobachtungstätigkeit sind bürgerungsverfahrens sowie an die tatsächliche Anhaltspunkte für Be- stigmatisierende Wirkung der na- drohungen der verfassungsschutz- mentlichen Nennung einer Person im rechtlichen Schutzgüter, also durch Verfassungsschutzbericht. Bereits Tatsachen belegte, vernünftige Erwä- diese Beispiele belegen das Bedürfnis gungen dafür, dass Bestrebungen eines sensiblen Umgangs mit perso- zum Beispiel gegen die freiheitliche nenbezogenen Daten und eines ent- demokratische Grundordnung vor- sprechend strengen Datenschutzes liegen.5 Dabei darf nachrichten- bei den Verfassungsschutzbehörden. dienstliches bzw. kriminalistisches Ein weiterer Grund für konsequente ErfahrungswissenindieBeurteilung Datenschutzregeln ist, dass sich die einfließen.6 Sammlung personenbezogener Daten weitgehend ohne Wissen des Betrof- Bei dieser Tätigkeit werden neben fenen und unter Umständen im Wege relevanten Sachdaten auch personen- intensiver Grundrechtseingriffe (et- bezogene Daten7 erhoben und gespei- wa Observation, Einsatz von V-Leu- chert, wodurch unmittelbar daten- ten, Post- und Telekommunikations- schutzrechtliche Fragestellungen überwachung)vollzieht,fürdieweder aufgeworfen werden. Dem Verfas- eine richterliche Anordnung und mit sungsschutz fehlen zwar eigene Exe- Ausnahme der Post- und Telekom-

4 Siehe dazu Kirsten Schmalenbach, »Administrativer Verfassungsschutz: Bürger unter Beobachtung«, in: Markus Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie. Beiträge über die Regelungen zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, 2003, S.415–445 (429); Herrmann Borgs-Maciejewski/Frank Ebert, Das Recht der Geheimdienste, Kommentar, 1986, Rn. 121 f. 5 Vgl. BVerfGE100, 313 (395); BVerwGE 137, 275 ff. 6 Bernadette Droste, Handbuch des Verfassungsschutzrechts, 2007, S.177 m. w. N. 7 § 3 Abs.1 LDSG: »Personenbezogene Daten sind Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer be- stimmten oder bestimmbaren natürlichen Person (Betroffener).« – Personenbezogene Daten sind das zentrale Schutz- gut aller datenschutzrechtlichen Kodifikationen. Siehe noch unten. MICHAEL ZÜGEL 71 munikationsüberwachung auch kein stand von »Überwachung« und Beschluss einer von der Exekutive heimlicher Datenerhebung zu wer- unabhängigen Kontrollinstanz erfor- den.10 Diese Vermutungen und die derlich ist. Der Betroffene hat – wie- Furcht vor dem Ungewissen tragen derum mit Ausnahmen der Post- und dazu bei, dass viele Menschen ein Telekommunikationsüberwachung, diffuses Misstrauen gegenüber den bei der eine nachträgliche Mitteilung Verfassungsschutzbehörden hegen.11 gesetzlich vorgesehen ist –,8 keine Möglichkeit, sich gegen derartige Maßnahmen, von denen er keine II. Verfassungsschutz in der Kenntnis hat, rechtlich zur Wehr zu Kritik setzen. DasMisstrauenwirdinletzterZeit Die heimliche oder verdeckte Infor- zusätzlichvonmehrerenSeitenge- mationsbeschaffung durch den Ver- nährt. An erster Stelle sind die grau- fassungsschutz ist für seine Behörden enhaften Erkenntnisse zu den Taten »Segen und Fluch« zugleich. »Se- der Gruppierung »Nationalsozialis- gen«, weil mitunter nur auf diesem tischer Untergrund« (NSU) zu nen- Wege werthaltige Erkenntnisse zu nen.12 Deren rechtsextremistischer, Beobachtungsobjekten gewonnen ausländerfeindlicher Hintergrund ist werden können, vor allem wenn diese – wohl auch aufgrund von erhebli- klandestin agieren. »Fluch«, weil die chen Mängeln des Informationsaus- heimliche oder verdeckte Informati- tausches innerhalb der bzw. zwischen onsbeschaffung und -verwendung den beteiligten Sicherheitsbehörden – der Spekulation über die Tätigkeit jahrelang unentdeckt geblieben, was der Verfassungsschutzbehörden Tür verständlicherweise zu einer Er- und Tor öffnet.9 Den »Geheimdiens- schütterung des Glaubens an die ten« traut man alles Mögliche und Fähigkeit insbesondere des »Früh- Unmögliche zu und hat Sorge, als un- warnsystems« Verfassungsschutz ge- bescholtener Bürger zum Gegen- führt hat. Welchen Umfang die in der

8 § 12 Artikel 10-Gesetz (G 10). Siehe dazu noch unten. 9 Ähnlich Bertold Huber, Handbuch des Verfassungsschutzrechts. Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit (Buchbespre- chungen), NVwZ 2009, 373; Hans Peter Bull, Informationelle Selbstbestimmung – Vision oder Illusion?, 2. Auflage 2011, S.83. 10 Die Sorge, mehr oder weniger willkürlicher Überwachung der Bürger durch den Verfassungsschutz wird in der veröf- fentlichen Meinung teilweise geschürt, vgl. etwa Wolf-Dieter Narr/Peter Grottian, »Scheinseriöser Unsinn« – Schafft den Verfassungsschutz ab!, in: Der Tagesspiegel vom 20. Dezember 2011. 11 Nach einer Umfrage des »Stern« vom November 2011 (http://www.stern.de/politik/deutschland/stern-umfrage-zu- rechtem-terror-deutsche-misstrauen-ihrem-verfassungsschutz-1754125) äußerten zwei Drittel (64 Prozent) der Bür- ger, »sie hätten kaum oder gar kein Vertrauen« zum Verfassungsschutz. Besonders gering sei das Ansehen bei den Ostdeutschen – 77 Prozent hätten hier kaum Vertrauen zu den Verfassungsschützern. Zur »andauernden Angst vor der ›Verdatung‹« vgl. Bull, S.72. 12 Umfassende Berichterstattung unter http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rechtsextremismus. 72 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS

Untersuchung durch mehrere Gre- Urteil aus dem Jahr 2010 ausdrück- mien13 befindlichen Versäumnisse der lich nicht beanstandet wurde,16 trat in beteiligten Behörden am Ende gehabt den Hintergrund. haben werden, ist zum jetzigen Zeit- punkt noch unklar. Es ist zu erwar- Eine Befeuerung der Debatte ganz ten, dass unabhängig von den Ergeb- anderer Art findet seit einigen Jahren nissen ein Misstrauen gegenüber den statt, wenn es um neue Ermittlungs- Verfassungsschutzämtern bestehen methoden für die Sicherheitsbehör- bleibt. den geht. Genannt seien insbesondere die Online-Durchsuchung und die Kritik erfolgte jüngst auch wegen ei- Vorratsdatenspeicherung. Im ersten ner von vielen Kommentatoren als Fall geht es um die Frage, ob Sicher- zweifelhaft empfundenen Beobach- heitsbehörden mit dem Ziel der tung der Partei »DIE LINKE« nebst heimlichen Datenerhebung »online« einiger ihrer Bundestagsabgeordne- auf Computer zugreifen dürfen sol- ten durch das Bundesamt für Verfas- len, im zweiten, ob Sicherheitsbehör- sungsschutz.14 Die Empörung der deninEinzelfällenretrogradaufTe- Betroffenen und die Kritik in Politik lekommunikationsverbindungsdaten und Medien beförderte die Vermu- zugreifen dürfen sollen, die für einige tung einer überzogenen und unver- Monate anlasslos bei den Telekom- hältnismäßigen Beobachtung durch munikationsunternehmen gespei- den Verfassungsschutz. Dass Tatsa- chert wurden. In der veröffentlichten chen und Umstände der Beobach- Meinung wie in der juristischen Lite- tung im Wesentlichen seit längerem ratur werden diese Methoden nicht bekannt waren15 und die Beobach- erst seit den jeweiligen Entscheidun- tung der Partei »DIE LINKE« vom gen des Bundesverfassungsgerichts17 Bundesverwaltungsgericht in einem

13 Bisher (Mai 2012): Parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags; in Thüringen und Sach- sen: jeweils parlamentarische Untersuchungsausschüsse; in Thüringen zusätzlich die vom Innenminister berufene »Schäfer-Kommission«. Zudem wurde eine Bund-Länder-Regierungskommission »Rechtsterrorismus« eingerichtet. Die strafrechtlichen Ermittlungen werden von der Bundesanwaltschaft geleitet. 14 Vgl. Daniel Brössler und Jan Bielicki, Justizministerin rügt Verfassungsschutz, http://www.sueddeutsche.de/politik/ beobachtung-linker-abgeordneter-justizministerin-ruegt-verfassungsschutz-1.1265425. 15 Siehe dazu Deutscher Bundestag, Aktuelle Meldung vom 8. Februar 2012, http://www.bundestag.de/presse/hib/ 2012_02/2012_073/01; Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2010, S.154 ff. 16 BVerwGE 137, 275 (siehe nur Leitsätze 1 bis 4). 17 Zur Online-Durchsuchung: BVerfGE 120, 274 (2008); zur Vorratsdatenspeicherung: BVerfGE 125, 260 (2010). MICHAEL ZÜGEL 73 wegen ihrer Risiken für die Freiheits- Zerrbild von einem Verfassungs- rechte der Bürger kritisch gesehen.18 schutz, der auf zentralen Aufgaben- Letztlich geht es darum, die richtige feldern versagt, eine unverhältnismä- Gewichtung zwischen Freiheit und ßige Beobachtungstätigkeit betreibt Sicherheit19 zu finden. Mitunter wer- und unbeherrschbare Ermittlungs- den die genannten Methoden aber methoden einsetzt.22 auch pauschal in Zusammenhänge von »Überwachungsstaat« oder Wie kann dem begegnet werden? Von »Generalverdacht« gegen die gesamte Seiten des Staates und der betroffenen Bevölkerung gestellt.20 Behörden muss neben dem Hinweis auf die Erfolge, die insbesondere im Ganz unabhängig davon, ob die ge- Bereich der Bekämpfung des islamis- nannten Ermittlungsmethoden für tischen Terrorismus unbestreitbar zu die Sicherheitsbehörden notwendig verzeichnen sind, eine selbstkritische oder verzichtbar sind, ob sie die Frei- Fehlersuche erfolgen, wenn sich heitssphäre der Bürger zugunsten Misserfolge herausstellen. Im Falle von Sicherheit in unverhältnismäßi- der rechtsextremistisch motivierten ger Weise bedrohen oder nicht, hat Morde des NSU wird so verfahren. die regelmäßige Wiederholung nur Bei den Ermittlungsmethoden der der Risiken und Gefahren dieser Me- Online-Durchsuchung, die bisher le- thoden durch deren Kritiker für diglichinArt.6eBayVSGeinenach- Rechtsstaat und Freiheitsrechte eine richtendienstliche und im Übrigen in fatale Wirkung: Das Misstrauen beim § 20k BKAG, Art. 34d BayPAG und Bürger wächst und prägt dessen § 31c POG RP eine gefahrenabwehr- Wahrnehmung.21 Es entsteht ein rechtliche Ermächtigungsgrundlage

18 Vgl. aus der Fülle der Literatur zur Online-Durchsuchung bzw. Quellen-Telekommunikationsüberwachung: Johan- nes Rux, Ausforschung privater Rechner durch die Polizei- und Sicherheitsbehörden, JZ 2007, 285–295; Burkhard Hirsch, Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme – zu- gleich Anmerkung zu BVerfG, NJW 2008, 822, NJOZ 2008, 1907–1915; Robert Käß, Die Befugnis zum verdeckten Zu- grifff auf informationstechnische Systeme im bayerischen Poizeiaufgabengesetz (sog. Online-Überwachung oder Online-Durchsuchung, VBlBW 2010, 1–15; Ulf Buermeyer/Matthias Bäcker, Zur Rechtswidrigkeit der Quellen-Tele- kommunikationsüberwachung auf Grundlage des § 100a StPO, HRRS 2009, 433–441; Florian Albrecht/Sebastian Dienst, Der verdeckte hoheitliche Zugriff auf informationstechnische Systeme – Rechtsfragen von Online-Durchsu- chung und Quellen-TKÜ, JurPC WebDoc 5/2012, Abs.1–65. – Zur Vorratsdatenspeicherung: Guido Brinkel/Judith Lammers, Innere Sicherheit auf Vorrat? Ein erster Blick auf die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland, ZUM 2009, 11-22; Heinrich Amadeus Wolff, Vorratsdatenspeicherung – Der Gesetzgeber gefangen zwischen Europarecht und Verfassung?, NVwZ 2010, 751–753; Dietrich Westphal, Leitplanken für die Vorratsdatenspeicherung – Abrücken von »Solange«, das Urteil des BVerfG vom 2. März 2010, EuZW 2010, 494–499; Alexander Rossnagel, Die »Überwa- chungs-Gesamtrechnung« – Das BVerfG und die Vorratsdatenspeicherung, NJW 2010, 1238–1242. 19 Vgl. hierzu facettenreich Kurt Graulich/Dieter Simon (Hrsg.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit – Analysen, Hand- lungsoptionen, Perspektiven, 2007. 20 So etwa der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion Christian Ahrendt in einem Interview des Deutschlandfunks zur umstrittenen Vorratsdatenspeicherung am 18. April 2012, Transkript unter http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1732972. Zahlreiche weitere O-Töne bei, Christian Rath, Der Überwachungsstaat – eine bürgerliche Projektion, in: vorgänge 2010, 79–92, S.81. 21 Ähnlich Rath, S.80 f., passim. 22 Beißende Kritik am Verfassungsschutz übt Heribert Prantl, Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz? Eine Anklage, 2012. 74 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS hat,23 scheinen viele Befürchtungen rade dann entscheidend für die Auf- übertrieben.24 Wird die Online- klärung von Anschlagsplanungen Durchsuchung dem Verfassungs- und dergleichen sein. Es kann bei ver- schutz erlaubt, sind die dann gelten- nünftiger Betrachtung jedenfalls den rechtlichen Hürden angesichts keine Rede davon sein, dass jeder der vom Bundesverfassungsgericht Bürger stets damit rechnen muss, markierten Voraussetzungen25 denk- mittels eines »Staatstrojaners« ausge- bar hoch und nur bei bestimmten, auf späht zu werden.29 eine im Einzelfall bestehende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechts- Eine der Glaubwürdigkeit höchst gut hinweisenden Tatsachen gege- abträgliche Wirkung hat es freilich, ben.26 Dies ist eine Situation die im wenn Sicherheitsbehörden in dem »Vorfeldbereich«, auf dem der Ver- sensiblen Bereich der »digitalen fassungsschutz agiert, äußerst selten Überwachung« rechtliche Grenzen gegeben sein dürfte.27 Außerdem ist überschreiten oder Ermittlungs- bekannt, dass die technischen Anfor- werkzeuge einsetzen, deren techni- derungen einer Online-Durchsu- sches Potenzial im Hinblick auf das chung überaus anspruchsvoll sind,28 rechtlich Erlaubte in Zweifel gezogen was in der Praxis zu einem sehr werden kann.30 So wurde durch eine behutsamen Einsatz führt. Zusam- Entscheidung des Landgerichts mengenommen dürfte dies die An- Landshut31 bekannt, dass im Zuge ei- wendungshäufigkeit bei realistischer ner an sich rechtmäßigen Quellen- Einschätzung auf wenige Sonderfälle Telekommunikationsüberwachung reduzieren – aber möglicherweise ge-

23 Art. 6e BayVSG trägt die Überschrift »verdeckte Online-Datenerhebung«; § 20k BKAG trägt die amtliche Überschrift »Verdeckter Eingriff in informationstechnische Systeme« und erlaubt die Online-Durchsuchung zur Abwehr von Ge- fahren für höchste Rechtsgüter, wie Leib und Leben oder andere existentielle Güter. Dabei sind komplexe technische und rechtliche Anforderungen zu erfüllen. Die Maßnahme selbst steht unter Richtervorbehalt. Ähnlich normiert in Art. 34d BayPAG. 24 So auch Rath, S.83. 25 BVerfGE, 120, 274 (302 ff.). 26 Siehe Art. 6e Abs.1 Satz 1 BayVSG; vgl. BVerfGE, 120, 274 (326). 27 Vgl. Bär, VBlBW. 2010, 1 (3) m. w. N. in Fußnote 33. 28 Siehe die entsprechende Regelungen in den Art. 6e, 6f Abs.5 BayVSG; vgl. dazu Bär, VBlBW. 2010, 1 (4 f.). 29 Siehe hierzu pointiert, aber zutreffend Bull, 76; Rath, S.83: »Es ist unverantwortlich, wenn jetzt der Eindruck erweckt wird, ständig müsse mit Cyber-Attacken des BKA gerechnet werden«. 30 Näheres dazu in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 17/7104 vom 17. November 2011; Buermeyer/Bäcker, HRRS 2009, 433 (439). 31 Beschluss vom 20. Januar 2011, Az. Qs 346/10. MICHAEL ZÜGEL 75

(Quellen-TKÜ)32 auch Daten er- bisweilen allzu pauschalen und mit hoben wurden, die außerhalb des unrealistischen Argumenten geführ- Kommunikationsvorgangs lagen und ten Auseinandersetzung.35 Die Frage daher nicht hätten erfasst werden lautet: Würde durch eine (erneute) dürfen. Zum anderen geriet eine von Zulassung der Vorratsdatenspeiche- bayerischen Polizeibehörden einge- rung tatsächlich die Grenze vom setzte Überwachungssoftware in die Rechts- zum Polizei- und Überwa- Kritik, die über eine als unzulässig er- chungsstaat überschritten? Kann achtete Funktionalität verfügt habe man die anlasslose Speicherung von und deswegen geeignet gewesen sei, Verbindungsdaten (nicht Inhaltsda- die vom Bundesverfassungsgericht ten!) über einen Zeitraum von sechs gezogenen Grenzen der erlaubten Monaten wirklich als Erhebung eines Überwachung der Telekommunika- »Generalverdachts« gegen die ge- tion hin zur verbotenen Online- samte Bevölkerung interpretieren, Durchsuchung zu überschreiten.33 wenn sichergestellt ist, dass auf diese Wie auch immer die Bewertung die- Daten nur unter bestimmten, hohen ser Fälle ausfallen wird – sie sind rechtlichen Voraussetzungen36 zuge- geeignet, die Vermutung von Unpro- griffen werden darf? Es gibt hierzu fessionalität letztlich aller Sicher- zahlreiche Tatsachen und Erwägun- heitsbehörden und den Verdacht der gen, die einer kritischen Untersu- behördlichen Leichtfertigkeit gegen- chung zugänglich sind, einer solchen über der Einhaltung rechtlicher aber auch bedürfen. Andernfalls wer- Grenzen zu nähren. den unnötige Ängste erzeugt,37 die das Vertrauen in die Sicherheitsbe- Was die Vorratsdatenspeicherung an- hörden und damit in den Rechtsstaat geht34, leidet die Diskussion an einer weiter belasten.38

32 Mit Hilfe der Quellen-TKÜ kann Telekommunikation auch dann überwacht werden, wenn der Telekommunikations- vorgang mittels verschlüsselter Kommunikation via Internet erfolgt (»VoIP-Telefonie«). Zum Einsatz kommt eine Software, die die Telekommunikationsinhalte vor deren Ver- bzw. nach deren Entschlüsselung auf dem betroffenen Endgerät erfasst und die dabei erhobenen Daten heimlich an die ermittelnde Behörde leitet. Materiellrechtlich han- delt es sich dabei trotz andersartiger technischer Bedingungen um eine »normale« Telekommunikationsüberwa- chung, die (nur) in den Schutzbereich des Art. 10 GG eingreift, BVerfGE 120, 274 (309). Das Gericht betont aber, dass eine Quellen-TKÜ nur zulässig ist »wenn sich die Überwachung ausschließlich auf Daten aus einem laufenden Tele- kommunikationsvorgang beschränkt. Dies muss durch technische Vorkehrungen und rechtliche Vorgaben sicherge- stellt sein.« (BVerfG, a.a.O.) Vor diesem Hintergrund ist zumindest unklar, ob eine Quellen-TKÜ auf Grundlage des G10 in der Praxis rechtmäßig durchgeführt werden kann, vgl. dazu, allerdings anhand von § 100a StPO, Buermeyer/ Bäcker, HRRS 2009, 433 (438f.) m.w.N. 33 Vgl. Pressemitteilung des Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz vom 12.Oktober 2011, abrufbar über http://www.datenschutz-bayern.de. 34 Die EU-Kommission hat Deutschland am 27.Oktober 2011 gem. §258 AEUV zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.März 2006 aufgefordert und ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. 35 Ähnlich Bull, S.96f. unter Verweis auf die – lesenwerten – abweichenden Meinungen der Bundesverfassungsrichter Wilhelm Schluckebier und Michael Eichberger, BVerfGE 125, 260 (364ff. bzw. 380ff.). 36 Dazu Wolff, S.753; Westphal, S.494 (495 f.). 37 Es ist in Erinnerung zu rufen, dass die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorschriften des Telekommunikationsge- setzes zur Vorratsdatenspeicherung von fast 35.000 Beschwerdeführern getragen wurde. 38 Vgl. dazu Bull, S.86, passim. 76 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS

In allen genannten Fällen, sollte Die nachfolgenden Ausführungen versucht werden, der Entstehung von nehmen dies zum Anlass, die Bedeu- Misstrauen und einem verzerrten tung des Datenschutzrechts für den Wirklichkeitsbild von der Tätigkeit Verfassungsschutz anhand der recht- der Verfassungsschutzbehörden durch lichen Rahmenbedingungen und un- Transparenz und Hinweise auf die ter Verweis auf einige wichtige tatsächlichen und rechtlichen Grund- Anwendungsgebiete darzustellen. lagen sowie die Ziele ihrer Arbeit ent- gegenzutreten. Transparenz kann dort hergestellt werden, wo Geheim- III. Rechtliche Voraussetzung haltungsbedürfnisse nicht entgegen- für nachrichtendienstliche stehen. Dies erfolgt im Hinblick auf Beobachtung die Beobachtungsobjekte regelmäßig in Form der Jahresberichte der Ver- Bereits der Vorgang nachrichten- fassungsschutzämter und in Gestalt dienstlicher Beobachtung ist daten- der übrigen Presse- und Öffentlich- schutzrechtlich relevant, soweit dabei keitsarbeit. Bei Fragen zur operativen einBezugzuPersonenbesteht.Beider Arbeitsweise und zu Art und Um- Bewertung, ob bestimmte Entwick- fang des Einsatzes nachrichtendienst- lungen eine Bedrohung der verfas- licher Mittel sind die Auskunftsmög- sungsmäßigen Ordnung darstellen, lichkeiten naturgemäß begrenzt.39 sind Informationen zu konkreten Umso wichtiger erscheint es, die Einzelpersonen zwar viel weniger re- rechtlichen Regeln darzustellen, de- levant als vielfach angenommen,40 nen der Verfassungsschutz unterliegt. denn der Verfassungsschutz verfolgt Hierzu zählt – da der Verfassungs- in erster Linie einen organisationsbe- schutz kaum andere »Güter« besitzt zogenenAnsatz.Gleichwohlstelltdas als personenbezogene Daten – maß- Beobachten von Personen eine Form geblich der Datenschutz bzw. das derrelevantenDatenverarbeitungdar. Recht, das den Umgang mit perso- Dies gilt unabhängig davon, ob es auf nenbezogenen Daten regelt. Dessen die Daten einer konkreten Person im Bedeutung und seine Betonung ge- weiteren Verlauf »ankommt« oder genüber der Öffentlichkeit kann nicht. Denn unter der Verarbeitung nicht unterschätzt werden. personenbezogener Daten versteht

39 Vgl. exemplarisch die Antwort der Bundesregierung auf eine Frage eines Bundestagsabgeordneten zur Zahl der V-Leute bei Sicherheitsbehörden des Bundes, in: Deutscher Bundestag, Schriftliche Fragen, Drucksache 17/8405 vom 20. Januar 2012, S.9 ff. 40 Beispiel: Das »Bedrohliche« an einem rechtsextremistischen Aufzug ist der Aufzug an sich, also welche verfassungs- feindlichen Parolen geäußert und welche Symbole gezeigt werden. Wer konkret das Transparent mit extremistischen Parolen hochhält, ist für weitere Ermittlungen, aber nicht für die inhaltliche Bewertung des Aufzugs als rechtsextremi- stisch relevant. – Zuzugeben ist allerdings, dass im Bereich der Beobachtung des grenzüberschreitenden islamisti- schen Terrorismus, bei der es auch um die Verhinderung von Anschlägen geht, die Fälle personenscharfer Beobach- tung sogenannter »Gefährder« seit dem 11.September 2001 deutlich zugenommen haben dürfte. MICHAEL ZÜGEL 77 man gemäß § 4 Abs.2 Satz1 Lan- der hier nicht näher behandelten Mit- desdatenschutzgesetz (LDSG) »das wirkungsaufgaben (Absätze 3 und 4).42 Erheben, Speichern, Verändern, Übermitteln, Nutzen, Sperren und Für Bestrebungen gegen die freiheit- Löschen personenbezogener Daten«. liche demokratische Grundordnung, Umfasst ist also der gesamte Umgang um bei diesem Beispiel zu bleiben, mit personenbezogenen Daten von müssen gemäß § 3 Abs.2 Satz2 LVSG der Erhebung im Zuge einer Beob- tatsächliche Anhaltspunkte43 vorlie- achtung bis hin zu ihrer Löschung. gen, und zwar im Einzelfall. Diese dürfen also nicht nur einmal und in- Die allgemeine Rechtsgrundlage, die itialiter festgestellt werden, sondern es dem LfV prinzipiell erlaubt, Infor- müssen sich in allen Phasen der Beob- mationen, insbesondere personenbe- achtung nachweisen lassen. Umge- zogener Art, zu verarbeiten, findet kehrt heißt dies aber auch, dass bei sich in § 5 Abs.1 Satz 1 LVSG. Diese zweifelsfreiem Vorliegen der Voraus- Norm nimmt Bezug auf § 3 LVSG setzungen beobachtet werden muss.44 und die dort (Absatz 2) genannten Beobachtungsfelder. Unter anderem Was unter Bestrebungen gegen die sind dies Bestrebungen gegen die frei- freiheitliche demokratische Grund- heitliche demokratische Grundord- ordnung zu verstehen ist, lässt sich nung (§ 3 Abs.2 Satz 1 Nr.1 Var. 1 mit Hilfe des Gesetzes präzise ermit- LVSG). § 5 Abs.1 Satz 1 LVSG nennt teln. Das LVSG verwendet hier wie zwei wichtige Beobachtungsvoraus- bei den übrigen »Bestrebungen« des setzungen: Es dürfen nur Daten ver- § 3 Abs.2 LVSG Begriffsbestimmun- arbeitet werden, die dem Zweck der gen, die in § 4 LVSG legaldefiniert Aufgabenerfüllung dienen und hier- sind. Nach § 4 Abs.1 Satz 1 Nr.3 für erforderlich sind.41 Was »Auf- LVSG sind deshalb »Bestrebungen gabenerfüllung« ist, ergibt sich, wie gegen die freiheitliche demokratische gesagt, aus § 3 LVSG, der zwei Aufga- Grundordnung solche politisch be- benbereiche umfasst: neben dem der stimmten, ziel- und zweckgerichteten nachrichtendienstlichen Beobach- Verhaltensweisen in einem oder für tungstätigkeit in Absatz 2 auch den einen Personenzusammenschluss, der

41 Zweckbindungs- und Erforderlichkeitsgrundsatz. 42 Kurz gesagt handelt es sich um Aufgaben des (präventiven) personellen und materiellen Geheimschutzes (Überprü- fung von Personen, die mit sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten betraut werden sollen gemäß dem Gesetz über die Sicherheitsüberprüfung aus Gründen des Geheimschutzes – LSÜG), der Überprüfung von Bewerbern für den öffent- lichen Dienst, der Sicherheitsüberprüfung nach Einbürgerungs- und Ausländerrecht sowie etwa um die Mitwirkung bei der Zuverlässigkeitsüberprüfung von Personen nach dem Waffengesetz. Die Aufgabenerledigung erfolgt hier of- fen und nur unter Verwendung von bereits beim Verfassungsschutz vorliegenden Daten. Weitergehende Ermittlun- gen dürfen nur zum Zwecke des Geheimschutzes und dann auch nur mit Einwilligung des Betroffenen erfolgen, siehe im Einzelnen § 3 Abs.3 Satz3, Abs.4 und § 5 Abs.2 LVSG.Es gelten die Vorschriften in den jeweiligen Fachgeset- zen, z.B. § 12b Abs.3 Satz 1, Abs.7 AtomG. 43 Zu diesen bereits oben. 44 Es besteht kein Entschließungsermessen. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut von § 3 Abs.1 und 2 LVSG (»… hat die Aufgabe …«, »… sammelt …«); vgl. die entsprechende Bundesregelung in § 3 Abs.1 Satz 1 Bundesverfassungs- schutzgesetz (BVerfSchG) und dazu Droste, S.199: Es gilt insofern das Legalitätsprinzip. 78 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS darauf gerichtet ist, einen der in ges Beobachtungsobjekt ist aber ver- Absatz 2 genannten Verfassungs- gleichsweise selten, da die Norm die grundsätze zu beseitigen oder außer Ausrichtung auf Gewalt oder ein or- Geltung zu setzen«. Absatz 2 enthält ganisationsgleiches und erhöhtes sodann eine Aufzählung der Bestand- Schädigungspotenzial fordert. teile der freiheitlichen demokrati- schen Grundordnung. Nach § 4 Schließlich muss jede Beobachtung Abs.1 Satz 2 LVSG handelt im Übri- stets den Anforderungen des Verhält- gen nur der »für einen Personenzu- nismäßigkeitsgebots genügen, was § 5 sammenschluss, wer ihn in seinen Be- Abs.4 LVSG unmissverständlich strebungen aktiv sowie ziel- und klarstellt: »Von mehreren geeigneten zweckgerichtet unterstützt.« Bloße Maßnahmen hat das Landesamt für Meinungsäußerungen sind hiervon Verfassungsschutz diejenige zu wäh- ebenso wenig erfasst wie zum Bei- len, die den Betroffenen voraussicht- spiel die rein passive Anwesenheit bei lich am wenigsten beeinträchtigt. einer extremistischen Kundgebung. Eine Maßnahme darf keinen Nach- Es zeigt sich der bereits erwähnte or- teil herbeiführen, der erkennbar au- ganisations- bzw. objektbezogene ßer Verhältnis zu dem beabsichtigten Ansatz des LVSG (wie auch aller an- Erfolg steht.« deren Verfassungsschutzgesetze). Zwangsläufig werden Personen be- Die bisher zitierten Normen (§§ 3, 4, obachtet und deren Daten verarbei- 5 LVSG) stellen eine Konkretisierung tet. Dies erfolgt aber nur als Kon- verfassungsrechtlicher Anforderun- sequenz aus der Beobachtung der gen dar, um die es im Folgenden ge- jeweiligen Bestrebung. Eine Einzel- hen soll. Die Normen machen zudem person kann grundsätzlich kein ei- deutlich, dass von einer mehr oder genständiges Beobachtungsobjekt weniger freien Entscheidung des Ver- des Verfassungsschutzes werden – fassungsschutzes, wer von ihm beob- mit einer Ausnahme, die sich aus § 4 achtet wird und wie, keine Rede sein Abs.1 Satz 3 LVSG ergibt: »Verhal- kann. tensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Perso- nenzusammenschluss handeln, sind IV. Datenschutz beim Bestrebungen im Sinne dieses Geset- Verfassungsschutz zes, wenn sie auf Anwendung von Gewalt gerichtet sind oder aufgrund 1. Verfassungsrechtliche ihrer Wirkungsweise geeignet sind, Vorgaben ein Schutzgut dieses Gesetzes erheb- lich zu beschädigen.« Ein Beispiel für So wie der Rechtsstaat mit Hilfe des diese Fallkonstellation ist der allein administrativen Verfassungsschutzes handelnde terroristische Anschlags- versucht, seine Grundordnung, sei- täter (»lone wolf«). Die Beobachtung nen Bestand und seine Sicherheit vor von Einzelpersonen als eigenständi- Bedrohungen zu schützen, ist er ver- MICHAEL ZÜGEL 79 pflichtet, bei dieser Aufgabe auch die prinzipiell selbst darüber zu entschei- individuellen Rechte der Bürger in den, ob, wann und wie seine persönli- Gestalt der Grundrechte zu wahren. chen Daten offenbart und verwendet So hat der Staat die Aufgabe, den Ein- werden.48 Das Recht auf informatio- zelnen vor Beeinträchtigungen seines nelle Selbstbestimmung ist Ausfluss allgemeinen Persönlichkeitsrechts, und Bestandteil des allgemeinen Per- wie sie durch den Umgang Dritter sönlichkeitsrechts gemäß Artikel 2 mit seinen personenbezogenen Daten Abs.1i.V.m.Artikel1Abs.1GG.49 entstehen können, zu schützen. Denn die unbefangene Wahrnehmung der Die Rechtsordnung lässt Eingriffe in Persönlichkeitsrechte bildet – nicht das Recht auf informationelle Selbst- anders als die freiheitliche demo- bestimmung zu, wenn und soweit kratische Grundordnung – eine sie im überwiegenden Allgemein- unverzichtbare Grundlage des demo- interesse erfolgen.50 Die kollektiv kratischen Verfassungsstaates.45 Des- ausgestalteten Schutzgüter des Ver- wegen ist Datenschutz eine staatliche fassungsschutzes (freiheitliche demo- Aufgabe von Verfassungsrang, kratische Grundordnung, Bestand ebenso wie das subjektive Abwehr- und Sicherheit des Bundes und der recht gegen Beeinträchtigungen in Länder, § 1 LVSG) sind derartige Gestalt jedweder Datenverarbeitung hochwertige Rechtfertigungsgründe seine Grundlage unmittelbar in der und prinzipiell geeignet, einen Ein- Verfassung findet. Mit anderen Wor- griff zu legitimieren. ten: Der Staat ist objektiv verpflich- tet, vor allem durch Gestaltung von Hierbei sind jedoch zwei essentielle Verfahren und Organisation der Bedingungen zu erfüllen: Eingriffe Datenverarbeitung den Schutz perso- bedürfen stets einer gesetzlichen Er- nenbezogener Daten zu gewährleis- mächtigungsgrundlage (Vorbehalt ten.46 Gleichzeitig ermächtigt das des Gesetzes).51 Das heißt im Um- Recht auf informationelle Selbstbe- kehrschluss: Beim Umgang mit stimmung den Grundrechtsträger47, personenbezogenen Daten ist alles

45 BVerfGE 65, 1 (43). 46 BVerfGE 65, 1 (44, 46). 47 Dies sind alle natürlichen, lebenden Personen, vgl. BVerfGE 53, 185 (304); BVerfGE 30, 173 (194). Auch juristische Per- sonen können sich auf dieses Recht berufen, wobei es hier maßgeblich auf die Bedeutung der betroffenen Informati- onen für den grundrechtlich geschützten Tätigkeitsbereich der juristischen Person ankommt, Art. 19 Abs.3 GG. Vgl. dazu BVerfGE 118, 168 (204); Helge Sodan, in: ders., Grundgesetz, 2009, Art. 2, Rdnr. 9. 48 Erste zentrale Aussage des Volkszählungsurteils, BVerfGE 65, 1, Leitsatz1; vgl. auch Sodan, in: ders., Art. 2, Rdnr. 6 m.w.N. 49 Siehe zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung nochmals grundlegend BVerfGE 65, 1 (43). Mit den speziel- len Garantien aus Art. 10 Abs.1 und Art. 13 Abs.1 GG und dem seit BVerfGE 120, 274ff. (»Online-Durchsuchung«) gel- tenden Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme sowie den Rechten am eigenen Wort und Bild und dem Anspruch auf Schutz der Privatsphäre vervollständigt sich der um- fassende verfassungsrechtliche Schutz der Persönlichkeit. 50 BVerfGE 65, 1 (44). 51 Dies ist eine zweite zentrale Aussage des Volkszählungsurteils, BVerfGE 65, 1, Leitsatz 2; Sodan, in: ders., Art. 2, Rdnr. 12. – Statt auf eine gesetzliche Eingriffsermächtigung kann ein Eingriff auch auf die konkret erklärte Einwilli- gung des Betroffenen gestützt werden (Einwilligungsvorbehalt). 80 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS verboten, was ein verfassungskonfor- 2. (Weitere) einfachgesetzliche mes, parlamentarisch beschlossenes Ausgestaltung Gesetz nicht ausdrücklich erlaubt (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Die genannten Vorgaben bestimmen Zweitens muss jeder Eingriff verhält- als allgemeine Rechtsgrundsätze den nismäßig sein. Er muss also dem Umgang mit Personendaten beim gesetzlichen Zweck des Verfassungs- Verfassungsschutz und ziehen sich schutzes dienen, für die Aufgaben- wie ein roter Faden durch den Geset- erfüllung geeignet und erforderlich zestext des LVSG. Dieses für das LfV sowie angesichts der sich gegenüber- zentrale Gesetz54 bestimmt die stehenden Rechtsgüter angemessen Grundlagen der Verarbeitung perso- sein. nenbezogener Daten, wie schon gezeigt, in den §§ 5 i. V. m. 3 und 4 Schließlich muss das jeweilige Gesetz LVSG. Einzelne Verarbeitungs- so formuliert sein, dass sich für den schritte (Speichern, Löschen, Über- Betroffenen (und die Behörde) klar mitteln usw.) sind jeweils in spe- ergibt, was Voraussetzung für einen ziellen Normen geregelt. – Einige Eingriff in seine Rechte ist (Gebot der Beispiele: Normklarheit).52 Auch dem juristi- schen Laien muss es möglich sein, den Die§§5aund6LVSGbefassensich Normgehalt zu erfassen. In der mit besonderen Erhebungsmetho- Gesetzgebung tauchen bisweilen den, insbesondere der Datenerhe- Rechtsgrundlagen auf, die dem bung mit nachrichtendienstlichen Gebot der Normenklarheit eher un- Mitteln (§ 6 LVSG). Bemerkenswert zureichend gerecht werden.53 Aus da- ist hierbei der Unterschied zwischen tenschutzrechtlicher Sicht muss in den rechtlichen Voraussetzungen der solchen Fällen gelten, dass die Norm Informationsbeschaffung gemäß § 5a verfassungskonform auszulegen ist LVSG (bei Unternehmen der Fi- und bei fortbestehender Unsicherheit nanzwirtschaft und des Transportge- ein Grundrechtseingriff zu unterblei- werbes sowie bei Post- und Tele- ben hat. kommunikationsdienstleistern über Kontonummern, Fluggastdaten bzw.

52 BVerfGE 65, 1 (44). 53 Vgl. etwa die schwer verständliche Norm des § 3a G10. Auch der Normtext in § 6 Abs.3 bis 6 LVSG ist insofern kein Musterbeispiel. Insbesondere bei der Normierung technischer Tatbestände führt das Bemühen des Gesetzgebers um größtmögliche Bestimmtheit zu »Mammut-Normen«, vgl. etwa die bereits erwähnten § 20k BKAG und Art. 34d BayPAG. 54 Neben dem LVSG gibt es relevantes Recht aber auch in zahlreichen anderen Gesetzen. An erster Stelle sind zu nen- nen das BVerfSchG und das G 10. MICHAEL ZÜGEL 81

Telekommunikationsverbindungsda- der Einsatz dieser sowie weiterer ge- ten usw.) und der Informationsbe- setzlich nicht näher definierter nach- schaffung mit nachrichtendienstli- richtendienstlicher Mittel seit jeher chen Mitteln gemäß § 6 LVSG. Im ein wesentlicher Bestandteil der ersten Fall ist ein Auskunftsersuchen Tätigkeit und gleichsam eine uner- an die genannten Stellen nur für die lässliche Arbeitsvoraussetzung des Beobachtungsobjekte nach § 3 Abs.2 Verfassungsschutzes als geheimer Satz1Nr.2bis4LVSGzulässig,nicht Nachrichtendienst ist.56 jedoch bei den »einfachen« Bestre- bungen (ohne Gewaltbezug) gegen Die §§ 7, 8 und 14 LVSG regeln die die freiheitliche demokratische amtsinterne Datenverarbeitung, na- Grundordnung nach § 3 Abs.2 Satz 1 mentlich die Speicherung, Verände- Nr.1 Var. 1 LVSG.55 Zum Zweiten rung und Nutzung (§ 7) sowie Be- sind die rechtlichen Voraussetzungen richtigung, Löschung und Sperrung u.a. durch die Bezugnahme auf die personenbezogener Daten (§ 8). Vorschriften des G 10 (enger Strafta- Diese Vorschriften sind weitgehend tenkatalog, Einbindung des Innenmi- aus sich heraus verständlich. Sie wer- nisteriums, Zustimmungspflicht der den mittels Dienstvorschriften (zum G 10-Kommission) hoch. Diese ho- Beispiel konkrete Speichervorausset- hen Hürden und der vergleichsweise zungen) konkretisiert. Nicht überse- hohe bürokratische Aufwand lassen henwerdendarfbeiderArbeitmit die genannten Befugnisse als wenig diesen Normen die Differenzierung praxistauglich erscheinen. Auf der nach der Speicherung in Akten oder anderen Seite gelten für den Einsatz Dateien.57 Die Verfassungsschutzge- nachrichtendienstlicher Mittel (zum setze des Bundes und der Länder wei- Beispiel V-Leute, Observation, heim- sen hierzu relevante Regelungsunter- liches Fotografieren und dergleichen, schiede auf. vgl. § 6 Abs.1 LVSG) und damit Ein- griffe in das allgemeine Persönlich- Im Grundsatz gilt für Speicherungen keitsrecht vergleichsweise geringe in Dateien eine Höchstspeicherfrist Voraussetzungen. Sie sind vor allem von 10 bzw. 15 Jahren; ausgenommen geknüpft an eine sehr strenge Gel- hiervon ist der Bereich der Spionage- tung des Verhältnismäßigkeitsgrund- abwehr (vgl. § 14 Abs.3 Satz 2 satzes, § 6 Abs.5 LVSG. Angesichts LVSG). Ob eine Löschung erfolgen der Eingriffsintensität, die etwa eine muss, ist bei jeder Befassung mit dem längere Observation haben kann, ist betroffenen Datensatz, ggf. nach dies vor allem damit zu erklären, dass amtsintern festgelegten Wiedervorla-

55 Vgl. dazu die etwas weitere Rechtsgrundlage in § 8a Abs.2 BVerfSchG. 56 Vgl. Borgs-Maciejewski/Ebert, Das Recht der Geheimdienste, 1986, Rn. 157ff. sowie Eike Gurlit, Verfassungsrechtli- che Rahmenbedingungen des Datenschutzes, NJW 2010, 1035–1041 (1041); vgl. BVerfGE 112, 304 (316 f.) im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot. – Vgl. zum Vorstehenden die Änderungsvorschläge hinsichtlich der Kontrolle bei Hans- Jürgen Förster, Zwischenruf – Verfassungsschutz vor Gericht, in: ZRP 2012, 123 f. (123). 57 Definitionen dieser Begriffe enthält § 3 Abs.9 und 10 LDSG. 82 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS gefristen, spätestens aber fünf Jahre für die Informationsbeschaffung dar. nach der letzten (Zu-)Speicherung zu Eine hierauf gestützte Speicherung prüfen (§ 14 Abs.3 Satz 1 LVSG).58 personenbezogener Daten bedeutet Für Akten sind die Regeln einfacher: keineswegs, dass der Betroffene ver- Es gibt keine im Gesetz definierten fassungsfeindlicher Bestrebungen Prüffristen; eine Vernichtungspflicht verdächtig ist. Vielmehr können auf- besteht gem. § 14 Abs.4 Satz 5 LVSG grund dieser Norm zum Beispiel er- nur, wenn (alle) in der Akte enthalte- forderliche Daten über V-Leute oder nen personenbezogenen Daten für Informanten gespeichert werden. § 7 die Aufgabenerfüllung nicht mehr er- Abs.1Nr.3LVSGbetrifftdiehier forderlich sind. Da beim Landesamt nicht behandelten Mitwirkungsauf- grundsätzlich nur Sachakten zu Be- gaben. obachtungsobjekten geführt werden – also Akten, die regelmäßig Daten §§ 9, 10 und 11 LVSG behandeln den mehrerer Personen enthalten –, exis- Komplex der Datenübermittlung an tieren in Gestalt der Sperrung bzw. Dritte bzw. von Dritten an das LfV.60 Kennzeichnung Methoden, um eine Die Übermittlung personenbezoge- Nutzung einzelner, nicht mehr erfor- ner Daten des Verfassungsschutzes an derlicher bzw. unrichtiger Personen- Dritte ist in § 10 LVSG, der hier ex- daten zu verhindern (siehe dazu im emplarisch betrachtet werden soll, Einzelnen § 14 Abs.1 und Abs.4 restriktiv geregelt. Eine vom Erfor- LVSG ). derlichkeitsgrundsatz beschränkte Übermittlungspflicht in Richtung Aufgrund ihrer Praxisrelevanz ist die Strafverfolgungsorgane kennt das Differenzierung in § 7 Abs.1 LVSG LVSG gem. § 10 Abs.2 LVSG nur zu erwähnen,59 welche drei Fallgrup- zum Zwecke der Verhinderung oder pen nennt: Nr.1 der Norm betrifft Verfolgung schwerer bzw. staats- vor allem die Speicherung im Bereich schutzrelevanter Straftaten. Zu be- der Datenauswertung, also Fälle fest- rücksichtigensindaberstetsÜber- gestellter tatsächlicher Anhalts- mittlungsvorschriften in anderen punkte für Bestrebungen oder Tätig- Gesetzen,61 die vorrangige Regeln keiten nach § 3 Abs.2 LVSG. Nr.2 statuieren können.62 stellt primär eine Speicherungsregel

58 Für Minderjährige ist § 8 LVSG mit einschränkenden Sonderregeln zu beachten. 59 Zum Folgenden vgl. Droste, S.425 ff.; Rosenauer, Datenschutz beim Verfassungsschutz in Baden-Württemberg, 1998, S.78 ff. 60 Zum letztgenannten Fall siehe Monika Rose-Stahl, Recht der Nachrichtendienste, 2.Auflage 2006, S.111ff.; Reinhard Riegel, Datenschutz bei den Nachrichtendiensten, in: Alexander Rossnagel (Hrsg.), Handbuch Datenschutzrecht – die neuen Grundlagen für Wirtschaft und Verwaltung, 2003, S.1504 ff. 61 Zum Beispiel nach § 138 StGB, §§ 161 Abs.1, 163 Abs.1 Satz2 StPO, § 4 Abs.4 G10 und nach BVerfSchG, dort nament- lich §§ 5, 6 und 21. Diese regeln die Übermittlung an andere Verfassungsschutzbehörden sowie an Sicherheitsbehör- den des Bundes, siehe noch unten. 62 Teilweise ergeben sich hier Normwidersprüche. Z.B. ergibt sich aus § 87 Abs.1 AufenthG eine Übermittlungspflicht zulasten des LfV, wohingegen § 10 Abs.1 LVSG dem LfV ein gebundenes Ermessen zubilligt. Das Vorrangverhältnis ist im Wege der juristischen Auslegung zu ermitteln. MICHAEL ZÜGEL 83

Bei den Ermessensübermittlungen, laubt. In allen Fällen des § 10 LVSG die ebenfalls vom Grundsatz der Er- sind zudem die Übermittlungsver- forderlichkeit geleitet und begrenzt bote des § 11 LVSG zu beachten, werden (siehe § 10 Abs.1, 3, 4 Satz 2 welche neben Geheimhaltungsbelan- und Abs.5 LVSG), lässt sich nach gen auch schutzwürdige Belange des zwei Empfängergruppen differenzie- Betroffenen zu Abwägungsposten er- ren.63 An Behörden und juristische heben; meist geht es hier um den Personen des öffentlichen Rechts, an Quellenschutz. Eine erfolgte Über- Gerichte und Strafverfolgungsbehör- mittlung ist dem Betroffenen mitzu- den dürfen gem. § 10 Abs.1 LVSG teilen, § 10 Abs.4 Satz 9, 10 LVSG. Personendaten übermittelt werden zum Zwecke der eigenen Ermitt- § 10LVSGleistetdurchseinerestrikti- lungstätigkeit des LfV oder wenn der ven Übermittlungsregeln einen Bei- Empfänger die Daten zum Schutz trag zum Schutz der informationellen der freiheitlichen demokratischen Selbstbestimmung, zum datenschutz- Grundordnung oder sonst für rechtlichen Organisationsprinzip der Zwecke der öffentlichen Sicherheit informationellen Gewaltenteilung65 einschließlich der Strafverfolgung be- und insbesondere auch zum sicher- nötigt. An private Dritte ist eine heitsrechtlichenTrennungsgebot,ins- Übermittlung gem. § 10 Abs.4 LVSG besondere gegenüber der Polizei, §§ 2 nur in wenigen Ausnahmefällen Abs.3, 5 Abs.3 LVSG.66 Außerdem zulässig, nämlich wenn dies für die ist er Konkretisierung und Ausfluss eigene Datenerhebung des LfV unab- des Zweckbindungsgebots. Das LfV dingbar ist und schutzwürdige Inte- ist keine »Personenüberprüfungsbe- ressen des Übermittlungsbetroffenen hörde«; sein Arbeitsansatz ist nicht nicht überwiegen oder zum Schutz personen-, sondern grundsätzlich ob- der freiheitlichen demokratischen jektbezogen.67 Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Spezielle Regeln gelten für den Da- Landes sowie zum Schutz kritischer tenaustausch innerhalb des Verfas- Infrastruktur.64 Zum Teil ist eine sungsschutzverbundes, der vor dem Übermittlung nur mit vorheriger Zu- Hintergrund der Zusammenarbeits- stimmung des Innenministers er- pflicht zwischen Bund und Ländern

63 Zu beachten ist der Sonderfall der Übermittlung an Stationierungsstreitkräfte gem. § 10 Abs.3 LVSG. 64 Siehe im Einzelnen § 10 Abs.4 bis 10 LVSG sowie die Legaldefinitionen in § 1 Abs.3 und 4 LSÜG. 65 Riegel, S.1502; Bull, S.107f. 66 Vgl. zum Trennungsgebot Reinhard Klee, Neue Instrumente der Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiens- ten, 2010; Christoph Gusy, Trennungsgebot: tatsächliches oder vermeintliches Hindernis für effektive Maßnahmen des internationalen Terrorismus, in: Martin H. W. Möllers/Robert Christian van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2008/2009, S.177–189. Michael Ronellenfitsch, Abschied vom Trennungsgebot, in: Landesamt für Verfas- sungsschutz Hessen (Hrsg.), Verfassungsschutz in der freiheitlichen Demokratie – 60 Jahre Landesamt für Verfas- sungsschutz Hessen, 2011, S.71–94. 67 AufdieEntwicklunghinzueinermehrpersonenscharfenBeobachtungimBereichderTerrorismusbekämpfungwurde bereits hingewiesen. 84 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS zu sehen ist (§ 1 Abs.2 BVerfSchG).68 len gewaltgeneigter Bestrebungen Hierzu schreiben §§ 5 und 6 (§ 3 Abs.1 Nr.1 bis 4 BVerfSchG) die BVerfSchG das Wesentliche vor. Ge- befristete Führung projektbezogener mäß § 6 BVerfSchG gilt die Verpflich- gemeinsamer Dateien möglich, an de- tung zur gegenseitigen Unterrich- nen auch Behörden außerhalb des tung bzw. die Führung gemeinsamer Verfassungsschutzverbundes teilneh- Dateien im Verfassungsschutzver- men können (Militärischer Ab- bund. Das sogenannte NADIS69 ist schirmdienst, Bundesnachrichten- gemäß der gesetzlichen Vorgaben als dienst, Polizeibehörden des Bundes reine Aktenhinweisdatei konzipiert, und der Länder, Zollkriminalamt). § 6 Satz2 BVerfSchG: Die Aktenhin- weise »enthalten nur die Daten, die Es ergeben sich bei derartigen ge- zum Auffinden von Akten und der meinsamen Dateien grundsätzliche dazu notwendigen Identifizierung Datenschutzfragen, insbesondere von Personen erforderlich sind«,be- hinsichtlich des informationellen ziehen sich also auf die in einzelnen Trennungsgebots, des Rechts auf in- Landesämtern und beim Bundesamt formationelle Selbstbestimmung und vorgehaltenen Akten. Lediglich § 6 des Bestimmtheitsgebots.70 In die- Satz8 BVerfSchG erlaubt derzeit eine sem Kontext ist auch die zur Be- Volldatei mit Text- und multimedia- kämpfung des internationalen Terro- len Inhalten »für eng umgrenzte An- rismus geschaffene Antiterrordatei71 wendungsgebiete zur Aufklärung zu sehen, ebenso die derzeit in der von sicherheitsgefährdenden oder ge- Gesetzgebungsphase befindliche und heimdienstlichen Tätigkeiten für eine ähnlich konzipierte »Rechtsextre- fremde Macht oder von Bestrebun- mismusdatei«, welche im Zusam- gen, die darauf gerichtet sind, Gewalt menhang mit der Aufdeckung des anzuwenden oder Gewaltanwen- NSU und dem seither verfolgten dung vorzubereiten.« Ziel zu sehen ist, angesichts der Be- drohung durch den Rechtsextremis- Eine besondere Regel findet sich in mus den Informationsaustausch § 22a BVerfSchG. Danach ist in Fäl- zwischen Polizeien und Nachrich-

68 Siehe zum Nachfolgenden auch Droste, S.65 ff. 69 NADIS steht für »Nachrichtendienstliches Informationssystem«. Siehe zur bevorstehenden Implementierung eines neuen »NADIS-WN« als modernes Wissensmanagementsystem: Der hessische Datenschutzbeauftragte, 39. Tätig- keitsbericht 2010, S.45ff. 70 Vgl. Clemens Arzt, Verbunddateien des Bundeskriminalamts – Zeitgerechte Flurbereinigung, NJW 2011, 352–354 (352); Markus Thiel, Die »Entgrenzung« der Gefahrenabwehr, Grundfragen von Freiheit und Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung, 2011, S.390 f. m. w. N.; Julia Stubenrauch, Gemeinsame Verbunddateien von Polizei und Nach- richtendiensten, 2009. 71 Gesetz zur Errichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiens- ten von Bund und Ländern (Antiterrordateigesetz – ATDG). Siehe dazu Thiel, S.394 ff. MICHAEL ZÜGEL 85 tendiensten weiter zu verbessern.72 Die mit einer Nennung regelmäßig Auch für den Bereich des »Gemein- eintretende Stigmatisierungswirkung samen Terrorabwehrzentrums«73 von kann je nach Fallgestaltung zu Polizei, Nachrichtendiensten und an- schwerwiegenden Eingriffen in das deren Sicherheitsbehörden sowie Recht auf informationelle Selbstbe- ähnlichen Lage- und Auswertezen- stimmung, also das Persönlichkeits- tren und -gruppen stellen sich Fragen recht des Betroffenen, führen. Durch insbesondere des informationellen eine solche Nennung verlassen die Trennungsgebots. Aufgrund der Dif- Daten unwiderruflich die Sphäre des ferenziertheit der Aufgaben und Ver- Staates und werden einer unbegrenz- fahrensweisen der dortigen Arbeit ten Anzahl Dritter bekannt. Im erscheint eine allgemeine rechtliche Gegensatz dazu werden rein interne Bewertung derartiger Kooperations- Datenspeicherungen nur vergleichs- formen nicht möglich, obschon zu- weise wenigen, zur Verschwiegenheit mindest grundlegende Einwände verpflichteten Personen bekannt, und nicht bestehen, da die (organisatori- sie werden gelöscht, wenn sie sich als sche) Trennung von Polizei und falsch, zeitlich überholt oder aus an- Nachrichtendiensten unbeeinträch- deren Gründen für die Aufgaben- tigt bleibt.74 erfüllung nicht mehr erforderlich herausstellen. Die Nennung von per- sonenbezogenen Daten im Verfas- 3. Personenbezogene Daten und sungsschutzbericht darf somit nur Öffentlichkeit: nach sorgfältiger datenschutzrechtli- § 12 LVSG und § 4 LPresseG cher Prüfung erfolgen. Erlaubt ist sie gemäß § 12 LVSG dann, wenn deren Heikel vor dem Hintergrund des Mitteilung »für das Verständnis des Rechts auf informationelle Selbstbe- Zusammenhangs oder der Darstellung stimmung ist die aktive Nennung von von Organisationen oder unorganisier- Verfassungsschutzerkenntnissen zu ten Gruppierungen erforderlich ist und einzelnen Personen gegenüber der die Informationsinteressen der Allge- Öffentlichkeit, insbesondere im jähr- meinheit das schutzwürdige Interesse lichen Verfassungsschutzbericht.75 des Betroffenen überwiegen«.

72 Deutscher Bundestag, Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus, Drucksa- che 17/8672 vom 13.Februar 2012. – Die Länder in Gestalt des Bundesrats haben in ihrer Stellungnahme zum Gesetz- entwurf unter Verweis auf die mit NADIS-neu bzw. NADIS-WN angestrebte Erweiterung des nachrichtendienstlichen Verbundsystems zu einem auch Text- und multimediale Dateien enthaltenden Wissensmanagement für eine weiter- gehende Änderung des insoweit relevanten § 6 BVerfSchG plädiert. Demgemäß solle die Beschränkung von NADIS auf eine Aktenhinweisdatei insgesamt aufgegeben werden, um eine phänomenübergreifende Erkennung von extre- mistischen bzw. terroristischen Netzwerkstrukturen zu ermöglichen. Die Bundesregierung ist diesem Vorschlag in ih- rer Gegenäußerung entgegengetreten. Siehe Bundestagsdrucksache 17/8990 vom 14. März 2012. 73 Das GTAZ dient seit 2004 der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung des islamistischen Terro- rismus. 74 So Thiel, S.391; ausführlich Niclas-Frederic Weisser, Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) – Rechts- probleme, Rechtsform und Rechtsgrundlage, NVwZ 2011, 142–146. 75 Grundlegend hierzu, insbesondere zu Nennung extremistischer Bestrebungen im Verfassungsschutzbericht, BVerfGE 113, 63 (»Junge Freiheit«, 2005). 86 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS

In der Berichtspraxis zeigt sich, dass privates Interesse verletzt würde78. auf eine konkrete Nennung der Iden- Erforderlich ist eine Abwägungsent- tität von Einzelpersonen in den weit- scheidung. Auf der einen Seite stellt aus meisten Fällen verzichtet werden die Nennung von personenbezoge- kann, wobei die Personalien wichti- nen Daten gegenüber der Presse ei- ger Funktionäre oftmals schon öf- nenEingriffindasRechtaufinfor- fentlich bekannt bzw. zugänglich mationelle Selbstbestimmung dar; im sind.76 Die bezweckte Unterrichtung Falle einer fehlerhaften Auskunft ist der Öffentlichkeit wird jedenfalls re- eine spätere Korrektur kaum noch gelmäßig durch die Mitteilung von möglich. § 4 LPresseG andererseits sachbezogenen Informationen zu er- weistlautBGH»engeBezügenicht reichen sein.77 FallsesfürdasVer- nur zur Pressefreiheit des Art. 5 Abs.1 ständnis erforderlich ist, kann oft mit Satz 2 GG, sondern auch zur Infor- einer anonymisierten oder pseudo- mationsfreiheit des Art. 5 Abs.1 Satz1 nymisierten Nennung ausreichende GG und zu Art. 20 Abs.2 Satz 1 GG Verständlichkeit hergestellt werden. auf«, da der Informationsanspruch Fälle, in denen die Nennung weiterer der Presse und ihre Informationstä- Personendaten erforderlich ist, sind tigkeit gegenüber der Öffentlichkeit selten. Rechtlich entscheidend ist ne- der demokratischen Meinungs- und ben dem Tatbestand des § 12 Satz 2 Willensbildung diene.79 Hieran muss LVSG auch hier die Abwägung im sich die Auslegung des § 4 Abs.1 Range der Verhältnismäßigkeitsprü- LPresseG orientieren. Stets kommt es fung. dabei auf die genaue Befassung mit der Sach- und Rechtslage im Einzel- Für Auskünfte an die Presse gilt § 4 fall an. Orientierungshilfe liefert der LPresseG. § 4 Abs.2 Nr.3 LPresseG Rechtsgedanke des § 12 LVSG. Für schreibt vor, dass Auskünfte verwei- die Praxis gilt dementsprechend, dass gert werden können, wenn durch die sachbezogene Erkenntnisse das be- Auskunftserteilung ein überwiegen- rechtigte Informationsinteresse von des öffentliches oder schutzwürdiges Presse und Öffentlichkeit in der Re-

76 Zu beachten ist hierbei, dass die Pflicht, personenbezogene Daten zu schützen, nicht von vornherein entfällt, wenn oder soweit die Daten des Betroffenen bereits in den Medien veröffentlicht wurden. Denn es ist ein Unterschied, ob etwa eine Zeitung den Vorwurf des Extremismus erhebt oder ob dies amtlich durch eine Verfassungsschutzbehörde erfolgt. So entfällt etwa der bußgeldbewehrte Verstoß der unbefugten Datenweitergabe gem. § 40 LDSG grundsätz- lich erst dann, wenn die personenbezogenen Daten »offenkundig« sind. Siehe dazu noch unten. 77 Droste, S.457. 78 Dies entspricht dem Rechtsgedanken der Übermittlungsverbote des § 11 LVSG. 79 BGH, Urt. v. 10.Februar 2005, Az.IIIZR 294/04, S.5 (juris, Rn.10); vgl. im Hinblick auf die erforderliche Abwägungsent- scheidung jüngst etwa BVerfG (Kammer), Beschl. v.25. Januar 2012, Az.1 BvR 2499/09 u. 1BvR2503/09, NJW 2012, 1500ff. MICHAEL ZÜGEL 87 gel befriedigen und praktische Kon- stützt die Behörde in allen Angele- kordanz somit erzielt werden kann.80 genheiten des Datenschutzes. Hierzu zählen vor allem die Wacht über die Einhaltung der Datenschutzvor- V. Datenschutzrechtliche schriften aus LVSG und LDSG, des Kontrolle Weiteren die datenschutzrechtliche Kontrolle von Verfahren, mit denen Die Komplexität der rechtlichen Vor- personenbezogene Daten verarbeitet gaben, die es bei der Verarbeitung werden oder etwa die Überwachung personenbezogener Daten durch das der Beachtung gesetzlicher Doku- LfV zu beachten gilt, gebietet eine in- mentations- und Protokollierungs- stitutionell differenzierte Kontrolle. pflichten (zum Beispiel § 9 Abs.4 Deren Funktionieren spielt für die Satz 4 LVSG). Zudem ist der Daten- Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates schutzbeauftragte für die Beantwor- und für die des LfV eine herausra- tung von Auskunftsersuchen nach gende Rolle. Die datenschutzrechtli- § 13 LVSG zuständig81. Schließlich che Kontrolle des LfV ist im Wesent- arbeitet er in Fragen der technischen lichen wie folgt ausgestaltet. Datensicherheit mit, wobei in diesem Bereich die beim LfV naturgemäß in- tensiven Maßnahmen des techni- 1. Eigenkontrolle durch den schen Geheimschutzes viele daten- behördlichen Datenschutzbe- schutzrechtliche Anforderungen auftragten quasi miterledigen.

Die Funktion des behördlichen Da- Über die Wahrnehmung dieser Auf- tenschutzbeauftragten wird im LfV gaben hinaus ist die Realisierung ei- ausschließlich von Juristen mit der nes präventiven Datenschutzes eine Befähigung zum Richteramt wahrge- bedeutsame Aufgabe des behördli- nommen. Entsprechend der Vorgabe chen Datenschutzbeauftragten des des § 10 LDSG ist der behördliche LfV. Hierzu gehört die Etablierung Datenschutzbeauftragte direkt der und Fortentwicklung eines daten- Behördenleitung unterstellt. Bei der schutzrechtlichen »Code of Con- Erfüllung seiner Aufgaben ist er duct«82. In einer Behörde, in der der weisungsfrei; er darf deswegen nicht Großteil der Beschäftigten täglich benachteiligt werden. Der Daten- mit der Verarbeitung sensibler perso- schutzbeauftragte des LfV unter- nenbezogener Daten befasst ist und

80 Anfragen der seriösen Presse richten sich in der Praxis vergleichsweise selten konkret auf Personendaten. Tun sie es doch, so betreffen sie meist Fälle von tagesaktueller, oft regionaler Bedeutung oder Fälle, in denen einzelnen Per- sonen im Zusammenhang mit besonderen Ereignissen in Erscheinung getreten sind, wie z.B. im Bereich des inter- nationalen islamistischen Terrorismus (Anschlagsdrohung und dergleichen). Hier stehen einer Nennung allerdings oftmals bereits nachrichtendienstliche bzw. ermittlungstaktische Geheimhaltungsbedürfnisse entgegen (§ 4 Abs.2 Nr.1 und 2 LPresseG). 81 Siehe dazu unten. 82 Vgl. dazu Tinnefeld/Ehmann/Gerling, Einführung in das Datenschutzrecht, 4. Auflage 2005, S.74 f. 88 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS eine lückenlose, einzelfallbezogene Behörde […] und unter Aufsicht eines Datenschutzkontrolle sich praktisch Bediensteten vorzunehmen [ist],der nicht durchführen lässt, ist es not- die Befähigung zum Richteramt hat.« wendig, die Beschäftigten mit »den Hierunter fallen insbesondere der besonderen Erfordernissen des Da- Schutz aller im Zuge der Maßnahme tenschutzes in ihrem Tätigkeitsbe- erhobenen personenbezogenen Da- reich vertraut zu machen«,wiees§10 ten, vor allem die Sicherstellung des Abs.4 Satz 2 Nr.2 LDSG verlangt. Kernbereichsschutzes des/der Be- Dies kann im Wege von Schulungen troffenen sowie der Schutz zeugnis- und Fortbildungen erfolgen. Ebenso verweigerungsberechtigter Personen wichtig für die Beschäftigten ist eine (§§ 3a, 3b G 10), die Einhaltung der »open door policy« in Datenschutz- verkürzten Speicherfristen, die fragen.InbeidenFällenistdasZiel Durchführung der Löschung nicht die Stärkung des »Datenschutz-Be- (mehr) erforderlicher Daten und die wusstseins«. Auf diesem Wege kann Handhabung der Wahrnehmung der präventiver Datenschutz in der Pra- stark eingeschränkten Übermitt- xis effizient und effektiv umgesetzt lungsbefugnisse (§ 4 G10). Denn ge- werden. rade in diesem hochsensiblen Bereich nachrichtendienstlicher Datenerhe- bung gilt in besonderem Maße, dass 2. Datenschutz bei Beschrän- personenbezogene Daten nur verar- kung des Brief-, Post- und beitet werden dürfen, soweit sie dem Fernmeldegeheimnisses Zweck der Maßnahme dienen, erfor- derlich sind und ihre Verarbeitung Das Grundrecht des Art. 10 GG durchgehend den Anforderungen des schützt Inhalt und Umstände der Verhältnismäßigkeitsgebots gerecht Kommunikation.83 Auf Antrag des wird. Um dies sicherzustellen, erfolgt LfV und Anordnung des Innenminis- die Kontrolle unmittelbar nach Erhe- ters sowie mit vorheriger Zustim- bung der Daten und stets vor einer mung der vom Landtag bestimmten, Kenntnisnahme der Daten durch den unabhängigen G10-Kommission Sachbearbeiter des betroffenen Auf- (§§15Abs.1G10,2Abs.5G10-Aus- gabengebiets; dieser erhält aus- führungsgesetz) darf in dieses Grund- schließlich Daten vorgelegt, die die recht eingegriffen werden, indem der Rechtsprüfung durchlaufen haben. Postverkehr und die Telekommuni- Im LfV wird diese Aufsichtstätigkeit kation einer Person überwacht wer- durch dieselben Beamten mit der den. Für diese G10-Beschränkungs- Befähigungzum Richteramt durchge- maßnahmen schreibt § 11 Abs.1 G10 führt, die auch Aufgaben des be- vor, dass die »aus der Anordnung sich hördlichen Datenschutzbeauftragten ergebenden Beschränkungsmaßnah- wahrnehmen. Auf diese Weise wird men […] unter Verantwortung der eine konsistente Aufgabenwahrneh-

83 Vgl. BVerfGE 100, 313. MICHAEL ZÜGEL 89 mung in Sachen Datenschutz ermög- Die Bedeutung resultiert unbescha- licht. det der bei einem Nachrichtendienst zwangsläufig eingeschränkten Aus- Die externe Kontrolle der Beschrän- kunftsmöglichkeiten daraus, dass die kungsmaßnahmen wird dabei von Bescheidung des Auskunftsersu- der G 10-Kommision wahrgenom- chens einen widerspruchsfähigen men.84 Diese prüft (im Anschluss an Verwaltungsakt darstellt. Dies er- die juristische Prüfung im LfV selbst möglicht neben der innerbehördli- sowie im Innenministerium) nicht chen Rechtskontrolle im Zuge des nur die Zulässigkeit und Notwendig- Widerspruchsverfahrens die Be- keit der beantragten Maßnahme, son- schreitung des Rechtswegs zu den dern nimmt auch die Aufgabe der Verwaltungsgerichten. Überdies ist Datenschutzkontrolle wahr, §§ 15 diesbezüglich die Einschaltung des Abs.5 G 10, § 2 Abs.4 G 10-Ausfüh- Landesbeauftragten für den Daten- rungsgesetz. Hierzu stehen ihr von schutz möglich.85 Auf diese Weise Gesetzes wegen jederzeitige Aus- kann Rechtsschutz durch den Betrof- kunfts-, Einsichts- und Betretungs- fenen aktiv bewirkt werden. rechte zu, außerdem kann sie den Landesbeauftragten für den Daten- Die Einschränkung der Auskunfts- schutz (LfD) hinzuziehen. Schließ- möglichkeit besteht zunächst darin, lich hat sie das letzte Wort, wenn es dass in Abweichung zu den allgemei- um die Mitteilung an den Betroffenen nen Regeln (§ 21 LDSG)86 bereits der über durchgeführte Beschränkungs- Antrag des Betroffenen einen kon- maßnahmen geht, § 12 Abs.1 Satz 3 kreten Sachverhalt nennen muss, des- G10. sentwegen Auskunft begehrt wird. Aufgrund der auch verdeckten Da- tenerhebung durch das LfV – der 3. Auskunftsersuchen des Betroffene mag nur vermuten, daten- Betroffenen mäßig erfasst zu sein – und angesichts des hinter dem Auskunftsanspruch Ein bedeutendes Element daten- stehenden Rechts auf informationelle schutzrechtlicher Kontrolle stellt die Selbstbestimmung87 dürfen die An- in § 13 LVSG normierte und als An- forderungen hieran nicht überspannt spruchsgrundlage formulierte Aus- werden.88 Erforderlich ist zweitens kunft an den Betroffenen über zu sei- die Darlegung eines »besonderen In- ner Person gespeicherte Daten dar. teresses«, das über das jedem Aus-

84 Siehe bereits oben. Der Kommissionsvorsitzende muss gem. § 15 Abs.1 Satz1 G10 die Befähigung zum Richteramt besitzen. 85 Auf diese Möglichkeit ist der Antragsteller im Falle einer Auskunftsverweigerung hinzuweisen, § 13 Abs.3 Satz 2 LVSG. 86 Es besteht im Übrigen kein Anspruch auf Information nach dem Informationsfreiheitsgesetz, siehe § 3 Nr.8 IFG. 87 BVerwG, NJW 2008, 580 (581). 88 BVerfG, NVwZ 2001, 185 (186) – dort auch näher zu Sinn und Zweck des weitgehend wortlautgleichen § 15 BVerfSchG; Scheffczyk/Wolff, Das Recht auf Auskunft gegenüber den Nachrichtendiensten, NVwZ 2008, 1316 (1317). 90 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS kunftsantrag innewohnende all- 4. Externe Kontrolle gemeine Auskunftsinteresse hinaus- geht. Eine begründungslose oder FürdieKontrollederArbeitdesLfV allgemeinplatzartig begründete An- sind mehrere Stellen berufen. Über tragstellung erfüllt diese Vorausset- die erwähnten hinaus seien genannt zungen nicht.89 das Innenministerium Baden-Würt- temberg als unmittelbar vorgesetzte Aber auch im Falle eines ausreichend Behörde und Inhaber der Rechts- begründeten Antrags bestehen gem. und Fachaufsicht, der Ständige Aus- § 13 Abs.2 LVSG Verweigerungs- schuss des Landtags als gemäß § 15 gründe, die eine Auskunftserteilung LVSG zuständige parlamentarische vollständig oder teilweise verhindern Kontrollinstanz, das aus fünf vom können. Die Verweigerungsgründe Landtag bestimmten Abgeordneten reichen vom Schutz einer Ausfor- bestehende G 10-Gremium (§ 2 schung des Erkenntnisstands oder Abs.1 G 10-Ausführungsgesetz) so- der Arbeitsweise des LfV über den wie die Gerichte des Landes. Als fak- Quellenschutz bis hin zum Schutz tische Kontrollinstanz ist auch die der berechtigten Geheimhaltungsin- Öffentlichkeit in Gestalt der Medien teressen Dritter.90 Auch bei der Prü- zu nennen92. fung der Verweigerungsgründe hat eine Abwägung mit dem grundrecht- Speziell für Fragen des Datenschutzes lich untermauerten Auskunftsan- ist der bereits erwähnte LfD zu nen- spruch zu erfolgen.91 Die Ablehnung nen, dem Kontroll- und Beanstan- der Auskunftserteilung bedarf keiner dungsbefugnisse zustehen (§§ 28 ff. Begründung, soweit der Zweck der LDSG). Er kann gemäß § 27 LDSG Auskunftsverweigerung gefährdet auch selbständig angerufen werden, würde(§13Abs.3Satz1LVSG), wobei sich das Begehr dann auf die muss aber aktenkundig gemacht wer- Rechtmäßigkeit der Verarbeitung der den. Eine Verpflichtung zur Aus- personenbezogenen Daten des An- kunft über die Herkunft der Daten, tragstellers beziehen (im Gegensatz die Empfänger von Übermittlungen zum inhaltsorientierten Auskunftser- und den Zweck der Speicherung be- suchen nach § 13 LVSG).93 Auf diese steht nicht, § 13 Abs.1 Satz 2 LVSG. WeisekannderBetroffene,demInfor- Für die Bearbeitung der Auskunftser- mationen aufgrund von Auskunfts- suchen ist im LfV der behördliche verweigerungsgründen gemäß § 13 Datenschutzbeauftragte zuständig. Abs.2 LVSG vorenthalten wurden, zumindest eine mittelbare Kontrolle

89 Vgl. Droste, S.603ff. Welche Umstände zu verlangen sind, um ein allgemeines Auskunftsinteresse zu einem »beson- deren« zu qualifizieren, ist in der juristischen Literatur umstritten, Andrea Franziska Rosenauer, S.160ff.; Scheffczyk/ Wolff, NVwZ 2008, 1316 (1317). Vgl. auch BVerwG, NJW 2008, 1398 (1399). 90 Näher (zu § 15 Abs.2 BVerfSchG): Scheffczyk/Wolff, NVwZ 2008, 1316 (1317 f.); Droste, S.608 f. 91 Vgl. BVerfG, NVwZ 2001, 185–187 (187); Scheffczyk/Wolff, NVwZ 2008, 1316 (1318) m. w. N. 92 Vgl. insoweit auch oben. 93 Rosenauer, S.173. MICHAEL ZÜGEL 91 bewirken. Eine Kontrolle des LfV delnden Beamten geht die Haftung durch den LfD findet regelmäßig auf diesen über, § 96 LBG. statt; relevante Datenschutzverstöße können beanstandet (§ 30 LDSG) und im zu veröffentlichenden Tätig- VI. Schlussbemerkung keitsbericht erwähnt werden (§ 31 Abs.2 LDSG). Da die Informations- Die vorstehenden Ausführungen ha- sammlung, sprich der Umgang mit ben gezeigt, dass die wichtige und an- personenbezogenen Daten, die Kern- spruchsvolle Aufgabe des Daten- tätigkeit des LfV ausmacht, kommt schutzes beim Verfassungsschutz dieser unabhängigen Kontrolle durch rechtlich umfassend ausgestaltet und den LfD ein hohes Gewicht zu. aufgabengerecht organisiert ist. Wer- den die gesetzlichen Vorgaben gewis- senhaft eingehalten und mit Hilfe des 5. Ordnungswidrigkeiten, Straf- innerbehördlichen Datenschutzes und Haftungsvorschriften als sowie der zur externen Kontrolle be- »repressive Kontrolle« rufenen Instanzen aktiv überwacht und kontrolliert, wird den berechtig- Einzelne Verstöße gegen Daten- ten Erwartung an den Schutz perso- schutzvorschriften können je nach nenbezogener Daten beim Verfas- Rechtsqualität als bußgeldbwehrte sungsschutz Genüge getan. Gerade Ordnungswidrigkeit oder als Straftat dieser Datenschutz und die Doku- (siehe vor allem § 203 Abs.2 StGB) mentation seiner aktiven Ausübung verfolgt und sanktioniert werden, ist dazu geeignet, einen Beitrag zur §§ 40 f. LDSG. Hinzu treten ggf. dis- Glaubwürdigkeit der Verfassungs- ziplinarische Maßnahmen. Praxisre- schutzbehörden zu leisten. levant ist insbesondere § 40 Abs.1 Nr.1 LDSG, wonach jede unbefugte Angesichts der fortschreitenden Verarbeitung personenbezogener Entwicklung der technischen Ermitt- Daten, welche nicht offenkundig94 lungsmethoden wie auch der Daten- sind, eine Ordnungswidrigkeit dar- verarbeitungs- und Vernetzungstech- stellt. § 25 LDSG sieht für den Fall nik – verwiesen sei zu letzterem nur vorwerfbarer Datenschutzverstöße auf die erwähnte Erweiterung des des LfV, die zu einem materiellen Verbundsystems NADIS von einem oder immateriellen Schaden des Be- reinen Aktenhinweissystem zu einem troffenen geführt haben, einen Scha- modernen Wissens- und Informa- densersatzanspruch vor. Bei Vorsatz tionsverwaltungssystem – ist der ad- oder grober Fahrlässigkeit des han- ministrative Datenschutz in seiner

94 Vgl. zum Bundesrecht (§ 43 BDSG); dort wurde das Prädikat »offenkundig« 2001 durch die treffendere Formulierung »allgemein zugänglich« ersetzt, Eugen Ehmann, in: Spiros Simitis (Hrsg.), Bundesdatenschutzgesetz, 7. Auflage 2011, § 43, Rdnr.54. 92 ZUR BEDEUTUNG DES DATENSCHUTZRECHTS

Kontrollfunktion gezwungen, mit Gewaltmonopol des Staates und seine diesen Entwicklungen Schritt zu hal- verfassungsrechtliche Pflicht, Sicher- ten. Dem traditionell juristisch ge- heit zu gewährleisten,97 gebieten prägten Verwaltungsbereich des Da- jedenfalls eine gewissenhafte Ausei- tenschutzes fällt es mitunter schwer, nandersetzung mit den rechtlichen, ohne technischen Beistand in diese technischen und sozialen Determi- Bereiche mit der notwendigen Präzi- nanten der verschiedenen Instru- sion vorzudringen. Daher erscheint mente. Die Abwägungsentscheidung eine entsprechende Professionalisie- im Spannungsverhältnis von Freiheit rung der Datenschützer wie auch der und Sicherheit obliegt dem Gesetzge- genannten Kontrollinstanzen vielver- ber. Maßstab ist nichts weniger als das sprechend. Grundgesetz.

Explizit rechtliches Entwicklungspo- Post Scriptum: Die Vertrauenskrise tenzial besteht neben einer Fortent- des Verfassungsschutzes hat sich seit wicklung des in die Jahre gekomme- der Fertigstellung und Abgabe dieses nen allgemeinen Datenschutzrechts95 Aufsatzes im Mai 2012 in unerfreuli- perspektivischdarin,derweiterwach- cher Weise vertieft. Die von den im senden Bedeutung des Internets und Text genannten Gremien – im Juli aller damit zusammenhängenden kam ein »NSU-Untersuchungsaus- Phänomene (»Ubiquitous Compu- schuss« des Bayerischen Landtags ting«)96 Rechnung zu tragen. Für den hinzu – zutage geförderten Anhalts- Verfassungsschutz bewirkt »Ubiqui- punkte für Versäumnisse mehrerer tous Computing« zwangsläufig eine Verfassungsschutzbehörden (aller- Verlagerungbzw.AusweitungderBe- dings auch einiger Polizeibehörden) obachtungsaktivitäten, will er seine haben ein noch vor wenigen Monaten gesetzlich zugewiesenen Aufgaben nicht zu erwartendes Ausmaß ange- sachgerecht erfüllen. Künftige Erwei- nommen. Es stehen weitreichende terungen der Datenerhebungsbefug- Maßnahmen des Gesetzgebers zur nisse, seien es Vorratsdatenspeiche- »Fehlerkorrektur« im Raum oder rung, Methoden der Quellen-TKÜ sind in Gestalt etwa der Rechtsextre- oder gar der Online-Durchsuchung, mismusdatei bereits umgesetzt. sind daher in Anbetracht der Aufga- ben des Verfassungsschutzes folge- In diesem Zusammenhang sei eine richtig. Eine andere Frage ist die der Anmerkung erlaubt: Mit qualitativen tatsächlichen rechtlichen Implemen- und quantitativen Ausweitungen des tierung einzelner Instrumente. Das Informationsaustauschs innerhalb

95 SiehehierzuDerLandesbeauftragtefürdenDatenschutzBaden-Württemberg(Hg.), KonferenzderDatenschutzbeauf- tragten des Bundes und der Länder: Ein modernes Datenschutzrecht für das 21.Jahrhundert – Eckpunkte, 2010, S.5 ff.; Bull, S.118ff. 96 Dazu Martin Kutscha, Überwachungsmaßnahmen von Sicherheitsbehörden imFokus der Grundrechte, LKV 2008, 48– 486; Nico Härting/Jochen Schneider, Das Dilemma der Netzpolitik, ZRP 2011, 233–236 (233). 97 Vgl. dazu Thiel, S.154 ff. m.w.N. MICHAEL ZÜGEL 93 der Sicherheitsbehörden muss nach erwähnten und anderer Maßnahmen Überzeugung des Verfassers eine zu einem zeitgemäßen administrati- konsequente Verbesserung insbeson- ven Datenschutz erscheint nun umso dere datenschutzrechtlicher Kontroll- dringlicher. möglichkeiten einhergehen. Die Ven- tilierung der im Aufsatz unter VI. Der Verfasser, September 2012

ÖFFENTLICHKEITS- UND PRÄVENTIONSARBEIT

60 VERFASSUNGSSCHUTZ 1952 – 2012

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Spagat zwischen »Geheim« und »Transparent«: Öffentlichkeits- und Präventionsarbeit des Landesamts für Verfassungsschutz

GEORG SPIELBERG

1. Das immerwährende Debatte über Versäumnisse des Ver- Spannungsverhältnis fassungsschutzes im Zusammenhang mit dem »Nationalsozialistischen Gute Öffentlichkeitsarbeit einer Be- Untergrund« (NSU) zeigt leider, dass hörde zeichnet sich dadurch aus, dass es den deutschen Inlandsnachrich- die eigene Arbeit transparent und tendiensten in der Vergangenheit nachvollziehbar nach außen dar- noch nicht im notwendigen Umfang gestellt wird. Die Zielgruppe der gelungen ist, Sinn und Zweck und vor Öffentlichkeitsarbeit – z.B. Bürger, allem die Notwendigkeit ihrer Arbeit Politiker oder Journalisten – soll ver- glaubwürdig nach außen zu vermit- stehen, welche Aufgaben die jewei- teln. lige Behörde auf welche Weise erfüllt. Damit wird die Öffentlichkeitsarbeit Im folgenden Beitrag soll ein kursori- nicht nur dem Informationsanspruch scher Blick auf die Entwicklung der der Bürger gerecht, welche die staatli- Öffentlichkeitsarbeit geworfen wer- chen Organe mit ihren Steuergeldern den. Eine Entwicklung, die längst finanzieren. Im Idealfall sorgt sie um- noch nicht abgeschlossen ist, sondern gekehrt auch für die allgemeine Aner- auch in Zukunft fortgesetzt werden kennung der Sachkompetenz und der muss. Arbeit dieser Institutionen bei den Bürgern. Langfristig sollen dadurch Akzeptanz und Verständnis für die 2. Vorgeschichte: Entwicklung Arbeit der Behörde gefördert wer- in der Bundesrepublik den. Deutschland

Beim Verfassungsschutz führt der Bereits 1960 beschlossen die deut- Wunsch nach Transparenz jedoch schen Innenminister, den »positiven schnell zu Interessenkonflikten. Be- Verfassungsschutz« zu stärken. Dies gründete Interessen der Geheimhal- sollte u.a. eine verstärkte Informa- tung oder auch die Verpflichtung tion der Öffentlichkeit beinhalten, hierzu – sei es aus Datenschutzgrün- insbesondere auch in Schulen. Zu- den oder zum Zweck des Quellen- nächst blieb das weitgehend eine schutzes – können einer umfassenden Absichtserklärung, lediglich einige Offenheit entgegenstehen. Anderer- Länder intensivierten ihre Öffent- seits befördert diese eingeschränkte lichkeitsarbeit in Eigenregie. Erst Offenheit wiederum ein negatives Ende 1974 verabschiedete die Innen- Bild in der Bevölkerung. Die aktuelle ministerkonferenz die erste Fassung 98 SPAGAT ZWISCHEN »GEHEIM« UND »TRANSPARENT« der Konzeption »Verfassungsschutz Direkte Kontakte zwischen Medien durch Aufklärung«1, mit der die Öf- undVerfassungsschutzbehördenblie- fentlichkeitsarbeit des Verfassungs- ben bisweit in die80erJahrehinein die schutzes in Bund und Ländern syste- Ausnahme. Nach den Erinnerungen matisiert und vereinheitlicht werden von Helmut Rannacher, seit 1971 sollte. Als Ziele benannt wurden die beim Landesamt Baden-Württem- »Information und Aufklärung über berg beschäftigt und von 1995–2005 – die Verfassung, insbesondere über dessenPräsident,warzudieserZeitle- die Rechte, Pflichten und politi- diglich das Hamburger Landesamt sche[n] Beteiligungsmöglichkei- unter dem damaligen Leiter Hans- ten, die sie den Bürgern einräumt, Josef Lochte häufiger in den Medien – extremistische Strategien und Ak- präsent. tionen, über verfassungsfeindli- che und sicherheitsgefährdende Ein Thesenpapier von Lothar Jach- Bestrebungen im Sinne der Ver- mann, stellvertretender Leiter des fassungsschutzgesetze und ihre LfV Bremen und Leiter der Bundes- ideologischen Hintergründe, fachkommission Verfassungsschutz – gesetzliche Grundlagen, Aufga- bei der Gewerkschaft ÖTV, stieß bei ben, Organisation, Arbeitsweise den übrigen Behörden noch 1988 auf und Probleme des Verfassungs- Ablehnung. Jachmann und seine Mit- schutzes.«2 autoren forderten radikale Verände- rungen, etwa die Teilnahme an der Allerdings oblag die Öffentlichkeits- »geistig-politischen Auseinanderset- arbeit gemäß dem Konzept nicht den zung«, und konstatierten darüber Landesämtern selbst, sondern »we- hinaus, dass eine »informierte, kriti- gen der besseren Funktionsfähig- sche Öffentlichkeit« letztlich »der keit«3 dem jeweils übergeordneten wirksamste Verfassungsschutz« sei5. Innenministerium. In der Folge er- In den darauffolgenden zwei Jahr- schienen die ersten Verfassungs- zehnten entwickelte sich beim schutzberichte der Länder, als Modell Verfassungsschutz dennoch eine Öf- diente der Bericht des Bundesamts fentlichkeitsarbeit, die von den Lan- für Verfassungsschutz, dessen Vor- desämtern weitgehend selbst getra- läufer4 erstmals 1969 erschienen war. gen wurde. Zu den Gründen hierfür Im Gegensatz zu den heutigen Be- dürfte nicht zuletzt die multimediale richten waren sie hauptsächlich als technische Entwicklung zählen, der Informationsmaterial für die Presse sich auch die Nachrichtendienste auf gedacht. Dauer nicht entziehen konnten.

1 Vgl. hier und im Folgenden: Hans Joachim Schwagerl, Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, Heidel- berg 1985, S.242 ff. 2 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1978, S.11. 3 Schwagerl, S.243. 4 »Erfahrungsbericht über die Beobachtungen der Ämter für Verfassungsschutz 1968«, ab Ausgabe 1969/70 »Betrifft: Verfassungsschutz«, seit Ausgabe 1983 »Verfassungsschutzbericht«. 5 Vgl. Äußerst subtil, in: Der Spiegel 42/1988, S.82. GEORG SPIELBERG 99

Heute haben die meisten Landesbe- sich ein Behördenvertreter direkt ge- hörden einen Beauftragten für Öf- genüber dem Blatt geäußert hat, in fentlichkeitsarbeit und eigene Presse- wenigen Fällen beruft sich der jewei- sprecher, mitunter gibt es für diesen lige Autor immerhin auf Auskünfte Arbeitsbereich ein eigenes Referat. des Innenministeriums. Umso be- Die jährlichen Verfassungsschutzbe- merkenswerter ist ein Artikel in der richte haben an Umfang und Farbig- Stuttgarter Zeitung vom 22. April keit zugenommen. Eine eigene Web- 19547, eineinhalb Jahre nach der site ist inzwischen bei allen Ämtern Gründung des Amtes. Darin versucht Standard, was bei Bürgern gelegent- der damalige stellvertretende Amts- lich noch Erstaunen hervorruft. leiter Peter Lahnstein, seine Behörde Während der zurückliegenden und ihre Aufgaben einem breiten Pu- 60Jahre hat eine Öffnung stattgefun- blikum nahezubringen – einschließ- den, die Kontaktmöglichkeiten mit lich des Trennungsgebots von Verfas- der Öffentlichkeit haben sich erheb- sungsschutz und Polizei und des lich ausgeweitet, und sie werden auch Einsatzes von V-Leuten. In seinen genutzt. Zumindest ein gewisses Maß Ausführungen greift Lahnstein auch an Transparenz ist also hergestellt. In einen kritischen Artikel des Schrift- Verbindung mit einer Öffentlich- stellers und Journalisten Gerhard keitsarbeit, die in Zukunft noch stär- Herrmann Mostar auf. Dieser hatte ker auf den unmittelbaren Kontakt zwei Wochen zuvor in derselben Zei- mit den Bürgern setzt, könnte sie da- tung unter der Überschrift »Zweifel- bei helfen, das angeschlagene Ver- hafte Gestalten auf Horchposten« trauen in den Verfassungsschutz wie- einen übermächtigen, geradezu ver- derherzustellen. schwörerisch agierenden Verfas- sungsschutz skizziert.

3. Die Öffentlichkeitsarbeit beim Eine ähnliche Direktheit bleibt in den LfV Baden-Württemberg6 folgenden Jahrzehnten allerdings die Ausnahme. Zwar fällt in die Amtszeit 1952–1978: Pressearbeit via von Präsident Dieter Wagner (1973– Ministerium 1986) die Einführung des oben be- schriebenen Konzepts »Verfassungs- Im Landesamt für Verfassungsschutz schutz durch Aufklärung« Mitte finden sich zahlreiche Zeitungsartikel der70erJahre.DieinderFolge aus der Gründungszeit Anfang der geschaffene Referentenstelle für Öf- 50er Jahre, teilweise noch mit Bezug fentlichkeitsarbeit ist aber, gemäß den auf die drei Vorläuferbehörden. Meist Richtlinien, im Innenministerium ist aus dem Text nicht ersichtlich, ob angesiedelt. Eine Konzeption des

6 Bedeutende Teile der folgenden Ausführungen basieren auf Gesprächen mit dem früheren LfV-Präsi- denten Dr. Helmut Rannacher sowie mit den Kollegen Dr. Herbert Landolin Müller und Dr. Benno Köpfer. Vielen Dank an dieser Stelle für die freundliche Unterstützung! 7 Peter Lahnstein, Der Verfassungsschutz/Aufgabe, Methode und Grenzen, in: Stuttgarter Zeitung Nr.93/1954, S.3. 100 SPAGAT ZWISCHEN »GEHEIM« UND »TRANSPARENT«

Ministeriums vom März 1978 sieht Nachrichten« eine dreiteilige, bebil- zumindest schon vor, dass die Auf- derte Reportage über die Arbeitsme- klärungsarbeit »durch die Öffent- thoden der Verfassungsschützer. lichkeitsarbeit des Landesamtes für Später in diesem Jahr wird der Verfas- Verfassungsschutz ergänzt werden« sungsschutzbericht für Baden-Würt- soll, das Amt soll zu diesem Zweck temberg erstmals im handlichen Bro- einen »Öffentlichkeitsreferenten« schürenformat veröffentlicht8,auf bestellen. Als Wege der Informati- 110 Seiten soll er vor allem Pressever- onsvermittlung werden Vorträge bei tretern Hintergrundinformationen diversen Organisationen und Ein- vermitteln. Im November 1979 wird richtungen sowie Informationsver- Helmut Rannacher, damals Leiter der anstaltungen angepeilt, darüber hi- Abteilung für Auswertung, mit der naus erwähnt die Konzeption auch Öffentlichkeitsarbeit beauftragt. Laut verschiedene Veröffentlichungen und eigener Aussage nimmt er diese Auf- die Kontaktpflege zu den Medien. gabe, die keine aktuelle Pressearbeit Bereits im September 1977, mitten im einschließt, jedoch nur »nebenbei« »Deutschen Herbst«, hatten Landes- wahr. amt, Staats- und Innenministerium vereinbart, den Verfassungsschutzbe- Direkte Medienkontakte beschrän- richt 1976/77 außerplanmäßig zu ak- kensichzudieserZeitnochaufdie tualisieren und in einer Auflage von Vorstellung des Verfassungsschutz- 15.000 Stück drucken zu lassen. Diese berichts in den Räumen des Amtes, Ausgabe – knapp 40 DIN-A4-Blät- nur gelegentlich werden darüber hi- ter, in einer Ecke aneinandergetackert naus einzelne Interviews geführt. und entsprechend provisorisch wir- Mit der Folge, dass der Verfassungs- kend – sollte auf Anfrage an Interes- schutz in der öffentlichen Wahrneh- sierte versandt und darüber hinaus mung hauptsächlich in negativen gezielt an Schulen verteilt werden. Zusammenhängen vorkommt. So kreidet man ihm etwa den »Radika- lenerlass« an, der seit 1972 zur 1979–1988: Öffnung nach Hürde für Bewerber im öffentlichen außen Dienst geworden ist. Eine die Arbeit positiv wertende Berichterstattung Das Landesamt selbst macht 1979 die findet dagegen kaum statt. ersten eigenen Schritte in Richtung Öffentlichkeit: Im Januar und Fe- Wesentlich positiver als die Pressear- bruar erscheint in den »Stuttgarter beit entwickelt sich ab Anfang der

8 Schon vorher hat es baden-württembergische Verfassungsschutzberichte gegeben, zumindest in kleinerer Auflage. So verzeichnet der Katalog der Württembergischen Landesbibliothek einen »Bericht der Regierung des Landes Ba- den-Württemberg über radikale Bestrebungen« für die Jahre 1973–1974 und für 1975/76 den »Verfassungsschutzbe- richt der Baden-Württembergischen Landesregierung«. Letzterer wird darüber hinaus in einer Streitschrift der Land- tagsfraktion der Grünen von 1987 erwähnt. Ebenso vermerkt der »Erfahrungsbericht über die zur Konzeption ›Verfas- sungsschutz durch Aufklärung‹ durchgeführten Maßnahmen« eines Bund-Länder-Arbeitskreises bereits im Oktober 1976 die Maßnahme »Jahresbericht über Arbeit Verfassungsschutz« für Baden-Württemberg als »verwirklicht«. GEORG SPIELBERG 101

80er Jahre die Vortragstätigkeit. Württemberg – Aufgaben, Befug- Hauptsächlich vor Publikum aus den nisse, Kontrolle« aus dem Jahr 1987. unterschiedlichen Sicherheitsbehör- Auf 14 recht dicht beschriebenen den, oft von Polizei und Staatsschutz, Seiten erfahren die Bürger Grundle- berichten Referenten des Landesamts gendes zu Geschichte, Organisati- über die Arbeit des Verfassungs- onsstruktur, gesetzlichem Rahmen, schutzes. Bei vielen Außenterminen Kontrollmechanismen und Arbeits- sind sie allerdings aus Sicherheits- methoden des Verfassungsschutzes. gründen nicht alleine unterwegs: In Damit soll das Amt »eine Brücke den 80er Jahren kommt es vor Ort ge- schlagen zwischen Bürger und Ver- legentlich zu Flugblattverteilungen fassungsschutz, um die oft noch vor- und anderen Gegenaktionen. handene Distanz zu dieser Behörde zu beseitigen«, schreibt der damalige Innenminister Dietmar Schlee in sei- 1986–1995: Neue Impulse nem Vorwort.

1986 bekommt das Landesamt mit Einen kleinen, aber doch bedeutsa- Ralf Krüger einen Präsidenten, der men Schritt in Richtung Öffent- aus seiner vorherigen Tätigkeit bei lichkeitunternimmtdasAmtwäh- Polizei und Justiz bereits mit zeitge- rend der Personalversammlung 1988. mäßer Öffentlichkeitsarbeit und ih- Kurz zuvor ist ein Kollege verstor- rer Bedeutung vertraut ist. In seiner ben, und der designierte neue Präsi- nur knapp zweijährigen Amtszeit dent Eduard Vermander schlägt vor, sorgt er für die Errichtung eines eige- eine Gedenkanzeige in einer Tages- nen Sachgebiets »Öffentlichkeitsar- zeitung aufzugeben. In anderen beit, Stabsstelle«. Es ist dem Präsi- Branchen ist das ein gewöhnlicher denten direkt unterstellt und soll Vorgang, beim Verfassungsschutz neben der Information der Öffent- wird dagegen schon die bloße Idee lichkeit, der Aufsicht über die Biblio- kritisiert – immerhin könnte ein ope- thek und der Organisation diverser rativ tätiger Mitarbeiter durch eine Veranstaltungen auch explizit die Ar- solche Anzeige im Nachhinein ent- beit einer Pressestelle übernehmen. tarnt werden. Schließlich findet sich Letztere läuft in den folgenden Jahren aber doch ein Kompromiss: Wenn die zwar wieder nur nebenher, dennoch Angehörigen einverstanden sind, ist im Errichtungsdokument bereits wird fortan eine Traueranzeige ge- die Struktur des heutigen Leitungs- schaltet. Der Verfassungsschutz, ge- stabs zu erkennen. wöhnlich im Verborgenen tätig, zeigt damit zumindest eine Form von Prä- Eine der ersten Informationsschrif- senz. ten des Amtes neben dem Verfas- sungsschutzbericht, wenn nicht sogar Eduard Vermander knüpft, wie sein die älteste, ist ein Faltblatt mit dem Vorgänger Krüger, an Erfahrungen Titel »Verfassungsschutz in Baden- aus dem Polizei- und Justizdienst an 102 SPAGAT ZWISCHEN »GEHEIM« UND »TRANSPARENT« und unternimmt verschiedene Versu- teien sowie kirchliche und andere In- che, um mit Journalisten in Kontakt stitutionen werden erschlossen. Da- zu kommen. Eine erste Möglichkeit, mit einher geht eine Vergrößerung die Arbeit des Landesamts für Verfas- des Aktionsradius, mitunter referie- sungsschutz nach außen darzustellen, ren die Mitarbeiter des Landesamts bietet die Beteiligung an der Fernseh- auch in anderen Bundesländern und dokumentation »Meine Arbeit ist im benachbarten Ausland. tabu«, die im September 1989 in der ARD ausgestrahlt wird. Symptoma- Thematisch ist in der Öffentlichkeits- tisch für die Außenperspektive: Die arbeit ab den 80er Jahren eine Ver- beiden anderen Teile der Dokumen- schiebung des Schwerpunkts zu be- tation stellen Kanalarbeiter und Pa- obachten: War in den 70er Jahren, thologen vor – »ein Indiz für den Ruf, nicht zuletzt infolge des Terrorismus in dem wir standen«, wie Helmut der »Rote Armee Fraktion« (RAF), Rannacher heute sagt. Er ist zu die- noch der Linksextremismus das be- sem Zeitpunkt Stellvertreter des Prä- herrschende Thema, rückt nun der sidenten und übernimmt für diesen Rechtsextremismus mehr und mehr meist die Pressearbeit. Dadurch er- in den Fokus – auch bundesweit. Spä- langt er mit der Zeit einen gewissen testens mit der Beobachtung der Par- Bekanntheitsgrad im Land. tei »Die Republikaner«, die ab 1992 im baden-württembergischen Land- Trotz des bizarren Rufs der Nach- tag vertreten ist, steigt das öffentliche richtendienste verbreitert sich das Interesse an Informationen aus erster Spektrum der Pressekontakte ab An- Hand. Ebenfalls stark nachgefragt fang der 90er Jahre. Zunächst sind es sind Fakten zur »Arbeiterpartei Kur- meist kurze Statements oder Inter- distans« (PKK), die in Deutschland views für Printmedien und Hörfunk- 1993 nach gewalttätigen Aktionen sender, später kommen zahlreiche verboten wird, zur Spionageabwehr, Fernsehbeiträge hinzu, die meist im die auch nach der Deutschen Einheit Regionalprogramm ausgestrahlt wer- ihren Stellenwert behält, zur Sciento- den. Diese Ausweitung der Tätigkeit logy-Organisation und zu Stuttgarter ist auch darauf zurückzuführen, dass Unterstützern der damals noch akti- das Innenministerium zu dieser Zeit ven RAF. Diese Entwicklung spiegelt den Spielraum des Amtes erweitert. sich auch in der Gliederung des Ver- Die Amtsleitung wird ermutigt, An- fassungsschutzberichts wider: Hier fragen von Pressevertretern verstärkt steht bis Anfang der 90er Jahre der selbst zu beantworten; eine Kommu- Linksextremismus an erster Stelle, ab nikation über Umwege wird zum 1991 ist es der Rechtsextremismus. Auslaufmodell. Von 2003 bis 2005, nach den Anschlä- gen vom 11. September 2001, rückt Das Vortragswesen verbreitert in den der Ausländerextremismus nach 90er Jahren ebenfalls sein Spektrum: vorne. Aus diesem Bereich wird 2006 Neue Zielgruppen wie politische Par- wiederum der Islamismus herausge- GEORG SPIELBERG 103 löst und den übrigen Beobachtungs- Beim Europarat wird die Ausstellung feldern mit einem eigenen Kapitel 1994 anlässlich der Eröffnungsveran- vorangestellt. staltung von »FAIRSTÄNDNIS – Menschenwürde achten – Gegen Eines der ersten Präventionsprojekte Fremdenhass« gezeigt. An dieser ist die Wanderausstellung »Bieder- Kampagne der Innenminister von männer und Brandstifter. Gewalt von Bund und Ländern gegen Ausländer- rechts in Baden-Württemberg« des feindlichkeit beteiligt sich auch das Innenministeriums, an deren Entste- Landesamt mit mehreren Vorträgen. hung das Landesamt maßgeblich beteiligt ist. Kurz nach den Brandan- schlägen der Jahre 1992 und 1993 1995–2011: Öffnung nach innen sowie den darauffolgenden Stimmen- gewinnen rechtsextremistischer Par- Nach einer längeren Phase des Miss- teienbeiLandtagswahleninmehre- trauens gewinnt die intensivierte Öf- ren Bundesländern soll sie zur fentlichkeitsarbeit auch hausintern an Sensibilisierung der Bevölkerung bei- Akzeptanz. Vormals mitunter starke tragen. Themen der Ausstellung sind Vorbehalte weichen der Erkenntnis, die Ursachen der Gewalt, die Rolle dass es nun auch möglich ist, die Ar- der rechtsextremistischen Organisa- beit des Verfassungsschutzes nach au- tionen und auch deren Weltbild im ßen positiv darzustellen. Und das Widerspruch zum demokratischen nicht nur innerhalb der Landesgren- Freiheitsbegriff. zen: Während das Bundesinnenmi- nisterium in Sachen Verfassungs- Schon vor der Ausstellungseröffnung schutz immer noch eine restriktive im Februar 1994 im Haus des Land- Informationspolitik betreibt – mög- tags protestieren Parlamentsangehö- lichst wenig wird preisgeben, Inter- rige der Partei »Die Republikaner« views gibt beim Bundesamt höchs- unter anderem dagegen, dass ihre Par- tens der Präsident –, machen sich die tei in der Ausstellung erwähnt wird. baden-württembergischen Verfas- Auch an anderen Orten kommt es sungsschützer bereits durch Auftritte immer wieder zu ähnlichen Aktio- in überregionalen Medien einen nen. Dennoch ist das Projekt ein Er- Namen. Hierbei steht nicht nur der folg: Zwischen Februar 1994 und Präsident im Rampenlicht. Auch die März 1996 werden an 42 Stationen in Spezialisten aus den unterschied- Baden-Württemberg, in der Landes- lichen Fachbereichen geben als Inter- vertretung in Bonn und beim Euro- viewpartner fundiert Auskünfte, parat in Straßburg mehr als 51.000 insbesondere zu den Themen Isla- Besucher gezählt. Mitunter gestalten mismus, Rechtsextremismus, Spiona- die gastgebenden Institutionen zu- geabwehr und Scientology. sätzlich Rahmenprogramme, z.B. mit Diskussionen, oder auch eine ganze In die Präsidentschaft von Helmut Aktionswoche zum Thema. Rannacher (1995–2005) fallen zahl- 104 SPAGAT ZWISCHEN »GEHEIM« UND »TRANSPARENT« reiche eigene Pressemitteilungen des Amtsangehörigen steigt noch bis Hauses. Außerdem veröffentlicht das 2001 fast jährlich an und pendelt sich Amt in dieser Zeit eine Vielzahl von dann bei etwa 140 pro Jahr ein; ein Informationsbroschüren über die Er- »Ausreißer« nach oben ist das Jahr kenntnisse in den unterschiedlichen 2007 mit 263 Vorträgen. Gedruckte Arbeitsfeldern. Ab November 1996 Broschüren sind dagegen immer we- können diese auch in digitaler Form niger gefragt, 2011 werden erstmals aus einer Internet-Mailbox herunter- weniger als 1.000 Exemplare ver- geladen werden – damit verfügt das sandt. Dasselbe ist beim Verfassungs- Landesamt als eine der ersten Verfas- schutzbericht zu beobachten. Seine sungsschutzbehörden in Deutsch- Auflagenzahl, die erstmals 2002 im land über eine eigene Internetprä- Impressum angegeben ist, halbiert senz. Knapp ein Jahr später geht aus sich von damals 15.000 bis zum Be- der Mailbox die Homepage hervor, richt 2011 auf 7.500 Stück. Als Ursa- die in der Folgezeit mehrfach überar- che für diese Entwicklung sowohl bei beitet wird. den Broschüren als auch beim Verfas- sungsschutzbericht gilt die ständige 1996 ist auch das Jahr, in dem das Amt Verfügbarkeit als PDF-Datei auf der seine Türen für eine besondere Ziel- LfV-Website. gruppe öffnet: Einen Tag lang können sich die Familien der Amtsangehöri- Insgesamt hat die Öffentlichkeitsar- gen an Stationen im ganzen Haus beit ab Mitte der 90er Jahre einen zu- über die Arbeit des Verfassungs- nehmend hohen Stellenwert und ist schutzes informieren. Erstmals erfah- entsprechend breit aufgestellt – mit ren sie, wie das Haus, das ihnen Billigung des Ministeriums. normalerweise verschlossen ist, von innen aussieht und was dort ge- schieht. Ein zweiter »Tag der offenen 4. Die heutige Öffentlichkeits- Tür« für die Familien findet 2004 arbeit des Landesamts statt. 4.1 Publikationen und Website Der Verfassungsschutzbericht 1997 nennt erstmals konkrete Zahlen zur Wie im Verfassungsschutzbericht je- Öffentlichkeitsarbeit: 50 Vorträge des Jahr zu lesen ist, bestehen Sinn wurden im Berichtszeitraum gehal- und Zweck der Öffentlichkeitsarbeit ten und 24.000 Broschüren verteilt. darin, Regierung, Parlament und EinJahrspätersindesbereits80Vor- Bevölkerung »über Aktivitäten und träge und 33.500 Broschüren, nicht Absichten verfassungsfeindlicher Par- zu vergessen die 13.600 verteilten teien oder Organisationen« zu infor- Verfassungsschutzberichte. Diese mieren. Ziel ist es, »die geistig- Posten entwickeln sich in den folgen- politische Auseinandersetzung mit den Jahren bemerkenswert unein- Extremismus jeglicher Couleur« zu heitlich: Die Zahl der Vorträge von fördern. Die Mittel sind hierbei viel- GEORG SPIELBERG 105 fältig und lassen sich beim Landesamt rung der Berichterstattung gearbeitet. für Verfassungsschutz Baden-Würt- Ziel war eine sachlich fundierte, temberg grob in drei Arbeitsbereiche gleichwohl aber auch für den nicht einteilen: Publikationen, Prävention fachkundigen Leser leicht verständli- sowie Presse- und Bürgerkontakt. che und lesbare Darstellung. Diese wird ergänzt durch die Einführung von »Infoboxen«, die dem Leser – Der Verfassungsschutzbericht z.B. auch Pressevertretern – einen schnellen Überblick über einen Phä- »Hauptwerk« unter den schriftlichen nomenbereich oder eine extremisti- Veröffentlichungen ist der jährliche sche Organisation geben sollen. Die Verfassungsschutzbericht, den der professionelle grafische Neugestal- Innenminister regelmäßig im Früh- tung einschließlich eines neuen Co- jahr in der Landespressekonferenz vers ab 2011 runden die Modernisie- vorstellt. Ab diesem Zeitpunkt ist der rung des Verfassungsschutzberichts Bericht auch im Internet abrufbar. ab, der von allen interessierten Ziel- Die Druckfassung erscheint kurz da- gruppen als anschaulich und infor- nach im Sommer eines jeden Jahres. mativ empfunden wird.

Der Verfassungsschutzbericht soll ei- nen Überblick und Einblick in die Informationsbroschüren vielfältigen Beobachtungsfelder des Amtes geben. Dabei werden die ex- Schon seit Anfang der 90er Jahre gibt tremistischen Bestrebungen immer das Landesamt für Verfassungsschutz auch in ihrem bundesweiten bzw. Informationsbroschüren zu den ver- vielfach auch internationalen Kon- schiedenen Phänomenbereichen he- text dargestellt. Seit seiner ersten Ver- raus. In besonderer Weise nachge- öffentlichung als Broschüre 1979 hat fragt sind diejenigen Informationen, sich der Umfang des Berichts von 110 die gegenüber den Adressaten einen Seiten mehr als verdreifacht und be- konkreten Beratungsauftrag verfol- trug in den letzten Jahren etwa 350 gen. Daneben sind zahlreiche von der Seiten. Die Gründe für diese Ent- Bundesbehörde herausgegebene Bro- wicklung liegen einerseits in einer in- schüren oder Faltblätter mit Beteili- haltlichen Verbreiterung des Spek- gung des Landesamts entstanden. trums, aber auch der ausführlichen Darstellung von Aktivitäten des Am- Zum Bereich »Publikationen« gehört tes z.B. auf dem Gebiet der Präven- überdies die regelmäßige Berichter- tion. stattung an die unterschiedlichen Stellen der baden-württembergi- In den letzten Jahren haben die Auto- schen Landesverwaltung und inner- ren der jeweiligen Kapitel zusammen halb des Verfassungsschutzverbun- mit dem 2010 neu eingerichteten des. Sie werden im Monatsrhythmus Lektorat intensiv an einer Verbesse- über aktuelle Entwicklungen in den 106 SPAGAT ZWISCHEN »GEHEIM« UND »TRANSPARENT«

Beobachtungsbereichen unterrichtet hinaus erhalten die Leser detaillierte (VS-Aktuell und VS-Regional). Da Informationen über die einzelnen Ar- diese Informationen jedoch regelmä- beitsfelder und können auf aktuelle ßig als Verschlusssache eingestuft Berichte zu einzelnen Beobachtungs- sind, beschränkt sich der Empfänger- objekten zugreifen. Broschüren und kreis auf Dienststellen, mit denen das andere Veröffentlichungen des Amtes Landesamt regelmäßig zusammenar- stehen zum Herunterladen bereit und beitet. Soweit es sich um »offene« In- können per Kontaktformular auch in halte handelt, werden die entspre- gedruckter Fassung bestellt werden. chenden Artikel auf der Homepage veröffentlicht. Zurzeit wird die Webpräsenz tech- nisch und inhaltlich grundlegend überarbeitet, um den gestiegenen Teilnahme am wissenschaftli- Anforderungen der Nutzer an chen Diskurs Funktionalität und Gestaltung von Internetseiten gerecht zu werden. Seit 2011 gehört es zum festen Das neue Portal wird voraussichtlich Programm, dass die wissenschaft- im Frühjahr 2013 ans Netz gehen lichen Mitarbeiter des Landesamts und das Landesamt in zeitgemäßer eigene Beiträge in die interdiszipli- Aufmachung präsentieren. Ziel ist es näre Extremismusforschung einbrin- dabei u.a., dem Benutzer noch gen. Hierzu gehören neben wissen- schneller als bisher aktuelle Informa- schaftlichen Fachvorträgen auch Ver- tionen zur Verfügung zu stellen. öffentlichungen, z.B. in dem von Ar- min Pfahl-Traughber herausgegebe- nen »Jahrbuch für Extremismus- und 4.2 Prävention Terrorismusforschung«. Daneben sind die Fachreferenten des Amtes in Ein Ziel der Öffentlichkeitsarbeit von die Fortbildung und den wissen- Verfassungsschutzbehörden ist es, schaftlichen interdisziplinären Aus- die Bevölkerung über Aktivitäten tausch an verschiedenen Akademien und Absichten verfassungsfeindlicher und Bildungseinrichtungen einge- Parteien und Organisationen zu in- bunden. formieren. Seit den 90er Jahren erfolgt die aktive »Prävention durch Infor- mation« neben der Herausgabe von Internetpräsenz des LfV Publikationen durch Vorträge und die Mitwirkung an verschiedenen Foren, Wie bereits erwähnt, präsentiert sich Podiumsdiskussionen und Veranstal- das Landesamt für Verfassungsschutz tungen externer Träger. Darüber hi- seit 1996 auch im Internet. Unter naus beteiligt sich das Landesamt für der Adresse www.verfassungsschutz- Verfassungsschutz an bundesweiten bw.de werden Geschichte und Auf- Kampagnen und Projekten, wirkt an gaben des Amtes vorgestellt. Darüber Veröffentlichungen mit und führt GEORG SPIELBERG 107 auch eigene Fachtagungen zu wech- September 2007 wird im Stuttgarter selnden Themen durch. Der Fach- »Haus der Geschichte« die Wander- bereich Wirtschaftsspionage/Wirt- ausstellung »Die missbrauchte Reli- schaftsschutz informiert jedes Jahr gion:IslamisteninDeutschland«des auf mehreren Industrie-Fachmessen Bundesamts für Verfassungsschutz über die Gefahren von Wirtschafts- gezeigt. An sechs Stationen erklärt sie spionage und die Präventionsmög- z.B. den Unterschied zwischen Islam lichkeiten in diesem Bereich. und Islamismus und veranschaulicht die unterschiedlichen Abstufungen Mitarbeiter des Landesamts wirken des islamistischen Extremismus. An außerdem an Fortbildungen für die 16 Tagen besuchen mehr als 5.100 Be- Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden sucher die Ausstellung. Das LfV or- oder für Lehrer mit, hinzu kommen ganisiert ein umfangreiches Rahmen- spezielle Multiplikatorenschulungen programm mit Führungen, Vorträgen für Schulleiter, Schulräte und und einer Podiumsdiskussion; hier- Gewaltpräventionsbeauftragte aller bei arbeitet es nicht nur mit der Lan- Schularten. Wichtigstes Thema ist zu- deszentrale für politische Bildung, nächst wieder der Rechtsextremis- sondern auch mit mehreren parteina- mus. Alleine zwischen 2004 und 2008 hen Stiftungen zusammen. werden bei 285 Vorträgen etwa 10.000 Zuhörer gezählt; zwischen Das Landesamt sucht aber auch den Juli 2005 und November 2006 wer- direkten Dialog, beispielsweise mit den außerdem insgesamt 37 Schulun- Verantwortlichen von Moscheen in gen für Multiplikatoren gehalten.9 Baden-Württemberg. Im Rahmen des Projekts »Ansprechpartner Moscheevereine« werden gezielt Islamismus-Prävention Kontakte geknüpft, um ein Ver- trauensverhältnis zu den Muslimen Nach 2001 werden die Präventions- herzustellen und der Radikalisierung bemühungen auch im Bereich Isla- gerade junger Muslime vorzubeugen. mismus verstärkt. Neue Mitarbeiter, »Wir reden nicht nur über, wir reden insbesondere Islamwissenschaftler, auch mit«, fasst Herbert L. Müller, werden eingestellt, die Vortragstätig- Leiter der Abteilung Internationaler keit und auch die Pressekontakte er- Extremismus und Terrorismus, die fahren eine Intensivierung, ebenso Grundidee von »vertrauensbilden- die Teilnahme von Vertretern des den Maßnahmen« wie dieser zusam- Landesamts an Podiumsdiskussionen men. und sonstigen Veranstaltungen. Im

9 Rüdiger Schilling, Vom Frontalunterricht zum Planspiel. Möglichkeiten einer modernen Extremismusprävention am Beispiel des Landes Baden-Württemberg, in: Thomas Grumke, Armin Pfahl-Traughber: Offener Demokratieschutz in einer offenen Gesellschaft, Opladen und Farmington Hills 2010, S.137. 108 SPAGAT ZWISCHEN »GEHEIM« UND »TRANSPARENT«

Eigene Veranstaltungsreihe Kurdistans« (PKK) vorgestellt, die beide über intensive Jugendarbeit Im Jahr 2008 erweitert das Landesamt versuchen, neue Anhänger zu gewin- für Verfassungsschutz sein Angebot nen und dauerhaft an sich zu binden. der Öffentlichkeitsarbeit um eine In der abschließenden Podiumsdis- Veranstaltungsreihe, die einmal im kussion mit externen Fachleuten wer- Jahr ein aktuelles Thema aufgreift. den Lösungsansätze für den Umgang mit diesem Phänomen im Alltag erör- Im November 2009 lädt das Amt zu tert. einem »Tag der Demokratie« ein, der an das 60. Jubiläum des Grundgeset- Die dritte Veranstaltung der neuen zes im gleichen Jahr erinnern soll. Reihe ist das Symposium »Globaler Zielgruppe sind Vertreter von Politik, Jihad – Voraussetzungen, Auswir- Verwaltung, Sicherheitsbehörden, kungen, Konsequenzen« im Novem- Justiz, Wirtschaft und Medien. An ber 2011. Gut 160 Teilnehmer aus ver- unterschiedlichen Stationen im Haus schiedenen Bereichen beschäftigen werden zunächst Beobachtungser- sich zehn Jahre nach den Anschlägen kenntnisse und Arbeitsweise der Be- vom 11. September 2001 mit unter- hörde vorgestellt, danach halten zwei schiedlichen Aspekten und Fragestel- wissenschaftliche Referenten des lungen rund um den gewaltbereiten Landesamtes einen Vortrag über die Islamismus und seine Anhänger. Da- Entwicklung des Rechts- und Links- bei wird mit einem sogenannten extremismus seit Bestehen des »Knowledge Caf´e« eine für dieses Grundgesetzes. Eine Podiumsdis- Themenfeld noch ungewöhnliche kussion mit Fachleuten verschiede- Methode eingesetzt. In moderierten ner Disziplinen über Ursachen und Gesprächsrunden tauschen sich die Wirkungen des deutschen Extremis- Teilnehmer zu einzelnen Fragestel- mus bildet den Abschluss der Veran- lungen aus, und in von Praktikern, Si- staltung. cherheitsexperten, Medien und Wis- senschaft besetzten Panels wird dem Im Dezember 2010 stehen die jungen Phänomen des gewalttätigen Jihadis- Extremisten im Fokus der öffentli- mus unter zentralen Fragestellungen chen Veranstaltung »Ethnisierung – vertieft nachgegangen. Auch bei die- Radikalisierung – Gewalt? Türkische sem Symposium, das durch das Bun- und kurdische Jugendliche unter dem desministerium für Familie, Senio- Einfluss extremistischer Organisatio- ren, Frauen und Jugend gefördert nen«. Im »Haus der Geschichte« wird, findet zum Abschluss eine Ex- werden in zwei Vorträgen die »Föde- pertendiskussion mit dem Titel ration der Türkisch-Demokratischen »Konsequenzen eines Jahrzehnts Ji- Idealistenvereine in Europa« had« statt. (ADÜTDF) und die »Arbeiterpartei GEORG SPIELBERG 109

»Team meX. Mit Zivilcourage schutz seit Jahren eine Selbstver- gegen Extremismus« ständlichkeit. Gemäß den vorhande- nen Aufzeichnungen werden pro Seit 2009 kooperieren das Landesamt Jahr in der Regel zwischen 150 und für Verfassungsschutz und die Lan- 180 Anfragen von Medienvertretern deszentrale für politische Bildung bearbeitet; nach speziellen Ereig- (lpb) Baden-Württemberg beim lan- nisse wie zuletzt den Enthüllungen desweiten Projekt »Team meX. Mit im Zusammenhang mit dem »Natio- Zivilcourage gegen Extremismus«. nalsozialistischen Untergrund« ist Ziel ist es, Mitarbeiter in der Bil- das Aufkommen auf über 200 im dungs- und Jugendarbeit für demo- Jahr 2011 gestiegen. Das Spektrum kratiefeindliche Überzeugungen bei der Pressevertreter beschränkt sich Jugendlichen zu sensibilisieren und dabei nicht nur auf eine Region oder sie darüber zu informieren, wie die- ein bestimmtes Medium; schwäbi- sen Überzeugungen vorgebeugt wer- sche Lokalzeitungen fragen ebenso den kann. Zu diesem Zweck bietet ein an wie Online-Magazine und große Team von freien Mitarbeitern der lpb private Fernsehsender mit deutsch- Fachvorträge, Workshops und Fort- landweiter Ausrichtung. bildungen für die Bereiche Rechts- extremismus und Islamismus an. Im Das Amt ist jedoch nicht nur zu den Bereich Rechtsextremismus werden medial dauerpräsenten Themen darüber hinaus direkt vor Ort Rol- Rechtsextremismus und Islamismus len- und Planspiele für Jugendliche gefragt: Seine Mitarbeiter stehen durchgeführt. Die Inhalte der einzel- ebenso häufig für Hintergrundge- nen Maßnahmen wurden von Mitar- spräche oder aktuelle Interviews in beitern der lpb und des Landesamts den Bereichen Wirtschaftsspionage, zusammen mit externen Partnern erar- Scientology, Links- und Ausländer- beitet. extremismus zur Verfügung. Durch diese Bandbreite hat sich das Landes- »Team meX« wird seit 2008 von der amt bereits in der Vergangenheit auch Baden-Württemberg Stiftung geför- überregional einen Namen als kom- dert. Das Teilprojekt »Islamismus« petenter Ansprechpartner gemacht. gehörte 2011 zu den Preisträgern im Hierzu hat sicher auch beigetragen, Wettbewerb »Deutschland – Land dass Medienanfragen so umfassend der Ideen«, einer gemeinsamen Initia- wie irgend möglich beantwortet wer- tive von deutscher Wirtschaft und den – was angesichts der eingangs Bundesregierung. genannten Beschränkungen nicht im- mer leicht ist.

4.3 Presse- und Bürgerkontakt Auch Bürgerinnen und Bürger nut- zen immer wieder die Möglichkeit, Die eigenständige Pressearbeit ist für brieflich, per E-Mail oder telefonisch das Landesamt für Verfassungs- mit dem Verfassungsschutz in Kon- 110 SPAGAT ZWISCHEN »GEHEIM« UND »TRANSPARENT« takt zu treten. In den meisten Fällen mationsmaterialien und der Präsenz werden Broschüren bestellt, einen bei Veranstaltungen. weiteren großen Anteil machen Fra- genzueinzelnenextremistischenOr- Trotzdem wird auf die Erreichung ganisationen aus, die z.B. zu diesem deseingangserwähntenZielsder Zeitpunkt gerade verstärkt in den Akzeptanzgewinnung wohl auf Medien thematisiert werden. lange Sicht weiter und noch intensi- ver hingewirkt werden müssen. Der Verfassungsschutz ist insgesamt wie- 5. Fazit und Ausblick der einmal ins Zwielicht geraten. Der Vertrauensverlust durch die In den vergangenen 60 Jahren ist das NSU-Affäre, der sich aktuell u.a. in Landesamt für Verfassungsschutz einer öffentlichen Reformdebatte immerwiederundimmerweiterauf niederschlägt, ist für die Behörden Bürger, Medien und andere Einrich- eine große Herausforderung. Neben tungen zugegangen. Auch innerhalb der Fachkompetenz muss daher des Amtes hat man die Öffnung nach auch die Glaubwürdigkeit eine Rolle außen weitgehend akzeptiert, die Öf- bei der Öffentlichkeitsarbeit der fentlichkeitsarbeit ist etabliert und Verfassungsschutzbehörden spielen. wird von den Fachbereichen unter- Die Behörden müssen die Bereit- stützt. Umgekehrt genießt die Fach- schaft aufbringen, sich auch unange- kompetenz des Personals ein hohes nehmen Fragen zu stellen. Dabei Ansehen bei Medien, Bildungsträ- wird es aber auch darum gehen, gern und anderen externen Stellen. Wege zu finden, die Erfolge der Der baden-württembergische Verfas- Arbeit darzustellen, um die Wirk- sungsschutz ist ein gefragter An- samkeit der Institution Verfassungs- sprechpartner. Die Behörde und schutz und seine Legitimität trans- damit ihre Arbeit sind für die Öffent- parent zu machen. lichkeit wesentlich transparenter ge- worden, als man sich das bei ihrer Die Mitarbeiter im Bereich Öffent- Gründung 1952 jemals hätte vorstel- lichkeitsarbeit werden sich in Zu- len können. Der Spagat zwischen Ge- kunft noch stärker mit der Frage heimhaltung und Transparenz ist beschäftigen müssen, wie sie von dabei immer wieder eine Heraus- Bürgern, Journalisten und Koopera- forderung. Im Rahmen seiner Mög- tionspartnern als glaubwürdiges Ge- lichkeiten hat das Landesamt für Ver- genüber wahrgenommen werden fassungsschutz die oft geforderte können. Die Antwort darauf will Bürgernähe der öffentlichen Verwal- letztlich mit jeder Anfrage aufs Neue tung hergestellt, nicht zuletzt mittels gefunden werden – was Herausforde- seiner Homepage, vielfältiger Infor- rung und Chance zugleich ist. 111

»Nobody does it better?« Verfassungsschutz und Öffentlichkeit

HOLGER SCHMIDT

»Wie ist es denn so, beim Verfas- Vorurteile, die man unter dem Schlag- sungsschutz?« Egal, ob Kollegen, wort »zu allem fähig, zu nichts zu ge- Freunde oder Bekannte dem Autor brauchen« zusammenfassen kann. diese Frage stellen: Nicht selten ist Wirkliches Wissen über die Aufgaben ein skeptisch-neugieriger Unterton und das Innenleben der deutschen zu bemerken. Von den Außenstehen- Nachrichtendienste ist dagegen nicht den wird ein Bericht aus der streng weit verbreitet. geheimen Welt der Spione und Ter- rorjäger erwartet, Erzählungen von Deshalb fällt häufig auch eine Bewer- James Bond, Miss Moneypenny, »M« tung der Arbeit der Behörden aus ob- und »Q« aus dem Ländle – von denen jektiver Sicht (und wohl erst recht aus man nicht so recht glauben mag, dass Sicht der Behörden selbst) unbefrie- es sie in der aus dem Kino bekannten digend aus. Dieses Phänomen hat sich Art gibt, die aber andererseits irgend- seit der Entdeckung der Terror- wie doch real existieren müssen. Was gruppe »Nationalsozialistischer Un- genau macht der Verfassungsschutz? tergrund« (NSU) im November 2011 Man weiß es nicht genau. in kaum gekannter Dynamik ver- stärkt1. Auf der einen Seite häufen Jede Bürgerin und jeder Bürger kennt sich seit Monaten Meldungen über deutsche Amtsstuben, war wahr- tatsächliche oder vermeintliche Pan- scheinlichschoneinmal in einem Poli- nen der Nachrichtendienste des Bun- zeirevier, weiß, was ein Staatsanwalt des und der Länder. Auf der anderen macht und hat im Idealfall auch sonst Seite bestehen Ratlosigkeit und Un- ungefähre Vorstellungen von den wissen über Aufgaben, Zuständigkei- Aufgaben der Regierung und des Ver- ten und Arbeitsweisen der Verfas- waltungsapparats. Aber was macht sungsschutzbehörden. Reformbedarf der Verfassungsschutz? Selbst viele wird allenthalben gesehen, überzeu- Journalisten – die ja eigentlich Wäch- gende Konzepte aber fehlen – oder ter über die Regierenden und damit werden mit großer Perfektion ver- über alle Ausprägungen der Exeku- borgen. tive sind – müssen passen, wenn es um die genaue Definition der Aufgaben Dieser Beitrag will sich dieses Phäno- der deutschen Nachrichtendienste mens annehmen und die Fragen un- geht. Trotzdem (und zudem) grassie- tersuchen: Wie sieht die Öffentlich- ren unter Journalisten einschlägige keit den Verfassungsschutz? Welche

1 Der Autor dankt der Schriftleitung für die mehrfache Verlängerung des Abgabetermins, um die aktuellen Entwicklun- gen in den Text aufnehmen zu können. 112 »NOBODY DOES IT BETTER?« VERFASSUNGSSCHUTZ UND ÖFFENTLICHKEIT

Rolle haben dabei die Medien? Wie I. Wie sieht die Öffentlichkeit und warum ist dieses Bild entstan- den Verfassungsschutz? den? Ist dieses Bild vielleicht sogar gewollt? Und was könnte, was sollte, »Nobody Does It Better« was muss der Verfassungsschutz än- dern? Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiheitlichen demokrati- Bemerkenswert ist dabei, dass die schen Grundordnung (FDGO), des Dienste (jedenfalls in ihrer Außen- Bestandes und der Sicherheit des darstellung) ihre eigene Wahrneh- Bundes und der Länder5 und hat als mung schon in der Vergangenheit wesentliche Aufgabe, Gefahren für durchweg positiv gesehen haben2 und die FDGO zu erkennen und den sich dabei (wie die Politik) auf die Er- zuständigen Stellen die Abwehr zu gebnisse von Meinungsumfragen ermöglichen6. Schon diese grundle- stützen. In der aktuellen Imagekrise gende Zuständigkeits- und Aufga- des Bundesamtes für Verfassungs- benbeschreibung dürfte der breiten schutz reagierte das Amt im Sommer Öffentlichkeit so nicht bekannt sein. 2012 mit ungewöhnlichen vier Pres- Zudem verwirrt den uninformierten semeldungen innerhalb von elf Laien der verfassungsrechtlich selbst- Tagen 3 – das entspricht der Jahres- verständliche, nicht zuletzt aus dem menge 2011, sofern man Terminan- Trennungsgebot resultierende Hin- kündigungen und Hinweise zu weis auf die »zuständigen Stellen«, Publikationen und Interviews der die die Gefahren abwehren sollen: Behördenleitung unberücksichtigt Warum wehrt der Verfassungsschutz lässt4. Offenkundig bestand also aku- erkannte Gefahren nicht gleich selbst ter Mitteilungsbedarf. Aber ist das in ab? Heißt es nicht immer, auch der der Kommunikationskrise ausrei- Verfassungsschutz betreibe Terroris- chend und wirksam? Welche Folgen musbekämpfung und jage Spione, hat es für die Landesbehörden? Dazu fragt sich der Laie. Hat der Dienst einige Thesen. denn keine eigenen Exekutivbeam- ten? Schaut er wirklich einfach nur zu? Die Erwartung der Öffentlich- keit ist eine andere.

2 So z.B. der frühere Pressesprecher des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Gert Lange, in der Festschrift »Bundesamt für Verfassungsschutz: 50 Jahre im Dienst der inneren Sicherheit«, S.15 ff., Köln 2000. 3 Pressemitteilungen vom 5., 7., 12. und 16. Juli 2012. http://verfassungsschutz.de/de/aktuell_thema/meldungen/, ab- gerufen am 9. August 2012. 4 http://verfassungsschutz.de/de/aktuell_thema/meldungen/ Archiv Jahr 2011, abgerufen am 9. August 2012. 5 § 1 LVSG BW, § 1 Absatz 1 BVerfSchG. 6 § 3 Absatz 1 LVSG BW, § 3 Absatz 1 BVerfSchG. HOLGER SCHMIDT 113

Spricht man als »Fachmann« intensi- Diese, Fachleuten naiv und unwis- ver mit Dritten über die Aufgaben send erscheinenden, Fragen und die des Verfassungsschutzes (bzw. wird dahinter stehenden Vorurteile sind al- der Autor in »Kollegengesprächen«7 lerdings durchaus nachvollziehbar. dazu in Hörfunk und Fernsehen be- Denn auch jenseits der James-Bond- fragt), sind es solche Fragen, die re- Filme werden in weniger spektakulä- präsentativ für das Bild (deutlicher: ren, aber gleichwohl fiktiven Darstel- die Unkenntnis über die Arbeit) des lungen geheimdienstlicher Arbeit Verfassungsschutzes sind. Nicht zu- permanent gesetzliche Grenzen und letzt aufgrund medialer Vorbilder Zuständigkeiten verwischt oder von herrschen ganz andere Erwartungen: Anfang an falsch dargestellt8.Doch Ist es nicht regelmäßig James Bond, niemand scheint sich bislang daran zu der nicht nur das Problem erkennt, stören. Im Gegenteil: »Wer weiß die Hintergründe analysiert, die Bö- schon, was Geheimdienste treiben sen findet und auch sogleich erfolg- und was der Rechtsstaat so zulässt?«9, reich bekämpft? Solche Parallelen, so schreibt der Rezensent des »ARD- abwegig sie den Fachleuten vorkom- Tatorts« in der Stuttgarter Zeitung men mögen, werden tatsächlich gezo- und beschreibt damit eine auch unter gen. Journalisten verbreitete Einstellung.

Auf Deutschland heruntergebrochen Üblicherweise reagieren die betroffe- lautet deshalb häufig die Frage: Ha- nen Behörden darauf intern10 – und ben wir jenseits der bekannten und in seltenen Fällen sogar extern11 – oft zitierten GSG 9 und vergleichba- vergrätzt. Woher dieses Bild stammt rer polizeilicher Spezialeinheiten und wieso es nicht oder nur aus- keine Leute für die heiklen Fälle? Wer gesprochen langsam durch aktive hatsichdennimKalten Krieg mit Medienarbeit korrigiert wird, wird Stasi und KGB duelliert – und unter- erstaunlicherweise kaum hinterfragt. wandert nun (hoffentlich) Islamisten, fängt asiatische Spione und hackt ra- Der Verfassungsschutz unterliegt da- dikale Internetforen? bei einem Geheimschutz-Paradox:

7 Als »Kollegengespräch« wird in der Hörfunk- und Fernsehberichterstattung das (Live-)Interview mit einem Fachkol- legen, also das Gespräch zwischen zwei Journalisten bezeichnet. 8 Beispielhaft: ARD Tatort »Das Gespenst« vom 15.März 2009. Pressetext: »Ein junger Polizist wird am Flughafen Han- nover von Terroristen, die einen Anschlag auf den zentralafrikanischen Diktator Bibala geplant haben, versehentlich ermordet. Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) ermittelt, obwohl der Fall nach kurzer Zeit an den Verfassungs- schutz übergeben wird, und sie entdeckt, dass eine der Terroristinnen ihre beste Freundin aus Kindertagen ist.« 9 Matthias Ring in der Stuttgarter Zeitung vom 16.März 2009, Rezension zum ARD Tatort »Das Gespenst«, siehe Fuß- note 8. 10 Der Autor traf zufällig genau am Tag nach der Ausstrahlung des Films einen Verfassungsschutzpräsidenten des Nordverbundes. Dieser beklagte allerdings vorrangig die erhebliche qualitative Diskrepanz zwischen den realen und im »Tatort« gezeigten Dienstfahrzeugen. 11 So der damalige Präsident des LfV Niedersachsen Günter Heiß in einem Brief an Maria Furtwängler, FAZ, 19. März 2009. 114 »NOBODY DOES IT BETTER?« VERFASSUNGSSCHUTZ UND ÖFFENTLICHKEIT

Viele den Verfassungsschutz betref- man arbeitet. Die früher gängige Pra- fende Dinge müssen aus unterschied- xis, selbst nicht-operatives Personal lichen, für den Außenstehenden teil- mit Arbeitsnamen auszustatten, wird weise nachvollziehbaren Gründen (besonders von langjährigen) Mitar- verborgen bleiben. Quellenschutz beitern heute gerne als »die gute alte kann eine Frage von Leben und Tod Zeit« beschrieben. Mancher, der die- sein, aber auch Datenschutz und ses »Privileg« noch nutzen kann, tut persönlichkeitsrechtliche Gesichts- es auch stolz und öffentlich13. punkte schränken die mögliche Transparenz der Behörden ein. Gleichzeitig bedient der Verfassungs- Gleichzeitig öffnet sich dadurch aber schutz aber immer wieder selbst und das Feld der öffentlichen Spekula- offenkundig genauso gerne wie frei- tion. Das Bild einer allwissenden, willig herrschende Klischees. Sei es allmächtigen Behörde kann dadurch durch dramatische Operationsnamen je nach Situation ebenso entstehen, (»Alberich«, »Feuerball«) oder die wie das einer Laienspielschar12.Denn vermeintlich kindgerechte Präsenta- Fakten sind kaum verfügbar. Wäh- tion nachrichtendienstlicher Arbeit rend die örtliche Freiwillige Feuer- durch»LeoLupix«,einerGestaltin wehr einmal jährlich stolz ihre Fahr- Trenchcoat und Schlapphut14,dieof- zeuge präsentiert, ölgefüllte Pfannen fenkundig den Nachrichtendienst re- abfackelt und Spraydosen explodie- präsentieren soll. Was mit diesem ren lässt, liegt dem Verfassungsschutz Bild erreicht werden soll, bleibt un- die Präsentation eigener Kunststücke klar. fern. Zu seltenen Tagen der offenen Tür werden in einigen Ämtern die im Deutschland hat im europäischen Vorfeld angemeldeten Besucher einer Vergleich in vielerlei Hinsicht eine Sicherheitsüberprüfung unterzogen. untypische Behördenstruktur der Sodann bekommen sie wesentliche Nachrichtendienste und insgesamt Teile der Arbeit nicht zu sehen. Die ein anderes Selbstverständnis und zu- breite Öffentlichkeit wird man so nie dem eine andere »Sicherheitskul- erreichen – und will das offenbar tur«15. Dazu gehört, dass das öffentli- auch gar nicht. Selbst im Freundes- che Bekenntnis zu erfolgreicher kreis der Mitarbeiterinnen und Mit- nachrichtendienstlicher Arbeit nur arbeiter wird oft geheim gehalten, wo gering ausgeprägt ist. »Nobody does

12 Was auch in dem häufig gebrauchten Spruch zum Ausdruck kommt, der Verfassungsschutz bewältige seine Aufgabe rechtmäßig und zugleich recht mäßig. 13 So präsentierte ein ehemaliger Mitarbeiter des Bundesamtes, der 2011 vom Oberlandesgericht Stuttgart als Zeuge im Strafverfahren gegen Verena Becker wegen der Ermordung von Siegfried Buback, Georg Wurster und Wolfgang Göbel geladen worden war, in einer Verhandlungspause einigen Journalisten und Prozessbesuchern vor dem Ver- handlungssaal stolz seinen Dienstausweis, den er »natürlich« immer noch besitze und der »natürlich nicht« auf sei- nen wahren Namen ausgestellt sei. 14 http://verfassungsschutz.de/download/de/presseinfo/downloads/was_steckt_dahinter_3.zip, abgerufen am 9. Au- gust 2012. 15 Christopher Daase in Daase, Christopher/Offermann, Philipp/Rauer, Valentin (Hg.): »Sicherheitskultur – Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr«, Frankfurt am Main 2012, S.23 ff. HOLGER SCHMIDT 115 it better«, schmachtet die US-ameri- schläge und Pannen behandelt wor- kanische Sängerin Carly Simon über den18. Positive Darstellungen oder den Spion, der sie liebte16.Warum Einblicke in die tatsächliche Arbeit würde es in Deutschland wahrschein- finden sich praktisch nicht – was in lich geradezu grotesk wirken und al- Anbetracht der Verhältnisse des Kal- ler Wahrscheinlichkeit nach kein Hit ten Krieges andererseits kaum ver- werden, würde beispielsweise die wundern kann. Informationsarbeit Liedermacherin Pe Werner einen der Verfassungsschutzbehörden und deutschen Nachrichtendienstmitar- des Bundesnachrichtendienstes ge- beiter – ob real oder als Filmfigur – genüber Journalisten fand vor allem hingebungsvoll bewundernd besin- im Hintergrund und mit einem ande- gen? Warum werden tatsächliche ren (beiderseitigen) Selbstverständnis Leistungen von Nachrichtendiensten statt. (sofern erkennbar) in Deutschland sofort hinterfragt, kritisiert, zer- So berichten vereinzelt bundespoliti- pflückt – oder im Extremfall als Beleg sche Korrespondenten aus Zeiten der für offenkundig zu weit reichende Bonner Republik, aber insbesondere Kompetenzen gewertet? (inzwischen aus Altersgründen aus- geschiedene) Auslandskorrespon- denten von einem gänzlich anderen II. Wie und warum ist das Bild Zusammenarbeitsverständnis mit vom Verfassungsschutz den örtlichen BND-Residenten in entstanden? fernen Ländern und an Brennpunk- ten der Weltpolitik, als dies heute der »For Your Eyes Only« Fall ist. Regelmäßige, gar wöchentli- che Botschaftsempfänge als Informa- Die Geschichte der Nachrichten- tionsquelle wurden aus Sicht der dienste im Nachkriegsdeutschland ist Journalisten längst durch Internetre- zwar aus unterschiedlichen Blick- cherche und soziale Netzwerke ver- winkeln ausführlich beschrieben drängt. Eben noch unbekannte Revo- worden17, ihre öffentliche Wahrneh- lutionsführer oder Aufständische mung wurde dabei aber kaum be- sind bereits auf weltweit empfangba- rücksichtigt. In der journalistischen ren Nachrichtenkanälen im Telefon- Praxis ist das Thema Nachrichten- interview zu hören, noch bevor die dienste der Bundesrepublik bis zum örtliche Deutsche Botschaft einen Fall des Eisernen Vorhangs haupt- (potentiellen) abendlichen Empfang sächlich durch Berichte über Fehl- überhaupt kommuniziert hat. Umge-

16 Simon/Hamlisch/Bayer-Sager: »Nobody Does It Better« (The Spy Who Loved Me), EMI 1977. 17 So beispielsweise in Droste: »Handbuch des Verfassungsschutzrechts«, Stuttgart 2007 sowie Krieger/Weber: »Spio- nage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges«, München 1997 jeweils m.w.N. 18 Siehe beispielsweise die Aufzählung bei Lange, a. a. O. Seite 22 – der allerdings von »Attacken« der Presse spricht. 116 »NOBODY DOES IT BETTER?« VERFASSUNGSSCHUTZ UND ÖFFENTLICHKEIT kehrt scheint auch bei den In- und erstattung über die Arbeit des Verfas- Auslandsdiensten die Auswertung sungsschutzes fand bis zum Ende der von Internetquellen im Bereich der 1990er Jahre praktisch nicht statt. »offenen« Informationsbeschaffung Selbst die Zahl der Mitarbeiter in den den Anteil von persönlichen Gesprä- Behörden war jahrzehntelang in der chen zur offenen Informationsge- Öffentlichkeit kein Thema20.Dama- winnung in den Hintergrund gerückt lige Medienarbeit der Behörden ist zu haben. aus heutiger Sicht eher indirekt durch offenkundig erfolgte »Briefings« vor Im Inland sah es Anfang der 2000er allem bei der Berichterstattung über- Jahre sektoral etwas anders aus. Nach regionaler Zeitungen und einzelner den Terroranschlägen von New York Korrespondenten der Rundfunkan- und Washington am 11. September stalten festzustellen. Im Gespräch mit 2001 verstärkten nicht nur Polizei pensionierten (Journalisten-)Kolle- und Nachrichtendienste, sondern gen wird dabei auch deutlich, dass auch die Medien ihr Personal mit diese Informationsgespräche regel- Expertise im Bereich Islamismus/ mäßig mit einen konspirativen An- Islamistischer Terrorismus. Dies strich versehen wurden. »For Your führte nicht nur zum teilweise gleich- Eyes Only«21 – solche Veranstaltun- zeitigen Werben um Absolventen is- gen sollten den – manchmal recht lamwissenschaftlicher Studiengänge, profanen – Informationen Gewicht sondern auch zu einer so starken Spe- geben. Ob das wirklich »dienstlich« zialisierung einiger Journalisten19 mit notwendig war oder als Imagepflege entsprechenden Sprach- und Kultur- angesehen wurde, bleibt offen. kenntnissen, dass zeitweise die Medi- enberichterstattung der polizeilichen Offenkundig rangen die Dienste auf und nachrichtendienstlichen Analyse Bundes- und Landesebene schon da- deutlich voraus war. Dies wurde vor mals mit ihrer internen und externen allem mit dem Aufkommen deutsch- Anerkennung: Der Autor konnte sprachiger Propagandavideos deut- 2009 auf der Grundlage einer beson- lich. Versierte Journalisten und deren Schutzfristverkürzung ge- US-amerikanische Beratungsfirmen heime Unterlagen des Bundesnach- hatten in der Anfangszeit einen Vor- richtendienstes zur Lage in der DDR sprung von vielen Stunden bei der aus den Jahren 1988 und 1989 einse- Analyse neuer Botschaften. hen und hat diese Akten mit der da- maligen Radio-, Fernseh- und Zei- Ob Spionagebekämpfung oder Links- tungsberichterstattung verglichen22. terrorismus: Eine öffentliche Bericht- Dabei fiel (neben anderen Aspekten)

19 Beispielhaft sei Yassin Musharbash genannt. 20 Droste, a. a. O., Anhang 11, S.734 ff. 21 Conti/Leeson: »For Your Eyes Only«, EMI 1981. 22 »Geheimakte DDR: Was wusste der BND über den Mauerfall?« Radiofeature von Katja Glasbrenner, Tobias Hufnagl und Holger Schmidt, SWR 2009. HOLGER SCHMIDT 117 auf, wie sehr und wie häufig sich der hellig eben für jene Quelle gehalten deutsche Auslandsdienst gegenüber wird)hätteneingeführtwerden der Bundesregierung explizit oder können, hat es zahlreiche Anträge, implizit, gefragt oder ungefragt Ablehnungen und Gegenvorstellun- rechtfertigte, dass die eigenen Er- gen zwischen dem Bundesamt, dem kenntnisse im Vergleich zur bundes- Oberlandesgericht Stuttgart, dem deutschen Medienberichterstattung Generalbundesanwalt beim Bundes- besser, älter oder zumindest gleich- gerichtshof, dem Bundesministerium wertig seien. Gleichzeitig wurde des Innern, dem Bundesministerium deutlich, dass Einschätzungen an die der Justiz und sogar dem Bundes- Bundesregierung sinngemäß oder so- kanzleramt gegeben23.Gleichwohl gar wörtlich fast zeitgleich in überre- standen die Akten für das Verfahren gionalen Zeitungen oder in Hörfunk nicht uneingeschränkt zur Verfügung und Fernsehen erschienen – was wie- und blieb die Öffentlichkeit in weiten derum interne Analysen des Dienstes Teilen der Erörterung dieser Akten über die möglichen Informations- von der Hauptverhandlung ausge- quellen der Journalisten nach sich schlossen. Zum Schutz »des Wohls zog. Mechanismen, die heute biswei- des Bundes oder eines deutschen len ebenfalls zu beobachten sind – Landes«24. und regelmäßig als »völlig neue Qua- lität« bezeichnet werden. Für diese Haltung mag es berechtigte, grundsätzliche Erwägungen des Von ähnlichen Widersprüchen ist der Quellenschutzes sowie Grundsätze Umgang des Verfassungsschutzes mit nachrichtendienstlicher Arbeit ge- der Quellenlage im Fall der Ermor- ben. Im konkreten Fall wurde aber dung des früheren Generalbundesan- übersehen, dass durch das engagierte walts Siegfried Buback und seiner Be- Auftreten des Nebenklägers und des- gleiter Georg Wurster und Wolfgang sen publizistische Arbeit25 sowie die Göbel geprägt. Unstreitig hat das umfangreiche Medienberichterstat- Bundesamt für Verfassungsschutz in tung über den Fall längst eine Situa- den 1980er Jahren vertrauliche Infor- tion erreicht war, in der offenkundig mationenüberdenFallvoneiner nichts Wesentliches mehr geheim war Quelle erhalten und darüber Auswer- und die gleichwohl aufrechterhaltene tungsvermerke gefertigt. Über die Weigerung, die Akten uneinge- Frage, wie und in welchem Umfang schränkt freizugeben, als »Schutz« diese Informationen in das zwischen der Angeklagten, bzw. der früheren September 2010 und Juli 2012 gelau- Quelle, angesehen wurde. Durch das fene Strafverfahren gegen Verena Be- Beharren auf den (faktisch nicht mehr cker (die in der Berichterstattung ein- vorhandenen) Schutz der Quelle aus

23 »Wieland will’s wissen« http://www.swr.de/blog/terrorismus/2011/02/07/wieland-wills-wissen/ m.w.N. 24 § 96 StPO, s.a. Meyer-Goßner, 55. Aufl., RZ 4. 25 Michael Buback: »Der zweite Tod meines Vaters«, erw. Ausgabe München 2009. 118 »NOBODY DOES IT BETTER?« VERFASSUNGSSCHUTZ UND ÖFFENTLICHKEIT prinzipiellen Erwägungen entstan- dien (abgesehen von der Berichter- den eine enorme Spekulationsmasse stattung über einzelne Fehlschläge) und ein Imageschaden für die Staats- nicht grundsätzlich hinterfragt, ob- gewalt insgesamt (»schmutzige Ge- wohl es nach dem Maßstab der schichte«). Es scheint nicht plausibel, Rechtsprechung in den 1980er Jahren dass hierfür der pro-forma-Schutz heute gesichert erscheint, dass den der Quelle ein angemessener Preis Behörden teilweise die rechtliche war. Und es ist fernliegend, dass po- Grundlage für die nachrichtendienst- tentielle künftige Quellen der deut- liche Arbeit fehlte26.Warumwurde schen Nachrichtendienste durch dieser rechtswidrige Zustand von den diese Debatte ein positives Bild von Medien nicht entdeckt und themati- den deutschen Verfassungsbehörden siert? Ist es eine Folge der Informati- bekommen könnten. Denn unter onspolitik »Abschotten oder Einbin- dem Strich sind – scheibchenweise – den«? Gleichwohl ist in den 1980er wohl doch alle wesentlichen Infor- Jahren ein Vertrauensschwund der mationen der Quelle offenbar gewor- Öffentlichkeit in den Verfassungs- den. Also bleiben als »Gewinn« der schutz zu beobachten27. Weigerung zur Preisgabe nur der Vertrauensverlust und die dadurch Zunächst mit dem Zusammenbruch teilweise aufgekommene Verschwö- der DDR und der Wiedervereini- rungstheorie von der »schützenden gung, dann mit der Auflösung der Hand«. Dies wäre ohne große Not »Rote Armee Fraktion« und spätes- vermeidbar gewesen. tens 2001 mit der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus än- derte sich für die Nachrichtendienste III. Ist das Bild in der Öffentlich- die Aufgabenstellung und damit auch keit eigentlich gewollt? das Bild in der Öffentlichkeit grund- legend. Viele inhaltliche und organi- »WeHaveAlltheTimeinthe satorische Aspekte dieses Wechsels World« und der Internationalisierung sind zahlreich beschrieben worden28.Für Interessanterweise wurde die Arbeit den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit der Verfassungsschutzbehörden in scheinen der Untergang der DDR den vom Linksterrorismus geprägten und die damit einhergehende Auflö- 1970er Jahren in den etablierten Me- sung des »Ministeriums für Staatssi-

26 So bekam das LfV Baden-Württemberg wohl erst 1978 die gesetzliche Befugnis zur Anwendung nachrichtendienstli- cher Mittel, s. a. Reinhard Klee: »Neue Instrumente der Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten«, Ba- den-Baden 2010, S.76 m.w.N. 27 Joachim Wagner in: »Verfassungsschutz und Demokratie« Festschrift zum 40. Geburtstag des Bundesamtes für Ver- fassungsschutz, Köln 1990, Seite 204 ff. 28 So von Rene ´ Wagner et al. in der FAZ vom 1. Juni 2004 »Vernetzung und Schwerpunktbildung – Folgen der Verfas- sungsschutzämter nach dem 11. September« oder von Reinhard Rupprecht: »Probleme und Perspektiven einer Zu- sammenarbeit der Inlandsnachrichtendienste in einem zusammenwachsenden Europa« in »Bundesamt für Verfas- sungsschutz – 50 Jahre im Dienst der Inneren Sicherheit«, a. a. O. HOLGER SCHMIDT 119 cherheit« (MfS) nicht ohne Neben- werden. Doch die gravierenden, wirkung gewesen zu sein. grundlegenden Unterschiede zum Unrechtsstaat DDR30, nämlich der Die Berichterstattung über die Men- unbedingte Schutz des Kernbereichs, schenrechtsverletzungen durch das der Richtervorbehalt und die parla- MfS, die paradoxerweise erst durch mentarische Kontrolle der Behörden, die Aufarbeitung der Untaten und bleiben in der Praxis seltsam abstrakt. den international beispielhaften Zu- In der Sprache der Medien gespro- gang zu den Unterlagen der Behörde chen: Es fehlen die Gegenbilder. entstanden ist, droht auch auf die de- mokratisch kontrollierten Dienste Aus tatsächlichen oder vermeintli- der Bundesrepublik zurückzufallen. chen Gründen der Geheimhaltung Längst ist auch dieses Thema in Hol- und aus der Sorge, die Möglichkeiten lywood angekommen29,derWelt und Grenzen der »Beschaffung« zu der »James-Bond«-Filme wird eine offenbaren, wird weder auf der Seite (leider reale) deutsche Ebene hinzu- der Nachrichtendienste, noch auf der gefügt. Gleichzeitig bleibt das Innen- Seite der Polizei Transparenz zuge- leben der demokratischen Dienste lassen. Damit entgeht den Behörden verborgen. Kann das ohne abfärben- zugleich die Chance, Gegenbilder zu den Effekt bleiben? erzeugen und – gesamtgesellschaft- lich – Vertrauen und Anerkennung Ein eindrückliches wiederkehrendes für die Arbeit der Nachrichten- Element im Film »Das Leben der An- dienste zu gewinnen. Nach dem deren« sind Szenen, in denen ein MfS- Eindruck des Autors wird dieses Di- Offizier in einer Dachkammer eines lemma in vielen Behörden durchaus Ost-Berliner Mietshauses sitzt und gesehen, mit der Umsetzung einer mittelsWanzen die Gespräche ineiner Gegenstrategie jedoch gezaudert. Privatwohnung unter ihm abhört. Auch deshalb, weil man intern ja Reflektiert der durchschnittliche Ki- weiß, dass man selbst zu den Guten nobesucher diese Szenen, kann er von gehört. Das wird die Öffentlichkeit zwei Dingen ausgehen: Auch demo- schon wissen. Oder irgendwann ein- kratisch und rechtsstaatlich han- mal verstehen. »We Have All the delnde (Ermittlungs-)Behörden kön- Time in the World«31? nen eine solche Abhörmaßnahme im Prinzip durchführen; und für die han- Die Folgen dieser unterlassenen delndenBeamtenergebensichtheore- Transparenzsind2012fürdieBundes- tisch die gleichen Situationen der behörde und mehrere Landesbehör- Beobachtung der Intimsphäre (»Kern- den im Zusammenhang mit dem »Na- bereich«), wie sie im Film geschildert tionalsozialistischen Untergrund«

29 »Das Leben der Anderen«, Buch und Regie Florian Graf Henckel von Donnersmarck, Deutschland 2006. 30 Siehe auch Droste, a. a. O. S.365. 31 Armstrong/Barry/David: »We Have All the Time in the World« (On Her Majesty’s Secret Service), EMI 1969. 120 »NOBODY DOES IT BETTER?« VERFASSUNGSSCHUTZ UND ÖFFENTLICHKEIT ganz unmittelbar zu spüren. Eben können), dem kommen zumindest weil es praktisch keine Referenz für Zweifel an der Darstellung. Wer aber die Arbeit der Behörden gibt, schei- andererseits mitbekommt, wie zöger- nen auch abwegigste Behauptungen lich die Aufsichtsbehörde in diesem über die Rolle der Nachrichten- Fall den parlamentarischen Untersu- dienste in dem Fallkomplex denkbar chungsausschuss des Deutschen oder sogar plausibel. Haben Verfas- Bundestages33 unterrichtet34 und wie sungsschützer aus Bayern und Ba- ängstlich mit der Information umge- den-Württemberg den Mord an der gangen wird, dass in engerem zeitli- Polizeibeamtin Mich`ele Kiesewetter chen Zusammenhang, jedoch nicht und den Mordversuch an ihrem Kol- am Tattag und nicht im Zusammen- legen im April 2007 in Heilbronn im hang mit der Tat, ein Observations- Rahmen eines Observationseinsatzes team des Landesamtes Baden-Würt- mit eigenen Augen beobachtet, wie temberg am Tatort war35,dersieht der »stern«32 herausgefunden haben neue, negative, vor allem aber völlig will? Wohl nicht. unnötige Schlagzeilen kommen.

Aber wie viele Journalisten haben Ähnlich steht es um die Affäre um eine konkrete Vorstellung von der den so genannten »Schredder-Mann«, Arbeit der drei baden-württembergi- der während der internen Suche nach schen Observationsteams des Lan- Informationen über den »National- desamtes für Verfassungsschutz? Wer sozialistischen Untergrund« im No- hat schon einmal mit beteiligten Be- vember 2011 im Bundesamt für amtinnen und Beamten oder deren Verfassungsschutz die Vernichtung Vorgesetzten über ihre Arbeit und mutmaßlich wesentlicher Akten an- Motivation gesprochen? Würden sie geordnet haben soll und dessen Han- wirklich regungs- und kommentarlos deln offenkundig einer der Gründe die Ermordung einer Polizeibeamtin für das vorzeitige Ausscheiden des und den Mordversuch an ihrem Kol- BfV-Präsidenten Heinz Fromm ge- legen hinnehmen? Wer weiß, dass wesen ist. Ohne den internen, zum Observationsteams in der damaligen Redaktionsschluss noch laufenden, Hochphase der Ermittlungen gegen Untersuchungen vorgreifen zu wol- die sogenannte »Sauerland-Gruppe« len: Es mutet bedenklich an, dass in grundsätzlich bewaffnet im Einsatz den dynamischen Tagen nach Entde- waren (und somit ggf. sogar erfolg- ckung der Struktur um Böhnhardt, versprechend Nothilfe hätten leisten Mundlos und Zschäpe Anfang No-

32 Rainer Nübel, Hans-Peter Schütz: »Mord unter den Augen des Gesetzes? Ein amerikanischer Geheimdienstbericht legt nahe, dass deutsche Verfassungsschützer Zeugen des Heilbronner Polizistenmordes waren. Warum schwiegen sie dann?« In: Stern, Nr.49, 1. Sezember 2011, S.36–40 33 2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages in der 17. Wahlperiode (»Nationalsozialistischer Unter- grund«) http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/ua/2untersuchungsausschuss/index.jsp, abgerufen am 9. August 2012. 34 Zum Redaktionsschluss stand die Behandlung dieses Themas vor dem Untersuchungsausschuss noch aus. 35 So jedenfalls der Recherchestand des Autors. HOLGER SCHMIDT 121 vember 2011 in einer Verfassungs- hörde zu verfassen. Gleichwohl schutzbehörde überhaupt ein anderer drängt sich auf, dass nur mit einer Gedanke geherrscht haben kann, als größeren Bereitschaft zur Transpa- der der umfassenden Informations- renz (mittelfristig) auch eine bessere gewinnung. Akzeptanz und zutreffendere Wahr- nehmung der Verfassungsschutzbe- Auf der politischen Bühne spielte die hörden in der Öffentlichkeit zu errei- Diskussion um die Öffentlichkeits- chen sind. Anregungen hierzu will wirkung des Verfassungsschutzes bis dieser Text in seiner Gesamtheit ge- zur Entdeckung des »Nationalsozia- ben. listischen Untergrunds« praktisch keine Rolle. Allenfalls die Öffentlich- Dabei geht es vor allem um eine keitsarbeit der Dienste, insbesondere qualitative Verbesserung: Regelmä- in der Form der Bildungsarbeit, ßige Frühjahrs- oder Herbstgesprä- wurde in der Vergangenheit unter che zu feststehenden Themen sowie dem Blickpunkt einer möglichen Jahressymposien (wie sie etwa das Einflussnahme auf die politische Bil- Bundesamt mit großem logistischen dung diskutiert36.DiesesThema Aufwand betreibt) werden von den wurde auch im Bund37 und einzelnen Journalisten immer daran gemessen Ländern38 zum Gegenstand parla- werden, wie wertig die übermittelten mentarischer Anfragen. Informationen sind bzw. empfunden werden. Man muss jedoch kein Prophet sein, um auch hier künftige Veränderun- Dabei geht es keinesfalls darum, dass gen für die Verfassungsschutzbehör- sich zwischen Medien und Diensten den vorauszusehen. »the Look of Love«39 einstellen soll. Hat man als Journalist den Eindruck, nichts wesentlich Neues erfahren zu IV. Was könnte, was sollte der haben, sinkt nicht nur die Bereit- Verfassungsschutz ändern? schaft zur Teilnahme am nächsten Gespräch. Es leidet auch der Gesamt- »The Look of Love« eindruck von Kompetenz und/oder Mitteilungsbereitschaft der Behörde. Der Autor erliegt an dieser Stelle Dies kann unerwünschte Nebenef- nicht der Versuchung, einen journa- fekte haben: Taucht plötzlich ein listischen Wunschzettel an die Be- neues bzw. nicht erkanntes Phäno-

36 So TAZ vom 18. Februar 2000 »Aufklären bildet fürs Konspirative« über den Verfassungsschutz auf der Bildungs- messe in Köln oder Michael Mara in Der Tagesspiegel vom 30. September 2004 »Hilfe vom Geheimdienst« über die Unterricht des Verfassungsschutzes an brandenburgischen Schulen zum Thema Rechtsextremismus. 37 Kleine Anfrage der Abgeordneten Jelpke, Korte, Pau und weiterer Abgeordneter der Fraktion »Die Linke« vom 14. April 2010/BT -Drucksache 17/1366. 38 Kleine Anfrage vom 12. Januar 2011 der Abgeordneten Dr. Heinen-Kljajic und Limburg (Bündnis90/Die Grünen) im niedersächsischen Landtag; Kleine Anfrage 2073/05 der Abgeordneten Rothe-Beinlich im Thüringer Landtag. 39 Bacharach/David/Springfield: »The Look of Love« (Casino Royale), Colgems 1967. 122 »NOBODY DOES IT BETTER?« VERFASSUNGSSCHUTZ UND ÖFFENTLICHKEIT men auf (wie es beim »Nationalsozia- Thema der Inneren Sicherheit sollte listischen Untergrund« der Fall war), vonbeidenSeiten–MedienundBe- werden die Journalisten die betroffe- hörden – ein gewisses Kennverhältnis nen Behörden auch (oder mangels der Beteiligten angestrebt werden: Alternative auch nur) daran messen, Ein Journalist wird in einer akuten was bei solchen Veranstaltungen in Lage einem ihm unbekannten Behör- der Vergangenheit zu hören war. denvertreter vermutlich ebenso reser- Konkret bedeutet dies: Je weniger viert gegenüberstehen wie der Ver- konkret eine Verfassungsschutzbe- treter der Behörde dem ihm nicht hörde über ihre jeweilige Arbeit be- bekannten Journalisten. Erfahrungs- richtet, desto größer ist die Gefahr, gemäß hat die Diversifizierung der dass sie beim Auftauchen eines neuen Medienlandschaft in den vergange- Phänomens prima facie als »über- nenJahrendiesenEffektnochver- rascht«, »überrumpelt« oder »über- stärkt. fordert« dargestellt wird. Einen solchen ersten Eindruck in der Be- Andere (Sicherheits-)Behörden ver- richterstattung wieder zu korrigieren suchen, diesem Effekt mit einer per- (»zu drehen«) ist sehr schwer – oder sonellen Kontinuität zu begegnen – gar nicht mehr möglich. auch wenn in manchen Behörden in- tern die Befürchtung zu hören ist, es Das Landesamt für Verfassungs- könne dadurch im Laufe der Zeit zu schutz Baden-Württemberg hat in »zu engen« Kontakten mit den »übli- den vergangenen Jahren mehrere For- chen« Journalisten kommen. Dabei men der Öffentlichkeits- und Medi- darf nicht verkannt werden, dass enarbeit ausprobiert. Als Begründer diese Sorge auch auf Seiten der Me- der »Öffnung nach außen« gilt der dien herrscht: Sinkt die Beißhem- frühere Präsident Dr. Helmut Ran- mung gegen eine Behörde, wenn ein nacher (1995–2005). Gab es unter gutes Verhältnis zur Pressestelle auf dem nachfolgenden Präsidenten Jo- dem Spiel steht? Tatsache ist: Beson- hannes Schmalzl (2005–2007) erst- ders in kritischen Lagen wie Entfüh- mals einen hauptamtlichen Presse- rungen und Geiselnahmen wird die sprecher, so ist die Aufgabe heute un- Kommunikation zwischen Sicher- ter Präsidentin Beate Bube insgesamt heitsbehörde und Journalisten häufig beim Leitungsstab angesiedelt. Beide einfacher, wenn Vorerfahrungen in Modelle mögen im internen Ablauf der Zusammenarbeit bestehen. Dabei ihre Vorzüge haben. Für Journalisten bleiben die – teilweise höchst gegen- bringen jedoch mehrere parallele und sätzlichen – unterschiedlichen Inte- zudem häufig wechselnde Ansprech- ressenslagen von Behörde und Me- partner (mit teilweise von außen dien gleichwohl bestehen. nicht erkennbaren Zuständigkeiten) und unterschiedlichen Kontaktnum- Eines ist jedoch praktisch ausge- mern in der Regel keine Vorteile. Im schlossen: In einer Kommunikations- Gegenteil: Gerade beim sensiblen krise wird sich kein nachhaltiges (Ver- HOLGER SCHMIDT 123 trauens-)Verhältnis zwischen einer Teil einfach auf die bereits veröffent- Behörde und der Öffentlichkeit im lichten Passagen ihrer Jahresberichte Allgemeinen oder den Medien im Be- verweisen. Eine solche Auskunft ist sonderen aufbauen lassen. Kontakte, unbestreitbar formal korrekt, birgt die nicht zuvor etabliert waren, wer- aber die beschriebenen Gefahren der den sich in der akuten Situation nicht nachhaltigen negativen Imagebildung ergeben. Deshalb ist es wenig ver- in sich. wunderlich, dass in der Verfassungs- schutzkrise nach der Entdeckung Für Journalisten ist dabei interessant, des »Nationalsozialistischen Unter- dass eine solche restriktive Informati- grunds« mangels nachhaltiger Medi- onspolitik einzelner Behörden in den enarbeit und positiver Erfahrungen übergeordneten Ministerien biswei- der Öffentlichkeit mit »ihrem« Ver- len kritischer gesehen wird als in den fassungsschutz dem ungläubigen Diensten selbst. Dies könnte dazu Staunen über das Nicht-Wissen so- führen, dass es neben offizieller wie dem Misstrauen gegen die Insti- Unterrichtungen durch das Ministe- tution an sich praktisch keine positi- rium (»Hintergrundgespräche«, häu- ven Erkenntnisse entgegengesetzt fig auch unter Beteiligung der Behör- werden konnten. denleitung und/oder Fachvertretern) auch halboffizielle Informations- In der Praxis kommt von Verfas- flüsse über die Erkenntnisse des je- sungsschutzbehörden an dieser Stelle weiligen Verfassungsschutzamtes an der Diskussion häufig der Hinweis, diesem vorbei (besser: über dieses man sei ja nicht die Polizei; deswegen hinweg) direkt aus dem Ministerium seien Auskünfte ohnehin nur in aus- gibt. Über Einzelheiten wird sich ein gesprochen begrenztem Umfang und Journalist nicht äußern. grundsätzlich nicht in konkreten Einzelfällen möglich. Und die Ar- Wenige positive Ausnahmen sollen beitsweisen sowieso streng geheim. erwähnt werden: So sind einzelne Diese Ansicht findet sich so auch in Landesämter in jüngerer Zeit dazu der Literatur. Droste unterscheidet übergegangen, Fachsymposien41 auch schlicht zwischen dem eigenen Aus- für die breite Öffentlichkeit und die kunftsanspruch des Betroffenen (§ 15 Medien zu öffnen. Im Gegensatz zu BVerfSchG) und der Öffentlichkeits- den eher als internationale Werbe- arbeit nach § 16 II BVerfSchG und und Kontaktveranstaltung angelegten lehnt darüber hinausgehende Aus- Blockbustern der Bundesbehörden künfte grundsätzlich ab40.Demfol- (das Jahressymposium des Bundes- gen viele Ämter bedauerlich konse- amtes für Verfassungsschutz und die quent, indem sie auf Anfragen zum Zweijahresveranstaltungen des Bun-

40 Droste,a.a.O.S.541f. 41 Beispielhaft seien die Veranstaltungen »Globaler Jihad« des Landesamtes Baden-Württemberg 2011 sowie »Islamis- tisch motivierter Terrorismus: Internationale Entwicklungen – Aktuelle Lage – Handlungskonzepte« des Hamburger Verfassungsschutzes 2009 erwähnt. 124 »NOBODY DOES IT BETTER?« VERFASSUNGSSCHUTZ UND ÖFFENTLICHKEIT desnachrichtendienstes) bieten sol- Presseerklärung herauszugeben, die che Veranstaltungen wirkliche Mög- mit dem Absatz schloss: lichkeiten, das Know-how der Be- hörden kennen und einschätzen zu »Möglicher unkorrekter Arbeitsweise lernen. wird nachgegangen. Dabei ist festzu- stellen, dass Fehlverhalten einzelner Das Grundproblem bleibt aber beste- Mitarbeiter nicht repräsentativ ist für hen: Wie erreicht die Verfassungs- die Arbeit der rund 2.700 Beschäftig- schutzbehörde ein zutreffendes, ten des BfV.«43 angemessenes Bild in der Öffentlich- keit? Das fängt schon ganz praktisch Dieser Satz ist aus der Binnen-Sicht mit dem Namen an: Der »Verfas- der Behörde ebenso nachvollziehbar, sungsschutz« schützt bei wörtlicher wie er aus dem Blickwinkel moderner Auslegung zunächst »nur« die Ver- PR-Arbeit eine Bankrotterklärung fassung, nicht unmittelbar den Bür- ist. ger42. Andere Institutionen, wie Feuer-Wehr und Rettungs-Dienst ha- Als Staatsbürger würde man mit ben es da schon begrifflich einfacher. Blick auf den eigenen Verfassungs- Aber das Problem der Darstellung ih- schutz einen anderen Satz viel lieber rer Arbeit und ihres Auftrags setzt hören: »Nobody does it better!« sich – wie dargestellt – weit über den Begriff hinaus fort. Quellenhinweise: Wie werden Journalisten in die Lage versetzt, sich ein fundiertes Bild über Bundesamt für Verfassungsschutz die Arbeit zu machen? Diese Frage (Hg.): »50 Jahre im Dienst der Inne- zum Verhältnis von Verfassungs- ren Sicherheit«, Festschrift, Köln schutz und Öffentlichkeit ist für die 2000. Behörden nicht nur mit Blick auf das Wohlwollen ihrer Dienstaufsicht Bundesamt für Verfassungsschutz wichtig. Das Bild des eigenen Amts (Hg.): »Verfassungsschutz in der De- wird immer auch die Motivation der mokratie«, Festschrift, Köln 1990. Mitarbeiter beeinflussen. So verwun- dert es nicht, dass sich das Bundesamt Daase, Christopher/Offermann, Phi- für Verfassungsschutz in der Krise lipp/Rauer, Valentin (Hg.): »Sicher- um die möglicherweise voreilig ver- heitskultur – Soziale und politische nichteten Akten und den Rückzug Praktiken der Gefahrenabwehr«, des Präsidenten genötigt sah, eine Frankfurt am Main 2012.

42 Bezeichnenderweise lässt sich eine interessante Parallele zum polizeilichen Begriff »Staatsschutz« ziehen. 43 Pressemitteilung des BfV vom 12 Juli 2012, http://www.verfassungsschutz.de/download/SHOW/me_20120712_auf- klaerung.pdf, abgerufen am 9. September 2012. HOLGER SCHMIDT 125

Droste, Bernadette: »Handbuch des Nachrichtendiensten«, Baden-Baden Verfassungsschutzrechts«, Stuttgart 2010. 2007. Krieger, Wolfgang/Weber, Jürgen Glasbrenner, Katja/Hufnagl, Tobias/ (Hg.): »Spionage für den Frieden? Schmidt, Holger: »Geheimakte DDR Nachrichtendienste in Deutschland – was wusste der BND über den während des Kalten Krieges«, Mün- Mauerfall?«, Radiofeature. Eine Pro- chen 1997. duktion des Südwestrundfunks 2009. Schmidt, Holger: Internetblog »Ter- Klee, Reinhard: »Neue Instrumente rorismus in Deutschland« der Zusammenarbeit von Polizei und (www.swr.de/blog/terrorismus).

127

Verfassungsschutz und Öffentlichkeit – Zur Rolle des Nachrichtendienstes in der deutschen Demokratie

WINFRIEDE SCHREIBER

Die Aufklärungsarbeit des Verfas- eine juristische Position einer politik- sungsschutzes ist rechtlich nicht zu be- wissenschaftlichen gegenübersteht, anstanden. (…) Der seit 1974 auf Auf- zeigt sich, wie weit die Vorstellungen forderung des Deutschen Bundestages über Zuständigkeiten des Verfas- konzipierte »Verfassungsschutz durch sungsschutzes auseinanderklaffen. Aufklärung« wurde ständig weiter- Deutlich wird ebenso, wie unter- entwickelt und entspricht in seiner schiedlich die Verteilung der Aufga- neueren dialogorientierten Öffent- ben und Befugnisse zwischen Staat lichkeitsarbeit der Rechtssprechung und Gesellschaft gesehen wird. Be- des Bundesverfassungsgerichtes in be- sonders die Aussage, der Verfas- sonderem Maße. sungsschutz sei ein »Fremdkörper in (Dr. Hartwig Möller, ehemaliger Lei- einer offenen, pluralen, auf Transpa- ter des Verfassungsschutzes Nord- renz und rationalen Diskurs unter rhein-Westfalen, am 21. März 2012 in Gleichen ausgerichteten Zivilgesell- Potsdam bei der Diskussionsveran- schaft«, zeigt, wie das Bild des Verfas- staltung »Verfassungsschutz durch sungsschutzes durch die jüngere Aufklärung?«) deutsche Geschichte geprägt ist. Ge- rade in den neuen Bundesländern Der administrative Verfassungsschutz sind die Erinnerungen an die DDR- ist ein Fremdkörper in einer offenen, Staatssicherheit noch sehr lebendig. pluralen, auf Transparenz und ratio- Bei aller Vielfalt der Ansichten ist nalen Diskurs unter Gleichen ausge- aber festzustellen: In unserer demo- richteten Zivilgesellschaft. (…) Er hat kratischen Gesellschaft besteht eine keinen Bildungsauftrag. Er darf als Übereinstimmung der Interessen von Nachrichtendienst und wegen seiner Gesellschaft und Verfassungsschutz: repressiven Praxis nicht zugleich als Beide wollen die Demokratie schüt- Bildungsakteur anerkannt werden. zen. Diesen Auftrag zu kommunizie- (Dr. Michael Kohlstruck, Politik- ren, ist für den Verfassungsschutz und Antisemitismusforscher an der eine große Herausforderung. TU Berlin, bei derselben Veranstal- tung) Der beste Schutz der Beide Thesen standen im Zentrum ei- Demokratie ist die informierte ner Veranstaltung der brandenburgi- Zivilgesellschaft schen Landeszentrale für politische Bildung. Sie wurde in Kooperation Juristisch betrachtet sind die Zustän- mit dem Verfassungsschutz im Früh- digkeiten des Verfassungsschutzes jahr 2012 durchgeführt. Obwohl hier eindeutig geregelt. Im brandenburgi- 128 ZUR ROLLE DES NACHRICHTENDIENSTES IN DER DEUTSCHEN DEMOKRATIE schen Verfassungsschutzgesetz heißt schen Erscheinungsformen auseinan- es: »Die Verfassungsschutzbehörde derzusetzen. Neben Zivilcourage ge- unterrichtet die Landesregierung und hört dazu vor allem Wissen. Nur die andere zuständige Stellen über Gefah- aufgeklärte Zivilgesellschaft kann die ren für die freiheitliche demokratische Feinde der Demokratie identifizieren Grundordnung (…) Dadurch soll es ih- und deren Strategien und Täu- nen insbesondere ermöglicht werden, schungsmanöver durchschauen. Nur rechtzeitigdieerforderlichenMaßnah- sie ist langfristig in der Lage, durch men zur Abwehr dieser Gefahren zu erfolgreiche Extremismusbekämp- ergreifen. (…) Die Verfassungsschutz- fung eine lebendige Demokratie zu behörde informiert die Öffentlichkeit gewährleisten. Sicherlich gibt es Ein- in zusammenfassenden Berichten«. richtungen wie Schulen, Landeszen- Hierbei erschöpft sich die Pflicht nicht tralen für politische Bildung und im Verfassen des jährlichen Verfas- nicht-staatliche Träger, die diese sungsschutzberichtes, sondern geht Aufgabe gleichfalls wahrnehmen. Je- weit darüber hinaus. Der Verfassungs- doch hat der Verfassungsschutz auf- schutz ist einer der vielen Akteure in grund seiner insbesondere nachrich- unserem Rechtsstaat, die in ihrem Zu- tendienstlichen Möglichkeiten zur sammenwirken sicherstellen, dass die Datenerhebung einen besonderen freiheitliche demokratische Grund- Informationsvorsprung. Diese Infor- ordnung nicht nur Bestand hat, son- mationen zielgruppengerecht aufzu- dern von möglichst vielen erfolgreich arbeiten und den Bedarfsträgern zur gelebt werden kann. Verfassungs- Verfügung zu stellen, ist eine seiner schutz kann als eine Institution um- Kernaufgaben. Verfassungsschutz ist schrieben werden, die Informations- deshalb kein Fremdkörper in einer management betreibt, also Daten offenen Gesellschaft, sondern ein ele- erhebt, verarbeitet und für seine Ad- mentarer Teil von ihr. ressaten aufarbeitet. Als Behörde ohne exekutive Befugnisse, wie sie der Poli- »Der Verfassungsschutz ist in einer zei zustehen, kann der Verfassungs- freiheitlich rechtsstaatlichen Demo- schutz alleine über Kommunikation kratie wie der unseren, die selbst Wirkung entfalten. Er muss sich daher der verfassungsfeindlichen politischen alsDemokratiedienstleisterverstehen. Betätigung einen äußersten Freiheits- spielraum lässt, die notwendige Kehr- Der wichtigste Informationsemp- seite einer solchen liberalen Demo- fänger ist die Zivilgesellschaft selbst. kratie. Denn hier gibt es um der Unser Grundgesetz erlaubt demo- Selbstverteidigung dieser freiheitli- kratiefeindliche Meinungen. Da chen Demokratie willen gegen alle Extremismus zunächst kein Straftat- Feinde der Freiheit nur die politische bestand ist und Strafverfolgungsbe- Alternative: alle verfassungsfeindli- hörden somit noch keine Handhabe chen Bestrebungen, die gegen Be- dagegen haben, ist die Zivilgesell- stand und Ordnung dieser freiheitlich schaft gefordert, sich mit extremisti- rechtsstaatlichen Demokratie gerich- WINFRIEDE SCHREIBER 129 tet sind, schon im Ansatz zu verbie- durch die soziale Desintegration nicht ten. Oder aber, und dies ist die gegeben ist. Es ist also keineswegs die Grundentscheidung unserer Verfas- politische Motivation, die junge Men- sung: solche verfassungsfeindlichen schenindieFängederExtremisten Betätigungen solange zuzulassen, wie treibt, sondern die Suche nach einer sie nicht den staatlichen Bestand und Gruppenzugehörigkeit, nach Selbst- die freiheitliche Ordnung gefährden. wertgefühl. Diese Mechanismen ken- nen Rechtsextremisten genau, denn Um die Überschreitung dieser Linie sie werben mit Abenteuerveranstal- feststellen zu können, von der an ver- tungen wie Fackelzügen, Sonnen- fassungsfeindliche Betätigungen zu wendfeiern, Kameradschaftsabenden einer Gefahr für unsere freiheitlich und Konzerten. demokratische Grundordnung wer- den, der nicht mehr mit politischen Mittlerweile haben aber auch islamis- Mitteln, sondern nunmehr mit juristi- tische Extremisten erkannt, wie man schen Mitteln begegnet werden kann, neue Mitglieder wirbt. Sie nutzen ju- muss man dieses Vorfeld notwendig gendkulturkompatible Erscheinun- beobachten. Unser Verfassungsschutz gen der westlichen Gesellschaft wie ist der Preis, den wir zahlen für die in- beispielsweise Hip-Hop und Rap. nere Sicherheit in einem Staat der äu- Hinzu kommen extremistische Predi- ßersten Freiheit (…)« ger, die wie Popstars auftreten. Diese (Bundesverfassungsgericht, NJW Tendenz durchzieht die ganze isla- 1976, 38) mistisch-extremistische Szene. Struk- turen, die sich im Verborgenen um ehemalige Mujaheddinkämpfer for- Extremismus als Abenteuer mieren, sowie radikale Moscheenge- meinden,dievonextremistischenPre- Während Extremismusbekämpfung digern aufgeheizt werden, verlieren auf Aufklärung setzt, beruht der Ex- ihr Alleinstellungsmerkmal für Radi- tremismus weitgehend auf Verklä- kalisierungsprozesse. Die islamistisch- rung.Extremistengaukelnvor,füralle extremistische Szene wird dadurch he- Probleme eine bessere Lösung zu ha- terogener und jünger. Sie ist weniger ben. Man müsse ihnen und ihrer Sys- vernetzt und weniger international or- temidee nur folgen. Dabei locken sie ganisiert, was sie jedoch alles andere als mit perfiden Methoden. Oftmals sind ungefährlicher macht. Forciert wird Menschen anfällig für extremistisches diese Entwicklung durch ansprechend Gedankengut, wenn sie sich als Au- gestaltete Internetauftritte. Sie sind das ßenseiter fühlen, wenn ihnen Aner- ›einladende‹ Tor, um in den islamisti- kennung fehlt. Pfeiffer beschreibt schen Extremismus einzutreten. beispielsweise, dass desintegrierte Ju- gendliche meist Anschluss an Grup- Es ist für Jugendliche eine ganz nor- pen suchen, um eine Bestätigung des male Entwicklung, Gruppenzugehö- Ich-Gefühls zu erhalten, was ihnen rigkeit zu suchen, um sich von der Er- 130 ZUR ROLLE DES NACHRICHTENDIENSTES IN DER DEUTSCHEN DEMOKRATIE wachsenenwelt abzugrenzen. Dazu auch eine positive Integrationsleis- gehören auch Modemarken, eigene tung bieten. Wer über einen Sportver- Codes und eigene Wertvorstellungen, ein oder auch die Feuerwehr sozial in- die bewusst auf Provokation setzen. tegriert ist, braucht keinen Anschluss Problematisch wird es erst, wenn an Extremisten. Eine Radikalisierung diese Modemarken und Codes ex- kommt so erst gar nicht zustande. tremistische Botschaften oder Wert- Wichtig ist vor allem, dass Personen vorstellungen enthalten, die auf eine wie beispielsweise Klassenlehrer, Trai- Ablehnung der freiheitlichen demo- ner einer Fußballmannschaft oder auch kratischen Grundordnung hinauslau- Jugendleiter der Feuerwehr, die das fen. Die Unterscheidung von normaler Vertrauen der Jugendlichen genießen, Jugendkultur und extremistischer über die Gefahren und Mechanismen Gruppierung ist für Eltern, Lehrer informiert sind. Denn sie sprechen die und andere Bezugspersonen ein Sprache der Jugendlichen, und ein ver- schwieriges Unterfangen. Das liegt trauensvolles Gespräch mit dem Fuß- vor allem daran, dass extremistische balltrainer bringt oftmals mehr als jede Botschaften meist verschlüsselt oder politische Weiterbildung. nur angedeutet sind. Gerade diese an- gedeuteten Botschaften sind die ge- Um Informationen möglichst gezielt fährlichsten, denn der Neuling weiß an solche Multiplikatoren sowie an nicht, worauf er sich einlässt. Und die kommunale Entscheidungsträger he- Zivilgesellschaft wird sich des Pro- ranzutragen, hat der brandenburgi- blems zunächst nicht bewusst. Um sche Verfassungsschutz seine strate- dieses Informationsdefizit auszuglei- gische Kommunikation im Bereich chen, ist ein Informationsmanage- »Verfassungsschutz durch Aufklä- ment vonnöten, wobei dem Verfas- rung« seit 2006 kontinuierlich ausge- sungsschutz als Informationsdienst- baut und immer mehr Kooperations- leister eine wichtige Rolle zukommt. partner geworben.

Neben Fachtagungen, die eher ein Prävention in Brandenburg Fachpublikum ansprechen, wurden Konzepte entwickelt, die einerseits si- Prävention ist dann am wirksamsten, tuationsbezogenspezielleInformatio- wennnochkeinKindindenBrunnen nen direkt an die Bedarfsträger, etwa gefallen ist. Gezielte Aufklärungsar- die Feuerwehr oder Sportvereine, ver- beit über Strategien von Extremisten mitteln und andererseits ein umfassen- verhindert, dass neueMitglieder über- des Informationsangebot in Form von haupt erst geworben werden können. Broschüren, Faltblättern, Info-Stän- Umwirksamzusein,mussPrävention denundeinerausführlichenWebsitein möglichst früh ansetzen. Schulen, die Breite der Gesellschaft steuern. Vereine und sonstige demokratische Institutionen müssen das Problem er- Durch die Kooperation mit kommu- kennen, über Gefahren aufklären und nalen Spitzenverbänden, der Polizei, WINFRIEDE SCHREIBER 131 dem Landesjugendamt, dem »Bran- wurden bereits im Januar 2009 zwei denburgischen Institut für Gemein- jeweils eintägige Veranstaltungen mit wesenberatung«, dem »Toleranten insgesamt rund 100 Teilnehmern Brandenburg« und der »Brandenbur- durchgeführt. Zielgruppe waren zu- gischen Kommunalakademie« wurde vörderst Vorsitzende kommunaler ein Bündnis geschaffen, um gezielt Vertretungen, Mandatsträger sowie über Rechtsextremismus aufzuklä- Verwaltungsmitarbeiter. Im Frühjahr ren. So ist es möglich, Expertenwis- 2010 folgten zwei jeweils eintägige sen zu bündeln, bedarfsgerecht auf- Veranstaltungen zum Umgang mit zubereiten und zur Verfügung zu rechtsextremistischen Anträgen in stellen. An der Fachhochschule der kommunalen Vertretungen. Die rund Polizei wurden 2008 mit Blick auf die 90 Teilnehmer wurden in die aktuelle damalige Kommunalwahl Bürger- Lage eingeführt. Darüber hinaus wur- meister, Ordnungsamtsmitarbeiter den anhand von Fallbeispielen Stra- und Polizisten im Umgang mit tegien im Umgang mit rechtsextre- rechtsextremistischen Wahlkampfak- mistischem Provokationsverhalten tivitäten geschult. Die Veranstaltung verdeutlicht. Am Nachmittag hatten beschränkte sich jedoch nicht auf die Teilnehmer Gelegenheit, in Ar- reine Informationsvermittlung, son- beitsgruppen ihr Wissen beim Lösen dern sollte auch Kommunikation und vonfiktivenFällenzutesten.Meist Vernetzung der Teilnehmer unterein- zeigte sich, dass oftmals der einfachste ander fördern. Aufgrund der hohen geradlinigste Weg der beste ist. Viele Nachfrage wurde diese Veranstal- Anträge von Rechtsextremisten kön- tungsreihe vor der Landtagswahl nen schon deshalb von der Tages- 2009 erneut angeboten. Das Konzept ordnung genommen oder abgelehnt wurde überarbeitet und um Arbeits- werden, weil sie schlicht keinen kom- gruppen erweitert. So konnten die munalen Bezug haben, sondern nur Teilnehmer ihr Wissen anwenden und der Propaganda dienen. untereinander diskutieren. Insgesamt nahmen rund 550 Personen an 14 sol- Im Frühjahr 2011 war schließlich der cher Veranstaltungen teil. arbeitsrechtliche Umgang mit Extre- mismus im öffentlichen Dienst NachderKommunalwahlimSeptem- GegenstandeinerweiterenInformati- ber 2008 verfügten die rechtsextremi- onsveranstaltung. Juristen, Sicher- stischen Parteien NPD und DVU heitsexpertenundBürgervertreterbe- über insgesamt 51 (NPD: 27; DVU: richteten von ihren Erfahrungen und 24) kommunale Mandate in Branden- zeigten Möglichkeiten im Arbeits- burg. Um den Vertretungen zu und Disziplinarrecht auf, um gegen ermöglichen, sich auf rechtsextremi- rechtsextremistisches Verhalten im stische Strategien, Provokationsver- öffentlichen Dienst vorzugehen. halten sowie Gefährdungspotenziale richtig einzustellen und notwendige Im Herbst 2011 schloss sich eine Gegenmaßnahmen zu entwickeln, Informationsveranstaltung für Ju- 132 ZUR ROLLE DES NACHRICHTENDIENSTES IN DER DEUTSCHEN DEMOKRATIE gend- und Sozialarbeiter an. Ziel Aktivitäten islamistischer Extremis- war es, den Teilnehmern die Arbeits- ten weder auf Metropolen konzen- weise des Verfassungsschutzes nahe- trieren müssen, noch eine Angelegen- zubringen und zu erläutern, über heit zugewanderter Muslime sind. welche Informationsangebote der Verfassungsschutz verfügt. Vor allem In Deutschland re-islamisierte Mus- sollte diskutiert werden, welche In- lime mit Migrationshintergrund und formationen der Verfassungsschutz deutschstämmige Konvertiten, deren geben sollte, wenn sich beispielsweise Radikalisierung sich teilweise in in Jugendclubs extremistische Ideen atemberaubender Geschwindigkeit bemerkbar machen. Für alle Beteilig- vollzogen hatte, bauten Bomben und ten war das Neuland. Deshalb war die sahensichalsGotteskrieger.Pla- Tagesordnung sehr offen gestaltet. Es nungs- und Vorbereitungsprozesse wurde den Teilnehmern auch ange- sowie die Radikalisierung der Täter boten, Probleme ohne die Anwesen- fanden in Umlandregionen statt. Mo- heit eines Vertreters des Verfassungs- scheen mit Anbindungen an extremis- schutzes zu diskutieren. Davon tische Bestrebungen sind dafür keine wurde Gebrauch gemacht. Im Mai zwingende Voraussetzung. Über 2012 wurden Informationsveranstal- zahllose islamistisch-extremistische tungen zum Thema »Reichsbürger« Internetangebote können Einzelper- durchgeführt. »Reichsbürger« sind sonen ohne Anbindung an entspre- Querulanten und Rechtsextremisten, chende lokale Strukturen radikalisiert die den Staat nicht anerkennen, sich und auf terroristische Aktionen vor- jeglichem staatlichen Handeln wider- bereitet werden. setzen und Behörden vor erhebliche Schwierigkeiten stellen können. Die Die jüngsten Vorfälle bestätigen diese Veranstaltungsreihen werden konti- Entwicklung. Beispielsweise hatte nuierlich fortgesetzt und ständig dem sich ein Student im Februar 2011 aktuellen Bedarf von Zivilgesellschaft dazu entschlossen, das in einem jiha- und staatlichen Stellen angepasst. distischen Internetmagazin abge- druckte Rezept »Make a Bomb in the Doch nicht nur im Bereich des Kitchen of your Mom« auszuprobie- Rechtsextremismus ist der branden- ren. Dabei sprengte er die Küche in burgische Verfassungsschutz präven- die Luft. Mit schweren Verbrennun- tiv sehr aktiv. In den Jahren 2009 bis gen kam er in die Klinik. Einige Wo- 2011 wurden umfangreiche Maßnah- chen später besorgte sich ein 21-Jäh- men zur Sensibilisierung im Bereich riger eine Waffe und erschoss am islamistischer Extremismus vorge- 2. März 2011 zwei US-Soldaten am nommen. Denn spätestens seit dem Frankfurter Flughafen. Beide Perso- Anschlagsversuch der »Kofferbom- nenhattensichinWindeseileüberdas ber« (2006) sowie den Verhaftungen Internet radikalisiert, besaßen jedoch der »Sauerland-Gruppe« (2007) ist keine Anbindung an islamistische offenkundig, dass sich terroristische Strukturen. Diese Personen – mittler- WINFRIEDE SCHREIBER 133 weile »Einsame Wölfe« genannt – ten. Bei der ganztägigen Veranstal- sind durch Sicherheitsbehörden nur tung wurden Themen wie Zuwande- schwer aufzuspüren. Sie kommen aus rung und Integration vorgestellt so- dem Nichts. wie die Unterscheidung von Islam und islamistischem Extremismus er- Ähnlich wie im Rechtsextremismus läutert. Der Schwerpunkt der Veran- wird auch durch islamistische Extre- staltung lag auf der Analyse der An- misten eine Erlebniswelt vorgegau- schlagsversuche in Deutschland und kelt, in der es Freiheitskämpfer und der daraus folgenden Lehren für Abenteuer gäbe. Auf einige – vor al- Brandenburg. Es wurde auch der Pro- lem Jugendliche – wirkt das anzie- zessverlauf einer Radikalisierung ge- hend. Man braucht zum Dabeisein schildert und erklärt, wie sich solche keine Moschee; ein Internetan- Prozesse erkennen lassen und welche schluss genügt. In Brandenburg sind Handlungsoptionen es gibt. diesbezüglich noch keine dramati- schen Fälle zu verzeichnen, aber die Die Maßnahmen an der Fachhoch- Gefahren lauern auch auf anderer schule der Polizei in Oranienburg Ebene. Gerade weil in Brandenburg und die regionalen Sicherheitsdialoge der Anteil der muslimischen Bevöl- dienen in erster Line dazu, kommu- kerung äußerst gering ist, sind auch nalen Entscheidungsträgern sowie Erfahrungen im interkulturellen Multiplikatoren Kriterien an die Umgang gering. Das kann dazu Hand zu geben, die ihnen eine zeit- führen, Muslime und islamistische gerechte Beurteilung erleichtern. Extremisten gleichzusetzen und ih- Wichtig ist aber ebenso, direkt an die nen äußerst misstrauisch sowie teil- Bevölkerung heranzutreten, um Vor- weise ablehnend gegenüberzutreten. urteile ab- und Vertrauen auf- Rechtsextremisten setzen auf diesen zubauen. »Verfassungsschutz zum Effekt. Im Gegenzug können davon Anfassen« ist hier ein Erfolgskon- betroffene Muslime in die Radikali- zept. Ein Informationsstand auf öf- sierung getrieben werden. fentlichen Veranstaltungen, sei es ein Demokratiefest, eine Sportveranstal- Im Jahr 2009 hat die Verfassungs- tung oder ein »Flößerfest«, hat sich schutzbehörde den »Regionalen Si- als wirkungsvoll erwiesen, da bei ei- cherheitsdialog–Integration,Radika- nem Dorffest keine Schwellenangst lisierung und Islamismus« ins Leben besteht. Neben Flyern, Verfassungs- gerufen. Das Ziel war, lokale Behör- schutzberichten, Schlüsselbändern den sowie zivilgesellschaftliche Ak- und Kugelschreibern bietet der Info- teure über islamistischen Extremis- stand auch Broschüren zu speziellen mus zu informieren und zugleich zur Themen wie beispielsweise »Fußball, Integration ausländischer Mitbürger Gewalt und Rechtsextremismus« zu ermutigen. Die Veranstaltung oder »Extremismus 2.0 – die dunkle wurde in Kooperation mit der Lan- Seite des Internets« an. desintegrationsbeauftragten angebo- 134 ZUR ROLLE DES NACHRICHTENDIENSTES IN DER DEUTSCHEN DEMOKRATIE

Fazit mationen nicht in die Breite steuert, wird wirkungslos bleiben und isoliert Die brandenburgischen Präventions- sich selbst. Er wäre dann tatsächlich maßnahmen zeigen, dass die Strate- ein Fremdkörper in der offenen Zivil- gien ständig an die Dynamik des Ex- gesellschaft. tremismus angepasst werden müssen. Es ist ein kontinuierlicher Prozess zwischen Bedarfsermittlung und Literatur: zielgerichteter Ausrichtung der Präventionsmaßnahmen. Prävention Desch, Roland, Gestern – Heute – bindet Ressourcen. Von den Mitar- Morgen: Verfassungsschutz im 21. beitern werden nicht nur Fachwissen, Jahrhundert. In: Landesamt für Ver- sondern auch kommunikatives Ge- fassungsschutz Hessen (Hrsg.), Ver- schick und hohe soziale Kompetenz fassungsschutz in der freiheitlichen erwartet. All diese Fähigkeiten sind Demokratie. Wiesbaden 2011. unerlässlich, um ein funktionsfähiges Netz zum Schutz der Demokratie Homburg, Heiko und Wolf, Silke, aufzubauen und am Leben zu er- Kommunale Phalanx der wehrhaften halten. Ohne den Verfassungsschutz Demokratie. Kampf gegen Rechtsex- ist Extremismusbekämpfung sehr tremismus in Brandenburg. In: Stadt schwierig. Denn durch seine Mög- und Gemeinde Interaktiv, Monats- lichkeiten zur Informationsgewin- zeitschrift des Deutschen Städte- und nung verfügt ein Nachrichtendienst Gemeindebundes. Bonn, Ausgabe 7– über ein breites Hintergrundwissen. 8/2011. Zwar trifft es zu, dass nicht alle Infor- mationen an die Öffentlichkeit wei- Pfeiffer,Thomas,Menschenverachtung tergegeben werden können. Doch mit Unterhaltungswert – der Rechtsex- auch Informationen, die beispiels- tremismus als Erlebniswelt, in: Armin weise über menschliche Quellen ge- Pfahl-Traughber und Monika Rose- wonnen werden, helfen, bereits Stahl (Hrsg.), Festschrift zum 25-jähri- vorhandene Informationen im richti- gen Bestehen der Schule für Verfas- gen Licht zu sehen, und tragen so zu sungsschutz und für Andreas Hübsch. Erkenntnissen über das ganze Netz- Schriftenreihe des Fachbereiches öf- werk bei. Verfassungsschutz und Ge- fentliche Sicherheit. Brühl 2007. sellschaft haben die gleichen Ziele, und das muss auch sichtbar und er- Stark, Holger, Ein spannendes fahrbar werden. Sie arbeiten mitein- Verhältnis: Verfassungsschutz und ander und nicht gegeneinander. Zu Öffentlichkeit. In: Landesamt für den großen »D’s« der Demokratie – Verfassungsschutz Hessen (Hrsg.), Dialog, Diskurs und Debatte – hat Verfassungsschutz in der freiheitli- der Verfassungsschutz Erkenntnisse chen Demokratie. Wiesbaden 2011. und Argumente beizusteuern. Ein Verfassungsschutz, der seine Infor-

RECHTSEXTREMISMUS

60 VERFASSUNGSSCHUTZ 1952 – 2012

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Antisemitismus im Rechtsextremismus Externe und interne Funktionen, formale und ideologische Varianten

ARMIN PFAHL-TRAUGHBER

1. Einleitung und Fragestellung Gleichwohl findet man nach wie vor Antisemitismus im Rechtsextremis- Fragt man nach den gegenwärtig be- mus, wobei das damit verbundene deutsamsten politischen Trägern des Feindbild gegenwärtig meist hinter Antisemitismus, so wären in diesem andere Agitationsthemen wie »Glo- Kontext die unterschiedlichen Orga- balisierung«, »Systemkritik«, »Über- nisationen im Rechtsextremismus zu fremdung« oder »Wirtschaftskrise« nennen. In dem damit angesproche- zurücktritt. Die genaue Betrachtung nen politischen Lager spielt die der damit verbundenen Propaganda Judenfeindschaft1 aus historischen zeigt aber häufig auch, dass den dabei wie ideologischen Gründen eine he- präsentierten Positionen direkt oder rausragende Rolle. Gleichwohl indirekt antisemitische Inhalte eigen besteht im Vergleich zur Situation in sind. Dies wird noch deutlicher, wenn der Weimarer Republik für die extre- es um Themenkomplexe wie »Israel- mistische Rechte in der Bundesrepu- Kritik«, »Nahost-Konflikt« oder blik Deutschland eine andere »Vergangenheitsbewältigung« geht. Rahmensituation: Während in der Hierbei lässt sich eine Reihe von ide- ersten Republik der deutschen Ge- engeschichtlichen Kontinuitäten mit schichte antisemitische Auffassungen früheren Formen und Inhalten des große Akzeptanz und Verbreitung Antisemitismus, aber aucheinigeneu- fanden, besteht in der zweiten Repu- ere Bezugspunkte zu aktuellen Dis- blik ein anti-antisemitischer Konsens kursen und Themenfeldern ausma- in Medien und Politik. Darüber hi- chen. Die dabei deutlich werdenden naus verfügen rechtsextremistische externen und internen Funktionen Organisationen seit dem Ende des sowieformalenundideologischenVa- Zweiten Weltkriegs nur über ein kon- rianten sollen hier auf Basis von ein- tinuierlich gesunkenes öffentliches schlägigen Aussagen aus dem deut- Ansehen, was sie je nach ihrer spezi- schen Rechtsextremismus der letzten fisch ausgerichteten Ideologie und Jahre dargestellt und eingeschätzt Strategie zu entsprechender Zurück- werden. haltung motiviert – nicht zuletzt um der Vermeidung von strafrechtlichen Dazu bedarf es zunächst einer Dar- Folgen willen. stellung und Einschätzung zur aktu-

1 Die Bezeichnungen »Antisemitismus« und »Judenfeindschaft« werden hier synonym im Sinne eines Wechsels im Ausdruck genutzt. Vgl. zu Definition und Typologie: Armin Pfahl-Traughber, Ideologische Erscheinungsformen des Antisemitismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31 vom 30. Juli 2007, S.4–11. 140 ANTISEMITISMUS IM RECHTSEXTREMISMUS ellen Situation in diesem politischen mismus2, hängen doch die besondere Lager (2.), des inhaltlichen Stellen- Formen und Inhalte des Antisemitis- werts des Antisemitismus in der Ide- mus teilweise mit der spezifischen ologie des Rechtsextremismus (3.) Strategie der jeweiligen Organisatio- und seiner Bedeutung im Verlauf der nen zusammen. Insgesamt können historischen Entwicklung dieses dem angesprochenen politischen La- Spektrums (4.). Erst danach soll es ger 26.600 Anhänger3 zugerechnet um die Erscheinungsformen des werden. Man findet sie in unter- Antisemitismus im gegenwärtigen schiedlichen Personenzusammen- Rechtsextremismus gehen: Dabei ste- schlüssen, seien es Parteien oder Ver- hen die offenen Formen in Hassbil- eine, Publikationsorgane oder Sub- dern (5.) und die insinuierenden For- kulturen. Idealtypisch lassen sie sich men von Andeutungen (6.) sowie die hinsichtlich eines bestimmten strate- klassischen Ideologievarianten (7.) gischen Aspektes in zwei Richtungen und neueren Ideologievarianten des aufteilen: Die »gemäßigte« Form be- Antisemitismus (8.) anhand von Text- kennt sich aus taktischen Gründen beispielen im Zentrum des Interesses. offiziell zu Demokratie und Verfas- Ein folgender Exkurs fragt danach, sung, um so breiter in die Gesellschaft inwieweit auch der Geschichtsrevi- hinein wirken zu können. Die sionismus zum Holocaust als Aus- »harte« Variante formuliert ihre Ab- druck von Judenfeindschaft gelten lehnung der Bundesrepublik und des kann (9.). Schließlich sollen noch die Grundgesetzes in aller Deutlichkeit, interne Bedeutung des Antisemitis- wobei die Handlungsoptionen von mus (10.), also für das rechtsextremi- der Legalität bis zur Gewalttat rei- stische Lager selbst, und die externe chen können. Die konkrete Artikula- Bedeutung des Antisemitismus (11.), tion des Antisemitismus entspricht also für die beabsichtigte öffentliche meist der jeweiligen Ausrichtung der Wirkung, behandelt werden. Organisationen.

Zur »gemäßigten« Form konnten im 2. Gegenwärtige Situation im Parteienspektrum die »Deutsche Rechtsextremismus Volksunion« (DVU)4 mit 3.000 Mit- gliedern und die ihr nahestehende Zunächst bedarf es aber einer Dar- Wochenzeitung »National-Zeitung« stellung und Einschätzung der gegen- mit einer Auflage von 33.000 Exem- wärtigen Situation im Rechtsextre- plaren gerechnet werden. Offiziell

2 Vgl. u.a. Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, 4. Auflage, München 2006; Richard Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, 3. Auflage, Berlin 2000. 3 Alle Zahlenangaben – hier bezogen auf das Jahr 2010 – nach: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungs- schutzbericht 2010, Berlin 2011. 4 Die DVU ging zwischenzeitlich in der NPD auf, was die im Folgenden gewählte Vergangenheitsform in der Darstellung erklärt. Vgl. u.a. Everhard Holtmann, Die angepassten Provokateure. Aufstieg und Niedergang der rechtsextremen DVU als Protestpartei im polarisierten Parteiensystem Sachsen-Anhalts, Opladen 2001; Annette Linke, der Multimilli- onär Frey und die DVU. Daten, Fakten, Hintergründe, Essen 1994. ARMIN PFAHL-TRAUGHBER 141 gab man sich eine demokratische und nerhalb der Szene, wo einschlägige verfassungstreue Ausrichtung, pro- Stereotype und Vorurteile gegen Ju- pagierte aber sehr wohl antisemiti- den große Verbreitung finden. Dies sche und fremdenfeindliche Positio- gilt auch für die rechtsex- nen. Dies geschah meist nicht in tremistischen Skinheads7, die um die direkter Form, sondern mittels sug- 8.300 Personen ausmachen. Auf den gerierender Anspielungen. In dieser einschlägigen Tonträgern von Bands Hinsicht halten sich die Organisatio- aus dieser Subkultur findet man anti- nen aus dem Bereich der »harten« Va- semitische Aussagen, welche nicht riante des Rechtsextremismus allen- nur besonders hetzerische Formen falls bezüglich der strafrechtlichen annehmen, sondern mitunter auch Folgen zurück. Dies gilt insbeson- zur Gewaltanwendung bis zur Tö- dere für die »Nationaldemokratische tung aufrufen. In der Gesamtschau Partei Deutschlands« (NPD)5 mit ih- betrachtet muss gleichwohl betont ren 6.600 Mitgliedern und das ihr ge- werden, dass die Agitation gegen Ju- hörende Monatsorgan »Deutsche den im Rechtsextremismus zwar ein Stimme« mit einer Auflage von bedeutendes, aber kein zentrales The- 25.000. Offen lehnt die Partei die be- menfeld der Propaganda darstellt. stehende Demokratie ab und will sie durch ein neues »Reich« abgelöst sehen, wobei auch immer wieder 3. Antisemitismus in der deutlicher formulierte antisemitische Ideologie des Rechts- Positionen auszumachen sind. extremismus

Noch weniger Zurückhaltung findet Der Antisemitismus gehört aber sehr manindieserHinsichtinderNeo- wohl zu den wichtigen Merkmalen nazi-Szene6, welche über ein Poten- der Ideologie dieses politischen La- tial von 5.600 Anhängern verfügt. Mit gers. Ganz allgemein lässt sich sogar dem offenen Bekenntnis zum histori- sagen, dass der sowohl programma- schen Nationalsozialismus geht auch tisch wie organisatorisch und strate- eine deutlich antisemitische Ausrich- gisch keineswegs homogene Rechts- tung einher. Gleichwohl vermeidet extremismus in dieser Hinsicht über man im öffentlichen Raum aus Rück- eine Gemeinsamkeit verfügt. »Rechts- sicht auf mögliche juristische Folgen extremismus« kann wie folgt definiert eine klare Positionierung in diese werden: Es handelt sich um eine Sam- Richtung. Anders verhält es sich in- melbezeichnung für politische Be-

5 Vgl. u.a. Uwe Backes/Hendrik Steglich (Hrsg.), Die NPD. Erfolgungsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei, Baden-Baden 2007; Armin Pfahl-Traughber, Der zweite Frühling der NPD. Entwicklung, Ideologie, Organisation und Strategie einer rechtsextremistischen Partei, Berlin – Sankt Augustin 2008. 6 Vgl. u.a. Andrea Röpke/Andreas Speit (Hrsg.), Braune Kameradschaften. Die neuen Netzwerke der militanten Neona- zis, Berlin 2004; Martin Thein, Wettlauf mit dem Zeitgeist. Der Neonazismus im Wandel. Eine Feldstudie, Göttingen 2009. 7 Vgl. u.a. Klaus Farin (Hrsg.), Die Skins. Mythos und Realität, Berlin 1997; Christian Menhorn, Skinheads: Portrait einer Subkultur, Baden-Baden 2001. 142 ANTISEMITISMUS IM RECHTSEXTREMISMUS strebungen, die sich zum einen gegen wertig« angesehen. Insbesondere im die Normen und Regeln eines demo- Nationalsozialismus fand diese Auf- kratischen Verfassungsstaates wen- fassung offizielle Akzeptanz, galten den und zum anderen dabei die ethni- die Juden doch nicht mehr als Ange- sche Zugehörigkeit zum zentralen hörige einer kleinen Religionsge- Kriterium des politischen Selbst- meinschaft, sondern einer »verderb- verständnisses machen. Letzteres lichen Rasse«. Die Ideologie des artikuliert sich meist in einer nationa- gegenwärtigen Rechtsextremismus listischen bzw. rassistischen Grund- ist von diesen beiden ideengeschicht- position. Sie steht für die Auffassung lichen Traditionen nicht nur bezüg- von einer Ungleichwertigkeit von lich der Judenfeindschaft geprägt. Menschen: Aus angeblichen oder tat- sächlichen ethnischen Unterschieden Darüberhinausgibtesnochandere leitet man zum einen die Höherwer- Bezüge, die mit der Ideologieform tigkeit der Eigengruppe (»Arier«, des sekundären Antisemitismus und »Deutsche«) und zum anderen die der Zeit nach dem Nationalsozialis- Minderwertigkeit der Fremdgruppe mus zusammenhängen. Mit der Erin- (»Ausländer«, »Juden«) ab. nerung an die Judenvernichtung ver- bindet sich für Rechtsextremisten Daher spielt auch der nationalistische eine moralische Last, welche um der und rassistische Antisemitismus eine Aufrechterhaltung ihrer politischen besondere Rolle: Die erstgenannte Wertvorstellungen willen überwun- Form sieht in den Juden eine eth- denwerdenmuss.Derdamitver- nisch, kulturell oder sozial nicht zur bundene »Schuldabwehr-Antisemi- jeweiligen Nation passende Minder- tismus«8 wirft den Juden vor, sie heit, die als gesellschaftlicher Fremd- nutzten die Erinnerung an den Völ- körper gilt und der eine andere Loya- kermord für ihre eigenen Vorteile aus. lität unterstellt wird. Auffassungen, Durch dieses Argumentationsmuster welche den Angehörigen der Minder- wird eine Täter-Opfer-Umkehr vor- heit absprechen, Deutsche zu sein, genommen: Die Mahnung der Nach- stehen exemplarisch dafür. Solche kommen und Überlebenden des Positionen prägten auch den nationa- Massenmordes wird als Akt der listischen Diskurs in der deutschen Aggression dargestellt, die eigenen Geschichte. Der rassistische Antise- Aversionen gegen die Juden gelten in mitismus weist zwar Gemeinsamkei- dieser Perspektive als eine Art Not- ten mit der vorgenannten Variante wehrreaktion. Dabei ignorieren sol- auf, enthält aber ein besonderes che Auffassungen und Reaktionen, Merkmal. Hierbei werden Juden als dass der inhaltlich auch absurde Vor- von Natur aus »böse« oder »minder- wurf einer Kollektivschuld gegen die

8 Vgl. Werner Bergmann, »Nicht immer als Tätervolk dastehen«. Zum Problem des Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland, in: Dirk Ansorge (Hrsg.), Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt, Paderborn – Frankfurt/M. 2006, S.81–106. ARMIN PFAHL-TRAUGHBER 143 heute lebenden Deutschen gar nicht haltlicher Verbindung mit den sozia- erhoben wird. Jüdische Organisatio- len und wirtschaftlichen Alltagspro- nen beschwören allenfalls die Erinne- blemen beobachten. rung an die Untaten. Nahezu zeitgleich mit der antisemiti- schen kam die völkische Bewegung 4. Antisemitismus im histori- im wilhelminischen Kaiserreich10 auf: schen Rechtsextremismus Bei ihr handelte es sich um eine ideo- logisch über die Ausrichtung an An- Die Auffassung, Antisemitismus sei tisemitismus, Lebensraumgedanke, ein integraler Bestandteil der Ideolo- Rassismus und Sozialdarwinismus gie des Rechtsextremismus, lässt sich ausgerichtete Strömung, die trotz ih- auch anhand der historischen Ent- rer gesellschaftlichen Verankerung wicklung vor und nach 1949 belegen. aufgrund der internen Zersplitterung Aus heutiger Sicht können sogar die keine breitere politische Wirkung »Antisemitenparteien« im Wilhelmi- entfalten konnte. Während bei den nischen Kaiserreich9 als Vorläufer der zuvor erwähnten Antisemitenpar- gegenwärtigen rechtsextremistischen teien die soziale Ideologieform der Parteien angesehen werden. Seit Ende Judenfeindschaft mit den Behauptun- der 1870er Jahre entstanden insbe- gen des »Schacherns« und »Wu- sondere in ländlichen Räumen des cherns« dominierte, propagierte die Reichs organisierte Formen der Ju- völkische Bewegung bereits die ras- denfeindschaft: Die damit angespro- sistische Variante der Judenfeind- chenen Parteien vermischten in ihrer schaft mit der Unterstellung der bio- Agitation den Sozialprotest gegen die logisch bedingten Minderwertigkeit. Folgen ökonomischer Umbrüche im Seit Mitte der 1920er Jahre wandten Agrarbereich mit dem von Antisemi- sich ihre Anhänger zunehmend der tismus geprägten Hass gegen die an- »Nationalsozialistischen Deutschen geblich verantwortlichen jüdischen Arbeiterpartei« (NSDAP) zu, welche Zwischenhändler. Auch wenn die da- ideologisch kaum Unterschiede zu mit angesprochene politische Bewe- den Auffassungen der Völkischen gung nicht reichsweit, sondern nur aufwies, aber fortan politisch weitaus regional von Bedeutung war, ließ sich erfolgreicher Anhänger und Wähler hier bereits die massenmobilisierende mobilisieren konnte. Funktion des Antisemitismus in in-

9 Vgl. u.a. Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt/M. 1959; Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Gütersloh 1966. 10 Vgl. u.a. Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918, München 1996; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. 144 ANTISEMITISMUS IM RECHTSEXTREMISMUS

Bereits seit ihrer Gründung vertrat chen Rahmensituation ausgesetzt, die Hitler-Partei eine dezidiert anti- bestand doch im offiziellen Mei- semitische Position im rassistischen nungsklima der politischen Elite nun Sinne11, verbunden mit der offenen ein anti-antisemitischer Konsens. Forderung nach Aberkennung der Gleichwohl existierten weiterhin ju- Bürgerrechte für alle Juden. Ihre Agi- denfeindliche Einstellungen, die sich tation nutzte darüber hinaus be- meist aber nur in der »Kommunikati- kannte Stereotype und Vorurteile im onslatenz« des privaten Raumes äu- Sinne des politischen und sozialen ßerten.12 Dies stellte die rechtsextre- Antisemitismus. Während dieses mistische Agitation fortan vor das Themenfeld in der Frühgeschichte Problem, beim Anknüpfen an derar- der Partei eine herausragende Rolle in tige Einstellungen und dem Schüren der Agitation spielte, kam ihm in der von einschlägigen Ressentiments Übergangsphase zur Massenpartei stärker auf die damit verbundenen ju- nach 1929 in der Propaganda gerin- ristischen Folgen und politischen Ge- gere Bedeutung zu. Antisemitismus gebenheiten achten zu müssen. Daher diente gleichwohl der Binnenintegra- artikuliert sich der Antisemitismus in tion der Anhänger und blieb so eine diesem politischen Lager auch in un- Grundlage der Ideologie. Dies terschiedlicher Art und Weise: in der machte die Politik der Nationalsozia- insinuierenden Form der Andeutun- listen nach 1933 deutlich, setzte doch gen und in der offenen Form der nun eine über die Stufen der Dis- Hassbilder. Letzteres findet man ak- kriminierung, Verfolgung und Ver- tuell nur bei jenen Strömungen inner- nichtung erfolgende Entwicklung halb des Rechtsextremismus, die auf ein. Aufgrund der mit dem Massen- den politischen Imageschaden und mord an den Juden verbundenen die rechtlichen Konsequenzen ihrer moralischen Belastung ist der Antise- Hetze keine Rücksicht nehmen müs- mitismus auch heute noch für den sen. Rechtsextremismus thematisch von herausragender Bedeutung. Dies gilt vor allem für die rassistisch eingestellten Skinheads, die ihre anti- semitischen Auffassungen über die 5. Offene Formen des Antisemi- Texte illegal hergestellter Tonträger tismus in Hassbildern verbreiten. Zwar richten sich die da- rauf enthaltenen Diffamierungen und Nach 1945 bzw. 1949 sah man sich al- Gewaltaufrufe meist gegen andere lerdings einer anderen gesellschaftli- Minderheiten wie Schwarze und Tür-

11 Vgl. u.a. Die 25 Punkte des Programms der NSDAP,in: Walther Hofer (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945, Frankfurt/M. 1957, S.28–31, hier S.28 (Punkt 4); Adolf Hitler, Mein Kampf, 851–855. Auflage, München 1943, S.311-362 (Kapitel: »Volk und Rasse«). 12 Vgl. u.a. Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949 bis 1989, Frankfurt/M. 1997; Werner Bergmann/Rainer Erb, Antisemitismus in der Bundes- republik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946 bis 1989, Opladen 1989. ARMIN PFAHL-TRAUGHBER 145 ken. Immer wieder findet man eben- rat der Juden in Brand.«15 Und als dort aber auch Hetze gegen Juden13, drittes Beispiel seien folgende Aus- was anhand der folgenden drei Bei- züge aus den Texten des Tonträgers spiele verdeutlicht werden soll. Auf »Noten des Hasses« der Band der CD »Geheime Reichssache« der »Sturmkommando« zitiert: »Seht, Band »Kommando Freisler« heißt es das Pack dort auf den Straßen – über- etwa: »Mit deinen Ohren groß wie all nur krumme Nasen, doch mit uns Segel, ja, diese Nase im Gesicht, dein ist nicht zu spaßen, wir wollen sie du- hutbedeckter Wasserschädel, Jude schen sehen ...« Die damit verbun- dich verkennt man nicht. Du solltest dene Anspielung auf die Vorgänge in besser fliehen, wenn die Braunen den Gaskammern der NS-Vernich- durch die Straßen ziehen. Denn in tungslager wird in einem anderen Deutschland weiß ein jedes Kind, Lied noch deutlicher hinsichtlich der dass Juden nur zum Heizen sind.« beabsichtigten Konsequenzen for- Und in einem anderen Lied findet muliert: »Sieg Heil! Sieg Heil! Die sich eine offene Forderung zum einzigeLösungist,sieallezuvernich- Mord: »Erschießen und erhängen, ten. Sechs Millionen mehr! Sechs dann allesamt verbrennen und nicht Millionen mehr.«16 nur hier, in anderen Ländern auch. UndgibtesaufderWeltdannkeinen Juden mehr, wird unser Deutschland 6. Insinuierte Formen des Anti- endlich wieder frei.«14 semitismus in Andeutungen

Ähnliche Aussagen enthalten die Da derartige Äußerungen strafrecht- Texte auf der CD »The Hateshow« lich relevant sind und selbst der Band »Murder Squad«, wo es manche antisemitisch eingestellten deutlich heißt: »Die Deutschen kom- Menschen verschrecken dürften, ar- men, ihr Juden habt acht, denn eure tikulieren sich Ressentiments und Vernichtung wird zum Ziel uns ge- VorurteilegegendieJudeninder macht.« Und in einem anderen Lied Regel in anderer Form. Hierbei des gleichen Tonträgers beschwört arbeiten Rechtsextremisten mit An- man folgendes Vorgehen: »Mit Pan- spielungen, Insinuationen oder Ko- zern und Granaten und schwerem dierungen, die in der direkten For- MG, mit Mörsern, Raketen und mulierung und Wortwahl häufig TNT, die Terrorwelle, sie schwappt keine negativen Wertungen gegen über’s Land, wir stecken den Zentral- Juden enthalten. Beachtet man aber

13 Vgl. Rainer Erb, »Er ist kein Mensch, er ist ein Jud’«. Antisemitismus im Rechtsrock, in: Dieter Baacke/Klaus Farin/Jür- gen Lauffer (Hrsg.), Rock von Rechts II. Milieus, Hintergründe und Materialien, Bielefeld 1999, S.142–159. 14 Kommando Freisler, Geheime Reichssache, o.O. u.o.J. (2004), Lieder »Judenschwein« und »Im Wagen vor mir«. Die Band benannte sich nach dem ehemaligen Präsidenten des NS-Volksgerichtshofs Roland Freisler. 15 Murder Squad, The Hateshow, o.O. u.o.J. (2005), Lieder »Panzer rollen in Israel vor« und »Kameraden steht auf«. Die Band ist nicht mit der gleichnamigen schwedischen Death-Metal-Band identisch. 16 Sturmkommando, Noten des Hasses, o.O. u.o.J. (2008), Lieder »Nicht nett« und »6 Millionen mehr«. Diese und die beiden vorgenannten CDs wurden von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert. 146 ANTISEMITISMUS IM RECHTSEXTREMISMUS den inhaltlichen Kontext und die spe- wurde.« Und weiter heißt es: »Per- zifische Zielgruppe der Äußerungen, sönliche Verantwortung dafür trägt so lässt sich aus dem Subtext eine an- Alan Greenspan, ... der vom gleichen tisemitische Wirkungsabsicht heraus- Stamm wie die Wall-Street-Größen interpretieren. Für eine Kodierung Alan Greenberg und Lloyd Blankfein steht etwa die Nutzung der Formu- ist ...«19 Mit den inhaltlich an diesen lierung »Ostküste«, womit die an- Stellen eigentlich völlig überflüssigen geblich allmächtigen jüdischen Ban- Hinweisen auf eine jüdische Her- kiers gemeint sind. Nur selten wird kunft der genannten Bankhäuser und dies so offen eingeräumt wie von dem Personen suggeriert man damit zu- früheren Linksterroristen und heuti- sammenhängende Ursachen im Sinne gen Rechtsextremisten Horst Mah- des sozialen Antisemitismus. ler: »Damit erweist sich dies Jahrhun- dert in Wahrheit als das Jahrhundert Überhaupt stellt die besondere Her- der Ostküsten-Juden. Denn das vorhebung der jüdischen Herkunft Machtzentrum des Dollarimperialis- einer als mächtig oder negativ darge- mus ... ist das von Juden beherrschte stellten Person eine häufige Form der Bankensystem der USA.«17 Insinuierung antisemitischer Einstel- lungen dar. Dies veranschaulicht ein So liest eine antisemitisch eingestellte Beispiel aus der zwischenzeitlich Person mit der ansonsten eher unver- eingestellten Zeitschrift »Nation & dächtig wirkenden Formulierung Europa«, in dem es u.a. um Ausei- »Ostküste« immer »jüdische Banki- nandersetzungen im Rahmen des ers« mit und bewegt sich diskursiv im Aufstandes vom 17. Juni 1953 in der inhaltlichen Kontext eines sozialen damaligen DDR ging. Über einige Antisemitismus.18 Darauf steht auch der auf Seiten des SED-Regimes ste- folgendes Beispiel aus dem NPD- henden Personen heißt es: »Einer war Parteiorgan »Deutsche Stimme«, wo ... das Mitglied des ZK der SED Kurt der sächsische Landtagsabgeordnete Barthel. ... Er hatte ...in der Jüdischen Jürgen Gansel in einem Artikel zur Liberalen Jugendorganisation mitge- Finanzkrise schrieb: »Ausgelöst wirkt. ... Ein anderer ... wurde ver- wurde die Kernschmelze auf dem prügelt von Berliner Arbeitern: der globalen Finanzmarkt durch die amerikanisch-jüdische Schriftsteller Pleite der Investmentbank Lehman Stefan Heym. ... Stephan Hermlin, Brothers ... 158 Jahre existierte dieses der eigentlich Rudolf Leder hieß und Geldhaus, das von aus Deutschland der deutsch-jüdischen Bourgeoisie ausgewanderten Juden gegründet entstammte, traf der 17.Juni 1953 wie

17 Horst Mahler, Guten Tag,Herr Friedman ... Unter Berufung auf Christus, Marx und deutsche Philosophen lädt der Vor- denker Horst Mahler führende Köpfe zu erstem kritischen Dialog, Malmö (Schweden), 2002, S.58. 18 Andere code words in diesem Sinne sind die Abkürzung »ZOG« für »Zionist Occupied Government« (»zionistisch be- herrschte Regierung«) als Bezeichnung für eine angebliche jüdische Dominanz über die nationalstaatlichen Regie- rungen oder die Formulierung »Usrael« als Bezeichnung für einen angeblich homogenen Block USA und Israel unter jüdischer Dominanz. 19 Jürgen Gansel, In der Geiselhaft des Finanzkapitals, in: Deutsche Stimme, Nr.11 vom November 2009, S.8. ARMIN PFAHL-TRAUGHBER 147 ein Donnerschlag.«20 Die Hervorhe- zutreiben ... Deshalb existieren die bung der jüdischen Herkunft macht Erbhöfe der Ostküste in Institutionen hier keinen Sinn – zumal bei anderen der Weltwirtschaft weder zufällig Genannten die christliche Herkunft noch sind sie ungefährlich.«21 nicht genannt wird – und dient offen- kundig zur Schürung antisemitischer Beim politischen Antisemitismus be- Ressentiments. hauptet man das Bestehen einer »ge- heimen jüdischen Macht«, die »hinter den Kulissen« der etablierten Politik 7. Klassische Ideologievarianten die eigentlichen Fäden zieht. Die da- des Antisemitismus mit verbundene Verschwörungsideo- logie artikuliert sich dabei meist in Welche Ideologievarianten des Anti- Verweisen auf das Wirken der »Is- semitismus stehen nun im aktuellen rael-Lobby«. Exemplarisch dafür Rechtsextremismus im Zentrum der steht der folgende Auszug aus einem Agitation? Ganz allgemein kann Artikel der Zeitschrift »Nation & bezüglich der bereits vor 1945 existie- Europa«, worin es nach einer Auflis- renden klassischen Begründungs- tung von angeblichen oder tatsächli- formen konstatiert werden, dass die chen jüdischen Beratern des US-Prä- religiöse Variante kaum noch Verbrei- sidenten Barack Obama heißt: »Der tung findet. Demgegenüber lassen Befund lässt sich schwer vom Tisch sichdiesoziale,politischeundrassisti- wischen, dass die Israel-Lobby das sche Form direkter und insinuierend Weiße Haus mit Obama als Präsiden- weiterhin ausmachen. Im erstgenann- ten-Darsteller fester im Griff hat als ten Sinne geht es vor allem um Be- jemals zuvor.«22 Das Titelblatt der er- hauptungen, wonach die Juden das wähnten Ausgabe des rechtsextremi- Finanzwesen und die Wirtschaft do- stischen Publikationsorgans zeigt üb- minieren und kontrollieren. So heißt rigens den US-Präsidenten vor einer es etwa im NPD-Parteiorgan »Deut- israelischen Flagge und trägt den Titel sche Stimme«: »Wie ein Krake hat der »Obama – der Hintergrund«. Hier Dollar-Imperialismus die Welt im soll Betrachtern und Lesern sugge- Würgegriff, und er unternimmt nicht riert werden, der Präsident sei ledig- einmal mehr die geringsten Anstren- lich ein Erfüllungsgehilfe und eine gungen, dies irgendwie zu verschlei- Marionette der eigentlich die USA ern. Denn die Weltmachtstellung beherrschenden jüdischen Macht- jüdischer Kapitalstrategen – gleich gruppen. welche Staatsangehörigkeit sie zufäl- lig haben – scheint ihrem weltge- Bezüglich der rassistischen Variante schichtlichen Höhepunkt entgegen- des Antisemitismus hält sich der ge-

20 Wolfgang Strauss, Der 17. Juni 1953, in: Nation & Europa, Nr.6 vom Juni 2003, S.60–62. 21 Thoralf Trenkmann, Erbhof jüdischer Kapitallenker, in: Deutsche Stimme, Nr.5 vom Mai 2005, S.2. 22 Karl Richter, Wer steckt hinter Obama?, in: Nation & Europa, Nr.1 vom Januar 2009, S.5–9, hier S.8. 148 ANTISEMITISMUS IM RECHTSEXTREMISMUS genwärtige Rechtsextremismus meist sich doch bekannte Stereotype und zurück, gilt doch die dualistische Vorurteile lediglich im Kontext aktu- »Arier«-»Jude«-Agitation als histo- eller Ereignisse und Themenfelder. risch und politisch diskreditiert. Man Dies sind zum einen die politische findet sie meist nur noch im Kontext Kommentierung des Nahost-Kon- der offenen Formen des Antisemitis- flikts und der Rolle Israels und zum mus wie etwa den Hassbildern, die in anderen der öffentliche Umgang mit den Songtexten von rechtsextremisti- der Erinnerung an die Judenvernich- schen Skinhead-Bands enthalten tung und den Nationalsozialismus. sind. Exemplarisch dafür steht fol- Da in der breiteren Öffentlichkeit so- gender Auszug aus einem Lied der wohl eine Kritik an der israelischen CD »Keine Gnade« der Band »Mass Politik gegenüber den Palästinensern Destruction«: »Ihr seid das Ge- wieeine»Schlussstrichmentalität«ge- schwür, das in unserem Volke sitzt ... genüberderangeblichständigenErin- Ich bring Euch alle um! ... Ich sitze nerung an den Holocaust kursiert, er- hier und denke an die alte schöne hoffen sich Rechtsextremisten mit Zeit, von Kristallnacht und der Schlag diesen Themen ein stärkeres Hinein- gegen die Juden weit und breit ...«23 wirken in die Mehrheitsgesellschaft. Mit der Formulierung »Geschwür« Darüber hinaus können in diesem und der Erinnerung an die »Kristall- Kontext auch noch Behauptungen nacht« bezieht man sich affirmativ und Stereotype im Sinne der klassi- auf den rassistischen Antisemitismus schen Ideologievariante des nationa- der Nationalsozialisten. Im gegen- listischen Antisemitismus ausge- wärtigen Rechtsextremismus domi- macht werden. nieren von den klassischen Ideologie- varianten des Antisemitismus aber In der damit einhergehenden Per- die politische und soziale, nicht die spektive gilt die Erinnerung an die rassistische und religiöse Form. Judenverfolgung und Judenvernich- tung als Ausdruck der Schmähung des deutschen Nationalgefühls, 8. Neuere Ideologievarianten woraus eine feindliche Einstellung des Antisemitismus antisemitischer Ausrichtung gegen jüdische Interessenorganisationen Die neueren Ideologievarianten, der abgeleitet wird. In der vom NPD- antizionistische und sekundäre Anti- Parteivorstand herausgegebenen semitismus, beziehen sich auf neuere Broschüre »Argumente für Kandida- Ereignisse wieden Holocaustundden ten & Funktionsträger«, die der Nahost-Konflikt. Sie stellen aber Argumentationshilfe und Schulung keine originär neuen Begründungen ihrer Aktivisten dienen soll, heißt es der Judenfeindschaft dar, artikulieren etwa in diesem Sinne: »Der von jüdi-

23 Mass Destruction, Keine Gnade, o.O. u.o.J. (2006), Lied »Ihr seid«. Auch dieser Tonträger wurde von der Bundesprüf- stelle für jugendgefährdende Medien indiziert. ARMIN PFAHL-TRAUGHBER 149 scher Seite seit 60 Jahren betriebene denfeindschaft, wofür folgendes Zitat Schuldkult und die ewige jüdische aus der »National-Zeitung« steht: Opfertümelei muss sich kein Deut- »Die Belastung Deutschlands mit der scher gefallen lassen. Es muss endlich Alleinschuld auch an beiden Welt- Schluss sein mit der psychologischen kriegen dient gleichzeitig dazu, die Kriegsführung jüdischer Machtgrup- Entsetzlichkeiten unserer Zeit wie pen gegen unser Volk. Schließlich ist die Massakrierung von Palästinen- klar, dass die Holocaust-Industrie sern und Libanesen zu verdrängen, ja mit moralischen Vorwänden die sogar die Untaten im Nahen Osten Deutschen immer nur wieder finan- mit Waffengeschenken zu fördern.«25 ziell auspressen will. ... Selbstver- ständlich nehmen wir uns das Recht heraus, die Großmäuligkeit und die 9. Geschichtsrevisionismus zum ewigen Finanzforderungen des Zent- Holocaust als Antisemitismus ralrats der Juden in Deutschland zu kritisieren.«24 Neben den vorgenannten Agitations- feldern der rechtsextremistischen Bei der Kommentierung des Nahost- Judenfeindschaft sei hier noch auf ei- Konflikts nehmen Rechtsextremisten nen Themenbereich verwiesen, wel- eine antiisraelische und pro-palästi- cher scheinbar direkt kaum etwas mit nensische Haltung ein. Mitunter tra- Antisemitismus zu tun hat. Es geht gen Neonazis bei Demonstrationen um den Geschichtsrevisionismus sogar eine Palästina-Fahne oder ein zum Holocaust26, also die politisch Palästinenser-Tuch, um ihre diesbe- motivierte Absicht einer Relativie- zügliche Solidarität öffentlich unter rung, Verharmlosung oder Leugnung Beweis zu stellen. Die damit verbun- des Massenmordes an den Juden im dene Positionierung hat indessen Zweiten Weltkrieg. Rechtsextremis- kaum etwas mit einer menschen- ten im In- und Ausland weisen seit rechtlich begründeten Kritik am isra- Beginn der 1950er Jahre immer wie- elischen Umgang mit den Palästinen- der darauf hin, dass auch Kriegsver- sern zu tun. Vielmehr dient deren brechenandenDeutschenundnicht Thematisierung dazu, antisemitische nur an den Juden begangen worden Auffassungen insinuierend unter seien, die Zahl der Ermordeten in den dem »Deckmantel« der Israel-Kritik Konzentrations- und Vernichtungs- artikulieren zu können. Mitunter ver- lagern viel zu hoch beziffert werde, koppelt man bei dieser Absicht auch oder die systematische Tötung von antizionistische und sekundäre Ju- Juden durch Erschießungen und Ver-

24 NPD Parteivorstand/Amt für Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Argumente für Kandidaten & Funktionsträger. Eine Hand- reichung für die öffentliche Auseinandersetzung, 2. Auflage, Berlin 2006, S.10. 25 Ohne Autor, Wollte Hitler den Krieg?, in: National Zeitung, Nr.30 vom 21. Juli 2006, S.1. 26 Vgl. u.a. Britte Bailer-Galanda/Wolfgang Benz/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Die Auschwitzleugner. »Revisionisti- sche« Geschichtslüge und historische Wahrheit, Berlin 1996; Deborah E. Lipstadt, Betrifft: Leugnen des Holocaust, Zürich 1994. 150 ANTISEMITISMUS IM RECHTSEXTREMISMUS gasungen durch glaubwürdige histo- Staates Israel entwickelt wurde, läuft rische Quellen nicht belegbar sei. diese Auffassung auf Verschwö- Zwar lassen sich der rechtsextremisti- rungsvorstellungen im Sinne des po- sche Hintergrund derartiger Aussa- litischen Antisemitismus hinaus. gen sowie die damit verbundenen Manipulationen bis hin zu Verfäl- Ein weiterer Grund, warum der schungen gut belegen.27 Doch han- rechtsextremistische Geschichtsrevi- delt es sich dabei um einen Ausdruck sionismus als Ausdruck der Juden- von Antisemitismus? feindschaft gelten kann, darf in seiner inhaltlichen Einbettung in Agitati- Zwei Gründe sprechen für diese Ein- onsmuster des sekundären Antisemi- schätzung: Nimmt man die Auffas- tismus gesehen werden. Demnach sung, wonach der Holocaust eine dient die Erinnerung an den Holo- reine Erfindung sei, einmal ernst, caust der moralischen Demütigung wäre dies nur möglich, wenn alle der Deutschen, wobei mit einer Dokumente und Zeugenaussagen auf Täter-Opfer-Umkehr bei diesem einer Fälschung beruhten. Demnach »Schuldabwehr-Antisemitismus« den müsste es zuvor eine gigantische und Juden bösartige Absichten unterstellt universelle Konspiration zur Her- werden: Sie beherrschten die Deut- stellung von Belegen für die behaup- schen und erpressten hohe Wieder- tete historische Fiktion gegeben gutmachungszahlungen, wofür die haben: Alle ehemaligen Opfer und Dramatisierung oder Erfindung des Täter hätten zu einer falschen Dar- Holocaust die Legitimation liefere. stellung gebracht werden müssen, alle Hier artikulieren sich zwei klassische seinerzeitigen Dokumente und Fotos Ideologievarianten des Antisemitis- wären demnach systematisch ge- mus: die politische und soziale Form. fälscht und manipuliert worden. Im letztgenannten Sinne stellen Allein schon diese Vorstellung wider- Rechtsextremisten die Behauptung legt die Annahmen des rechtsextre- auf, die Juden würden die Deutschen mistischen Geschichtsrevisionismus. dabei mit ihrem »Schachern« finanzi- Für den hier zu erörternden Kontext ell ausnutzen. Der Vorwurf der mora- verdient aber ein anderer Gesichts- lischen Beherrschung der Deutschen punkt Interesse: Da die angebliche läuft auf die antisemitische Ver- »Auschwitz-Lüge« zur Ausbeutung schwörungsideologie hinaus, welche der Deutschen durch die Juden oder in den Juden die Macht »hinter den zur Legitimation der Gründung des Kulissen« sieht.

27 Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte, München 1991; Armin Pfahl-Traughber, Revisionistische Behauptungen und historische Wahrheit. Zur Kritik rechtsextremistischer Ge- schichtsverfälschungen, in: Aufklärung und Kritik, 7. Jg., Nr.2/2000, S.84–97. ARMIN PFAHL-TRAUGHBER 151

10. Interne Bedeutung des Die Fortexistenz der Judenfeind- Antisemitismus im Rechts- schaft als inhaltliches Identifikations- extremismus merkmal erklärt sich zunächst durch die historische Prägung und Tradi- Betrachtet man den Anteil des Antise- tion. Für das rechtsextremistische mitismus in der rechtsextremistischen Lager spielte der Antisemitismus im- Propaganda in der Gesamtschau, so mer eine große Rolle, wie die Be- kann zu seiner Bedeutung folgendes trachtung der Entwicklung vom konstatiert werden: Derartige Ein- Wilhelminischen Kaiserreich bis in stellungen lassen sich in allen Berei- die Bundesrepublik Deutschland chen des Rechtsextremismus mehr zeigt. Außerdem lassen sich die meis- oder weniger deutlich ausmachen. ten anderen ideologischen Deutun- Gleichwohl handelt es sich hierbei im gen der rechtsextremistischen The- UnterschiedzuderGewichtungdes menfelder mit antisemitischen Ein- Antisemitismus in diesem Lager vor stellungen verkoppeln: Amerikas 1945 nicht mehr um das herausra- und Israels »Eroberungskriege« deu- gende oder ein zentrales Themenfeld. tet man als Schritte zur Erlangung der Als bedeutendere Agitationsinhalte jüdischen Weltherrschaft, »Einwan- gelten »Einwanderung«, »Globalisie- derung« und »Überfremdung« gelten rung« und »Wirtschaftskrise«, als als Beiträge zur Errichtung einer wichtigere Feindbilder »Amerika«, jüdisch initiierten »One-World«-Po- »Fremde« und »System«. Innerhalb litik, »Globalisierung« und Wirt- des Rechtsextremismus lässt sich eine schaftskrise führen Rechtsextre- stärkere Fixierung auf die Probleme misten auf das Wirken jüdischer der Gegenwart und eine Zurückdrän- Bankiers an der »Ostküste« zurück, gung von Themen der Vergangenheit Erinnerungen an »Holocaust« und ausmachen. Insbesondere will man, in »Kriegsschuld« sollen »Moralkeu- den Worten des NPD-Strategen Jür- len« jüdischer Interessenorganisatio- gen W. Gansel, »noch stärker die so- nen sein. ziale Frage nationalisieren.«28 Damit verliert der Antisemitismus für die Außerdem erfüllt der Antisemitis- Außenwirkung an Bedeutung, bleibt mus bestimmte Funktionen30:Sosehr aber lagerintern ein wichtiges Ideolo- es sich bei ihm um eine ideologisch gieelement.29 verzerrte Wahrnehmung sozialer Realität handelt, so darf doch dessen Worin bestehen die Gründe dafür unterschiedlicher Nutzen für den Re- bzw.worinistderNutzenzusehen? zipienten nicht ignoriert werden. Die

28 Jürgen W. Gansel, Gegen Einwanderung, Europäische Union und Globalisierung, in: Deutsche Stimme, Nr.11 vom November 2005, S.16. 29 So auch: Rainer Erb/Michael Kohlstruck, Die Funktionen von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit für die rechts- extreme Bewegung, in: Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009, S.419–439, hier S.426. 30 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Antisemitismus in der deutschen Geschichte, Opladen 2002, S.155–159. 152 ANTISEMITISMUS IM RECHTSEXTREMISMUS

Abgrenzung von den Juden als nega- fentlichen Umgang mit der Kritik an tiv angesehener fremder Gruppe ge- Israel oder der Schuld am Holocaust stattet die Identifizierung mit der als ging. In allen genannten Fällen ver- positiv bewerteten eigenen Gruppe. suchten rechtsextremistische Medien, In der Vergangenheit definierte man diese Debatten aufzugreifen, um sie sich dadurch als »Arier«, »Christ« in ihrem Sinne eine politische Rich- oder »Deutscher«, im Fall des gegen- tung zu geben. Dafür steht etwa ein wärtigen Antisemitismus im Rechts- Titelbild von »Nation & Europa«, extremismus als »Nationalist«. Ne- welches Portraits einerseits von Jür- ben dieser ersten Identitätsfunktion gen W. Möllemann und Martin Wal- verbindet sich mit dem Feindbild ser, andererseits von Michel Fried- »Jude« auch eine zweite Erkenntnis- man und Marcel Reich-Ranicki funktion, vor allem bezüglich des po- zeigte. Dazwischen fanden sich die litischen Antisemitismus. Komplexe Formulierungen »Deutsche und Ju- gesellschaftliche Entwicklungen wie den« sowie »Wer hat das Sagen?«31. etwa der »Börsencrash« oder die Friedman und Reich-Ranicki sprach »Globalisierung« können durch das die Zeitschrift so ihr »Deutschsein« konspirative Wirken der »Ostküste« ab und stellte sie den »Deutschen« scheinbar einfach erklärt werden. Da- pauschal als feindlich gesinnte »An- rüber hinaus lässt sich drittens eine dere« gegenüber. Mobilisierungsfunktion ausmachen, welche aber mit der externen Wir- Darüber hinaus suggeriert die For- kung zusammenhängt. mulierung, nicht mehr die Deut- schen, sondern die Juden hätten im Land »das Sagen«. So meint man auch 11. Externe Bedeutung des in anderen Kontexten, die Legitima- Antisemitismus im Rechts- tion der bestehenden Gesellschafts- extremismus und Staatsordnung infrage stellen zu können. Dafür steht die Kommentie- Gemeint ist damit die beabsichtigte rung von Bundeskanzlerin Angela Wirkung in die Gesellschaft hinein, Merkel in der »National-Zeitung«, steigt doch die Bedeutung antisemiti- wo etwa eine Preisverleihung an sie scher Agitation und Berichterstat- wie folgt kommentiert wird: »Der tung im Rechtsextremismus bei öf- aus Vererbung vermeintlich polni- fentlichen Skandalen mit einschlägi- schen, aus Zuneigung amerikani- gen Bezugspunkten. Dafür standen in schen, aus Leidenschaft israelischen, der jüngsten Vergangenheit die aus Gleichgültigkeit deutschen Bun- »Hohmann-Rede«, der »Möllemann- deskanzlerin der BRD wird diese Skandal« und die »Walser-Kontro- Auszeichnung verliehen in Würdi- verse«, wobei es jeweils um den öf- gung ihrer Politik gegen die Interes-

31 Nation & Europa, Nr.7/8 vom Juli/August 2002, S.1 (Titelblatt). ARMIN PFAHL-TRAUGHBER 153 sen ihres eigenen Landes.«32 Exem- Ausnahme bestimmter Regionen in plarisch zeigt sich hier als vierte Ostdeutschland noch nicht seine Funktion des Antisemitismus die Le- gesellschaftliche Marginalisierung gitimationsfunktion: Merkel gilt hier überwinden konnte, war den Absich- als Dienerin Israels und Verräterin ten eines breiten Hineinwirkens in Deutschlands. Mittels ihrer Delegiti- die Mehrheitsgesellschaft bislang mierung beabsichtigen die Rechtsex- aber noch kein Erfolg beschieden. tremisten mit diesem antisemitischen Diskurs, sich selbst als die einzig rechtmäßigen politischen Repräsen- 12. Schlusswort und tanten des eigenen Landes darzustel- Zusammenfassung len. Bilanzierend lässt sich folgendes zum Antisemitismus, dies belegen die Antisemitismus im Rechtsextremis- Ergebnisse der empirischen Sozial- mus konstatieren: Dieses politische forschung, lässt sich nicht auf die Lager stellt den bedeutendsten politi- 25.000 organisierten Rechtsextremi- schen Träger der Judenfeindschaft sten reduzieren. Je nach gewählten dar. In keinem anderen organisierten Abgrenzungskriterien und Einstel- Bereich kommt dem Antisemitismus lungsstatements sprechen die ein- als Agitationsfeld und Identifikati- schlägigen Untersuchungen von bis onsmerkmal eine so hohe Bedeutung zu 20 Prozent der Bevölkerung.33 zu. Gleichwohl wird im Rechtsextre- Aufgrund des anti-antisemitischen mismus die damit verbundene Propa- Konsens in Medien, Öffentlichkeit ganda gegenwärtig durch andere und Politik artikuliert sich dieses Po- Feindbilder und Themenkomplexe tential meist nur im privaten Bereich überlagert. Zu den Erstgenannten ge- als Ausdruck einschlägiger Mentali- hören Angehörige anderer Minder- täten und Orientierungen. Deren heiten wie »Ausländer«, »Fremde« quantitatives Ausmaß und inhaltliche und »Muslime«. Inhaltlich geht es Richtung ist auch den führenden Ak- stärker um die »Globalisierung«, tivisten des rechtsextremistischen La- »Sozialpolitik« und »Überfrem- gers bekannt. Letztendlich hoffen sie, dung«. Gegenüber dem damit in einer für antisemitische Agitation verbundenen rechtsextremistischen günstigeren Zeit eben dieses Einstel- Diskurs sank die Bedeutung des An- lungspotential auch ansprechen und tisemitismus in der Selbstdarstellung mobilisieren zu können. Da der orga- dieses politischen Lagers. Gleich- nisierte Rechtsextremismus mit wohl lässt er sich nach wie vor als

32 Gerald Menuhin, Jetzt hat sie’s! in: National-Zeitung, Nr.25 vom 15. Juni 2007, S.2. 33 Vgl. u.a. Werner Bergmann, Wie viele Deutsche sind rechtsextrem, fremdenfeindlich und antisemitisch? Ergebnisse der empirischen Forschung von 1990 bis 2000, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Auf dem Weg zum Bürgerkrieg? Rechtsex- tremismus und Gewalt gegen Fremde in Deutschland, Frankfurt/M. 2001, S.41–62; Oliver Decker/Elmar Brähler, Rechtsextremistische Einstellungen in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42 vom 17. Oktober 2005, S.8–17. 154 ANTISEMITISMUS IM RECHTSEXTREMISMUS ideologischer Hintergrund vieler des antizionistischen und sekundären Statements ausmachen – sei es bei den Antisemitismus zu. genannten aktuellen Themenschwer- punkten, sei es zu »Nahost-Konflikt« Bei der diesbezüglichen Agitation er- und »Vergangenheitsbewältigung«. füllen die judenfeindlichen Inhalte verschiedene Funktionen, die als in- Dabei können bezüglich der Deut- dividueller oder kollektiver Nutzen lichkeit zwei verschiedene Varianten erst die Akzeptanz und Wirkungsab- unterschieden werden: die insinuie- sicht des Antisemitismus erklären: rende Form von Andeutungen und Die Identifikationsfunktion erlaubt die offene Form von Hassbildern. Im eine Abwertung von »Juden« und letztgenannten Sinne artikuliert sich eine Aufwertung der »Nationalis- die Judenfeindschaft in aller Deut- ten«. Die Erkenntnisfunktion be- lichkeit, mitunter verbunden mit di- nennt mit dem angeblichen Wirken rekten Gewaltaufforderungen und von Juden eine einfache Erklärung eindeutigen Vernichtungsphantasien. für komplexe gesellschaftliche und Die insinuierende Form arbeitet politische Phänomene. Beide Funkti- demgegenüber mit Anspielungen, onen beziehen sich auf die lagerin- Kodierungen oder Subtexten, welche terne Bedeutung des Antisemitismus den Rezipienten eine antisemitische für den Rechtsextremismus. Für die Botschaft vermitteln wollen, ohne die lagerexterne Wirkung der Juden- judenfeindliche Einstellung dabei feindschaft bestehen zwei andere deutlich zu formulieren. Einerseits Funktionen: Mit der Mobilisierungs- will man so juristische und politische funktion geht es um die Gewinnung Folgen vermeiden, andererseits damit von latent antisemitisch eingestellten an ein bereits bestehendes antisemiti- Personen in der Mehrheitsgesell- sches Ressentiment anknüpfen. Als schaft als Anhänger. Und mit der Le- Ideologievarianten spielen dabei der gitimationsfunktion soll die etab- rassistische und religiöse Antisemi- lierte Politik als »im jüdischen Inte- tismus nur noch eine geringe Rolle. resse« in Zweifel gezogen und die Weitaus höhere Bedeutung kommt Rechtmäßigkeit der eigenen Positio- unter den klassischen Formen dem nen als »im deutschen Interesse« be- nationalistischen, politischen und so- tont werden. zialen sowie den modernen Formen 155

Der neonazistische Kult um Horst Wessel am Beispiel Baden-Württemberg

WALTER JUNG

1. Einleitung und Fragestellung verklärt. Dieser Kult wurde zeit- gleich kontrastiert durch nicht zu- Der Berliner SA-Sturmführer Horst letzt mit dem Ziel der Schuld- und Wessel ist ein idealtypisches Beispiel Schadensabwehr erfolgende kommu- dafür, wie sehr ein realistisches Bild nistische Bestrebungen, Wessel als einer verstorbenen Person überlagert Zuhälter und den Überfall auf ihn als werden kann durch die postmortalen völlig unpolitische Gewalttat im Instrumentalisierungen und Kon- »Milieu« hinzustellen. Diese aus struktionen bis hin zu Fiktionen, de- konträren Richtungen betriebenen nen dieses Bild durch die Nachwelt Entstellungen, Verzerrungen und zuweilen unterzogen wird. Oder um Einseitigkeiten wirken bis in das öf- es mit einem Zitat aus einer eher lite- fentliche Horst-Wessel-Bild der rarischen Verarbeitung des Wessel- jüngsten Vergangenheit nach. Noch Stoffes zu sagen: »Horst Wessel war 2002 beklagte der Berliner Historiker nicht der Horst Wessel, der er nach ManfredGailus»dasnochheutein seinem Tode wurde.«1 Denn die Nati- der Literatur weithin vorherr- onalsozialisten initiierten um ihn seit schende, vergröbernde und häufig seinem Tod im Februar 1930 einen mehr einer Karikatur gleichende immer wieder die Grenzen zur polit- Horst-Wessel-Bild«3.Diediesbezüg- religiösen Apotheose2 überschreiten- liche Wissenschaftsliteratur4 ist den, allerdings bereits nach 1934 demzufolge ebenso intensiv mit der sukzessiv wieder abebbenden Hel- Analyse und Dekonstruktion des den- und Märtyrerkult. Im Zuge die- NS-Mythos »Horst Wessel« wie mit ses Kultes wurde die Realperson der Rekonstruktion der zugegebe- Wessel zu einer künstlichen national- nermaßen sehr kurzen und teilweise sozialistischen Identifikationsfigur immer noch im Ungefähren liegen- transformiert, zu einem NS-Mythos den Vita der Realperson Horst Wessel

1 Heinz Knobloch, Der arme Epstein – Wie der Tod zu Horst Wessel kam, Berlin 1993, S.72. Kursivsetzung wie im Original. 2 So bezeichnete ihn sein Berliner NSDAP-Gauleiter, der spätere »Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda« Joseph Goebbels schon in einem Artikel in »Der Angriff« vom 6. März 1930 als »Christussozialist« und rückte sein Le- ben und Wirken in die Nähe Jesu. Vgl. Heiko Luckey, Personifizierte Ideologie – Zur Konstruktion, Funktion und Rezep- tion von Identifikationsfiguren im Nationalsozialismus und im Stalinismus, Göttingen 2008, S.51–55, 541. Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden – Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow bei Greifswald 1996, S.135–137. 3 Manfred Gailus, Vom Feldgeistlichen des Ersten Weltkriegs zum politischen Prediger des Bürgerkriegs – Kontinuitä- ten in der Berliner Pfarrerfamilie Wessel, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 50 (2002), S.773–803, hier: S.773. 4 Bis heute zumindest vereinzelt in der wissenschaftlichen Fachliteratur herangezogen, obwohl selber wissenschaftli- chen Maßstäben – beispielsweise aufgrund erheblicher Faktenfehler – nicht genügend: Imre Lazar, Der Fall Horst Wessel, Stuttgart/Zürich 1980. 156 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG befasst5. In anderen Fällen wird das knappe Angaben9 weitgehend unter- Thema sogar gleich als Beispiel in belichtet, der nicht nur aus ge- übergeordnete Studien über national- schichtswissenschaftlicher Perspek- sozialistische Mythen, Helden- und tive, sondern vor allem auch für die Identifikationsfiguren integriert, wo- Rechtsextremismusforschung von bei die Biografie der realen Person Relevanz ist: Pflegen auch heutige nur noch als Hintergrundinforma- deutsche Neonationalsozialisten tion kursorisch dargeboten wird6. (vulgo: Neonazis) einen Kult um Wessel, so wie sie ihn seit Jahrzehnten Seit wenigen Jahren genießt das um den einstigen Hitler-Stellvertreter Thema »Horst Wessel« in der Wis- Rudolf Heß treiben? Wenn ja: Wie, in senschaft verstärkte Aufmerksamkeit: welchem Ausmaß, welchen Formen, 2009 veröffentlichte der Bielefelder mit welchen Inhalten und Zielen? Historiker Daniel Siemens eine Mo- Stellt Wessel für sie heute noch – oder nographie, die zu ungefähr gleich- wieder? – ein Vorbild, eine Integrati- wertigen Teilen die Vita Wessels, die onsfigur dar? Gibt das Thema »Wes- Hintergründe seines Todes sowie den sel« für deutsche Neonazis der Ge- NS-Kult um ihn behandelt, um ab- genwart bei realistischer Betrachtung schließend die – zumal juristischen – ein taugliches Propagandathema für Nachwehen der Causa Wessel nach die externe Kommunikation mit der 1945 zu beleuchten7. 2011 legten Gai- nicht rechtsextremistischen Mehr- lus und Siemens eine ausführlich ein- heitsgesellschaft ab? geleitete und kommentierte Edition zweier autobiografischer Texte von Solchen Fragestellungen wandte sich Horst Wessel vor8. In ihren beiden intensiv bisher einzig Maica Vierkant sehr ertragreichen Publikationen in ihrer einschlägigen Studie von 2008 lassen Siemens bzw. Gailus/Siemens zu10. Sie konstatiert darin, dass Wes- – analog zur Vorgehensweise fast sel wie auch Heß grundsätzlich eine sämtlicher ihnen vorangegangener Rolle spielen im Rahmen von »Reak- Autoren – jedoch einen zentralen tualisierungsbemühungen national- Fragenkomplex bis auf wenige, sozialistischer Ideen«11 innerhalb der

5 Vgl. für die vergleichsweise ältere Literatur: Thomas Oertel, Horst Wessel – Untersuchung einer Legende, Köln 1988. 6 Vgl. Luckey (Anm.2), hier besonders S.35–94. Behrenbeck (Anm.2), hier besonders S.134–148. Sven Reichardt, Fa- schistische Kampfbünde – Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002, hier besonders S.555–558. Jay W. Baird, ToDie for Germany – Heroes in the Nazi Pantheon, Bloomington/India- napolis 1990, hier besonders S.73–91 und 100–106. U. a. aufgrund diverser Faktenfehler ist Baird relativ unzuver- lässig. 7 Daniel Siemens, Horst Wessel – Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009. 8 Manfred Gailus/Daniel Siemens (Hrsg.), »Hass und Begeisterung bilden Spalier« – Die politische Autobiografie von Horst Wessel, Berlin/Brandenburg 2011. 9 Siemens (Anm.7), S.10, 255, 329. Gailus/Siemens (Anm.8), S.11. 10 Maica Vierkant, Märtyrer und Mythen – Horst Wessel und Rudolf Heß: Nationalsozialistische Symbolfiguren und ne- onazistische Mobilisierung, Marburg 2008. Vierkants Kritik am Extremismusbegriff und ihre damit einhergehende Ablehnung des Terminus »Rechtsextremismus« zugunsten des Terminus »extreme Rechte« (Ebenda, S.15–17) ver- mögen nicht zu überzeugen. 11 Ebenda, S.9. WALTER JUNG 157 heutigen deutschen Neonaziszene. es sei lediglich »das Bemühen einer Sie führt jedoch ebenfalls zu Recht Aktualisierung erkennbar«17.Gerade aus, dass Wessel nicht »eine solche in diesem Mangel an adaptiver Modi- mobilisierende Wirkung unter Neo- fikation sieht Vierkant ein Problem nazis entfalten«12 könne wie Heß. für die Szene: »Durch diese offene Vielmehr spiele »der Mythos um Nähe zum Nationalsozialismus« ver- Wessel im so genannten ›Nationalen füge »der Wessel-Mythos über eine Widerstand‹ eine absolut untergeord- niedrige Anschlussfähigkeit, über nete Rolle«13. Vierkant kommt u.a. wenige Anknüpfungspunkte zum zu dem Ergebnis, dass der »Rekurs heutigen politischen Handeln und« auf Wessel durch heutige Neonazis werde »auf absehbare Zeit keine Brei- […] in erster Linie« mit dem von tenwirkung entfalten können.«18 So Wessel geschriebenen SA-Lied »Die sei der »Mythos um Wessel […] of- Fahne hoch« (besser bekannt als fensichtlich nicht geeignet, um eine »Horst-Wessel-Lied«) zusammen- größere Anhängerzahl zu mobilisie- hänge. Dieses Lied, das nach dem Tod ren.«19 seines Autors zur NSDAP-Hymne, nach 1933 zudem zur zweiten Natio- Seit der Veröffentlichung von Vier- nalhymne NS-Deutschlands neben kants Studie sind vier Jahre vergan- dem eigentlichen Deutschlandlied gen. Zudem ergeben Vierkants eigene avancierte und heutzutage nach § 86a Angaben, dass sie rechtsextremisti- StGB verboten ist, transportiere »den sche bzw. konkret neonazistische Namen [Wessel] in die Gegenwart Quellen zum Thema »Wessel« offen- und« sei »erster Anknüpfungspunkt bar nur bis einschließlich Veröffentli- zum Mythos«14. Doch die neonazisti- chungsjahr 2006 rezipiert hat. Die schen Versuche, »Wessel im öffentli- Eingangsthese dieses Aufsatzes be- chen Gedenken zu reaktualisieren sagt jedoch, dass gerade in den letzten und darüber an den alten Mythos und Jahren ein zumindest etwas verstärk- den daran entwickelten Kult anzu- tes Aufgreifen der Wessel-Thematik knüpfen«, seien »bislang wenig er- in der neonazistischen Szene zu ver- folgreich« gewesen15. Denn heutige zeichnen ist. Und diese Thematik Neonazis reproduzieren in ihren Pu- wird auch von Neonazis aufgegriffen blikationen den ursprünglich »maß- in und von einem Bundesland aus wie geblich von Goebbels konstruierte[n] Baden-Württemberg, das gemeinhin und forcierte[n] Mythos« laut Vier- nicht als »Hochburg« des Neonazis- kant »in nahezu identischer Form«16; mus gilt und auf dessen heutigem Ter-

12 Ebenda, S.10. 13 Ebenda, S.74. 14 Ebenda, S.139. 15 Ebenda, S.61. 16 Ebenda, S.139. 17 Ebenda, S.61. 18 Ebenda, S.140. Vgl. zur mangelnden Anschlussfähigkeit auch: Ebenda, S.74. 19 Ebenda, S.63. 158 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG ritorium keiner derOrteliegt,die Und: Welchen Inhalts sind die Texte, zentrale Schauplätze von Wessels die sie zu diesem Thema in ihren Pub- Leben und Sterben waren – sei es als likationsorganen, zumal auf ihren In- Geburts-, Wohn-, Sterbeort oder Be- ternetseiten, veröffentlichen? Dieser gräbnisstätte. Auf diese Orte, zumal zweite Fragenkomplex wird in zwei auf diejenigen in Berlin, konzentrier- Fragenaufgegliedertwerden:Welches tensichauchdieSchauplätze,ande- Bild konstruieren baden-württem- nen die Nationalsozialisten nach bergische Neonazis von Horst 1930 ihren Wessel-Kult zelebrierten. Wessel? Mit welchen Argumenten Vierkant stellt richtig fest, dass eine versuchen sie, die mangelnde An- »zentrale Bedeutung im Gedenken schlussfähigkeit des NS-Mythos […] der Ort« einnehme, »an dem das »Wessel« an die Gegenwart zumin- Gedenken« stattfinde, und »der Ort, dest so weit zu überwinden, dass das an dem eines Toten in der Regel ge- Thema wenigstens für die szenein- dacht wird, sein Grab«20 sei. Dies er- terne Kommunikation einen aktuel- klärt auch die große Bedeutung, die len Gebrauchswert erhält? Der Be- deutsche Neonazis Wunsiedel als der antwortung dieser Fragenkomplexe zentralen Stätte ihres Heß-Geden- werden eingangs eine Neonazismus- kens beimessen, befand sich doch hier Definitionsowieeinigebiographische bis 2011 das Grab des von ihnen als Rahmendaten zuHorst Wesselvoran- angeblicher »Friedensflieger« Ver- gestellt. Die angeführten Beispiele für ehrten. Im Falle Wessel müss(t)en ge- neonazistischeWessel-Aktionenbzw. rade baden-württembergische Neo- -Texte mit Baden-Württemberg-Be- nazis also besonders weit reisen, zug21 stammen fast ausschließlich aus woll(t)en sie ihre Wessel-Aktionen an den Jahren 2009 bis 2012, ohne aber den originären Stätten des histori- denAnspruchzuerheben,alleent- schen NS-Kultes um Wessel veran- sprechenden Aktionen und Texte aus stalten. diesen Jahren erfasst zu haben.

Zwei Fragenkomplexe werden im Fokus der folgenden Ausführungen 2. Die der Untersuchung stehen: Welche Aktionen führen zugrundeliegende Definition baden-württembergische Neonazis von »Neonazismus« nach eigenen Angaben mit welchem Mobilisierungserfolg wann und wo Die dieser Untersuchung zugrunde- zum Thema »Horst Wessel« durch? liegende Definition des Terminus

20 Ebenda, S.102–103. 21 Als neonazistische Wessel-Aktionen mit Baden-Württemberg-Bezug werden im Folgenden solche Aktionen gewertet werden, die in Baden-Württemberg durchgeführt wurden respektive außerhalb dieses Bundeslandes unter Mitwir- kung baden-württembergischer Neonazis. Als neonazistische Wessel-Texte mit Baden-Württemberg-Bezug werden im Folgenden solche Textegewertet werden, die aus der Feder baden-württembergischer Neonazisstammen oderdie in Baden-Württemberg (z.B. als Flugblatt) auftauchten oder die auf Internetseiten eingestellt wurden, die baden-würt- tembergischen Neonazi-Gruppierungen zuzurechnen sind bzw. die Baden-Württemberg oder einen Teil dessen zu ih- rem Zuständigkeitsbereich zählen. WALTER JUNG 159

»Neonazismus« orientiert sich 3. Horst Wessel 1907–193023 möglichst eng am Bezugspunkt des historischen Nationalsozialismus Horst Wessel wurde am 9. Oktober (NS). Demnach sind nur diejenigen 1907 in Bielefeld als ältester Sohn des rechtsextremistischen Einzelperso- evangelischen Pfarrers Dr. Ludwig nen, Gruppierungen, Organisationen Wessel und dessen Frau Margarete oder auch Medien als Neonazis bzw. geboren. 1908 zogen die Wessels nach neonazistisch zu kategorisieren, die Mülheim/Ruhr, wo seine beiden jün- ein direktes oder indirektes Bekennt- geren Geschwister zur Welt kamen. nis zu Ideologie, Organisationen, 1913 erfolgte der Umzug der Familie Protagonisten oder aber auch we- nach Berlin, wo der Vater eine Pfarr- sensverwandten bis wesensgleichen stelle in der angesehenen Nikolai- Vorgängerphänomenen des histori- Gemeinde antrat. schen NS erkennen lassen und in letz- ter Konsequenz auf die Abschaffung Während des Ersten Weltkrieges der freiheitlichen demokratischen diente Wessel sen.24 als Feldgeistli- Grundordnung zugunsten eines tota- cher. Durch seine Kriegserfahrung litären Führerstaates nach dem Vor- wurde er »faktisch zum ›vaterländi- bild des »Dritten Reiches« ausgerich- schen‹ Agitator«, der »ein[en] aggres- tet sind.22 sive[n] alldeutsche[n] Pangermanis- mus«25 propagierte. So befürwortete Da es sich bei Horst Wessel unzwei- der »großdeutsche, national-völki- felhaft um einen Protagonisten des sche Kriegspfarrer«26 weitreichende historischen NS handelte – wenn deutsche Annexionen in Belgien und auch nur auf regionaler und mittlerer im Baltikum. Ludwig Wessel starb Funktionärsebene – und zudem der am 9. Mai 1922 im Alter von nur 42 postmortale Mythos um seine Person Jahren. Er dürfte seinen Sohn Horst ausschließlich von Nationalsozialis- nicht zuletzt auf politisch-ideologi- ten kreiert und kultiviert wurde, kann schem Terrain geprägt und für ein ein Bekenntnis zu ihm nur als Aus- Engagement in deutschnationalen bis druck von Neonazismus gewertet nationalsozialistischen Kontexten werden. prädisponiert haben.

22 Diese Neonazismus-Definition entspricht im Wesentlichen derjenigen, die z.B. auch das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz zur Grundlage seiner Arbeit in diesem Bereich macht. Vgl. dazu: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2010, o. O. o. J., S.169–170. 23 Die Angaben in diesem Kapitel folgen denjenigen in dem biographischen Teil der Wessel-Monographie von Sie- mens (Siemens (Anm.7), S.15–128) bzw. in der Einleitung zur Quellenedition von Gailus und Siemens (Gailus/ Siemens (Anm.8), S.11–80), es sei denn, es ist anders kenntlich gemacht. 24 Vgl. zur Vita von Ludwig Wessel: Gailus (Anm.3), S.773–785. 25 Ebenda, S.781. 26 Ebenda, S.783. 160 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG

Wessel durchlief während seiner Ju- Terminologie »vielleicht einen ex- gend einen politischen Radikalisie- trem ehrgeizigen und organisatorisch rungsprozess: Wohl seit der zweiten begabten Politaktivisten nennen«30 Jahreshälfte 1922 bis Februar 1925 könnte. Dazu passt in gewisser Weise, gehörte er der »Bismarckjugend« an, dass er im Laufe des Jahres 1929 sein der Jugendorganisation der »Deutsch- Jurastudium abbrach. Andererseits nationalen Volkspartei«27.AbAnfang scheint er gegen Ende 1929 seine SA- 1924 war er parallel dazu im »Bund Aktivitäten reduziert zu haben, was Wiking« (auch bekannt als »Wiking- u.a. damit zusammengehangen haben Bund«) aktiv, einer extrem rechts zu könnte, dass er seit einigen Monaten verortenden »paramilitärischen Ge- eine nach damaligen Moralvorstel- heimorganisation«28.Am7.Dezem- lungen degoutante Liebesbeziehung ber 1926 trat Wessel, der seit April zu einer Ex-Prostituierten unterhielt. desselbenJahresinBerlinJurastu- Ein schwerer Schicksalsschlag aber dierte, in die NSDAP und SA ein. könnte das Verhältnis zu seinen NS- Gesinnungsgenossen noch stärker Das Jahr 1929 brachte tiefgreifende belastet haben: Am 22. Dezember Einschnitte in Wessels Leben: Sein 1929 erfror sein Bruder während ei- Erfolg in der Berliner SA, in der er nes von Nationalsozialisten organi- sich nicht zuletzt auch als Dichter sierten Ausfluges im Riesengebirge. mehrerer Kampflieder einen gewis- Wessel scheint daraufhin eine sen Namen machte und seit Ende schwere Krise durchlebt zu haben. 1928 als »Führungsfigur«29 einzustu- Sein Zustand soll, wie später sogar fen war, manifestierte sich in seiner von Nationalsozialisten kolportiert Ernennung zum Führer des SA- wurde, innerhalb der SA zu Überle- Trupps 34 in Berlin-Friedrichshain gungen geführt haben, ihn als Sturm- am 1. Mai 1929. Schon wenige Tage führer abzusetzen. später wurde sein Trupp in Trupp 5 umbenannt und bereits am 19. Mai Es ist also nicht völlig auszuschlie- 1929 »wegen Wessels großer Rekru- ßen, dass Horst Wessel zu Jahresbe- tierungserfolge« zum Sturm 5 aufge- ginn 1930 kurz vor seinem – aktiven wertet. Wessel bekleidete damit im oder passiven – (Teil-)Rückzug aus Alter von 21 Jahren den Rang eines der SA oder gar dem NS insgesamt SA-Sturmführers in der Reichs- stand31. Am 14. Januar 1930 wurde er hauptstadt. Offensichtlich sah er sich in seiner Berliner Wohnung von längst »als eine Art angehender Be- Kommunisten überfallen und durch rufspolitiker«, den man nach heutiger einen Pistolenschuss ins Gesicht

27 Vgl. zur »Bismarckjugend«: Wolfgang R. Krabbe, Die Bismarckjugend der Deutschnationalen Volkspartei, in: German Studies Review, 17 (1994), S.9–32. 28 Siemens (Anm.7), S.52. 29 Ebenda, S.88. 30 Ebenda, S.77. 31 Vgl. ebenda, S.97–98. Gailus/Siemens (Anm.8), S.17, 71. Dem widerspricht Behrenbeck (Anm.2), S.138. WALTER JUNG 161 schwer verletzt. In der Folge dessen und zu propagieren. Anlass für derar- erlag er am 23. Februar 1930 einer tige Aktionen war bislang offenbar Sepsis. Die Frage, ob alle Hinter- ausschließlich der Todestag Wessels, gründe des Überfalls heute als geklärt was ein deutlicher Hinweis darauf ist, gelten können32, soll hier nicht ab- dass sie darauf angelegt sind, vor al- schließend vertieft werden. Es kann lem den NS-Märtyrerkult um den aber wohl davon ausgegangen wer- SA-Sturmführer zu reaktualisieren. den, dass eine situative Gemengelage aus privaten und politischen Hinter- Bei der am längsten zurückliegenden gründen zu der Tat führte. Wessels der für diesen Aufsatz eruierten Wes- Beerdigung am 1. März 1930 in Berlin sel-Aktionen handelt es sich um eine fand bereits unter den ersten Anzei- prominent besetzte »revolutionäre chen des NS-Kultes um ihn statt. Gedenkveranstaltung zu Ehren Horst Wessels«, über die noch Ende April 2012 ein Bericht auf einer 4. Baden-württembergische einschlägigen Szene-Internetseite33 Neonazis und das Thema abrufbar war. Als »Autor/Quelle« »Horst Wessel« dieses Berichts wird darin die neona- zistische Netzwerkstruktur »Akti- 4.1 Aktionen onsbüro Rhein-Neckar« (»AB Rhein-Neckar«)34 angegeben. Dem Eine Internetrecherche im April 2012 Bericht zufolge kamen zu dieser Ver- ergab, dass mindestens seit 2005 Neo- anstaltung am 26. Februar 2005, also nazis in Baden-Württemberg wieder- drei Tage nach Wessels 75. Todestag, holt Aktionen mit Wessel-Bezug »weit über 100 nationale Sozialisten durchgeführt haben. In zumindest ei- in der Rhein-Neckar Region [sic!]« nem Fall sind Karlsruher Neonazis zusammen. Ein genauer Veranstal- nach szeneeigenen Angaben für eine tungsort wird nicht genannt. Da das solche Aktion sogar bis nach Berlin »AB Rhein-Neckar« schon damals gereist. Allerdings sind derlei Aktio- im Dreiländereck zwischen Baden- nen erst seit ca. 2009 mit der Tendenz Württemberg, Hessen und Rhein- zur Regelmäßigkeit nachweisbar, land-Pfalz aktiv war, kann also nicht doch auch seitdem immer noch rela- mit letzter Sicherheit gesagt werden, tiv selten und zudem in der Regel ob die »Gedenkveranstaltung« tat- eher unspektakulär, obwohl sie zu- sächlich in Baden-Württemberg mindest in Ansätzen die Absicht er- stattfand. Die grobe Ortsangabe kennen lassen, das Thema »Wessel« »Rhein-Neckar Region« kann aller- in die demokratische Mehrheitsge- dings so interpretiert werden. Die sellschaft hinein zu kommunizieren Abendveranstaltung wurde dem Be-

32 Vgl. zu diesen Hintergründen: Siemens (Anm.7), S.15–32, 104–128. 33 Text »Horst Wessel – Gedenkveranstaltung in der Rhein-Neckar Region« auf http://www.widerstand.info (gelesen am 23. April 2012). Diesem Text sind alle im Folgenden angeführten Zitate entnommen. 34 Vgl. zum »AB Rhein-Neckar«: Innenministerium Baden-Württemberg (Anm.22), S.172–173. 162 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG richt zufolge durch einen einstündi- zwangsläufig aufkommenden Ein- gen Vortrag über Wessel eingeleitet. druck völliger, isolierter Selbstbezo- Vortragender war demnach Thorsten genheit einer solchen szeneinternen Heise, der damals bereits ein relativ Veranstaltung wenigstens abzuschwä- prominenter Neonazi und NPD- chen. Andererseits attestiert er dem Bundesvorstandsmitglied war. In Vortrag in relativ defensiven Worten dem Bericht wird behauptet, dass dies einen recht bescheidenen Vermitt- schon der dritte Vortrag Heises in lungserfolg für das Thema »Wessel«. derselben Region über dieses Thema gewesen sei. Zu den beiden angeblich Der zweite Teil des Berichts lässt ver- vorangegangenen Vorträgen werden muten, dass ohnehin ein großer Teil allerdings keine weiteren Angaben des Auditoriums weniger wegen des gemacht, auch nicht zu der Frage, wie Heise-Vortrages der Veranstaltung lange sie am 26. Februar 2005 schon beigewohnt haben dürfte als wegen zurücklagen. Selbst wenn damals tat- des sich anschließenden weit umfang- sächlich drei Heise-Vorträge zum reicheren und mutmaßlich unterhalt- Thema »Wessel« in der Rhein-Ne- sameren Musikprogramms, das aber ckar-Region stattgefunden haben keinen Wessel-Bezug aufgewiesen zu sollten, so blieb ihr propagandisti- haben scheint. Zumindest wird ein scher Wert doch mutmaßlich be- solcher aus dem Bericht nicht ersicht- grenzt: Zum einen handelte es sich lich. So folgte dem Vortrag laut Be- zumindest bei demjenigen am 26. Fe- richt »ein zweistündiger Auftritt« des bruar 2005 offenbar um eine rein sze- bekannten, damals noch in Baden- neinterne, konspirativ organisierte Württemberg ansässigen rechtsextre- Veranstaltung, deren genauen Um- mistischen Liedermachers Frank stände selbst in der Nachberichter- Rennicke. Im Laufe seines Auftritts stattung vor der breiten Internetöf- kam offenbar eine Stimmung im Pu- fentlichkeit teils verschwiegen wur- blikum auf, die nach konventionellen den. Zudem scheinen die angeblich Vorstellungen von einer »Gedenkver- drei Vorträge erhebliche Schnittmen- anstaltung« durchaus als pietätlos gen zwischen ihren jeweiligen Zuhö- und daher unangebracht bewertet rerschaften aufgewiesen zu haben, werden könnte. Der Bericht dazu wird doch in dem Bericht offen ein- wörtlich: »Im ersten Teil des Pro- gestanden, dass »sich wieder viele Ka- gramms spielte Frank Rennicke be- meraden und Kameradinnen« einge- sinnliche und nachdenkliche Lieder. funden hätten, »obwohl sie diesen Nach einer kurzen Pause wurden die Vortrag schon kannten.« Der fol- Lieder heiterer und mitreisender gende Satz »Aber es waren auch viele [sic!], so dass im Saal eine frohe, lo- neue Gesichter erschienen, denen das ckere Stimmung aufkam.« Derartige Leben und Fühlen Wessels nun weit Schilderungen erinnern eher an das aus [sic!] verständlicher zu sein »Versaufen der Leiche« im Anschluss scheint.« wirkt hingegen einerseits an eine Beerdigung denn an eine wür- wie nachgeschoben, um den fast dige, gar »revolutionäre Gedenkver- WALTER JUNG 163 anstaltung« für einen angeblichen zu haben. Als untypisch kann zum ei- »Märtyrer«. Und diese Stimmung nen die aktive Einbindung relativ scheint auch durch den sich laut Be- prominenter Rechtsextremisten be- richt anschließenden mehrstündigen zeichnet werden. Zudem kann wohl Musikbeitrag zweier Schweden nicht nur bei dieser einen Ausnahme von gedämpft worden zu sein. Diesen einem relativ großen innerszenischen Verlauf der Veranstaltung kann man Mobilisierungserfolg gesprochen wer- in zweierlei Richtungen interpretie- den, auch wenn eben sehr infrage ren: Man könnte einerseits sagen, steht, ob dieser wirklich der Kompo- dass hier ein geradezu idealtypisches nente Wessel-Gedenken geschuldet Beispiel dafür vorliege, wie die »Er- war. Bei den übrigen Wessel-Aktio- lebniswelt Rechtsextremismus«35 als nen aus den späteren Jahren handelte Rahmenprogramm auch einer ten- es sich hingegen um Aktionen, zu de- denziell vielleicht trockenen Vor- ren Vorbereitung und Durchführung tragsveranstaltung innerszenische es im Grundsatz weder eines beson- Attraktivität und relativen Mobilisie- ders hohen Aufwandes noch einer rungserfolg verschaffen kann. Ande- größeren Zahl beteiligter Aktivisten rerseits könnte man aber auch urtei- bedurft haben dürfte, die aber – und len, dass eben diese »Erlebniswelt« sei es in geringfügigen Ansätzen – das den – angeblichen – Grund der Ver- Bemühen aufwiesen, das Thema anstaltung im Laufe des Abends in »Wessel« extern, also auch außerhalb den Hintergrund gedrängt und zum der eigenen Szene in die Mehrheitsge- reinen Anlass für ein zwar alles an- sellschaft zu kommunizieren und zu dere als unpolitisches, aber mit dem propagieren, und das nicht nur im Themenkomplex »Wessel« kaum Nachhinein durch einen Veranstal- oder gar nicht in Verbindung stehen- tungsbericht im Internet. des Unterhaltungsprogramm degra- diert habe. Das gilt beispielsweise für eine Flug- blattaktion, bei der laut einer Polizei- Es scheint sich bei der »Gedenkver- meldung 2009 aus Anlass des 79. anstaltung« vom 26. Februar 2005 im Wessel-Todestages in Karlsruhe ein Gesamtvergleich der neonazistischen damals aktueller36, themenspezifi- Wessel-Aktionen in Baden-Würt- scher Flyer in zumindest sehr gerin- temberg bzw. von baden-württem- ger Stückzahl in Briefkästen einge- bergischen Neonazis der letzten worfen wurde. Rund ein Jahr später Jahre in verschiedener Hinsicht um reisten laut einem Bericht auf der In- eine untypische Ausnahme gehandelt ternetseite der »Nationalen Sozialis-

35 Vgl. Thomas Pfeiffer, Erlebniswelt Rechtsextremismus. Menschenverachtung mit Unterhaltungswert, in: Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland und Europa. Rechts außen – Rechts ›Mitte‹?, Ba- den-Baden 2011, S.117–131. 36 In dem Flyer wird explizit auf den 79. Wessel-Todestag Bezug genommen. Es handelt sich aber zumindest bei Teilen des Flyer-Textes um die Variante eines Textes, der bereits spätestens 2006 erstmals auf einer Szene-Homepage auf- tauchte. (Vgl. Vierkant (Anm.10), S.70–71.) 164 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG ten Rastatt« (auch bekannt als »Ka- Maßstab. So berichtete die neo- meradschaft Rastatt«)37 »Kameraden nazistische, dem Spektrum der soge- aus Karlsruhe« eigens nach Berlin, nannten »Autonomen Nationalis- um aus Anlass des 80. Wessel-Todes- ten« zuzuordnende »Aktionsgruppe tages am ehemaligen Wessel-Grab ein Lörrach« (»AG Lörrach«) auf ihrer »würdiges Gedenken« samt Fahnen, Internetseite Anfang März 2010, Rede, Kranzniederlegung und Schwei- »Unbekannte« hätten »in den letzten geminute abzuhalten38.Andiesem TagenAktionenzudemThema sehr knappen Bericht fällt nicht nur ›Linke Gewalt‹ mit Bezug auf den 80. auf, dass er keine Angabe zur Teilneh- Todestag des Berliner SA-Mann [sic!] merzahl enthält, so dass völlig offen- Horst Wessel durchgeführt«, konkret bleibt, ob sich mehr als eine Handvoll in Rheinfelden und Weil am Rhein, »Kameraden aus Karlsruhe« an der zwei Orten in direkter Nachbar- Aktion beteiligte. Auch bleibt streng- schaft zur Kreisstadt Lörrach39.Die genommen unklar, ob die angereisten Lage dieser beiden Orte ist nicht das Karlsruher diese Aktion von sich aus einzige Indiz dafür, dass es sich bei und alleine veranstalteten, was der diesen angeblich »Unbekannte[n]« in Berichtstext jedoch nahelegt, oder ob Wahrheit um Personen aus der »AG sie sich einer von ortsansässigen Ge- Lörrach« selbst oder aus deren Um- sinnungsgenossen organisierten Ak- feld handelte: Bei der Aktion in Weil tion anschlossen. Diese Veranstal- am Rhein, einer Farbsprühaktion mit tung dürfte, sollte sie denn tatsächlich Hilfe von Schablonen, deren Motive in der im Internetbericht dargestell- auf Wessel Bezug nahmen, wurde an ten Weise stattgefunden haben, we- einer Stelle auch die Internetadresse nigstens ein absolutes Minimum an der »AG Lörrach« angebracht, also Öffentlichkeit hergestellt haben, Werbung für die »AG Lörrach« in denn sie hätte im öffentlichen Raum diese Wessel-Aktion integriert. Eine stattgefunden und als Zeugnis einen Wessel-Aktion in Rheinfelden fand Kranz hinterlassen. hingegen weder in der von der »AG Lörrach« behaupteten noch in einer Zumindest eine weitere Aktion ba- anderen Form statt. Offensichtlich den-württembergischer Neonazis war der Aktionismus der »Unbe- aus den letzten Jahren war noch etwas kannte[n]« in diesem Falle nur vorge- deutlicher auf Öffentlichkeitswirk- täuscht, die Aufmerksamkeit, die samkeit angelegt, wenn auch nur in man damit bei Passanten angeblich einem eng begrenzten regionalen erregt haben wollte, erfunden.40

37 Vgl. zu den »Nationalen Sozialisten Rastatt«: Innenministerium Baden-Württemberg (Anm.22), S.166, 172. 38 Text »Kranzniederlegung zum 80. Todestag von Horst Wessel« auf http://logr.org/nsrastatt (veröffentlicht am 25. Ap- ril 2010; gelesen am 17. April 2012). Die »Nationalen Sozialisten Rastatt« geben als Quelle das »Karlsruher Netzwerk« an, wohinter sich die Internetpräsenz der »Freien Kräfte Karlsruhe« verbirgt. 39 Text »Horst Wessel Gedenkaktionen in Rheinfelden und Weil am Rhein« auf http://ag-loerrach.net (geschrieben am 4. März 2010, gelesen am 17. April 2012). 40 Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Anm.22), S.175. WALTER JUNG 165

Als jüngster, allerdings sehr vager Reaktualisierung des historischen Hinweis auf (eine) Wessel-Akti- NS-Mythos »Wessel« zum Ausdruck on(en) mutmaßlich baden-württem- kommt, sind dezidierte Gegenent- bergischer Neonazis wurden am würfe zur Aufklärung und deren Er- 24. Februar 2012, also einen Tag nach rungenschaften. dem 82. Wessel-Todestag, auf der Szenehomepage »Infoportal Schwa- ben« unter der Überschrift »Unver- 4.2 Texte gessen!« drei Fotos eingestellt, die ganz offensichtlich eine oder mehrere Die häufigste und regelmäßigste Wessel-Aktionen dokumentieren Form neonazistischer Aktivität zum sollen: Zu sehen sind zwei Farb- Thema »Wessel« stellt das – mittler- sprühereien und ein mutmaßlich an weile meist im Internet erfolgende – einem Brückengeländer angebrachtes Veröffentlichen eines themenspezifi- Transparent. Alle dabei verwendeten schen Textes dar. Es soll daher im Fol- Motive und Parolen weisen eindeuti- genden gesondert betrachtet werden. gen Wessel-Bezug auf. Auf dem Obwohl auch hier eine Häufung ent- Transparent wie auch auf einer der sprechender Veröffentlichungen um Farbsprühereien ist die Internetad- den Wessel-Todestag auffällt, über- resse sowie eine Art Emblem des »In- trifft ihre Zahl aus den letzten Jahren foportals Schwaben« zu sehen41. diejenige der übrigen Wessel-Aktio- Wann diese Farbsprühereien und das nen, die aus demselben Zeitraum fest- Transparent wo angebracht wurden, gestellt werden können, bei weitem. ist nicht erkennbar, da die drei Fotos Das beruht auf verschiedenen Grün- unbeschriftet und fast ohne Begleit- den. Vor allem ist mit dem Erstellen text eingestellt wurden. So kann nicht und Verbreiten eines solchen Textes mitSicherheitgesagtwerden,wieak- im Regelfall weniger Aufwand ver- tuell die Fotos sind oder ob die da- bunden als mit der Vorbereitung und durch dokumentierte(n) Aktion(en) Durchführung einer Flugblatt- oder in Baden-Württemberg stattfand(en). Transparentaktion. Das gilt schon Als – beabsichtigter oder unbeabsich- deshalb, da solche Aktionen – wie ge- tigter – Zynismus ist zu werten, dass sehen – zumindest in einigen Fällen als einziger Begleittext ausgerechnet selbst durch das Abfassen eines Akti- ein Trauergedicht von Immanuel onsberichts nachbereitet werden, Kant, dem wohl bedeutendsten nicht zuletzt um sie einer breiteren, philosophischen Vertreter der Auf- überregionalen Öffentlichkeit über- klärung in Deutschland, dieser kur- haupt erst bekanntzumachen. Der zen Fotoserie vorangestellt wurde. Aufwand für die Verbreitung eines Rechtsextremismus und insbeson- Textes wird zusätzlich dadurch mini- dere seine Variante Neonazismus, miert, dass diese Texte in vielen Fällen wie sie u.a. in dem Bemühen um eine nicht einmal aus der Feder der baden-

41 Text»Unvergessen!« auf http://infoportal-schwaben.net (eingestellt am 24. Februar 2012, gelesen am 17. April 2012). 166 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG württembergischen Neonazis stam- Welches Bild konstruieren sie von men, die sie verbreiten, sondern par- Horst Wessel? Mit welchen Argu- tiell oder sogar in Gänze, erkennbar menten versuchen sie, die mangelnde oder verschleiert Abschriften aus den Anschlussfähigkeit des NS-Mythos entsprechenden historischen NS-Pu- »Wessel« an die Gegenwart zumin- blikationen darstellen. Auch stellen dest so weit zu überwinden, dass das viele Veröffentlichungen mal mehr, Thema wenigstens für die szenein- mal weniger oder auch gar nicht mo- terne Kommunikation einen aktuel- difizierte Übernahmen eigener Texte len Gebrauchswert erhält? aus den Vorjahren oder von Texten anderer Neonazi-Gruppierungen dar. Daher muss auch relativierend 4.2.1. »Symbol für Idealismus, konstatiert werden, dass die Gesamt- für Opfergeist und zahl der verschiedenen im Netz kur- jugendlichen Tatendrang«: sierenden neonazistischen Texte zum Das Horst-Wessel-Bild Thema »Wessel« erheblich niedriger baden-württembergischer ist, als die Zahl ihrer (Wieder-)Veröf- Neonazis fentlichungen über die Jahre, auf ver- schiedenen Homepages und teils un- Vierkant hat herausgearbeitet, dass ter wechselnden Überschriften, bei »heutige Neonazis direkt an« die oberflächlicher Betrachtung sugge- »Märtyrerkonstruktion« bezüglich rieren könnte. Ein weiterer Vorteil ei- Wessel, wie sie ursprünglich durch nes im Internet eingestellten Textes Goebbels vorgenommen wurde, »an- besteht darin, dass er oft auch Jahre knüpfen«42. Trotz aller Bemühungen später noch weltweit abrufbar ist, werde der historische NS-Mythos während ein Transparent oder Graf- »Wessel« »dabei weniger aktualisiert fito nur lokal wirken kann und zu- als vielmehr rezitiert.«43 Diesem Be- dem in einer Gesellschaft wie der fund Vierkants ist ohne Einschrän- bundesdeutschen, in der derartig ein- kung zuzustimmen. Er ist auch am deutig neonazistische Bekundungen Beispiel der Neonaziszene Baden- meist in kürzester Zeit zu negativen Württembergskonkretisierbar:Inder Reaktionen führen, in der Regel ein Tat stellt der Mythos »Wessel«, so wie geringes »Haltbarkeitsdatum« auf- ihn baden-württembergische Neona- weisen dürften. zis kultivieren, weitgehend eine reine Reproduktionsleistung dar. Eine Im Folgenden werden neonazistische Neukonturierung, Reinterpretation, Wessel-Texte mit Baden-Württem- auch nur marginale Aktualisierung berg-Bezug, darunter auch die oben oder Modifikation ist kaum festzu- bereits zitierten Aktionsberichte, un- stellen. Die konstruktive Eigenleis- ter zwei Fragestellungen untersucht: tung tendiert gegen Null. Dies drückt

42 Vierkant (Anm.10), S.45. 43 Ebenda, S.61. WALTER JUNG 167 sich nicht zuletzt darin aus, dass Wessel würde einer neonazistischen neonazistische Texte zum Thema Mythenkonstruktion um seine Per- »Wessel« häufig und dann teils in er- son jede Grundlage entziehen: Was heblichem Ausmaß aus Versatzstü- wäre ein von Depressionen und cken historischer NS-Texte oder aus Zweifeln geplagter, gar kurz vor der angeblichen und tatsächlichen Wes- Apostasie stehender SA-Sturmführer sel-Zitaten bestehen44. aus neonazistischer Perspektive mehr gewesen als ein schwächlicher, ver- Diese enge Orientierung am histori- achtenswerter »Verräter in statu nas- schen NS-Mythos »Wessel« zwängt cendi«? dessen neonazistisches Plagiat von vornherein in ein enges inhaltliches Das neonazistische Wessel-Bild lässt Korsett. Das bedeutet u.a., dass das sich in verschiedene Einzelmotive Bild, das heutige Neonazis von Wes- aufgliedern, die aber alle eng mitein- sel konstruieren, ganz in NS-Tradi- ander verknüpft sind. Etwas häufiger tion von absoluter, kritiklos-heroisie- als die anderen taucht in den unter- render Bewunderung geprägt ist: suchten Texten das Motiv von Wessel Nichts von dem, was Wessel in sei- als tapferer Kämpfer auf. So ist auf nem kurzen Leben angeblich oder einem der drei bereits erwähnten tatsächlich tat – oder ließ –, sagte oder Fotos, die aus Anlass des 82. Wessel- dachte, wird heute von neonazisti- Todestages auf der Szenehomepage scher Seite auch nur punktuell mit »Infoportal Schwaben« eingestellt Kritik, Abgrenzung oder auch nur wurden, prägnant zu lesen: »HORST Relativierung bedacht. Diese kritik- WESSEL – DEUTSCHER KÄMP- lose Bewunderung gilt vor allem auch FER. UNVERGESSEN.«45 Das Mo- für Wessels Engagement in der SA, tiv vom tapferen Kämpfer Wessel was übrigens im Umkehrschluss ein umfasst zwei Bedeutungsvarianten: grelles Licht auf die Haltung der be- Einerseits wird Wessel als tapferer treffenden Neonazis zum histo- Kämpfer im politischen Sinne darge- rischen NS wirft. In innerlogischer stellt. Diese Bedeutungsvariante kann Konsequenz wird die in der seriö- zudem zumindest andeuten, Wessel sen Wissenschaftsliteratur ventilierte sei auch ein tapferer Kämpfer im phy- These, wonach Wessel in seinen letz- sischen Sinne gewesen. So heißt es in ten Lebensmonaten eventuell eine ge- einem Text, der in wenig voneinander wisse Distanz zum historischen NS abweichenden Varianten seit Februar aufgebaut haben könnte, nicht aufge- 2010 mindestens sieben Mal allein auf griffen, geschweige denn bejaht. verschiedenen Internetseiten baden- Denn ein »(teil-)entnazifizierter« württembergischer Neonazi-Grup-

44 Aus verschiedenen Gründen wird im Folgenden darauf verzichtet, derartige Versatzstücke und Wessel-Zitate in den untersuchten neonazistischen Texten im Einzelnen anhand der jeweiligen historischen Quellen herauszuarbeiten, zu veri- oder zu falsifizieren. Generell wurden bei der Erarbeitung dieses Aufsatzes die zahlreichen NS-Publikationen über Wessel aus den Jahren 1930 bis 1945 nicht herangezogen. 45 Text»Unvergessen!« auf http://infoportal-schwaben.net (eingestellt am 24. Februar 2012, gelesen am 17. April 2012). 168 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG pierungen eingestellt wurde, die aber stellt: So wie vor dem Überfall auf der alle eine augenscheinlich gesinnungs- Straße gegen Kommunisten, habe er genössische Gruppierung aus Jena danach auf dem Sterbebett gegen den bzw. deren Internetseite als Quelle Tod angekämpft: »40 Tage lang ringt ausweisen: »Gerade hier, im roten Horst Wessel verbissen ums Überle- Berlin,wodieNSDAPsichintägli- ben. […] Er hat den gierigen Klauen cher direkter Auseinandersetzung des Todes immer weniger entgegen- mit den Kommunisten um die Her- zusetzen. […] Am 23. Februar 1930 zen der Arbeiterschaft befindet, wer- […] hört Horst Wessels tapferes Herz den Kämpfer wie Wessel dringend ge- fürimmeraufzuschlagen.«48 braucht.«46 In diesem Satz kann die Formulierung »Kämpfer wie Wessel« Welchen Idealen und Zielen galt aus sowohl im politischen wie im physi- heutiger Neonazisicht Wessels politi- schen Sinne interpretiert werden. Al- scher (und eventuell physischer) lerdings war Wessel laut Siemens auf- Kampf? Wessel wird in den unter- grund physischer Einschränkungen, suchten neonazistischen Texten wie- die aus vier Armbrüchen resultierten, derholt attestiert, ein patriotischer,re- wohl eher nicht in der Lage, sich bei volutionärer Freiheitskämpfer für das Straßenkämpfen persönlich allzu deutsche Volk bzw. für Deutschland sehr zu exponieren, und daher mehr gewesen zu sein. So ist das Flugblatt, ein Kämpfer auf dem Gebieten des das 2009 in Karlsruhe auftauchte, politischen Aktivismus und Verbalra- überschrieben mit »UNVERGES- dikalismus47. Die zweite Bedeutungs- SEN! GELEBT FÜR DEUTSCH- variante des Motivs vom tapferen LAND – GESTORBEN FÜR DIE Kämpfer Wessel bezieht sich auf des- FREIHEIT!«. Ein Text, der aus An- sen gut fünfwöchige Agonie im Ja- lass des 82. Wessel-Todestages auf nuar/Februar 1930. Diese letzte »Infoportal Schwaben« eingestellt Phase im Leben Wessels wird in den wurde, beginnt mit den pointierten entsprechenden neonazistischen Tex- Behauptungen: »Er kämpfte für sei- ten immer wieder ausführlich, atmo- nes Volkes Freiheit. Er schenkte der sphärisch intensiv mit viel Pathos und Revolution sein Lied. Er gab sein Le- Mitgefühl thematisiert. Im Rahmen ben für Deutschland.«49 An anderer, einer Märtyrerkonstruktion, wie sie hierbereitszitierterStelleheißtes:»Er hier vorliegt, ist diese Fokussierung will die Idee der deutschen Revolu- auf das Sterben des »Helden« unver- tion, die er in der Weltanschauung der zichtbare Voraussetzung. Wessel NSDAP verkörpert sieht und für die wird als Kämpfer bis zuletzt darge- er selbst erst kurz zuvor die Augen ge-

46 Text »EINER VON VIELEN – UND DOCH VIELEN VORBILD« auf http://nwgoeppingen.wordpress.com (eingestellt am 23. Februar 2012, gelesen am 16. April 2012). 47 Siemens (Anm.7), S.73–75. 48 Text »EINER VON VIELEN – UND DOCH VIELEN VORBILD« auf http://nwgoeppingen.wordpress.com (eingestellt am 23. Februar 2012, gelesen am 16. April 2012). 49 Text»Zum TodestageHorst Wessels« auf http://infoportal-schwaben.net (eingestellt am 23. Februar 2012, gelesen am 17. April 2012). WALTER JUNG 169

öffnet bekommen hat, in die Köpfe entpuppt sich bei Licht besehen als und Herzen seiner Volksgenossen der rassistische Chauvinismus des tragen. Er will Vorkämpfer sein für historischen NS.Aus dem Gesamt- einen deutschen Sozialismus, der sei- kontext der hier zitierten Texte wird nem gepeinigten Volk endlich die er- klar, dass mit diesen Aussagen nicht sehnte Freiheit bescheren soll.«50 nur das subjektive politische Selbst- Wessels politisches Engagement für verständnis Wessels beschrieben wer- den historischen NS bzw. konkret für den soll, sondern dass die neonazisti- die SA wird also umgedeutet in ein schen Textautoren in diesen Worten patriotisches Engagement für auch ihre eigene positive Sicht auf den Deutschland bzw. das deutsche Volk. historischen NS darlegen. Dadurch wird der historische NS in- direkt sogar mit Volk und Vaterland In diesem Zusammenhang ist auch bzw. konkret mit deren Befreiung das Motiv von Wessel als einem op- gleichgesetzt. Dies wird spätestens in ferbereiten Idealisten, eine weitere dem dritten Zitat deutlich, wo von zentrale Komponente des neonazisti- »der deutschen Revolution« die Rede schenWessel-Bildes,zusehenundzu ist, obwohl nur eine nationalsozialis- dekonstruieren. Denn hinter diesem tische gemeint sein kann, und von angeblichen »Symbol für Idealismus, einem »deutschen Sozialismus«, für Opfergeist und jugendlichen wohinter sich schlicht der National- Tatendrang«, diesem »glühende[n] sozialismus verbirgt. Die drei Zitate Idealist[en] mit dieser aufopferungs- beinhalten zudem eine massive, per- vollen Haltung«51 verbirgt sich dem- vertierende Umwertung des Frei- zufolge nichts anderes als ein ideolo- heitsbegriffes zugunsten des histori- gischer Fanatiker im Dienste des schen NS: Die totalitäre Unfreiheit historischen NS, nur dass heutigen eines bereits zu Wessels Lebzeiten Neonazis eine solche Haltung als he- von den Nationalsozialisten zumin- roisch und vorbildlich gilt. dest grob projektierten »Dritten Rei- ches« mutiert hier zur »Freiheit« Diese eng miteinander verwobenen »Deutschlands«. Im Umkehrschluss Einzelmotive des neonazistischen implizieren solche Aussagen, dass die Wessel-Bildes kann man in dem demokratisch verfasste, tatsächlich Begriff vom »politischen Soldaten« weitgehende Freiheitsrechte des In- zusammenfassen. Diesen Begriff ver- dividuums garantierende Weimarer ortet Vierkant im Zentrum des histo- Republik ein Hort der Unfreiheit des risch-nationalsozialistischen wie des Kollektivs »Volk« gewesen sein soll. aktuell-neonazistischen Mythos UndauchderPatriotismus,derWes- »Wessel«52. Explizit taucht er in sel implizit nachgesagt werden soll, Verbindung zu Wessel allerdings in

50 Text »EINER VON VIELEN – UND DOCH VIELEN VORBILD« auf http://nwgoeppingen.wordpress.com (eingestellt am 23. Februar 2012, gelesen am 16. April 2012). 51 Ebenda. 52 Vierkant (Anm.10), S.41, 64, 67, 73, 139–140. 170 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG dem für diesen Aufsatz ausgewerte- heute nicht bewusst und vor allem ten Quellenmaterial nur äußerst sel- auch nicht von Interesse sein. Zum ten auf. anderen: Neonazistisch eingestellt zu sein ist angesichts der in vielfa- cher, nicht zuletzt aber in ethisch- 4.2.2. »[…] weltanschauliche moralischer Hinsicht katastrophalen Soldaten in unserer Bilanz der NS-Diktatur ein äußerst heutigen Zeit«: schwerwiegender Vorwurf mit ho- Der Mythos »Wessel« in hem gesellschaftlichem Stigmatisie- der internen Kommuni- rungs-, Ausgrenzungs- und unter kation der Neonaziszene bestimmten Bedingungen auch Sanktionspotential. Dies gilt beson- Realistisch betrachtet ist das Thema ders in der Bundesrepublik Deutsch- »Wessel« als Gegenstand der exter- land, deren politische Kultur und nen Kommunikation der Neonazi- demokratische Mehrheitsgesellschaft szene mit der demokratischen von der historischen Erfahrung der Mehrheitsgesellschaft in der Bundes- NS-Verbrechen und von deren Auf- republik gänzlich ungeeignet. Ent- arbeitung bis heute zutiefst geprägt sprechende Flugblatt-, Sprüh- oder sind und daher selbst auf sublimere Transparentaktionen, wie sie oben Erscheinungsformen des Rechtsex- beschrieben wurden, dürften kaum tremismus hochsensibel reagieren. dazu beitragen, bislang der Szene Eindeutiger aber kann man sich und deren Ideologie fernstehende nicht als Neonazi demaskieren, als Personen an den Neonazismus wenn man die eigene Verehrung für heranzuführen: Sie bergen sogar ein einen NS-Protagonisten wie Wessel erhebliches kontraproduktives Pro- offensiv in die Öffentlichkeit trägt. vokations- und Konfliktpotential im Das gälte selbst dann noch, wenn der Umgang mit der demokratischen neonazistische Mythos »Wessel« von Mehrheitsgesellschaft und zeugen Seiten der Szene weitreichenden insofern vom Realitätsverlust der adaptiven Modifikationen unterzo- verantwortlichen neonazistischen gen würde, was aber absolut nicht Akteure. Das hat mindestens zwei absehbar ist. Gründe: Zum einen dürften heutzu- tage die meisten Bundesbürger kaum Das Thema »Wessel« taugt also etwas mit dem Namen Horst Wessel höchstens zur internen Kommunika- verbinden, außer vielleicht sein nach tion unter Neonazis, beispielsweise ihm benanntes, verbotenes Lied, von zur Traditions- und Identitätsstiftung dem aber sicher nur eine kleine Min- oder zur verfestigenden Indoktrina- derheit den Text, eher vielleicht noch tion von Personen, die der Szene be- die Melodie kennt. Auch dass Wessel reits angehören. Doch auch hier stellt im »Horst-Wessel-Lied« nicht be- sich der Szene die Aufgabe, die Inak- sungen wird, sondern dessen Autor tualität des Mythos »Wessel«, die ist, dürfte vielen Bundesdeutschen man durch die weitgehend unmodifi- WALTER JUNG 171 zierte Übernahme des historischen Todestag wurde für den Abend des NS-Mythos »Wessel« selbst ver- 27. Februar 2009 eine »themenbezo- schuldet, seine mangelnde An- gene« »Schulungs- und Informati- schlussfähigkeit an die Gegenwart, onsveranstaltung« in Magdeburg an- seinen Anachronismus53 in einer we- gekündigt, auf der »unter dem Motto nigstens für Neonazis glaubhaften ›Im Schatten großer Taten‹« u.a. das Weise zu überwinden, also die Frage »Tun und Wirken Horst Wessels« zu beantworten »Was sagt uns natio- thematisiert sowie »die Definition nalen Sozialisten Horst Wessel ›politisches Soldatentum im Jahre heute?«. 2009‹ verinhaltlicht und an die Anwe- senden weitergereicht werden« Die zentrale Antwort, die neonazisti- sollte55. Laut einem JN-Text, der we- sche Wessel-Apologeten auf diese nig später auf derselben Homepage Frage geben, besteht darin, ihn – wie eingestellt wurde, scheinen ähnliche oben bereits dargelegt – als zeitlos Bemühungen um den Transfer des beispielhaften »politischen Soldaten« Themas »Wessel« in die Gegenwart und dieses vermeintliche Vorbild als des deutschen Neonazismus ein nachahmenswert auch in der Gegen- »Winterlager der JN-Stützpunkte wart darzustellen. Das Quellenmate- und Halle (Saale)« im Fe- rial gibt Hinweise darauf, dass in die- bruar 2009 im Südharz begleitet zu sem Punkt zumindest vereinzelte, haben: Nach einer Wanderung wurde teils sogar organisierte Anstrengun- demnach »noch bis Spät über das Le- gen zu einer adaptiven Modifikation ben des SA-Sturmführers Horst Wes- des NS-Mythos »Wessel« in der sel und sein politisches Vermächtnis, Szene unternommen werden. So als weltanschauliche Soldaten in un- wurde am 24. Februar 2009 auf einem serer heutigen Zeit, gesprochen.«56 rechtsextremistischen selbsternann- ten »Informationsportal der Bewe- Zumindest manche Neonazis sehen gung im Südwesten«, das auch zu- sich also in Tradition zu Wessel selbst mindest Teile Baden-Württembergs als »politische« respektive »weltan- zu seinem Zuständigkeitsbereich schauliche Soldaten«, propagieren zählt, die Einladung zu einer Veran- dies in ihrer Szene und versuchen, die- staltung der »Jungen Nationaldemo- sen Terminus zu aktualisieren und in- kraten« (JN)54 Sachsen-Anhalt einge- haltlich zu substantiieren. Gleichzei- stellt. Unter Hinweis auf Wessels 79. tig ziehen Neonazis aber auch andere

53 Vgl. ebenda, S.73. 54 Die JN sind die Jugendorganisation der »Nationaldemokratischen Partei Deutschlands«. Sie sind wie ihre Mutterpar- tei als in Teilen neonazistisch ausgerichtet einzustufen. (Vgl. zu den JN, mit Schwerpunkt auf Baden-Württemberg: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, o. O. o. J., S.182–188). 55 Text »Kampf um die Köpfe – ›Im Schatten großer Taten‹« auf http://www.infoportal24.org (eingestellt am 24. Februar 2009; gelesen am 17. April 2012). 56 Text »Winterlager der JN-Stützpunkte Leipzig und Halle (Saale)« auf http://www.infoportal24.org (eingestellt am 1. März 2009; gelesen am 17. April 2012). 172 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG

Traditionslinien von Wessel zu sich, ganze Generation, die die Fesseln des bringensichundihrenHeroenauf Zeitgeists abstreift. Eine Generation, andere gemeinsame Nenner. Dieser die sich befreit von materialistischen Nenner wird in einem hier bereits an- Zwängen und die nach vorne schaut, derweitig zitierten Internettext auf in eine freie Zukunft, deren Gestal- einen gemeinsamen Glauben an ein tung allein in ihren Händen liegt.«58 vermeintlich ewiges Deutschland Die in den beiden letzten Zitaten ge- komprimiert: »Wenn an seinem To- wählten Formulierungen sind zwar destage der Widerstand das Haupt äußerst offen gewählt, wenn von »ei- senkt, um seiner zu gedenken, so ge- ner anderen Jugend«, gleich von einer schieht das im Glauben an eine Ewig- ganzen »Generation« die Rede ist, keit, die sein Glaube war und die doch können die Autoren damit rea- Deutschland heißt. Dieses ewige listisch eigentlich nur sich selber und Deutschland, [sic!] aber wird immer die im Vergleich zu ihrer Gesamtge- da sein, wo Menschen unseres Blutes neration recht überschaubare Anzahl bereit sind, ihre Pflicht zu erfüllen, neonazistischer Gesinnungsgenossen wie er sie erfüllte.«57 In dem Flug- meinen. Sollten die beiden Zitate aber blatt, das 2009 in Karlsruhe verteilt tatsächlichsozuverstehensein–und wurde, wird Wessel umgedeutet zu zumindest das zweite Zitat legt diese einem intellektuellen Wegbereiter der Interpretation nahe! –, dass »im Ge- angeblichen tiefgründigen Authenti- heimen« Wessel bereits heute als zität heutiger Neonazis: Er sei »der »Vorbild für eine ganze Generation« geistige Vorreiter einer anderen Ju- junger Deutscher fungiere, so läge gend, einer neuen Generation, fern hier eine zweifache, drastische Fehl- derer, die täglich den Abbildern einschätzung von Seiten der Autoren künstlicher Figuren aus Fernsehen vor: zum einen qualitativ der Bedeu- und Hochglanzmagazinen nachja- tung und Attraktivität des neonazis- gen.« Wieder an anderer Stelle wird tischen Mythos »Wessel«, die selbst Wessels angeblicher »Idealismus« innerszenisch Grenzen kennen, und zum »Vorbild« für den angeblichen zum anderen quantitativ der Neona- unzeitgeistigen Antimaterialismus ziszene selbst, die zwar in Baden- seiner neonazistischen Epigonen er- Württemberg wie ganz Deutschland klärt: »Sein Geist […] ist auch heute seit rund einem Jahrzehnt personelle […] noch lebendig. Sind seine Lieder Zuwachsratenzuverzeichnenhat, auch verboten, seine Taten ver- aber mit nach Verfassungsschutz- schmäht und sein Name verleumdet, angaben bundesweit ca. 6.000 Szene- so ist doch Horst Wessels Idealismus angehörigen im Jahr 201159 bei heute im Geheimen Vorbild für eine weitem nicht kongruent ist mit einer

57 Text »Zum Todestage Horst Wessels« auf http://infoportal-schwaben.net (eingestellt am 23. Februar 2012, gelesen am 17. April 2012). 58 Text »EINER VON VIELEN – UND DOCH VIELEN VORBILD« auf http://nwgoeppingen.wordpress.com (eingestellt am 23. Februar 2012, gelesen am 16. April 2012). 59 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2011 (Vorabfassung), o. O. o. J., S.46, 57. WALTER JUNG 173 ganzen Alterskohorte junger Deut- miert. Darüber hinaus folgt die Aus- scher, auch nicht »im Geheimen«. sage des Zitats der Logik, dass jemand Vielleicht oder wahrscheinlich sollen wie Wessel, der selber Opfer einer mit derartig grotesken Übertreibun- brutalen Gewalttat wurde, »so brutal gen aber einfach die eigene gesamtge- und menschenverachtend« nicht ge- sellschaftliche Bedeutung überhöht wesen sein könne. Doch handelt es und daraus angeblich für die Zukunft sich um einen höchst defizitären Be- resultierende politische Gestaltungs- wertungsmaßstab, einen Menschen ansprüche untermauert werden. und seine Lebensleistung einzig nach seinen Todesumständen zu bewerten. Eine weitere Parallele, die heutige Bei Wessel kommt hinzu, dass der Neonazis zwischen sich und Wessel Kult, der bis heute in der Neonazi- ziehen, ist die eines jeweiligen gesell- szene um ihn getrieben wird, immer schaftlichen Verfemtenstatus. So auch ein Bekenntnis zum histori- versucht ein Beitrag auf der neona- schen NS mindestens impliziert. Im zistischen Internetseite »Karlsruher Subtext dieses Zitates werden also Netzwerk« vom November 2011, Brutalität und Menschenverachtung Kritik an Wessel u.a. mit der Aussage am beispielhaften pars pro toto Wes- zu kontern, »dass eben dieser Horst sel gleich dem ganzen historischen Wessel, der so brutal und menschen- NS abgesprochen, zumal sich direkt verachtend gewesen sein soll, wie an die hier zitierte Passage dieses Tex- man nationale und sozialistische tes äußerst lobende Worte über den Deutsche bis heute ja gerne noch dar- angeblich respektvollen Umgang der stellt, am 14. Februar 1930 von einem Nationalsozialisten mit den Gräbern ihrer roten Vorkämpfer, einem akti- von politischen Gegnern und Juden ven KPD Mitglied [sic!] und weiteren (verräterischer Originalton: »den Kommunisten in seiner Wohnung Gräbern von politischen und rassi- überfallen und mit einem Kopfschuss schen Gegnern«) nach 1933 anschlie- niedergestreckt wurde, was schließ- ßen. Abschließend sei auf die in dem lich zu dessen Tod führte.«60 Inter- Zitat enthaltene Fehldatierung des pretiert man die nicht völlig eindeu- Überfalls auf Wessel hingewiesen. Sie tige Passage »wie man nationale und zeugt von erstaunlicher Unkenntnis sozialistische Deutsche bis heute ja eines in diesem Zusammenhang zen- gerne noch darstellt« im Sinne von tralen Datums. Ohnehin ist ange- »wie man auch heutige nationale und sichts der Verehrung, die Wessel von sozialistische Deutsche ja gerne noch neonazistischer Seite entgegenge- darstellt«, dann werden also aus Sicht bracht wird, bemerkenswert, in wel- des Beitragsautors heutige Neonazis chem Ausmaß einige neonazistische und Wessel gleichermaßen als »brutal TextezumThemaFaktenfehlerent- und menschenverachtend« diffa- halten. Damit sind nicht »Fehler« im

60 Text »Grabschändung am Horst Wessel Grab in Berlin« auf http://www.karlsruher-netzwerk.info (veröffentlicht am 15. November 2011, gelesen am 17. April 2012). 174 DER NEONAZISTISCHE KULT UM HORST WESSEL AM BEISPIEL BADEN-WÜRTTEMBERG

Sinne von »Begradigungen« oder ckelten Kult anzuknüpfen«, bis 2000 »Beschönigungen« der Vita Wessels »im Wesentlichen auf gelegentliche gemeint, die in der einen oder ande- Besuche des Grabes« in Berlin be- ren Weise der Konstruktion und schränkten62. Dennoch kann man Ausgestaltung des neonazistischen auch heute noch wie schon Vierkant Mythos »Wessel« dienen. Solche 2008 zu dem Ergebnis gelangen, dass »Fehler« sind im Rahmen einer sol- »der Mythos um Wessel im soge- chen Mythenkonstruktion system- nannten ›Nationalen Widerstand‹ immanent. Aber es ist kein diesbe- eine absolut untergeordnete Rolle«63 züglicher Mehrwert für den Mythos spiele. Allerdings wäre es mittler- »Wessel« darin zu erkennen, sondern weile mit Blick auf die jüngste Ent- einfach der Unkenntnis der neonazis- wicklung vertretbar, das apodiktische tischen Autoren geschuldet, wenn »absolut« aus dieser Aussage zu strei- beispielsweise der Geburtstag Wes- chen. sels auf den 10. Januar 1907 und damit um fast exakt ein Dreivierteljahr vor- Das verstärkte Aufgreifen der Wes- datiert wird, wie in einem hier bereits sel-Thematik in der Neonaziszene ist zitierten Internettext geschehen61. kein rein baden-württembergisches Phänomen. Das Phänomen ist in Ba- den-Württemberg wohl nicht einmal 5. Schlusswort überdurchschnittlich ausgeprägt. So waren2009auchinSachsen-Anhalt Die Eingangsthese dieses Aufsatzes, verstärkte Propaganda-Aktivitäten wonach gerade in den letzten Jahren zum Wessel-Todestag feststellbar64. ein zumindest etwas verstärktes Auf- Auch war noch im April 2012 im In- greifen der Wessel-Thematik in der ternet ein Szenebericht abrufbar über neonazistischen Szene Baden-Würt- »Aktionstage zum 100. Geburtstag tembergs zu verzeichnen sei, hat sich Horst Wessels« am und um den im Laufe der Untersuchung bestätigt, 9. Oktober 2007 in Leipzig. Dem Be- zumal wenn man Vierkants nicht nur richt zufolge sollen an diesen »Akti- auf dieses Bundesland gemünzten onstagen« u.a. Plakataktionen, von Teilbefund danebenhält, demzufolge denen mehrere Leipziger Stadtteile sich neonazistische »Versuche […], betroffen waren, und ein Fackel- Wessel im öffentlichen Gedenken zu marsch mit rund 60 bis 70 Teilneh- reaktualisieren und darüber an den mern in der Messestadt stattgefunden alten Mythos und den daran entwi- haben65.

61 Vgl. Text »Horst Wessel – Gedenkveranstaltung in der Rhein-Neckar Region« auf http://www.widerstand.info (gele- sen am 23. April 2012). 62 Vierkant (Anm.10), S.61. 63 Ebenda, S.74. 64 Vgl. Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2009 – Berichtszeitraum 1.1.–31.12.2009., o. O. o. J., S.35. 65 Text »Aktionstage zum 100. Geburtstag Horst Wessels« auf http://www.widerstand.info (gelesen am 18. April 2012). WALTER JUNG 175

Stellt man sich die Frage, warum und schungen in den Raum gestellt seit wann das Thema »Wessel« in den werden, dass in den letzten Jahren letztenJahreninderNeonaziszene manche Neonazis versuchen, die neo- verstärkte Beachtung findet, so fällt nazistische Integrationsfigur »Wes- auf, dass diese Entwicklung ungefähr sel« als Ersatz oder Ergänzung für die genauso lange zu beobachten ist, wie über Jahre zentrale neonazistische In- es der Szene aufgrund der seit 2005 tegrationsfigur »Heß« zu etablieren, geänderten Rechtslage nicht mehr ge- ohne jedoch bisher damit auch nur lungen ist, einen zentralen »Rudolf- ansatzweise dieselbe innerszenische Heß-Gedenkmarsch« in Wunsiedel Mobilisierungskraft erreicht zu ha- zum Heß-Todestag (17. August) ben wie zumindest bis 2004 mit dem durchzuführen. Der letzte dieser Kult um den einstigen Hitler-Stell- Märsche hatte 2004 mit ca. 3.800 Teil- vertreter. Eine neonazistische Wessel- nehmern stattgefunden66. Die seither Aktion vom 20. August 2005 stützt jährlich im August verstreut über das diese These zumindest punktuell: An Bundesgebiet stattfindenden kleine- diesem Tag »diente das Verbot des ren Ersatzveranstaltungen sind für Heß-Gedenkmarsches im bayrischen die Szene ungleich unattraktiver: Wunsiedel als Anlass für den Besuch 2010 nahmen an ihnen gerade einmal des Grabes von Wessel durch 20 Neo- noch rund 200 Personen teil67.Essoll nazis.«68 daher als These für zukünftige For-

66 Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2009, o. O. o. J., S.178-179. 67 Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Anm.22), S.174. 68 Vierkant (Anm.10), S.62–63.

LINKSEXTREMISMUS

60 VERFASSUNGSSCHUTZ 1952 – 2012

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Kurze Geschichte des Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland*

KLAUS SCHROEDER

Linksextreme Parteien, Gruppen und gen bezeichnet, die die »soziale Personen spielen im wiedervereinig- Frage« lösen und hierdurch die ten Deutschland zwar derzeit quanti- »Emanzipation« aller Menschen er- tativ eine nur marginale Rolle, stellen reichen wollen. Linksradikale setzen aber dennoch ein erhebliches, in den dabei auf Reformen, Linksextreme letzten Jahren sogar anwachsendes auf die Revolution. Für viele Linksin- Gewaltpotenzial und ein die freiheit- tellektuelle existiert freilich eine Dia- liche Demokratie gefährdendes Po- lektik zwischen Reform und Revolu- tenzial dar. tion, was die Unterscheidung von Strömungen erschwert. Im öffentlichen Diskurs wird die Ge- burtsstunde des Linksextremismus in Die gemäßigte Linke – um einen an- der Bundesrepublik Deutschland zu- deren Begriff einzuführen –, ver- meist mit der 1968er-Bewegung asso- sucht, dieses Ziel durch Reformen ziiert. Doch der Linksextremismus und Beteiligung an der parlamentari- als politische Strömung, die die reprä- schen Demokratie zu erreichen, die sentative Demokratie und den Plura- extreme Linke lehnt die bürgerliche lismus ablehnt, hat eine Vor- und Demokratie ab und will ihre Ziele Nachgeschichte, die von spätestens über eine Revolution erreichen. Mit 1918 bis zum heutigen Tag reicht. Norberto Bobbio lassen sich die ge- mäßigte und extreme Linke in ihrem Verhältnis zur Freiheit, mithin auch Was ist Linksextremismus? zur pluralistischen Demokratie, be- stimmen: Die extreme Linke ist anti- Unter »links« im weitesten Sinne demokratisch – das (und nicht ihre können politische Strömungen ge- Ziele) verbindet sie mit der extremen fasst werden, die egalitär und kollek- Rechten. tivistisch orientiert sind, d.h. durch Umverteilung oder Abschaffung des Unter Linksradikalismus verstehe ich Privateigentums soziale Ungleichheit politische Strömungen, die eine Sys- überwinden oder zumindest verklei- temänderung im Rahmen der Verfas- nern möchten. sung anstreben. Sie wollen zumeist das kapitalistische Wirtschaftssystem Vereinfacht und zugespitzt formu- überwinden, aber an der parlamen- liert ist »links« also ein weit gefasster tarischen Demokratie und dem Plu- Begriff, der alle politischen Strömun- ralismus festhalten. Die parlamenta-

* Entsprechend dem essayistischen Charakter dieses Beitrags wird hier auf Fußnoten verzichtet. 180 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND rische Demokratie soll nach ihren zu. Tatsächlich verlaufen die Trennli- Vorstellungen um basisdemokra- nien zwischen links, linksradikal und tische bzw. plebiszitäre Elemente linksextrem unschärfer als im Bereich ergänzt werden. In der wissenschaft- des Rechtsextremismus, in dem aller- lichen Literatur wird »Linksradika- dings die zumeist gleichen Wissen- lismus« zumeist als Sammelbegriff schaftler wenig oder überhaupt nicht verwendet,derallemehroderweni- differenzieren, da sie sich hier etwa ger radikalen linken Gruppen um- auf die geringen Unterschiede in den fasst, d.h. auch die linksextremen. So Einstellungsmerkmalen berufen. Auf unterschiedlich die konkreten Ziele der linken Seite des Spektrums der verschiedenen linksradikalen und durchlaufen Personen oft innerhalb linksextremen Gruppen auch ausfal- weniger Jahre Gruppierungen und len mögen, in einem jedenfalls sind sie Parteien, die an den drei genannten sich einig: der Notwendigkeit der Attributen festgemacht werden kön- Abschaffung des Kapitalismus. nen. Erinnert sei an den alten sozial- demokratischen Spruch: »Wer in Der Begriff »Linksextremismus« ist seiner Jugend kein Kommunist oder in der Wissenschaft umstritten. Vor Radikaler war, wird kein guter Sozi- allem drei Argumente werden gegen aldemokrat.« ihn vorgebracht. Erstens setze er den Linksextremismus auf die gleiche Wird statt von Linksextremismus Stufe wie den Rechtsextremismus; von Linksradikalismus gesprochen, zweitens sei er ein rein formaler Be- verschwimmen indes die Trennlinien griff, der von der »Mitte« und dem ebenso. Hier können sich Linksext- Verhältnis zur Verfassung ausgehe. reme unter einem Sammelbegriff ver- Drittens differenziere er nicht trenn- stecken, der ihre eigentlichen Ziele scharf genug zwischen Linksradika- mit denen verfassungskonformer lismus und Linksextremismus. Diese Gruppen auf Augenhöhe setzt. Einwände sind allerdings nur zum Teil berechtigt. Angesichts dieser begrifflichen Ge- mengelage gehe ich nachfolgend von Gegen die Verfassung und die ihr zu- »Linksextremismus« als Arbeitsbe- grundeliegende Werteordnung aus griff aus, der, solange keine überzeu- unterschiedlichen Motiven zu versto- gende Alternative besteht, in der Ar- ßen, setzt diese Bestrebungen nicht gumentation eingesetzt werden kann. allein deshalb gleich. Die Verfassung Unter Linksextremismus verstehe und die in ihr enthaltenen individuel- ich politisch-ideologische Vorstel- len Rechte und Werte als Ausgangs- lungen, die – mit oder ohne Gewalt punkt zu nehmen, hat zumindest für – die bestehende politische und ge- eine kämpferische Demokratie eine sellschaftliche Ordnung abschaffen Berechtigung. Allein dem dritten Ar- und an ihre Stelle eine »neue Gesell- gument – der fehlenden Trennschärfe schaft« mit einem anderen wirt- – kommt eine gewisse Plausibilität schaftlichen und politischen System KLAUS SCHROEDER 181

– einer »echten Demokratie« – set- gegensätzliche Strömungen: eine re- zen wollen. formistische und eine revolutionäre. Letztere forderte die gewaltsame Zer- Der Linksextremismus propagiert als schlagung der bürgerlichen Herr- Ziel eine egalitäre Gesellschaft, die al- schaft und Gesellschaft und wollte an len Menschen vorgeblich gleiche Per- ihrer Stelle ein sozialistisch/kommu- spektiven und Lebenslagen garan- nistisches Regime errichten. Mit dem tiert. Angesichts der prinzipiellen 1916 gegründeten Spartakusbund, Unterschiedlichkeit von Menschen der anfangs in der SPD und später in läuft dies faktisch auf eine Entindivi- der USPD aktiv war, erhielt die revo- dualisierung im Sinne der Unterord- lutionäre Strömung eine organisato- nung des Individuums unter das Kol- rische Grundlage. Der maßgeblich lektiv hinaus. Insofern strebt der von und Karl Lieb- Linksextremismus die politische knecht geführte Spartakusbund Gleichschaltung und soziale Nivel- strebte die rasche Umwandlung der lierung von Gesellschaften an. Soziale von den Arbeiter- und Soldatenräten Marktwirtschaft und parlamentari- durch eine weitgehend friedliche Re- sche Demokratie sollen ebenso wie volution erreichten parlamentari- der Pluralismus abgeschafft werden. schen Demokratie durch einen sozia- listischen Umsturz an und hielt einen Linksextreme orientieren sich an un- Bürgerkrieg für unausweichlich. Mit terschiedlichen Ideen und Ideolo- dieser Entscheidung, demokratische gien/Ideologen sowie existierenden Mehrheitsentscheidungen zu miss- oder untergegangenen sozialisti- achten und unbeirrt den revolutionä- schen/kommunistischen Staaten. Das ren Umsturz zu propagieren und zu Spektrum linksextremer Gruppen verfolgen, legte der Spartakusbund, reicht von Anhängern der unterge- der im Januar 1919 an der Grün- gangenen DDR über Maoisten, dung der Kommunistischen Partei Trotzkisten und Autonome bis hin zu Deutschlands (KPD) beteiligt war, Anarchisten, die jegliche Herr- die Grundlage für den Linksextre- schaftsform ablehnen. Die meisten mismus bis zum heutigen Tag. Die Gruppen, auch die kleinen autono- Massen galten als verblendet, die bür- men, sehen sich in einer mehr oder gerlichen Kräfte einschließlich der weniger langen Traditionslinie der re- Sozialdemokratie als konterrevoluti- volutionären oder kommunistischen onär. Linken. Der bewaffnete Putschversuch des Spartakusbundes scheiterte an der Ursprünge des Linksextremis- Entschlossenheit der sozialdemokra- mus tischen Übergangsregierung unter Friedrich Ebert. Die kurze Zeit später In der deutschen Arbeiterbewegung von Angehörigen einer Freikorps- gab es von Beginn an zwei mitunter truppe ermordete Rosa Luxemburg 182 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND rechtfertigte dennoch das hoffnungs- Bis1933 wardie KPD tatkräftig an der lose Unterfangen im Januar 1919. Die Zerstörung der Weimarer Republik Revolution sei eben die einzige Form beteiligt. Sie bekämpfte mit allen Mit- des Krieges, »wo der Endsieg nur teln »das Weimarer System« und die durch eine Reihe von ›Niederlagen‹ für die neugeschaffene parlamentari- vorbereitet werden« könne, schrieb sche Demokratie eintretenden Par- sie in der Roten Fahne. Der »ganze teien. Zwischenzeitlich ernannte sie Weg des Sozialismus ist – soweit re- die Sozialdemokratie – in ihren Augen volutionäre Kämpfe in Betracht eine sozialfaschistische Partei – zu ih- kommen – mit lauter Niederlagen rem Hauptfeind und warf ihr vor, besät. Und doch führt diese selbe durch angebliche soziale Reformen Geschichte Schritt um Schritt unauf- nur die Klassengegensätze verschlei- haltsam zum endgültigen Sieg.« In ern zu wollen. Nach der Machtergrei- modifizierter Form würden Links- fung der Nationalsozialisten wurde extremisten diese hoffnungsgewisse die KPD verboten und zerschlagen, Aussage bis zum heutigen Tag unter- ein Großteil ihrer Funktionäre inhaf- schreiben. tiert und ermordet;vieleSpitzenfunk- tionäre gingen ins Moskauer Exil, wo Ungeachtet wechselnder program- sie in die von Stalin verordneten »Säu- matischer Schwerpunkte und der Be- berungen« gerieten.Das bedeutete für teiligung an Wahlen blieb die KPD zahlreiche Spitzenfunktionäre der eine der Revolution verpflichtete Par- KPD den sicheren Tod. tei. Ihr ideologischer von Marx, En- gels und Lenin geprägter Rigorismus Die überlebenden KPD-Funktionäre und ihre politischen Ziele wurden wurden auf die Machtübernahme im insbesondere von sozialdemokrati- militärisch besiegten Deutschland scher Seite frühzeitig kritisiert. Karl vorbereitet. Im Auftrag der Sowjet- Kautsky betonte schon 1920 die Ge- union sollten sie ein sozialistisch- meinsamkeiten von Faschismus und kommunistisches Regime errichten. Bolschewismus: »Der Faschismus ist Aufgrund der Politik der Westalliier- aber nichts als das Gegenstück des ten und der bürgerlichen Parteien in Bolschewismus, Mussolini nur der den Westzonen, die einen in den Wes- Affe Lenins.« Scharf kritisierte er die ten integrierten freiheitlich-demo- Doppelmoral des Bolschewismus: kratischen Staat präferierten, blieb »Jede Niedertracht verwandelt sich in der Aufbau einer sozialistischen Dik- eine herrliche Großtat, wenn ein tatur auf die sowjetisch besetzte Zone Kommunist sie verübt. Jede Bestiali- beschränkt. tät ist erlaubt, wenn man sie im Na- men des Proletariats vollbringt. So Bei den ersten Bundestagswahlen vollzogen auch die spanischen Kon- 1949 erhielt die KPD, die ihrem revo- quistadoren ihre Bluttaten in Süd- lutionären Kurs auch nach 1945 treu amerika im Namen Gottes.« blieb, 5,7 % der Stimmen. In den zweiten Bundestag zog sie 1953 nicht KLAUS SCHROEDER 183 mehr ein – sie hatte nur noch 2,3 % kratie entstand in den 1960er Jahren der Stimmen erhalten. Im Parlamen- dieNeueLinke.Siehatteihrenorga- tarischen Rat und im Deutschen Bun- nisatorischen Kern im Sozialistischen destag lehnten die KPD-Vertreter das Deutschen Studentenbund (SDS), der demokratische Grundgesetz der sich nach seinem Ausschluss aus der Bundesrepublik ab. Da die Partei SPD seit etwa Mitte der 1960er Jahre weiterhin einen revolutionären Um- als eine revolutionäre Avantgarde- sturz der demokratischen Verhält- Organisation verstand. In den nach- nisse anstrebte, wurde sie ebenso wie folgenden Jahren entwickelte sich der ihre zahlreichen Vorfeld- und Tarnor- SDS zur wichtigsten Gruppierung in ganisationen 1956 verboten. Viele ih- der westdeutschen Studentenbewe- rer Funktionäre wurden wegen ille- gung und in der Außerparlamentari- galer kommunistischer Betätigung schen Opposition (APO). verurteilt, zumeist zu Bewährungs- strafen. Zwischen 1956 und 1968 arbeitete die KPD – finanziert und Die 68er-Bewegung gelenkt von der SED – in der Bundes- republik ohne großen Erfolg im Das Jahr 1968 hat einen festen Platz in Untergrund und mit bzw. in Tarnor- der deutschen Nachkriegsgeschichte ganisationen. Die Zahl ihrer aktiven gefunden. Mit diesemDatumwirdder Mitglieder betrug Mitte der 1960er Höhepunkt einer vornehmlich von Jahre nur etwa 7.000 Personen. jungen Leuten getragenen Revolte ge- genStaatundGesellschaft bezeichnet. Im Jahr 1968 genehmigte die von ei- Die 68er-Revolte ist freilich mehr als ner Großen Koalition geführte Bun- ein eruptiver, kurzzeitiger Protest: In desregierung die Gründung der DKP, ihr spiegelt sich die vorangegangene die offiziell auf eine revolutionäre Entwicklung der westdeutschen Perspektive verzichtete, jedoch – Nachkriegsgesellschaft ebenso wider, weiterhin gelenkt und finanziert von wie nachfolgende Protestbewegun- der SED – die Errichtung einer sozia- gen hier ihren Ausgang nehmen. Seit listischen DiktaturalaDDRinder ` diesem Zeitpunkt gibt es in der Bun- Bundesrepublik anstrebte. Viele ehe- desrepublikeinvielfältigesProtestmi- malige Spitzenfunktionäre der KPD lieu, das sich entlang verschiedener übernahmen Positionen in der DKP. Konfliktlinien mit unterschiedlicher Zumindest an den Hochschulen und Intensität in Generationsschüben im- in einigen Gewerkschaften gelang es mer wieder erneuert. Die Grundzüge der DKP und ihren Massenorganisa- dieses Protestmilieus, aber auch des tionen, einen gewissen Einfluss zu er- Linksradikalismus und -extremis- zielen; bei Wahlen blieb sie jedoch mus, sind bis zum heutigen Tage na- chronisch erfolglos. hezu unverändert geblieben.

Jenseits orthodoxer kommunisti- Über die »Leistungen« der 68er wird scher Parteien und der Sozialdemo- heftig gestritten. Ehemalige Aktivis- 184 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND ten attestieren sich ihre eigene Bedeu- 1945 und nach 1989/90 gleicherma- tung für die angebliche »zweite De- ßen anzutreffen war: auf die allgemei- mokratisierung« der Bundesrepublik nen Lebensumstände und das Kol- und selbst der gerade vereidigte Bun- lektiv – hier auf die Generation – zu despräsident Joachim Gauck lobt – verweisen und dahinter persönliche wahrscheinlich ohne alle zeitgenössi- Verantwortung verschwinden zu las- schenSchriftenzukennen–die68er sen. für ihre Rolle bei der Aufklärung über den Nationalsozialismus. Kriti- BisMitteder1960erJahrekristallisier- ker der 68er verweisen dagegen auf ten sich drei Strömungen im SDS he- destruktive Kerne der Revolte und raus, die die außerparlamentarische nachwirkende Schäden. Sahen die Opposition prägten: die traditionel- 68er als Grund allen Übels die autori- len Sozialisten, die sich mehr oder we- täre Erziehung der Altvorderen, be- niger direkt an der DDR orientierten trachten ihre Widersacher ebenso wie und größtenteils von der SED gelenkt jungkonservative Publizisten die wurden,dieNeueLinke,diesichinih- »antiautoritäre Erziehung« und die rem Gesellschaftsverständnis und Re- Zerstörung der Konventionen und volutionskonzept an der »Neuen Lin- den angeblich auf die Jugendrevolte ken«indenUSAorientierte,sowiedie folgenden Wertezerfall als verant- »Antiautoritären«, die, existenziali- wortlich für aktuelle Missstände. stisch eingefärbt, die Lust an der Pro- vokation in die strategischen Überle- Die früheren Revolteure dominieren gungen des sozialistischen Studenten- jedoch aufgrund ihrer hohen Präsenz verbandes einbrachten. vor allem im Bereich der Universitä- ten und der Medien die Deutung der Obschon der SDS seine Verbindun- 68er Bewegung. Der damalige »ag- gen zur traditionellen Arbeiterbewe- gressive Revolutionsromantizismus« gung – zum Beispiel bei der Kampa- (Herzinger) wird in radikaldemokra- gne gegen die Notstandsgesetze – tisches Verhalten umgedeutet, der beibehielt, gewannen die Antiautori- oftmals fahrlässige Umgang mit tären schnell an Einfluss, übernah- Gewalt als Missverständnis und »Ge- men die Führungsrolle im SDS und gengewalt« interpretiert und biswei- spielten letztlich bei der Politisierung len auch gerechtfertigt. Die »dunklen und Ausbreitung der 68er-Revolte Seiten« der Revolte verschweigen die die entscheidende Rolle. Der Antiau- meisten ehemaligen Akteuren scham- toritarismus faszinierte nicht nur haft. Damit setzen sie eine spezifische über seine Aktionen und Provokatio- Art der deutschen »Vergangenheits- nen, sondern vor allem durch die Pro- bewältigung« fort, die – aus unter- pagierung eines anderen Lebensstils. schiedlichen Gründen und vor dem Mit dem Slogan »Das Private ist poli- Hintergrund nicht gleichzusetzender tisch« wurde das Aufbegehren in der Dimensionen von Verbrechen, Ver- Familie mit dem Protest gegen die führungen und Verirrungen – nach Gesellschaft verknüpft. KLAUS SCHROEDER 185

Die westdeutsche APO verstand sich Die Protestbewegung mit dem SDS als Teil einer weltweiten Protestbe- als politischem Kern entwickelte sich wegung, die keinen gemeinsamen bereitsMitteder1960erJahrevonei- Nenner, aber dennoch einen Zusam- ner außerparlamentarischen zu einer menhang hatte. In den Köpfen und antiparlamentarischen, die westliche, Schriften der APO-Strategen verban- vornehmlich US-amerikanische Ge- den sich die vermeintlich auf perma- sellschaft, ihren Pluralismus und ihre nente Mobilisierung und Zerstörung Lebensweisen ablehnenden Bewe- tradierter Hierarchien drängende gung, die sich rasch radikalisierte. Ein chinesische Kulturrevolution, der an- Plädoyer für die Notwendigkeit re- tikolonialistische Befreiungskampf volutionärer Gewalt hielt der Wort- der Völker der Dritten Welt, die Auf- führer und Medienstar der 68er, Rudi stände der Schwarzen in den USA, Dutschke, schon im Februar 1966 – der Kampf des Vietcong gegen das also mehr als ein Jahr vor den tödli- von den USA unterstützte Südviet- chen Schüssen auf Benno Ohnesorg. nam, die Oppositionsbewegung im Er forderte eine Propaganda der Tat sowjetischen Machtbereich und die und illegale Aktionen, die in den Zen- antiautoritären Protestbewegungen tren des Imperialismus die revolutio- in den westlichen Wohlstandsgesell- nären Bewegungen in der Dritten schaften zu einem weltumspannen- Welt unterstützen sollten. In seinen den anti-imperialistischen und anti- Aufzeichnungen finden sich bereits kapitalistischen Kampf. zu diesem Zeitpunkt Überlegungen zum Aufbau eines urbanen, militäri- Aus dieser internationalen Dimen- schen Apparates der Revolution. sion des Protestes zogen die APO der späten 1960er Jahre ebenso wie Nach dem 2. Juni 1967 – dem Tag, an die Nachfolgeorganisationen der dem der Student Benno Ohnesorg 1970er Jahre einen Großteil ihrer von dem inoffiziellen Mitarbeiter des Legitimation. Der Parole »Sieg im MfS und SED-Mitglied Karl-Heinz Volkskrieg, Klassenkampf im eige- Kurras erschossen wurde – forderte nenLand«fühltensichbisweitin Dutschke, der SDS müsse zu einer die 1970er Jahre hinein alle ansons- politischen Organisation von Gueril- ten zerstrittenen und sich bekämp- lakämpfern werden, die, ausgehend fenden Sekten und Gruppen der von der Universität, den Kampf ge- Neuen Linken verpflichtet. Vor al- gen die bürgerlichen Institutionen lem die USA, die maßgeblich dazu führen sollten. Damit war schon beigetragen hatten, demokratische frühzeitig das wirkliche Ziel der jetzt Verhältnisse in der Bundesrepublik als linksextrem einzustufenden Be- zu implantieren, setzten sie mit dem wegung benannt: die Zerstörung der Nationalsozialismus gleich: »USA – bürgerlichen Gesellschaft und ihrer SA – SS« wurde gleichsam zum ge- Institutionen, der Kleinfamilie, der schrienen Gassenhauer bei Demons- als Kapitalismus bezeichneten sozia- trationen. len Marktwirtschaft, aber auch der 186 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

Konventionen. Vor allem an den West-Berlin am 9. November 1969 Universitäten schlugen verbale rasch kennzeichneten die Täter die durch in gewaltsame Provokationen um. die Nazis vertriebenen Juden als Fa- Dutschke und andere Akteure des schisten, die nun das palästinensische SDS kennzeichneten die Bundesre- Volk ausradieren wollten. publik wenn nicht als eine faschis- tische, so doch als eine faschismus- Die vom SDS entworfene revolutio- ähnliche Gesellschaft: »Der heutige näre Strategie war antiautoritär, anti- Faschismus steckt in den autoritären imperialistisch, antikapitalistisch und Institutionen und im Staatsapparat. antiinstitutionell. Unter Bezugnahme Den Letzteren zu sprengen ist unsere auf Herbert Marcuse und die Neue Aufgabe und daran arbeiten wir.« Linke in den USA wurde nicht mehr das Proletariat als revolutionäres Sub- Ziel war die Schaffung eines »neuen jekt gesehen, sondern die Revolutio- Menschen«, der sich aus »den Fesseln näre selbst, ungeachtet ihrer Klassen- des Kapitals und der Bürokratie« be- zugehörigkeit, nahmen diese Rolle freien und im Kampf gegen das alte ein. Von Marcuse übernahmen die System die »neue Gesellschaft« er- SDS-Theoretiker auch die Analyse richten sollte. Auf dem vom SDS or- der spätkapitalistischen, von techni- ganisierten Vietnam-Kongress im Fe- scher Herrschaft dominierten Gesell- bruar 1968 beendete Dutschke seine schaft, wonach eine vom Konsum Rede hoffnungs- und siegesgewiss: korrumpierte und von den Medien »Die Revolutionierung der Revoluti- manipulierte Arbeiterschaft zu ein- onäre ist so die entscheidende Vo- dimensionalen, nicht zur Befreiung raussetzung für die Revolutionierung fähigen Menschen schrumpfte. Die der Massen. Es lebe die Weltrevolu- Kritik des demokratischen und plura- tion und die daraus entstehende freie listischen Systems der Bundes- Gesellschaft freier Individuen!« republik knüpfte darüber hinaus an Johannes Agnoli an, der in seinem ge- Spätestens nach dem Sechs-Tage- meinsam mit Peter Brückner verfass- Krieg im Nahen Osten 1967 identifi- ten wirkungsmächtigen Buch »Die zierten sich viele Linksextreme mit Transformation der Demokratie« die einem linken Antizionismus, der mit parlamentarische Demokratie und einer grundsätzlichen Ablehnung der den Pluralismus zum Schwindel er- Politik Israels und einer vorbehaltlo- klärte und die Reaktualisierung des sen Unterstützung palästinensischer Klassenkampfes als »ersten Schritt für Terrorgruppen einherging und im- die Verwirklichung der Demokratie« mer in Gefahr stand, auch antisemiti- bezeichnete. sche Züge anzunehmen. Die erste Bombe gewaltbereiter Linker rich- Ebenso wie Herbert Marcuse hielt tete sich gegen Juden. Zur Begrün- Johannes Agnoli, der in seiner Jugend dung des gescheiterten Anschlags auf kurzzeitig mit den italienischen Fa- das jüdische Gemeindezentrum in schisten sympathisiert und in der KLAUS SCHROEDER 187

Waffen-SS gedient hatte, die »revolu- gung der USA am Vietnam-Krieg tionäre Gewalt« prinzipiell für ge- dazu benutzten, auch eine Gewalt- rechtfertigt.Auchwennsichbeide strategie für die Bundesrepublik zu Vordenker der Revolte auf konkrete begründen. Hans-Jürgen Krahl, einer Nachfragen zur Gewaltanwendung der reflektiertesten oder zumindest in der Bundesrepublik zurückhielten, belesensten Köpfe der APO, forderte ließen sie doch keinen Zweifel an ih- anlässlich des schon erwähnten Viet- rer generellen Haltung zur (revoluti- nam-Kongresses im Februar 1968 die onären) Gewalt. Agnoli verstieg sich Eskalation der Provokationsstrate- in seiner Kritik an der »formalen gie: »Die Stufen vom Protest zum po- Demokratie« zu einer impliziten Ge- litischen Widerstand können sich nur waltaufforderung: »Es entstammt realisieren, wenn wir versuchen, die einer allerdings althergebrachten Be- organisatorischen Bedingungen zu wußtseinskonfusion, daß Repression schaffen, daß wir den Kampf gegen mit ›friedlichen‹ Mitteln humaner sei die NATO-Stützpunkte und -Nie- als Emanzipation mit gewaltsamem derlassungen in ganz Westeuropa Mittel.« Das bedeutet nichts anderes, aufnehmen können ... wenn wir als dass der Zweck die Mittel heiligt schließlich Aktionen führen werden und (vermeintlich) humane Ziele gegen die Niederlassungen der ameri- auch mit inhumanen Mitteln erreicht kanischen Rüstungsindustrie in werden sollen. Westeuropa. Es kommt darauf an, in solidarischer Aktion und in konkre- Die Diskussion im Rahmen des SDS ter Solidarität mit der revolutionären in den Jahren 1967/68 über die Legiti- Befreiungsbewegung in der Dritten mation von Gewalt eskalierte Welt den gigantischen militärischen schließlich, so dass Jürgen Habermas und staatlichen Machtapparat in den den Vorwurf des »Linksfaschismus« spätkapitalistischen Ländern zu zer- erhob. Er kritisierte eine Strategie der schlagen.« Provokation, die auf eine hierdurch hervorgerufene Gewalt des Systems Zwei Jahre später knüpfte die an den und eine dadurch im Gegenzug legiti- Rändern der APO entstandene RAF mierte Gegengewalt setzte. Dieser – mit ihren terroristischen Aktionen an später von ihm zurückgenommene – diese Strategie an. Obschon große Vorwurf führte seitens des SDS zu ei- Teile vor allem der intellektuellen ner massiven Kritik an Habermas, APO-Vertreter sich frühzeitig und dem ein »vorpolitischer Begriff ob- entschieden vom Terrorismus der jektiver Parteilichkeit« vorgeworfen RAF distanzierten, war diese doch wurde. ein Kind der APO, wenn auch ein vordergründig ungeliebtes. Die Kri- Habermas traf einen wunden Punkt, tik an der RAF und ihrem Terroris- zumal die Revolteure ihren morali- mus trug zum Teil jedoch nicht prin- schen Protest gegen den Imperialis- zipielle, sondern nur taktische Züge. mus und vor allem gegen die Beteili- Symptomatisch für die Haltung 188 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND linksradikaler Gruppen war die von krusteten und verschütteten Poli- Joschka Fischer für seine damalige tikstrukturen erregte vor allem Auf- Gruppe, den Frankfurter »Revoluti- merksamkeit durch neue und unkon- onären Kampf«, vorgetragene Kritik: ventionelle Formen der Etablierung »Gerade weil unsere Solidarität den von Gegenöffentlichkeit und das Ver- Genossen im Untergrund gehört, haltenderetabliertenMedien,diedem weil wir uns mit ihnen so eng verbun- Protest breiten Raum einräumten. den fühlen, fordern wir sie von hie- raus auf, Schluß zu machen mit die- Ebenso wie andere außerparlamenta- sem Todestrip, runterzukommen von rische Bewegungen nach ihr kam die ihrer ›bewaffneten Selbstisolation‹, 68er-APO in eine doppelte Frontstel- die Bomben wegzulegen und die lung,vondersiemaßgeblichbestimmt Steine und einen Widerstand, der ein wurde: Sie geriet in Widerspruch zur anderes Leben meint, wiederaufzu- politisch verfassten Herrschaftsord- nehmen.« nung und zur Mehrheit der Bevölke- rung. Im Innern der institutionellen Die RAF, aber auch andere terroristi- Machtsysteme erfuhr sie sich als Min- sche Gruppen wie die Bewegung derheit ohne Chance auf reale Macht- 2. Juni und die Revolutionären Zellen beteiligung. Da ihre Gegenentwürfe wurden durch das Ministerium für in der Realität kaum überprüfbar wa- Staatssicherheit der DDR gefördert ren, erhielt ihre Anti-Haltung ideolo- und unterstützt. Die Stasi gewährte gische Gestalt, die sich in den Parolen den westdeutschen Terroristen bis in des »Weg mit …« und »Kampf gegen die 1980er Jahre hinein nicht nur ver- …« äußerte. Aber noch wichtiger deckte Ein- und Ausreisen, sie er- scheint der Bruch zur Bevölkerung. möglichte ihnen nach Anschlägen Die Oppositionsbewegungen der über die DDR die Flucht in Dritte- 1960er Jahre starteten auf der Grund- Welt-Länder, fälschte Pässe und gab lage einer generellen Absage an die ihnen, wenn nötig, auch Reisegeld Bevölkerung: Im Boh`eme-Stil begrif- mit auf den Weg. RAF-Kämpfer ab- fen sie sich als das Andere der Masse solvierten sogar auf Übungsplätzen (Sartre). Mit aufklärerischem Gestus der Nationalen Volksarmee eine von stellte man sich gegen die Normalität Stasi-Ausbildern angeleitete Schieß- der alltäglichen Massenexistenz. Posi- und Sprengausbildung. tive Bezugspunkte der Bewegung wurden die Ausgegrenzten und die Charakteristisch für die APO war Unterprivilegierten, als deren Anwalt jedoch nicht der Weg in den Terroris- mansichverstand. mus, auch wenn das mitunter fahrläs- sige Propagieren von Gewaltstrate- In der Artikulation des »internatio- gien von den terroristischen Gruppen nalen« sozialen Elends zum allgemei- zustimmend aufgenommen wurde, nen politischen Systemproblem sondern ihr Einfluss auf weite Teile wurde von Beginn an soziales Enga- der Jugend. Ihre Kritik an den ver- gement vorrangig zum moralischen KLAUS SCHROEDER 189

Protest. Hier lagen die spezifische Orientierung drückte eine subjektiv Stärke und Faszination der Bewe- vorhandene »revolutionäre Unge- gungfürbreiteTeilederJugendund duld« aus. Eine Mehrzahl hielt eine auch ihre gesellschaftspolitische gesellschaftliche Entwicklung von Schwäche. Die APO der späten der Revolte zur Revolution für mög- 1960er Jahre konnte, obschon sie mit lich, ja für notwendig und machbar. ihrem Protest alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste, keine eigene soziale Neue Identifikationen und Hand- Identität gewinnen. Sie war vor allem lungsmuster wurden in der Theorie eine politische, auf die junge Genera- wie im Ausland und in der Ge- tion beschränkte Bewegung, die mit schichte gesucht – und gefunden. Ein moralischem Gestus auf Subjekt- und Teil der alten APO wanderte in die Gesellschaftsveränderung drängte. SPD und die wiedergegründete Als Triebfeder der Revolte setzte sie (D)KP ab, vertraute auf die Kraft der mehr auf die Macht des Willens als organisierten Arbeiterbewegung und auf »objektive« Interessen- und Klas- hoffte, über (systemüberwindende) senfragen. Reformen oder die Orientierung an der DDR die bundesrepublikanische Gesellschaft verändern zu können. Zerfall und Transformation der Auftrieb und personellen Zulauf er- 68er-Bewegung fuhr diese Richtung 1969 durch den Wahlsieg von SPD/FDP und die Mit der Verabschiedung der Not- Etablierung der sozialliberalen Koa- standsgesetze, dem Auslaufen der lition. Anti-Springer-Kampagne sowie dem Ende des Pariser Mais und der Zer- Doch die meisten Aktivisten setzten schlagung des Prager Frühlings wur- auf »Revolution«. Das Proletariat den die sozialen und politischen wurde als revolutionäres Subjekt Grenzen von Protestbewegungen wiederentdeckt, die leninistische Par- weltweit sichtbar. Ein Gefühl der po- tei mit dem Vorbild der kulturrevolu- litischen Ohnmacht breitete sich aus. tionär geschwängerten KP Chinas sa- Es begann eine Phase der Neuorien- lonfähig. Die Aktivisten ernannten tierung. Nahezu alle Strategen der sich selbst zu Führern der »schlafen- APO waren sich einig, dass die Bewe- den« revolutionären Arbeiterbewe- gung transformiert werden musste, gung. Diese studentischen »Arbeiter- wenn sie gesellschaftlich mehr als nur parteien« zogen ihre »Legitimität« indirekte Einflussnahme erreichen aus den Schriften von Marx, Engels, wollte. Die Transformation betraf Lenin, Stalin und Mao ebenso wie aus insbesondere drei Punkte: die Orga- den kommunistischen Debatten der nisationsform, die Bestimmung des Weimarer Zeit. revolutionären Subjekts und die Frage von Gewalt und Revolution. Als direkte Nachfolgeorganisationen Dieses Drängen und Suchen nach der 68er-APO waren Anfang der 190 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

1970er Jahre innerhalb der Neuen der Arbeiterbund für den Wiederauf- Linken maoistische Gruppen vor- bau der KPD und die nur bedingt in herrschend. Auch wenn ihr personel- diese Reihe passende Marxistische ler Zulauf außerhalb der Universitä- Gruppe – etablierten um sich herum ten gering und in den Hochschulen getarnte Vorfeldorganisationen, um begrenzt blieb, bestimmten sie zu- die Rekrutierung revolutionären mindest in vielen großen Universi- Nachwuchses zu ermöglichen. tätsstädten weitgehend Inhalte und Formen der Auseinandersetzung. Die meisten K-Gruppen orientierten Ihre theoretische Reflexion be- sich an China oder Albanien. Eine ge- schränkte sich auf die Interpretation wisse Ausnahme bildete der im nord- eines orthodoxen und dogmatischen deutschen Raum agierende KB, der Marxismus, der in den Schulungen auch Sympathien für die Sowjetunion zumeist als Vulgärmarxismus maois- und die DDR zeigte. Die an Mitglie- tischer Prägung verabreicht wurde. dern stärkste und relativ einfluss- Mit diesem banalen, den Marxismus reichste Gruppe war der 1973 von noch objektivistisch und ökonomis- mehreren regionalen kommunisti- tisch verkürzenden Methodenver- schen Zirkeln gegründete KBW mit ständnis gelang es kurzzeitig, die nach eigenen Angaben Mitte der etablierte Wissenschaft oder zumin- 1970er Jahre etwa 2.600 Mitgliedern. dest viele Wissenschaftler zu verunsi- Seine Zeitung – die Kommunistische chern. Hierzu trugen sicherlich auch Volkszeitung – erreichte etwa 100.000 militante und psychoterroristische Leser. Bei den Bundestagswahlen Aktionen ihren Teil bei. 1976 erhielt der KBW gut 20.000 Stimmen. Dominierende Figur in die- Im Parteiaufbau überboten sich die ser Gruppe war von 1973 bis 1983 diversen Sekten und Gruppen an Ri- Hans-Gerhart »Joscha« Schmierer, gidität sowohl in der Installierung der zuvor dem Bundesvorstand des formeller Hierarchien, als auch in au- SDS angehört hatte. Als Sekretär des toritär strukturierten Kommunikati- KBW »gratulierte« er 1980 – kaum onsformen. Ziel der maoistischen verklausuliert – dem Pol-Pot-Regime Gruppen – der sogenannten K-Grup- in Kambodscha zum Massenmord an pen – war die Zerschlagung der der eigenen Bevölkerung. Nach sei- bürgerlich-demokratischen Republik ner »Läuterung« wurde er vom grü- und die Etablierung einer Diktatur nen Außenminister Joschka Fischer des Proletariats. Die relativ ein- in den Planungsstab des Auswärtigen flussreichsten und auch überregional Amtes geholt. aktiven K-Gruppen – KPD/ML, Kommunistischer Bund (KB), Den K-Gruppen gelang es nicht, in Kommunistischer Bund West- der Arbeiterschaft Fuß zu fassen. deutschland (KBW), KPD/AO (seit Auch an den Hochschulen isolierten 1974: KPD), Kommunistischer Ar- sie sich nach wenigen Jahren wegen beiterbund Deutschlands (KABD), ihres ideologischen Dogmatismus KLAUS SCHROEDER 191 und der rigiden Organisationsfor- Eindämmung der RAF und anderer men. Die meisten Parteien lösten sich bewaffneter Untergrundgruppen be- in den 1980er Jahren auf; nicht we- sondere Bedeutung zu. Sie waren nige Funktionäre betätigten sich nicht nur mit vielen, die später in den fortan in den bunten und alternativen Untergrund gingen, persönlich be- Listen und später bei den Grünen. Ei- kannt, sondern bildeten auch ein Re- nigevonihnengelangteninhöhere krutierungsreservoir für legale Un- Staatsämter. terstützergruppen der Terroristen.

Anfang der 1970er Jahre entstanden Während die K-Gruppen mehr oder einzelne undogmatische Sponti- weniger nachhaltig zerfielen – eine Gruppen, die die subjektive Dimen- Ausnahme bildet die Marxistisch-Le- sion von Veränderung in den Vorder- ninistische Partei Deutschlands grund stellten, den Bolschewismus (MLPD) –, prägten Sponti-Gruppen von »links« kritisierten und ein idea- nicht nur das in den späten 1970er listisch eingefärbtes Bild von Basisde- Jahren entstehende linksalternative mokratie und gesellschaftlicher Milieu, sondern auch linksautonome Emanzipation zeichneten. Gleich- Gruppen, die bis zum heutigen Tag wohl predigten auch sie die Revolu- aktiv sind. Eine gewisse organisatori- tion und drängten zur Aktion. Die sche Kontinuität weisen auch einige Frankfurter Gruppe »Revolutionärer kleinere trotzkistische Gruppen wie Kampf«, der der spätere Außenmi- die Gruppe Internationaler Marxis- nister Joschka Fischer, der jetzige He- ten (GIM) auf. rausgeber der WELT Thomas Schmid und der heutige Europaabgeordnete An der Nahtstelle zwischen Linksra- der Grünen Daniel Cohn-Bendit an- dikalismus und Linksextremismus gehörten, stand an der Spitze dieser agierte das »Sozialistische Büro« Strömung, die einige weitere Grup- (SB). An ihm orientierten sich sowohl pen in westdeutschen Großstädten linke Sozialdemokraten als auch umfasste. Ihre Vorbilder, denen sie Linkssozialisten und linke gewerk- mit einigem Erfolg nacheiferten, wa- schaftsorientierte Gruppen. Seinen ren linksextreme italienische Grup- begrenzten Einfluss gewann es vor al- pen wie »Lotta Continua« oder »Po- lem über die Monatszeitschrift tere Operaio«, die eine besondere »links«. Das SB strebte die Gesell- Stellung zwischen legalen und illega- schaftsveränderung nicht durch ge- len Gruppen innehatten. Selbstver- waltsamen revolutionären Kampf, ständlichstrebtenauchdiedamaligen sondern durch geduldige Überzeu- Spontis den Sturz der parlamentari- gungsarbeit an. schen Demokratie und den System- wechsel vom Kapitalismus zum Sozi- Eine Sonderrolle nahm die aus eini- alismus an. Gerade weil sie an der gen Roten Zellen der Universität Schnittlinie zwischen Legalität und München entstandene »Marxistische Illegalität agierten, kam ihnen bei der Gruppe« ein. Sie orientierte sich we- 192 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND der an China noch an der Sowjet- November 1989 scheiterte das sozia- union und ging auf Distanz zu ande- listisch-kommunistische Experiment ren linksextremen Gruppen. Ihr Ver- in Deutschland. Die kommunistische such, mit ihrer gleichermaßen elitären Partei SED löste sich aber nicht auf wie dogmatischen Marx-Rezeption und wurde nicht verboten, sondern über den Süden Deutschlands hinaus nahm nur eine Namensänderung vor, in Universitäten Fuß zu fassen, schei- um ihre Besitztümer zu retten. Zwar terte kläglich. Anfang der 1990er wurde das Führungspersonal schon Jahre löste sie sich offiziell auf, ist tat- unmittelbar nach dem Fall der Mauer sächlich aber als »Besserwisser« in- ausgetauscht, aber viele der verblie- nerhalb des linken Milieus über ihre benen Mitglieder – die Zahl fiel bin- Zeitschrift »GegenStandpunkt«, über nen kürzester Zeit von 2,3 Millionen Lesezirkel und Vorträge in einigen auf unter 200.000 – fühlten sich wei- Universitätsstädten noch heute aktiv, terhin den kommunistischen »Idea- indem sie versucht, interessierte Zu- len« verpflichtet. hörer zu »belehren«. Nach ihrem Selbstverständnis ist nur sie in der Die in PDS umbenannte SED etab- Lage, die Lehren von Marx und En- lierte sich nach der Wiedervereini- gels korrekt auszulegen und in die gung als ostdeutsche Volkspartei. Der heutige Zeit zu transformieren. Ihre Durchbruch zu einer gesamtdeut- Anhängerschaft wird auf mehrere schen Partei gelang erst bei der vorge- tausend Personen geschätzt. Spekula- zogenen Bundestagswahl 2005. Nach tionen, Mitglieder dieser marxisti- einem populistischen Wahlkampf ge- schen Sekte würden unerkannt in ge- gen die neuen Sozialgesetze der rot- sellschaftliche Führungspositionen grünen Koalition verbuchte sie mit gelangen, um nach der Revolution die einer »offenen Liste«, auf der sie Ver- »Geschäfte« zu übernehmen, können treter der neugegründeten linkssozi- nicht ausgeschlossen, aber bezweifelt aldemokratischen Partei WASG plat- werden. Wie andere Linksradikale zierte, beachtliche 8,7 % (West: und Linksextreme, die über den 4,9%;Ost:25,3%)aufihremStim- »Marsch durch die Institutionen« die menkonto. Im Juni 2007 fusionierten Gesellschaft verändern wollten, dürf- die beiden Parteien und nannten sich ten sie – anders durch die Institutio- fortan Die Linke. Nach eigenen An- nen geprägt als erhofft – Gefallen an gaben hatte die Partei Ende 2011 ihrer neuen Rolle gefunden haben. knapp 70.000 Mitglieder, davon in den alten Ländern etwa 26.000. Die ostdeutschen Mitglieder weisen einen Die Entwicklung des Linksextre- hohen Altersdurchschnitt auf. In ih- mismus nach der Wiedervereini- rer überwiegenden Zahl waren sie be- gung reits in der SED und arbeiteten im Partei- oder Staatsapparat, bei der Mit dem durch die friedliche Revolu- NVA, dem MfS oder der Volkspoli- tion erzwungenen Fall der Mauer im zei. KLAUS SCHROEDER 193

In ihrem erst 2011 verabschiedeten rückgang. Ein Teil der Mitglieder Programm gibt sich die Partei deut- wanderte zur PDS ab, andere zogen lich antikapitalistisch und stellt aus- sich ganz aus ihrem politischen Le- drücklich die Systemfrage. Der (de- ben zurück. Im Jahr 2010 hatte die mokratische) Sozialismus ist als poli- Partei noch etwa 4.000 Mitglieder mit tisches Ziel festgeschrieben. Von einem Durchschnittsalter von über ihren offiziellen Bekundungen und sechzig Jahren; sie sieht sich weiter- ihren Spitzenfunktionären her be- hin in Kontinuität zu der vom Bun- trachtet ist die Partei keine kommu- desverfassungsgericht 1956 verbote- nistische, mithin linksextreme. Doch nen KPD. Ihre Resonanz sowohl bei innerhalb der Partei existieren poli- außerparlamentarischen Aktivitäten tisch-ideologische Strömungen, die als auch bei Wahlen ist jedoch äußerst zweifelsfrei kommunistisch einge- gering. Einige ihrer Mitglieder kandi- stellt sind. Sie singen ein Loblied auf dieren jedoch auf »offenen Listen« die untergegangene sozialistische der Linkspartei und gelangten da- Diktatur und fordern einen grundle- durch in Parlamente. genden Systemwechsel, der über die Überwindung des Kapitalismus hi- Neben diesen beiden Parteien, die für nausgeht. Der Einfluss von Gruppen das politische Erbe der DDR stehen, wie der »Kommunistischen Platt- existieren im wiedervereinigten form«, der »Antikapitalistischen Deutschland weitere kommunisti- Linken« oder der »Sozialistischen sche Parteien und Strömungen. Von Linken« ist allerdings bisher eher be- den diversen maoistischen Gruppie- grenzt. Insgesamt gehören nach rungen, die in der alten Bundesrepu- Schätzungen etwa 3.000 aktive Perso- blik gegründet wurden, ist nur noch nen zu den sozialistisch-kommunis- die MLPD nennenswert. Ihre etwa tischen Parteiströmungen. eintausend Mitglieder halten unver- drossen an einer maoistisch-stalinis- Solange jedoch der Kurs von Politi- tischen Ideologie fest und streben ei- kern bestimmt wird, die rot-rote oder nen revolutionären Umbruch an. »Es rot-rot-grüne Regierungskoalitionen gibt keinen Weg zum Sozialismus auf Landes- oder Bundesebene ohne die Zerschlagung der bürgerli- anstreben, dürften die Anhänger chen Staatsmacht und die Errichtung kommunistischer Positionen im Hin- der Diktatur des Proletariats.« Akti- tergrund bleiben. Gleichwohl koope- vitäten dieser Partei sind öffentlich rieren nicht wenige von ihnen mit kaum wahrnehmbar, ihre Wahlergeb- linksextremen Gruppen, sei es mit nisse marginal. der »Roten Hilfe« oder mit der DKP. Die trotzkistisch orientierte Linke DieDKP,dievordemFallderMauer agiert in Deutschland weiterhin mit noch etwa 40.000 Mitglieder hatte, einer Vielzahl von zumeist kleinen verzeichnete nach der Wiedervereini- Sektionen internationaler Dachver- gung einen drastischen Mitglieder- bände, kleinen eigenständigen Grup- 194 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND pen, aber auch innerhalb der Partei Die in kleinen Gruppen agierenden Die Linke. Die Zahl ihrer Aktivisten Autonomen verfügen über keine ein- wird auf 1.600 geschätzt. Innerhalb heitlichen politisch-ideologischen der Linkspartei arbeitet sie in der oder gar programmatischen Kon- »Sozialistischen Linken« und stellt zepte, ihre Gemeinsamkeit resultiert zwei Mitglieder im Bundesvorstand. aus einem generellen »Anti« gegen Ihren revolutionären Anspruch do- die Gesellschaftsordnung und einer kumentiert sie mit den Worten: »Wir hohen Gewaltbereitschaft. In einem streiten für eine Orientierung auf Papier heißt es: »Wir setzen unsere Klassenkampf und den Aufbau von Hoffnung auf Veränderung und nicht Gegenmacht«. Die meisten trotzkis- in den Staat, unsere Perspektive ist tischen Gruppierungen bedienen sich und bleibt die soziale Revolution der Strategie des Entrismus, d. i. die weltweit.« Ihr Ausgangspunkt ist gezielte Unterwanderung anderer – eine behauptete strukturelle Gewalt zumeist größerer – linker Parteien, des Systems, die mit »Gegengewalt« denen sie ihren programmatischen bekämpft werden darf bzw. sogar be- Stempel aufdrücken wollen. kämpft werden muss. Das staatliche Gewaltmonopol und die Gewalten- Von den geschätzt etwa 33.000 teilung lehnen sie ab. Linksextremisten in Deutschland werden knapp 6.000 Personen dem Auch wenn es keine einheitliche Pro- gewaltbereiten Spektrum zugeord- grammatik der »Autonomen« gibt, net. Die Mehrzahl von ihnen ver- lässt sich diese Strömung besser ver- steht sich als »Autonome«, die zu- stehen, wenn folgende Selbstein- meist in größeren deutschen Städten schätzung von autonomen Aktivisten gegen Faschismus, Rassismus, Glo- zum Ansatzpunkt genommen wird. balisierung, Gentrifizierung, Repres- »Die autonome Bewegung ist erstens sion und Militarismus »kämpfen«, eine Bewegung, die sich in libertärer und öffentlich vor allem über ihr ge- linker Tradition verankert sieht, d.h.: walttätiges Verhalten wahrgenom- Politik im Sinne sozialer Gleichheit men werden. Sie liefern sich regel- und Gerechtigkeit verfolgt, und zwar mäßig Straßenschlachten mit der außerhalb bürokratischer Parteien- Polizei, zünden Autos an und sind – und Gewerkschaftsapparate. Ideolo- als Täter oder Opfer – immer wieder gisch blieb die Bewegung dabei im- an gewalttätigen Scharmützeln mit meroffen.Zwargabesimmerdeutli- Rechtsextremisten beteiligt. Nach che anarchistische Tendenzen, doch Presseberichten stieg die Zahl der verstehen sich bei weitem nicht alle linksextremistischen Gewalttaten Autonome als AnarchistInnen (und ebenso an wie die Zahl der durch sie nicht alle AnarchistInnen als Auto- Verletzten. Im Jahr 2011 verzeichne- nome). Es fanden sich seit jeher auch tendieBehördendeutlichmehr marxistische, operaistische oder radi- links- als rechtsextremistische Ge- kalökologische Positionen in der au- walttaten. tonomen Bewegung. Vereint sind KLAUS SCHROEDER 195 diese Strömungen in ihrer Ablehnung und unbeteiligte Zuschauer, dem An- des kapitalistischen Systems, in zünden von Autos, Mülleimern u. Ä. Kämpfen gegen Staatlichkeit, gegen aus. Neofaschismus, Rassismus und Se- xismus und gegen jede andere Form Das 1989 gegründete »Projekt Un- der Unterdrückung. Wichtig scheint dogmatische Linke« (AVANTI) und hier die Bereitschaft, politische An- die 2005 entstandene »Interventio- sprüche auf sich selbst zu beziehen, nistische Linke« (IL) versuchen seit sich selbst in die Kämpfe miteinzube- einigen Jahren, lokale Gruppen zu ziehen, das Schlechte nicht (nur) nach vernetzen oder in eine Organisation außen zu projizieren.« einzubinden und die Aktivitäten po- litisch-ideologisch aufzuladen. In ih- Autonome nehmen sich das Recht rem Grundsatzpapier aus dem Jahr zur Selbstjustiz heraus, indem sie 2004 schreibt AVANTI: »Unsere zum Beispiel behaupten, der Staat, Überzeugung war und ist, dass die sprich: die Polizei, würde nicht gegen heutige Gesellschaft revolutionär Faschisten, Rassisten etc. vorgehen. verändert werden muss und dass die Da sie das staatliche Gewaltmonopol hierfür notwendige gesellschaftliche ohnehin nicht akzeptieren, greifen sie Gegenmacht nicht allein aus sponta- – wo immer sie können – zur Selbst- nen Bewegungen bestehen kann, son- justiz, jagen und schlagen tatsächliche dern die Beteiligung revolutionärer oder vermeintliche Rechtsextreme Organisationen braucht. […] Unsere und greifen an anderer Stelle die Poli- Wurzeln liegen in der autonomen Be- zei offensiv an. Andersdenkende wegung, dennoch trifft das Etikett schüchtern sie nicht nur mit Worten ›Autonome‹ schon lange nicht mehr ein, sondern hinterlassen häufig ge- auf uns zu. […] Bei dem Entschluss, waltsame Spuren, sei es gegen Sachen uns zu organisieren, konnten uns die oder gegen Personen. Für sie sind na- verschiedenen kommunistischen Par- hezu alle, die nicht ihre Meinung tei- teien und Gruppierungen ebenfalls len, Faschisten oder Marionetten des kein Vorbild sein. […] Unsere Orga- Systems o. Ä. Wie die dogmatischen nisation soll von der Basis her auf- Linksextremen auch wähnen sie sich gebaut werden und ihren Mitstrei- im Besitz der »Wahrheit«. Nur sie terInnen, ihren Gruppen vor Ort und wissen, was die Welt im Innersten be- ihren überörtlichen Arbeitsgruppen wegt und wie die Welt zu retten ist. größtmögliche Autonomie gewähr- leisten, aber zugleich ein Handeln auf Jährlicher »Höhepunkt« der Auto- gemeinsamer Grundlage ermögli- nomen ist der 1. Mai in Berlin und chen.« Hamburg. Dort toben sich die Akti- visten gemeinsam mit abenteuerlusti- Die Interventionistische Linke argu- gen Jugendlichen – viele aus Immig- mentiert ähnlich. Sie propagiert die rantenfamilien – mit dem Werfen von soziale Revolution, da für sie »Kapi- Steinen und Flaschen auf Polizisten talismus« Krise und Krieg heißt, und 196 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND verkündet gemeinsame Aktionen gen, Zuschüsse zu Anwalts- und Pro- zum Beispiel gegen die »Sparpolitik« zesskosten und Kampagnen Linksex- in der EU und Blockaden gegen Auf- tremisten, die angeklagt werden oder märsche von Rechtsextremisten. In inhaftiert sind. Ihr politisches Ziel ist einem Aufruf der Antifaschistischen die Freilassung aller politischen Ge- Linken Berlin, die zum Netzwerk der fangenen. Die Rote Hilfe steht bei- Interventionistischen Linken gehört, spielhaft für die Kontinuität des heißt es: »Nur ein gemeinsamer Linksextremismus von Ende der Kampf von Beschäftigten, Erwerbs- 1960er Jahre bis zum heutigen Tag. losen, SchülerInnen, Studierenden Ihre Argumentation hat sich kaum und RentnerInnen gegen Staat und verändert; nach der Wiedervereini- Kapital hat eine Perspektive. […] gung hat sie nur ihren Aktionsradius Dem Kapitalismus und seinen Ver- erweitert und setzt sich auch für an- waltern mit all seinen Folgen von Ver- geklagte ehemalige SED-Funktio- elendung der Massen, Kriegen und näre oder MfS-Bedienstete ein. Wer Umweltzerstörung können wir nur von links gegen das System kämpft – gemeinsam eine Perspektive auf eine unabhängig davon, mit welchen Mit- menschenfreundliche Gesellschaft teln –, kann sich der Unterstützung entgegensetzen. […] Machen wir den der RH sicher sein. Wer für die »gute 1. Mai 2012 zu einem denkwürdigen (linke) Sache« mit dem Gesetz in Tag für die herrschende Klasse und Konflikt gerät, verdient ihre Unter- kämpfen wir gemeinsam gegen die stützung. immer mehr zunehmenden Zumu- tungen von Staat und Kapital.« Daneben gibt es noch einige kleinere anarchistische Gruppen – u.a. die Ob es beiden Organisationen indes »Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter- gelingen wird, nennenswerte Teile Union« (FAU) –, deren Ziel eine lokaler autonomer Gruppen in ihre herrschaftsfreie Gesellschaft ist. Ihr Organisationen einzubeziehen, kann Einfluss ist öffentlich kaum wahr- bezweifelt werden. Viele autonome nehmbar und auch in der linksextre- Aktivisten wollen »Action« und men Szene eher gering. keine langatmige revolutionäre Basis- arbeit. Zwar gibt es immer wieder An- schläge, die Linksextremisten zuge- Eine weitere linksextreme Organisa- rechnet werden können, aber einen tion ist die »Rote Hilfe e. V.« (RH) Linksterrorismus im Sinne der RAF mit geschätzt knapp 5.500 Mitglie- und anderer gleichgesinnter Gruppen dern, die behauptet, in Deutschland gibt es derzeit nicht. Allerdings ist das würden Personen wegen ihrer politi- Potenzial an »Revolutionären« vor- schen Überzeugung und Aktivitäten handen, die nur auf eine günstige Si- eingesperrt. Sie begreift sich als par- tuation warten, die Revolution auch teiunabhängig und unterstützt durch gewaltsam voranzubringen. Wann öffentliche Sympathiekundgebun- diese Situation gekommen sein wird KLAUS SCHROEDER 197 und wie viele Linksextremisten sich staatliche Repression zusammen. Sie entschließen, in den Untergrund zu kooperieren auf internationaler, vor gehen, hängt von derzeit nicht be- allem europäischer Ebene mit Grup- kannten Faktoren ab. pen von Gleichgesinnten, so zum Beispiel bei diversen Antiglobalisie- Aus dem traditionellen Rahmen fal- rungskampagnen. lende Gruppen sind die sogenannten »Antideutschen«, die nahezu vorbe- Ihre Attraktivität stellt sich unter- haltlos die Politik Israels und der schiedlich dar: Autonome und An- USA unterstützen und immer wieder tifa-Gruppen sprechen eher junge auf antiisraelische und antisemitische Menschen an, die etwas erleben und Tendenzen in der Gesellschaft und sich austoben wollen – und dies auch vor allem in der linken Szene hinwei- noch für eine »gute Sache«. Ortho- sen. Jenseits davon propagieren sie doxe kommunistische Gruppen zie- ebenfalls die Notwendigkeit einer re- hen Personen an, die Gewissheiten volutionären Umwälzung der bür- wollen und eine »Ersatzreligion« und gerlich-kapitalistischen Gesellschaft. »Ersatzfamilie« suchen. Gruppen, die beides versprechen, zielen auf Unter den geschätzt knapp 200 links- junge Studenten und Schüler, die aus extremistischen Zeitungen, Zeit- idealistischen Gründen die Welt ver- schriften und sonstigen Publikatio- ändern wollen. nen nimmt die Tageszeitung Junge Welt (JW) eine Sonderrolle ein. Sie Insgesamt betrachtet haben Kommu- steht parteiübergreifend für das nismus und Linksextremismus im linksextreme Spektrum und die wiedervereinigten Deutschland je- DDR-Trauergemeinde. Ihr Chefre- doch lediglich eine schmale perso- dakteur Arnold Schölzel arbeitete zu nelle Basis. Ihr Kampf gegen den DDR-Zeiten als inoffizieller Mitar- Kapitalismus und die westliche beiter der Stasi und bespitzelte Studi- Gesellschaftsordnung findet in der enkollegen. Wo immer Kommunis- Bevölkerung nur geringe Resonanz. ten oder andere Linksextremisten in Insofern versuchen die verschiedenen Deutschland und der Welt Gewaltta- Gruppen, über populäre Kampagnen ten verüben, können sie sich des mehr gegen Rechtsextremismus oder Glo- oder weniger direkten Beifalls der balisierung ihren Sympathisanten- Jungen Welt gewiss sein. kreis und ihren Einfluss auf die öf- fentliche Meinung zu vergrößern und Die verschiedenen linksextremen gehen auf den verschiedenen Akti- Gruppen einschließlich der ortho- onsfeldern mit linken und linksradi- dox-kommunistischen, die sich kalen Gruppen Aktionseinheiten ein. wechselseitig häufig beschimpfen In dem Maße, wie sich linke demo- und bekämpfen, halten in ihrem kratische Gruppierungen auf Bünd- Kampf gegen Faschismus, Rassismus, nisse mit ihnen einlassen, erhalten Militarismus, Globalisierung und Linksextremisten einen gewissen 198 KURZE GESCHICHTE DES LINKSEXTREMISMUS IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

Schutz bei Demonstrationen oder rer) Gewalt rechtfertigt. Wohin die Veranstaltungen, so dass die Trennli- Utopie, der sie anhängen, bisher in nien zwischen linken, linksradikalen der Praxis führte, klammern sie weit- und linksextremen Personen und gehend aus. Das revolutionäre Selbst- Gruppen verschwimmen. bild duldet keine Beschädigungen durch historische Realitäten. Die Betrachtung der historischen Entwicklung des Linksextremismus Attraktivität und Verführungskraft zeigt in den politischen Zielen und kommunistischer bzw. linksextremer Kampfmitteln deutliche Kontinuitä- Ideologien sind immer noch gegeben, ten von der revolutionären – über- versprechen sie doch eine bessere wiegend kommunistischen – Linken, Welt für nahezu alle Menschen: eine die sich Anfang des letzten Jahr- Welt ohne Unterdrückung und Aus- hunderts konstituierte, bis hin zum beutung. Ihre vermeintlich hehren Spektrum der linksextremen, sich als Ziele bringen ihnen Zulauf von idea- revolutionär verstehenden Linken listisch eingestellten jungen Men- heutzutage. Dies schließt selbstver- schen. Insbesondere bei ihnen ist der ständlich Modifikationen, die sich Protest als identitätsstiftendes Le- aus dem Wandel der Zeit ergeben ha- bensgefühl geblieben, der die dama- ben, mit ein. Noch deutlicher wird lige APO-Generation ebenso prägte die Kontinuität, wenn die linksext- wie große Teile der nachwachsenden reme Szene der frühen 1970er Jahre Generationen. Der reale Sozialismus/ mit der heutigen verglichen wird. Si- Kommunismus und seine Verbrechen cherlich haben sich die Gewichte der verblassen dagegen oder werden von einzelnen Strömungen innerhalb des den Gruppen als historische Not- linksextremen Lagers verschoben, wendigkeiten dargestellt. So landen und zwar zugunsten der autonomen nicht wenige Intellektuelle bei der Linken, aber die seinerzeitigen Strö- Position des marxistischen Philoso- mungen finden wir heute immer phen Georg Luk´acs, der alle Irrungen noch. Themen und Aktionsfelder ha- und Wirren der kommunistischen ben sich zwar geändert, im Zentrum Bewegung in Ungarn durchlebte und steht aber weiterhin die Kritik des kurz vor seinem Tod schrieb: »Ich Kapitalismus und der bürgerlichen war immer der Meinung, dass man Gesellschaft und Herrschaft insge- selbst in der schlechtesten Form des samt. Sozialismus besser leben könne als in der besten Form des Kapitalismus.« Vor allem aber eins ist geblieben: Ab- gesehen von älteren Kommunisten Kommunisten und andere Linksex- innerhalb der Partei Die Linke wird tremisten wähnen sich weiterhin im die linksextreme Szene weiterhin von Besitz der »Wahrheit« und glauben jungen Leuten geprägt. Sie glauben, an die Befreiung der Menschheit von für eine »gute Sache« zu kämpfen, die Unterdrückung nach Überwindung auchdenEinsatzvon(revolutionä- des Kapitalismus und des bürgerli- KLAUS SCHROEDER 199 chen Staates. Tatsächlich aber legi- Bock, Hans Manfred: Geschichte des timieren sie nur Unterdrückung im »linken Radikalismus« in Deutsch- Namen einer seelenlosen Utopie und land, Frankfurt/Main 1976. – was vielleicht noch schlimmer wiegt – die damit einhergehende Deutz, Monica/Kolenberger, Lothar/ Entindividualisierung und faktische Schroeder, Klaus/Schwarz, Hans- Versklavung von Menschen. Die Albrecht: Alternativ oder konserva- untergegangenen und noch existie- tiv? Zur jüngeren Geschichte der Al- renden sozialistischen/kommunisti- ternativbewegung, in: Ästhetik und schen Staaten sind hierfür ein beredtes Kommunikation. Beiträge zur politi- Beispiel! schen Erziehung: Linker Konservati- vismus? Nr.36/1979, S.29–42.

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Jugendarbeit von Linksextremisten

BETTINA BLANK

1. Einleitung auf Jugendliche kommen zudem die allgemeine Politikverdrossenheit und Der Jugend gilt von jeher die beson- Distanz gegenüber den sogenannten dere Aufmerksamkeit von (Links-)- »etablierten Parteien« entgegen. Dies Extremisten. Dies ist im Grunde wiederum dürfte eine Ursache für nicht weiter verwunderlich, gehört den Zulauf zu neu auftretenden Phä- doch, wie es allgemein heißt, der Ju- nomenen wie der »Piratenpartei« gend die Zukunft. Folglich ist sie ein sein, aber auch für die anhaltende At- Hoffnungsträger, nicht nur für per- traktivität außerparlamentarischer spektivisch angestrebte grundlegende Akteure bzw. informeller politischer Veränderungen und die Realisierung Gruppierungen gerade für junge politischer Visionen, sondern auch Menschen. Gerade letztere themati- für den Fortbestand überalterter Or- sieren im Rahmen »Sozialer Bewe- ganisationen, den zu sichern eine im- gungen« spezifische Probleme (so mer dringlichere Aufgabe in großen z.B. Umweltschutzgruppen, Frie- Teilen des deutschen Linksextremis- densinitiativen etc.) und agieren häu- mus wird. Hinzu kommt noch ein fig mit Mitteln öffentlichen Protes- Weiteres: Jugendliche sind mit noch tes1, die eine direkte und persönliche relativ ungefestigten Haltungen und Beteiligung ermöglichen. Linksex- Einstellungen und einem oft noch tremistenkommenderSuchevieler ungebremsten Idealismus potentiell nach alternativen, »wirkungsvolleren« empfänglicher für politische Indokt- Formen politischer Partizipation und rination als Erwachsene. Betätigung in besonderem Maße ent- gegen und treten mit spezifischen Linksextremisten nutzen den Aktivi- Angeboten an Jugendliche heran. tätsdrang von Jugendlichen ebenso, wie ihnen deren Suche nach Vorbil- Die Jugendarbeit von Linksextremi- dern und die Bereitschaft zum Kampf sten hat bislang weder in der gesell- für Ideale zupasskommt bei der Ver- schaftspolitischen Auseinanderset- mittlung ihrer politischen Utopie ei- zung2, noch in der Wissenschaft oder ner kommunistischen »Gesellschaft Publizistik die Aufmerksamkeit ge- von Freien und Gleichen«. Versuchen funden, die sie verdient. Die aktuellen linksextremistischer Einflussnahme Dimensionen kommunistischer Ju-

1 Vgl. Wolfgang Gaiser, Martina Gille, Johann de Rijke, Sabine Sardei-Biermann, Politik und Jugend – eine reformbe- dürftige Beziehung, in: Das Parlament Nr.44 vom 31. Oktober 2005. 2 Vgl. etwa die knappen Ausführungen im Kontext mit der Betrachtung auch der anderen Extremismen von Helmut Rannacher, Politischer Extremismus und Jugendkriminalität, in: Politischer Extremismus, Jugendkriminalität und Gesellschaft, INFO 2001 der Landesgruppe Baden-Württemberg in der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V., Heidelberg 2002, S.7–29. 204 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN gendarbeit scheuen zwar einen Ver- Spektrum – von ihrem eigenen Ju- gleich zu den ersten Jahrzehnten der gendverband als Nachwuchsorgani- Bundesrepublik und erst recht zu sation begleitet. Dieser ist traditionell Weimarer Zeiten. Der Linksextre- formal, d.h. rechtlich und organisato- mismus hat insbesondere seit der risch-strukturell, unabhängig, orien- deutschen Wiedervereinigung einen tiert sich jedoch an den ideologischen deutlichen Niedergang hinnehmen Vorgaben der Partei. Gleichwohl ist müssen und damit zugleich massiv an der politisch-ideologische Gleich- Bedeutung verloren. Andererseits ha- klang mit der Mutterpartei heute bensichjedoch–imklarenUnter- nicht mehr selbstverständlich, was schied etwa zu dem gesellschaftlich auch damit zusammenhängen dürfte, weitgehend ausgegrenzten Rechtsex- dass verschiedentlich innerparteili- tremismus – die Chancen einer Ein- cher Richtungsstreit eben jene ein- flussnahme in dem Maße erhöht, wie heitlichen Vorgaben und die frühere die öffentliche Sensibilität gegenüber Geschlossenheit klassischer kommu- vom Linksextremismus ausgehenden nistischer Parteien vermissen lässt. Gefahren geschwunden ist. »Linksjugend [’solid]«, gegründet am Die Versuche linksextremistischer 20. Mai 2007, ist der Jugendverband Einflussnahme auf Jugendliche sind der Partei »DIE LINKE.«. Dieser durchaus ein relevantes Thema. Die- sieht sich als eine »Plattform«,die ses kann jedoch in dem hier vorgege- »als Teil von Bewegungen in die Ge- benen Rahmen nur ansatzweise be- sellschaft wirken will und als Jugend- handelt werden. Der vorliegende verbandindieParteiDIELINKE Überblick über die beteiligten Ak- wirken wird«. Er versteht sich als eine teure und die Ansatzpunkte linksex- »offene und plurale linke Organisa- tremistischer Jugendarbeit mag als tion«, die die Zusammenarbeit mit Versuch betrachtet werden, dieser anderen suche, betont dabei aller- Thematik mehr Aufmerksamkeit zu dings auch, sich vom »klassischen verschaffen und zu einer weiterge- Parteijugendmodell« verabschiedet henden Beschäftigung mit ihr anzu- zu haben und deshalb »keine Kader- regen. schmiede«zuseinbzw.seinzuwol- len3. In der Beschreibung ihrer politischen Ziele bezeichnet die 2. Akteure »Linksjugend« die »Überwindung kapitalistischer Produktions- und 2.1 Parteien und Organisationen Herrschaftsverhältnisse« als notwen- dig zur Verwirklichung ihrer Vorstel- Linksextremistische Parteien werden lungen von einer »von Mitbestim- – ähnlich wie im demokratischen mung und Freiheit geprägten Gesell-

3 Linksjugend [’solid], Programm. Beschlossen auf dem 1. Bundeskongress am 5. April 2008 in Leipzig, geändert auf dem Bundeskongress vom 20. März 2009 in Mannheim; www.linksjugend-solid.de (gelesen 2. Juli 2012). BETTINA BLANK 205 schaft«. Unter anderem heißt es wei- aller Art, gegen Krieg und Umwelt- ter: »Als SozialistInnen, Kommu- zerstörung. Diese Ziele sind nur durch nistInnen, AnarchistInnen kämpfen eine grundlegende Veränderung der wir für eine libertäre, klassenlose Ge- Gesellschaft zu realisieren. Der Kapi- sellschaft jenseits von Kapitalismus, talismus ist für uns nicht das Ende der Rassismus und Patriarchat«4. Geschichte. Wir stehen ein für die Überwindung der kapitalistischen Der am 5. Mai 2007 gegründete Stu- Gesellschaftsordnung und stellen ihr dentenverband der Partei, der »Sozia- unsere handlungsbestimmende Per- listisch-Demokratische Studieren- spektive einer sozialistischen Gesell- denverband« (DIE LINKE.SDS) ist schaft entgegen«7.Mit»critica«gibt organisatorisch Bestandteil des Ju- er eine bundesweite »Semesterzei- gendverbandes5 und nach eigenen tung« heraus und mit »Linkskontro- Angaben an ca. 50 Hochschulen in vers« ein bundesweites internes »De- Deutschland vertreten6.Derge- battenjournal«8. wählte Name symbolisiert trotz der – ebenfalls eigens betonten – politi- Die »Deutsche Kommunistische Par- schen und organisatorischen Unab- tei«(DKP)hatmitder»Sozialisti- hängigkeit die Nähe zur Partei, aber schen Deutschen Arbeiterjugend« ebenso den Bezug auf die Tradition (SDAJ) ebenfalls einen Jugendver- des historischen SDS.Gemäß dem ei- band sowie mit der »Assoziation genen Selbstverständnis gilt für DIE Marxistischer StudentInnen« (AMS) LINKE.SDS: »Als Hochschulver- eine Studentenorganisation, darüber band streiten wir für Sozialismus, hinaus aber auch eine Kinderorgani- d.h.: soziale Gerechtigkeit, Demo- sation, wenngleich letztere eine eher kratie, Frieden, ökologische Nachhal- rudimentäre Existenz führt. Für die tigkeit, für Emanzipation und die Partei selbst hat Jugendarbeit in der Gleichstellung von Männern und Vergangenheit über weite Strecken Frauen sowie von Menschen mit un- offenbar nicht gerade im Vor- terschiedlichen sexuellen Orientie- dergrund gestanden. Im März 2003 rungen, unterschiedlicher Hautfarbe, veranstaltete sie in Düsseldorf im Herkunft und Religion. Wir kämpfen Vorfeld des Irakkrieges ein »Jugend- gegen den marktradikalen und anti- tribunal«,imKerneine»Antikriegs- demokratischen Umbau der Gesell- veranstaltung«, das ein »neuer Ver- schaft, gegen Sozialabbau, gegen such in der Jugendpolitik« sein sollte Ausgrenzung und Diskriminierung in der Hoffnung, »mehr Zugang zu

4 Ebd. 5 Satzung von DIE LINKE.Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband, Stand: 15. Januar 2012; www.linke- sds.org. (gelesen 2. Juli 2012). 6 Über DIE LINKE.SDS, Kurzinfo; www.linke-sds.org (gelesen 2. Juli 2012). 7 Selbstverständnis des Studierendenverbandes Die Linke.SDS; www.linke-sds.org (gelesen 2. Juli 2012). 8 www.linke-sds.org (gelesen 29. März 2012). 206 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN

Jugendlichen zu bekommen«9.Inih- seither auch in den neuen Bundeslän- rem Parteiprogramm von 2006 hebt dern zu etablieren, ist dort jedoch ins- sie die enge Zusammenarbeit mit der gesamt schwach vertreten. Die Al- SDAJ und der AMS in ihrer Jugend- tersspanne der Mitglieder bewegt politik hervor10. Die DKP hat vor al- sich zwischen 14 und 30 Jahren. Die lemindenletztenJahrenbegonnen, SDAJ definiert sich als »eine Selbstor- ihrer Jugendarbeit einen neuen Stel- ganisation von Schülerinnen und lenwert einzuräumen. Das zeigte der Schülern, Auszubildenden, jungen Beschluss des Parteivorstandes von Arbeiterinnen und Arbeitern, Stu- Ende November 2011 zur Einrich- dentinnen und Studenten, die in tung einer »Jugendkommission«;Be- Deutschland leben, unabhängig von standteile eines »Arbeitsplanes« für ihrer Herkunft oder ihrem Paß«. 2012 sollten die Durchführung eines Weiter heißt es : »Wir kämpfen für »jugendpolitischen Ratschlages« zu- eine Welt ohne Ausbeutung und Ras- sammen mit der SDAJ sein, die sismus, für eine Welt, in der die Men- Durchführung einer Konferenz zur schen und nicht die Konzerne und Bildungspolitik, die Erstellung einer Bosse das Sagen haben. Für uns ist der Extraausgabe ihres Parteiorgans Sozialismus die Alternative für die »Unsere Zeit« (UZ) mit dem wir kämpfen. Diese Alternative wer- »Schwerpunkt Jugend« je für die den wir nicht allein durch Verbesse- Jahre 2012 und 2013 und die Unter- rungen der bestehenden Verhältnisse stützung des »Festivals der Jugend« erreichen, sondern dafür brauchen in Köln Pfingsten 201211. wir einen Bruch mit diesem System, dem Kapitalismus. Für uns ist dieser Die am 5. Mai 1968 – also noch vor Bruch, den wir im Kampf um not- der DKP (September 1968) gegrün- wendige Verbesserungen unserer Le- dete – SDAJ mit Sitz in Essen hatte im bensbedingungen erreichen wollen, Zuge der deutschen Wiedervereini- unvermeidbar um eine sozialistische gung – wie die Mutterpartei – zu- Gesellschaft zu erreichen. Wir sind nächst rasante Mitgliederverluste deshalb eine antikapitalistische und durch Austritte zu verzeichnen. revolutionäre Organisation«12. Nach einem auch mit dem Ausfall der Zahlungen aus der DDR verbunde- Als eigene Publikationen des Jugend- nen Niedergang konnte sie sich nach verbandes erscheint alle zwei Monate einer bis 1993 andauernden Krise sta- die »Position – Magazin der SDAJ«. bilisieren. Die SDAJ versucht, sich Darüber hinaus gibt es weitere regio-

9 »Tribunal gegen Krieg und Sozialabbau«. UZ-Interview mit Anne Frohnweiler zum Jugendtribunal der DKP; www.dkp-online.de (gelesen 11. April 2012). 10 Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), beschlossen auf der 2. Tagung des 17. Parteitages am 8. April 2006, S.13; www.dkp-online.de (gelesen 2. Juli 2012). 11 6. Tagung des Parteivorstands der DKP am 26./27. November 2001 in Essen, Beschluss: Bildung einer Jugendkom- mission des Parteivorstandes. DKP-Informationen Nr.4/2011 – 30. November 2011; www.kommunisten.de (gelesen 6.Februar 2012). 12 Über uns; www.sdaj-netz.de (gelesen 11. Mai 2012; Zeichenfehler im Original). BETTINA BLANK 207 nale Publikationen, in Baden-Würt- selbst kommt, haben wir uns in einer temberg beispielsweise – allerdings Organisation zusammengeschlossen, nach nur wenigen Ausgaben offenbar welche die Möglichkeit bietet, diese eingestellt – die im Stil von Publikati- ZielemitvielenanderenMenschenge- onen aus der autonomen Szene aufge- meinsam zu verwirklichen. Denn: Al- machte Schrift »BASCHDA!«. lein machen sie Dich ein!«14

Die SDAJ ist – wie ihr früherer Part- Die »Roten Peperoni« sind bislang nerverband der DDR, die »Freie nahezu ausschließlich in Baden- Deutsche Jugend« (FDJ) – gleichzei- Württemberg in Erscheinung getre- tig Mitglied im bereits 1945 gegrün- ten. Herausgegeben wird die »Pepe- deten sozialistisch-kommunistischen roni-Post« (vierteljährlich), daneben »Weltbund der Demokratischen Ju- die unregelmäßig erscheinende Kin- gend« (WBDJ), dem Organisator derzeitung »Zebra«. auch der »Weltfestspiele«. Sie betei- ligte sich im Sommer 2010 mit einer Die AMS schließlich wurde 1997 in Delegation an den »17. Weltfestspie- Leverkusen gegründet. Sie versteht len der Jugend und Studierenden«in sich als Nachfolgerin des »Marxisti- Pretoria in Südafrika. schen Studentenbundes Spartakus« (MSB) und nimmt für sich in An- Seit März 1993 gibt es die »Roten Pe- spruch, »der einzige marxistische peroni« als die – von der Partei selbst Studierendenverband in der Bundes- jedoch apostrophierte – »›sozialisti- republik Deutschland« zu sein. Sie sche Kinderorganisation‹« der DKP bekennt sich vorbehaltlos zum Ziel (bis Anfang der 90er Jahre »Junge Pio- der »revolutionäre[n] Überwindung niere«), »in der Kinder, Jugendliche des Kapitalismus, um eine neue, ge- undErwachsenemitmachen«.DieBe- rechte, sozialistische Gesellschaftsord- zeichnung als »Kinderorganisation« nung aufzubauen«,undtrittdafür sei, so heißt es, deshalb gewählt wor- ein, »dass die Studierenden Seite an den, »weil unser Hauptaugenmerk Seite mit der Arbeiterbewegung für auf der politischen Arbeit mit Kindern den Sozialismus streiten«15. Ihre kon- liegt«13. Zu den Zielen der Organisa- krete Aufgabe sieht die AMS darin, tion heißt es, sie wolle eine »kinder- »in Bildungs- und Diskussionsveran- freundliche Welt, eine Welt ohne staltungen sowie der studentischen Kriege und Waffen und ohne andau- Interessenvertretung Alternativen ernde Zerstörung der Umwelt, eine zur gegenwärtig herrschenden Politik Welt ohne Ausbeutung des Menschen aufzuzeigen, die ausschließlich den durch den Menschen und ohne Rassis- Interessen der großen Kapitaleigner mus. Aber weil das alles nicht von dient«, und damit einen »Beitrag zur

13 Peperoni: Wer sind wir? www.rotepeperoni.de (gelesen 11. Mai 2012). 14 Peperoni: Was wir wollen? Vgl. ebd. 15 Die AMS; http://ams-marxisten.blogsport.de/ (gelesen 13. Mai 2012). 208 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN

Politisierung der Studierenden« so- Die maoistisch-stalinistische »Mar- wie zur »weiteren Entwicklung von xistisch-Leninistische Partei Deutsch- progressiver Gegenmacht« zu leis- lands« (MLPD) setzt ihre Jugendar- ten16. Als Bündnispartner nennt sie beit in den drei »Standbeinen« des die SDAJ, in »anderen linken Zusam- Jugendverbandes »REBELL«, den menhängen organisierte Schülerin- »Rotfuchs«-Gruppen und den Ober- nen und Schüler«, Auszubildende schüler- und Studentengruppen um19. und Gewerkschafter. Die AMS hebt Von letzteren ist kaum etwas bekannt. hervor, als »revolutionäre Marxisten« Zusätzlich gibt es die »Galileo. Zei- mit der DKP und anderen »Linken« tung der Hochschulgruppen der zusammenzuarbeiten, legt allerdings MLPD«. Wert auf die Feststellung, keine »Vorfeldorganisation« der DKP, son- Der 1992 gegründete Jugendverband dern als »eigenständiger Zusammen- »REBELL« ging aus dem »Arbeiter- schluss« tätig zu sein17. jugendverband/Marxisten-Leninis- ten« (AJV/ML) und dem »Marxis- Die Tradition des »Kommunistischen tisch-Leninistischen Schüler- und Jugendverbandes Deutschland« Studentenverband« (MLSV) hervor. (KJVD) aus der Weimarer Zeit fort- Er ist nach eigenen Angaben in zusetzen, beansprucht die 1990 auf 61 Städten aktiv und zählt Schüler, dem Gebiet der früheren DDR ge- Studenten, »Azubis«, Jungarbeiter gründete »Kommunistische Partei und arbeitslose Jugendliche ab einem Deutschlands« (KPD-Ost). Sie führt Alter von 13 Jahren zu seinen Mitglie- den am 27. April 2002 gegründeten dern. Das Durchschnittsalter beträgt gleichnamigen KJVD als marxistisch- 16,4 Jahre. »REBELL« kämpft »an leninistische Jugendorganisation und der Seite und unter ideologisch-politi- damit zugleich als »Teil der revolutio- scher Führung der MLPD für eine Ge- nären internationalen kommunisti- sellschaft ohne Ausbeutung und Un- schen und Arbeiterjugendbewe- terdrückung der werktätigen Massen: gung«.DerKJVDkämpft»heute den echten Sozialismus«20. Als seine gegen Krieg und Militarismus, kapi- Aufgabe betrachtet er eigener talistische Ausbeutung und Faschis- Darstellung zufolge, »die Masse der mus«,für»Frieden und Demokratie, Jugend für den Kampf um den echten für Freiheit, Gleichheit und Gerech- Sozialismus zu gewinnen« und – in tigkeit« sowie »für eine Sozialistische Abgrenzung zur »kleinbürgerlichen Gesellschaft«18. Denkweise«–zur»Schulederproleta-

16 Wer ist die AMS? http://marxisten.blogsport.de/ (gelesen 11. Mai 2012). 17 Ebd. 18 Der KJVD; www.kjvd.de/ (gelesen 2. Juli 2012). 19 Wie arbeitet REBELL? http://rebell.info (gelesen 14. Mai 2012). 20 Wer ist REBELL? http://rebell.info (gelesen 6. Februar 2012; Hervorhebung im Original). BETTINA BLANK 209 rischen Denkweise unter der Masse und gegen Krieg und Faschismus. Wir der Jugend«21 zu werden, sowie Er- stehen«,soheißtes,»auf der Seite der ziehungsarbeitzuleisten»in allen Ausgebeuteten und Unterdrückten Fragen des praktischen Lebens und der ganzen Welt.…Wir lernen ge- Kämpfens«22. Der Jugendverband ist meinsam, wie die Welt funktioniert »Instrument, Vorschule und Reser- und wie man sie verändern kann. … voir der Partei«23. Einmal monatlich Überall, wo wir sind, in der Schule, gibt es ein Treffen, bei dem u.a. eine auf dem Spielplatz, auf der Straße Schulung der MLPD zu bestimmten oder im Verein gewinnen wir neue Themen stattfindet. Zu den Aktivitä- Rotfüchse«26. Dass die Organisation ten des »REBELL« gehören gemein- diese Programmatik tatsächlich zu- same Kultur- und Freizeitveranstal- mindest ansatzweise umsetzt, zeigte tungen ebenso wie »die Aneignung eine Kontroverse der MLPD mit der des Marxismus-Leninismus oder Ar- Stadt Karlsruhe in Jahr 2010. Die beitseinsätze zur Finanzierung unse- Stadt hatte unter Verweis auf die rer Arbeit«. Als Motto des Verbandes Grünanlagenverordnung mit einer gilt: »Rebellion ist gerechtfertigt – Anzeige gedroht, weil »ROT- Dem Volke dienen!«24. FÜCHSE« auf Karlsruher Kinder- spielplätzen Werbemaßnahmen Dem »REBELL«, von dem im Übri- durchgeführt hatten27.ZudenMe- gen ein gleichnamiges Jugendmaga- thoden des offensiven Werbens ge- zin erscheint, zuzuordnen ist die Kin- hörte auch das vor ca. zehn Jahren derorganisation »ROTFÜCHSE«, unterbreitete Angebot einer wö- der Kinder ab einem Alter von sechs chentlichen »Hausaufgabenhilfe«. Jahren angehören können. Mit »sei- Dabei, so hieß es, werde nach getaner ner« Kinderorganisation »ROT- Arbeit auch genügend Zeit für »Spie- FÜCHSE« »übernimmt der RE- len und Spaß« bleiben. Gleichzeitig BELL Verantwortung für die Zu- sollte es aber auch um die Einübung kunft der Arbeiterklasse. Das umfasst der »proletarischen Denkweise« das ganze Leben der Kinder, um sie gehen, sollten »Rebellen und Rot- zu einem proletarischen Verhalten in füchse« sich zugleich für den gemein- allen Lebensbereichen zu erziehen«25. samen Kampf stärken, »ganz beson- Zu den »Rotfuchs-Regeln« wiederum ders auch für eine sozialistische gehört, aktiv zu sein »für Völker- Gesellschaft mit einer Schule, in der freundschaft, den Schutz der Umwelt der Mensch im Mittelpunkt steht«28.

21 Ebd. 22 »Rote Fahne« (RF) Nr.19 v. 11.5.2007, S.20. 23 RF Nr.19 v. 9.5.2008, S.15 (Hervorhebung im Original). 24 http://rebell.info (wie Anm.25; Hervorhebung im Original). 25 Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD); http://interaktiv.mlpd.de/. 26 RF Nr.19 v. 9.5.2008, S.16. 27 Sozialisten dürfen nicht auf Spielplätze; www.ka-news.de (gelesen 11. Mai 2012). 28 Hausaufgaben? Gemeinsam geht’s besser! RF Nr.6 vom 7. 2. 2002; http://rotfahne.mlpd.de/; vgl. auch H. Rannacher, S.23 f. 210 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN

Zu denjenigen Organisationen, die genbewegung« wurde seit 1971 »anti- besonders dringend auf jugendlichen faschistische« Jugend- und Bildungs- Nachwuchs angewiesen sind, gehört arbeit entwickelt. In den 90er Jahren die vom Verfassungsschutz als »links- gelang die Gründung regionaler extremistisch beeinflusst« einge- Jugendgruppen. Das Projekt war al- stufte29 »Vereinigung der Verfolgten lerdings offenbar nicht von dauerhaf- des Naziregimes – Bund der Antifa- tem Erfolg gekrönt. 1997 verfassten schistinnen und Antifaschisten« die von der VVN-BdA als »Sängerin (VVN-BdA). Die Jugendarbeit der und Auschwitz-Überlebende« be- VVN-BdA läuft – wie schon ihre Ei- zeichnete Kommunistin Esther Beja- genbezeichnung nahelegt – unter rano und das 2006 verstorbene KPD- dem Vorzeichen des »Antifaschis- bzw. DKP- und VVN-BdA-Mitglied mus« und damit verbunden unter der Peter Gingold einen »Appell an die vordergründig unverfänglichen Ziel- Jugend«32, der quasi eine »Stafetten- setzung, »für eine humane und ge- übergabe« der ehemaligen »antifa- rechte Welt, ohne Ausbeutung und schistischen Widerstandskämpfer« Krieg, ohne Rassismus und Antisemi- an die Jüngeren symbolisieren sollte tismus, für Toleranz und Frieden ein- und die Jugend in Anbetracht des zutreten«30. Gleichzeitig präsentiert zunehmenden, altersbedingten Aus- die VVN-BdA der Öffentlichkeit ein scheidens von Zeitzeugen zur Fort- derart ambivalentes Erscheinungs- setzung der »antifaschistischen« Tra- bild, dass sie sich weitgehender allge- ditionen der VVN-BdA aufforderte. meiner Akzeptanz erfreut und des- halb besondere Chancen hat, ihre Deutlich mehr Aktionismus als die Einflussstrategien bis weit ins bürger- meisten linksextremistischen Orga- lich-demokratische Spektrum hinein nisationen entfalten trotzkistische zu praktizieren. Gruppierungen. In ihrem Engage- ment für bestimmte Themen, ihrer Die »Geburtsstunde« der »antifa- sichtbaren Präsenz auf der Straße und schistischen Jugendarbeit« der VVN- ihrem praktischen politischen Ein- BdA war das Jahr 197131, in dem sich greifen haben sie bei der Rekrutie- die Organisation auch für jüngere rung von Jugendlichen immer wieder »Antifaschisten« öffnete und dies in Erfolge verzeichnen können, auch dem seither gebrauchten Namenszu- wenn diese nicht von Dauer waren. satz »Bund der Antifaschisten« zum Eine gewisse Relevanz unter diesen Ausdruck brachte. Unter dem Slogan Organisationen erlangte die »Sozia- »Antifaschismus ist mehr als eine Ge- listischen Alternative« (SAV), der es

29 Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2010, Stuttgart 2011, S.235–240. 30 Esther Broß, Rede auf dem Festakt 60 Jahre VVN am 5. Mai 2007 in Friedrichshafen; www.vvn-os.telebus.de (gelesen 10. Mai 2012). 31 Vgl. ebd. 32 freiberg.vvn-bda.de. BETTINA BLANK 211 in den neunziger Jahren vorüberge- FAU organisiert«. Jeder Gruppe sei hend gelungen war, mit dem Aufbau die Ausrichtung selbst überlassen, ob der »Jugend gegen Rassismus in Eu- als »Bildungssyndikat, Jugendsyndi- ropa« (JRE) zahlreiche jugendliche kat, ASJ-Gruppe etc.«35.Eshandelt Anhänger zu gewinnen. Bereits 2001 sich offenbar um eine bewusst lose hatte die SAV – allerdings ohne große Vernetzung weitgehend unabhängig Resonanz zu erzielen – den formal voneinander agierender Gruppen. Ihr unabhängigen Zusammenschluss »wi- Schwerpunkt liegt bislang in Nord- derstand international« (wi) ge- rhein-Westfalen. gründet, der die Keimzelle einer neuen Jugendbewegung sein sollte33. In der anarchistischen Zeitschrift Welche Bedeutung die etwa 300 bis »graswurzelrevolution« ist seit 400 Mitglieder starke SAV der Ju- Herbst 2007 bis zur »vorläufigen« gendfrage beimisst, zeigt die Heraus- Einstellung mit der Ausgabe Nr.21 gabe einer Jugendzeitung »megafon – vom Winter 2011 die Jugendzeitung sozialistische jugendzeitung« als »utopia. Jugendzeitung für eine herr- Beilage der Zeitschrift »Solidarität« schaftslose&gewaltfreieGesell- in zweimonatlicher Erscheinungs- schaft« erschienen. Von einer aus weise. Die SAV konzentriert sich in Jugendlichen zusammengesetzten ihrer kontinuierlichen Jugendarbeit Redaktion erstellt, wurde sie auch se- auf die Mitarbeit bei – d.h. Unter- parat an Schüler- und Studentenver- wanderung von – »Linksjugend [’so- tretungen versandt oder kostenlos in lid], um einen »kämpferischen Ju- Städten verteilt. Mit einer Auflagen- gendverband« nach ihren Vorstellun- höhe von bis zu 25.000 Exemplaren gen aufzubauen. soll es seit »den 1920er Jahren … in Deutschland keine so auflagenstarke Im Bereich des klassischen Anarchis- und weit verbreitete anarchistische mus ist seit 2009 eine der »Freien Ar- Jugendzeitung mehr«36 gegeben ha- beiterinnen- und Arbeiter-Union« ben, von der angeblich insgesamt fast (FAU) nahestehende »Anarcho-Syn- 400.000 Exemplare verbreitet wur- dikalistische Jugend« (ASJ) im Auf- den37. bau begriffen. Die FAU berichtet von einem sich aus ihrer AG Jugend ent- wickelnden »Netzwerk anarchis- 2.2 Die Rolle der Autonomen tisch-syndikalistischer Jugend- und Bildungsgruppen«34. Die Mitglieder Als subkulturell geprägte Jugend-Po- seien »innerhalb und außerhalb der litszene sind die sogenannten »Auto-

33 Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2002, Stuttgart 2003, S.106. 34 www.fau.org/jugend/ (gelesen 29. Februar 2012). 35 Ebd. 36 Erfrischend selbstironisch. Anarchistische Jugendzeitschriften. Eine historische Einordnung der utopia, in: graswur- zelrevolution Nr.364 vom Dezember 2011, S.10 f. 37 Ebd. 212 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN nomen« für junge Menschen »selbst- anderen Projekte und Aktionen zu redend« der ansprechendste Teil des planen, zu organisieren und zu gestal- deutschen Linksextremismus. Ihre ten. Dabei wird aber auch an der letzt- Attraktivität erlangt diese Szene lich systemfeindlichen Zielsetzung durch das ihr eigene stark aktionisti- dieses politischen Engagements kein sche Element, d.h. durch die hier ge- Zweifel gelassen, das im Rahmen des botenen Möglichkeiten des direkten, »revolutionären autonomen Antifa- persönlichen Aktivwerdens, etwa im schismus« bei einer reinen Bekämp- Rahmen von Kampagnen, und die fung von »Nazis« nicht stehenbleibt. vielfältigen »basisnahen« Aktions- bzw. Protestformen wie Demons- Kontinuierliche Jugendarbeit ist trationen oder Blockaden. Auch in gleichwohl in der autonomen Szene Antifakreisen weiß man, dass Ju- vor allem ein Ressourcenproblem, gendliche daneben insbesondere über d.h., sie ist im Grunde nur größeren Musik, Parties oder sonstige Freizeit- und beständigen »Antifa-Gruppen« gestaltung zu mobilisieren und zu möglich. Unter dem Motto »Wider- politisieren sind. In dem Berliner Ju- stand ist wunderbar, komm zur Ju- gendbündnis »Komm zur Jugendan- gendantifa!« wirbt beispielsweise die tifa« beispielsweise spielt das Projekt im Mai 2005 gegründete »Jugend An- »Antifabrik« eine Rolle, bei dem je- tifa Berlin« (JAB) im Internet um Ju- den Samstag Jugendlichen die Mög- gendliche40. Ihre Mitglieder sind nach lichkeit zu »kostenlosem Kicker und eigenen Angaben zwischen 15 und 23 Billard und Überraschungen« gege- Jahre alt. Als ihre politische Praxis ben wird, um so den Abend »ohne beschreibt die JAB: »Es wird von uns Konsumzwang anzufangen. Bei net- als wichtig erachtet, so früh wie mög- ter Atmosphäre und coolen Leuten ist lich einzuschreiten, um die Verbrei- esdenBesuchaufjedenFallwert«38. tung faschistischer, rassistischer und sexistischer Ideologie zu verhindern, Bei vorhandenem Willen zu gemein- [wir] richten uns jedoch auch klar ge- samem politischen Engagement bie- gen staatlichen Rassismus und die ka- ten »Jugendantifagruppen« einen pitalistische Verwertungslogig mit all »guten Einstieg in aktive Antifa Poli- ihren Auswirkungen. Um dies zu er- tik, Schutz und Unterstützung vor reichen, organisieren wir Aktionen, Bullen und nervenden Eltern. Außer- Demos und Parties und leisten Öf- dem erweitert man seinen Hand- fentlichkeits- sowie Aufklärungsar- lungsspielraum, weil man mit viel beit.«41 mehr Leuten gemeinsam etwas ma- chen kann.«39. Arbeit in der »Jugend- Jugendgruppen werden in dieser antifa«isteinAngebot,zusammenmit Szene unter Bezeichnungen wie »An-

38 Interview mit Antifas; http://jpberlin.de (gelesen 30. März 2012). 39 Ebd. 40 http://jab.antifa.de/ (gelesen 13. Mai 2008). 41 Jugend Antifa Berlin: Über uns; www.jab.antifa.de/ (gelesen 30. März 2012). BETTINA BLANK 213 tifa-Jugendfront«, »Jugendantifa«, 3. Ansatzpunkte und Aktions- »Antifa-Jugend«, »Jugend-Antifa- formen Aktion« etc. aktiv. Verbindung zu au- tonomen »Antifa-Gruppen« aufzu- Es kann davon ausgegangen werden, nehmen ist über das Internet anhand dass Linksextremisten überall dort dort eigens eingestellter Formulare ansetzen, wo Jugendliche und Heran- zur Kontaktaufnahme bzw. per wachsende anzutreffen sind, ob in der E-Mail möglich. Ein anderer Ansatz Schule, an Universitäten und sonsti- ist der Besuch »offener Treffen«. So gen Bildungseinrichtungen, am Ar- lud z.B. die »Autonome Antifa beitsplatz – vor allem in den Betrie- Karlsruhe« noch vor einigen Jahren ben–,indenGewerkschaftenoder zu einem monatlich stattfindenden bei ihren privaten Freizeitaktivitäten. »Offenen Antifa-Plenum« oder »Of- Darüber hinaus streben sie danach, in fenen Antifa-Treffen« ein. Wer sich Schüler- und Studentenvertretungen, politisch engagieren wolle, so hieß es, im Stadtjugendring und in Jugend- sei dort »genau richtig«42.Einanderes stadträten Einfluss zu gewinnen. Beispiel ist das »Offene Antifa Tref- fen (OAT) Freiburg & Region«, das Um Jugendliche zu politischem En- jeden zweiten Dienstag im Monat gagement zu bewegen und für die Ar- veranstaltet wird43. Bei solchen Ver- beit der eigenen Organisation zu in- anstaltungen werden Informationen teressieren, werden Themen aufge- ausgetauscht, Termine und Aktionen griffen, von denen Jugendliche und besprochen und Diskussionen ge- Heranwachsende direkt oder indi- führt. Die Treffen werden auch mit rekt betroffen sind, oder die sich be- Flugblättern beworben. Des Weite- sonders dazu eignen, Jugendliche zu ren stehen sogenannte »Jugendantifa- mobilisieren. Die Aktionsformen caf´es« potentiellen Neulingen offen. von Linksextremisten reichen vom Im Interesse einer starken »antifa- Flugblattverteilen, von Plakat- schistischen« Jugendbewegung wird aktionen und dem Verbreiten von eine enge Vernetzung von Anti- Publikationen, dem Abhalten von In- fagruppen angestrebt. So gibt es formationsständen und Vortragsver- »Antifaschistische Jugendbünd- anstaltungen über die (Mit-)Organi- nisse«. Aufrufe zu Vernetzung und sation von Demonstrationen, Streiks Organisierung kommen jedoch über und Blockaden, das Halten von Re- lokale oder regionale Ansätze kaum debeiträgen auf Kundgebungen bis hinaus. hin zur Initiierung von Protestbewe- gungen, bei denen linksextremisti- sche Gruppen in einem gewissen Rahmen durchaus steuernde Funkti- onen ausüben können.

42 http://antifaka.blogsport.de/ (gelesen 30. März 2012). 43 http://www.liz-freiburg.org (gelesen 11. Juni 2012). 214 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN

Als besonders und zudem dauerhaft sik-CD stand, von der nach eigenen geeignet hat sich das Thema »Antifa- Angaben 50.000 Exemplare bundes- schismus« erwiesen. Unter diesem weit an Schüler, Auszubildende und Vorzeichen versucht selbst die junge Erwachsene verteilt worden MLPD,anSchulenFußzufassen44. sein sollen48. Die SDAJ beschloss auf ihrem 20. Bundeskongress in Hannover im Das Thema »Antifaschismus« öffnet Oktober 2011 die Kampagne »Nazi- auch der VVN-BdA in ihrem vorder- freie Zonen!«, die bis zum Juni 2012 gründig verdienstvollen Engagement laufen sollte. Dabei ging es darum, gegen Rechtsextremismus den Weg in vor allem in Schulen und Betrieben die Schulen. Dort leisten ihre, alters- »nazifreie Zonen« zu errichten. Mit bedingt allerdings immer rarer wer- HilfedieserKampagnegaltes,dieer- denden, Zeitzeugen – in einer Viel- langten Positionen in Interessenver- zahl der Fälle Kommunisten – ihren tretungen und Schülerbündnissen Beitrag zur politischen Bildung, in- dafür zu nutzen, »einen antifaschisti- dem sie vor Schulklassen authentisch, schen Konsens unter den Jugendli- aber politisch gefärbt, über ihre Er- chen herzustellen und zu vertiefen«45 lebnisse in den Konzentrationslagern Bereits2007hattedieSDAJeineei- der Nationalsozialisten berichten gene »Rote Schulhof-CD« verteilt, und politische Schlüsse daraus für die um »die kulturelle Hegemonie auf Gegenwart ableiten. Solche Aktivis- deutschen Schulhöfen nicht den Rech- ten führen darüber hinaus Schul- ten zu überlassen«46, aber auch, »um klassen durch Gedenkstätten des gegen rechts zu protestieren« und Nationalsozialismus und Orte des »Schüler sowohl über die inhaltlich historischen Widerstandes, aber auch klaren Aussagen der Lieder als auch durch die organisationseigene, bereits durch die kulturelle Akzentsetzung in mehreren Neuauflagen aufberei- für linke Politik [zu] begeistern«47. tete Ausstellung »Neofaschismus in Die »Linksjugend [’solid]« startete Deutschland«, die ihrerseits sublime 2004 eine Kampagne »Aufmucken politische Botschaften in die Öffent- gegen Rechts – Beweg dich, damit sich lichkeit streut. In Baden-Württem- was bewegt!«,eine»antifaschistische berg vergibt die VVN-BdA seit 2005 Offensive gegen rechte Jugendkul- alle zwei Jahre einen nach ihrem tur«, in deren Mitteilpunkt eine Mu- früheren Ehrenvorsitzenden, dem

44 So berichteten »REBELL-Mitglieder in einem Interview mit der »Roten Fahne«, angeblich »eine systematische antifa- schistische Arbeit an einer Schule begonnen« und dabei Mitglieder gewonnen zu haben. Vgl. RF Nr.19 vom 9.5.2008, S.10. In derselben Ausgabe wird von einer Schulrektorin berichtet, die ganz »begeistert von dem Rotfuchspro- gramm« gewesen sei, und auch »eigene Ideen« gehabt habe, »wie man zusammenarbeiten kann, ›gemeinsame Hausaufgabenbetreuung macht‹«. Vgl. ebd., S.18. 45 Björn Schmidt, Zur Arbeit der SDAJ. 6. Tagung des Parteivorstands der DKP am 26./27. November 2011 in Essen. DKP-Informationen Nr.4/2011 vom 30. November 2011; www.kommunisten.de (gelesen 6. Februar 2012). 46 Rote Schulhof-CD der SDAJ; http://www.sdaj-owl.de (gelesen 27. Juni 2012). 47 Dokumentation eines Interviews der Tageszeitung »junge Welt« über die Schulhof-CD auf www.anderslautern.de (gelesen 11. Juli 2008). 48 www.mucke-gegen-rechts.de/ (gelesen 11. Juli 2008). BETTINA BLANK 215

Kommunisten Alfred Hausser, be- auseinander und reklamierte, dass die nannten, mit 500 Euro dotierten Preis Grundrechte der Kinder und Jugend- für regionale Geschichtsforschung49. lichenzuschützenseienunddieseda- Bewerben können sich örtliche Ge- her keinerlei Zwang ausgesetzt wer- schichtsinitiativen, Geschichtswerk- den dürften52. stätten, Geschichtsvereine oder eben auch Schulklassen. 2006 beispiels- AlsweiteresThemahatauchder weise ging der Preis an Schüler der »Antimilitarismus« deutliche ju- Integrierten Gesamtschule Mann- gendpolitische Bezüge. Dabei geht es heim-Herzogenried. nicht nur unter friedenspolitischen Aspekten um Abrüstung und gegen Bemerkenswerterweise gelingt es Auslandseinsätze der Bundeswehr, linksextremistischen Organisationen sondern auch gegen die Präsenz von immer wieder, an Schulen Präsenz zu Bundeswehrvertretern an Schulen, zeigen. So berichtete im Jahr 2008 gegen Veranstaltungen der Bundes- auch eine Regionalzeitung der Partei wehr auf Messen, an Unis etc. zum »DIE LINKE.« von der Veranstal- angeblichen Zweck der Nachwuchs- tung »politischer Tage« durch ihre Ju- werbung. Die SDAJ beispielsweise gendorganisation »Linksjugend [’so- startete Anfang 2010 eine »Antimili- lid]« an Schulen in Ravensburg mit tarismuskampagne«. In diesem Rah- Diskussionen zu verschiedenen The- men veranstaltete sie Konzerte und men50. Aktionen gegen die Bundeswehr, ge- gen »Krieg und Kapitalismus« und Eine Rolle spielen im Übrigen auch gab eine weitere CD heraus. Schülerzeitungen, die mit dem Ziel der »Ideologisierung« und der »Re- Welche anderen jugendpolitischen krutierung« von Schülern verbreitet Aktivitäten Linksextremisten auf werden. Dazu gehört auch »das diesem Aktionsfeld entfalten, zeigte scheinbar unpolitische und unver- sich 2003 am Beispiel der Antikriegs- fängliche Angebot an Außenstehen- bewegung im Vorfeld des drohenden de«51, »Teil einer Gemeinschaft zu Irakkrieges. Wie die SDAJ riefen be- werden, Gruppenerlebnisse zu teilen sonders auch trotzkistische Organi- und eine interessante Freizeitgestal- sationen Schüler und Studenten zu tung bereitzustellen«. Es geht freilich Demonstrationen und Streiks am auch darum, »Widerstandspotential« »Tag X«, dem Tag des Kriegsbeginns, unter den Schülern zu erzeugen. So auf. Die SAV organisierte in einzel- setzte sich die Jugendzeitung »uto- nen Städten durch die von ihr initi- pia« mit der »Zwangsanstalt Schule« ierte Gruppierung »Schülerinnen

49 Alfred Hausser Preis; www.vvn.telebus.de/ (gelesen 3. Juli 2012). 50 Neues Ravensburg Nr.9 vom März 2008 S.3. 51 Senatsverwaltung für Inneres, Abteilung Verfassungsschutz, Schülerzeitungen als Rekrutierungsstrategie des Extre- mismus, Berlin November 2005, S.2. 52 utopia Nr.1 vom Herbst 2007; www.jugendzeitung.net/ (gelesen 28. Mai 2008). 216 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN und Schüler gegen den Krieg/wider- sie das »Recht auf Bildung, Ausbil- stand international!« Veranstaltun- dung, auf Studium und auf Arbeit« genanSchulen,»um die Idee des einforderte. Unter den hochschulpo- Schülerstreiks zu verbreiten«53.An- litischen Forderungen ist der Protest geblich tourten in Berlin »AktivistIn- gegen Studiengebühren ein zentrales nen … durch Schulen und stell[t]en Thema von »Linksjugend [’solid]«. die Streikidee auf den Schulhöfen und im Unterricht« vor54.InStuttgart Engagiert war die SDAJ auch in der habe das Komitee »SchülerInnen und Hochzeit der sogenannten »Bil- Studierende gegen den Krieg« eine dungsstreikbewegung« 2008/09. Hier Jugendkonferenz mit 100 Teilneh- konzentrierte sie sich »auf die Grün- mern veranstaltet, die offenbar der dung von Schülerbündnissen und die Mobilisierung zu Anti-Kriegs-Pro- aktive Mitarbeit in ihnen«57.Ander testen dienen sollte. Die SAV selbst Organisierung und Durchführung rief dazu auf, in Schulen und Univer- des bundesweiten »Bildungsstreiks« sitäten Streiks am »Tag X« zu organi- und der Gründung von »Schüler- sieren55. AktionsKomitees« waren darüber hi- naus sämtliche der oben vorgestellten Auf dem nicht minder zentralen bil- linksextremistischenJugendorganisa- dungs- und sozialpolitischen Gebiet tionen beteiligt. schließlich geht es darum, die Forde- rungen der Jugendlichen zu unter- Das bündnispolitische Vorgehen stützen und sich für ihre tatsäch- beim bundesweiten »Bildungsstreik« lichen oder vermeintlichen Rechte vom 17. November 2011 hat exem- einzusetzen, sei es im Bereich Schule, plarisch eine DKP-Aktivistin aus Es- Bildung und Ausbildung oder im sen geschildert: Zunächst habe man Kampf gegen Arbeitslosigkeit, gegen Einladungen verschickt »an alle mög- Leiharbeit, fehlende Lehrstellen und lichen Jugendorganisationen …, um Ausbildungsplätze in der Wirtschaft das Bündnis breiter aufzustellen. Da- oder für höhere Löhne. 2007 be- zugewonnen haben wir die DGB-Ju- schloss die SDAJ mit ihrem »Jugend- gend, die GEW und die Falken. Um Aktionsprogramm« unter dem Motto SchülerInnen anzusprechen, führten »Zeit sich zu wehren! Gemeinsam wir zur Mobilisierung neben den gegen Bildungsabbau und Ausbil- standardmäßigen Schulverteilungen dungsplatzvernichtung – Gemeinsam [Flyer] und Plakatierungen eine Mo- gegen Zukunftskiller«56 eine ihrer bi-Party, einen Flashmob in der In- wenigen eigenen Kampagnen, in der nenstadt und ein Konzert mit lokalen

53 Schüler- und Studierendenstreiks gegen den Krieg; www.sozialismus.info/ (gelesen 28. Juni 2012). 54 Ebd. 55 Ebd. 56 www.sdaj-netz.de/download (gelesen 28. Juni 2012). 57 Björn Schmidt, Zur Arbeit der SDAJ. 6. Tagungdes Parteivorstands der DKP am 26./27. November 2011 in Essen. DKP- Informationen Nr.4/2011 vom 30. November 2011; www.kommunisten.de (gelesen 6. Februar 2012). BETTINA BLANK 217

Schülerbands bei der Abschlusskund- etwa über Vorbereitungstreffen für gebung durch«58. SDAJ und DKP größere Aktionen. Kampagnen sind waren nach eigenen Angaben bei der ein zentraler Bestandteil der Bünd- Organisierung führend engagiert, nispolitik von Linksextremisten. ebenso mit Rednern auf Demonstra- Bündnisse zur Unterstützung ju- tionen sowie in der Demoleitung59. gendspezifischer Belange stellen in- soweit häufig eine Mischung aus Über den Kampf um tagespolitische linksextremistischen Organisationen Forderungen vergessen Linksextre- und ihren Kinder- und Jugendver- misten freilich nicht das übergeord- bänden sowie Schüler- und Gewerk- nete Ziel:»Als revolutionärer Jugend- schaftsjugendvertretungen dar. In verband«, so heißt es bei der SDAJ, Bündnissen sei, so beschrieb es der »sehen wir unsere Aufgabe darin, die SDAJ-Vorsitzende in einem Inter- Bereitschaft zum Kampf für die Ver- view zum Thema »Bildungsstreik«, besserung der eigenen Lage in Schule die »vorrangige Aufgabe …, die Kon- und Betrieb zu verbinden mit unse- takte und Verbindungen zu Schüler- rem revolutionären Ziel«60.Esgeht vertretungen zu nutzen und zu stei- darum, Schüler auf längerfristige gern. Den Bildungsstreik wollen wir Auseinandersetzungen hinzuführen. auch dafür nutzen, die längerfristige Eine große Rolle spielt die Bündnis- Interessenvertretung an Schulen zu politik. Dabei ist es ein wichtiges Ziel stärken, eben auch durch eine Politi- von Linksextremisten, Schüler und sierung von Schülervertretungen«61. Jugendliche aus allen Schultypen so- Im Rahmen der Bildungsstreikbewe- wie Auszubildende zusammenzu- gung sah die DKP »die Möglichkeit«, führen. Es sind u.a. die teilweise durch die Beteiligung an Demonstra- erwähnten themenbezogenen Kam- tionen etc. »praktisch einzugreifen«. pagnen, in deren Zusammenhang »In der Vorbereitung gab es Bünd- Kontakte über bereits bestehende nisse mit dem Anspruch, neben Schü- Verbindungen hinaus zu interessier- lerinnen und Studierenden, Auszubil- ten Jugendlichen und anderen dende, Eltern, Lehrer und Angestellte Jugendorganisationen, darunter Ge- der Hochschulen und Universitäten werkschaftsjugend und eben Schüler- zusammenzuholen«. Als Aufgabe der vertretungen, hergestellt werden. Partei wurde definiert,»dort,wowir Personelle Verknüpfungen entstehen in den Bündnissen verankert sind, lo-

58 Anne Walter, Jugendarbeit in Essen, 6.Tagung des Parteivorstands der DKP am 26./27. November 2011 in Essen. DKP-Informationen Nr.4/2011 vom 30. November 2011; www.kommunisten.de (gelesen 6. Februar 2012). 59 Ebd. 60 Björn Schmidt, Zur Arbeit der SDAJ. 6. Tagung des Parteivorstands der DKP am 26./27. November 2011 in Essen. DKP-Informationen Nr.4/2011 vom 30. November 2011; www.kommunisten.de (gelesen 6. Februar 2012). 61 »XX. Bundeskongress: ›Die SDAJ in den kommenden Klassenkämpfen stark machen!‹«, www.sdaj-netz.de (gelesen 7. Februar 2012) 218 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN gistische Unterstützung zu leisten ben wir ein konkretes politisches und bei der Organisation des Protest Thema und unterstützen immer ein zu helfen«62. bestimmtes Projekt«63.Ineinemsol- chen Zusammenhang werden die Auf dem attraktivsten und aussichts- Kinder auch für Spendensammlun- reichsten Feld, im Freizeitbereich, gen eingesetzt. MLPD wie DKP nut- sind linksextremistische Organisatio- zen jede Gelegenheit für eine offen- nen noch immer in der Lage, mit sive Werbung für ihre Kinder- und einem eigenen Veranstaltungsange- Jugendveranstaltungen, vom Ausle- bot auf Jugendliche zuzugehen bzw. gen von Prospekten an geeigneten öf- gewonnene Mitglieder möglichst fentlichen Orten (Waldheime, Bü- dauerhaft an sich zu binden. Bei den chereien) über Artikel in Stadtteilzei- parteinahen Kinder- und Jugend- tungen bis hin zur gezielten Anspra- organisationen stehen besonders che von Kindern im Bekanntenkreis. Ferienlager verschiedener Art im Bei den Sommercamps werden Ju- Vordergrund: Die MLPD bietet ein gendliche aus der Umgebung zu Sommerferienlager (»September- Sportveranstaltungen (Ballspiele etc.) camp«) für Neun- bis 14-Jährige, all- eingeladen. Das besonders Bemer- jährliche »Pfingstcamps«fürSechs- kenswerte an den MLPD-Freizeiten bis 14-Jährige, Sport- und Spiele-Wo- ist, dass die Partei planmäßig die Ar- chenenden (Fußball, Kajak, Radwan- beitskraft von Kindern und Jugendli- derungen etc.), Schlittenwochenen- chen zum eigenen Vorteil, d.h. zur den sowie Seminare für Jugendliche Wertsteigerung des Immobilienver- und Erwachsene an. Bei letzteren mögens, heranzieht. »Kinder, Ju- geht es u.a. um »politische Jugend- gendliche und ihre Vorarbeiter« hät- und Bildungsarbeit«, d.h. Nach- ten sich, so berichtete das Parteiorgan wuchsarbeit und politische Diskus- »Rote Fahne« 2008, über das »Som- sion. Alle zwei Jahre findet ein »In- mercamp« in Truckenthal (Thürin- ternationales Pfingstjugendtreffen« gen) in den vergangenen Jahren »viel statt. Darüber hinaus gibt es Kinder- Arbeit« gehabt bei der Grundreno- feste und »Kindertreffs« zu bestimm- vierung von 15 Hütten. Jedes Jahr ten Anlässen. Im Rahmen dieser Frei- habe es einen »Sozialistischen Wett- zeitangebote stehen Sport und Spiel bewerb bei den Baueinsätzen« gege- sowie politische Indoktrination ne- ben: »Welche Gruppe hat am besten beneinander. So berichtete auch »ze- gemeinsam gearbeitet und gelernt, bra«, die Kinderzeitung der »Roten Verantwortung und Fähigkeiten zu Peperoni«: »In jedem Ferienlager ha- entwickeln?«64

62 Wera Richter, Überlegungen zur Jugendpolitik der DKP. 6. Tagung des Parteivorstands der DKP 26./27. November 2011 in Essen; DKP-Informationen Nr.4/2011 vom 30. November 2011; www.kommunisten.de (gelesen 6. Februar 2012). 63 zebra. Kinderzeitung der Roten Peperoni, Ausgabe März 2008, S.13. 64 RF Nr.19 v. 9.5.2008, S.9. BETTINA BLANK 219

Auch die SDAJ veranstaltet seit 1972 Einzelpersonen, insbesondere der in der Tradition des ehemaligen Gewerkschaften und ihrer Jugendor- »Kommunistischen Jugendverban- ganisationen«67.Die»Jugendtreffen« des Deutschlands« (KJVD) jährlich schaffen, so heißt es, die »Möglich- wechselnd zentrale bzw. dezentrale keit, gemeinsam mit anderen anti- »Pfingstcamps«,soz.B.2011das faschistisch engagierten Jugendlichen »Pfingstcamp Nord«, vom 10. bis 13. zusammenzukommen, Wissen zu Juni 2011 in Kiel, den, wie es hieß, erarbeiten, das auch in ihrem Alltag »ideale[n] Mix aus Strand, Sonne, angewendet werden kann, Spaß zu Party und Politik«65. 2011 fand erst- haben – und auch Mitglied unserer mals seit mehr als zehn Jahren wieder Organisation zu werden. Das ein »Ost-Pfingstcamp« bei Berlin Jugendtreffen vermittelt das Gefühl, statt66. Die »Linksjugend [’solid]« nicht alleine zu sein, mal wieder wirbt für ihr »Pfingstcamp« mit sehr Kraft zu tanken«68. Auf den »Anti- moderaten Preisen und u.a. der Mög- faschistischen Jugendtreffen« finden lichkeit einer Fahrtkostenerstattung. regelmäßig Beteiligte aus VVN- Die trotzkistische SAV veranstaltet BdA, DKP, SDAJ, autonomer An- ein »linkes Sommercamp«. »Antifa- tifa, »Linksjugend [’solid]« und Camps« wie das bundesweite »Anti- Gewerkschaftsvertreter zueinander. facamp« Dortmund oder das jährlich Zu einer bundesweiten Vernetzung stattfindende »AntifaCamp Weimar/ »antifaschistischer« Jugendarbeit Buchenwald« finden unter maßgebli- hätten, so behauptet die VVN-BdA, cher Beteiligung von autonomen bundesweite »antifaschistische« »Ju- Gruppen und Organisationen wie gendkongresse« und das alljährlich der VVN-BdA statt. in Berlin stattfindende bundesweite »Antifaschistische Jugendtreffen« bei- Zu dem Spektrum der Angebote ge- getragen. Die Jugendkongresse fin- hören außerdem sogenannte »Ju- den bereits seit 1999 statt, und auch gendtreffen« wie die »Antifaschisti- das »Antifaschistische Jugendtref- schen Jugendtreffen« der VVN-BdA. fen« sei »in den vielen Jahren seines Die VVN-BdA erfreut sich dabei Bestehens ein fester Bezugspunkt im angeblich steigenden Zuspruchs antifaschistischen Spektrum gewor- »befreundeter Organisationen und den und inzwischen aus der Ju-

65 http://pfingstcamp.blogsport.eu/ (gelesen 11. April 2012). 66 www.ostcamp.de/ (gelesen 28. Juni 2012). 67 Esther Broß, Rede auf dem Festakt 60 Jahre VVN am 5. Mai 2007 in Friedrichshafen; www.vvn-os.telebus.de/ (ge- lesen 10. Mai 2012). 68 Ebd. 220 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN gend-Antifa-Szene nicht mehr weg aktueller politischer Entwicklungen. zu denken«69. Die Zeit sollte genutzt werden, um »die Interessen der Kapitalisten zu er- Die Palette jugendpolitischer Veran- gründen und Widerstand gegen Krise, staltungen wird ergänzt durch Krieg und Faschismus zu organisie- »Jugendkongresse« wie den »Antifa ren!«72 Was in Diskussionsrunden Jugendkongress« in Berlin am 11. Juli den Teilnehmern an politischer Sicht- 2007 oder Festivals wie das »Festival weise vermittelt werden sollte, zeigt der Jugend« der SDAJ, das nach lang- ein Blick auf das politische Programm jähriger Pause seit 2008, dem Jahr ih- der Veranstaltung. Dort heißt es u.a.: res 40-jährigen Bestehens, wieder alle »1.Allesmussmanselbermachen– zwei Jahre im Kölner Jugendpark Was NSU-Terror, Extremismusklau- stattfindet, und das nach eigenen sel und die Diskussion ums NPD-Ver- Angaben zuletzt ca. 1.000 Besucher bot für unsere antifaschistische Arbeit anzuziehen vermochte. Eingeladen bedeuten: Der NSU/VS Skandal hat waren »SchülerInnen, Azubis, junge gezeigt, dass man sich mit Nichten auf Erwerbslose und natürlich auch alle staatliche Strukturen bei antifaschisti- solidarischen Älteren«70 Bereits 2008 scher Arbeit verlassen kann. Antifa- hieß es: »Party for your right to fight! schistInnen werden bei jeder Aktion; Die SDAJ tritt den Beweis an, dass Demo oder Veranstaltung Steine in Politik und Party sich nicht im Wege den Weg gelegt, sie müssen sich mit stehen«71. Zum Programm gehörten dem Vorwurf, sie seien ›Extremisten‹ u.a. ein Fußballturnier, ein »Graffiti- auseinandersetzen und sind in ihrer Workshop«, ein »Arbeiterjugend- politischen Arbeit immer von Repres- Frühschoppen« oder ein »SchülerIn- sionenbedroht.Gelderfürantifaschis- nen Treffen«, Lesungen, Diskussionen tische Arbeit werden mit der ›Extre- und anderes mehr. 2012 wurde unter mismusklausel‹ gekürzt, während der dem Motto »Zeit zu feiern, Zeit zu Verfassungsschutzden Aufbaurechter kämpfen! – Nazifreie Zonen schaf- Strukturen mitfinanziert.«73 fen!« eingeladen. Ein »Mix aus Poli- tik-, Kultur- und Spaßprogramm« Daneben nutzte die DKP laut Pro- wurde kombiniert mit der Diskussion grammankündigung die Gelegenheit,

69 Ebd. Ein Beispiel für ihre politische »Aufklärungsarbeit« bei Jugendlichen im Zeichen des »Antifaschismus« gab die VVN-BdA selbst mit dem Bericht über eine Diskussionsveranstaltung in Konstanz Ende 2006 im Rahmen der Ausstel- lung »Neofaschismus in Deutschland«, die »von 20 Neonazis überfallen« worden sei: »Als die Polizei eintraf nahm sie 11 Beteiligte fest. Sie erwartet nun eine Anzeige wegen Landfriedensbruch. Die Schüler waren sichtlich geschockt, setzten die Veranstaltung aber fort. Die Diskussion drehte sich hauptsächlich um die Frage des NPD-Verbots, aber im- mer wider kamen Schüler auf grundsätzlichere Fragen zu sprechen: Welche Rolle spielen soziale Verhältnisse bei der Ausbreitung des Rechtsextremismus? Wie weit sind extrem rechte Vorstellungen in der Bevölkerung verbreitet? Und können wir, wenn wir von Faschismus reden, vom Kapitalismus schweigen?« Vgl. Antifa Nachrichten Nr.1 von 2007 (Hervorhebung von der Verfasserin). 70 »Zeit zu kämpfen – Zeit zu feiern; http://fescht.blogsport.de/ (gelesen 13. Mai 2008). 71 zeit zu kämpfen – zeit zu feiern: festival der jugend, 9.–12. Mai 2008, jugendpark köln; www.dkp-darmstadt.de (gelesen 30. März 2012) 72 Festival der Jugend 2.5.–28.5.2012; www.sdaj-netz.de (gelesen 30. März 2012). 73 Ebd. BETTINA BLANK 221 sich vorzustellen und für Mitarbeit 4. Abschließende Betrachtung zuwerben.AuchumdiePolitikder SDAJ ging es in einer Fragerunde mit Linksextremisten verfügen über die Funktionären, u.a. um »heraus[zu]fin- organisatorischen Voraussetzungen den, warum wir den Kapitalismus und das Know-how, um Jugendliche letztendlich überwinden müssen um für ihre Ziele zu gewinnen. Die Me- unsere Rechte auf Bildung, Arbeit thode, um jugendliche Anhänger zu und Ausbildung umzusetzen«.Ne- rekrutieren, ist die, sich als deren ben dem Thema »Bildungsstreik« Interessenvertreter zu präsentieren, war Lorenz Knorr von der VVN- aktiv für die Belange von Schülern, BdA als Zeitzeuge für den »Wider- Auszubildenden, jungen Arbeitern stand gegen den Faschismus«ange- und Studenten einzutreten und diese kündigt. zu entsprechendem politischem En- gagement zu mobilisieren. Linksex- In Ostdeutschland führen beispiels- tremisten nutzen die Bereitschaft weise in Mecklenburg-Vorpommern junger Menschen zu sozialem bzw. DKP-Gruppen jährlich »speziell für politischem Engagement für ihre die politisch interessierte Jugend« Zwecke. Sie kommen deren Bedürf- Jugendseminare durch, »bei denen je- nis nach Aktivität und dem Wunsch, dermann einen Einblick in das Arbei- »etwas bewegen« zu wollen, mit ih- ten und Wirken der DKP erhalten ren Angeboten entgegen. kann, gefolgt von Vorträgen von Gastrednern zum Themengebiet Politische Zugpferde der Schüler- Sozialismus und Kommunismus und und Jugendpolitik von Linksex- anschließend mit von jährlich interes- tremisten sind vor allem der einem santerwerdender Abschlussdiskussio- spezifischen politischen Verständnis nen.«74 unterliegende »Kampf gegen Rechts« und das Thema »Antimilitarismus« Auch sonstige Tagungen und Kon- sowie im »Kampf für die eigenen In- gresse sind ausdrücklich als An- teressen« soziale Fragen (Bildung, ziehungspunkte auch für Schüler Ausbildung, Arbeit, Tarifpolitik), die gedacht, wie die alljährlichen »Sozia- mit marxistischer Gesellschaftskritik lismustage« der SAV oder 2008 der verbunden werden. Kongress von »Linksjugend [’solid]« zum Thema »40 Jahre 1968 – Die Versuche der Einflussnahme begin- letzte Schlacht gewinnen wir!«75. nen bereits bei Kindern. Auf kindge-

74 www.dkp-neubrandenburg.de (gelesen 6. Februar 2012; Fehler im Original). 75 www.1968kongress.de. 222 JUGENDARBEIT VON LINKSEXTREMISTEN rechte, spielerische Art werden sie an über den Freundes- und Bekannten- entsprechend aufbereitete politische kreis ihrer Kinder informiert sein. Themen und Fragestellungen heran- Politische Aufklärung, Sensibilisie- geführt. Bei ihnen wie bei Jugend- rung und Immunisierung gegen Ex- lichen und Heranwachsenden wird tremismus wären Stichworte für ei- eine bewusste Verknüpfung von nen Präventionsansatz, der vor allem Sport und Spaß mit Politik prak- »Hilfe zur Selbsthilfe« vermittelt. tiziert, eine Kombination von attrak- Damit ist die Entwicklung der Fähig- tiven Freizeitaktivitäten mit politisch keit gemeint, linksextremistische und gefärbter »Aufklärungsarbeit« und damit verfassungsfeindliche Inhalte »Informationsvermittlung«. Eine zu erkennen und politische, aber auch wichtige Rolle spielen persönliche scheinbar unpolitische Angebote Bekanntschaften und Kontakte, aber linksextremistischer bzw. linksextre- ebenso die vermittelten Gemein- mistisch beeinflusster Organisatio- schafts- und Gruppenerlebnisse. nen und Gruppierungen kritisch zu hinterfragen und offen zu diskutie- Die Ziele linksextremistischer Ju- ren. Gerade bei Linksextremisten ist gendarbeit liegen auf der Hand: Es besondere Aufmerksamkeit geboten, geht um politische Bewusstseinsbil- da sie sich oftmals erfolgreich als dung, um die geistige Loslösung von »die Guten« darzustellen wissen, Kindern und Jugendlichen aus ihrem und ihnen im Vergleich zum Rechts- »bürgerlichen« Umfeld, ihre Politi- extremismus eine deutlich höhere sierung und schließlich Radikalisie- gesellschaftliche Akzeptanz entge- rung. Vor allem Elternhäuser, Schulen gengebracht wird, die ihnen die Mög- und sonstige Bildungseinrichtungen lichkeit eröffnet, ihren politischen sind daher gefordert, um einer Ein- Botschaften durchaus wirkungsvoll flussnahme von Linksextremisten Gehör zu verschaffen. entgegenzuwirken. Eltern sollten

INTERNATIONALER EXTREMISMUS UND TERRORISMUS

60 VERFASSUNGSSCHUTZ 1952 – 2012

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»Ihr seid unsere Zukunft!« Muslimische Jugendszenen in Deutschland

CLAUDIA DANTSCHKE

»Ihr Jugendlichen seid die Zukunft Allah segnete sie wie ein Ak-Gewehr vom Islam und ihr Jugendlichen seid gerichtet auf den Feind, der den Islam diejenigen, Insha’Allah, die in Zu- bekämpft. kunft die Fahne vom Islam hochhal- Nach vorn, nach vorn, so wie man ten sollten. () Es ist wichtig, gerade für Mujahedin nur kennt. …« die Jugend, dass ihr eine Sache be- (Denis Cuspert alias Abu Talha al-Al- denkt: Es ist wichtig, bei Allah (s.a.) mani, ehemals bekannt als Rapper ›in zu sein‹. Das ist das Wichtigste!« Deso Dogg, »Millatu-Ibrahim«) (Roman Reinders alias Abu Bilal, »Dawa FFM«) »Wir dürfen nicht zulassen, dass sie das Bild unserer Religion in der Öf- »Wenn sich jemand ein Vorbild neh- fentlichkeit bestimmen. Es liegt an men möchte, dann soll er sich jeman- jedem von uns, die Deutungshoheit den nehmen, der schon gestorben ist. des Islam wieder dem Mainstream Und wer sind diese Leute, die man zurückzugeben und seinen Beitrag zu sich als Vorbilder nehmen sollte? Die einer geistigen Blüte des Islam und Sahaba des Propheten Mohammad. () einer gebenden sozialen Seite unserer Diese Sahaba waren mit 17, mit 18 ReligioninDeutschlandzuleisten.« Anführer einer Armee. Heute würde (Muhammad Sameer Murtaza, 30- man sagen, das sind Kinder. Ihr Ziel jähriger Islamwissenschaftler und war das Paradies, nicht irgendwelche Mitarbeiter der Stiftung Weltethos) weltlichen Dinge im Leben zu errei- chen, sondern ihr Ziel war Allahs Wohlgefallen. () Ohne diese Leute »Es gibt keine Loyalität wäre die Religion nicht zu uns ge- im Falschen«1 kommen.« (Said el-Emrani alias Abu Dujana, Zwischen dem 11. und dem 22. März »Die wahre Religion«) 2012 hielt nicht nur ganz Frankreich den Atem an: Mohammad Merah, ein »Eine kleine Gruppe auf dem rechten 23-jähriger Franzose mit algerischem Weg, Familienhintergrund, hatte sieben egal was kommt, egal wer geht, Menschen, darunter drei Kinder, er- sie bleiben stets festhaltend bestehen, mordetundsichineinemHausim geführt vom Herrn sind sie zu sehen. südfranzösischen Toulouse ver- Es waren wenige, doch wurden sie schanzt. Nach über 30 Stunden Bela- mehr, gerung wurde er beim Zugriff durch

1 Muhammad Sameer Murtaza, »Jenseits von Eden«, http://islam.de/20027. 228 »IHR SEID UNSERE ZUKUNFT!« MUSLIMISCHE JUGENDSZENEN IN DEUTSCHLAND die Polizei von einem Scharfschützen die Mehrheit der Muslime davor erschossen. Merah hatte sich selbst als gesträubt in das Herz der Finsternis »Gotteskrieger« bezeichnet und be- vorzustoßen und eine religionsge- hauptet, der »al-Qaida« nahezuste- schichtliche Erklärung für den Terror hen. im Namen des Islam vorzulegen«. In seinem Aufsatz stellt er deshalb seine Der aus Bonn stammende 30-jährige ideengeschichtliche Analyse der Jihadist Abu Adam al-Almani (Mou- theologischen Wurzeln von Terror im nir Chouka) preist in einer Audio- Namen des Islam zur Debatte. Von botschaft aus dem pakistanischen den Machern der »Islamischen Waziristan, die Anfang April auf- Zeitung« nach den Gründen für tauchte, den Attentäter Mohammad »sprachlich eher schwammige« Ter- Merah als »Ritter von Toulouse«. ror-Distanzierungen muslimischer Dessen Mordtaten bezeichnet Repräsentanten befragt, verweist Chouka als »Racheakt für die hinter- Murtaza auf das Fehlen einer (inner- hältigen und blutigen Verbrechen der islamischen) Diskussionskultur der französischen Armee« und »Reak- Muslime in Deutschland, da sich eine tion auf die Verbrechen der Juden, die intellektuelle Elite gerade erst in An- über eine Million palästinensische sätzen herausbilde. »Zum anderen Kinder auf dem Gewissen haben«. dürfen wir aber auch nicht übersehen, Muslime, die sich von Merah und sei- dass die meisten Muslime, die in Ver- nen Taten distanzierten und an den bänden tätig sind, in erster Linie eh- Trauerzügen für die Opfer beteiligt renamtliche Funktionäre sind und haben, geißelt Chouka als Muslime, keine Gelehrten oder Wissenschaft- die ihrer Religion den Rücken ge- ler«, fügt er einschränkend hinzu. kehrt hätten. Allah aber wolle, so Viele Funktionäre seien mit den Chouka, dass »du deine Religion mit Herausforderungen gänzlich über- Blut unterstreichst. Zunächst mit fordert gewesen, hätten aber doch dem Blut der Feinde und dann mit Großes geleistet. Murtaza sieht aber deinem eigenen Blut!« auch bei den Organisationen und Verbänden einen Wandel hin zu mehr Das veranlasste den 30-jährigen Professionalität. »Und es rückt auch deutschen Muslim und Islamwissen- ein intellektuell anderes Kaliber in die schaftler Muhammad Sameer Mur- Führungspositionen vor«. taza,indieOffensivezugehen.Insei- nem vielbeachteten Aufsatz »Jenseits Ein Spitze kann sich Murtaza dann von Eden«, den er auf der Internet- aber doch nicht verkneifen. Er sei seite www.islam.de veröffentlichte, gespannt, »wie die so genannten ruft er die Muslime auf, »sich inhalt- Jugendorganisationen ›Muslimische lich mit den Wurzeln der Gewalt im Jugend in Deutschland‹ und ›Lifema- NamenGotteszubeschäftigen«.»Bis kers‹ eigentlich auf diese Entwick- heute«, so Murtazas Kritik, »hat sich lung reagieren wollen, denn auffälli- CLAUDIA DANTSCHKE 229 ger Weise sind diese gar nicht mehr sellschaft, in der wir aufgewachsen präsent«.2 sind, identifizieren und versuchen, hier auch die muslimische Identität mitzugestalten«, beschreibt der Mar- Jung, deutsch und Muslim ketingbeauftragte Nabil Chabrak in einem Interview mit Muslime-TV5 »Jetzt sprechen wir!«, titelt selbstbe- die Macher seines Heftes. wusst das Blog des muslimischen Ju- gendmagazins »Cube-Mag«. Anfang Das »Cube-Mag« ist kein oberfläch- 2010 ging die erste Ausgabe dieses liches Lifestyle-Magazin, aber auch deutschsprachigen Magazins online, kein islamisch-theologisches Heft. damals noch unter dem Namen Die Autoren wenden sich mit ihren »Muslim – The Next Generation«. Artikeln sowohl an Muslime wie Inzwischen ist das fünfte Heft in ei- Nichtmuslime und bieten einen viel- ner Druckauflage von 2.500 Exem- fältigen und auch selbstkritischen plaren erschienen. Muslimische Ju- Einblick in »die Themen und Ideen, gendliche zwischen 18 und 25 Jahren die unsere Generation bewegen, be- habensichhierzusammengetan,um schäftigen und aufwühlen«. So wer- »endlich nicht mehr stumm dazusit- den innerislamische Tabuthemen auf- zen und sich anhören zu müssen, wie gegriffen, um einen Austausch mit man als Muslim denn wirklich sei, den eigenen Eltern und religiösen was man denke und warum man wie Vorbildern voranzubringen. Selbst- handeln würde«.3 Zwar finanziert bewusst setzen sie sich aber auch mit sich das Projekt inzwischen durch den Mythen, die sich um muslimische Verkauf und Werbeanzeigen, doch Jungen und Mädchen ranken, oder wird es maßgeblich getragen von dem Projektionen, derer sie sich ständig ehrenamtlichen Engagement seiner argumentativ erwehren müssen, aus- unterschiedlichen Autorinnen und einander. Analysiert werden zudem Autoren. Es sind junge Leute, »die die politischen Entwicklungen in den zumeist in Deutschland geboren und arabischen Ländern oder die empfun- aufgewachsen sind. Sie sind hier zur dene Einschränkung der Religions- Schule gegangen, machen jetzt ihr freiheit in europäischen Ländern, Abitur, studieren oder arbeiten be- wenn es um den Islam geht. reits. Ihre Religion, der Islam, ist es, was sie vereint und dazu bewegt aktiv Herausgeberin des Magazins ist die zu sein«4. »Was uns vielleicht heraus- 21-jährige Studentin Yasmina Abd el- stellt ist, dass wir jung sind, dass wir Kader. Sie engagierte sich bereits in kreativ sind, dass wir uns mit der Ge- Bremen bei der muslimischen Ju-

2 Islamische Zeitung, Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza zum Einfluss radikaler Strömungen, 22.04.2012, http://islamische-zeitung.de/?id=15706. 3 »Pssssst, über solche Themen redet man doch nicht!«, http://islam.de/19814. 4 Vgl. »Über uns« auf: www.cube-mag.de. 5 http://muslime.tv/?p=1241 (gesehen am 20. April 2012). 230 »IHR SEID UNSERE ZUKUNFT!« MUSLIMISCHE JUGENDSZENEN IN DEUTSCHLAND gendinitiative »Lifemakers«. Das Islamische Vielfalt Credo des »Cube-Mag« – sich an den Diskussionen in der Gesellschaft aus Während sich ein Teil der muslimi- muslimischem Blickwinkel zu betei- schen Jugendlichen zu neuen Initiati- ligen und der muslimischen Jugend ven und Netzwerken zusammenfin- eine Stimme zu geben – ist letztend- det, versuchen andere, ihren Platz in lich die publizistische Umsetzung des den klassischen Islamverbänden zu »Lifemakers«-Ansatzes. finden. Im Blick der Öffentlichkeit stehen dabei die vier Dachverbände Die Idee der »Lifemakers« stammt Islamrat (IGMG – Milli Görü¸s), von dem »bekanntesten arabischen Zentralrat der Muslime (türkische TV-Imam«, dem ägyptischen Fern- und arabische Sunniten sowie Schii- sehprediger Amr Khaled. In seinen ten), DITIB (türkisch-sunnitischer seit 2004 sowohl im arabischen Raum Staatsislam) und VIKZ (Anhänger ei- als auch in Europa ausgestrahlten nes türkisch-sunnitischen Ordens). Fernsehshows wandte sich Amr Kha- Das organisatorische Spektrum ist je- led speziell an die muslimischen Ju- doch vielfältiger und umfasst weit gendlichen und ermutigte sie, sich in mehr als die klassischen Moscheever- ihren jeweiligen Gesellschaften pro- eine. Ganz unterschiedlich gestaltet gressiv einzubringen. Er stärkte das sich dabei die aktive Einbeziehung Selbstwertgefühl junger Muslime, in- der Jugendlichen. Zum Teil haben sie dem er ihnen deutlich machte, dass sie die Leitung von den Älteren über- ihren Gesellschaften etwas zu bieten nommen, zum Teil tut sich die ältere haben. Überall entstanden kleine Generation aber auch schwer damit, Gruppen und Netzwerke, die soge- den Stab an die Jugend zu übergeben. nannten »Lifemakers«. In Deutsch- land begann diese Bewegung im Jahr Eine aktuelle Studie zum »Islami- 2005 und umfasste in kürzester Zeit schen Gemeindeleben in Deutsch- etwa 400 aktive muslimische Jugend- land«, die im Auftrag der Deutschen liche zwischen 16 und 30 Jahren, da- Islamkonferenz erstellt wurde, stellt runter ein hoher Anteil Mädchen und fest, dass sich »in rund der Hälfte der junge Frauen. befragten Gemeinden bereits ein in- tergenerationaler Wandel insofern Inzwischen hat die Initiative »Life- vollzogen hat, als der Vereinsvorsit- makers« als Struktur zwar an Bedeu- zende der Nachfolgegeneration ent- tung verloren. Die dahinterstehenden stammt bzw. die Nachfolgegenera- Ideen Amr Khaleds finden aber in tion unter den Nutzern dominiert«6. vielfältiger Form ihre praktische Um- Diese Nachfolgegeneration ist jedoch setzung. meist bereits in den Vierzigern. Mehr

6 Halm, Dirk/Sauer, Martina/Schmidt, Jana/Stichs, Anja (2012), »Islamisches Gemeindeleben in Deutschland« For- schungsbericht 13, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 98. CLAUDIA DANTSCHKE 231

Aufschluss über die Einbindung von Befragt nach den nicht-religiösen Tä- Jugendlichen gibt deshalb die Befra- tigkeitsbereichen, geben 37 % der be- gung der Gemeinden nach ihrer orga- fragten Religionsbediensteten an, nisatorischen Ausdifferenzierung. So »dass sie mit den Kindern und Ju- verfügen »83 % der befragten Ge- gendlichen Sport machen. An zweiter meinden über eine eigene Jugendab- Stelle folgen mit 34 % Aktivitäten teilung«7. Leider wird in der Studie im künstlerischen und/oder kultu- nachfolgend lediglich auf die Imame rellen Bereich. Durch Nachhilfe und Religionsbediensteten eingegan- oder Hausaufgabenhilfe unterstützen gen, wenn es um die Angebote dieser 27 % der Religionsbediensteten ihre Jugendabteilungen im nicht-religiö- noch nicht erwachsenen Gemeinde- sen Bereich geht. So erfährt man mitglieder. Die nicht weiter spezifi- nichts über die komplexen Organisa- zierte Kategorie ›sonstiges‹ wird von tionsstrukturen bei den großen Ver- immerhin 17 % benannt«9.Über- bänden DITIB und IGMG im Hin- proportional häufig gaben Imame blick auf die Vorstandsmitglieder, die der DITIB und der IGMG dabei für die Jugendarbeit zuständig sind. an »sich in der Kinder- und Jugendar- Die Autoren der Studie konzentrie- beit sportlich, künstlerisch oder kul- ren sich auf die Imame und kommen turell zu betätigen. Sie bevorzugen zum Ergebnis, dass vor allem im damit Tätigkeitsbereiche, die auch VIKZ diese »überproportional häu- ohne vertiefende Kenntnisse über fig sowohl in der religiösen als auch Deutschland sowie deutsche Sprach- nicht-religiösen Kinder- und Jugend- kenntnisse ausgeübt werden kön- arbeit aktiv sind (72,6 %)«. »Der nen«, lautet die Schlussfolgerung der VIKZ«, so die Schlussfolgerung der Autoren.10 Damit formulieren sie Studie, »scheint damit hohen Wert gleichzeitig eine der Ursachen für die auf Nachwuchsarbeit zu legen und Schwierigkeiten beider Verbände, seine Imame mit dieser Aufgabe zu den Bedürfnissen in Deutschland betrauen«. »Im Unterschied dazu sozialisierter Jugendlicher wirklich nehmen befragte Imame der DITIB gerecht werden zu können. (65 %) und die IGMG (63,9 %) etwas seltener beide Aufgabenbereiche Viele dieser Imame fühlen sich zudem wahr, dafür ist (bei ihnen) der Anteil durch die Inanspruchnahme bei der derjenigen, die nur religiöse Ange- nicht-religiösen Kinder- und Jugend- bote an Kinder und Jugendliche rich- arbeit, dem Umgang mit familiären ten, höher«8. An dieser Stelle wäre ein Problemen (wie etwa Gewalt in der Blick auf die erwähnten Vorsitzenden Familie, Generationenkonflikte u. Ä.) der Jugendabteilungen beider Ver- sowie dem Umgang mit Sucht- und bände mehr als angebracht gewesen. Kriminalitätsproblemen überfordert.

7 Ebenda, S. 73. 8 Ebenda, S. 357. 9 Ebenda, S. 360. 10 Ebenda, S. 360. 232 »IHR SEID UNSERE ZUKUNFT!« MUSLIMISCHE JUGENDSZENEN IN DEUTSCHLAND

So ist es nicht überraschend, dass die Sprache und Kultur erhalten dabei Studie feststellt, dass bei einem eine quasi religiöse Bedeutung. Eine »Großteil der befragten Religionsbe- starke Orientierung der Vereinsvor- diensteten Fort- und Weiterbildung- stände auf das Herkunftsland ver- sinteresse besteht«,dadieseTätigkei- stärkt diese Entwicklung, stößt aber ten »vermutlich keinen Schwerpunkt vor allem bei gesellschaftlich interes- in ihrer Ausbildung darstellte«. Am sierten und engagierten Jugendlichen häufigsten äußern die Imame dieses zunehmend auf Ablehnung. Interesse im Hinblick auf die Berei- che pädagogische Lehrmethoden so- Innerhalb dieses heterogenen Spek- wie Jugendarbeit: DITIB 82,1 %; trumsgibtesauchgezielteBestre- IGMG 81,4 %; VIKZ 91,4 %; sons- bungen, die internen Segmentierun- tige nicht-türkisch geprägte Gemein- gen zu überwinden und zu einer den 93 %.11 tatsächlichen und nicht nur nach außen dargestellten »islamischen Für die Komplexität muslimischer Einheit« zu gelangen. Die Grundlage Jugendkulturen spielt neben den un- dafür bildet eine panislamisch ausge- terschiedlichen religiösen Interpreta- richtete, also von Nationalität, Spra- tionen und der Anbindung an islami- che und Kultur losgelöste Islaminter- sche Gemeinden auch die soziale pretation. Das Verbindende ist allein Schichtung eine Rolle. So werden die Religion, weshalb diese Gruppen ethnische/nationale Bezüge am sehr pragmatisch die jeweilige Ver- stärksten in einem eher mittelständi- kehrssprache, hierzulande also schen, sozial integrierten und bil- Deutsch, zur Kommunikation nut- dungsnahen Milieu von religiösen zen. Zwar dominieren Jugendliche Bekenntnissen verdrängt, während es türkischer oder arabischer Herkunft in den bildungsferneren Milieus oft diese Gruppen, insgesamt sind sie zu einer Mischung von Religion und aber multinational zusammengesetzt nationaler Herkunft kommt. Auch undübenauchaufjungedeutsche politische Konflikte in den Her- Konvertiten beiderlei Geschlechts kunftsländern der Familien prägen eine gewisse Anziehungskraft aus. nationale Orientierungen von Ju- Auch dieses Milieu unterteilt sich in gendlichen. Bei den Jugendlichen tür- verschiedene Szenen. kischer Herkunft resultiert die Kom- bination aus ethnischer/nationaler und religiöser Orientierung aus ei- Jugendliche als Teil traditioneller nem von verschiedenen islamischen Verbandsarbeit: Organisationen oder dem Elternhaus Milli-Görü˛s-Jugend geprägten Religionsverständnis, das als »türkisch-islamische Synthese« Die größte Jugendszene der sunni- bezeichnet wird. Herkunft, türkische tisch-panislamischen Strömung dürf-

11 Ebenda, S. 400. CLAUDIA DANTSCHKE 233 te immer noch die Milli-Görü˛s-Ju- Vor allem in den bildungsnahen Krei- gend sein. Die Anzahl der Mitglieder sen der Milli-Görü˛s-Jugend treten des Jugendverbandes (IGMG-Gen¸c- die tradierten türkischkulturellen lik) beläuft sich auf etwa 15.000 mehr Elemente immer stärker zugunsten oder weniger aktive Jungen und Mäd- einer europäischen islamisch-konser- chen12 in Europa (etwa 70 Prozent vativen Orientierung in den Hinter- davon in Deutschland). Zwar ist diese grund. Die Abhängigkeit von der Szene in der gelebten Mitgliedschaft Mutterbewegung wird von einigen noch stark sprachlich und kulturell jungen IGMG-Funktionären offen türkisch geprägt, die zugrundelie- infrage gestellt. gende Ideologie des im Februar 2011 mit 84 Jahren verstorbenen Milli- Im Gesamtkonzept der Milli Görü˛s Görü˛s-Führers Necmettin Erbakan für Europa kommt der jungen Gene- ist jedoch auf einen Panislamismus ration vor allem eine Aufgabe zu: Die ausgerichtet und in ihrem Kern eine Jugendlichen sollen als gute Muslime türkische Spielart der Ideologie der aktiv werden, da sie das Bild der Mus- arabischen Muslimbruderschaft. lime prägen, und dieses Bild müsse Während die Mutterbewegung in der ein positives, ein perfektes sein. Mit Türkei bereits im Sommer 2001 der Ende 2006 gestarteten Jugendof- durch die Spaltung in Reformer und fensive wendet sich die IGMG jedoch Traditionalisten an Bedeutung verlo- primär an die Erwachsenen, die sich renhatunddertraditionalistischeEr- stärker um die Jugendlichen küm- bakan-Flügel, die Saadet-Partei, seit mern sollen, denn »schließlich gibt es 2010 durch interne Streitereien und noch zehntausend Jugendliche, die durch den Tod des ideologischen wir noch erreichen müssen und die Kopfes wohl endgültig zu einem Fos- vielen Problemen ausgesetzt sind. () sil der Geschichte geworden ist, ver- Es ist nicht genug, sie zu organisie- zeichnete der nach wie vor mit der ren; wir müssen sie in unsere Ge- Saadet-Partei verbundene europäi- meinschaft aufnehmen und sie für die sche Arm der Bewegung, die IGMG, Zukunft und für die Gesellschaft er- nur einen leichten Rückgang seiner ziehen.«13 Das dazugehörige Projekt Mitgliederzahlen. Wie lange der noch »Gesprächskreise 2000« findet vor Erbakans Tod auserkorene gleichzeitig überall in Europa statt. IGMG-Vorsitzende Kemal Ergün die Es zielt auf Nachbarn und Bekannte Einheit der IGMG in der jetzigen re- ab, die zum Gespräch auf lokaler ligiös-politischen Ausrichtung halten Ebene eingeladen werden. Bei den kann, bleibt abzuwarten. Treffen wird über verschiedene

12 Bei der IGMG werden nur die Jungen ab 12 Jahren der Jugendabteilung zugeordnet, für die Mädchen gibt es eine eigene Jugendabteilung innerhalb der Frauenabteilung. 13 Freitagspredigt (Hutba), »Gesprächskreise für Jugendliche«, 24. November 2006, www.igmg.de/islam/freitagspre- digt/artikel/2006/11/24/413.html?L= %20 %2Fphprojekt %2Flib %2Fconfig.inc.php.html.html (gelesen am 9. April 2012). 234 »IHR SEID UNSERE ZUKUNFT!« MUSLIMISCHE JUGENDSZENEN IN DEUTSCHLAND

Islamthemen gesprochen, vor allem jekt inzwischen auch in weiteren Re- soll das »Gemeinschafts- und Brüder- gionalverbänden der IGMG wie lichkeitsbewusstsein« gestärkt werden. Köln, Hannover, Nord-Ruhr und Eltern sollen Jugendliche ermutigen, Düsseldorf, umgesetzt werden und an diesem Programm teilzunehmen. »auch vom Vorstand der IGMG »Wir als Milli-Görü˛s möchten die Ju- große Anerkennung« erfahren ha- gendlichen in aller Hinsicht fördern. ben.16 Sowohl auf Facebook als auch () Es ist unsere größte Aufgabe, sie zu bei YouTube finden sich türkisch- fleißigen, zielstrebigen und mit gu- sprachige Werbevideos und Kurz- tem Benehmen ausgestatteten Men- berichte sowie zahlreiche Fotos zu schen zu erziehen.«14 diesem Projekt, zu dem auch Bil- dungs- und Erholungsreisen, soge- Im Jahr 2008 wurde von der Jugend- nannte »Yıldız Camps«, sowie Fahr- abteilung des IGMG-Regionalver- tenindieTürkeigehören17.Mit bandes »RuhrA« das Projekt »Yıldız diesen Reisen werde den Kindern die Gen¸clik« (»Stern-Jugend«) gestartet, Möglichkeit geboten, so der Vorsit- um Jugendliche (junge Männer ab zende der Bildungsabteilung eines 17 Jahre) für Leitungsaufgaben in der IGMG-Regionalverbandes, »unter Organisation fitzumachen. »Das der Betreuung professioneller Päda- Projekt hat das Ziel, muslimische gogen und Lehrer ihre Ferien sinn- Jugendliche, neben der schulischen voll zu gestalten«18. Im Verfassungs- und beruflichen Ausbildung auch im schutzbericht des Bundes für das Jahr Bereich des Religionsunterrichtes 2010 wird auf das für das Projekt er- intensiv zu fördern und ihr Allge- stellte »Handbuch für die Yildiz-Ju- meinwissen zu erweitern. Die Pro- gend« hingewiesen. Dieses vermittle jektleiter erhoffen sich, dass die auch das ideologische Grundgerüst Projektteilnehmer am Ende ihrer der »Milli-Görü˛s-Bewegung«. »So Ausbildung mit dem erworbenen stehen u.a. die ›Gerechte Ordnung‹ Wissen eine Vorbildfunktion für ihre (Adil Düzen) sowie die ›Mission und Generation ausüben können und auf Vision der Milli-Görü˛s‹ auf dem der Verbandsebene wichtige Positio- Lehrplan.«19 Schaut man sich die In- nen einnehmen«, heißt es dazu aus ternetseite www.yildizgenclik.de der der IGMG-Jugendabteilung15.Nach IGMG-Jugendabteilung des Kreises eigener Darstellung soll dieses Pro- Freiburg-Donau an, so deutet auch

14 Ebenda. 15 IGMG-Jugendabteilung, Recep Demiray, »Das Interesse am Projekt ›Yıldız Gen¸clik‹ wächst«, 25. April 2009, www.igmg.de/nachrichten/artikel/2009/04/25/das-interesse-am-projekt-yildiz-genclik-waechst.html (abgelesen am 15. April 2012). 16 Ebenda. 17 U.a. hier: www.youtube.com/watch?v=zquYge2JsgM. 18 www.igmg.de/nachrichten/artikel/2012/01/16/bildungs-und-erholungsreise-yildiz-camp-stiess-auf-grosses-inte- resse.html (abgelesen am 15. April 2012). 19 Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 2010, S. 268, www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/ Broschueren/2011/vsb2010.pdf?__blob=publicationFile. CLAUDIA DANTSCHKE 235 sie auf eine enge Anbindung dieses und 27 Jahren. Hier sammeln die Ju- Projektes an die »Milli-Görüs-Ideo- gendlichen eigenständig Erfahrun- logie« hin, nicht zuletzt verkörpert gen, einige professionalisieren sich, durch die Tageszeitung »Milli Ga- um dann später in der Alevitischen zete«. Gemeinde Funktionen zu überneh- men. Neben dieser eher traditionellen Jugendarbeit des Verbandes laufen Die ca. 500.000 anatolischen Aleviten seit einiger Zeit aber auch Versuche, (Türken und Kurden aus der Türkei) den jungen Erwachsenen auf allen in Deutschland werden unabhängig Ebenen mehr Autonomie zu gewäh- von ihrer Selbstdefinition in den Sta- ren und damit ihre aktive Mitbe- tistiken unter »Muslime« subsumiert. stimmung zu erhöhen. Vor allem Sie selbst definieren sich z. T. als ei- die IGMG-Studentenabteilung kann gene Konfession innerhalb des Islam hier einige Erfolge für sich verbu- oder als aus dem Islam hervorgegan- chen. Letztendlich ist es der Versuch, gene oder vom Islam beeinflusste ei- die Jugendlichen bei der Organisa- gene Religionsgemeinschaft neben tion zu halten und zu verhindern, den Muslimen. Historisch ist das ana- dass sie in die immer zahlreicher tolische Alevitentum eine synkretis- werdenden alternativen muslimi- tische Sonderform im Islam auf schii- schen Jugendszenen abwandern, tischer Grundlage mit vorislamischen seien es die »Pop-Muslime«, salafiti- und islamisch-mystischen Einflüs- sche Gruppen oder das Fethullah- sen. Aleviten beten nicht in der Mo- Gülen-Bildungsnetzwerk. schee, sondern nutzen für ihre reli- giösen und sozialen Gemeindeaktivi- täten Cem-Häuser, Männer und Bund der Alevitischen Jugendli- Frauen gemeinsam und nicht vonein- chen in Deutschland e.V. ander getrennt. Der Koran ist für Aleviten lediglich die Niederschrift Im Unterschied zu Milli Görü˛sver- von Offenbarungen, die kritisch gele- folgen die anatolischen Aleviten eher sen werden dürfen. Sie fasten nicht im einen kooperativen Ansatz, ver- Ramadan und lehnen generell eine gleichbar mit den Jugendorganisatio- dogmatische Religionsauslegung und nen der politischen Parteien. In die Scharia ab. Lange Zeit wurden sie Deutschland gibt es mehrere ale- von der sunnitischen Mehrheit als vitische Organisationen, die größte Häretiker stigmatisiert und verfolgt. und repräsentativste ist die »Aleviti- Diese Diskriminierungen setzten sich sche Gemeinde Deutschland e. V.« in Deutschland fort, so dass sich Ju- (AABF). Sie kooperiert mit dem gendliche, die sich primär als Aleviten »Bund der Alevitischen Jugendlichen begreifen, von Jugendlichen abgren- in Deutschland e. V.« (BDAJ), einer zen, die sich primär sunnitisch oder Selbstorganisation von alevitischen schiitisch als Muslim definieren. Jugendlichen im Alter zwischen 16 236 »IHR SEID UNSERE ZUKUNFT!« MUSLIMISCHE JUGENDSZENEN IN DEUTSCHLAND

Muslimische Jugend in Deutsch- MJD und die von der MJD über ihren land (MJD) ehemaligen Buchverlag Green Palace verbreitete religiöse Literatur haben Die»MuslimischeJugendin der MJD wohl nicht zu Unrecht den Deutschland« (MJD) ist eine bundes- Ruf einer inoffiziellen Jugend- und weit organisierte deutschsprachige Eliteorganisation dieses politisch-is- Organisation für muslimische Ju- lamischen Spektrums eingebracht. gendliche zwischen 13 und 30 Jahren aus eher bildungsorientierten und so- Die MJD ist in Lokalkreise geglie- zial integrierten Schichten, darunter dert, der Vorstand nennt sich Schura, zahlreiche Jugendliche bikultureller Vorstandsvorsitzender ist der Amir. Herkunft sowie Konvertiten. Sie Die registrierte Mitgliederzahl der stellt sich selbst als eigenständige und MJD soll sich zwischen 600 und 900 unabhängige Jugendorganisation dar. bewegen, zu den Jahrestreffen mel- Auch wenn diese Darstellung nicht den sich über 1.000 muslimische ganz der Realität entspricht, so ist die Jugendliche an, darunter ein hoher MJD immerhin die größte Organisa- Anteil junger Frauen. Auch wenn tion der sozial engagierten sunni- männliche und weibliche Mitglieder tisch-konservativen »Pop-Muslime«. der MJD gemeinsam zu regionalen Treffen reisen, wird die konserva- Gegründet wurde die MJD 1994 nach tiv-islamische Geschlechtertrennung dem Vorbild der britischen Young grundsätzlich eingehalten und prak- Muslims.20 Der erste Vorsitzende war tiziert. So gibt es für Mädchen und Muhammad Siddiq (Wolfgang Borg- Jungen jeweils eigene mehrtägige feldt), ein deutscher Konvertit und Jugendlager, bei denen das Gemein- Leiter des Lützelbacher Vereins schaftsgefühl und der Gruppenzu- »Haus des Islam (HDI)«. Dieser Ver- sammenhalt gestärkt werden sollen. ein unterstützt bis heute die MJD, Im Zentrum der MJD-Jugendarbeit u.a. bei den jährlichen Meetings oder steht das Bemühen, die religiöse den Brüder- und Schwestern-Lagern. Selbstdefinition als gläubiger und Personelle Verflechtungen zwischen praktizierender Muslim mit dem Le- ehemaligen MJD-Vorsitzenden21 und ben in Deutschland zu verbinden. Organisationen, die der Muslimbru- Beides wird nicht im Widerspruch derschaft zugerechnet werden, spezi- zueinander gesehen. Elemente urba- ell die »Islamische Gemeinschaft in ner, nichtreligiöser Jugendkulturen Deutschland e.V.« (IGD)22,dieEmp- wie Hip-Hop oder Graffiti werden fehlung verschiedener Autoritäten adaptiert und mit den eigenen religiö- dieses Spektrums als Referenten senInhaltengefüllt.DieJugendarbeit durch das Lokalkreis-Handbuch der der MJD ist hochprofessionell, wie

20 Jugendabteilung der Islamic Society of Britain, siehe: www.isb.org.uk/pages06/home.asp#. 21 U.a. Khallad Swaid. 22 Vgl. u.a. Verfassungsschutzbericht Berlin für das Jahr 2010, Seite 184 ff., www.berlin.de/imperia/md/content/seninn/ verfassungsschutz/vs_bericht_2010_deutsch.pdf?start&ts=1310032941&file=vs_bericht_2010_deutsch.pdf. CLAUDIA DANTSCHKE 237 die Handbücher für die Lokalkreise wichtige Autorität bezeichnet« habe. mit ihren Hinweisen für eine erfolg- »Wir haben uns lediglich in einzelnen reiche Organisation von Jugendgrup- Fragen auf den ECFR bezogen – etwa pen zeigen.23 zu Fragen des Reisens, der Musik und der Teilnahme an Wahlen. In Fragen, Sowohl die Milli-Görü˛s-Jugend als bei denen wir uns nicht auf ihn bezie- auch die MJD sind Teil eines europäi- hen, haben wir eine erkennbar eigene schen Netzwerkes, zu dem neben der Position. In einigen Fällen betreffen Jugend- und Studentenorganisation uns seine Ansichten als deutsche Ju- FEMYSO auch der offiziell in Irland gendorganisation nicht. Das ist vor ansässige Europäische Fatwa-Rat allem bei außenpolitischen Themen (European Council for Fatwa and der Fall«, so Abul Ola.24 Research – ECFR) gehört. An dessen Spitze steht der einflussreichste Ge- lehrte der arabischen Muslimbruder- Salafitische Strömungen schaft, Yusuf al-Qaradawi. In einem Interview mit ufuq.de relativiert der Distanzierter zur nichtmuslimischen aktuelle MJD-Vorsitzende, Hischam Umwelt und kompromissloser in ih- Abul Ola, nicht nur die Einbindung rem Islamverständnis verhalten sich seiner Organisation in dieses Netz- die an fundamentalistischen saudi- werk, sondern auch dessen politisch- arabischen Gelehrten ausgerichteten ideologische Ausrichtung. »Gleich salafitischen Gruppen. Sie propagie- wie man zum ECFR stehen mag und ren eine absolute Souveränität Gottes wie man ihn ideologisch zuordnet – in allen Lebensbereichen und orien- unbestreitbar ist, dass er zu den tieren sich am Vorbild der »lauteren wenigen gehört, die, zumindest in Vorfahren« (al-salaf al-salih) und Teilbereichen, zufriedenstellende damit an einem fiktiven »Urislam«, Antworten für religiöse Muslime in einem vermeintlich reinen Islam zu Europa liefern«, erläutert Abul Ola Zeiten des Propheten Mohammad das Verhältnis der MJD zum ECFR. und seiner Nachfolger im 7. und 8. Zu den Positionen Qaradawis be- Jahrhundert. Kennzeichnend für fragt, dass außerehelicher Sexualver- diese Strömungen ist der Missionsei- kehr und Homosexualität als schwere fer, der Muslime wie Nichtmuslime Sünden auch mit drastischen Körper- betrifft (Da’awa), die Abwertung all strafen bis hin zur Todesstrafe geahn- derjenigen, die nicht ihrer dogmati- det werden sollen und Selbstmordat- schen Islaminterpretation folgen25, tentate in Israel legitim seien, erklärt sowie die extreme Ablehnung der der MJD-Vorsitzende, dass seine Or- Schiiten und der islamischen Mysti- ganisation »Qaradawi nie als für uns ker (Sufis).

23 www.lokalkreis-handbuch.de (abgelesen am 1. April 2012). 24 ufuq.de, »Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat«, Newsletter Nr.17/Mai 2010. 25 Diese Abwertung kann so weit führen, dass Muslime zu Nichtmuslimen (Ungläubigen) erklärt werden: takfir – je- manden zum Nichtmuslim (kafir, Pl.: kuffar) erklären. 238 »IHR SEID UNSERE ZUKUNFT!« MUSLIMISCHE JUGENDSZENEN IN DEUTSCHLAND

Das Grundprinzip salafitischen Den- vor allem bei Jugendlichen Anklang, kens (Aqida – Glaubensgrundlage) ist ob mit oder ohne Migrationshinter- das Konzept von »al-Wala` wa`l- grund, ob aus muslimischem oder Bara«. Wörtlich übersetzt heißt die- nichtmuslimischem Elternhaus. ses »Loyalität und Lossagung für Al- lah« und bedeutet, dass Loyalität nur Salafismus ist aber keine homogene gegenüber Allah und seinen Gesetzen Bewegung, sondern ein Sammelbe- erlaubt sei. Von allem, was nicht in griff für mehrere Strömungen, wobei Übereinstimmung mit Allahs Gebo- die Übergänge fließend sind. Es gibt ten stehe (wie Salafiten sie verstehen), die Puristen, die streng dogmatisch- müssten gläubige Muslime sich lossa- religiös fundamentalistisch leben, gen. In den radikalen salafitischen aber weder Gewalt noch Hass predi- Strömungen wird dieses Prinzip gen.Siehaltensichvonpolitischen nicht nur als Ablehnung und Abgren- Aktionen fern, auch wenn sie privat zung interpretiert, sondern zum Hass eine religiöse Ordnung für die auf alles »Nichtislamische« zuge- bessere halten. Dann gibt es den spitzt. sogenannten Mainstream-Salafismus, dem auch die Mehrheit der Salafiten Besonderen Wert legen Salafiten auf in Deutschland anhängt. Hier geht es die Einhaltung der konservativen um politische Aktionen und vor Ethik- und Moralvorstellungen: allem um eine offensive Bekanntma- Strenge Kleidervorschriften, Ge- chung mit dem Islam (Da’awa) – in schlechtertrennung und das Verbot salafitischer Lesart natürlich. Demo- von außerehelicher Sexualität sind kratie als System wird offen abge- Dogmen, mit denen die moralische lehnt, auch propagandistisch als Weg Überlegenheit »des Islam« gegenüber des Unglaubens diffamiert, der direkt der als dekadent und materialistisch in die Hölle führe. Es wird aber keine beschriebenen demokratischen Ge- Gewalt legitimiert oder offen für ei- sellschaft demonstriert werden soll. nen Umsturz geworben. Vielmehr Nur ein »sündenfreies« Leben im würde sich die Demokratie selbst er- Dienste Gottes garantiere den Einzug übrigen, wenn nur genug Menschen ins Paradies. Radikale salafitische zum »wahren Glauben« fänden, wes- Strömungen propagieren darüber hi- halb Muslime, die noch nicht dem naus Gewalt als legitimes Mittel im salafitischen Weg folgen und Nicht- Kampf gegen die »Feinde des Islam«. muslime »aufgeklärt« werden müss- Jeder Muslim sei zum Jihad (hier ten. »heiliger Krieg«) verpflichtet, wenn »der Islam« irgendwo auf der Welt Zur dritten und gefährlichen Strö- unterdrückt oder angegriffen werde. mung gehören die eingangs mit Zita- ten dargestellten Jungprediger der In Deutschland tritt die salafitische Gruppen »Die wahre Religion«, Bewegung seit 2005 offensiv missio- »Dawa FFM« und »Millatu-Ibra- nierend in Erscheinung und findet him«: Sie gehen einen Schritt weiter CLAUDIA DANTSCHKE 239 als die politisch-missionarischen und »falsch«, »gut« und »böse« Mainstream-Salafiten und legitimie- bieten den Jugendlichen eine klar ab- ren auch Gewalt. Ihre Argumenta- grenzbare Identität und ein überstei- tion setzt nicht nur auf Abgrenzung, gertes Selbstwertgefühl, u. a. mit sie verknüpfen diese Abgrenzung mit ihrem Anspruch, die »einzig richtige« massiven Abwertungen selbst der Islaminterpretation zu verkünden. gemäßigten Salafiten, mit Diffamie- Gleichzeitig sprechen sie das Gerech- rungen und Hass. Da die Muslime tigkeitsempfinden der Jugendlichen überall auf der Welt diskriminiert an, indem sie das Bild einer globalen würden und der Islam überall ange- Opfergemeinschaft der Muslime griffen werde, sei jeder »wahre Mus- zeichnen. Jeder Konflikt wird einge- lim« zur Verteidigung aufgerufen, passt in das Schema »Krieg des Wes- wobei Gewalt – in Form des bewaff- tens (der Ungläubigen) gegen den neten Jihad – ein legitimes Mittel sei. Islam und die Muslime«. Wenn sich Diese Strömung bildet den Übergang Muslime gegen allgegenwärtige Dis- zum jihadistischen Salafismus, also kriminierungen und Unterdrückung zu denen, die nicht mehr »nur« reden, wehrten, dann sei das ein Kampf für sondern handeln. Gerechtigkeit, argumentieren salafi- tische Prediger unablässig.27 Das Internet und die sozialen Netz- werke sind überfüllt mit den deutsch- Sie bieten damit den Jugendlichen und türkischsprachigen Videos sala- scheinbar einen Ausweg aus einem als fitischer Vorträge, Clips religiöser perspektivlos und sinnlos empfunde- Propagandalieder (nasheed/anas- nen Leben. Gleichzeitig geben sie heed) oder ideologischen Schriften. ihnen eine Erklärung für erlebte Ent- Ob durch mehrtägige Seminare, täuschungen und/oder Ausgren- regelmäßige Vortragsnachmittage, zungserfahrungen – sei es im familiä- Infostände in Fußgängerzonen, ren, schulischen, gesellschaftlichen kostenlose Verteilung deutscher oder politischen Umfeld. Übersetzungen des Korans oder Großevents, die salafitischen Wan- Mit dem Bezug auf einen Hadith derprediger sind längst zu einer (Ausspruch) des Propheten Moham- Herausforderung für alle muslimi- mad, wonach dieser sagte: »Der Islam schen Gemeinden geworden, spre- begann als etwas Fremdes und wird chen sie doch die Jugendlichen in als etwas Fremdes wiederkommen. einer Weise an, wie es die traditionel- Das Paradies ist für die Fremden«, len Imame nicht vermögen. Die cha- wenden sie zudem Ausgrenzungser- rismatischen Autoritäten26 mit ihrer fahrungen muslimischer Jugendlicher dichotomen Weltsicht von »richtig« positiv um, wenn diese sich salafiti-

26 Der ehemalige Profiboxer Pierre Vogel ist zwar der bekannteste, er ist aber nur einer von vielen. 27 Ausführlich zum Thema Salafismus in: Dantschke, Mansour, Müller, Serbest, »Ich lebe nur für Allah« – Argumente und Anziehungskraft des Salafismus, Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin Sept. 2011, www.zen- trum-demokratische-kultur.de. 240 »IHR SEID UNSERE ZUKUNFT!« MUSLIMISCHE JUGENDSZENEN IN DEUTSCHLAND schen Gruppen anschließen. Das Ge- Knapp 5.000 Anhänger sollen die sa- fühl des Fremdseins wird romanti- lafitischen Strömungen in Deutsch- siert und heroisiert und die eigene land derzeit haben, wobei die Anzahl Gruppe zur Avantgarde stilisiert. Al salafitisch orientierter Jugendlicher Gharieb, der Fremde (Pl.: al Ghura- nicht bekannt ist. Die Zahl jihadis- baa), nennen sich manche Jugend- tisch orientierter Salafiten beträgt lichen selbstbewusst, wenn sie sich laut Verfassungsschutz nicht ganz dieser Bewegung angeschlossen ha- 200. Die Bedeutung der salafitischen ben. Auch die Gefährten des Prophe- Strömungen beruht jedoch nicht auf ten Mohammad (as-Sahaba) seien zu der Zahl ihrer Anhänger. Es sind vor ihrer Zeit Fremde gewesen, so Abu allem die Angebote im Internet, die Dujana, einer der Prediger des radi- den Einfluss dieser Strömungen aus- kal-salafitischen Netzwerks »Die machen, wo sie über eine klare Deu- wahre Religion«. »Der Prophet tungshoheit gegenüber anderen An- wurde mit Steinen beworfen, die Sa- geboten verfügen. Jugendliche, die im haba wurden getötet, sie wurden aus Internet nach Informationen über ihrem Land herausgetrieben, sie aber den Islam suchen, landen mit hoher haben das mit Stärke angenommen”, Wahrscheinlichkeit auf Seiten salafiti- erklärt er in einer seiner zahlreichen scher Akteure. Ansprachen den Jugendlichen. Abu Dujanas Ziel ist es, Jugendliche gegen Die neuen Medien ermöglichen es alle äußeren Einflüsse, Zweifel und auch jedem, selbst aktiv zu werden. auch Angst zu immunisieren. »Wenn Ob Internet, soziale Netzwerke oder mandenWegvonAllaheinschlägt, mobile Geräte wie iPhone und MP3- kriegt man Angst? Vor was? Du hast Player, wenigstens in der virtuellen die größte Belohnung bei Allah, du Welt kann das Bedürfnis nach Auf- kommst ins Paradies, wenn Allah mit merksamkeit befriedigt werden. Und dir zufrieden ist. Und die Fremden so hat sich längst eine Jugendkultur wird es immer geben und die Frem- herausgebildet, die man auch als den werden immer weniger sein. »Pop-Jihad« bezeichnen kann. Für Weil, zu dieser Kategorie zu gehören, vieleJugendlicheerfülltsieeineVen- das ist eine Auswahl, die musst du dir tilfunktion, denn sie ist die Aus- verdienen«.28 Es ist ein für Jugendli- drucksform, mit der heute ein Maxi- che attraktives Angebot, das ihnen mum an Protest und Abgrenzung Abu Dujana hier vermittelt: Du ausgedrückt werden kann. kannst zu einer auserwählten, exklu- siven Gruppe gehören, die durch Gefährlich wird es dann, wenn per- Standhaftigkeit, Ausdauer, Unabhän- sönliche Krisen, Orientierungslosig- gigkeit und Unbeirrbarkeit geprägt keit und Sinnsuche dazu führen, dass ist. Du kannst auf der Seite der Ge- der virtuelle Protest allein nicht mehr winner stehen. befriedigt. Längst hat der »Pop-

28 Abu Dujana, »Die Fremden«, www.youtube.com/watch?v=am-Uesfn720 (Teil 1 bis 3; abgerufen am 26. April 2012). CLAUDIA DANTSCHKE 241

Jihad« auch seine Kultfiguren, etwa chend ihrer politisch-ideologischen den ehemaligen Gangsta-Rapper oder dogmatisch-religiösen Orientie- Deso Dogg, der sich heute Abu Talha rung gestalten, ihre Überzeugung le- al Almani nennt. Der 1975 als Sohn ben und dafür auch aktiv werden, ge- einer deutschen Mutter und eines staltet sich die Affirmation gegenüber ghanaischen Vaters in Berlin-Kreuz- radikalen islamistischen Gruppierun- berg unter dem Namen Denis Mama- geninKreiseneherbildungsferner dou Cuspert geborene Ex-Rapper hat und sozial desintegrierter muslimi- selbst eine Wandlung vom orientie- scher Jugendlicher nach wie vor je- rungslosen und vom Leben ent- doch eher rhetorisch. Sie leiten aus täuschten »Ghetto-Jungen« zum ra- dem positiven Bezug auf die radika- dikal-salafitischen Provokateur voll- len und terroristisch agierenden Ji- zogen. Seine Lebensgeschichte macht had-Gruppen, deren Führungsperso- ihn für viele Jugendliche authentisch nen und »Märtyrer« für sich selbst und damit glaubwürdig. Er spricht ein Überlegenheitsgefühl und ein ihnen aus dem Herzen, wenn er von übersteigertes Selbstwertgefühl ab. Perspektivlosigkeit, emotionaler Es ist eher eine Kompensation erleb- Kälte und dem Abdriften in Krimina- ter eigener Ohnmacht und Perspek- lität und Drogensucht berichtet. Ge- tivlosigkeit sowie eine Flucht aus zielt setzt Cuspert seine Lebensge- dem Alltag. Die Selbstaufwertung er- schichte in Szene, ist er sich seiner folgt größtenteils über das Internet Vorbildwirkung doch mehr als be- und die dort veröffentlichten Ge- wusst. In Propagandagesängen und waltvideos. Im Alltag äußern sich Video-Vorträgen ruft er die Jugendli- diese Bezüge bei den Jugendlichen chen auf, seinem Weg zu folgen und nicht durch religiöses Verhalten oder aktiv zu werden: »Fürchtet Sie nicht Praktizieren der Religion, sondern – auch wenn wir hier in Deutschland eher durch einen das Männliche, sind und nicht so sterben können, wie Starke betonenden Habitus und in wir gerne möchten (auf dem Form von Sprüchen, aggressiven ver- Schlachtfeld), können wir doch aktiv balen Abgrenzungen entlang der Li- sein: durch Provokation, Bomben nie »Muslim«–»Nichtmuslim«. schmeißen im Internet. Denn Glück- seligkeit im Herzen gibt Allah nur Eine sehr wohl kleinere, schwer zu den wahren Gläubigen.« schätzende Anzahl von Jugendlichen geht über diese rhetorische und eher formale Identifikation hinaus. Sie be- Zwischen Ohnmacht und ziehen über das Internet nicht nur die Aktivität audiovisuellen Propagandamateria- lien, sondern auch die zahlreichen re- Im Unterschied zu den bildungsna- ligiös verbrämten ideologischen hen und sozial integrierten islamis- Schriften und Anweisungen und ma- tisch orientierten Jugendlichen, die chen sie sich zu eigen. Gleichzeitig ihren gesamten Lebensalltag entspre- vernetzen sie sich über Diskussions- 242 »IHR SEID UNSERE ZUKUNFT!« MUSLIMISCHE JUGENDSZENEN IN DEUTSCHLAND foren und es entsteht eine virtuelle »dem Islam« in Deutschland in all Gemeinschaft, die den Beteiligten das seinen Ausprägungen ein eigenes Ge- Gefühl gibt, einer weltweiten starken sicht verleiht, dem sich diese Ver- Gemeinschaft anzugehören, auch bände werden stellen müssen. Die wenn sie im Alltag recht einsam sind. u.a. mit dem Namen Sarrazin und der Frage »ob der Islam nun zu Deutsch- Das Internet, vor allem die sozialen land gehört oder nicht« verbundenen Netzwerke und die breite Blogger- ausgrenzenden Debatten des letzten szene, ist aber auch der Raum für Jahres haben vor allem diese engagier- progressive Debatten und die Erar- ten Kreise junger Muslime getroffen beitung neuer Identitätsansätze: und ein wenig den Schwung dieser Patchwork-Identitäten mit Wertpo- Entwicklung gebremst. sitionen, die sehr stark, aber nicht ausschließlich aus der Religion abge- Die Mordanschläge des jungen Fran- leitet werden. Diese jungen Muslime zosen Mohammad Merah sowie die zeichnet ein hohes Selbstwertgefühl aus Anlass der kostenlosen Vertei- aus, verbunden mit einer uneigennüt- lung zehntausender Koranexemplare zigen Einsatzbereitschaft – für die in zahlreichen deutschen Städten Gesellschaft an sich und für die Mus- durch ein radikal-salafitisches Netz- lime im Speziellen. Diskriminierun- werk29 im April 2012 explodierende gen und Ablehnungen durch diese mediale Berichterstattung über salafi- Gesellschaft spornen sie eher an, als tische Strömungen hat nun neuen dass sie sich entmutigen lassen. Ele- Schwung in diese Debatte gebracht, mente der Popkultur, ein eher kon- für die der eingangs zitierte Muham- servatives Religionsverständnis und mad Sameer Murtaza ein Beispiel ist. soziales und politisches Engagement kennzeichnet diese muslimische Ju- gendszene. Hier entsteht eine kleine, Hinweis: aber recht selbstbewusste Elite, die Dieser Beitrag gibt den Sachstand entweder den traditionellen islami- vom 30. April 2012 wieder. Neuere schen Verbänden neuen Schwung ge- EntwicklungensindindiesemBeitrag ben wird, so man sie denn lässt, oder nicht berücksichtigt.

29 »Die wahre Religion«, »Dawa FFM« und »Millatu-Ibrahim«. 243

Die Takfir-Bewegung im deutschsprachigen Raum: Radikale Ideologie einer elitären salafistischen Subströmung

MICHAEL REINHARD

1. Einleitung rung« anderer Muslime, zu »Über- treibern«gewordenzusein(Ghul¯at Eine radikale Fraktion innerhalb des al-Takf¯ır). salafistischen Spektrums, die seit eini- gen Jahren überwiegend virtuell in Das Urteil der »Exkommunizierung« Erscheinung tritt, provoziert tiefgrei- erstrecktsichbeiihnenineinempoli- fende Konflikte in der salafistischen tischen Sinne nicht nur auf die Füh- Szene, indem sie Muslimen im Allge- rungsebene einzelner Gesellschaften, meinen und anderen Salafisten im Be- sondern umfasst die gesamte Bevöl- sonderen ihren Glauben abspricht. kerung. Es werden gewissermaßen kollektiv ganze Gesellschaften so- Denn die Anhänger dieser Sonder- wohl in der islamischen als auch in form des Salafismus, die in Deutsch- der westlichen Welt exkommunziert, land innerhalb dieser religiösen Strö- wodurch einzelne Individuen ange- mung von der Personenstärke her halten werden, ihre Lossagung vom betrachtet eine Minderheit darstellt, Unglauben aktiv beweisen zu müs- gehen davon aus, dass gegenwärtig sen, um noch als Muslime gelten zu kein islamischer Staat existiere und dürfen. die gesamte Welt dem Unglauben an- heimgefallen sei. Dies impliziere auch In dieser Vorgehensweise unterschei- die Tatsache, dass die meisten soge- den sich diese radikalen Salafisten nannten Muslime eigentlich Ungläu- auch von allen anderen Salafisten. In bige seien, die man auch zu Ungläu- ihren extremen Ansichten gehen die bigen erklären müsse (Takf¯ır).1 Als Takfiristen sogar so weit, Vertretern Reaktion auf ihre fast schon inflatio- des Jihadismus ihre religiöse Legiti- när anmutende Verhängung des mation zu entziehen, da sie ebenfalls »Takf¯ır« über andere Muslime wer- in den Bereich der Häresie gerückt densievonihrenGegnern»Takfiris« werden. Denn Takfiristen delegiti- genannt. Daher werden diese Bewe- mieren einen Jih¯ad und halten die gung im Folgenden als Takfir-Sala- Bedingungen für einen religiös be- fismus und ihre Anhänger als Takfi- gründeten bewaffneten Kampf in der risten bzw. Takfiris bezeichnet. heutigen Zeit für nicht gegeben. IhnenwirdindiesenZusammenhang zur Last gelegt, hinsichtlich des Durch diese ideologischen Grundan- »Takf¯ır«, also der »Exkommunizie- nahmen sind sie zu allen anderen sala-

1 Im Folgenden erfolgt die Transkription der arabischen Begriffe nach einem einheitlichen System. Lediglich die zahlrei- chen Variationen unterworfene Umschrift in den Originalzitaten wird beibehalten. 244 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM fistischen Fraktionen in Deutschland ideologischen Positionen der Takfiris in ein antagonistisches Verhältnis insbesondere im Hinblick auf die getreten, wobei die ideologische Aus- Einstellung der anderen salafistischen einandersetzung und die damit ein- Strömungen. hergehenden Debatten in der Regel über einschlägige virtuelle salafisti- sche Kommunikationsplattformen 2. Typologie des Salafismus stattfinden.2 Im gegenwärtigen wissenschaftlichen ImFolgendenwirddieThesevertre- Diskurs über den Salafismus wird im ten, dass es sich beim Takfir-Salafis- Wesentlichen zwischen drei Haupt- mus um eine salafistische Subströ- kategorien unterschieden, auch wenn mung handelt, die im salafistischen die jeweils verwendete Terminologie Kontext hinreichende Distinktions- sich unterscheidet. Der Bezugsrah- merkmale aufweist, um als eigen- men für diese Kategorisierung ist ständiger Typus gelten zu können. hierbei fast immer ein saudischer ZudemlegenTakfiristeninihrenDe- bzw. außereuropäischer. Daher er- batten einen Schwerpunkt auf politi- weist sich auch eine unkritische sche Themen, die zwar thematisch Übernahme dieser Kategorien auf mit der Sichtweise anderer Salafisten den Kontext des sozio-politischen eine große Schnittmenge bilden, je- Systems der Bundesrepublik Deutsch- dochhinsichtlichderIntensität, land als problematisch, wie im Nach- Dichte und auch Schärfe in einer sala- folgenden erörtert wird. Lediglich fistischen Gesamtschau hervorste- Claudia Dantschke scheint hiervon chen. abzuweichen und hat ihrem vierdi- mensionalen Kategorienmodell für Zur Erörterung dieser Sachverhalte den Salafismus die Zustände in werde ich zunächst eine Typologie Deutschland zugrundegelegt, wobei des Salafismus in Deutschland erstel- auch bei ihr und ihren Kollegen der len, so dass in einer komparativen konkrete Bezugsrahmen nicht immer Sichtweise die Besonderheiten des ausdrücklich hervorgehoben wird.3 Takfir-Salafismus in Abgrenzung zu den anderen salafistischen Strömun- gen in Deutschland deutlicher zutage 2.1 Der jihadistische treten können. Nach einer Dar- Salafismus stellung der Entstehung und Aus- breitung des Takfir-Salafismus folgt Zunächst wird von allen Salafismus- anschließend eine Darlegung der forschern der sogenannte jihadisti-

2 Z. B. http://ahlu-sunnah.com. 3 »Die Ursachen von Radikalisierung bekämpfen« Salafismus-Forscherin Dantschke zum Umgang mit Islamisten, www.cibedo.de/vatikan_trkei0030000002011106.html, abgelesen am 20.11.2011.; Dantschke, Claudia; Mansur, Ah- mad; Müller, Jochen; Serbest, Yasemin: Ich lebe nur für Allah-Argumente und Anziehungskraft des Salafismus, Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin 2011. MICHAEL REINHARD 245 sche Salafismus (al-Salafiyya al-Jih¯a- salafiyya al-tanz¯. ımiyya) nennen.4 diyya) genannt. Dieser befürwortet Der Salafismusforscher Quintan ein sofortiges gewaltsames Vorgehen Wiktorowicz bezeichnet diese Form zur Etablierung einer islamischen so- des Salafismus als »politicos«. zio-politischen Ordnung, wie sie von Jihadisten gedacht wird. In der Regel Der »aktivistische Salafismus« zeich- wird hierbei nach dem Vorbild des net sich – neben seiner Rekurrierung frühislamischen Kalifats die Schaf- auf die allen salafistischen Strömun- fung eines transnational übergreifen- gen inhärenten Grundkonzepte im den Staates anvisiert. Jihadisten spre- Bereich der islamischen Glaubens- chen den bestehenden Staaten in der lehre – durch eine Übernahme von islamischen Welt ihre Legitimität mit strategischen Elementen der Muslim- dem Verweis auf ihre unzulängliche bruderschaft aus. Dies impliziert islamische Ausrichtung ab und rufen einen verstärkten politischen Akti- offen zum gewaltsamen Sturz islami- vismus, der sich sowohl in der Kritik scher Machthaber und Regenten auf. politischer Entscheidungsträger als auch in der Einflussnahme auf politi- Bezüglich dieser Kategorie besteht sche Willensbildungsprozesse nieder- bei allen Autoren, die sich mit dem schlägt. Die Verbreitung dieser sala- Phänomenbereich Salafismus befas- fistischen Subströmung ist untrenn- sen, Konsens hinsichtlich der ideolo- bar mit den saudischen Gelehrten Sa- gischen und strategischen Ausrich- far al-Ỏaw¯ali und Salman al-´Awda tung von jihadistischen Salafisten, die verbunden, die in den neunziger Jah- somit eine eigene Kategorie rechtfer- ren des vorigen Jahrhunderts als Gali- tigen. onsfiguren der sogenannten »Saỏwa- Bewegung« (Erweckungsbewegung) hervorstachen.5 2.2. Der aktivistische Salafismus Auch diese Kategorie wird von fast allen Salafismusforschern mit ver- Als nächste Kategorie lässt sich der gleichbaren Distinktionsmerkmalen »aktivistische Salafismus« (al-sala- genannt. fiyya al-da´wiyya/al-ỏarrakiyya/al-

4 Haykel, Bernard: On the Nature of Salafi Thought and Action, in: Roel Meijer (Hrsg): gobal salafism, London 2009, S.33–57; hier: S.48.; vgl. auch Mneimneh, Hassan: The Spring of a New Political Salafism, in: Current Trends in Isla- mist Ideology Vol.12, Hudson Institute 2011, S.21–36; hier: S.31 f. 5 Wiktorowicz, Quintan: Anatomy of the Salafi Movement, in: Studies in Conflict and Terrorism vol. 18 2006, S.207–239; hier: S.221 ff.; vgl. Mneimneh, Hassan: The Spring of a New Political Salafism, in: Current Trends in Islamist Ideology Vol.12, Hudson Institute 2011, S.21–36; hier: S.32; vgl. Haykel, Bernard: On the Nature of Salafi Thought and Action, in: Roel Meijer (Hrsg): gobal salafism, London 2009, S.33–57; hier: S.48. 246 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM

2.3. Der puristische Salafismus gungen nicht durch Gewalt, sondern durch einen Prozess von »Reinigung Als dritte salafistische Kategorie wird und Erziehung« (tasfiya. wa tarbiyya) im Fachdiskurs noch der sogenannte auf individueller Basis in den Gesell- »puristische Salafismus«6 erwähnt, schaften verankern möchte. der sich insbesondere mit den offziel- len Gelehrten von Saudi-Arabien ver- Als weitere Abgrenzung zum »puris- binden lässt. In Anlehnung an N¯asir. tischen Salafismus« unterscheidet al-d¯ın al-Alban¯ı, Abd´ al-Alz¯´ ız bin Hassan Mneimneh eine weitere Form B¯az und Muỏammad bin S¯. alih al- des Salafismus, die er »loyalistischer ´Uthaym¯ın zeichnet sich diese Form Salafismus« (salafiyya ahl-al-wala`) des Salafismus durch eine Ablehnung nennt. Vertreten durch den Gelehrten von politischem Aktivismus aus, der Rabi´ al-Madhkhal¯ı zeichnet sich sich insbesondere in Abgrenzung so- nach seiner Meinung diese Gruppe wohl zum »aktivistischen Salafis- durch eine verstärkte Loyalität ge- mus« als auch zum »Jihadismus« genüber politischen Machthabern durch die Ablehnung von politischer und Regenten aus und würde sich au- Organisation auszeichnet. Vertreter ßerdem mehr als üblich kritisch mit des »puristischen Salafismus« befür- anderen Personen aus der salafisti- worten auch eine Treue gegenüber schen Szene auseinandersetzen.8 Es den herrschenden Eliten, selbst wenn ist jedoch hierbei fraglich, ob die von diese punktuell von islamischen Nor- Mneimneh genannten Distinktions- men gemäß salafistischer Auslegung merkmale eine eigene Kategorie abweichen. Denn ein gewaltsames rechtfertigen. Denn von anderen Au- Vorgehen in diesem Zusammenhang torenwerdendiePositionenvonal- würde, so die Argumentation, zu Madkhal¯ı unter dem puristischen/ bürgerkriegsähnlichen Zuständen quietistischen Salafismus« subsu- (fitna) führen und sei im Rahmen ei- miert. 9 ner »Kosten-Nutzen-Abwägung« (masla. ỏa) abzulehnen. Dieser Salafis- Claudia Dantschke nennt zwar auch mus wird auch als »Akademischer Sa- die Kategorie »puristische Salafis- lafismus« (al-Salafiyya al-´ilmiyya)7 ten«, begründet diese Kategorisie- bezeichnet, da er sich angeblich ver- rung jedoch weniger inhaltlich mit stärkt mit rituellen Fragen auseinan- ideologischen Distinktionsmerkma- dersetzt und seine Grundüberzeu- len als vielmehr mit dem Grad des

6 Wiktorowicz, Quintan: Anatomy of the Salafi Movement, in: Studies in Conflict and Terrorism vol. 18 2006, S.207–239; hier: 217 ff. 7 Haykel, Bernard: On the Nature of Salafi Thought and Action, in: Roel Meijer (Hrsg): gobal salafism, London 2009, S.33–57; hier: S.49; vgl. Mneimneh, Hassan: The Spring of a New Political Salafism, in: Current Trends in Islamist Ideology Vol.12, Hudson Institute 2011, S.21–36; hier: S.30 8 Mneimneh, Hassan: The Spring of a New Political Salafism, in: Current Trends in Islamist Ideology Vol.12, Hudson Institute 2011, S.21–36; hier: S.32 f. 9 Haykel, Bernard: On the Nature of Salafi Thought and Action, in: Roel Meijer (Hrsg): gobal salafism, London 2009, S.33-57; hier: S.49. MICHAEL REINHARD 247

Aktivismus, den einzelne Anhänger die sich ohne weiteres operationa- ihrer Ansicht nach in Deutschland er- lisieren lassen und damit messbar kennen lassen. Auf die Frage, ob es werden. Denn die verschiedenen Sa- auch offene und tolerante Salafisten lafismusformen haben zum Teil stark gebe, die eine kulturelle Bereicherung divergierende Auffassungen zu zen- für die Gesellschaft seien, antwortete tralen Themen wie Gewalt, Herr- Frau Dantschke beispielsweise Fol- schaft und Takf¯ır, die in salafistischen gendes: Medien verbreitet werden und somit leicht für eine wissenschaftliche Un- »(…) Die puristischen Salafisten zie- tersuchung zugänglich sind. hen sich dabei einfach auf sich selbst zurück und wollen in Ruhe ihr Islam- Auf den sozio-politischen Kontext in verständnis ausleben (…)«10 Deutschland angewandt, erweisen sich die ersten beiden oben erwähn- Meiner Ansicht nach dürfte es jedoch ten Kategorien als unproblematisch. sehr schwierig sein, den Grad des Ak- Unbestritten propagieren Jihadisten tivismus nach objektiven und damit religiös legitimierte Gewalt gegen wissenschaftlich nachprüfbaren Kri- deutsche Ziele im In- und Ausland. terien zu messen, zumal Frau Auch für den »aktivistischen Salafis- Dantschke konzidierte, dass ihr die mus« lassen sich im bundesdeutschen vermeintlich »puristischen Salafi- Kontext hinreichende Akteure iden- sten« in persönlichen Gesprächen be- tifizieren. Unstimmigkeiten ergeben gegnet seien. Auch über das konkrete sich für die Kategorie des »puristi- Personenpotential dieser »Puristen« schen Salafismus«, der sich bei fast al- könne sie keine Angaben machen.11 len Autoren bis auf Dantschke12 mehr oder weniger auf den saudischen Aus meiner Sicht kann der Grad des Kontext zu beziehen scheint. Diese Aktivismus kein hinreichendes Dis- Tatsache hat einige Salafismusfor- tinktionsmerkmal darstellen, das die scher auch veranlasst, die Grundhal- Bildung einer eigenen Kategorie tungen des »puristischen Salafismus« rechtfertigt. Denn es gibt auch im sa- mit dem sozio-politischen System lafistischen Kontext introvertiertere von Saudi-Arabien als Bezugsrahmen Personen, die ihre Überzeugungen als »apolitisch« zu bezeichnen.13 Die- wenigerdeutlichnachaußentragen. ser These kann aber widersprochen Zudem begründen alle Autoren ihre werden, denn der sogenannte »puris- Kategorien anhand von ideologi- tische Salafismus« erweist sich als zu- schen Unterscheidungsmerkmalen, tiefst politisch und muss im bundes-

10 »Die Ursachen von Radikalisierung bekämpfen« Salafismus-Forscherin Dantschke zum Umgang mit Islamisten, www.cibedo.de/vatikan_trkei0030000002011106.html abgelesen am 20.11.2011. 11 Persönliches Gespräch des Verfassers mit Frau Dantschke am 3.11.2011. 12 Vgl. Dantschke, Claudia; Mansur, Ahmad; Müller, Jochen; Serbest, Yasemin: Ich lebe nur für Allah – Argumente und Anziehungskraft des Salafismus, Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin 2011. 13 Vgl.Mneimneh, Hassan: The Spring of a New Political Salafism, in: Current Trends in Islamist Ideology Vol. 12, Hud- son Institute 2011, S.21–36; hier: S.30. 248 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM deutschen Kontext unter der Katego- gegen »Nichtmuslime«. Sie ma- rie »politischer Salafismus«14 subsu- chen die Anwendung dieser miert werden, und zwar aus folgen- GewaltjedochinderRegelvonäu- den Gründen: ßeren Rahmenbedingungen wie • Zu den »Puristen« werden insbe- ausreichender militärischer Stärke sondere die Religionsgelehrten und Vorbereitung, ausgewogenem des saudischen religiösen Estab- Kosten-Nutzen Verhältnis oder lishments gezählt. Diese Gelehr- einer vorhandenen einheitlichen ten verhalten sich jedoch in ihrem Führung aller Muslime abhängig, originären saudischen Umfeld al- die sie gegenwärtig angesichts der les andere als apolitisch. Sie stüt- SpaltungderMuslimein unzählige zen in einschlägigen Rechtsgut- Nationalstaaten und islamische achten nicht nur die politischen Richtungen als nicht gegeben be- Entscheidungen des Köngishau- trachten. Auch verweisen puristi- ses – man denke hierbei an die In- sche Salafisten darauf, dass ein stitution des »Rates der hohen Kampf (Jih¯ad) gegen Ungläubige Rechtsgelehrten« (hay`at kib¯ar al- in der Regel nicht von Individuen `ulama`), der speziell zu diesem betrieben werden könne, sondern Zweck geschaffen wurde. Zudem von einer »rechtmäßigen« politi- sind einschlägige Gelehrte aus schen Führung abhängig sei. Diese diesem Spektrum in das Justizsys- Ambiguität und Ambivalenz des tem eingebunden und fungieren »puristischen Salafismus« gegen- beispielsweise als Richter. Des über religiös legitimierter Gewalt Weiteren wird das Erziehungs- führt auch dazu, dass die Über- wesen mit Schul- und Hochschul- gänge zwischen »Puristen« und ausbildung von »Puristen« do- »Jihadisten« sehr fließend sein miniert und somit nach ihren können. Maßgaben strukturiert. Darüber hinaus spielt religiös • Was die Gewaltfrage betrifft, so legitimierte Gewalt noch im Be- sprechen sich »Puristen« zwar reich der Anwendung bzw. Voll- gegen ein gewaltsames Vorgehen streckung bestimmter islamischer gegen Machthaber und Regenten Gesetze eine Rolle. Dies betrifft islamischer Staaten aus, negieren insbesondere die Verhängung jedoch zugleich die prinzipielle von sogenannten Körperstrafen Anwendung religiös legitimierter (Huddud) für bestimmte Verge- Gewalt nicht. In Form von »auto- hen. Zu nennen wären hier die risierter Gewalt«, die von einem Todesstrafe für Religionswechsel, als legitim erachteten Souverän die Forderung der Todesstrafe für angeordnet wird, propagieren die Ablehnung bestimmter vorge- »Puristen« auch offensive Gewalt schriebener islamischer Handlun-

14 Vgl. Lagebild zur Verfassungsfeindlichkeit salafistischer Bestrebungen, http://www.bundesrat.de/DE/gremien-konf/ fachministerkonf/imk/Sitzungen/11-06-22/anlage14,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/anlage14.pdf. MICHAEL REINHARD 249

gen wie Fasten oder Zakat oder In Deutschland tritt nun noch eine die Steinigung von Ehebrechern. weitere salafistische Strömung in Er- Außerdem zeigt sich das prekäre scheinung, so die These, die sich zwar Verhältnis von »Puristen« zur Ge- unter der Hauptkategorie »Politi- walt auch in der Frauenfrage. Mit scher Salafismus« subsumieren lässt, dem Verweis auf die mindere jedoch zugleich einige ideologische Rechtsstellung der Frau, die Sala- Besonderheiten aufweist, die sie von fistenangeblichausdenislami- anderen Salafisten maßgeblich unter- schen Quellen ableiten können, scheidet, wie im Folgenden erörtert räumen sie Männern gegenüber wird. Frauen in Fällen von Renitenz und Ungehorsam ein Züchti- gungsrecht ein, das sich auch in 3. Genese und ideologische der Anwendung physischer Ge- Grundhaltung des walt gegen Frauen niederschlagen Takfirismus darf. • »Puristen« sind maßgeblich an 3.1 Entstehung der Takfir- einer globalen Missionsarbeit Bewegung beteiligt, die darauf abzielt, auf lo- kaler Ebene den Islam als sozio- Bei der Takfir-Bewegung handelt es politisches Modell vorzustellen sich um eine verhältnismäßig neue sa- (z.B. Büchertische, aber auch Vor- lafistische Fraktion, die sich vom Ji- trägeu.Ä.).Dadurchnehmensol- hadismus abgespalten hat. Als über- che Salafisten vor Ort – unter- georderter Referenzgelehrter und stützt von Gelehrten im Ausland, Spiritus Rector dieser Strömung tritt die logistische Unterstützung in ein gewisser Abu ¯ Maryam alias ´Abd Form von Propagandamaterial al-Rahm¯an bin Tal. a´al-Mikhlif ¯ in Er- oder sonstigen Ressourcen bereit- scheinung, der noch bis nach 2003 als stellen – Einfluss auf politische Ansprechpartner für Jihadisten im Willensbildungsprozesse (poli- Irak fungierte und für diese mehrere tics). »Puristen« stellen aber auch islamische Stellungnahmen verfasst die institutionellen und recht- hat. Zu dieser Zeit hat er beispiels- lichen Fundamente der Bundes- weise noch in seinem islamischen republik Deutschland infrage, Rechtgutachten »Urteil über den, der indem sie beispielsweise eine ab- den Jihad der Verteidigung im Irak lehnende Haltung gegenüber leugnet« sowohl den offensiven als »weltlicher« Gesetzgebung oder auch defensiven Jihad befürwortet.15 säkularer Gerichtsbarkeit propa- Auch äußerte er sich zu typischen gieren. jihadistischen Themen, wie seine Fat-

15 Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´al-Mikhlif, ¯ Hukm. man ankara Jihad ¯ al-daf ´f¯ıal-´Ir¯aq, http://www.tawhed.ws/pr?i=5777 (gele- sen am 05.03.2010). 250 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM was»DasUrteilüberdenjenigen,der Der aus Kuwait stammende Abu ¯ sich mit einer Sprengladung in die Maryam21 hat dann in der Folge in Luft sprengt, wobei er (selbst) die verschiedenen europäischen Län- Sprengladung vorbereitet hat«16 oder dern22 wie Österreich, Deutschland, »Das Urteil darüber, die Ungläubigen Frankreich und den Niederlanden als Brüder zu bezeichnen«17 belegen. Gefolgsleute um sich geschart, wobei Diese Schriften wurden auf der größ- al-Mikhlif vor allem virtuell in Er- ten jihadistischen Internetplattform scheinung tritt und seine Thesen über »Minbar al-tawỏid wa al-jih¯ad« ver- Paltak und verschiedene Foren und öffentlicht, die mit dem wohl be- Internetseiten verbreitet.23 kanntesten Ideologen des modernen Jihadismus, AbuMu ¯ ỏammad al- Als herausragendste Schüler von Abu ¯ Maqdis¯ı, in Verbindung steht. Mit al- Maryam gelten zum einen Ebu Mu- Maqdis¯ı verband al-Mikhlif zunächst hammad alias Nezjad Balkan24,der ein engeres ideologisches Verhältnis, als balkanstämmiger Salafist bos- wie dieser auch indirekt einräumte18, nischsprachige Personenkreise beein- bis al-Mikhlif sich schließlich in zen- flusst25, und zum anderen der in Wien tralen Themenbereichen ideologisch ansässige Abu Hamzah al-Afghani, vom Jihadismus abwandte, indem er der mittlerweile als maßgeblicher nicht nur über einschlägige Aktivis- Ideologe der Takfiristen im deutsch- ten der Jihadbewegung wie z.B. sprachigen Raum fungiert.26 Abu Ayman al- Zaw¯. ahir¯ı19 den Takf¯ır ver- Hamzah al-Afghani hat wohl auch hängte, sondern darüber hinaus auch bis 2009 zusammen mit AbuMaryam ¯ noch fast über die gesamte Mensch- die Internetdomain www.ansaratta heit.20 wed.com betrieben,27 bis Abu

16 Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´ ¯ al-Mikhlif, Hukm. man infajarat bihi ´ubwa nasifawahuwayu´iddh¯ ¯ a http://tawhed.ws/ pr?i=5778 (gelesen am 05.03.2010). 17 Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´ ¯ al-Mikhlif, Hukm. tasmiya al-Kuffar ¯ bi al-ikhwa, http://tawhed.ws/pr?i=5780 (gelesen am 05.03.2010). 18 Vgl. Al-Saykhˇ Abu ¯ Maryam ´Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´al-Mikhlif, ¯ Ta´l¯ıq ´ala fatwa li Abi Muhammad al-Maqdisi f¯ıba ´dm¯. a yunkiruh ´alayna ¯ (Kommentierung der Fatwa von Abu Muhammad al-Maqdisi hinsichtlich einiger Dinge, die er uns vorwirft), o. J. u. o.O., http://ansaaraltawheed.com, S. 8. 19 Vgl.http://www.ahlu-sunnah.com/threads/23200-Wer-ist-Abu-Maryam/page2 (gelesen am 13.02.2012). 20 Vgl. Al-Saykhˇ Abu ¯ Maryam ´Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´al-Mikhlif, ¯ al-Tawh¯ıd wa al-Jihad ¯ ayahumaal-a ¯ sl?o.J.u.o.O.,. 2. Aufl., http://ansaaraltawheed.com. 21 http://www.ansaaraltawheed.com/biography.html (gelesen am 03.09.2009). 22 Vgl. hierzu linkliste http://risalatun.com (gelesen am 24.02.2010). Die linkliste wurde später entfernt, außerdem war auch etwa zu diesem Zeitpunkt die Domain von al-Mikhlif, http://www.ansaaraltawheed.com, nicht mehr aktiv. Dies könnte auf ein Zerwürfnis in der Takfir-Szene hindeuten. 23 Vgl.http://www.ahlu-sunnah.com/threads/23200-Wer-ist-Abu-Maryam/page3 (gelesen am 13.02.2012). 24 Nedˇzad Balkan: The Face of Southeastern Europe’s Newest Radical Threat, http:// http://www.freerepublic.com/focus/f-news/2667210/posts (gelesen 15.08.2012). 25 Gespräche des Verfassers mit Angehörigen der Takfir-Szene. 26 http://www.ahlu-sunnah.com/threads/26770-Abu-Hamzah-al-Afghani (gelesen am 14.02.2012). 27 http://web.archive.org/web/20080701205245/http://www.ansarattawhed.com/ (gelesen am 16.08.2012). MICHAEL REINHARD 251

Hamzah über seine alte Internetseite zwischen Vertretern des Takf¯ır- www.risalatulanbiya.com eigenstän- Spektrums und Anhängern anderer digere Wege einschlug und gegen- salafistischer Fraktionen statt. Die wärtig über seine neueste Site28 eigen- Takfiristen sahen sich zum Teil schar- ständig einschlägige Literatur in fer Kritik ausgesetzt, ein Umstand, deutscher und arabischer Sprache der dann wohl auch dazu führte, dass verbreitet. Zwischenzeitlich haben sie sich weiter in eigenständige virtu- sich auch andere deutsprachige Inter- elle Räume zurückzogen.31 netauftritte etabliert, welche die Ideologie von AbuMaryamundAbu ¯ Es sei in diesem Zusammenhang da- Hamzah verbreiten.29 Einige der hie- rauf hingewiesen, dass neben diesem sigen Anhänger scheinen zumindest Takf¯ır-Netzwerk um AbuMaryam ¯ in der Vergangenheit regelmäßig mit und Abu Hamzah noch eine Gruppe Abu ¯ Maryam in Verbindung gestan- ähnlich gesinnter Personen existiert, den zu haben, da sie islamische die sich um den palästinensischen Rechtsgutachten unter seinem Na- Gelehrten Ỗiy¯aalD¯ın al Quds¯ıscha- men veröffentlicht haben. 30 ren.32 Dieser al-Quds¯ı33 hat auch schon in einigen Detailfragen die Zu- Das deutschsprachige Personenpo- ordnung von »Ungläubigen« betref- tential der Takf¯ır-Szene im salafisti- fend Differenzen mit al-Mikhlif aus- schen Kontext kann als eher niedrig getragen.34 Diese Gruppe scheint sich beziffert werden, da die Anhänger im deutschen Kontext erst allmählich dieser Bewegung extreme Sichtwei- zu formieren35 und wird daher in der sen propagieren, die in der salafisti- vorliegenden Untersuchung außer schen Szene mittlerweile nur wenig Acht gelassen. Auch eine weitere Resonanz erfahren. Noch in den Gruppe, die sich über die Website Jahren 2008 und 2009 fand auf ein- www.darultauhid.com austauscht, schlägigen salafistischen Internet- bleibt aufgrund des mittlerweile feh- plattformen ein reger Schlagabtausch lenden Bezugs zum deutschsprachi-

28 http://www.risalatun.com. 29 Vgl. den nicht mehr aktiven Blog http://tawhidiklas.info und den wohl als Nachfolge gedachten Blog http://ansaraltawhid.blogspot.co.at. Dort wird auch immer wieder auf al-Mikhlif Bezug genommen. 30 Vgl.http://al-muwahidun.com; siehe hierzu auch: http://www.ahlu-sunnah.com/threads/23200-Wer-ist-Abu-Maryam (gelesen am 13.02.2012). 31 http://tawhidikhlas.info/index.php/2010/05/11ahlu-sunnah-com-eine-internetgemeinschaft-des-schirk (gelesen am 20.09.2011); vgl. beispielsweise auch die threads http://www.ahlu-sunnah.com/threads/19690-Kritik-ge- gen %C3 %BCber- %C3 %9Cbertreiber-im-Takfir u. http://www.ahlu-sunnah.com/ threads/20042-Auslegung-des-Takfir. 32 Vgl. http://www.haqyayinlari.com/ar/index.htm; www.davetulhaq.com. 33 Al-Maqdisi nimmt in einer Fatwa Bezug auf al-Qudsi und al-Mikhlif und warnt vor ihnen und bezeichnet beide als Tak- firisten: Al-Saykhˇ AbuMu ¯ ỏammad al-Maqdis¯ı, raqm su`al ¯ 577, hukm. al-tahakum ¯ ilaal-mah¯ ¯ akm allat¯ıtahkum. bi al- qawan¯ ¯ ın wa su`al ¯ ´ an ba´ d. al-kuttab ¯ allad¯ına yukaffirun ¯ ´umum ¯ al-mutahakim¯. ın bi ghayr.., http://tawhed.ws/FAQ/ pr?qid=577 (gelesen am 08.08.2012). 34 http://www.davetulhaq.com/tr/mkportal/kategoriler/reddiye/Seyh_Ziyaeddin_El-_Kudsinin_Ebu_Meryem_El_Kuve- yte_Reddiyesi_Arapca.htm (gelesen am 15.08.2012). 35 Vgl. http://www.derwahremuslim.de. 252 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM genRaumindervorliegendenDar- chend ausgebildeten Gelehrten bzw. stellung unberücksichtigt.36 Richtern verhängt werden, und das auch nur dann, wenn hinreichende Beweise für den Vorwurf vorlagen, 3.2. Charakteristische Elemente dass ein Muslim sich von seiner der Takfir-Ideologie Religion abgewandt hatte. Gemäß dem islamischen Recht führte die Obwohl die Takfiristen eigentlich in Verhängung des Takf¯ır zum Urteil ihrer theologischen Ausrichtung der Apostasie, dem Abfall vom Islam, Glaubensgrundsätze wie die Hin- was mit der Todesstrafe für die be- wendung zum absoluten Monothe- troffenen Personenkreise geahndet ismus nach dem vermeintlichen werden konnte. Vorbild der frühen Muslime um den Religionsstifter Muhammad (al-salaf Seitens gewaltorientierter Salafisten al-sali. ỏ) mit anderen Salafisten teilen, wurde das Takf¯ır-Konzept erweitert behaupten sie dennoch, dass der Kern und insbesondere auf Herrscher und der islamischen Lehre, nämlich die Regenten angewandt. Der Ausspruch Abwendung vom Polytheismus des Takf¯ır über diese Machthaber (ˇsirk) und das Bekenntnis zur strikten stellte dann die islamrechtliche Einheit Gottes (tawỏid) nur unzurei- Grundlage her, um gegen sie mittels chend von ihren Glaubensgenossen Jih¯ad im Sinne von religiös legitimier- weltweit umgesetzt wird. Diese ter Gewalt vorzugehen. In der Regel Sichtweise hat zur Folge, dass sich wird heute der Begriff »Takfirist« Takfiristen, im Gegensatz zu anderen bzw. Takfiri auf ebensolche Jihadis- Salafisten, verstärkt damit beschäfti- ten angewandt.38 gen, islamrechtliche Statusbestim- mungen anderer Muslime vorzuneh- VondiesenSalafistensindjedoch men. Hierbei rekurrieren sie auf das strikt die Takfir-Anhänger zu unter- Takf¯ır-Konzept, das sie jedoch in scheiden, die Gegenstand der vorlie- vielfältiger Weise einer Revision un- genden Untersuchung sind. Sie über- terziehen. nehmen zwar den Topos »Takf¯ır gegen die Staats- und Regierungs- In der islamischen Tradition bedeutet chefs der islamischen Welt«, jedoch Takf¯ır (jemanden zum Ungläubigen interpretieren sie ihrerseits das erklären) die »Exkommunikation« Takf¯ır-Konzept in mehrfacher Hin- von Muslimen durch andere Mus- sicht um, indem sie zunächst behaup- lime.37 In der Regel konnte gemäß ten, dass nicht nur die Machteliten den juristischen Vorgaben der klassi- dem »Unglauben« anheimgefallen schen Zeit ein Takf¯ır nur von entspre- seien, sondern auch die Bevölkerun-

36 Vgl.Abu Hamzah al-Afghani, Beispiele für Übertreibung im Takfir, 2009, online-Version, www.risalatun.com, S.7 ff. 37 Vgl. Roel Meijer, global salafism – Islam’s New Religious Movement, London 2009, XV. Vgl auch: Rüdiger Lohlker, Dschihadismus,Wien 2009, S.63 f. 38 Vgl. beispielhaft: http://www.hamburg.de/islamismus/499906/takfir-ideologie.html (gelesen am 17.08.2012). MICHAEL REINHARD 253 gen, die von diesen Führungsschich- Traditionell zulässige Hinderungs- ten regiert werden: gründe für die Ausschließung ande- rer Muslime aus dem Islam (Maw¯ani »In der heutigen Zeit sind alle Gesell- ´al-Takf¯ır)40 wie Unwissenheit (Jahl), schaften der Welt mehr oder weniger Zwang (Ikr¯ah), falsche Interpretation vom Schirk durchdrungen. Die Idee der religiösen Texte (Ta`w¯ıl), Notlage von den durch und durch islamischen (Ỗarura) ¯ oder das Befolgen der Vor- Völkern, die aber von unislamischen gaben von Gelehrten (Taql¯ıd)41 mes- Regenten geknechtet werden ist völlig sen Takfiristen keine Geltung bei.42 absurd und naiv. Tatsächlich sind es Sie argumentieren in diesem Kontext, die breiten Massen, die heute ihre un- dass die Mehrheit der heutigen Mus- islamischen Regenten stützen. Nur lime gegen zentrale Glaubenprämis- durch sie erlangen diese ihre Macht. sen verstoßen würde, da sie sich nicht Der Großteil dieser Bevölkerungen vom Götzen(dienst) lossagen (al-kufr sieht diese Regenten im äußersten bi al-Tagh¯ut)43, was für sie eine Falle als ungerechte Muslime an.«39 Grundlage der Religion (Asl. al-d¯ın) darstellt.44 Daher dürfe es hierbei im In diesem Zusammenhang hegen sie Sinne der Verhängung des Takf¯ır auch einen generellen Zweifel an der isla- keine Aussetzung bzw. Entschuldi- mischen Identität anderer Muslime, gung (´Udhr) geben:45 über die ein »Kollektivtakfir« (takf¯ır al-´umum/takf¯ ¯ ır muţlaq) verhängt »Wir leben heute in einer Zeit, in der wird, wodurch einzelne Individuen der Schirk [Vielgötterei] weit verbrei- in eine Art »Bringschuldverhältnis« tet ist und alle Gesellschaften vom versetzt werden, so dass sie ihre Zu- OstenbiszumWestenvondiesem gehörigkeit zur Religion des Islam durchdrungen ist. Die Jahiliyya (Zeit und ihre damit einhergehende Lossa- der Unwissenheit)46 hat sich an jeden gung von »Unglauben« aktiv bewei- Flecken Erde wieder breit gemacht sen müssen. unddiemeistenMenschensindindie-

39 Abu Hamzah al-Afghani, Eine ruhige Kritik an den kämpfenden Gruppen, 2010, online-Version, abrufbar unter www.risalatun.com, S.16. 40 Vgl. die jihadistische Kritik an den Positionen der Takfiris: Al-Saykhˇ AbuMu ¯ hammad. al-Maqdis¯ı, raqm su`al ¯ 577, hukm. al-tahakum ¯ ila ¯ al-mahakm ¯ allat¯ıtahkum. bi al-qawan¯ ¯ ın wa su`al ¯ ´an ba´d. al-kuttab ¯ allad¯ına yukaffirun ¯ ´umum ¯ al-mutahakim¯. ın bi ghayr.., http://tawhed.ws/FAQ/pr?qid=577 (gelesen am 08.08.2012). 41 Vgl., Die Krankheit des blinden Befolgens, http://ansaraltawhid.blogspot.com. 42 Vgl. Keine Entschuldigung im großen Schirk, durch Jahl, Tawill, ` Ijtihad oder Taqlid und das per Konsens!, http://ansaraltawhid.blogspot.com. 43 Vgl. hierzu auch: Lossagung vom islamischen Kulturzentrum Bremen ehemalige Abu Bakr Moschee, http://www.tawhed.de, S.5 f. (gelesen 2010). 44 Vgl. Der Kufr gegen den Taghut und der Iman an Allah, http://ansaraltawhid.blogspot.com; Abu Hamzah al-Afghani, Die Religion aller Propheten- Die Lossagung vom Taghut –, 2010, www.risalatun.com; Al-Saykhˇ Abu ¯ Maryam ´Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´ ¯ al-Mikhlif, al-bara`aminal- ¯ taw. agh¯ ¯ ıt (die Lossagung von den Götzen), o. J. u. o. O., 2. Aufl., http://ansaaraltawheed.com. 45 Vgl. Gibt es Udhr (Entschuldigung) im Asluddin-La ilaha illa Allah?; vgl hierzu auch: Al-Saykhˇ Abu ¯ Maryam ´Abd al- Rahman ¯ bin Tal. a´al-Mikhlif, ¯ ´adam al-´udhr bi al-jahl f¯ıasl. al-D¯ın- ta´liqat ¯ ´ala risala ¯ al-suyuf ¯ al- qa ¯ ti´a,o.J.u.o.O.,. http://ansaaraltawheed.com; http://ansaraltawhid.blogspot.com. 46 Der Begriff bezieht sich nach islamischer Auffassung auf die Zeit vor der Verkündigung des Islam. 254 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM ser gefangen. Unter dieser Masse von tion, nun gemäß ihrer territorialen Menschen, befinden sich auch weit Zugehörigkeit beurteilt werden. Da- mehr als eine Milliarde Muschrikin47, her gehen Takfiristen generell im die sich dem Islam zuschreiben, aber Umgang mit vermeintlichen Glau- durch Jahl (Unwissenheit) und bensgenossen von der Annnahme Ta`will (falsche Interpretation/Ausle- aus, dass sie es mit »Ungläubigen« zu gung) etc. Schirk begehen und da- tun haben, bis diese ihre Abkehr vom durch die Grundlage des Islam La »Unglauben« sichtbar unter Beweis ilaha illa Allah (kein zu Recht Anbe- stellen50: tungswürdiger außer Allah) nicht umsetzen.«48 »Alle Gesellschaften in der heutigen Zeit sind vom Asl (Grundlage) Ge- Dieser Sichtweise liegt auch die An- sellschaften des Kufr51 und jeder ein- nahme zugrunde, dass die gesamte zelne seiner Bewohner bekommt den heutige Welt als »Territorien der Hukm52 Kafir Asliy53.Alsoman Ungläubigen« (Diy¯ar al-kufr) zu macht Takfir auf jeden einzelnen Be- klassifizieren sei, da an keinem Ort wohner in der Türkei, Deutschland, das islamische Recht in Geltung sei.49 Ägypten, Pakistan und all den ande- Dies geschieht in Anlehnung an eine ren Ländern, außer man kennt den Gebietslehre, die von islamischen Islam einer Person und urteilt dem- Gelehrten entwickelt worden ist und entsprechend.«54 Eingang ins islamische Recht gefun- den hat. Gemäß dieser Lehre unter- Der Vordenker der Takf¯ır-Bewegung schied man zwischen Gebieten, in de- in Deutschland, Abu Hamzah al-Af- nen das islamische Recht angewendet ghani, fasst diesen für die Takfiristen wurde, »Häuser des Krieges (Diy¯ar wichtigen Sachverhalt folgenderma- al-Isl¯am), und anderen Gebieten, die ßen zusammen: von Nichtmuslimen regiert wurden, »Häuser des Unglaubens« (Diy¯ar al- »In der heutigen Zeit der Jahiliyyah55 Kufr). Da es zum gegenwärtigen und Ghurbah56 haben viele Men- Zeitpunkt keine islamischen Gebiete schen die sich zum Islam bekennen, gebe, müssten auch die Bewohner seine wahre Bedeutung nicht richtig dieser Gebiete, so die Argumenta- verstanden. Aus dieser Realität he-

47 Arabisch: Polytheisten. 48 http://tawhidikhlas.info/index.php (gelesen am 20.09.2011). 49 Vgl. Al-Saykhˇ Abu ¯ Maryam ´Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´al-Mikhlif, ¯ al-Tawh¯ıd wa al-Jihad ¯ ayahumaal-a ¯ sl?o.J.u.o.O.,. 2. Aufl., http://ansaaraltawheed.com, S.12 f. 50 Vgl. Das Urteil über die Länder und deren Einwohner, http://ansaraltawhid.blogspot.com. 51 Arabisch: Unglaube. 52 Arabisch: Urteil. 53 Arabisch: ursprünglicher Ungläubiger, d.h. auch Muslime werden von Takfiris einseitig als Nichtmuslime deklariert. 54 Das Urteil über die Länder und deren Einwohner, http://ansaraltawhid.blogspot.com, S.11. 55 Arabisch: Unwissenheit. 56 Arabisch: Fremde, gemeint ist hier eine Fremdheit auf dieser Welt, die nur als kurzer Aufenthaltsort für das eigentli- che Leben im Jenseits betrachtet wird. MICHAEL REINHARD 255 raus stellte sich für viele Muslime, Muslim gelten zu können. Vielmehr nachdem sie selbst ein besseres Ver- obliege es dem wahrhaft Gläubigen ständnis für den Islam entwickelten, durch diese Prämisse, das aus ihrer die Frage, wie man diese Menschen Sicht fehlerhafte und gottlose Verhal- heute allgemein behandeln soll. Sind ten anderer öffentlich an den Pranger sie nun als Muslime zu behandeln zu stellen, indem sie den Takf¯ır über nach ihrem Äußeren? Oder als Nicht- diese Personenkreise verhängen: Muslime, bis man sich ihres richtigen Verständnisses des Islam versichert »Vielfach hört man von unwissenden hat? Letzteres, da man weiß, dass sie und vollkommen irregegangenen diesen Din57 oft nicht verstanden ha- Personen und Gruppen, dass der Tak- ben, auch wenn sie sich damit benen- fir auf die Muschrikin60 nicht von der nen.«58 Grundlage des Islam wäre, sondern zu den Lawaazim (Schlussfolgerun- Aus den religiösen Quellentexten des gen) gehört. Was bedeutet, dass man Islam glauben Takfiristen außerdem sich vermeintlich selber nur vom gro- geradezu eine Verpflichtung ableiten ßenSchirklossagenmuss,abernicht zu können, anderen Muslimen den von jenen die den großen Schirk um- Glauben absprechen zu müssen. Sie setzen.«61 stellen in diesem Zusammenhang die Behauptung auf, dass die Verhängung Diese als neu aufgefasste Auslegung des Takf¯ır über andere Menschen, die des Takfirbegriffs62 als fundamentale in ihren Augen gegen zentrale As- Glaubenspflicht und damit essentiel- pekte des Islams verstoßen (großer ler Bestandteil der Religion des Islam sirk),ˇ auch zu den Fundamenten der glauben Takfiristen insbesondere aus Religion des Islam (Asl. al-D¯ın) den Schriften der frühen Wahhabiy- zählen würde.59 Die eigene glaubens- ya-Bewegung auf der arabischen konforme Ausrichtung sei gemäß der Halbinsel ableiten zu können. Diese Argumentation der Takfiristen daher umfasst insbesondere Muhammad alleine nicht ausreichend, um als Ibn Abd al-Wahhab und seine Söhne

57 Arabisch: Religion. 58 Abu Hamzah al-Afghani, Beispiele für Übertreibung im Takfir, 2009, Online-Version, abufbar auf www.risalatun.com, S.25. 59 Vgl. hierzu auch: http://www.ahlu-sunnah.com/threads/20042-Auslegung-des-Takfir/page7 (gelesen am 10.02.2010). 60 Arabisch: Polytheisten. 61 Der Takfir auf die Muschrikin gehört zur Grundlage des Islam, o. J. u. o.O.; http://ansaraltawhid.blogspot.com, S.2.; vgl. zum Thema auch: http://tawhidikhlas.info/php/2010/08/23/eine-soge- nannte-widerlegung-gegen-die-muslime-und-den-islam (gelesen am 20.09.2011). 62 Al-Saykhˇ AbuMu ¯ hammad. al-Maqdis¯ı, raqm su `al ¯ 577, hukm. al-tahakum ¯ ilaal-mah¯ ¯ akm allat¯ıtahkum. bi al-qawan¯ ¯ ın wa su`al´anba´ ¯ d. al-kuttab ¯ allad¯ına yukaffirun ¯ ´umum ¯ al-mutahakim¯. ın bi ghayr.., http://tawhed.ws/FAQ/pr?qid=577 (gelesen am 08.08.2012). 256 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM und Enkelkinder (Da’wa Najdiy- ber niemals Muslim sein. Jemand der ya).63 glaubteinMenschkannnichtaus dem Islam austreten, sondern wer Offensichtlich wird aber auch die tra- einmal Muslim war bleibt immer ditionelle Auffassung vom Takf¯ır als Muslim, so jemand hat vom Islam einem Instrument des islamischen nichts verstanden und ist ohne jeden Rechts semantisch von den Takfiris Zweifel ein Kafir.«64 erweitert, indem durch die Verhän- gung des Takf¯ır nach dem Vorgaben Diese Sichtweise, die den Takfiristen der Takfiristen nicht nur vermeintlich unterem anderem den Vorwurf der »ketzerisches« Verhalten angepran- »Übertreibung« eingebracht hat, gert wird; vielmehr spricht man mus- wird seitens ihrer Gegner als Demü- limischen Personenkreisen sogar ihre tigung anderer Muslime und sektiere- islamische Identität, Prägung und risches Verhalten interpretiert. Herkunft in toto ab: Zugleich entbindet es aber die Takfi- risten davon, die Folgen der Vorga- »Was diejenigen betrifft die dem Tag- ben ihrer eigenen radikalen Ideolgie hut folgen: So muss man sie aus dem in die Tat umsetzen. Denn wären alle Islam ausschliessen. (Anm.: Manche diejenigen, die sich nach Auffassung Unwissende missverstehen dies und der Takfiristen nicht islamkonform meinenmandarfkeinenMenschen verhalten, rechtlich als »Abtrünnige« aus dem Islam ausschließen. Im ara- zu behandeln, müssten die Vollstre- bischen ist hier jedoch keinesfalls ge- ckungen der entsprechenden Todes- meint, dass sie tatsächlich im Islam urteile vollzogen werden, zumal die waren und man sie dann ausschließt, Takfiristen bei anderen Gelegenhei- sondern es geht darum sie von vorn ten nicht müde werden zu betonen, herein nicht als Muslime zu bezeich- dass die Umsetzung islamischer Be- nen bzw. zu behandeln. Sollte eine stimmungen die Pflicht eines jeden Person wirklich im Islam gewesen Muslims darstellt, wenn er noch als sein, so ist es aber genauso verpflich- solcher gelten will.65 Dies bedeutet tend ihn auszuschließen, er gilt dann letztendlich, dass die Takfiristen in als Abtrünniger (Murtadd). Wer diese ihrem theoretischen und abstrakten Tatsachen ableugnet – über die sich Diskurs mit anderen Extremisten, alle Muslime einig sind – der kann sel- insbesondere Jihadisten, bei weitem

63 Vgl. mit ausführlicher Literaturliste: Lossagung vom islamischen Kulturzentrum Bremen ehemalige Abu Bakr Mo- schee, http://www.tawhed.de, S. 2 ff. (gelesen 2010).; vgl. auch Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´ ¯ al-Mikhlif, Tawd¯. ıhhawla. kal¯am a´imma najd f¯ıd¯ar al-kufr, Holland 1431; beliebt ist die mehrbändige Kompilation »al-durar al-saniyya«, wel- che Schriften von wahhabitischen Gelehrten vom 18. bis Anfang des 20. Jh. enthält. 64 Abu Hamzah Al-Afghany, al-Kufru bit-Taghut- Die Lossagung vom Taghut, o. J., www.islamWissen.com, S.11. Vgl. auch Abu Hamzha al-Afghani, die Religion aller Propheten – die Lossagung vom Taghut, 2010, http://risalatun.com, S.46 siehe auch Abu Hamzah al-Afghan¯ ¯ ı, Risalat ¯ al-`Anbiya`-al-furq ¯ an ¯ al-mub¯ın bayn al-muslim¯ın wa al-muˇsrik¯ın (Die Botschaft der Propheten- eine deutliche Trennung zwischen Muslimen und Polytheisten)1431/2010, http://risalatun.com, S. 230. 65 Vgl Diskussion zu diesem Thema: http://www.ahlu-sunnah.com/threads/20042-Auslegung-des-Takfir/page9 (gele- sen am 10.02.2010). MICHAEL REINHARD 257 radikalere Thesen vertreten können, 3.3 Demokratiefeindliche ohne dass diese sich im realen Leben Einstellungen der Takfiris praktisch in konkreten Handlungen niederschlagen müssen. Die Lossagung und Abwendung vom sogenannten Tagh. ut ¯ (Götzen) ist wie Dass diese sehr abstrakte Interpreta- beschrieben für Muslime nach Mei- tion des Takfir-Begriffs auch intellek- nung der Takfiristen obligatorisch, tuell von den eigenen Anhängern wenn sie noch als Muslime betrachtet nicht immer mitgetragen wird, zeigen werden wollen. Dieses Glaubenskon- vereinzelt Äußerungen von Anhän- zept »Tagh. ut«, ¯ das sich nach traditio- gern des Takfir-Spektrums, die bei nellem Islamverständnis auf die An- verbalen Auseinandersetzungen mit betung von anderen Göttern neben anderenSalafistenzuGewaltaufru- Allah bezieht, erfährt seitens der Tak- fen: firisten eine Bedeutungserweiterung undwirdvonihnendezidiertauch »Abu Ilias, al-Qadesiyah ihr seit auf den politischen Raum übertragen. wirklich witzfiguren. und Abu Ilias Zu den »Götzen« gehören dann ne- wann kommst du nach wien. ich freu ben demokratischen Institutionen mich schon. dann können wir dich auch ganz allgemein Rechtsetzungen, schlachten und dein blut trinken« 66 die nach Auffassung der Takfiristen ihre Quellen nicht aus der Scharia, Somit kann auch immer mit Gewalt- dem islamischen Recht, schöpfen.67 akten einzelner Takfiris gerechnet Die Akzeptanz und Anerkennung werden, zumal durch die begriffli- solcher dem an sich dem Islam we- chen Unschärfen des Takf¯ır-Begriffs sensfremden Auffassungen und Nor- es einzelnen Individuen obliegt, zu men – wie sie behaupten – kämen beurteilen, ob sie es nun mit Aposta- nach Meinung der Takfiristen einem ten zu tun haben, über die prinzipiell Götzendienst gleich, da solche Hand- das Todesurteil zu verhängen ist, oder lungen als »polytheistische Taten« mit Nichtmuslimen, die mittels Mis- (ˇsirk) betrachtet werden, die zum sion aufgeklärt werden müssen. Ausschluss aus der Glaubensge-

66 http://www.ahlu-sunnah.com/threads/20042-Auslegung-des-Takfir (gelesen am 10.02.2010). 67 Der Themenkomplex »Demokratiekritik« ist im Wesentlichen von den Jihadisten übernommen worden, die insbe- sondere über den Ideologen al-Madisi entsprechende Schriften verbreitet haben: vgl. AbuMu ¯ hammad. al-Maqdis¯ı, al-Dimuqra ¯ tiyya. D¯ın, o. J. u. o. O., http://www.tawhed.ws. und die Rezeption durch al-Mikhlif: Al-Saykhˇ Abu ¯ Maryam ´Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a ¯ ´al-Mikhlif, Hukm. al-Dimuqra ¯ tiyya. wa A´an ¯ al-Dimuqra ¯ tiy¯. ın al-A ´d¯. awaal-musawwit¯. ın, o.J. u. o.O., 2.Aufl., http://ansaaraltawheed.com. Al-Mikhlif fasst den »Götzenbegriff« hier weiter als al-Maqdisi, so dass mehr Personenkreise bzw. (Berufs-)Gruppen tangiert werden. Siehe obige Ausführungen zur Takfir-Ideologie. Vgl. auch auf Deutsch: Demokratie – eine Religion, http://al-muwahidun.com. 258 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM meinschaft der Muslime führen müs- sonenkreisen ihr Status als Muslime sen: abgesprochen:

»Taghut ist daher alles was neben Al- »Wer auch immer an demokratischen lah angebetet, gedient, gehorcht und Wahlenteilnimmt,istkeinMuslim.Sei gefolgt wird und damit zufrieden ist. es jemand der Wählen geht, der sich Sei es ein Mensch, Tier, Stein, Baum, wählen lässt oder der zur Wahl aufruft Dchinn oder Satan selbst. Sowie Ge- und mit irgendwelchen Scheinargu- setze, Richtlinien und deren Urheber. menten kommt und meint es lege ein Ideologien wie Demokratie, Atheis- Nutzen (Maslaha) darin, diese oder mus, Kommunismus und Faschismus. jene Partei zu wählen. Und natürlich Die UNO, die sogenannten »Men- ist auch niemand ein Muslim, der den schenrechte« und all die Gerichte und Wählenden oder den der sich wählen die Richter in den unislamischen lässt usw. als Muslim ansieht. Denn Staaten. Desweiteren all die anderen Demokratie bedeutet Volksherrschaft. Religionen, wie das Christentum, Ju- Daher man überträgt die absolute dentum, Schiitentum, Hinduismus, Souveränität der Herrschaft, dem Volk, Buddhismus und dergleichen, sowie die wiederum Volksvertreter (Einzel- deren Führer.«68 personen oder Parteien) in die Parla- mentewählen,damitdieseinihremNa- In diesem Kontext gerät vorrangig men Gesetzeerlassenundmitdiesenaus das im Westen vorherrschende politi- eigenen Gelüsten und Vorstellungen sche Modell der Demokratie in den zusammengebastelten Gesetzen regie- Fokus der Takfiristen.69 Denn in der ren. Wie schon angeführt, ist Allah der Glaubensvorstellung dieser Muslime einzige Gesetzgeber und nur mit der würden sich hier Menschen göttliche Schari’a mit der Allah Seinen Gesand- Attribute anmaßen, nämlich die ex- ten Muhammad, Allahs Friede und klusive legislative Gewalt Gottes, Segen auf ihm, entsandt hat, darf man dem es alleine zustünde, wie sie mei- regieren und die Menschen richten. Al- nen, Gesetze zu erlassen (taˇsr¯ı´ min lah sagt: {Der Hukm (Urteil, Regent- d¯un Allah)70. Dieser Verstoß gegen schaft, Befehlsgewalt) liegt doch nur bei die ausschließliche Souveränität Got- Allah.} [12:40] (…)«71 tes hat dann den Ausschluss aus dem Islam der als »Götzen« diffamierten In Verbindung mit der Ablehnung Parlamentarier zur Folge. Außerdem des Demokratieprinzips führen Tak- wird allen am demokratischen Wil- firisten eine weitere Art von polythe- lensbildungsprozess beteiligten Per- istischer Handlung (ˇsirk) an, die ihrer

68 Der Kufr gegen den Taghut und der Iman an Allah, http://ansaraltawhid.blogspot.com. 69 Vgl. Islam versus Demokratie, http://ansaraltawhid.blogspot.com. 70 http://tawhidikhlas.info/index.php?blog=1&paged=2 (gelesen am 15.02.2012). 71 http://tawhidikhlas.info/index.php/2011/06/19/verbreitete-arten-des-schirk-in-der heutigen-zeit (gelesen am 21.09.2011). MICHAEL REINHARD 259

Ansicht nach zum Ausschluss aus yah angeklagt wird, der darf sich kei- dem Islam führen muss. Takfiristen nen Anwalt nehmen und ihn damit sprechen hier vom »Sich richten beauftragen einen zu verteidigen. lassen vom Tagh. ut« ¯ (al-taỏakum¯ il¯a Denn dieser Anwalt würde einen al-ţaghut) ¯ 72, wenn sich Muslime in dann auf der Grundlage der jeweili- Fragen der Rechtsprechung an eine gen Kufr-Gesetzgebung verteidigen. nichtislamische Institution wie z.B. (…) Somit wird auch klar, dass es Kufr Gerichte wenden: ist, sich selber auf der Grundlage der Kufr-Gesetzgebung zu verteidigen. »Der Tahakum zum Taghut fällt also Wer sich auf eine nichtige Gesetzge- immerdannvor,wennjemandvonei- bung oder Verfassung beruft oder be- nem Kafir oder einer Kufr-Institution zieht, der hat nichts mit der alleinigen einen Hukm (Urteil) ersucht bzw. an- Hingabe an Allah, also dem Islam zu strebt. Dabei ist es wie gesagt auch egal, tun. Deswegen sollte auch klar sein, ob es sich um ein deutsches Gericht oder dass es Kufr ist, als Anwalt in einem ein türkisches Gericht handelt oder ir- Kufr-Staat zu arbeiten oder einen an- gendwelche andere außerstaatliche deren Beruf auszuüben, welcher mit handelt. Wer einen Hukm von den dem Kufr, wie hier mit dem Tahakum Kuffar ersucht, der ist niemals ein Mus- zum Taghut, in Berührung kommt.«74 lim und darüber hinaus ist auch jeder ein Kafir, der sich nur wünscht vom Ka- Die Vorbehalte der Takfiris beschrän- fir gerichtet zu werden bzw. einen ken sich aber nicht alleine auf das Hukm vom Kafir will.«73 Verbot, durch die Mitwirkung an Institutionen der Rechtspflege am je- In ihren extremen Ansichten gehen weiligen politischen System zu parti- Takfiristen sogar so weit, zu behaup- zipieren. Vielmehr betrachten sie ten, dass schon die Beauftragung auch die Akzeptanz rechtlicher Be- eines Anwalts indirekt einer Aner- stimmungen im Alltag, die in ihren kennung der als unislamisch betrach- Augen von »Götzen«, nämlich den teten Rechtsnormen gleichkäme. Parlamentariern, beschlossen wur- Denn gemäß der Takfiri-Interpreta- den, die sich in ihren Beschlüssen die tion sind Anwälte Teil des »Kufr-Sys- göttlichen Attribute der Gesetzge- tems«, von dem man sich doktrinär in bungkompetenz angemaßt hätten, als Gänze lossagen müsse, um noch Unglaube und damit gottlose Hand- Muslim bleiben zu können: lung. Hierbei spielt es auch keine Rolle, ob es sich um praktische und »Wer aber auch immer von den un- sinnvolle Gesetze handelt. Der allei- rechtmäßigen Gerichten der Jahiliy- nige Maßstab für die eigentliche Be-

72 Zum Thema: Frage: Was mache ich, wenn ich ein Anklage vom Gericht bekomme? Ist es für mich erlaubt hinzugehen, um mich zu verteidigen und die Wahrheit zu sagen, damit sie mich nicht ins Gefängnis bringen?, http://al-muwahi- dun.com. 73 Der Schirk des Urteilgesuchs bei einem Kufr-Gericht, http://ansaraltawhid.blogspot.com 74 Der Schirk des Urteilgesuchs bei einem Kufr-Gericht, http://ansaraltawhid.blogspot.com. 260 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM folgung stellt das Verhältnis einzelner lamischen Verhaltensweisen der Bestimmungen zur Scharia, dem isla- Machthaber und Regenten in islami- mischen Recht, dar. Diese teilweise schen Ländern, über die der Takf¯ır abstruse Abwägung und ihre Folgen verhängt wird, da sie sich – so die zeigen sich beispielhaft an der De- Behauptung – göttliche Attribute an- batte der Takfiris über die Einhaltung maßen würden und darüber hinaus der Verkehrsregeln: mit dem »ungläubigen« Westen pak- tierten. »Selbst bei den Verkehrsgesetzen gilt dieser Hukm (Urteil), denn auch sie Takfiristen gehen jedoch in ihrer sind menschengemachte Gesetze und Analyse weiter und führen an, dass jene die sie beschlossen haben, fordern das eigentliche Problem nicht die isla- zum Gehorsam und der Befolgung mischen Herrscher seien, die den dieser auf. Sie sagen dir das ist Erlaubt Muslimen ungewollt westliche – und und das ist verboten. Wer ihnen darin damit unislamische – Gesetze und gehorcht, der gehört zu ihnen. (….) Es Verhaltensweisen aufoktroyieren kommt daher ganz auf die Niyyah würden. Vielmehr könnten sich die (Absicht) jedes einzelnen an, ob man Staatschefs in ihrer Regentschaft auf zum Beispiel vor einer roten Ampel das Wohlwollen der breiten Massen stehen bleibt, weil es der nichtislami- der muslimischen Bevölkerungen sche Gesetzgeber so beschlossen hat stützten, die letztendlich willentlich und man ihm darin gehorcht, oder ob von einer islamischen Lebensweise man einfach wartet bis es grün wird. abweichen würden. Genauso bei allen anderen Verkehrs- gesetzen.« 75 DieüberwiegendeZahlderMuslime sei daher als nichtmuslimisch zu betrachten, da ihre Gesellschaften 4. Positionierung der Takfiris- vom Unglauben durchdrungen ten gegenüber anderen seien.76 Salafisten 4.1 Distanzierung von der Gegen die These von Jihadisten, dass Ideologie des Jihadismus diese Bevölkerungen und ihre Ge- biete nun mittels Jih¯ad gegen äußere Takfiristen übernehmen zwar den Aggressoren und die Machthaber jihadistischen Diskurs von den unis- verteidigt werden müssten, wenden

75 Der Schirk im Gehorsam, http://ansaraltawhid.blogspot.com.; zum Thema: Darf man anderen Gesetzen gehorchen?, http://al-muwahidun.com, S.3. 76 Abu Hamzah al-Afghani, Eine ruhige Kritik an den kämpfenden Gruppen, 2010, online-Version, www.risalatun.com, S.16 f., vgl. hierzu auch folgendes Rechtsgutachten von al-Maqdisi bezüglich der Takfiristen: Al-Saykhˇ AbuMu ¯ ham-. mad al-Maqdis¯ı, raqm su`al ¯ 577, hukm. al-tahakum ¯ ila ¯ al-mahakm ¯ allat¯ıtahkum. bi al-qawan¯ ¯ ın wa su`al ¯ ´an ba´dal-. kuttab ¯ allad¯ına yukaffirun ¯ ´umum ¯ al-mutahakim¯. ın bi ghayr.., http://tawhed.ws/FAQ/pr?qid=577 (gelesen am 08.08.2012); vgl. auch die Erwiderung von al-Mikhlif auf ein Rechtsgutachten von al-Maqdisi: Al-Saykhˇ Abu ¯ Maryam ´Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´al-Mikhlif, ¯ Tal¯´ıqala ´ fatwa li Abi Muhammad al-Maqdisi f¯ıba´dm¯. ayunkiruh´alayn¯a, o. J. u. o. O., http://ansaaraltawheed.com. MICHAEL REINHARD 261 sich die Takfiris mit dem Argument, hige Kritik an den kämpfenden dass der Jih¯ad dafür gedacht sei, Gruppen«80 für den deutschsprachi- Muslime zu verteidigen. Die musli- gen Raum gefolgt. Beiden kommen mischen Bevölkerungen seien jedoch auch zu der Überzeugung, dass in der ihren »Götzen« ergeben und ebenso heutigen Zeit der Islam gewisserma- wie diese dem »Unglauben« anheim- ßen neu aufgebaut werden müsse, da gefallen. Daher delegitimieren Takfi- man die Menschen zur Rückkehr risten einen Jih¯ad im Sinne eines be- zum wahren und damit richtigen Is- waffneten Kampfes also nicht etwa lamverständnis aufrufen müsse. Der aus humanitären Gesichtspunkten, Kampf (Qit¯al) sei aber allenfalls die sondern lediglich aufgrund der aus letzte Phase der islamischen Mission ihrer Sicht mangelnden Würdigkeit (Da’wa). Daher müsse angesichts des der Personen, zu deren Gunsten der vollständigen Verfalls der islamischen Kampf geführt werden soll77: Werteordnung vorrangig die erneute Etablierung des Tawỏid, des islami- »Speziell, da wir in einer Welt leben, schen Monotheismus, durch Aufklä- in der die Menschen sich – vor allem rung in Angriff genommen werden. in einigen Gesellschaften – häufig Muslime nennen, den Tauhid aber Takfiristen greifen in diesem Zusam- nicht verstanden haben. Der Jihad zu menhang auf ein im islamischem Verteidigung ist aber zur Verteidi- Recht etabliertes Phasenmodell zu- gung der Muslime gedacht. (…) rück, demzufolge die zeitliche Ab- folge der Verkündigungen der kora- Das Kernproblem besteht jedoch da- nischen Suren in eine sogenannte rin, dass al-Qa´idah glaubt, Men- mekkanische und medinensische schen verteidigen zu müssen, die zu Phase unterteilt wird. Vor seiner Aus- einem großen Teil in Wirklichkeit die wanderung nach Medina, so die Da´wah zum Islam benötigen.«78 Lehre, seien dem Propheten Muham- mad in Mekka Verse verkündet wor- Diese Schlussfolgerungen hat Abu ¯ den, die ein gewaltsames Vorgehen Maryam ausführlich in seinem Buch gegen seine Widersacher untersagten. »Der Tawhid und der Jih¯ad – welcher Als Erklärung wird in der Regel von von beiden ist das Fundament?«79 islamischen Gelehrten angeführt, dargelegt, und sein Schüler Abu dass in dieser Phase noch kein islami- Hamzah ist ihm in der Argumenta- scher Staat wie später in Medina vor- tion mit seiner Publikation »eine ru- handen gewesen sei und die Muslime

77 Al-Saykhˇ Abu ¯ Maryam ´Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a´ ¯ al-Mikhlif, al-Tawh¯ıd wa al-Jihad ¯ ayahumaal-a ¯ sl?o.J.u.o.O.,. 2. Aufl., http://ansaaraltawheed.com, S.12 f. 78 Abu Hamzah al-Afghani, Eine ruhige Kritik an den kämpfenden Gruppen, 2010, Online-Version, abrufbar unter www.risalatun.com, S.109 f. 79 Al-Saykhˇ Abu ¯ Maryam ´Abd al-Rahman ¯ bin Tal. a ¯ ´al-Mikhlif, al-Tawh¯ıd wa al-Jihad ¯ ayahumaal-a ¯ sl?o.J.u.o.O.,. 2. Aufl., http://ansaaraltawheed.com. 80 Abu Hamzah al-Afghani, Eine ruhige Kritik an den kämpfenden Gruppen, 2010, Online-Version, www.risalatun.com. 262 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM in Mekka inmitten ihrer Widersacher in Verbindung mit dem Gebot, sich für ein gewaltsames Vorgehen zu von allen Muslimen zu distanzieren, schwach gewesen seien. Diese Tradi- treibt viele in die Isolation und führt tion aufgreifend behaupten Takfiris- bisweilen bei einigen Anhängern des ten nun, dass man sich zur Zeit in ei- Takfirismus zu psychischen Schwie- ner »mekkanischen« Phase befinde, rigkeiten, da ihre Ideologie nicht pra- da gegenwärtig nirgendwo ein islami- xistauglich ist, utopistische Züge scher Staat existiere und der Islam an trägt und die dauerhafte Umsetzung keinem Ort richtig praktiziert daher kaum möglich ist.84 würde.81 Ein bewaffneter Jih¯ad könne analog der obigen Schlussfol- Es ergibt sich auch oft eine Diskre- gerungen nicht in Betracht gezogen panz im ideologischen Gebaren der werden: Takfiristen auf virtueller Ebene und ihrer scheinbar profanen und auch »In der heutigen Situation kann je- unislamischen Lebensführung im mand – wenn er diese Zustände kennt praktischen Alltag, wie verschiedent- – und trotzdem von einem allgemei- lich von Kritikern der Takfir-Szene nen bewaffneten ›Jihad‹ überzeugt beobachtet wurde. Ein Gegner der ist, nur ein großer Jahil82 oder ein Takfir-Szene fasst in einem salafisti- Freiheitskämpfer sein.«83 schen Forum seine Eindrücke bei- spielhaft folgendermaßen zusammen: In der Praxis erweist sich aber die »(…) ich habe schon viele von diesen postulierte Mission (Da’wa) als sehr Ghulat85 gesehen, die zu Diskogän- schwierig, da Takfiris doktrinär ange- gern, Drogendielern, Vebrechern und halten werden, sich von ihrem bishe- schlimmeren mutierten. Im Net wa- rigenUmfeldloszusagen.Dieshat ren sie die größten im takfirieren der beispielsweise im Alltag zur Folge, Muslime und im wirklichen Leben dass Takfiris ihren bisherigen (musli- waren sie lediglich Kleingeister.«86 mischen) Bekanntenkreis aufgeben Dies kann bedeuten, dass die ideolo- müssen und auch keine herkömmli- gischen Vorgaben schlichtweg nicht che Moschee mehr betreten können, eingehalten werden und die Leute in da ihnen das Beten hinter einem »un- der Praxis in ihren bisherigen Verhal- gläubigen« Imam untersagt ist. Dies tensweisen verharren.87

81 http://tawhidikhlas.info/php/2010/08/23/eine-sogenannte-widerlegung-gegen-die-muslime-und-den-islam (gelesen am 20.09.2011). 82 Arabisch: Unwissender. 83 http://tawhidikhlas.info/php/2010/08/23/eine-sogenannte-widerlegung-gegen-die-muslime-und-den-islam (gelesen am 20.09.2011). 84 Gespräche des Verfassers mit Anhängern der Takfir-Szene. 85 Arabisch: Übertreiber. 86 http://www.ahlu-sunnah.com/threads/20042-Auslegung-des-Takfir/page7 (gelesen am 10.02.2010). 87 Gespräche des Verfassers mit Anhänger der Takfir Szene. MICHAEL REINHARD 263

4.2 Abgrenzung vom »puristi- betroffenen Personenkreise aus dem schen und aktivistischen Islam zur Folge haben könne, solange Salafismus« sie prinzipiell die Anwendung unisla- mischer Gesetze für nicht erlaubt Takfiristen lancieren ihre Kritik auch ansehen und allen anderen Rechts- gegen die in Deutschland hinsichtlich systeme als überlegen betrachten des Personenpotentials der Anhänger (Istiỏl¯al)89: stärkste salafistische Fraktion, den »puristischen Salafismus«.88 Als des- »Aus dem Gesagten von Pierre Vogel sen bekannteste Vertreter können in ist ersichtlich, dass er den Schirk im Deutschland der Islamprediger Hukm90 und auch den Schirk im Ta- Pierre Vogel und der Leiter der schri´ 91 nicht erkannt hat und mit den salafistisch orientierten Islamschule selben Scheinargumenten wie al-Al- in Braunschweig, Muhammad Ciftci bani 92 argumentiert. Er sieht nicht alias Ebu Enes, gelten. Diese nur den Hakim 93, welcher mit Kufr Prediger, beide in Saudi-Arabien aus- regiert und richtet, als Muslim an, gebildet, orientieren sich in ihrer sondern auch den Muscharri´min du- Islamauslegung stark am (Staats-)Sa- nillah (Gesetzgeber neben Allah). lafismus saudischer Prägung. Sie ge- Wobei beide höchstens den kleinen stehen dem Souverän weitreichende Kufr begehen, sofern sie die Schari´ah Freiheiten in der Auslegung seiner von Allah als die Beste ansehen Gesetzgebungskompetenz zu und usw...«94 vermeideninderRegeleine»Exkom- munizierung« (Takf¯ır) islamischer Puristen begründen diese Schlussfol- Regenten und Machthaber, auch gerung mit der Unterscheidung wenn diese in ihren Augen einen Teil zwischen Kufr im Glauben/Herzen der rechtlichen Bestimmungen des is- (kufr al-i´tiq¯ad) und kufr der Hand- lamischen Gesetzes in der Praxis zu- lung/Tat (al-kufr al-´amal¯ı’’). Hierbei rückstellen. Solche Vergehen – so die könne sich der »große kufr« (kufr Argumentation – könnten allenfalls akbar), der zum Ausschluss aus dem als »kleiner Unglaube« (Kufr duna ¯ Islam führt, nur im Glauben/Herzen Kufr) betrachtet werden, der islam- einstellen, während hingegen der rechtlich keine Ausschließung der Kufr der Handlung/Tat lediglich den

88 Vgl. hierzu und auch im Folgenden: http://ansaraltawhid.blogspot.co.at./2012/06/die-charkateristik-der-pseudo-sala fis.html (gelesen am 10.08.2012). 89 http://ansaraltawhid.blogspot.co.at/2012/06/pierre-vogel-ein-rufer-zum-hollenfeuer.html.(gelesen am 10.08.2012); vgl. auch: kurze Erklärung von Kufr duna Kufr und Istihlal, http://ansaraltawhid.blogspot.com. 90 Arabisch: Herrschaft. 91 Arabisch: Gesetzgebung. 92 Al-Albani gilt als Referenzgelehrter des »purististischen Salafismus« und hat sich in der Frage der Einführung und Anwendung unsislamischer Gesetze dafür ausgesprochen, diese Taten als »kleiner Unglaube« zu behandeln. 93 Arabisch: Regent, Herrscher. 94 http://ansaraltawhid.blogspot.co.at/2012/06/pierre-vogel-ein-rufer-zum-hollenfeuer.html.(gelesen am 10.08.2012). 264 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM

Tatbestand des »kleinen kufr (kufr as- »Götzen« durch ihre islamrechtli- ghar)« erfüllen könne.95 chen Gutachten zu legitimieren und auf diese Weise die Einführung unis- Takfiristen kritisieren nun, dass die- lamischer Verhaltensweisen vorran- ses Verständnis vom Begriff des »Un- gig zu ermöglichen.98 glaubens (kufr)« zwangsläufig dazu führt, dass »Ungläubige« im prakti- Hinsichtlich des »aktivistischen Sala- schen Tun und Handeln ungestraft fimus« wird von den Takfiristen ins- gegen islamische Gesetze und besondere die Rekurrierung dieser Grundsätze verstoßen können, so- Strömung auf ein »Kosten-Nut- lange sie im Herzen den wahren zen«(masla. ỏa) Modell moniert. Auf Glauben bewahren. Im Bereich der Kosten der Umsetzung des wahren »Erlassung von Gesetzen neben Al- Monotheismus, so der Vorwurf, wür- lah (taˇsr¯ı´min dun ¯ Allah)« würde dies den sich Salafisten an dem ketzeri- aber dazu führen, dass solche Taten schen System der demokratischen nicht geahndet werden können. So- Wahlen beteiligen, um auf diese Weise mit müssten auch die heutigen Staats- islamische Werte implementieren zu chefs und Regierungen, die sich aus können. Dies sei gemäß der Kritik der Sicht der Takfiristen durch ihre Ein- Takfiris jedoch von einem islami- führung unislamischer Gesetzgebung schen Standpunkt betrachtet unzu- Eigenschaften und Kompetenzen lässig, da es eine Akzeptanz der Gottes anmaßen und folglich von ih- jeweiligen Verfassungen und Rechts- nen als Götzen (ţaw¯agh¯ıt) betrachtet ordnungen implizieren würde, die werden, nach wie vor als Muslime gegen den Islam gerichtet seien. In gelten.96 diesem Kontext wird anscheinend vom Takfirspektrum die aktuelle In diesem Sinne schrecken Takfiristen Entwicklung in Ägypten sehr auf- auch nicht davor zurück, über die merksam verfolgt: drei maßgeblichen Referenzgelehrten des Salafismus Ibn B¯az, Ibn ´ Utha- »Die Pseudo-Salafis erlauben wegen ym¯ın und al-Alb¯an¯ıdenTakfirzu eine Maslaha (Nutzen) die Teilnahme verhängen.97 Diesen Gelehrten wird an den demokratischen Wahlen und seitens der Takfiristen zur Last gelegt, sogar, dass man sich in die Parlamente die widerrechtlichen Handlungen der hineinsetzt und dort Gesetze be-

95 Vgl.Abu Hamzah al-Afghani, Der Schirk in der Gesetzgebung, online-Version, www.risalatun.com, S.79 ff. Abu Hamzah al-Afghani nimmt an dieser Stelle Bezug auf Ciftci. 96 Ebenda, S.82 ff. 97 Vgl. für eine verbal noch zurückhaltende Abhandlung: Abu Hamzah al-Afghan¯ ¯ ı, Tasa`ul ¯ at ¯ h¯adi`a hawla mawqif al- Suyˇ ukh`IbnB¯ ¯ az wa `Ibn ´Uthaym¯ın wa al-Alban¯ ¯ ı min mas`alat al-Taˇsr¯ı´min duna ¯ Allah (ruhige Fragen über die Ein- stellung der Scheichs Ibn Baz, Ibn Uthaymin und al-Albani hinsichtlich dem Erlassen von Gesetzen neben denen von Allah), 1432/2011, http://risalatun.com. 98 Vgl. Die Gelehrten des Taghut, http://ansaraltawhid.blogspot.com; vgl. http://ansaraltawhid.blogspot.co.at/2012/06/die-saudischen-priester-ibnu-uthaymin.html (gelesen am 10.08.2012). MICHAEL REINHARD 265 schließt, sofern man an der Regierung überhaupt, dem Islam nur nominell beteiligt ist. So haben sie in Ägypten angehören und wären durch ihre Ta- die ›Hizb al-Nur‹ gegründet und be- ten und Verhaltensweisen entweder teiligen sich am Din der Demokratie als Abtrünnige oder gar als Nicht- (Volksherrschaft) und sitzen mittler- muslime zu betrachten. Diese extre- weile im Parlament und haben die menAnsichtenwerdenvonanderen Treue zur ägyptischen Verfassung Salafisten, auch von den Jihadisten, (= Taghut) geschworen.«99 nicht geteilt, die in ihrer Missionstä- tigkeit zur Überzeugung und Mobili- sierung breiter Bevölkerungs- 5. Fazit schichten eher einen inklusivistischen Ansatz verfolgen, indem sie bei der Zusammenfassend lässt sich konsta- Verhängung des Takf¯ır größere Zu- tieren, dass die Takfiristen eine eigen- rückhaltung üben, da sie andere für ständige Subströmung innerhalb des ihre Ansichten gewinnen wollen. Phänomenbereichs des Salafismus Takfiristen hingegen verhalten sich darstellen. Denn durch ihre dogmati- exklusivistisch, weil es ihnen primär sche und ideologische Ausrichtung darum geht, sich von anderen auf weisen sie hinreichende Distinkti- kompromisslose Weise aus- und ab- onsmerkmale auf, die sie von allen an- zugrenzen. deren salafistischen Richtungen, dem jidhadistischen, aktivistischen und Auch wenn Takfiristen als eine Ab- dem puristischen Salafismus, unter- spaltung vom Jihadismus zu betrach- scheiden. ten sind und sie daher hinsichtlich der von ihnen bezogenen Positionen und Hierbei hat sich gezeigt, dass die Tak- Einstellung mit dem jihadistischen firisten insbesondere durch ihre ei- Salafismus die größte Schnittmenge genwillige und im islamischen Ge- aufweisen, delegitimieren sie den samtkontext schon fast revolutionäre Jih¯ad im Sinne eines bewaffneten Auslegung des Takf¯ır-Begriffs in ein Kampfes zum gegenwärtigen Zeit- innersalafistisches Spannungsfeld ge- punkt. Sie argumentieren in diesem raten sind, da sie zu allen anderen sa- Zusammenhang, dass ein Jihad zur lafistischen Denominationen in ein Verteidigung der Muslime gegen äu- antagonistisches Verhältnis treten ßere Feinde, wie von jihadistischen und den anderen ihren islamischen Gruppen behauptet, in der heutigen Charakter absprechen. Zeit nicht zur Anwendung kommen könne, da es kaum noch Muslime Die meisten der heute lebenden Mus- gebe, zu deren Gunsten ein Kampf lime sowohl in der islamischen als geführt werden könne. Vielmehr auch in der westlichen Welt würden müsse das Bekenntnis der Menschen nach Meinung der Takfiristen, wenn zum wahrhaftigen Islam durch ge-

99 http://ansaraltawhid.blogspot.co.at/2012/06/die-charakteristik-der-pseudo-salafis.html. 266 DIE TAKFIR-BEWEGUNG IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM zielte Missionsarbeit wieder neu auf- Handlungen seitens der Anhänger gebaut werden. des Takf¯ır-Spektrums münden. Zu- mal die Bindungskraft der ideologi- Trotz dieser ideologisch motivierten schen Leitpersonen innerhalb des Absage an den Jih¯ad, der im salafisti- Takfirbereichs nur sehr schwach aus- schen Kontext zwar terroristische geprägt ist und folglich eine starke Züge tragen kann, aber auch als legi- Gruppenkohäsion, die bei den Ge- time militärische Kriegsführung be- folgsleuten konsistente und einheitli- trachtet wird, können jedoch andere che Verhaltensweisen begünstigen Gewaltformen im Bereich des Takfi- würde, nicht vorhanden ist. rismus virulent werden. Hierbei ist vor allem an die Anwendung soge- Die selbst für Salafisten extremen nannter koranischer Körperstrafen Ansichten fordern von den Anhän- zu denken, die im Zusammenhang gern und Befürwortern des Takfiris- mit der Sanktionierung bestimmter, mus Verhaltensweisen ein, die sich im als unislamisch betrachteter Verhal- praktischen Alltag in Gänze kaum tensweisen stehen, wie z.B. Aposta- umsetzen lassen. Denn die Abgren- sie, Ehebruch, Diebstahl usw. Denn zung von anderen Muslimen, vor al- Takfiristenwähnensichalsdieeinzi- lem das Verbot, mit anderen liturgi- gen wahren Vertreter des islamischen sche Pflichten wie das gemeinsame Glaubens und fordern zumindest Gebet zu verrichten, münden zudem verbal die akribische Umsetzung unweigerlich in Seklusion und Ab- sämtlicher als islamisch angesehener schottung von einer Umwelt, die von Gesetze und Bestimmungen in allen Takfiristen als konträr strukturiert zu Lebensbereichen ein. Hierbei ver- ihren Glaubenssätzen wahrgenom- hängen sie zumindest über einen Teil men wird, wobei die lebensfremde des muslimischen Spektrums einsei- und utopistisch anmutende Ideologie tig das Urteil der Apostasie, ein Ver- des Takfirismus in der Realität nicht gehen, das ihrer Ansicht nach prinzi- einmal ansatzweise eine Entspre- piell mit der Todesstrafe geahndet chung finden kann. Dieser Umstand werden kann. Dies in Verbindung mit kann dann auch in einigen Fällen zu der doktrinär verankerten Pflicht ei- einer Abwendung von Takfirismus nes jeden Gläubigen, sich von »Un- führen, so dass sich einzelne Perso- gläubigen« loszusagen und ohne eine nen schließlich entweder anderen sa- religiöse Instanz zu konsultieren den lafistischen Denominationen zuwen- Takf¯ır über sie auszusprechen, kann den oder sogar ganz aus der Szene ohne weiteres in selbstjustiziale aussteigen. 267

»Ausländerextremismus« im Wandel?

SERCAN BAYRAK, ILKER VIDINLIOGLU˘

1. Einleitung Weil von diesem Personenkreis Ge- Mit dem von den Verfassungsschutz- fahren für Rechtsgüter der Bundesre- behörden geprägten Begriff »Auslän- publik Deutschland ausgehen, wurde derextremismus« werden gemeinhin im Gesetz über den Verfassungs- alle extremistischen Bestrebungen schutz in Baden-Württemberg (Lan- bezeichnet, die ihren Ursprung im desverfassungsschutzgesetz, künftig: Ausland haben. Hierzu gehören im LVSG) ein entsprechender Beobach- Wesentlichen: tungsauftrag für das Landesamt für – Separatistische Organisationen, Verfassungsschutz festgeschrieben. die zum Zwecke der Gründung Voraussetzung für ein Tätigwerden eines eigenen Staates für eine be- des Verfassungsschutzes ist das Vor- stimmte Volksgruppe territoriale liegen tatsächlicher Anhaltspunkte Ansprüche gegenüber einem be- für »Bestrebungen, die gegen die frei- reits existierenden Staat erheben. heitliche demokratische Grundord- – Extrem nationalistische Organi- nung, den Bestand oder die Sicherheit sationen, die von einer Über- des Bundes oder eines Landes gerich- legenheit ihrer eigenen Ethnie1 tet sind oder eine ungesetzliche Be- ausgehen und durch die Abwer- einträchtigung der Amtsführung der tung anderer Völker gekennzeich- Verfassungsorgane des Bundes oder net sind. eines Landes oder ihrer Mitglieder – Linksextremistische Organisatio- zum Ziele haben« (§ 3 Abs.2 Ziffer 1 nen, die sich auf unterschiedliche LVSG). Des Weiteren lösen »Bestre- Formen des Marxismus-Leninis- bungen im Geltungsbereich des mus berufen und in ihrem Her- Grundgesetzes, die durch die An- kunftsland auf revolutionärem wendung von Gewalt oder darauf ge- Wege eine andere Staatsform her- richtete Vorbereitungshandlungen beiführen wollen. auswärtige Belange der Bundesrepu- – Religiös-nationalistische Organi- blik Deutschland gefährden« (§ 3 sationen, die unter Berufung auf Abs.2 Ziffer 3 LVSG) und »Bestre- religiöse Quellen und Autoritäten bungen im Geltungsbereich dieses die Gesellschaftsordnung nach re- Gesetzes, die gegen den Gedanken ligiösen Normen prägen wollen.2 der Völkerverständigung (Artikel 9

1 Unter dem Begriff »Ethnie« wird hier eine Gruppe von Personen verstanden, die sich aufgrund der Überzeugung, eine gemeinsame Vergangenheit und gemeinsame kulturelle Merkmale zu besitzen, als zusammengehörig betrachten. Gemeinsame kulturelle Merkmale können sich etwa in Tradition, Sprache, Religion oder Lebensgewohnheiten äu- ßern. 2 Seit 2011 werden islamistische Bestrebungen im Verfassungsschutzverbund getrennt vom allgemeinen Ausländer- extremismus behandelt – auch wenn sie ihren Ursprung im Ausland haben. 268 »AUSLÄNDEREXTREMISMUS« IM WANDEL?

Abs.2 des Grundgesetzes), insbeson- die Menschen sondern mit ihnen dere gegen das friedliche Zusammen- auch der Konflikt migriert, der dann leben der Völker (Artikel 26 Abs.1 im bzw. vom Aufnahmeland aus wei- des Grundgesetzes), gerichtet sind« ter ausgetragen wird. Der Kreis (§ 3 Abs.2 Ziffer 4 LVSG), eine Beob- schließt sich, wenn Gelder ins Ur- achtung durch den Verfassungs- sprungsland transferiert werden oder schutz aus. Personen als Aktivisten bzw. Kämp- fer dorthin (zurück-)gehen. Das klassische Erklärungsmodell für diese »ausländerextremistischen« Phä- Deutschland spielt in dieser Vorstel- nomene geht von einem im Ausland lung »lediglich« die passive Rolle ei- existierenden politischen Konflikt nes sicheren Rückzugs- bzw. Akti- aus, der eine Migration von Men- onsraums. Die hier vorherrschenden schen auslöst, die am Konflikt betei- gesellschaftlichen Bedingungen wer- ligt oder zumindest von ihm betrof- den dabei nur zum Teil berücksich- fensind.VonAusländerextremismus tigt. wird gesprochen, wenn nicht nur

Quelle: Eigene Darstellung SERCAN BAYRAK, ILKER VIDINLIOGLU˘ 269

Im Folgenden soll diskutiert werden, 1980 zu nennen. Hier griff die Armee inwieweit dieses Erklärungsmodell ein, um die instabile innenpolitische und damit die beiden Definitions- Situation, die durch blutige Ausei- merkmale – »Ursprung im Ausland« nandersetzungen zwischen den An- und »ausländische Akteure« – noch hängern des linksorientierten und des Gültigkeit haben bzw. ob sich dieser rechtsorientierten politischen Lagers Phänomenbereich3 im Wandel befin- gekennzeichnet war, zu beenden. Da- det. Anschließend muss auch die raufhin flohen viele politisch aktive Frage gestellt werden, ob der Begriff Personen auch nach Deutschland. »Ausländerextremismus« noch zeit- Damit hatte der Putsch wie auch der gemäß ist. Zur Beantwortung dieser danach anhaltende Kampf gegen den Fragen wird eine analytische Tren- Kommunismus in der Türkei zur nung in exogene und endogene Kom- Folge, dass beispielsweise türkische ponenten vorgenommen, die unter linksextremistische Organisationen den Schlagwörtern »Konfliktimport« nach Deutschland auswichen und bzw. »Hausgemachter Extremismus« unter Beibehaltung ihrer Heimatori- zusammengefasst werden. entierung verstärkt von hier aus ope- rierten.

2. »Konfliktimport?« – Die Dieter Rucht und Wilhelm Heitmey- exogenen Komponenten er verwenden hinsichtlich der politi- schen Aktivitäten von Minderheiten- In Deutschland leben 15,7 Millionen gruppen, »die sich in irgendeiner Menschen mit Migrationshinter- Weise auf das Herkunftsland bezie- grund – das entspricht einem Anteil hen«, die Bezeichnung »Diaspora- von 19,3 % an der Gesamtbevölke- Politik«.5 Dies kann umfassen: rung4. Da liegt es auf der Hand, dass • die Einflussnahme auf die deutsche die politische Situation im Allgemei- Politik und Öffentlichkeit zuguns- nen und Konfliktkonstellationen im ten des Heimatlandes oder dortiger Speziellen in den Herkunftsregionen politischer Konstellationen; der Migranten Einfluss auf sie und • die Einflussnahme auf staatliche damit auf die gesellschaftliche Situa- Stellen des Heimatlandes für eine tion in Deutschland haben. Verbesserung der Lage der hiesi- gen Migranten; Als besonders markantes Ereignis ist • dass ohne Bezug zum deutschen etwa der Militärputsch in der Türkei politischen System die Politik im

3 Einen Überblick über die Phänomenbereiche des Ausländerextremismus in Deutschland geben der Verfassungs- schutzbericht des Bundesministeriums des Innern sowie die Verfassungsschutzberichte der einzelnen Bundesländer, herausgegeben vom jeweiligen Innenministerium. 4 Vgl. Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes, Nr.355 vom 26.09.2011. 5 Jürgen Fijalkowski/Helmut Gillmeister, Ausländervereine – Ein Forschungsbericht. Über die Funktion von Eigenorga- nisationen für die Integration heterogener Zuwanderer in einer Aufnahmegesellschaft am Beispiel Berlins, Berlin 1997, S.245 f., zitiert in Dieter Rucht/Wilhelm Heitmeyer, Mobilisierung von und für Migranten, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt/New York, 2008, S.578. 270 »AUSLÄNDEREXTREMISMUS« IM WANDEL?

Herkunftsland Thema und gege- Aktivitäten sein. Zu typischen Er- benenfalls Gegenstand versuchter scheinungsformen einer Diasporapo- Einflussnahme oder jedenfalls der litik gehören etwa die Proteste unter Kritik wird; spanischen, portugiesischen und grie- • die Austragung politischer Kon- chischen Gastarbeitern gegen die in flikte des Herkunftslandes inner- ihren Heimatstaaten von Militärdik- halb der Immigrantengruppe in tatur und Autoritarismus geprägten Deutschland. politischen Systeme in den 1960er und 70er Jahren.7 Die in Deutschland Für die türkischen Migranten etwa analog zur Situation in den Heimat- konstatiert Stefan Luft, dass sich die staaten ebenfalls gewalttätig verlau- politische und gesellschaftliche Pola- fenden Aktivitäten, beispielsweise im risierung in der Türkei in West- Zusammenhang mit den innerjugo- deutschland widerspiegelten. Daher slawischen Entwicklungen oder dem handle es sich um »mitgebrachte Konflikt in den türkischen Kurden- Konflikte«, wobei diese Beobachtung gebieten, belegen die Abhängigkeit – wie später gezeigt wird – auch auf der politischen Positionierung her- andere Migrantengruppen und ihre kunftslandorientierter Migranten von Herkunftsländer übertragen werden den heimischen Entwicklungen. kann.6 Ein von außen induzierter, ethnisch motivierter »Konfliktim- Ein vor allem die zugewanderten port«, wie ihn Thomas Brieden für Migranten betreffender exogener die kroatisch-serbischen und tür- Faktor ist die Sozialisation im Her- kisch-kurdischen Spannungen der kunftsland. Auch wenn spätere Mo- 1990er Jahre feststellt und wie er noch difikationen möglich sind, prägt vor näher vorgestellt werden wird, ist allem die frühe politische Sozialisa- dabei lediglich eine der möglichen tion ganz entscheidend und nachhal- Ursachen für einen Konflikt. tig. Ferner verschwinden Zugehörig- keitsgefühle, die unter den Migranten »Diaspora-Politik« ist demgemäß unterschiedlich intensiv ausgeprägt nicht auf »mitgebrachte Konflikte« sind, nicht mit der Migration in einen beschränkt, sondern umfasst die anderen Staat. Aufgrund familiärer Beschäftigung mit einer großen Band- Sozialisation liegt es nahe, dass Kin- breite gesellschaftlich-politischer The- der von Migranten, die von gesell- men und kann sich auf unterschied- schaftlich-politischen Konflikten des lichste Art und Weise ausdrücken. Herkunftsstaates geprägt wurden, Das können legale oder illegale, ver- hiervon nicht unbeeindruckt bleiben fassungskonforme oder aus Sicht des dürften. Da Migrantenfamilien häu- Verfassungsschutzes problematische fig eine relativ hohe familiäre Stabili-

6 Vgl. Stefan Luft, Skandal und Konflikt: Deutsch-türkische Themen, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte: 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei, Ausgabe 43/2011, Bonn 2011, S.13. 7 Vgl. Roland Rucht/Wilhelm Heitmeyer 2008, S.578. SERCAN BAYRAK, ILKER VIDINLIOGLU˘ 271 tät und ausgeprägte Unterstützungs- flikte mit Auswirkungen auf potenziale bieten, ist die Institution Deutschland festzustellen ist, handelt Familie ein wichtiger Bezugspunkt es sich bei Prozessen der Ethnisie- für das Individuum8.Auchwenndie rung keineswegs um eine neuartige Kinder ihren Lebensmittelpunkt oft- Entwicklung. »In den USA entstand mals im Zielland verorten und dort die Vorstellung eines ›ethnic revival‹ weiteren sozialisierenden Einflüssen bereits in den 1960er Jahren.«11 ausgesetzt sind, so ist anzunehmen, dass einige von ihnen weiterhin durch Thomas Brieden hat die These des die politische Konfliktmatrix der el- Konfliktimports differenzierter aus- terlichen (oder großelterlichen) Hei- gearbeitet. Sein Ausgangspunkt dabei mat beeinflusst werden.9 So kann der ist, dass politisch-ethnische Spannun- Herkunftskontext über Generatio- gen im Herkunftsland auch auf nen hinweg Einfluss ausüben. Mitglieder von Volksgruppen in Ziel- ländern ethnisierend wirken. Im Un- Dementsprechend beobachten die terschieddazu,wieetwaLipsetund Behörden für Verfassungsschutz Rokkan über sozio-ökonomische auch solche Organisationen, die »ih- Konfliktlinien argumentieren (Kapi- ren ideologischen oder organisatori- tal gegen Arbeit, Kirche gegen Staat, schen Ursprung im Ausland haben, Stadt gegen Land, Zentrum gegen Pe- aber Aktivitäten entfalten, die direkt ripherie)12, orientieren sich politische oder indirekt Auswirkungen auf die Konflikte demnach auch an ethni- Bundesrepublik Deutschland besit- schen Grenzziehungen. Brieden zeigt zen.«10 Regelmäßig betonen die Ver- anhand der serbisch-kroatischen und fassungsschutzbehörden in ihren der türkisch-kurdischen Immigran- Publikationen, dass Entwicklungen tengruppen auf, wie die Konflikte in in den Herkunftsländern maßgeblich den Heimatstaaten zu einer Stärkung für die Aktivitäten in Deutschland der ethnischen Identität, zu einer eth- sind. Auch wenn nach dem Ende des nischen Segmentierung und zu einem Kalten Krieges eine weltweite Zu- Import des ›eigentlichen‹ Konflikts, nahme ethnisch motivierter Kon- einer »politischen und gesellschaftli-

8 Vgl. Helen Baykara-Krumme/Daniela Klaus/Anja Steinbach, Eltern-Kind-Beziehungen in Einwandererfamilien, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte: 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei, Ausgabe 43/2011, Bonn 2011, S.49. 9 Eine anhaltend hohe Identifikation unter Migranten und ihren Kindern mit dem Herkunftsland legen etwa die Ergeb- nisse der Studie »Deutsch-Türkische Lebens- und Wertewelten 2012«, einer repräsentativen Befragung von Türken und Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland vom Juli/August 2012, nahe. 10 Siegfried Schwan, Beobachtung des Ausländerextremismus in der Bundesrepublik Deutschland unter sich verän- dernden globalpolitischen Rahmenbedingungen, in: Armin Pfahl-Traughber/Monika Rose-Stahl (Hrsg.), Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Schule für Verfassungsschutz, Brühl 2007, S.552. 11 Wolfram Stender, Ethnische Erweckungen, in: Mittelweg 36, 4/2000. 12 Martin Lipset und Stein Rokkan entwickelten die Cleavage-Theorie, die auf der Basis von langfristigen Konfliktlinien (»Cleavages«) in der Gesellschaft die Entwicklung nationaler Parteiensysteme durchschlagend erklären konnte. Vgl. Seymour Martin Lipset/Stein Rokkan: Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments. An Introduction, in: dies. (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments, New York 1967. 272 »AUSLÄNDEREXTREMISMUS« IM WANDEL? chen Polarisierung«13 im Herkunfts- werden (Reisen, Post, Telefon, Geld- land nach Deutschland führen. Die transfer, Zeitung, Heimatfernsehen ethnische ›Aufladung‹ von Konflik- via Satellit usw.).«15 ten gelingt dabei Rucht und Heit- meyer zufolge erst dann, wenn unter Im Gegensatz zu früheren Migrati- den Angehörigen der beteiligten onsbewegungen, in denen die an- Volksgruppen zuvor eine kollektiv kommenden Gruppen nach und nach wahrgenommene ethnisch definierte in die neue Gesellschaft integriert Identität entwickelt werden konnte.14 bzw. assimiliert wurden, ermöglichen moderne Kommunikations- und Daher ist es naheliegend, sich bei der Transportmittel einen dauerhaften Suche nach Ursachen von Konflik- und intensiven Kontakt zur Her- ten nicht nur auf Konstellationen im kunftsregion. Nicht selten findet da- Aufnahmeland zu konzentrieren, rüber hinaus teilweise eine Re-Migra- sondern die gesellschaftlichen Be- tion in das Heimatland oder eine Pen- dingungen im Ursprungsland näher delmigration zwischen mehreren zu betrachten. Zeitgenössische Eth- Staaten statt.16 nisierungsprozesse beispielsweise zeichnen sich gegenüber früheren »Jenseits aller konkreten ›Brücken‹ Ethnisierungswellen durch den zu- zwischen Herkunfts- und Zuzugs- nehmenden Einfluss preiswerter und land,dievonmodernenMigrantenge- schnellerer Transportmöglichkeiten baut, gepflegt und begangen werden,« einerseits und elektronischer Mas- so Brieden weiter, werden die beiden senkommunikationsmedien, etwa Lebensorte auch durch eine soziokul- des Internets, andererseits aus. Brie- turelle Verbundenheit zur Heimatge- den führt hierzu an, dass sellschaft miteinander »kurzgeschlos- sen«.17 Diese »ständige Verbindung »heutzutage Migration nicht, wie bei- vonEmigrantenzuihrerHerkunfts- spielsweise die Amerika-Auswande- gesellschaft« legt nahe, dass Prozesse rung im 19. Jahrhundert, den ›Ab- der Ethnisierung, insbesondere wenn bruch aller Brücken‹ zur Heimat be- sie konfliktbehaftet sind, »von den deutet, sondern dass bei – oder trotz Emigranten aufgenommen, mitvoll- – Migration intensive Beziehungen zogen und somit ins Zuzugsland zwischen Heimat- und Emigrati- transferiert werden können.« Brieden ons-»ort« (…) aufrechterhalten wer- schlussfolgert daher, dass »die Aus- den können und tatsächlich gepflegt tragung ethnischer Konflikte im

13 Stefan Luft 2011, S.13. 14 Vgl. Dieter Rucht/Wilhelm Heitmeyer 2008, S.578. 15 Thomas Brieden, Bedeutung von Konflikten im Herkunftsland für Ethnisierungsprozesse von Immigranten aus der Türkei und Ex-Jugoslawien, FES Library 1995, S.34. 16 Z.B. Jan Fuhse, Transnationalismus, Ethnische Identität und interethnische Kontakte von italienischen Migranten in Deutschland, in: Ludger Pries/Zeynep Sezgin (Hrsg.), Jenseits von ›Identität oder Integration‹. Grenzen überspan- nende Migrantenorganisationen, Wiesbaden 2010, S.143–168. 17 Thomas Brieden 1995, S.34. SERCAN BAYRAK, ILKER VIDINLIOGLU˘ 273

Zuzugsland ihre Ursache nicht in den sche Bewegungen überhaupt entste- sozialen Beziehungen im Zuzugsland hen können und somit ein Konflikt selbst findet, sondern Resultat von aus dem Herkunftsland in das Zu- sozialen Konstellationen im Her- zugsland importiert werden kann.20 kunftsland ist.«

Seinen Untersuchungen zufolge ma- 3. »Hausgemachter Extremis- chen fast alle Migranten, die sich nun mus?« – Die endogenen mehr als bisher ethnisch identifizier- Komponenten ten, »den Konflikt im Herkunftsland für ihre ethnische (Re-)Identifikation Eine der grundlegenden Fragen in der verantwortlich«18, was eine eindeu- Migrationsforschung, aber auch bei tige Bestätigung für seine Hypothese der Beschäftigung mit Phänomenen des Konfliktimports ist. Bei diesen des Ausländerextremismus ist, wa- Personen sind auch erheblich stärker rum sich Immigranten überhaupt Feindbilder und Aversionen gegen- heimatlandorientiert engagieren und über den Mitgliedern der Konflikt- sich z.B. verstärkt mit der eigenen ethnie festzustellen. Zu betonen ist, Ethnie identifizieren – auch solche, dass insbesondere Angehörige der die bereits in der zweiten oder dritten zumindest anfangs strukturell schwä- Generation im Einwanderungsland cheren Konfliktethnie, hier Kroaten leben.21 Rucht und Heitmeyer verste- und Kurden, eher Aversionen hegen hen Aktivitäten von Migranten, die und ihre Feindbilder pflegen. Hier- auf die Aufnahmegesellschaft gerich- mit geht ferner einher, dass unter tet sind, als »kollektive Identitätspo- Kroaten bzw. Kurden eine größere litik« bzw. »Ethno-Politik«. Sie die- Unterstützung und Sympathie für nen demnach der Binnenintegration das Vorgehen der kroatischen Regie- in kultureller, politischer oder reli- rung bzw. der »Arbeiterpartei Kur- giöser Hinsicht und der Interessenar- distans« (PKK) zu finden ist, als bei tikulation zur Verbesserung des öko- Türken und Serben und der Politik nomischen, sozialen oder kulturellen ›ihrer‹ Herkunftsregierungen.19 Die Immigrantenstatus.22 Existenz ethnischer Identifikation unter Migranten ist die zwingend Diese Aktivitäten entsprechen dem notwendige, wenngleich nicht hinrei- Bedürfnis vieler Migranten, sich in ei- chende Bedingung dafür, dass ethni- ner relativ vertrauten sozialen Umge-

18 Ebenda 1995, S.46. 19 Vgl. Ebenda 1995, S.48. 20 Vgl. Thomas Brieden, Konfliktimport durch Immigration. Auswirkungen ethnischer Konflikte im Herkunftsland auf die Integrations- und Identitätsentwicklung von Immigranten in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1996, S.132. 21 Vgl. Jan Hanrath, Spannungen zwischen Migrantengruppen: Importiert oder hausgemacht? Empfehlungen an kom- munale Akteure am Beispiel des türkisch-kurdischen Konflikts, in: Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.), Policy Paper, Nr.33, Bonn 2011(a), S.4. 22 Fijalkowski/Gillmeister 1997, in: Dieter Rucht/Wilhelm Heitmeyer 2008, S.578f. 274 »AUSLÄNDEREXTREMISMUS« IM WANDEL? bung (Sprache, Traditionen, Bräuche tion, der Mangel an Identität und da- etc.) aufzuhalten. Die SINUS-Studie mit die Suche nach Akzeptanz stär- über Migranten-Milieus in Deutsch- ken Abgrenzungstendenzen und den land hebt hervor, dass multiple Iden- Rückzug in ethnische Nischen oder titäten ein weit verbreitetes Phäno- auch gesteigerte Religiosität. Die Ori- men sind: Demnach leben 83 % der entierung an der eigenen Gruppe, de- befragten Menschen mit Migrations- ren Mitglieder mit denselben Proble- hintergrund gern in Deutschland; men und Gefühlen der Ausgrenzung 82 % fühlen sich mit Deutschland durch die Gesellschaft und die Politik eng verbunden. Gleichzeitig fühlen des Aufnahmelandes zu kämpfen sich 68 % mit ihrem Herkunftsland haben, wird verstärkt. (...) Zusam- eng verbunden. Daraus wird gefol- mengenommen kann dies zu Kon- gert, »dass die Verbundenheit mit fliktsituationen führen, in denen die dem Herkunftsland und mit Deutsch- zugrunde liegenden Ursachen sozia- land zwei unabhängige Merkmale ler oder individueller Natur sind, je- sind, die einander nicht ausschlie- doch in ethnischer oder religiöser ßen.«23 Wann und warum werden je- Form zum Ausdruck kommen.«25 doch entsprechende Aktivitäten pro- blematisch? Im Zusammenhang mit extrem nationalistischen Jugendlichen mit EinevonvielenBeobachterninsFeld türkischem Migrationshintergrund geführte Kausalbeziehung scheint schreibt Daniel Bax, dass es der Teu- zwischen Radikalisierungstendenzen felskreis aus fehlender schulischer und negativen Bedingungen in den Bildung, mangelnden Chancen auf jeweiligen Aufenthaltsländern im dem Arbeitsmarkt und vielfältig er- Sinne von Diskriminierungserfah- lebter Diskriminierung sei, der viele rungen zu herrschen, wobei sich der Jugendliche zur leichten Beute für Begriff der Diskriminierung in gesell- antidemokratische Gruppen mache, schaftliche, institutionelle und in die ihnen mit ihren Ideologien ein rechtliche Diskriminierung differen- Gefühl von Stolz und Würde zurück- zieren lässt.24 geben würden.26 Mit einer anderen Zielsetzung zwar greifen auch Orga- »Die aus der Diskriminierung in nisationen aus dem türkischen links- Deutschland resultierende Frustra- extremistischen Lager immer wieder

23 Carsten Wippermann/Berthold Bodo Flaig, Lebenswelten von Migrantentinnen und Migranten, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte: Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten, Aus- gabe 5/2009, Bonn 2009, S.5. 24 Vgl. Seyime Erben, Zwischen Diskriminierung und Straffälligkeit – Diskriminierungserfahrungen straffällig gewor- dener türkischer Migrantenjugendlicher der dritten Generation in Deutschland, München 2009, S.38 ff. 25 Jan Hanrath, Vielfalt der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte: 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei, Ausgabe 43/2011, Bonn 2011(b), S.21. 26 Vgl. Daniel Bax, Träume von Turan – Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland, in: Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Einwanderungsgesellschaft, Berlin 2010, S.45. SERCAN BAYRAK, ILKER VIDINLIOGLU˘ 275 die Themen Rassismus und Diskri- ganisationen, die das Konzept der minierung auf und führen hierzu Ak- Ethnizität stark betonen und einbe- tionen durch. Doch wenden sich Ju- ziehen, für einige Migranten verlo- gendliche nicht nur extrem nationa- ckend sein.28 listischen oder linksextremistischen Organisationen zu, sondern sie su- Naika Foroutan und Isabel Schäfer chen Halt und Orientierung etwa in stellen fest, dass Jugendliche mit Mi- der Religion. Jan Fuhse stellt im Hin- grationshintergrund durch Anleh- blick auf Migranten mit türkischer, nung an radikal-politische Gruppie- griechischer und italienischer Her- rungen Kraft und Selbstsicherheit ge- kunft fest: »Je stärker eine Migran- winnen, eine Aura der Angst produ- tengruppe diskriminiert wird, desto zieren und letztendlich eine stärkere eher greift sie auf Religion für die Beachtung finden. Identitätsfindung Aufwertung der eigenen Identität zu- sei auf Anerkennung durch die ande- rück.«27 ren angewiesen, und Identitätsverlust führe zu Selbstverachtung und Ag- Ethnisierungsprozesse lassensichin gression gegenüber der Außenwelt. Selbstzuschreibung und Fremd- Durch Rückgriff auf traditionelle zuschreibung unterscheiden. Emre Muster der imaginierten Herkunfts- Arslan kommt ebenfalls im Zusam- kultur, deren Verklärung und Über- menhang mit Beobachtungen extrem höhung gegenüber der deutschen nationalistischer Jugendlicher mit Mehrheitskultur, erlangten die Be- türkischem Migrationshintergrund troffenen vermeintliche Stärke und zu dem Schluss, dass es im Prozess Selbstbewusstsein.29 der Ethnisierung eine Wechselwir- kung zwischen Selbst- und Fremdzu- Bei der Selbstethnisierung darf, wie schreibung gibt. Die Selbstzuschrei- etwa Jan Hanrath für die in Deutsch- bung würde allein für eine ethnische land und anderen europäischen Län- Identität nicht ausreichen, sondern es dern lebenden »türkeistämmigen« bedürfe in entscheidender Weise auch Personen festgestellt hat, die Bedeu- einer Fremdethnisierung. Somit bilde tung demokratischer Bedingungen die Fremdethnisierung der Migran- in Deutschland nicht unterschätzt ten vom deutschen politischen werden. Auch Claus Leggewie zu- System die Basis für die Selbstethni- folge »entdeckten« die meisten Kur- sierung dieser Gruppen. In dieser den, die als Gastarbeiter aus der Tür- Situation könnten jene Migrantenor- kei kamen, ihr »Kurdischsein« erst

27 Jan Fuhse, Religion in der Migration – Ein Blick auf das Einwanderungsland Deutschland, in: Vorgänge 173/2006, S.54–62. 28 Vgl. Emre Arslan, Der Mythos der Nation im Transnationalen Raum – Türkische Graue Wölfe in Deutschland, Wiesba- den 2009, S.231. 29 Vgl. Naika Foroutan/Isabel Schäfer, Hybride Identitäten – muslimische Migrantinnen und Migranten in Deutschland und Europa, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte: Lebenswelten von Mi- grantinnen und Migranten, Ausgabe 5/2009, Bonn 2009, S.14. 276 »AUSLÄNDEREXTREMISMUS« IM WANDEL? unter den Bedingungen eines offenen freien Meinungsäußerung und haben politischen Diskurses in Europa.30 dort ihr »Cyber-Kurdistan« gegrün- Erst die Organisations- und Ver- det.33 Bei der Mehrheit aller befragten sammlungsfreiheit sowie die Mög- Teilnehmer sind übrigens politische lichkeit der freien Meinungsäuße- Ereignisse und Entwicklungen im rung, der Religionsausübung und Herkunftsland bzw. der Herkunfts- häufig auch der Nutzung der eigenen region von übergeordnetem Interesse Sprache führe bei einigen Migranten- gewesen. gruppen zu einer gestiegenen ethni- schen und religiösen Identität.31 Herkunftslandorientierter Extremis- musvonMigrantenkannauchein »Religiöse und ethnische Identitäten Ausdruck von politischer Desinte- sind jedoch auch unter Türkeistäm- gration im Aufnahmeland sein. Un- migen keine festen Größen, die über ter politischer Integration versteht die Zeit unverändert bleiben. Zum man mehr als die politische Partizipa- Teil entwickelten sie sich erst in tion oder das bürgerschaftliche Enga- Deutschland oder gewannen hier an gement, wie die Unterscheidung von Bedeutung. So waren beispielsweise Marco Martiniello in vier Dimensio- unter den Gastarbeitern und Flücht- nen zeigt: lingen aus der Türkei immer auch schon Kurden gewesen. Die meisten »The first dimension refers to the von ihnen entdeckten ihr ›Kurdisch- rightsgrantedtoimmigrantsbythe sein‹ jedoch erst, als sie sich in Europa host society. One could say that the niederließen.«32 more political rights they enjoy, the better integrated they become. The Aber auch die Möglichkeit der freien second dimension is their identifica- Nutzung moderner Kommunikati- tion with the host society. The more onsmittel kann eine Selbstethnisie- immigrants identify with the host so- rung zur Folge haben. Laut einer ciety, the better their political integra- Studie über die »virtuelle Diaspora« tion. The third dimension refers to der Migranten in Deutschland aus the adoption of democratic norms Russland und der Türkei empfinden and values by the immigrants, which beispielsweise kurdische Anbieter is often presented as a necessary con- politischer Internetseiten das Inter- dition for political integration. Fi- net als eine »einmalige« Chance zur nally, immigrants’ political integra-

30 Vgl. Claus Leggewie, How Turks became Kurds, not Germans, in: Dissent Magazine, Summer 1996. 31 Vgl. Jan Hanrath 2011(b), S.18 und Brieden 1995, S.43. 32 Jan Hanrath 2011(b), S.17. 33 Die spezielle Bedeutung des Internets wurde beispielsweise in dem Forschungsprojekt »Politische Potentiale des In- ternet. Die virtuelle Diaspora der Migranten aus Russland und der Türkei in Deutschland«, das zwischen April und Oktober 2008 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster durchgeführt wurde, untersucht. Die Wis- senschaftler führten sowohl eine Anbieter- als auch eine Nutzeranalyse von politischen Internetseiten durch. Die Er- gebnisse des Forschungsprojekts wurden hier veröffentlicht: Kathrin Kissau/Uwe Hunger (Hrsg.), Politische Sphären von Migranten im Internet – Neue Chancen im ›Long Tail‹ der Politik, Baden-Baden 2009. SERCAN BAYRAK, ILKER VIDINLIOGLU˘ 277 tion involves political participation, Vergangenheit in den Vordergrund mobilisation and representation.«34 treten und Familie, Verwandtschaft, Landsleute und die Herkunftsgesell- Politische Partizipation ist – was das schaft allgemein würden eine erhebli- passive und aktive Wahlrecht betrifft che Aufwertung erfahren.38 – jedoch von der Staatsangehörigkeit abhängig. Für Thomas Brieden stellt Im Umkehrschluss stellt Zeynep Sez- die Beibehaltung der ursprünglichen gin in ihrer Untersuchung zweier von Staatsbürgerschaft ein Instrument den Verfassungsschutzbehörden als zur Aufrechterhaltung der Verbin- extremistisch eingestufter und beob- dung zum Herkunftsland dar.35 Diese achteter türkischer Migrantenorgani- These gilt es nicht unbeachtet zu las- sationen die These auf, dass sich die sen, da das ausgeschöpfte Einbürge- politischen Aktivitäten, Funktionen rungspotenzial – also das Verhältnis und Strukturen dieser Organisatio- von erfolgten Einbürgerungen zur nen entsprechend ändern würden, Zahl jener Ausländerinnen und Aus- wenn ihre Mitglieder den Lebensmit- länder, die seit mindestens zehn Jah- telpunkt in Deutschland sehen und reninDeutschlandleben–imJahr sich wie gleichberechtigte Mitglieder 2011 durchschnittlich lediglich 2,3 % der Mehrheitsgesellschaft fühlen betrug.36 Dennoch besitzen inzwi- würden.39 schen 8,6 Millionen der insgesamt 15,7 Millionen Menschen mit Migra- Ein weiterer, vor allem im Bereich der tionshintergrund einen deutschen linksextremistischen Migrantenorga- Pass. Rund ein Drittel aller Menschen nisationen relevanter Aspekt ist die mit Migrationshintergrund sind in Unterstützung durch Deutsche Deutschland geboren, etwa zwei oder Personen mit einem anderen Drittel sind zugewandert.37 Migrationshintergrund. Beispiels- weise leisten immer wieder deutsche Hanrath sieht als mögliche Kon- und andere Linksextremisten der sequenzen der politischen Desinte- PKK Beistand in der Auseinander- gration die Zuwendung zur indi- setzung mit der Türkei, in Form von viduellen Vergangenheit und die legalen und illegalen Unterstützungs- Reaktivierung der lebensgeschichtli- aktionen wie der Veröffentlichung chen Bezüge. In der Folge würde die von Sympathiebekundungen, De-

34 Marco Martiniello, Political Participation, Mobilisation and Pepresentation of Immigrants and their Offspring in Eu- rope, in: Willy Brandt Series of Working Papers in Interntional Migration and Ethnic Relations 01/05, Malmö 2005, S.2 f. 35 Vgl. Thomas Brieden 1995, S.34. 36 Vgl. Pressemitteilung des Statistisches Bundesamtes, Nr.228 vom 04.07.2012. 37 Vgl. Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes, Nr.355 vom 26.09.2011. 38 Vgl. Jan Hanrath 2011(a), S.4. 39 Vgl. Zeynep Sezgin, Mitgliederinteressen und transnationale politische Arbeit der türkischen Migrantenorganisatio- nen in Deutschland, in: Heinrich Böll Stiftung (Migration Integration Diversity), Transnationalismus & Migration (Dossier)«, Berlin 2011, S.49. 278 »AUSLÄNDEREXTREMISMUS« IM WANDEL? monstrationen bis hin zu gewalttäti- die ihre Herkunfts- und Niederlas- gen Auseinandersetzungen. Die Ten- sungsgesellschaft miteinander ver- denz zur Gewaltanwendung kann binden. Diese neue Qualität von Mi- noch weiter führen, wie z.B. im Falle gration hat Auswirkungen auf die »Andrea Wolf« alias »Ronahi«, die Identität, die politischen Aktivitäten sich der PKK-Guerilla anschloss, und das Zusammenleben der Ein- 1998 bei Gefechten ums Leben kam wanderer in den Aufnahmeländern. und seither von der kurdischen Orga- Die transnationale Migration ist ide- nisation und von Linksextremisten altypisch dadurch gekennzeichnet, als »Märtyrerin« geehrt wird. Ver- »dass sich die Lebenspraxis und die gleichbar dem »Homegrown Terro- Lebensprojekte der ›TransmigrantIn- rism« im islamistischen Extremismus nen‹, also ihre ›sozialen Räume‹, zwi- erfahren »ausländisch« induzierte schen Wohnorten bzw. ›geographi- Themen und Organisationen Unter- schen Räumen‹ in verschiedenen stützung unter den Einheimischen in Ländern aufspannen.«40 Entspre- Deutschland. chend wäre es durchaus angebracht, den Arbeitsbegriff »Ausländerextre- mismus« durch »internationalen Ex- 4. Fazit tremismus« oder »transnationalen Extremismus« zu ersetzen. »Islamis- Offensichtlich greifen einfache The- tischer Extremismus« würde in dieser sen – Konflikte seien lediglich impor- Diktion dem religiös motivierten in- tiert und hätten nichts mit Deutsch- ternationalen bzw. transnationalen land zu tun bzw. allein die Situation Extremismus zugerechnet werden. in Deutschland sei ursächlich für Ex- tremismus unter Migranten – zu Durch die schnelle und visuelle Ver- kurz. Einerseits bereiten exogene mittlung mittels Internet, Satelliten- Komponenten den Boden für Kon- fernsehen oder Kurznachrichten- flikte, andererseits wirken endogene dienst (SMS) erfahren gesellschaftlich Komponenten als Verstärker oder relevante Ereignisse wie Wahlen, Auslöser für eine Eskalation. Anschläge oder Verurteilungen eine Verstärkung in ihrer Wirkung als Ein analytischer Ansatz, der diese »externe Einflüsse auf die lokale beiden Aspekte miteinander verbin- Situation« und können eine entspre- det, ist der des Transnationalismus chend schnelle Reaktion in den bzw. der transnationalen Migra- Aufenthaltsländern der Migranten tion. Demnach bauen Migranten hervorrufen.41 Somit wirken sich ge- dank der technischen Entwicklung sellschaftliche und politische Ent- vielfältige soziale Beziehungen auf, wicklungen in den Herkunftsländern

40 Ludger Pries, Transnationalisierung der sozialen Welt als Herausforderung und Chance, in: Heinrich Böll Stiftung (Migration Integration Diversity), Transnationalismus & Migration (Dossier), Berlin 2011, S.11. 41 Vgl. Jan Hanrath 2011(a), S.4. SERCAN BAYRAK, ILKER VIDINLIOGLU˘ 279 unmittelbarer auf die Migranten aus, Konfliktmanagement durch »Frie- während diese ihrerseits verstärkt denstechniken« mit dem Ziel der versuchen, auf das politische Gesche- Gewaltprävention und der Eindäm- heninihreraltenHeimatEinflusszu mung importierter Konflikte. Hier- nehmen.42 bei spielen insbesondere kommunale und regionale Akteure eine bedeu- Für staatliche Einrichtungen, die für tende Rolle, die als Moderatoren und die innere Ordnung und Sicherheit in Schlichter auftreten könnten.43 Die einem der größten Einwanderungs- Verfassungsschutzbehörden könnten länder Europas verantwortlich sind, als Impulsgeber in entsprechenden bedeutet das erstens, dass soziale Ent- Netzwerken von staatlichen Institu- wicklungen und Ereignisse in den tionen und zivilgesellschaftlichen Herkunftsländern der Migranten Organisationen fungieren, indem sie stets mitverfolgt werden müssen, um auf latent vorhandene Spannungen auf die beschriebenen schnellen Re- und eventuell auftretende Konflikte aktionen vor Ort vorbereitet zu sein. hinweisen. Hiermit würden die Ver- Zweitens sind ungünstige Lebensver- fassungsschutzbehörden ihrer expli- hältnisse von Migranten in Deutsch- ziten Aufgabe, die Öffentlichkeit land als ein nicht zu unterschätzender etwa über Bestrebungen gegen den Faktor in Radikalisierungsprozessen Gedanken der Völkerverständigung zu berücksichtigen und Gegenstrate- zu informieren, noch stärker gerecht. gien zu entwickeln. Gefragt ist ein

42 Vgl. Jan Hanrath 2011(a), S.3. 43 Vgl. Thomas Brieden 1995, S.54.

SCIENTOLOGY-ORGANISATION

60 VERFASSUNGSSCHUTZ 1952 – 2012

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Wohin steuert Scientology?

TOBIAS FALLER

Viele Jahre lang wirkte die »Sciento- werden die Entwicklung von Splitter- logy-Organisation« (SO) wie ein gruppen, die Wirkung des schlechten Monolith. Nichts schien der Organi- öffentlichen Ansehens der SO, die sation, die behauptet, die »am Bedeutung der prominenten Sciento- schnellsten wachsende Religion« zu logen sowie die Veränderungen durch sein und die angeblich über Millionen das Internet thematisiert. Anschlie- von Mitgliedern verfügt, etwas anha- ßend wird erörtert, ob bei einer Zu- ben zu können. Doch seit mehreren spitzung ein Zusammenbruch der Jahren zeigen sich nun unübersehbar Organisation realistisch erscheint Erosionserscheinungen: Sinkende und ob die SO im Hinblick auf ihre Mitgliederzahlen und Einnahmen Ideologie auch reformierbar wäre. und sogar Kritik aus dem Inneren Schließlich erfolgen vor dem Hinter- der Organisation. Was früher un- grund der Erfahrungen mit Sciento- denkbar schien, geschieht: Hochran- logy eine Einschätzung der Gefähr- gige Funktionäre aus dem engsten dungspotenziale und ein Ausblick. Führungskreis haben die SO verlas- sen und üben massive Kritik an dem Vor einer Einschätzung, wohin die Management des Scientology-Füh- SO steuert, ist es jedoch zunächst rers David MISCAVIGE. Zur Füh- sinnvoll, sich mit ihrer Entstehung zu rungskrise kommt hinzu, dass teils beschäftigen. bekanntere Persönlichkeiten aus Hollywood der SO öffentlich den Rücken gekehrt haben. Derartiges 1. Wie Scientology entstand hatte es bislang noch nicht gegeben. Inzwischen spekulieren manche Be- Scientology ist das Produkt des obachter sogar auf Auflösungser- Science-Fiction-Schriftstellers Lafa- scheinungen in der SO. yette Ronald HUBBARD (1911– 1986). HUBBARD hatte 1950 sein Wohin steuert Scientology? Zwar Buch »Dianetik« zunächst als eine wäre es fragwürdig und spekulativ, Art Do-it-yourself-Psychothera- Prognosen abgeben zu wollen, zumal pie ohne religiösen Anspruch veröf- nur wenige Ereignisse prognostizier- fentlicht. 1954 folgte die erste bar sind. Dennoch ist ein Ablesen »Church of Scientology« mit einem naheliegender Trends möglich. In breiteren ideologischen Angebot. diesem Zusammenhang werden im Aus Versatzstücken unterschiedli- Folgenden die gegenwärtige Lage der cher Disziplinen wie Psychoanalyse SO, ihre finanzielle Situation und die oder Verhaltensforschung entwi- Persönlichkeit ihres obersten Führers ckelte HUBBARD eine Methodik von Interesse sein. Darüber hinaus zur Manipulation des Menschen. Er 284 WOHIN STEUERT SCIENTOLOGY? besaß offenkundig das Talent, Ideen bruch statt. Die SO bekam ein neues anderer aufzugreifen und für eigene Management, eine veränderte Füh- Zwecke zu verarbeiten. Weder der rungsstruktur und den strategischen »E-Meter«, eine Art Lügendetektor, Auftrag zur »totalen Expansion«. der in den scientologischen Verfahren Was bis heute nahezu unverändert ge- (»Auditing«) zur angeblichen geisti- blieben ist, ist HUBBARDs totalitäre gen Befreiung (»Klärung«) des Men- Ideologie. Die SO wirkt hier wie er- schen verwendet wird, noch der Be- starrt und fußt unter der Führung griff »Scientology« dürften ur- vonDavidMISCAVIGEnochheute sprünglich HUBBARDs Erfindung auf den weltanschaulichen und orga- gewesen sein.1 Seine Konzepte hatten nisatorischen Grundlagen HUB- auch eine politische Stoßrichtung: BARDs. Daran dürfte sich auch in Nicht nur das Individuum, sondern absehbarer Zeit nichts ändern. auch die Gesellschaft soll »geklärt« werden (»politische Dianetik«2). In In den frühen 1970er Jahren wurde »Dianetik« hatte HUBBARD be- Scientology aus den USA nach hauptet, die Welt von allem Übel, wie Deutschland »importiert«. Relativ Krieg, Verbrechen und Krankheit be- schnell wurde sie ganz überwiegend freien zu können. Mit »Scientology« als konfliktträchtige und destruktive verbreiterte er das Angebot um Rein- Gruppierung eingeschätzt und zu- karnation, esoterische Elemente und nächst als »Jugendsekte« bzw. »neue Science-Fiction-Ideen, gesellschafts- Jugendreligion« eingeordnet. Diese politische Heilsvorstellungen und Einordnung hielt sich in der Öffent- Verschwörungstheorien. In der SO- lichkeit bis in die frühen 1990er Jahre, Propaganda gilt die Gründung der was dazu führte, dass die gesell- »Kirche« als Konsequenz aus HUB- schaftspolitische Stoßrichtung der BARDs angeblichen Forschungen SO in der öffentlichen Wahrnehmung über den menschlichen Geist. Kriti- häufig verkannt wurde, obwohl es ker erheben dagegen bis heute den durchaus entsprechende Warnungen Vorwurf, dass vor allem finanzielle gab. Zudem nimmt die SO bis heute und taktische Gründe maßgeblich ge- nicht offen am politischen Meinungs- wesen seien. wettstreit der Demokratie teil. Sie will sich durch langfristige Expansion Nach dem Tod HUBBARDs und im in der Gesellschaft schleichend eine Zug der Machtübernahme durch den Machtbasis schaffen und ihre wahren neuen Führer David MISCAVIGE ZieledurchmassivePropagandaver- fand in den 1980er Jahren ein Um- schleiern. Tatsächlich will die SO eine

1 Die Idee, einen Galvanometer auf diese Art einzusetzen, dürfte auf Volney Mathison zurückgehen. Hierzu etwa: http://en.wikipedia.org/wiki/Volney_Mathison (Einsichtnahme am 11. April 2012). Der Begriff »Scientologie« dürfte von einem Deutsch-Argentinier namens Nordenholz stammen. Hierzu: F.W. Haack, Scientology. Magie des 20.Jahr- hunderts, München 1991, S.65 ff. 2 Z. B.: HUBBARD, »Dianetik. Der Leitfaden für den menschlichen Verstand«, Kopenhagen 2007, S.187, 207 ff., 373, 481 ff., 485 ff. TOBIAS FALLER 285

Gesellschaftsordnung schaffen, in der chen Gründen teils oder gänzlich in- ausschließlich Scientologen Bürger- aktiv sind, sich aber nach wie vor zur rechte3 haben sollten. Gegner und Organisation zählen. Das Mitglieder- Kritiker sollen ausgesondert werden. potenzial kann daher weltweit auf Oder wie L. Ron HUBBARD es aus- etwa bis zu 100.000 Personen ge- drückte: Sie seien zu isolieren und schätzt werden, wobei sich in den »abseits von der Gesellschaft auf letzten Jahren nicht der Eindruck Dauer in Quarantäne zu halten.«4 eines Zuwachses, sondern eines all- mählichen Rückgangs ergibt.

2. Die gegenwärtige Situation: In Deutschland leben rund 5.000 Sci- Keine Expansion entologen, davon 900 bis 1.000 in Ba- den-Württemberg. Vor zehn Jahren Die Behauptungen der SO, ständig zu verfügte die SO in Baden-Württem- expandieren, sind zumindest in Be- berg noch über etwa 1.200 Mitglieder. zug auf Deutschland falsch. Zwar Der schleichende Rückgang bei den kann die Situation von Scientology in Mitgliedern liegt vor allem daran, der Bundesrepublik nicht unbesehen dass sich Scientology in der Mitglie- auf andere Staaten übertragen wer- derwerbung hierzulande schwer tut. den. Jedoch deuten Aussteiger- und Bei dem Gros der Anhänger handelt Medienberichte über sinkende Ein- es sich im Land überwiegend um nahmen und rückläufige Mitglieder- langjährige Scientologen, die inzwi- zahlen – etwa aus der Schweiz, schen 20 Jahre oder länger der SO an- Frankreich, den Niederlanden und gehören. Außerdem stoßen einige dem Scientology-Stammland USA – junge Scientologen hinzu, die in der auf wachsende Probleme auch in an- Regel durch ihre der SO angehören- deren Ländern hin. den Eltern in die Organisation einge- führt werden. Scientology kann Neu- Auch die Behauptungen von Scien- geworbene nur relativ selten länger- tology, man verfüge weltweit über fristigansichbinden.Siespringenoft zehn Millionen Anhänger, sind weit nach einem bis zwei Jahren wieder ab. übertrieben. Offenkundig will die SO-Propaganda schlicht durch das Eine dynamische Mitgliederent- Vorgaukeln schierer Größe beeindru- wicklung findet in Deutschland seit cken. Aussteiger, die teilweise im Ma- geraumer Zeit nicht mehr statt. In Ba- nagement tätig waren, schätzen den den-Württemberg hat sich der Mit- Kern der Organisation auf etwa gliederstamm in den letzten Jahren 40.000 bis 60.000 Aktivisten welt- verfestigt und tendiert längerfristig weit. Hinzu kommen verschiedene zu einer Überalterung. Rund 70 Pro- Scientologen, die aus unterschiedli- zent der Mitglieder im Land sind in-

3 Z. B. in: HUBBARD, »Dianetik. Der Leitfaden für den menschlichen Verstand«, Kopenhagen 2007, S.373 und 483. 4 Z. B. in: HUBBARD, »Die Wissenschaft des Überlebens«, Kopenhagen 2007, S.152. 286 WOHIN STEUERT SCIENTOLOGY? zwischen 50Jahre und älter. Dagegen als gefestigt. Ähnliches wird aus ver- sind nur etwa zehn Prozent unter schiedenen anderen Staaten berichtet. 30 Jahre alt. In anderen Bundeslän- dern, in denen eine größere Zahl von Die Stagnation der SO wird mitunter Scientologen lebt, scheint sich kein auch anhand absoluter Zahlen deut- gänzlichanderesBildzuergeben. lich. Generell sind Zahlenangaben von Scientology erst einmal mit gro- Neben der Mitgliederentwicklung ist ßer Vorsicht zu bewerten. Die öffent- der Zustand der Organisationsstruk- liche Behauptung der SO, über tur ein Indikator für die wirkliche Si- 10.000 »Kirchen«, Missionen und tuation der SO. Dabei offenbart sich Gruppenweltweitzuverfügen7,ist nicht nur in Baden-Württemberg offenkundig abwegig. Gelegentlich Stagnation. Scientology ähnelt einem werden zu Einzelbereichen aber Zah- Vertrieb, bei dem auch Lizenzen len bekannt, die bei einem Abgleich vergeben oder Verkaufsprovisionen realistisch erscheinen. Eine interne angeboten werden. Bei deutlicher Ex- Rangliste der SO aus dem Jahr 2010 pansion kann eine »Mission«5 zur führte weltweit 376 Missionen auf, »Org«6 aufgewertet werden. In der die an dem jährlichen Missionswett- Bundesrepublik hat sich aber seit vie- bewerb, dem »Birthday Game«, teil- len Jahren keine »Mission« mehr in nahmen.8 Allerdings deuten die dort diese Richtung entwickelt. Zwar veröffentlichten Statistikpunkte da- wurden seit Beginn der Beobachtung rauf hin, dass einige der Missionen durch den Verfassungsschutz des auf den letzten Plätzen wohl nur Bundes und der Länder im Jahr 1997 noch auf dem Papier zu bestehen auch immer wieder neue Anlaufstel- schienen. Weitere Missionen auf den len gegründet, diese führen aber bis hinteren Plätzen dürften zudem be- heute ein Schattendasein oder sind deutungslos sein, etwa diejenige in inzwischen wieder erloschen. Verein- Sinsheim, die seit ihrer Gründung um zelt wurden auch langjährige Ein- das Jahr 2003 keinen nennenswerten richtungen, die nur über relativ we- Mitgliederstamm aufbauen konnte. nige Mitglieder verfügten, etwa die Im Jahr 2002 hatte die SO gegenüber 1973 gegründete Heilbronner »Mis- der eigenen Anhängerschaft noch be- sion«, nach einem schleichenden Nie- hauptet, über 368 »Missionen« zu dergang aufgegeben. Lediglich die verfügen.9 Im Jahr 2011 gab die Orga- seit vielen Jahren etablierten Nieder- nisation gegenüber den Mitgliedern lassungen mit einem größeren Mit- wiederum an, es gebe neben 14 Neu- gliederstamm erweisen sich bislang gründungen 343 bestehende Missio-

5 »Mission«: Basisorganisation der SO. 6 »Org«: Einer Mission übergeordnete Organisationseinheit mit breiterem Dienstleistungsangebot. 7 Internetseiten der »Church of Scientology«, abgerufen am 15. Juni 2012. 8 Das »Birthday Game« ist eine Art jährlicher weltweiter Wettkampf der SO-Niederlassungen untereinander. »Sieg- reich« sind die Niederlassungen mit den besten Statistiken (Umsätze, Mitgliederwerbung etc.). 9 »International Scientology News« Nr.21/2002, S.11. TOBIAS FALLER 287 nen10. Was im Vergleich zum Jahr is Scientology« nannte mit Stand Juni 2002 ein Minus von 25 etablierten 2012 zwölf »Celebrity Centres«12 Missionen bedeuten würde – und das undrund125weitereAdressenvon nach einem Jahrzehnt angeblicher »KlasseV Orgs«.13 Aus einer Adress- »exponentieller Expansion«. Derar- liste in einer Publikation aus dem Jahr tige Unstimmigkeiten und Fragwür- 1998 ergeben sich keine anderen Zah- digkeitenfindensichinderSO-Pro- len.14 Von Expansion kann in diesem paganda zuhauf. Bereich der SO demnach keine Rede sein. Auch die theoretische Möglichkeit, zahlreiche Missionen seien in den Entgegen den veröffentlichten Phan- letzten Jahren zu »Kirchen« (Sciento- tasiezahlen der SO kann somit davon logy-intern »Klasse V Orgs« ge- ausgegangen werden, dass sie welt- nannt) aufgewertet worden, scheidet weit in Wirklichkeit über nicht mehr schon deshalb aus, weil die SO-Pro- als rund 150 »Advanced Organizati- paganda darüber so wenig berichtet. ons«15, »Celebrity Centres« und Wird einmal eine »Mission« aufgrund »Klasse-V«-Organisationen verfügt. einer dynamischen Entwicklung zur Hinzu dürften schätzungsweise etwa »Org«, lässt es sich die SO nicht neh- 300 bis 350 Missionen kommen, die men, diesen Erfolg öffentlich zu fei- de facto existieren und nennenswerte ern – so etwa im Jahr 2000, als »die Aktivitäten entfalten. Ein ehemaliger größte der ungarischen Missionen« Scientologe, der angab, in der SO- in Budapest zur »Klasse V Org« Zentrale mit dem Versand von HUB- wurde.11 AnsonstensindsolcheMel- BARD-Materialien befasst gewesen dungen, die auf ein organisches zu sein, nannte auf Grundlage von Wachstum hindeuten, alles in allem Adresslisten aus dem Jahr 2006 eine selten. Zwar eröffnet die SO seit meh- Gesamtzahl von maximal 160 »Orgs« reren Jahren mit großem Gepränge sowie 500 bis 600 Missionen und immer wieder neue Gebäude, die so- sonstigen Scientology-Gruppen16. genannten »Idealen Orgs«. Es han- delt sich in der Regel allerdings nur Wie man die von Scientology nach um neue Gebäude für bereits existie- außen und gegenüber der eigenen Ba- rende Organisationseinheiten. Zu- sis behaupteten Zahlen auch immer dem ist die Zahl der bekannten bewerten mag – eine eingehende »KlasseV Orgs« nicht signifikant ge- Analyse solcher Daten zeigt, dass stiegen. Die SO-Internetseite »What eine Expansion, zumal »exponentiel-

10 »International Scientology News« Nr.49/2011, S.55. 11 Zeitschrift »Impact« Nr.101/2002, S.24. 12 »Celebrity Centres« sind besondere Einrichtungen der SO, in denen Prominente exklusiv betreut werden. 13 Internetseite »What is Scientology«, abgerufen am 15. Juni 2012. 14 »Was ist Scientology?«, Kopenhagen 1998, S.660 ff. 15 Die SO verfügt über mehrere »Advanced Organizations« im Ausland. Diese bieten kostenträchtige Dienstleistungen für diejenigen Scientologen an, die höchste Grade in der SO erreichen wollen. 16 »5 Biggest Lies in Scientology’s 2-Minute TV Ad«, Webportal villagevoice.com, abgerufen am 15. Juni 2012. 288 WOHIN STEUERT SCIENTOLOGY? ler« Dimension, anders aussehen ting« und Kursen würde sie jährlich müsste. etwa 400 Millionen US-Dollar ein- nehmen. Darüber hinaus würde sie In der SO wird all das aber nicht offen geschätzte 50 bis 100 Millionen US- diskutiert. Schlechte Nachrichten Dollar pro Jahr durch Spenden und sind in Scientology verpönt. Kritik weitere 50 Millionen durch Lizenzen wird scharf sanktioniert und Unzu- (zum Beispiel durch die Vermarktung friedenheit nur hinter vorgehaltener von HUBBARD-Training in der Hand geäußert. Die Führung veröf- Wirtschaft) erzielen. fentlicht stattdessen ihre stereotype Propaganda über Expansion. Ver- Ein ehemaliger hochrangiger SO- schiedene repräsentative Gebäude Funktionär bezifferte im Jahr 2011 (»Ideale Orgs«), welche die SO seit die Finanzreserven auf drei Milliar- mehreren Jahren weltweit eröffnet, den US-Dollar. Das Vermögen soll suggerieren ein Wachstum, das zu- auf Treuhandkonten und Immobilien mindest in den letzten Jahren nicht verteilt sein, die durch zuverlässige feststellbar war. Scientologen aus der »Sea Org«17 oder durch Rechtsanwälte verwaltet All das bedeutet jedoch nicht, dass werden. Scientology deshalb »harmlos« ge- worden oder finanziell bald am Ende Die Höhe der Einnahmen durch Bü- wäre. cher und Medien kann anhand eines Beispielsverdeutlichtwerden.ImJahr 2007 hat Scientology ihre »Grundla- 3. Die finanzielle Situation gen«-Bücher (wegen angeblicher Fehler in früheren Auflagen) in ihren Wie ist es um die Finanzen von Scien- eigenen Verlagen neu herausgegeben. tology bestellt? Die Antwort lautet, Alle Scientologen sind seitdem gehal- dass die SO eine enorme finanzielle ten,dengesamtenSatzvon18Bü- Schlagkraft besitzt. Das zeigt sich chern nebst zugehörigen Audio-CDs zum Beispiel an einer im Jahr 2008 zu erwerben. Der Erwerb kostete bekanntgewordenen Zahl für die 2007 rund 2.500 bis 3.300Euro.18 Un- weltweite Werbung, der zufolge die terstellt man, dass das Gros der welt- SO für ihre Propaganda jährlich mehr weit geschätzten aktiven Scientolo- als 40 Millionen US-Dollar einsetzt. gen, also etwa 50.000 Personen, die Das US-Wirtschaftsmagazin »Port- kompletten Neuausgaben gekauft folio« schätzte im Jahr 2008 den Jah- hat, konnte die SO allein dadurch mit resumsatz der SO weltweit auf mehr einem Umsatz in einer Dimension als eine halbe Milliarde US-Dollar. von geschätzt 150 Millionen Euro Durch die Vermarktung von »Audi- rechnen. Selbstverständlich bringt die

17 Die »Sea Org« sind paramilitärische Kader, die den harten Kern der SO bilden (vgl. Abschnitt 9). 18 Laut Prospekten von »New Era Publications« und der »Advanced Organization« Kopenhagen im Jahr 2007. TOBIAS FALLER 289

SO immer wieder weitere Publikatio- Millionen Euro veranschlagt worden nen oder Medien heraus. sein. Weltweit dürfte mit vergleichba- ren Größenordnungen für den Kauf Scientology scheint ein Umsteuern eines Gebäudes zu rechnen sein. Setzt bei den Geschäftspraktiken anzustre- man die Zahl der geplanten »Idealen ben, indem sie wohl vermehrt Orgs« damit in ein Verhältnis, ergibt Einnahmen aus Immobilieneigentum sich grob geschätzt ein Investitions- erzielen will. Das internationale volumen im Bereich von einer halben Gebäudeprogramm der SO veran- Milliarde US-Dollar. Dabei muss be- schaulicht die Größenordnung ihrer rücksichtigt werden, dass die Ge- Investitionskraft. Neue, prestige- bäude in nicht unerheblichem Maß trächtige Repräsentationsbauten durch Spenden der Mitglieder und (»Ideale Orgs«) dienen der SO nicht nur zu einem Teil durch einen Zu- nur als Aushängeschild und der Aus- schuss aus den Finanzreserven des weitung ihres weltweiten Immo- internationalen Managements finan- bilienbesitzes, sondern sind auch ziert werden. Das bedeutet, die SO Ausdruck politischer Ziele. Die SO erhält weltweit – aufgrund der Spen- eröffnet ihre Niederlassungen in den ihrer Mitglieder – zu für sie sehr politisch und wirtschaftlich bedeu- günstigen Preisen hochwertige tenden Metropolen, weil diese zu Gewerbeimmobilien, vor allem in Ausgangspunkten für ökonomische Ballungsräumen und damit wohl mit und politische Einflussnahme wer- erwartbaren Wertsteigerungen. Ehe- den sollen. 2011 gab Scientology an, malige Scientologen berichten, dass weltweit über 25 »Ideale Orgs« zu nicht etwa geplant sei, diese Gebäude verfügen19, was glaubwürdig ist. Im in das Eigentum der örtlichen SO- Jahr 2010 veröffentlichte die SO eine Niederlassungen zu überführen, Liste von mehr als 40 projektierten deren Mitglieder die neuen Repräsen- Repräsentanzen in Großstädten, auf tanzen durch oftmals hohe Spenden der die geplanten deutschen »Idealen erst ermöglicht haben. Vielmehr sei Orgs« nicht genannt waren.20 geplant, dass die »Idealen Orgs« im Eigentum des Managements bleiben, Zu den geplanten neuen Gebäuden in das die neuen Gebäude lediglich an Deutschland gehört die »Ideale Org« die jeweiligen SO-Vereine oder in Stuttgart. Bis Ende 2011 sollen -Gruppen vermieten würde. Durch Funktionäre mit teils rüden Metho- den geschickten Schachzug der SO, den bis zu sieben Millionen Euro an sozusagen »an sich selbst« zu vermie- Spenden bei der hiesigen Anhänger- ten, kann das Management zusätzlich schaft eingetrieben haben. Die Inves- erhöhte Einnahmen durch Verpach- titionssumme für die neue »Ideale tungen erzielen. Org« in Stuttgart soll auf etwa acht

19 »International Scientology News« Nr.50/2011, S.33. 20 »International Scientology News« Nr.45/2010, S.34 ff. 290 WOHIN STEUERT SCIENTOLOGY?

Die weltweit wohl größte Investiti- und wurde Mitglied in der Kaderor- onsmaßnahme der SO ist das so- ganisation »Sea Org« im Umfeld genannte »Super Power Expansions- HUBBARDs. Damit verfügt MIS- projekt« in Clearwater/Florida, das CAVIGE über langjährige Erfahrung sich kurz vor der Vollendung befin- mit der Macht. Scientologen begeg- den soll. Der riesige Schulungs- nen ihm wohl mit einer Mischung aus komplex soll über 100 Millionen US- Bewunderung und Furcht. Dollar gekostet haben. Auch er soll maßgeblich durch Spenden der Mit- MISCAVIGE wird von Journalisten glieder finanziert worden sein. undehemaligenScientologenals kühler Managertyp beschrieben, der Die Eröffnung immer neuer Reprä- eine Situation stets unter Kontrolle sentationsbauten im In- und Ausland behalten will. Er scheint ein Mensch verdeutlicht einerseits die enorme zu sein, der keinen Widerspruch dul- finanzielle Schlagkraft und die politi- det und den unbedingten Willen zur schen Ambitionen der SO. Anderer- Macht besitzt. seits sollen sie Expansionserfolge vorgaukeln, die nicht nachvollzieh- Mehreren Aussteigern aus dem engs- bar sind. Der Begriff der potemkin- ten Führungskreis, die sich offen schen Dörfer ist in dieser Hinsicht gegen MISCAVIGE gestellt haben, gerechtfertigt. werden Ambitionen nachgesagt, ihn abzulösen und die Organisation zu Die finanzielle Opferbereitschaft und übernehmen. Es ist derzeit jedoch die Treue vieler Scientologen zur SO nicht erkennbar, dass ein derartiges ist hoch, die finanzielle Zukunft von Unterfangen Aussicht auf Erfolg ha- Scientology scheint also gesichert. ben könnte. Hierzu müsste schon eine Die Organisation kann ihren gegen- Art Palastrevolution stattfinden. Aus wärtigen Kurs noch viele Jahre fort- der Distanz betrachtet gibt es hierfür setzen, auch wenn Expansionserfolge bislang keine Anzeichen. Wie die Ge- über geraume Zeit ausbleiben sollten. schichte zeigt, können totalitäre Sys- teme allerdings brüchiger sein, als dies von außen zunächst erscheint. 4. David MISCAVIGE FallsnichtsUnvorhergesehenesge- David MISCAVIGE ist Anfang 50 schehen sollte, kann David MISCA- und führt die SO mit unumschränk- VIGE die SO noch viele Jahre führen. ter Macht und – wie ehemalige Scien- tologen berichten – mit harter Hand seit annähernd dreißig Jahren. Er war 5. Konkurrenz durch Splitter- zum Zeitpunkt der Machtübernahme gruppen erst Mitte zwanzig. MISCAVIGE soll als Jugendlicher durch seine El- Scientology sieht sich seit einigen tern zu Scientology gekommen sein Jahren mit einer allmählich wachsen- TOBIAS FALLER 291 den Zahl von Splittergruppen kon- ten. Die öffentliche Reaktion der SO frontiert, die sich von der SO abgren- erfolgte bereits und fiel so aus, wie zen. Unter den Mitgliedern dieser nach allen Erfahrungen zu erwarten eher heterogen wirkenden Gruppen war: Die hauseigene Kritikerin sind auch ehemalige hochrangige wurde als »Überläuferin« und somit Funktionäre. Sie werfen dem MIS- faktisch als Verräterin abgestempelt. CAVIGE-Management vor, eine Dik- Anschließend erhob die SO eine ge- tatur errichtet zu haben, und sind der richtliche Klage, um sie zum Schwei- Meinung, die SO stehe heute nicht gen zu bringen. Trotzdem dürfte der mehr für das, was HUBBARD einst Brandbrief der Ex-Funktionärin die gewollt habe. Die SO hat bislang ohne Zweifel vieler Scientologen und Ab- nachhaltigen Erfolg versucht, diese wanderungstendenzen zu SO-Ab- Gruppen unter anderem mit dem Mit- spaltungen verstärken, die – zeitlich tel des Urheberrechts zu bekämpfen. versetzt – auch hierzulande Wirkung zeigen werden. Der Jahresauftakt 2012 brachte der internationalen SO-Führung erneut Unruhe und wachsende Kritik. Eine 6. Der ruinierte Ruf ehemalige Funktionärin des höheren Managements, die immer noch hohes Die SO hat durch ihre eigenen Me- Ansehen unter Scientologen genie- thoden ihren Ruf selbst nachhaltig ßen soll, kritisierte das Management beschädigt. Sie hat nicht nur mit rü- massivineinerE-Mail,dieantau- den, sondern auch oft mit menschen- sende von Scientologen weltweit ver- verachtenden Praktiken über viele sandt wurde. Insbesondere griff sie Jahre die eigenen Mitglieder finanzi- frontal den Ausbau pompöser SO- ell ausgebeutet und Gegner und Kri- Niederlassungen und die finanzielle tiker kompromisslos bekämpft und Ausbeutung der Mitglieder an und verfolgt. Das wurde besonders durch warf der SO-Führung vor, nicht mehr die berüchtigte »Freiwild«-Richtlinie im Sinne HUBBARDs zu handeln. deutlich, die es erlaubte, Gegner mit Derartiges ist neu und in der auf wi- allen erdenklichen Mitteln zu schädi- derspruchslosen Gehorsam getrimm- gen, ja zu vernichten.21 Nach Be- ten Organisation ein unerhörter Vor- kanntwerden wurde die Richtlinie gang. Diese Kritik aus den eigenen angeblich aufgehoben – wegen Reihen wiegt für Scientologen auch »schlechter Public Relations.«22 Die- schwerer als Vorwürfe von Ausstei- selbe Organisation, die behauptet, so gern und externen Kritikern. viel Gutes zu bewirken, hat sich im- mer wieder durch Schmähungen und Gravierende kurzfristige Auswir- Herabwürdigungen ihrer Kritiker kungen sind bislang nicht eingetre- hervorgetan. Das Verwaltungsgericht

21 HUBBARD, Führungsanweisung »Penalties for lower Conditions«, 18. Oktober 1967 Ausgabe IV. 22 HUBBARD, Führungsanweisung »Cancellation of Fair Game«, 21. Oktober 1968 (Arbeitsübersetzung). 292 WOHIN STEUERT SCIENTOLOGY?

Köln, das am 11. November 2004 weiteres gescheitert. Hinzu kommt eine Klage der SO gegen die Be- noch eine schwere gerichtliche Nie- obachtung durch das Bundesamt derlage in Frankreich. Am 2.Februar für Verfassungsschutz abwies (Az.: 2012 hat ein Berufungsgericht in Pa- 20 K 1882/03), stellte in diesem Zu- ris ein Urteil wegen bandenmäßigen sammenhang fest: Betrugs gegen zwei Einrichtungen von Scientology bestätigt. Die SO »So ist es für verfassungsfeindliche muss hier über eine halbe Million Personenzusammenschlüsse bezeich- Euro Strafe zahlen. Zwei führende nend, dass sie ihre Gegner verun- Mitglieder erhielten Haftstrafen auf glimpfen und verleumden und ihnen Bewährung und hohe Geldstrafen. damit implizit die Menschenwürde In der Öffentlichkeit wirken solche absprechen. Dies ist auch hier der Fall. Debakel nach. Die SO hat Rechts- So werden Nicht-Scientologen durch- mittel angekündigt. gängig als ›Aberrierte‹, d.h. vom rati- onalen Denken bzw. der Vernunft Auch im Stammland der SO, den abgewichen, geistig gestört angese- USA, ist Scientology umstritten, hen, die Gegner von Scientology wer- auch wenn sich dort die Wahrneh- den als ›unterdrückerische Personen‹ mung des Phänomens Scientology bezeichnet und als Verbrecher, Krimi- teilweise von der in Europa unter- nelle, Kommunisten, Kinderschänder scheidet. In den USA wurde an der u. ä. verunglimpft, Menschen werden SO und manchen ihrer prominenten auf unterstem Niveau geschmäht und Fürsprecher in den letzten Jahren ihnen wird jeglicher Wert abgespro- deutlich Kritik in den Medien geäu- chen (›Psychotisch‹, ›Hässlichkeit‹, ßert. Anlass waren unter anderem die ›entsetzliche Krankheit‹, ›Schmarot- Thematisierung von Science-Fiction- zer‹, ›völlig wertlos‹.). Ausdruck des Ideen in der SO und unglücklich menschenverachtenden Weltbildes wirkende Auftritte von Scientology- von Scientology ist es schließlich, dass Sprechern oder prominenten Scien- ›unterdrückerische Personen‹ bzw. tologen. Vor allem aber haben ›Unterdrücker‹, also Gegner von schwere Vorwürfe ehemaliger hoch- Scientology, durch Zwang entfernt rangiger Gefolgsleute von David werden sollen.« MISCAVIGE Aufsehen erregt: Durch MISCAVIGE, der Unterge- Die Berufung der SO gegen dieses bene drangsaliert und misshandelt Urteil wurde vom Oberverwal- habe, sei im oberen Management ein tungsgericht Münster im Jahr 2008 Klima der Gewalt und Einschüch- rechtskräftig zurückgewiesen (Az.: terung entstanden. Scientology be- 5 A 130/05, Urteil vom 12. Februar streitet diese Vorwürfe. Die Bericht- 2008). Damit ist die SO in einem jah- erstattung darüber machte deutlich, relangen Rechtsstreit gegen die dass die US-Medien in Bezug auf die nachrichtendienstliche Beobachtung SO inzwischen nicht mehr so zu- durch den Verfassungsschutz bis auf rückhaltendzuseinscheinenwie TOBIAS FALLER 293 noch vor einigen Jahren, als – wohl thienzugewinnen.DieTaktikist,das aus Sorge vor ausufernden Gerichts- Thema Scientology mit sympathi- kosten – relativ wenig über Sciento- schen und beliebten Gesichtern zu logy publiziert wurde. Das hat sich besetzen. Seit einiger Zeit scheinen geändert, auch wenn im Hinblick auf mehrere dieser Prominenten in Be- die Klagefreudigkeit der SO immer zug auf das Thema Scientology aber Vorsicht und große Sorgfalt geboten regelrecht »abzutauchen«. Das gilt ist. Dennoch scheint die ›Aura der auch für den wohl prominentesten Angst‹, die Scientology gegenüber Scientologen Tom CRUISE. Wie Kritikern und Aussteigen verbreiten kein anderer Prominenter betätigte er will, nicht mehr so stark zu wirken sich jahrelang vehement als Propa- wie einst. Das wird auch daran deut- gandist für Scientology. Zeitweise lich, dass sich ehemalige Scientologen schien es beinahe so, als ob Tom immerhäufigeräußernundihreEr- CRUISE den schlechten Ruf der SO fahrungen veröffentlichen. nicht nur relativieren, sondern sogar das negative Bild in der öffentlichen Ob die SO diesen Trend in absehba- Wahrnehmung hätte tendenziell um- rer Zeit noch einmal wirklich umkeh- kehren können. Dann jedoch renkannundihr–zuRecht »kippte« diese PR-Kampagne. Zuvor bestehendes – negatives Bild in der machten Berichte über bizarre Auf- Öffentlichkeit nachhaltig manipulie- tritte in den Medien und im Internet ren kann, ist fraglich. Die massive die Runde. Es wurde deutlich, dass Propaganda der SO mit angeblichen das Thema Scientology für den be- »Sozialprogrammen« wie der Kam- rühmten Schauspieler immer mehr pagne »Jugend für Menschenrechte« zur Belastung wurde und ihm fort- kann sicherlich zu einem gewissen laufend schlechte Presse bescherte. Grad verharmlosen und ihre wahren Manche Medien sahen seinen Ruf so- Ziele vernebeln. Vielleicht kann die gar als irreparabel beschädigt. SO in der PR, wenn überhaupt, vor allem noch durch den Einsatz von Im Hinblick auf die Betrachtung der sympathisch wirkenden »Edelzeu- SO könnte sich in Hollywood, dem gen« – den prominenten Scientolo- weltweit wichtigsten Zentrum für gen – punkten. Film und Medien, auch ein Zeiten- wechsel anbahnen. Über viele Jahre warb Scientology ungeniert und 7. »Celebrities«: Prominente für nicht ohne Erfolg damit, in Holly- Scientology wood Karrieren befördern zu kön- nen. In zwei von Scientologen ge- Scientology setzt wie wohl kaum eine führten Schauspielschulen sind laut andere Organisation im Bereich des Aussteigern gezielt junge Nach- politischen Extremismus auf promi- wuchstalente für die SO geworben nente Fürsprecher aus der Film- und worden. Im Zentrum des Sciento- Unterhaltungsbranche, um Sympa- logy-Netzwerks in der Filmmetro- 294 WOHIN STEUERT SCIENTOLOGY? pole thront das schlossähnliche »Ce- scher Unterstützung führen könnte, lebrity Centre International« in Los ist noch nicht absehbar. Ein baldiges Angeles, wo prominente Scientolo- Schwinden des diplomatischen gen exklusiv betreut werden. Lange Rückhalts in den USA ist bislang aber Zeit hat all das für die SO mit erstaun- nicht zu erwarten. Es kann im Übri- lichem Erfolg funktioniert. Aber seit gen unterstellt werden, dass die Or- einiger Zeit sendet Tom CRUISE als ganisation für ihre Propaganda auf eine der Galionsfiguren Hollywoods der Suche nach einem frischen, sym- nun ungewollt eine gegenteilige und pathischen Gesicht für Scientology für die Organisation fatale Botschaft ist. aus: Scientology kann die Karriere beeinträchtigen. 8. Das digitale Zeitalter Natürlich tritt eine Reihe von »Cele- brities« immer noch offen für die SO Kritische Informationen über die SO auf. Andere wie der Regisseur und verbreiten sich heute in Windeseile Produzent Paul Haggis haben Scien- weltweit über das Internet. Die Frei- tology jedoch öffentlich kritisiert heit des Internets ist der Feind jedes und den Rücken gekehrt. Sollte sich totalitären Regimes, weil solche Re- dieser Trend verstärken, könnte das gimes stets die Informationen steuern nicht nur im Hinblick auf die Propa- wollen. Das Internet ist auch ein we- gandamaschine der SO zu Problemen sentlicher Grund, warum die SO in- führen. Für die Organisation ist die zwischen so große Schwierigkeiten gezielte Vereinnahmung von Perso- bei der Mitgliederwerbung hat. Vor nen des öffentlichen Lebens nicht nur 20 Jahren hatten Neugeworbene ein PR-Coup, sondern die »Celebri- meist keine Ahnung, worauf sie sich ties« dienen gerade auch in den USA einließen, wenn sie auf die Angebote als Türöffner in die Politik. Die Des- lächelnder Straßenwerber eingingen. information über »Diskriminierun- Heute genügt oft eine kurze Internet- gen« von Scientologen in Deutsch- recherche, um den Scientology- land und der gezielte Lobbyismus, Hintergrund etwa eines Fortbil- den Scientology seit vielen Jahren in dungs- oder Nachhilfeangebots zu eigener Sache betreibt, werden insbe- identifizieren. Auch die »Anony- sondere von ihren prominenten Für- mous«-Bewegung, die sich weltweit sprechern befördert. Die immer wie- nur lose über das Internet organisiert derkehrenden Interventionen der und zum ständigen Störenfried für US-Diplomatie in Europa zugunsten Scientology geworden ist, ist eine der SO würde es in dieser Form sonst Erscheinung des Internetzeitalters. wohl kaum geben. Scientology versucht, das Internet zu Ob es sich bei dieser Entwicklung um kontrollieren oder zu dominieren, in- einen dauerhaften Trend handelt, der dem sie massiv eigene Propaganda im auch zu einem Rückgang diplomati- Netz verbreitet, damit Internet- TOBIAS FALLER 295

Suchmaschinen möglichst häufig die ter inzwischen auf Auflösungser- Botschaft der SO finden. Ebenso ist scheinungen. Allerdings sind solche sie bestrebt, ungünstige Informatio- Einschätzungen vorschnell. Sciento- nen möglichst mit dem Mittel des Ur- logy konnte in den 1980er Jahren heberrechts entfernen zu lassen. Der nach dem Tod ihres Gründers HUB- Organisation ist es bislang aber nicht BARD eine tiefere Krise bewältigen, gelungen, das Internet zu kontrollie- der dann eine expansive Phase folgte. ren, und vieles spricht dafür, dass es Zwar zeigen sich bei der SO mittler- ihr auch in Zukunft nicht gelingen weile Symptome eines schleichenden wird. Niedergangs in Europa und in ihrem Stammland USA. Jedoch kann Scien- Umgekehrt liegt aus Sicht der SO im tology ihren Kurs aufgrund der ho- Internet auch eine Chance, die sie er- hen Geldreserven noch lange Zeit kannt hat. Für Propaganda, Mei- fortsetzen. nungsmache und Werbung nutzt Scientology immer intensiver das Gegen einen Zusammenbruch bei weltweite Datennetz. Es ist zu ihrem einer etwaigen Zuspitzung einer zentralen Werbemedium geworden. Krise spricht auch der hohe Organi- Hier steigt die Zahl der Webseiten, bei sationsgrad der SO. Sie wird militä- denen der Scientology-Hintergrund risch-straff vom obersten Mana- kaum noch erkennbar ist. Mit profes- gement in Los Angeles/Kalifornien sionell gestalteten Medienangeboten, geführt. An der Spitze steht das »Re- etwa zum Thema Menschenrechte, ligious Technology Center« (RTC), sollen vor allem Jugendliche direkt am dessen Vorstandvorsitzender David Rechner zu Hause erreicht werden. MISCAVIGE ist. Das RTC besitzt Die SO ist auch verstärkt in sozialen die Urheberrechte an den Schriften Netzwerken im Internet aktiv. Es gibt HUBBARDs und übt dadurch auch Hinweise, dass eine wachsende Zahl eine ideologische Kontrolle aus. von Jugendlichen unwissentlich zu- Die Vorgaben dieser Kommando- mindest in einen ersten Kontakt mit ebene werden an das jeweilige Gruppen gerät, bei denen es sich um »Kontinentale Verbindungsbüro« Unterorganisationen der SO handelt. weitergeleitet, das sich für Europa in InwieweitdieSOdamitwomöglich Kopenhagen befindet und das die längerfristig den schleichenden Ab- europäischen SO-Niederlassungen wärtstrend bei den Mitgliederzahlen managt. Die paramilitärischen Kader aufhalten oder gar umkehren könnte, der »Sea Organization« (»Sea Org«) ist noch nicht absehbar. bilden den harten Kern der SO und besetzen meistens die Führungsposi- tionen. Das Selbstverständnis dieser 9. »Implodiert« Scientology? uniformierten Truppe beruht auf dem Prinzip von Befehl und bedin- Wegen der gewachsenen Probleme gungslosem Gehorsam. »Sea-Org«- der SO spekulieren manche Beobach- Kommandos treten nach Berichten 296 WOHIN STEUERT SCIENTOLOGY? ehemaliger Scientologen wie »Partei- Bewegung wieder aufzuerstehen. soldaten« auf und können den Füh- Vielleicht würde eine führungslos ge- rungsanspruch von MISCAVIGE wordene SO auch nur auf einen durchsetzen, der ein unmittelbares neuen Führer warten. Anwärter gäbe Durchgriffsrecht in allen Ebenen der es sicherlich. Organisation besitzen soll. Ein eige- ner geheimer Nachrichtendienst, das Eine »Implosion«, ein völliger Zu- »Office of Special Affairs« (OSA), sammenbruch oder ein schneller Nie- soll Gegner ausforschen und Wider- dergang der SO, wie ihn sich Kritiker stand gegen die SO aus dem Weg verständlicherweise wünschen, ist räumen. Darüber hinaus kann die daher nicht zu erwarten. Organisation den Ausfall von Füh- rungskräften erfahrungsgemäß rela- tiv schnell kompensieren, und sei es 10. Ist Scientology reformier- durch Berufung junger Scientologen bar? in Führungspositionen. Hinzu kommt ein hohes Maß an Gefügigkeit, das Von HUBBARD-Anhängern in immer wieder bei vielen Scientologen Scientology-Abspaltungen wird die erkennbar wird. Forderung nach einer Reform in der SO erhoben. Zunächst muss hierzu Selbst wenn es zu einem Zusammen- gesagt werden, dass in der SO keiner- bruch der Führung in den USA käme, lei Bestrebungen dieser Art erkenn- hieße das nicht, dass Scientology in bar werden und unter der Führung der Folge einfach von der Bildfläche von MISCAVIGE auch nicht zu er- verschwinden oder erlöschen würde. warten sind. Scientology ist ideolo- Es wäre eine unrealistische Vorstel- gisch erstarrt. lung, dass sich zehntausende Sciento- logen in die innere Immigration zu- Interpretationen oder gar Abwei- rückziehen und hunderttausende chungen von HUBBARDs Lehre HUBBARD-Bücher in Kellern ver- sind streng untersagt. Seine »Techno- staut werden. Eher würde ein Teil der logie« ist gemäß scientologischer Scientologen nach einer Phase der Vorstellung unabhängig vom Er- Enttäuschung, Orientierungs- und scheinungsdatum gültig23 und gilt als Ratlosigkeit beginnen, sich zu reor- unfehlbar. Das führt dazu, dass ganisieren. Das zeigen auch Erfah- HUBBARDs Führungsanweisun- rungen im Bereich der sogenannten gen, Schriften, Verfahren, Sozial- und Psychogruppen. Nach dem Tod eines Psychotechniken wortgetreu umge- charismatischen Führers kann eine setzt werden sollen. Nur so sei der Gruppe zunächst von der Bildfläche Erfolg seiner »Technologie« möglich. verschwinden, um dann nach einiger Für überzeugte Scientologen ist Zeit als lose organisierte Therapie- HUBBARDs Lehre die absolute

23 Z. B.: HUBBARD, »Einführung in die Ethik der Scientology«, Kopenhagen, 2007, S.421 ff. TOBIAS FALLER 297

Wahrheit und der SO-Gründer das kehrung der Wortbedeutung keinen größte Genie aller Zeiten. Für sie ist Bezug zu sittlichen Wertmaßstäben. es von größter Wichtigkeit, »on Diescientologische»Ethik«offenbart source« zu sein, was bedeutet, am stattdessen radikalen Durchsetzungs- »Ursprung«, der »Quelle« von willen, schafft Feindbilder und for- HUBBARDs Wissen zu sein. muliert sozialdarwinistisch als oberste Maxime »Überleben« als »das Eine in graduellen Abstufungen ähn- einzige und alleinige Ziel«.25 Damit liche Haltung dürfte selbst noch eine rechtfertigt die SO auch gegenseitige Reihe HUBBARD-Anhänger haben, Bespitzelungen (»Wissensberichte«) die in Splittergruppen abgewandert und eine engmaschige Kontrolle der ist und nicht selten die vermeintlich Mitglieder, etwa durch »Sicherheits- guten alten Zeiten unter HUBBARD überprüfungen«. Ferner unterschei- verklärt. Unterstellt, es gäbe den det Scientology zwischen vermeintli- Plan, Reformen in der SO durch- chen Übermenschen, den Scientolo- zuführen, könnte das Management gen als »Elite des Planeten Erde«26, natürlich ohne weiteres die und angeblich minderwertigen, ver- schlimmsten Auswüchse abstellen brecherischen Gegnern. HUB- und eine humane Behandlung der BARDs Vorstellungen über »Aber- Mitglieder durchsetzen. Das allein rierte« und »Nichtaberrierte« sind würde Scientology aber noch lange Ausdruck eines pathologischen Ge- nicht zu einer die Demokratie ach- sellschafts- und Menschenbildes: Das tenden Organisation machen. HUB- Individuum und die Gesellschaft sind BARD hat die Demokratie verachtet krank – »Heilung« verspricht nur und seine »Technologie« bringt das noch Scientology. Die antidemokrati- immerwiederzumAusdruck.Sosind sche Ausrichtung der SO ist im Kern die Techniken zur Verhaltenskonditi- bereits in ihrem Menschenbild ange- onierung wie die »Trainingsrouti- legt, weil HUBBARD allen Nicht- nen« (TRs) vor allem darauf ausge- Scientologen, den »Aberrierten«, das richtet, Befehle kompromisslos Selbstbestimmungsrecht abspricht. durchzusetzen, Widerstand zu bre- Oder, wie er es an die Adresse von chen oder mit Manipulationen zu Scientologen anmaßend formulierte: überwinden. Kritikfähigkeit und das »Sie sind ganz sicher berechtigt, das zu Vermögen, Kompromisse einzuge- stören, was Lachhafterweise Selbstbe- hen, sind dagegen nicht erwünscht. stimmung genannt wird.«27 Denn die angeblich geistig gestörten Nicht-Sci- HUBBARDs »Ethik« – ein zentrales entologen seien gar nicht in der Lage, Element24 seiner Lehre – hat in Um- vernünftigzu entscheiden. In Sciento-

24 U.a. in: HUBBARD, »Einführung in die Ethik der Scientology« oder auch: HUBBARD, »Wie man Unterdrückung kon- frontiert und zerschlägt. PTS/SP-Kurs«, Kopenhagen 2001. 25 HUBBARD, »Dianetik. Der Leitfaden für den menschlichen Verstand«, Kopenhagen 2007, Klappentext. 26 HUBBARD, Richtlinienbrief »Organisatorische Haltung«, Copyright 2001. 27 »International Scientology News« Nr.25/2003, S.4. 298 WOHIN STEUERT SCIENTOLOGY? logy werden so auch Täuschungen Eine wirkliche Reform würde an die und Manipulationen gerechtfertigt, Grundfesten des ideologischen Ge- wenn neue Mitglieder angeworben dankengebäudes von Scientology ge- werden sollen. hen. Übrig bliebe dann wohl vor al- lem ein von der sogenannten PTS/ Die von der SO propagierte »Welt SP29- und Ethik-Technologie ent- ohne Geisteskrankheit, Krieg und kerntes Therapie-Angebot, das es in Kriminalität« ist eine politische Uto- durchaus ähnlicher Form bereits auf pie, die es in ähnlicher Form auch in dem Esoterik- und Lebenshilfemarkt anderen totalitären Bewegungen gibt. gibt. Es stellt sich die Frage, ob so- Die gesellschaftspolitischen Verhei- genannte Reform-Scientologen Der- ßungen von Scientology sind daher artiges tatsächlich wollten, wenn es im Grunde nichts Neues. L. Ron dafür eine realistische Chance gäbe. HUBBARD war nicht der Erste, der Alles in allem ist auch zweifelhaft, ob von der Schaffung eines neuen Men- Scientology überhaupt reformierbar schen und einer neuen, scheinbar ist. idealen Gesellschaft träumte. Er erlag – wie noch heute viele Scientologen – dem, was man mit dem Begriff »tota- 11. Schlussbetrachtung litäre Versuchung« umschreiben könnte. Denn mit Dianetik und »Und zum Teufel mit der Gesell- Scientology erhob HUBBARD den schaft! Wir machen eine neue.«30 Anspruch, nichts weniger als den per- fekten Menschen – den »Clear« – und Scientology ist eine verfassungsfeind- dann den Übermenschen (»Operie- liche und menschenverachtende Or- render Thetan«) schaffen zu können. ganisation, die der Gesellschaft durch Wenn nun genügend dieser neuen langfristige Expansion ihre Regeln Menschen (HUBBARD: »homo überstülpen will. Die SO mag weit scientologicus«28) erschaffen würden, von der von ihr angestrebten »neuen wäre auch die Errichtung einer na- Zivilisation« entfernt sein, sie will ihr hezu perfekten, konfliktfreien Ge- antidemokratisches Programm aber sellschaft möglich. Versuche, eine sol- mit großer Hartnäckigkeit auf die che Gesellschaft zu schaffen, hat es in Gesellschaft übertragen und unver- der Geschichte bereits gegeben. Die ändert Einfluss auf Parlamente und Ergebnisse sind bekannt. Regierungen erlangen. Die Gefahr

28 HUBBARD, Bulletin »Thebig Auditing Problem«, in: »TheTechnical Bulletins of Dianetics and Scientology« BandIV, Kopenhagen 1991, S.142. 29 »SP« bedeutet »suppressive Person«, also «unterdrückerische Person«. In der SO werden so Kritiker und Gegner be- zeichnet. »PTS« bedeutet »Potential Trouble Source« – »potenzielle Störungsquelle«. Als solche gelten in der SO die- jenigen Personen, die in Kontakt mit einem »Unterdrücker« stehen. 30 HUBBARD, zitiert in: Rundbrief der »Scientology Gemeinde Baden Württemberg«, August 2004. TOBIAS FALLER 299 der Beeinflussung von Unternehmen sellschaft angepasst und setzt umfas- durch verdeckt auftretende Berater send auf das Internet. des SO-Wirtschaftsverbandes »World Institute of Scientology Enterprises« Zum vielleicht größten Problem der (WISE) erfordert in der zunehmend SO in Deutschland könnte längerfris- globalisierten Wirtschaft unvermin- tig die drohende Überalterung des dert Aufmerksamkeit. Mitgliederstamms werden. Mögli- cherweise hat die Organisation dieses Die Erfahrungen zeigen, dass es der Problem nicht nur in Deutschland, SO am ehesten gelingt, in politische denn es fällt auf, wie stark die Wer- Strukturen einzudringen, wo relativ bung der SO auf die junge Gene- wenig über die SO bekannt ist oder ration abzielt. Insofern sollte ein wo sie unerkannt auftreten kann. Fer- besonderes Augenmerk darauf gelegt ner kann die SO in besonderer Weise werden, auf welche Weise Sciento- in der Wirtschaft und der Politik in logy junge Menschen anwerben will, Ländern oder Regionen expandieren, etwa durch Nachhilfeangebote, mit die sich in einer krisenhaften oder der »Jugend-für-Menschenrechte«- Umbruchsituation31 befinden und Masche oder auch in sozialen Netz- wo im Anschluss eine dynamische werken im Internet. wirtschaftliche Entwicklung stattfin- det. Diese Erfahrung mussten zum Offensive öffentliche Aufklärung Beispiel nach dem Zusammenbruch über die Praktiken der SO und die des Kommunismus in den 1990er Möglichkeiten der wehrhaften De- Jahren mehrere zentral- und osteuro- mokratie haben sich bislang als wir- päische Staaten machen. Die großen kungsvolle Methode erwiesen, die Finanzreserven der SO sind dabei Expansionsbestrebungen der SO ein- nicht nur im Hinblick auf ihre zudämmen. Zwischen etwa 1988 bis Durchhaltefähigkeit von Bedeutung. 1992 konnte die SO unter anderem in Das Scientology-Management hat Deutschland eine starke expansive das Selbstverständnis, über viel Geld Phase einleiten. Durch kritische auch Macht und Einfluss erlangen zu Sachinformationen über Scientology können. und rechtsstaatliche Maßnahmen – nicht zuletzt auch durch die Beob- Scientology passt sich nach außen achtung durch den Verfassungs- veränderten Bedingungen durchaus schutz – konnten die Expansionsbe- an und bietet ihre altbekannten Kon- strebungen erfolgreich eingedämmt zepte in immer neuer »Verpackung« und mehr Klarheit über die Organi- an. Sie hat sich auch den veränderten sation gewonnen werden. In der Rahmenbedingungen der Medienge- Folge fiel der SO-Boom der frühen

31 HUBBARD selbst hat in der Führungsanweisung »Spezialbereichsplan« auf die Möglichkeiten der Infiltration in sol- chen Situationen hingewiesen (z.B. in Zeitschrift »Cause«, Nr.23/2005, S.11 ff.). 300 WOHIN STEUERT SCIENTOLOGY?

1990er Jahre in Deutschland in sich nipulieren, dass die Organisation in zusammen. absehbarer Zeit positiv wahrgenom- menwerdenwird.Dafürsorgtsiemit Alles in allem ergibt sich derzeit der ihren konfliktträchtigen und men- Eindruck, dass sich ein schleichender schenverachtenden Methoden letzt- Niedergang der SO mit tendenziell lich immer wieder selbst. Dabei ist die sinkenden Einnahmen und Mitglie- SO trotz all ihrer Probleme eine lang- derzahlen fortsetzen könnte – falls sie lebige Organisation, vor allem wegen diesen Trend nicht mit neuen Werbe- ihres hohen Organisationsgrades und konzepten in der Mediengesellschaft der enormen finanziellen Reserven. umkehren kann. Für die SO wird es Die demokratische Gesellschaft wird mit ihrem mehr oder weniger ruinier- sich noch lange mit dem Phänomen ten Ansehen sehr schwer werden, die Scientology befassen müssen. öffentliche Wahrnehmung so zu ma-

GEHEIMSCHUTZ

60 VERFASSUNGSSCHUTZ 1952 – 2012

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Nach den Anschlägen vom 11. September 2001: Personenüberprüfungen im Dienst des Sabotageschutzes Was sind die wesentlichen Gesetzesänderungen, wie lassen sie sich systematisieren und wie sind sie zu bewerten?

STEFAN SCHNÖCKEL

Wer im Jahr 2000 im nicht allgemein keitsüberprüfung unterziehen. Fiel er zugänglichen Bereich eines Flugha- den Sicherheitsbehörden aber erst fens arbeiten wollte, konnte seine Tä- nach dem Abschluss der Überprü- tigkeit aufnehmen, sobald der Ar- fung auf – etwa weil er sich in zuneh- beitsvertrag abgeschlossen war. Ein mendem Maße radikalisierte, Kon- Verfahren zur Prüfung der Zuverläs- taktezuislamistischenKreisen sigkeit von Flughafenmitarbeitern knüpfte und sich schließlich dem war nicht zwingend vorgeschrieben; Jihadismus zuwandte –, blieben diese erst recht war vom erfolgreichen Ab- neuen Erkenntnisse unberücksich- schluss eines solchen Verfahrens tigt. Denn weder waren die Sicher- nicht die Aufnahme der Tätigkeit ab- heitsbehörden verpflichtet, nach- hängig. Vielmehr stand es im Ermes- träglich erlangte Erkenntnisse den sen der zuständigen Luftfahrtbe- atomrechtlichen Behörden mitzutei- hörde, ob sie das Flughafenpersonal len, noch waren sie dazu in der Lage, überhaupt auf seine Zuverlässigkeit da sie die Daten der überprüften Per- überprüfen wollte. Zehn Jahre später sonen nicht aufbewahren und spei- hat sich die Rechtslage grundlegend chern durften, sondern unmittelbar geändert: Jeder Mitarbeiter eines im Anschluss an die Überprüfung zu Flugplatzes, der in nicht allgemein löschen hatten. Seit dem Jahr 2010 hat zugänglichen Bereichen tätig werden der Gesetzgeber Abhilfe geschaffen: möchte, wird einer obligatorischen Nunmehr werden die Personalien der Prüfung seiner Zuverlässigkeit unter- überprüften Personen auch bei den zogen. Diese hat zu erfolgen, bevor Sicherheitsbehörden gespeichert und die Arbeit aufgenommen werden Erkenntnisse, die den Sicherheitsbe- kann. Ausnahmen gelten nur für jene hörden erst nach Abschluss der Zu- Personen, die bereits zuvor nach ähn- verlässigkeitsüberprüfung bekannt lichen Maßstäben – wenn auch mög- werden, den atomrechtlichen Behör- licherweise auf anderer Rechtsgrund- den unverzüglich mitgeteilt (soge- lage – überprüft worden sind. nannte Nachberichtspflicht).

Ähnliches gilt im Anwendungsbe- Diese Aufzählung ließe sich noch reich des Atomgesetzes: Jeder, der im weiter fortsetzen, etwa mit Hinweis Jahr 2000 mit dem Transport radioak- auf Beschäftigte an sogenannten si- tiver Stoffe betraut war, musste sich cherheitsempfindlichen Stellen inner- zwar einer behördlichen Zuverlässig- halb lebens- oder verteidigungs- 306 PERSONENÜBERPRÜFUNGEN IM DIENST DES SABOTAGESCHUTZES wichtiger Einrichtungen. Bereits die ins Auge stechende Abweichungen beiden geschilderten Beispiele zeigen oder gar Inkonsistenzen gibt (II.). indes eines deutlich: Die Überprü- Während bei unbefangener Be- fung von Mitarbeitern gefahrenträch- trachtung die Annahme naheliegt, tiger Einrichtungen hat sich in den dass der Umfang und die Tiefe einer letzten Jahren grundlegend geändert. Überprüfung eng mit den Gefahren Der Gesetzgeber hat zusätzliche korrelieren, die von der Tätigkeit der Anstrengungen unternommen, um zu überprüfenden Person z.B. in ei- potenzielle Saboteure (»Innentäter«) nem Atomkraftwerk oder auf einem von besonders sicherheitsempfindli- Flughafen ausgehen, zeigt sich bei ge- chen und gefahrenträchtigen Stellen nauerem Hinsehen, dass dies nicht fernzuhalten. Wo früher keine Über- notwendigerweise der Fall ist. Viel- prüfungen vorgeschrieben waren, mehr drängt sich der Verdacht auf, sind diese heute verpflichtend; wo dass sich der Gesetzgeber in etlichen spätere Erkenntnisse der Sicherheits- Fällen nur in geringem Maße auf sta- behörden unberücksichtigt blieben, tistische Daten zur Wahrscheinlich- werden sie jetzt den zuständigen Be- keit eines Schadenseintritts und zur hörden zwangsläufig berichtet. Alles Höhe des voraussichtlichen Schadens in allem wurde die Messlatte für den gestützt hat. Von welchem Maßstab erfolgreichen Abschluss einer Über- er sich stattdessen vermutlich hat lei- prüfung höher gelegt. ten lassen und was davon zu halten ist, soll Gegenstand des abschließen- Ziel dieses Beitrags ist es, in einem den dritten Teils dieses Beitrags sein ersten Schritt einen Überblick über (III.). einige der wesentlichen Gesetzesän- derungen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 zu geben. Dabei I. Wesentliche Änderungen wird deutlich werden, dass der Gesetzgeber in die verschiedenen Die verschiedenen, dem vorbeugen- Gebiete des vorbeugenden Sabotage- den Sabotageschutz dienenden Ver- schutzes unterschiedlich stark einge- fahren der Zuverlässigkeitsüberprü- griffen, sich bisweilen mit marginalen fung wurden nach den Anschlägen Änderungen begnügt, bisweilen aber vom 11.September 2001 unterschied- auch Grundsätzliches neu geordnet lichintensivenRevisionenunterzo- hat (dazu unter I.). In einem zweiten gen. Während im Luftverkehrsrecht Schritt soll herausgearbeitet werden, eine Kehrwende von der Ermessens- was nach den Änderungen der letzten überprüfung hin zur obligatorischen Jahre den verschiedenen, dem Sabo- Prüfung stattfand, begnügte sich der tageschutz dienenden Überprüfungs- Gesetzgeber im Atomrecht mit verfahren gemeinsam ist und in wel- punktuellen Änderungen, deren be- chen Punkten weiterhin erhebliche deutendste die Einführung der Nach- Unterschiede bestehen, wo sich also berichtspflicht gewesen sein dürfte. »rote Fäden« finden lassen und wo es Vollkommen neu geregelt wurden die STEFAN SCHNÖCKEL 307

Zuverlässigkeitsüberprüfungen für 2002 zur Überprüfung kraft Gesetzes Mitarbeiter lebens- und verteidi- verpflichtet. Für die Feststellung der gungswichtiger Einrichtungen.1 Zuverlässigkeit gilt ein strenger Maß- stab:

1. Luftverkehrsrecht »Zuverlässig ist nur, wer die Gewähr dafür bietet, die ihm obliegenden Seit den 1960er Jahren war man sich Pflichten zum Schutz vor Angriffen bewusst, welche Gefahren den Passa- auf die Sicherheit des Luftverkehrs, gieren durch Flugzeugentführungen insbesondere vor Flugzeugentfüh- drohen; seit dem 11. September 2001 rungen und Sabotageakten, jederzeit weiß man, dass sich die Auswirkun- in vollem Umfang zu erfüllen. Wegen gen von Flugzeugentführungen nicht des gerade beim Luftverkehr hohen auf die Passagiere an Bord eines Flug- Gefährdungspotenzials und der zeugs beschränken lassen, sondern Hochrangigkeit der zu schützenden dass Flugzeuge auch als Waffen gegen Rechtsgüter begegnet es auch im Hin- Personen am Boden eingesetzt wer- blick auf Art. 12 GG keinen Beden- den können.2 Vor diesem Hinter- ken, (…) strenge Anforderungen zu grund entschloss sich der deutsche stellen und die Zuverlässigkeit bereits Gesetzgeber kurz nach den Attenta- dann zu verneinen, wenn hieran auch ten des Jahres 2001, das Verfahren zur nur geringe Zweifel bestehen.«5 Überprüfung der Zuverlässigkeit von Personen, die in sicherheitsrelevanten Die obligatorische Prüfung trifft vor Bereichen auf Flughäfen eingesetzt allem Personen, denen zur Ausübung sind, im Zuge des Terrorismusbe- ihrer beruflichen Tätigkeit Zugang zu kämpfungsgesetzes bundeseinheit- nicht allgemein zugänglichen Berei- lichneuzuregeln.3 Während zuvor chen eines Flughafens gewährt wer- die Durchführung der Überprü- den soll, sowie das Personal von fungsverfahren in das Ermessen der Flugplatz- und Luftfahrtunterneh- Luftfahrtbehörden gestellt war,4 sind men, das aufgrund seiner Tätigkeit die Behörden seit Beginn des Jahres unmittelbaren Einfluss auf die Sicher-

1 Außer Betracht bleiben im Folgenden das Sprengstoffgesetz des Bundes und die Hafensicherheitsgesetze der Län- der. Zwar wurde auch das Sprengstoffgesetz im Jahr 2002 novelliert. Die Zuverlässigkeitsprüfung nach § 8a Spreng- stoffgesetz hat jedoch eine so geringe praktische Bedeutung, dass sie nicht näher untersucht werden soll. Ähnliches gilt für die Hafensicherheitsgesetze der Länder: Auch sie sind außerhalb der Küstenländer nur von geringer Relevanz. Hinzu kommt, dass sich die Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Sprengstoffgesetz und den Hafensicherheits- gesetzen ohnehin nicht grundlegend von jenen Überprüfungsarten unterscheiden, die hier im Mittelpunkt stehen. Die folgenden Ausführungen gelten daher – mutatis mutandis – auch für das Sprengstoff- und das Hafensicherheitsrecht. Lediglich in den Fußnoten wird bisweilen das baden-württembergische Hafensicherheitsgesetz um der Verdeutli- chung willen herangezogen werden. 2 Marcus Schladebach, Luftrecht, Tübingen 2007, Rn. 315. 3 Art. 19 Nr.4 des Gesetzes zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus vom 9. Januar 2002 (BGBl. 2002 I S.361 [379f.]). 4 § 29d Abs.2 Satz 1 Luftverkehrsgesetz (LuftVG) in der Fassung vom 16. Februar 2001. 5 BVerwG, Urteil vom 15.Juli 2004 – 3C 33/03 (Rn.20f.); ebenso BVerfG, Beschluss vom 4.August 2009 – 1BvR 1726/09 (Rn. 11 [unter Hinweis auf die hier zitierte Entscheidung des BVerwG]). 308 PERSONENÜBERPRÜFUNGEN IM DIENST DES SABOTAGESCHUTZES heit des Flugverkehrs hat (zu denken Telefonat in die USA ermöglicht ist etwa an Catering-Firmen, die Es- werde, sah sich der deutsche Gesetz- sen und Getränke für die Fluggäste an geber abermals veranlasst, tätig zu Bord liefern)6. Die Überprüfung um- werden und der neuen Bedrohungs- fasst u.a. Anfragen bei den Verfas- lage durch ein eigenes Gesetz – näm- sungsschutz- und Polizeibehörden, lich das Luftsicherheitsgesetz (Luft- das Einholen einer unbeschränkten SiG) vom 11. Januar 2005 (BGBl. Auskunft aus dem Bundeszentralre- 2005 I, S.78) – Rechnung zu tragen.9 Es gister sowie die Prüfung der Identität dientevornehmlichdazu,dieteilweise des Betroffenen;7 sie ist entbehrlich, konkretisierungsbedürftigen Vorga- wenn der Betroffene zuvor einer ben der EG-Verordnung 2320/2002 gleichwertigen Prüfung unterzogen vom 16.Dezember 2002 in nationales wurde oder den erweiterten Über- Recht umzusetzen, die Vorschriften prüfungen nach den Vorgaben des Si- über die Abwehr äußerer Gefahren cherheitsüberprüfungsgesetzes (SÜG) für den Luftverkehr in einem Rege- unterliegt.8 lungswerk zusammenzufassen und den Schutz vor Angriffen auf die Nachdemam5.Januar2003einMo- Sicherheit des Luftverkehrs zu ver- torsegler stundenlang über der Innen- bessern; insbesondere sollten Flug- stadt von Frankfurt a.M. gekreist war zeugentführungen, Sabotageakte und und der offenbar geistig verwirrte Pi- terroristische Anschläge verhindert lot gedroht hatte, das Flugzeug in das werden (§ 1 LuftSiG). Neben weite- Hochhaus der Europäischen Zentral- ren Maßnahmen wie der genaueren bank zu steuern, wenn ihm nicht ein Abgrenzung behördlicher Zuständig-

6 § 29d Abs.1 Satz 1 LuftVG in der Fassung vom 9. Januar 2002, jetzt § 7 Abs.1 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG). 7 Die Identitätsprüfung wurde in das Sicherheitsüberprüfungsrecht vor allem aufgrund von Spionagefällen aufgenom- men, bei denen Personen mit einer falschen Identität eingeschleust wurden (vgl. Helmut Bäumler, Neue Vorschriften für Sicherheits- und Zuverlässigkeitsüberprüfungen im Bund, RDV 1989, 218 [219 f.]). 8 § 29d Abs.1 Satz3, Abs.2 LuftVG in der Fassung vom 9.Januar 2002, jetzt § 7 Abs.2 Satz3 LuftSiG. Dass die Zuverläs- sigkeitsüberprüfung im Sinne des Luftverkehrsgesetzes entfällt, wenn eine erweiterte Sicherheitsüberprüfung nach § 9 oder § 10 SÜG durchgeführt wurde, ist konsequent, da die Prüfungsmaßstäbe nahezu identisch sind: Auch bei der erweiterten Sicherheitsüberprüfung werden Anfragen an die Verfassungsschutz- und Polizeibehörden gerichtet und unbeschränkte Auskünfte aus dem Bundeszentralregister und dem staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister ein- geholt (§ 12 Abs.1 SÜG); zudem wird die Identität des Betroffenen geprüft. Von der einfachen bundesrechtlichen Si- cherheitsüberprüfung unterscheidet sich die erweiterte Prüfung vor allem durch zweierlei: Zum einen entfallen bei der einfachen Prüfung die Identitätsprüfung sowie die Anfrage bei den Polizeidienststellen der früheren Wohnsitze und zum anderen wird der Ehegatte, Lebenspartner oder Lebensgefährte nicht einbezogen (§ 12 Abs.2 i. V. m. § 2 Abs.2 SÜG). Auf die Zuverlässigkeitsprüfung von Flughafenmitarbeitern auch dann zu verzichten, wenn eine einfa- che Sicherheitsprüfung durchgeführt wurde, hat der Gesetzgeber deshalb ausdrücklich abgelehnt (BT -Drucks. 14/7386, S.68). Besonders betont werden muss an dieser Stelle, dass die vorherigen Ausführungen lediglich für das Sicherheitsüber- prüfungsrecht des Bundes gelten. Denn anders als im Bundesrecht sind im Landesrecht vielfach auch bei der einfa- chen Sicherheitsüberprüfung Anfragen bei den Polizeidienststellen und beim zentralen staatsanwaltschaftlichen Ver- fahrensregister vorgeschrieben (vgl. z.B. § 12 Abs.1 Landessicherheitsüberprüfungsgesetz Baden-Württemberg). Mit anderen Worten: Der Abstand zwischen beiden Überprüfungsarten ist im Landesrecht oftmals geringer als im Bundesrecht. 9 Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben, BT -Drucks. 15/2361, S.14 (dort werden die An- schläge vom 11.September 2001 und die Entführung des Motorseglers am 5.Januar 2003 als Beweggründe des Gesetzge- bers genannt). STEFAN SCHNÖCKEL 309 keiten und der Normierung einzelner und überführten sie lediglich in das Befugnisse der Flugplatzbetreiber, neue Luftsicherheitsgesetz. Die we- Luftfahrtunternehmen, Luftfahrzeug- sentliche Zäsur hatte schon beim führer und Streitkräfte10 wurde auch Inkrafttreten des Terrorismusbe- das Verfahren der Zuverlässigkeitsü- kämpfungsgesetzes im Jahr 2002 berprüfungen überarbeitet. Dadurch stattgefunden: Seit diesem Zeitpunkt sollten Sicherheitslücken geschlossen war die Zuverlässigkeitsüberprüfung und eine umfassendere und effekti- von Flugplatzmitarbeitern nicht vere Durchführung der Überprüfun- mehr in das Ermessen der Luftfahrt- gen ermöglicht werden.11 So wurden behörden gestellt, sondern zwingend z.B. weitere Personengruppen – etwa vorgeschrieben; Ausnahmen waren sogenannte Privatpiloten, Flugschü- eng gefasst und die Ermittlungstiefe ler und Mitglieder von flugplatzan- der Behörden gesetzlich vorgeschrie- sässigen Vereinen (§ 7 Abs.1 Nr.4 ben. und 5 LuftSiG) – in das Überprü- fungsverfahren einbezogen; auch wurde ausdrücklich festgelegt, dass 2. Atomrecht die abgeschlossene Zuverlässigkeits- überprüfung Voraussetzung für den Auch das Atomrecht ist von der ver- Zugang zu nicht allgemein zugängli- änderten Sicherheitslage nach den chen Bereichen des Flugplatzgelän- Terroranschlägen des 11. September des ist (§ 7 Abs.6 LuftSiG) und dass 2001 in den USA und weiteren terro- die Luftsicherheitsbehörden über Er- ristischen Attentaten in der Folgezeit kenntnisse, die im Nachhinein anfal- (z.B. in London und Madrid) nicht len, im Wege der Nachberichtspflicht unberührt geblieben. Die Verände- zu informieren sind (§ 7 Abs.9 Luft- rungen waren allerdings weniger ein- SiG). schneidend als im Luftverkehrsrecht. Denn während im Luftverkehrsrecht All dies waren indes keine grundle- die zuständigen Behörden vor den genden qualitativen Veränderungen, Anschlägen – wie soeben geschildert sondern nur geringfügige Modifikati- – nach eigenem Ermessen entschei- onen. Sie ließen die Grundlinien der den konnten, ob Flughafenmitarbei- bereits im Luftverkehrsgesetz nieder- ter auf ihre Zuverlässigkeit überprüft gelegten Regelungen unangetastet wurden, war im Atomrecht schon seit

10 Besonders umstritten war das Recht der Streitkräfte, Flugzeuge in Ausnahmefällen abzuschließen (§ 14 Abs.3 LuftSiG): Diese Befugnis wurde in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, vom Bundespräsidenten eingehend ge- prüft und schließlich vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 15. Februar 2006 (1 BvR 357/05) für nichtig er- klärt, und zwar sowohl wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Bundes als auch wegen Unvereinbarkeit die- ser Norm mit Art. 2 Abs.2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 GG. Auf die übrigen Regelungen des Luftsicherheitsgesetzes hat- ten diese »Turbulenzen« indes keine Auswirkungen; auch das Verfahren der Zuverlässigkeitsüberprüfungen blieb von ihnen unberührt. 11 BT -Drucks. 15/2361, S.16 (zu den Zielen, die der Gesetzgeber bei der Novellierung der Zuverlässigkeitsüberprüfung verfolgt hat). Allgemeinverständliche und nach Art eines Lehrbuchs aufgebaute Ausführungen zur Zuverlässigkeits- überprüfung nach dem LuftSiG finden sich z.B. bei Schladebach (Fußn. 2), Rn. 615 ff. 310 PERSONENÜBERPRÜFUNGEN IM DIENST DES SABOTAGESCHUTZES denspäten1980erJahrenkraftGeset- Informationen, die im ursprüngli- zes eine Überprüfung jener Personen chen Überprüfungsverfahren noch zwingend vorgesehen, die mit radio- nicht berücksichtigt werden konnten, aktiven Stoffen umgehen, diese beför- der zuständigen atomrechtlichen Be- dern oder bei Errichtung und Betrieb hördenachträglichzumelden(Nach- kerntechnischer Anlagen tätig sind; berichtspflicht, § 12b Abs.7 AtG). zu diesem Zweck durften Erkennt- Damit wurde, wie der Vergleich mit nisse insbesondere bei den Polizei- dem oben beschriebenen Verfahren und Verfassungsschutzbehörden ab- der luftverkehrsrechtlichen Sicher- gefragt werden.12 Mit anderen heitsüberprüfung zeigt, das Sicher- Worten: Der personelle Sabotage- heitsniveau im Atomrecht nicht nur schutz spielte im Atomrecht seit jeher angehoben, sondern auch jenem des eine größere Rolle als im Luftver- Luftverkehrsrechts weitgehend ange- kehrsrecht. Es bedurfte nicht der An- glichen. schläge vom 11. September 2001, um dem Gesetzgeber die Gefahren vor Augenzuführen,diebeimUmgang 3. Sicherheitsüberprüfungs- mit radioaktiven Stoffen von Sabota- gesetz (SÜG) gehandlungen ausgehen können. Weiter reichend als im Atomrecht wa- Trotzdem nahm er auch im Atom- ren die Veränderungen des SÜG,14 die recht die neue Sicherheitslage nach nach denAnschlägen vom11.Septem- diesen Attentaten zum Anlass, das ber 2001 vorgenommen wurden: Verfahren der Zuverlässigkeitsüber- Erstmals wurde der Anwendungsbe- prüfung zumindest punktuell zu ver- reich des SÜG auf den vorbeugenden bessern.13 So wurde beispielsweise personellen Sabotageschutz erwei- der Katalog der Behörden und Stellen tert. Nunmehr sind auch Personen, erweitert, an die zum Zwecke der Zu- die an sicherheitsempfindlichen Stel- verlässigkeitsüberprüfung Anfragen len in lebens- oder verteidigungs- gerichtet werden können (§ 12b wichtigen Einrichtungen beschäftigt Abs.3 Satz 1 Atomgesetz [AtG]). sind, auf ihre Zuverlässigkeit zu über- Auch wurden bestimmte, an der prüfen (§ 1 Abs.4 SÜG). In einem ers- Überprüfung beteiligte Behörden – ten Schritt ist mithin festzustellen, wie etwa die Verfassungsschutzbe- welche öffentlichen und nichtöffent- hörden – verpflichtet, später erlangte lichen Stellen zu den lebens- oder ver-

12 § 12b Abs.1 des Atomgesetzes in der Fassung vom 6. April 1998. 13 Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes, BT -Drucks. 16/11609, S.9ff. (dort werden die An- passungen des Atomgesetzes gerade mit der veränderten Sicherheitslage nach dem 11. September 2001 begrün- det). 14 Wenn hier vom »Sicherheitsüberprüfungsgesetz« die Rede ist, ist stets das Bundesgesetz gemeint. Die im Folgenden zu beschreibenden Neuerungen sind allerdings nicht auf das Bundesgesetz beschränkt, sondern spiegeln sich auch in Änderungen der Sicherheitsüberprüfungsgesetze der Länderwider, vgl. etwa §§ 1 Abs.3, 35 des Landessicherheits- überprüfungsgesetzes Baden-Württemberg. Zu einigen Unterschieden zwischen Bundes- und Landesrecht s. o. (Fußn. 8). STEFAN SCHNÖCKEL 311 teidigungswichtigen Einrichtungen einer besonders sensiblen Stelle ar- zählen. Der Kreis dieser Einrichtun- beiten soll.15 Mit anderen Worten: gen lässt sich nicht unmittelbar dem Nur wenn feststeht, dass eine Person Gesetz entnehmen, sondern wird an einer Stelle eingesetzt wird, die in- durch Rechtsverordnung bestimmt nerhalb der lebens- und verteidi- (vgl. § 34 SÜG). Das Gesetz gibt dem gungswichtigen Einrichtungen be- Verordnungsgeber allerdings eine sonders geschützt und von herausra- Richtschnur an die Hand, indem es – gender Bedeutung ist, greift der vom im Wege einer Legaldefinition (vgl. SÜG intendierte Schutz vor mögli- § 1 Abs.5 SÜG) – unter den Begriff chen Innentätern. Obgleich somit der der lebenswichtigen Einrichtungen Kreis der Betroffenen eng umgrenzt solche fasst, deren Beeinträchtigung ist und ihre Möglichkeiten, große aufgrund ihrer betrieblichen Eigen- Teile der Bevölkerung durch Sabo- gefahr große Teile der Bevölkerung tagehandlungen zu gefährden, erheblich gefährden kann oder die für beträchtlich sind, hatte es der Gesetz- das Funktionieren des Gemein- geber zunächst für ausreichend wesens unverzichtbar sind (man gehalten, lediglich eine einfache Si- denke etwa an die Energie- und cherheitsüberprüfung vorzuschrei- Wasserversorgung oder auch an die ben (§ 8 Abs.1 Nr.3 SÜG a. F.). Im Telekommunikation). Für verteidi- Vergleich zu den Überprüfungen gungswichtig erklärt das SÜG jene nach Luftsicherheits- und Atomrecht Einrichtungen, deren Beeinträchti- wurde damit ein niedrigeres Über- gung wegen fehlender Ersetzbarkeit prüfungsniveau für hinreichend er- die Funktionsfähigkeit der Bundes- achtet; auf eine Überprüfung der wehr in Mitleidenschaft ziehen oder Identität des Betroffenen wurde ver- wegen ihrer Eigengefahr die Gesund- zichtet. heit großer Teile der Bevölkerung aufs Spiel setzen kann. Geändert hat sich das erst mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Ände- In einem zweiten Schritt ist sodann rung des Bundesverfassungsschutz- zu prüfen, welche Stellen innerhalb gesetzes am 10. Januar 2012: Seit der lebens- oder verteidigungswichti- diesem Zeitpunkt sind auch Sicher- gen Einrichtungen sicherheitsemp- heitsüberprüfungen im vorbeugen- findlich sind. Denn die nach dem den Sabotageschutz – wenigstens SÜG obligatorische Sicherheitsüber- demGrundenach–denRegelnder prüfung erfolgt nicht bereits dann, erweiterten Sicherheitsüberprüfung wenn der Betroffene in einer lebens- unterworfen. Nunmehr sind also oder verteidigungswichtigen Ein- auch in diesem Bereich des personel- richtung tätig ist, sondern erst, wenn len Sabotageschutzes die Identi- er überdies in dieser Einrichtung an tätsprüfung und die Anfrage bei

15 BT -Drucks. 14/7386, S.43 (zur Unterscheidung zwischen lebens- und verteidigungswichtigen Einrichtungen einer- seits und sicherheitsempfindlichen Stellen andererseits). 312 PERSONENÜBERPRÜFUNGEN IM DIENST DES SABOTAGESCHUTZES den Landespolizeibehörden obliga- Überprüfungsniveau und die Frage, torisch. Anders als bei sonstigen er- welcher Personenkreis überhaupt auf weiterten Sicherheitsüberprüfungen seine Zuverlässigkeit überprüft wird. wird allerdings der Ehegatte nicht in die Sicherheitsüberprüfung einbezo- gen. Zudem wird auf eine Reihe von Angaben in der Sicherheitserklärung 1. Überprüfungsniveau verzichtet, z.B. auf Angaben zur fi- nanziellen Situation, zu Kontakten Bei genauerer Betrachtung des Über- mit ausländischen Nachrichtendiens- prüfungsniveaus fällt zweierlei auf: ten und zu Beziehungen zu Staaten Erstens bewegen sich die Überprü- mit besonderen Sicherheitsrisiken. fungen im Luftsicherheitsrecht, im Atomrecht und im vorbeugenden Sa- botageschutz nach den Normen des II. Was ist den Überprüfungsver- SÜG zwar inzwischen alle auf dem fahren gemein und was unter- Niveau der erweiterten Sicherheits- scheidet sie? überprüfung, im Unterschied zur sonstigen erweiterten Sicherheits- Selbst bei flüchtiger Betrachtung der überprüfung wird der Ehegatte oder bislang geschilderten Erkenntnisse Lebenspartner aber nicht in die Über- fällt auf, dass die Gewährleistung des prüfung einbezogen. Zweitens hatte Sabotageschutzes durch Zuverlässig- der Gesetzgeber bei der Überprüfung keitsüberprüfungen lange Zeit kein der Mitarbeiter lebens- und verteidi- Werk »aus einem Guss« war. Zwar gungswichtiger Einrichtungen – an- waren vielen Überprüfungsverfahren dersalsindenanderenFällendesvor- von Beginn an einzelne Elemente ge- beugenden Sabotageschutzes – lange mein, bis zu einer vollständigen Har- Jahre keine erweiterte Sicherheits- monisierung war aber noch eine grö- überprüfung vorgesehen, sondern ßere Wegstrecke zurückzulegen. Da sich mit der einfachen Prüfung be- die Zuverlässigkeitsüberprüfungen in gnügt. Während sich für die erste verschiedenen Fachgesetzen veran- Entscheidung – jedenfalls bei wohl- kert und überdies verschiedene Res- wollender Betrachtung – zumindest sorts zuständig sind, nimmt dies nicht ein sachlicher Grund finden lässt, ist weiter wunder. Einige Unterschiede dies bei der zweiten kaum möglich. waren allerdings so eigentümlich, Im Einzelnen: dass sie sich nicht allein mit dem lako- nischen Hinweis erklären lassen, es a) Warum der Gesetzgeber bei den seien eben unterschiedliche Zustän- Überprüfungen aus Gründen des Sa- digkeiten zu beachten und verschie- botageschutzes von dem Muster der dene Sachgebiete zu regeln gewesen. erweiterten Sicherheitsüberprüfung Von diesen Eigentümlichkeiten sol- nach dem SÜG (§ 2 Abs.2 i. V.m. § 9 len im Folgenden zwei herausgegrif- SÜG) abweicht und die Einbezie- fen werden: die Abweichungen im hung von Ehegatten für entbehrlich STEFAN SCHNÖCKEL 313 hält, ist nicht ohne weiteres ersicht- Wie dieses Beispiel zeigt, dürfte das lich. Soweit in den Gesetzesmateria- vorrangige Ziel der Einbeziehung lien dieser Punkt überhaupt Erwäh- von Ehegatten darin liegen, zu ver- nung findet, wird lapidar festgestellt, hindern, dass Verschlusssachen – d.h. dass eine Einbeziehung der Ehegat- im öffentlichen Interesse geheimhal- ten und Lebenspartner nicht stattfin- tungsbedürftige Tatsachen, Gegen- det.16 Von welchen inhaltlichen Er- stände oder Erkenntnisse (§ 4 Abs.1 wägungen sich der Gesetzgeber hat SÜG) – auch ohne vorsätzliches leiten lassen, bleibt dunkel. Weiter- Handeln des Betroffenen Dritten helfen kann nur ein Blick auf Sinn bekannt werden. Es soll vermieden und Zweck der Einbeziehung: Die werden, dass ein Ehegatte die Ver- Pflicht zur Einbeziehung von Ehe- trauenswürdigkeit des anderen falsch gatten, Lebenspartnern und Lebens- einschätzt und ihm sensible Informa- gefährten stützt sich auf die Erkennt- tionen im Glauben daran anvertraut, nis, dass sich Sicherheitsrisiken, die dieser werde sie für sich behalten. diesen Personenkreis betreffen, auch Wäre dies der einzige Zweck der Ein- auf die Person auswirken können, die beziehung, könnte die Einbeziehung mit einer sicherheitsempfindlichen um des Sabotageschutzes willen tat- Tätigkeit betraut werden soll (soge- sächlich für unnötig erachtet werden. nannter Betroffener, § 2 Abs.1 Satz 1 Denn für Sabotagehandlungen ge- SÜG);17 ist ein Ehegatte für die Ver- nügt in aller Regel nicht die bloß lockungen der Spionage besonders fahrlässige Weitergabe von Wissen, anfällig oder ihnen bereits erlegen, sondern erforderlich ist ein aktives bleibt auch der andere davon nicht Einwirken auf die Betriebssicherheit, unberührt.18 Man denke z.B. an die das bewusstes, zielgerichtetes Han- sogenannten Romeo-Agenten, also deln voraussetzt. an Angehörige fremder Nachrichten- dienste, die bewusst und planvoll eine Indes sollen durch die Einbeziehung Liebesbeziehung mit einer Zielper- von Ehegatten und Lebenspartnern son beginnen, die an herausgehobe- nicht nur jene Risiken minimiert wer- ner Stelle (etwa als Sekretärin im mili- den, die aus fahrlässigem Verhalten tärischen Planungsstab) tätig ist, und erwachsen. Vielmehr geht es auch um die hoffen, auf diese Weise an hoch- das Unterbinden vorsätzlichen Ver- wertige, nicht allgemein zugängliche haltens, etwa indem verhindert wird, Informationen zu gelangen. dass die Erpressbarkeit des einen

16 So die Aussage in der Begründung zum Hafensicherheitsgesetz Baden-Württemberg, LT -Drucks. 14/2444, S.42 (Zu § 21 [Umfang der Sicherheitsüberprüfung]); die Begründung des Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungs- schutzgesetzes erschöpft sich in einem Zirkelschluss, s.BT -Drucks. 17/6925, S.21, Nr.4: »Eine Einbeziehung der Part- nerin oder des Partners in die Sicherheitsüberprüfung ist dabei nicht vorgesehen; vgl. Begründung zu Nr.3.« Liest man bei Nr.3 nach, so findet sich dort der Rückverweis auf Nr.4: »Die Ergänzung bei der Angabe ›§ 9‹ ist (…) erforder- lich, weil bei dieser Sicherheitsüberprüfung die Partnerin oder der Partner nicht in die Sicherheitsüberprüfung einbe- zogen werden soll; vgl. Begründung zu Nr.4.« 17 Ernst Denneborg, Sicherheitsüberprüfungsrecht, Heidelberg, 200 § 2 SÜG Rn. 11 (Stand: 15. Erg. Lfg. 2004). 18 Zur Verhinderung der Spionage als Ziel der Sicherheitsüberprüfung vgl. Bäumler (o. Fußn. 7), S.220. 314 PERSONENÜBERPRÜFUNGEN IM DIENST DES SABOTAGESCHUTZES

Ehegatten zur Erpressung des ande- DieRedeisthiervonder–seitkur- ren genutzt und dieser damit zum zem korrigierten – Entscheidung, bei Mittel fremder Zwecke wird. Den der Überprüfung der Mitarbeiter le- Sinn der Einbeziehung allein auf fahr- bens- und verteidigungswichtiger lässiges Verhalten zu beschränken, Einrichtungen einen anderen Weg zu griffe mithin zu kurz.19 Soviel wird beschreiten als in allen anderen Fällen man aber immerhin sagen können: des vorbeugenden Sabotageschutzes Die Einbeziehung zielt primär da- und keine erweiterte Sicherheitsüber- rauf, das – aus Sicht des Betroffenen prüfung vorzuschreiben, sondern unbewusste – Ausbeuten von Ver- sich mit der einfachen Prüfung zu- trauensverhältnissen zu verhindern. friedenzugeben: Im Unterschied zum Und in dieser Zielrichtung liegt zu- Luftsicherheitsrecht, wo der Gesetz- gleich ein Grund für die Unterschei- geber großen Wert darauf gelegt hat, dung zwischen dem personellen Sa- eine erweiterte Sicherheitsüberprü- botageschutz auf der einen und den fung vorzusehen, und das Niveau der sonstigen Verfahren der erweiterten einfachen Sicherheitsüberprüfung Sicherheitsüberprüfung auf der ande- ausdrücklich für »nicht adäquat« er- ren Seite, der jedenfalls nicht von achtet hat,20 hatte er bei den Mitarbei- vornherein von der Hand zu weisen tern lebens- und verteidigungswich- ist. tiger Einrichtungen augenscheinlich lange Zeit keine Bedenken, eben die- b) Während sich somit bei wohlwol- ses niedrigere Sicherheitsniveau zu- lender Betrachtung wenigstens ein grundezulegen und beispielsweise die nachvollziehbarer Grund für die Mo- Prüfung der Identität des Betroffenen difizierung des Prüfungsniveaus im für entbehrlich zu halten. Aus wel- personellen Sabotageschutz finden chen Gründen der Gesetzgeber sich lässt, führen bei einer anderen Ent- bei den Mitarbeitern lebens- und scheidung des Gesetzgebers auch verteidigungswichtiger Einrichtun- gründliche, an Sinn und Zweck der gen anfänglich mit einem niedrigeren Regelung orientierte Überlegungen Sicherheitsniveau zufriedengegeben zu keinem befriedigenden Ergebnis. hat, lässt sich den Gesetzesmateria-

19 Von diesem Missverständnis ließ sich aber augenscheinlich der Gesetzgeber des Gesetzes zur Änderung des Bun- desverfassungsschutzgesetzes vom 6.September 2011 leiten: An vielen Stellen findet sich dort der Hinweis, dass es sich bei dem Saboteur um einen Innentäter handele, welcher danach trachte, die öffentliche Sicherheit durch spekta- kuläre Angriffe – vornehmlich mit terroristischen Hintergrund – zu erschüttern (vgl. nur BT -Drucks. 17/6925, S.20 f.); die Einbeziehung von Ehegatten wurde für entbehrlich gehalten. Dass diese Sichtweise unzutreffend sein dürfte, zeigt ein Blick auf die Verbreitung des Computer-Wurms Stuxnet im Jahr 2010: Der bisher folgenreichste Angriff auf die iranische Kernwaffenforschung erfolgte mitnichten durch einen spektakulären Selbstmordanschlag, sondern mit Hilfe eines unscheinbaren USB-Sticks, der mit Schadsoftware »verseucht« war. Dieser elektronische Angriff hatte zur Folge, dass in den iranischen Atomaufbereitungsanlagen monatelang die Drehzahlen der zur Urananreicherung be- nutzten Zentrifugen manipuliert werden konnten, ohne dass dies zunächst auffiel. Es bedarf keiner großen Fantasie um sich auszumalen, dass sich solch ein heimliches Einbringen von Computerviren durchaus im Wege der Erpres- sung bewerkstelligen lässt – zumal der erpresste Täter darauf vertrauen kann, unerkannt zu bleiben. 20 BT -Drucks. 14/7386, S.68. STEFAN SCHNÖCKEL 315 lien nicht entnehmen,21 ja es ist nicht die Mitarbeiter solcher Einrich- einmal ersichtlich, ob sich der Ge- tungen, sofern sie innerhalb der setzgeber überhaupt bewusst war, Einrichtung an einer sicherheitsemp- dass er auf diese Weise einen wichti- findlichen Stelle tätig sind, einer gen Bereich des vorbeugenden perso- Sicherheitsüberprüfung unterzogen nellen Sabotageschutzes anders werden müssen, bevor sie mit einer behandelte als alle anderen, spezial- sicherheitsempfindlichen Tätigkeit gesetzlich geregelten Teilbereiche. betraut werden können. Alles Wei- Anhaltspunkte dafür, dass Sabotage- tere, insbesondere die genaue Fest- handlungen in lebens- und vertei- legung des Kreises der lebens- und digungswichtigen Einrichtungen ge- verteidigungswichtigen Einrichtun- ringere Schäden verursachen als in gen, überlässt das Gesetz dem Ver- Flughäfen oder Kernkraftwerken, ordnungsgeber (§ 34 SÜG). gibt es – soweit ersichtlich – nicht. Ebenso wenig ist etwas dafür ersicht- Zwar dürfte dies mit Blick auf die lich, dass Mitarbeiter dieser Einrich- Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes tungen per se vertrauenswürdiger unbedenklich sein. Denn sie verlangt wären als Mitarbeiter anderer Berei- lediglich, dass für staatliches Handeln che, so dass aus diesem Grund ein im Bereich der Grundrechtsaus- niedrigeres Sicherheitsniveau zurei- übung eine gesetzliche Grundlage be- chen könnte. steht – was in Form von § 1 Abs.4 und Abs.5, § 2 und § 34 SÜG hier der Fall ist – und dass diese Grundlage 2. Personenkreis hinreichend bestimmt ist.23 Ob die Bestimmtheit ausreicht, bemisst sich Ein Weiteres kommt hinzu: Wenn nach den Auswirkungen der Rege- man von Randbereichen22 absieht, ist lung: Je schwerwiegender sie sind, sowohl im Luftsicherheits- als auch desto genauer müssen die Vorgaben im Atomrecht durch den Gesetzes- des Parlaments sein.24 Im vorliegen- text vorgegeben, welche Personen- denFallwirdindieBerufsaus- kreise einer Zuverlässigkeitsüberprü- übungsfreiheit (Art. 12 GG) der Be- fung zu unterziehen sind. Bei den troffenen eingegriffen, in Form der Mitarbeitern lebens- und verteidi- erweiterten Sicherheitsüberprüfung gungswichtiger Einrichtungen ist das ohne Einbeziehung des Ehegatten al- nicht der Fall. Dort lässt sich dem Ge- lerdings auf einer recht niedrigen setzestext lediglich entnehmen, dass Stufe; der Kreis der Betroffenen ist,

21 In der Begründung des Regierungsentwurfs ist lediglich davon die Rede, dass »die Durchführung einer einfachen Si- cherheitsüberprüfung als ausreichend angesehen« wird (BT -Drucks. 14/7386, S.44). 22 Wie etwa § 19 Abs.1 Satz 1 Nr.3 Hafensicherheitsgesetz Baden-Württemberg, der die Überprüfung weiterer Perso- nen davon abhängig macht, dass die zuständige Behörde dies für erforderlich hält. 23 Allgemein zum Vorbehalt des Gesetzes und zur Unterscheidung zwischen den Fragen, ob überhaupt ein förmliches Gesetz erforderlich ist und – sofern dies bejaht wird – wie genau dieses Gesetz sein muss, z.B. Hans D. Jarass/Bodo Pieroth, GG Kommentar, 10.Aufl., München 2009, Art. 20 Rn.48 (m. w. N.). 24 Vgl. nur BVerfG, Beschluss v.24.11.1981 – 2BvL4/80 – E59, 104 (114). 316 PERSONENÜBERPRÜFUNGEN IM DIENST DES SABOTAGESCHUTZES weil sich nur die Beschäftigten an si- gute Gründe finden lassen, ist ersteres cherheitsempfindlichen Stellen einer nicht frei von Bedenken, da es Aus- Prüfung unterziehen müssen, eng be- weichbewegungen begünstigt. Aber grenzt, der Prüfungsmaßstab deut- der Reihe nach: lich erkennbar. Da sich überdies dem Gesetzestext entnehmen lässt, was 1. Dass der Gesetzgeber Aufgaben an unter lebens- und verteidigungswich- die Regierung als Verordnungsgeber tigen Einrichtungen zu verstehen ist, delegiert, ist für sich genommen nicht dürfte die Normierung im SÜG so- verwerflich, ja es kann sogar sinnvoll wohl den Ansprüchen der Lehre vom sein, wenn nämlich die Regierung Vorbehalt des Gesetzes genügen als über besondere Sachnähe verfügt und auch den Anforderungen, die Art. 80 sich die Verhältnisse schnell ändern Abs.1 Satz 2 GG an die gesetzliche können. So liegen die Dinge hier: Die Grundlage von Rechtsverordnungen Frage, welche Einrichtungen lebens- stellt. Das alles ändert indes nichts an und verteidigungswichtig sind, ver- dem Eindruck, dass der Gesetzgeber langt beispielsweise eine Beurteilung beim Schutz lebens- und verteidi- betrieblicher Eigengefahren; sie setzt gungswichtiger Einrichtungen in ein hohes Maß an Sachkunde voraus stärkerem Maße Entscheidungen an und muss für jede Einrichtung ein- die Exekutive delegiert hat als in den zeln vorgenommen werden. Bereits anderen Bereichen des vorbeugenden dieser Gesichtspunkt spricht dafür, personellen Sabotageschutzes. die Antwort der Exekutive anzuver- trauen, statt die parlamentarische Ar- beit, die auf das Malen mit einem III. Welche Vor- und Nachteile breiteren Pinsel und nicht auf das bringt der Sonderweg bei Zeichnen mit dem spitzen Bleistift den lebens- und verteidi- ausgerichtet ist, durch die Befassung gungswichtigen Einrichtun- mit Detailfragen zu hemmen. Hinzu gen mit sich und wie lässt er kommt, dass sich – etwa aufgrund sich erklären? technischer Neuerungen – die tat- sächlichen Verhältnisse rasch ändern Bei den Mitarbeitern lebens- und ver- können, sei es, dass sich neue Einrich- teidigungswichtiger Einrichtungen tungen als besonders gefahrenträch- hat der Gesetzgeber mithin in dop- tig entpuppen, sei es, dass bereits pelter Hinsicht einen Sonderweg be- bestehende Einrichtungen an Gefah- schritten: Zum einen begnügte er sich renpotenzial einbüßen. In beiden Fäl- lange Zeit mit einem niedrigeren len ist schnelles Handeln gefragt, um Überprüfungsniveau als in allen an- das nötige Sicherheitsniveau zu ge- derenFällendesvorbeugendenper- währleisten, gleichzeitig aber Grund- sonellen Sabotageschutzes, und zum rechtseingriffe auf das unabdingbare anderen räumt er dem Verordnungs- Maß zu beschränken. Rasches Han- geber weiterhin erhebliche Spiel- deln wiederum wird man eher vom räume ein. Während sich für letzteres Verordnungsgeber als vom Parlament STEFAN SCHNÖCKEL 317 erwarten können, z.B. weil das Flugzeug durch eine Bombe zum Ab- Verfahren der Verordnungsgebung sturz zu bringen, möglicherweise auf schlanker ist und die Notwendigkeit ein anderes Verkehrsmittel – wie etwa entfällt, mühsam nach parlamentari- die Bahn – umsatteln, wenn er er- schen Mehrheiten zu suchen. kennt, dass das Sicherheitsniveau im Flugverkehr höher ist als im Bahnver- 2. Demgegenüber gab das niedrigere kehr.25 Überprüfungsniveau bei den Mitar- beitern lebens- und verteidigungs- Das heißt nun freilich nicht, dass das wichtiger Einrichtungen, das lange Sicherheitsniveau überall das gleiche Zeit hingenommen wurde, Anlass zu sein muss. Aber es bedeutet, dass Bedenken. Es hätte Ausweichbewe- punktuelle Verschärfungen von Si- gungen begünstigen können, bergen cherheitsanforderungen in aller Regel unterschiedliche Überprüfungsmaß- keinen spürbaren Sicherheitsgewinn stäbe doch stets die Gefahr, dass sich versprechen. Wenn ähnlichen Sabo- inkriminierte Aktivitäten von einem tagerisiken nicht mit ähnlichen Si- Bereich, in dem strenge Anforderun- cherheitsvorgaben begegnet wird, gen gestellt werden, in einen anderen sondern an die Überprüfung der verlagern, in dem laxere Maßstäbe Zuverlässigkeit der Mitarbeiter je gelten und sie deshalb leichter zum nach Arbeitsplatz unterschiedliche Erfolg führen. Anforderungen gestellt werden, werden terroristische Vereinigungen Um es an zwei konkreten Beispielen bemüht sein, Innentäter dort zu ge- festzumachen: Wenn eine terroristi- winnen oder eigene Anhänger dort sche Vereinigung Unruhe in der Be- einzuschleusen, wo es aufgrund der völkerung schüren und erhebliche geringeren Sicherheitsanforderungen volkswirtschaftliche Schäden herbei- leichter fällt. führen will, indem sie die Energie- versorgung lahmlegt, und wenn sie Rechtfertigen ließe sich ein gerin- sodann feststellt, dass Kernkraft- geres Sicherheitsniveau bei den werke sorgfältiger geschützt sind als Beschäftigten lebens- und verteidi- Gas- und Kohlekraftwerke, wird sie gungswichtiger Einrichtungen folg- versuchen, Beschäftigte in Gas- und lich nur, wenn in diesem Bereich ent- Kohlekraftwerken als Innentäter zu weder die Wahrscheinlichkeit einer gewinnen oder eigene Anhänger dort Sabotagehandlung kleiner wäre als als Mitarbeiter einzuschleusen. In auf Flugplätzen und beim Umgang ähnlicher Weise wird ein Terrorist, mit radioaktiven Stoffen oder wenn der ursprünglich geplant hatte, ein der voraussichtliche Schaden gerin-

25 So sind denn auch die Anschlagsversuche mit Kofferbomben auf Regionalzüge in Nordrhein-Westfalen im Sommer 2006 nicht etwa aufgrund von Sicherheitsvorkehrungen im Regionalverkehr, sondern allein wegen handwerklicher Fehler misslungen. Hätten sie Erfolg gehabt, wären ihre Auswirkungen voraussichtlich ähnlich verheerend gewesen wie jene der Sprengsätze bei den Terroranschlägen am 7.Juli 2005 in London. Damals kamen bei vier Explosionen 56 Menschen ums Leben, mehr als 700 wurden teilweise schwer verletzt. 318 PERSONENÜBERPRÜFUNGEN IM DIENST DES SABOTAGESCHUTZES ger wäre.26 Für beide Prognosen tigten lebens- und verteidigungs- dürfte es an einer belastbaren Grund- wichtiger Einrichtungen lange Zeit lage fehlen: Mit Blick auf die Wahr- einen Sonderweg zu beschreiten. Da scheinlichkeit eines Schadenseintritts die Gesetzesmaterialien keine Aus- lässt sich allenfalls sagen, dass es im kunft geben, liegt eine Antwort be- Flugverkehr bereits zu Anschlägen sonders nahe: Der Gesetzgeber hat gekommen ist, wohingegen lebens- sich weniger von einer nüchternen oder verteidigungswichtige Einrich- Betrachtung der verschiedenen Scha- tungen bisher verschont geblieben densszenarien, ihrer Wahrscheinlich- sind. Allein darauf eine Vorhersage keit und der mutmaßlichen Scha- für die Zukunft zu stützen, mutet in- denshöhe leiten lassen als vielmehr des kühn an. Und was die voraus- von Ereignissen in der Vergangen- sichtliche Schadenshöhe betrifft, fällt heit, die ihm besonders erschre- ein Blick in die Zukunft ebenfalls ckend-eindrucksvoll vor Augen stan- schwer. Mit einiger Sicherheit lässt den, und das waren die Anschläge sich höchstens eines sagen: Während vom 11.September 2001.27 Diese An- bei Sabotagehandlungen im Flugver- schläge haben jedem Betrachter die kehr typischerweise ein begrenzter Verwundbarkeit des Luftverkehrs so Personenkreis erheblich Schaden tief eingeprägt, dass eine Verschär- nimmt, werden bei Beeinträchtigun- fung der Sicherheitsanforderungen gen lebenswichtiger Einrichtungen im Luftverkehr unausweichlich war; wie der Energieversorgung in aller dass auch andere Verkehrsmittel An- Regel mehr Menschen betroffen sein, schlagsziele sein können, blieb dabei der Schaden in jedem Einzelfall wird unberücksichtigt. Ebenso wenig aber geringer ausfallen. Ob sich die wurde bedacht, dass sich in Flugzeu- Gesamtsumme der Schäden signifi- gen oftmals Luftfracht aus dem Aus- kant unterscheiden wird, lässt sich in- land befindet, die an ihrem Ur- des nicht verlässlich vorhersagen. sprungsort nicht sorgfältig kontrol- liert wurde.28 3. Umso dringender stellt sich die Frage, was den Gesetzgeber bewogen Aus ähnlichen Gründen dürfte die haben mag, mit Blick auf die Beschäf- Nutzung der Kernkraft seit jeher ei-

26 Genauer gesagt: Wenn P die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Sabotagehandlung vorgenommen wird und ein Schaden eintritt, und wenn S die voraussichtliche Höhe des Schadens bezeichnet und A die Kosten von Abwehrmaß- nahmen (zu denen etwa die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen zählt), dann sollten Abwehrmaßnahmen ergriffen werden, sofern P (S) > (1 – P) (A). Außer Betracht bleibt dabei, dass zum einen Abwehrmaßnahmen den Schaden häufig nicht völlig verhindern können, sondern lediglich die Höhe des Schadens verringern, und dass zum anderen jedwede Abwehrmaßnahme insoweit »Kosten« verursachen kann, als sie das potenzielle Opfer in falscher Sicherheit wiegt. Wie man auch diesen Gesichtspunkten mathematisch Rechnung tragen kann, zeigt z.B. Richard Posner, Preventing Surprise Attacks, Stanford 2005, S.87 ff. 27 Mit ähnlichen Einwänden sah sich im Übrigen der britische Gesetzgeber im Zuge der Verabschiedung des Terrorism Act 2006 konfrontiert: Auch ihm wurde vorgeworfen, er habe für einzelne Gesetzesverschärfungen keinen »evi- dence-based case« präsentiert. S.Adrian Vermeule, Emergency Lawmaking after 9/11 and 7/7,75 University of Chi- cago Law Review 1155 (2008), S.1185 f. 28 Dieses Manko wurde deutlich, als im Oktober 2010 Sprengstoffpakete per Luftpost aus dem Jemen Richtung USA geschickt wurden. STEFAN SCHNÖCKEL 319 ner intensiven Überwachung unter- Faustregeln. Sie helfen, Sachverhalte worfen worden sein: Ihre Risiken auf unvollständiger Informations- und ihr enormes zerstörerisches Po- grundlage zu beurteilen, und verset- tenzial sind allgemein bekannt; die zen den Menschen damit in die Lage, Bilder ihres militärischen Einsatzes in selbst bei ungewisser Sachlage eine Hiroshima hat jeder ebenso im Kopf Entscheidung treffen zu können, statt wie die Folgen des GAUs in Tscher- gelähmt im Nichtstun zu verharren. nobyl. Demgegenüber mangelte es Die Kehrseite der Medaille ist aller- lange Zeit an Präzedenzfällen, die dings, dass diese Faustregeln häufig hätten belegen können, welche Aus- einer verzerrten Wahrnehmung Vor- wirkungen die Beeinträchtigung oder schub leisten, und zwar die Verfüg- der Ausfall lebens- und verteidi- barkeitsheuristik vor allem der- gungswichtiger Einrichtungen haben gestalt, dass die Wahrscheinlichkeit kann. Aus eben diesem Grund dürfte seltener Ereignisse deutlich über- beim Gesetzgeber zum einen das Be- schätzt wird, wenn sich diese Ereig- dürfnis, diese Bereiche überhaupt ei- nisse nur einfach in Erinnerung rufen nem engmaschigen Kontrollregime lassen. Anders gesagt: Die Verfügbar- zu unterwerfen, von vornherein ge- keitsheuristik verleitet dazu, die ringer ausgeprägt gewesen sein; und Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses zum anderen dürfte es den Parlamen- nicht auf der Grundlage verlässlicher tariern an greifbaren Beispielen ge- statistischer Daten, sondern allein fehlt haben, die sie in die Lage ver- danach zu beurteilen, wie rasch Prä- setzt hätten, den Kreis der betroffe- zedenzfälle zur Hand und vor dem nen Einrichtungen selbst präzise zu geistigen Auge »verfügbar« sind. bestimmen.29 Für die hier in Rede stehenden Fälle 4. Will man den soeben geschilderten bedeutet dies, dass der Gesetzgeber Befund psychologisch erklären, kann die Wahrscheinlichkeit von Sabotage- man auf die sogenannte availability handlungen in Flugzeugen und heuristic (zu Deutsch: Verfügbar- Atomkraftwerken wegen der leichten keitsheuristik) verweisen.30 Bei den Verfügbarkeit von Beispielsfällen Heuristiken handelt es sich um überschätzt und die Wahrscheinlich-

29 Wie bereits unter I.3. ausgeführt wurde, hat der Gesetzgeber diese Entscheidung inzwischen wenigstens insoweit revidiert, als er mittlerweile auch die Sicherheitsüberprüfungen zum Zweck der vorbeugenden Sabotageschutzes nach dem SÜG den Regeln der erweiterten Sicherheitsüberprüfung unterwirft. Soweit er von diesen Regeln Ausnah- men vorsieht – etwa indem er auf die Einbeziehung von Ehegatten verzichtet oder in der Sicherheitserklärung erst gar nicht nach der finanziellen Situation und Kontakten zu ausländischen Nachrichtendiensten fragt –, liegt die Be- fürchtung nahe, dass dem Gesetzgeber bei der Neuregelung zwar ein konkretes Bild vor Augen stand (nämlich jenes des Selbstmordattentäters), dass dieses Bild aber wenig lebensnah sein dürfte. Denn wahrscheinlicher als ein spek- takulärer Selbstmordanschlag dürfte die Beeinträchtigung lebenswichtiger Einrichtungen durch unscheinbare, im Verborgenen ablaufende Sabotagehandlungen sein, wie z.B. durch die Einbringung von Computerviren (vgl. dazu auch Fn.19). Auch die Neuregelung ließe sich deshalb bei genauerer Betrachtung zur Illustration des soeben geschil- derten Phänomens verwenden, drängt sich doch der Verdacht auf, dass sich der Gesetzgeber abermals eher von ein- prägsamen Bildern als von belastbaren statistischen Daten hat leiten lassen. 30 Grundlegend: Amos Tversky/Daniel Kahneman, Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, in: Daniel Kahneman/Paul Slovic/Amos Tversky (Hrsg.), Judgment under Uncertainty, Cambridge 1982, S.11. 320 PERSONENÜBERPRÜFUNGEN IM DIENST DES SABOTAGESCHUTZES keit solcher Handlungen in lebens- schon seit längerem einem einheitli- und verteidigungswichtigen Einrich- chen Regelungsschema folgen, von tungen – zumindest anfänglich – eher dem ein anderer Bereich (nämlich die unterschätzt haben dürfte. Zugleich Überprüfung der Beschäftigten in le- ist allerdings zuzugeben, dass sich auf bens- und verteidigungswichtigen diesem Terrain auch der sorgfältig- Einrichtungen) viele Jahre sowohl umsichtigste Gesetzgeber schwer tut. mit Blick auf das Überprüfungsni- Denn allen Sachverhalten, die unter veau als auch den Überprüfungsum- dem Blickwinkel des Sabotageschut- fang abgewichen ist. Diese Abwei- zes regelungsbedürftig sind, ist eines chungenlassensichstetserklären, gemeinsam: Sie sind so selten, dass es jedoch nicht immer durch nachvoll- nahezu niemals verlässliche statisti- ziehbare Gründe rechtfertigen. Eine sche Daten geben wird. Dem Gesetz- entscheidende Rechtfertigung kann geber bleibt daher letztlich gar nichts der Gesetzgeber aber auf jeden Fall anderes übrig, als einen Griff ins fürsichinAnspruchnehmen:Alle Dunkel zu wagen und für bestimmte Maßnahmen hatten bisher insoweit sabotageanfällige Bereiche konkrete Erfolg, als Deutschland von zerstöre- Sicherheitsniveaus vorzuschreiben. rischen Sabotagehandlungen ver- Vorwerfen könnte man dem Gesetz- schont geblieben ist. Ob dies allein geber allenfalls, dass er augenschein- auf den gesetzgeberischen Maßnah- lich noch nicht einmal den Versuch men beruht, ob also das Ergebnis unternommen hat, seine Regelungen ohne diese Maßnahmen ein anderes auf eine belastbare empirische gewesen wäre, lässt sich – wie immer Grundlage zu stellen. bei sicherheitspolitischen Schritten, deren Erfolg in der Bewahrung des Status quo und der Verhinderung von IV. Ergebnis Katastrophen besteht – nicht ab- schließend beurteilen.31 Ein starkes Die genauere Betrachtung der Zuver- Indiz für die Richtigkeit der gesetz- lässigkeitsüberprüfungen hat gezeigt, geberischen Entscheidungen ist es dass einige Bereiche (zu nennen sind aber allemal. die Luft- und die Atomsicherheit)

31 Eben diese Asymmetrie zwischen Misserfolgen, die zu Katastrophen führen, und Erfolgen, die sich in der Bewahrung des Status quo erschöpfen, dürfte im Übrigen einer der Gründe sein, warum die Verfassungsschutzbehörden in der öffentlichen Wahrnehmung einen so schweren Stand haben. Denn die oben (unter III.4.) geschilderte Verfügbarkeits- heuristik lehrt, dass in solchen Fällen allein die Misserfolge dauerhaft im öffentlichen Gedächtnis haften bleiben, wo- hingegen die Erfolge schnell dem Vergessen anheimfallen, da sie nicht mit Bildern verknüpft sind, die sich ohne wei- teres Zutun einprägen (theoretisch ausgeschlossen wäre eine solche Verknüpfung mit einem Desaster, dem man nur knapp entronnen ist, zwar nicht; sie bedürfte aber eines bewussten – und daher ebenso mühevollen wie seltenen – Imaginationsaktes). Siehe Posner (o. Fußn. 26), S.68.

AKTUELLE FRAGESTELLUNGEN

60 VERFASSUNGSSCHUTZ 1952 – 2012

325

Zusammenarbeit des Generalbundesanwalts mit dem Verfassungsschutz bei der Terrorismusbekämpfung

RAINER GRIESBAUM

I. Einleitung dem man die These aufgestellt habe, terroristische Strukturen seien in der Seit der rechtsterroristische Hinter- rechtsextremistischen Szene nicht grund der sogenannten Ceska-Morde auszumachen3. Stattdessen habe man und des Heilbronner Polizistenmor- sich wesentlich intensiver und enga- des im November 2011 offenbar gierter »um vermeintliche oder tat- wurde, stehen die staatlichen Sicher- sächliche Umtriebe in der linken heitsbehörden, insbesondere aber der Szene« gekümmert.4 Verfassungsschutz, unter medialem und gesellschaftlichem Generalver- Aber damit nicht genug, der allge- dacht. Warum konnten die Morde meine Unwille richtet sich einmal nicht verhindert oder früher als das mehr gegen die Tatsache, dass Verfas- Werk rechtsextremistischer Terroris- sungsschutzbehörden mit nachrich- ten identifiziert werden? Warum tendienstlichen Mitteln arbeiten, ins- tappten die Behörden so lange Zeit im besondere sogenannte »V-Leute« Dunkeln? Diese Fragen sind auch einsetzen, um bestimmte Szenen auf- Gegenstand des vom Deutschen Bun- klären zu können. Vereinzelt werden destag eingerichteten »NSU«-Unter- den V-Leuten sogar schlimmste Straf- suchungsausschusses. taten unterstellt: »Brandstiftung, Mordaufrufe, Waffenhandel oder die Dennoch stehen für einen großen Teil Gründung einer terroristischen Ver- der Öffentlichkeit bereits jetzt die einigung« – dies seien »nur einige der Hauptschuldigen fest, nämlich die Straftaten, die V-Leute im Schutz ih- Verfassungsschutzbehörden,die»blind rer Legende« begingen.5 Und schließ- und blöd« seien1, genauer gesagt »auf lich findet sich die Überlegung, »den dem rechten Auge blind, auf dem kaum kontrollierbaren Einsatz der V- linken Auge blöd«2.DemVerfas- Leute in der Grauzone generell zu sungsschutz wird vorgeworfen, nur unterbinden«6, verbunden mit dem bescheidene Erfolge im Kampf gegen offen ausgesprochenen Zweifel, »ob den rechten Extremismus aufweisen man den Schutz der Verfassung wirk- zu können. Mehr noch, man habe die lich den Verfassungsschützern über- Gefahr von rechts bagatellisiert, in- lassen«7 dürfe.

1 Cicero, März 2012, Titelblatt. 2 Statt aller: Wolfgang Gast in: Cicero, März 2012, S.32, 34. 3 Ebenda, S.33. 4 Ebenda, S.33. 5 Ebenda, S.33. 6 Ebenda, S.33. 7 Ebenda, S.34. 326 ZUSAMMENARBEIT VON GBA UND VERFASSUNGSSCHUTZ BEI DER TERRORISMUSBEKÄMPFUNG

Dabei wissen erfahrene Staatsschützer, Instrument ist nur deswegen untaug- auch solche aus dem polizeilichen und lich, weil es im Einzelfall einmal nicht staatsanwaltschaftlichen Bereich, dass die erhoffte Wirkung entfaltet. Ande- es ohne V-Leute oft praktisch unmög- rerseits: Die Verfassungsschutzbehör- lich ist, terroristische Bestrebungen denmüssensich–mehralsinderVer- aufzuhellen, bevor sie zur Umsetzung gangenheit – damit anfreunden, dass gelangen. Insbesondere im Bereich des ihre Arbeit kritisch hinterfragt, ja so- islamistisch motivierten Terrorismus gar rundweg infrage gestellt wird. ist eine – auch strafrechtliche – Aufklä- rung nicht selten ganz wesentlich auf Aus staatsanwaltschaftlicher Sicht im Ausgangspunkt nachrichtendienst- und aus der Sicht der Bundesanwalt- liche Datenerhebung zurückzuführen. schaft erscheint der völlige Rückzug Im Bereich der organisierten Krimina- des Staates aus prekären Szenen, die lität wäre eine Vielzahl von Straftaten gerade durch Vernetzung ihre beson- ohne die Gewinnung von (polizeili- dere Gefährlichkeit erhalten, nicht als chen) V-Leuten strukturell nicht auf- gangbare Option. Dies hätte nämlich klärbar. Bei der schweren Rauschgift- zur Folge, dass man die Verbrechens- kriminalität etwa wäre ein Vorgehen gefahr, die sich in extremistischen ohne V-Leute nahezu immer lediglich Szenen – egal welcher Couleur – na- ein solches gegen die kleinen Zwi- turgemäß bildet, verdichtet und oft- schenhändler und die oft selbst dro- mals auch umsetzt, gleichsam schick- genabhängigen Endverkäufer. salhaft hinnehmen würde.

Was den islamistisch motivierten Ter- Vielleicht aber liegt die Lösung des rorismus anbelangt: Hier findet sich Problems auf einer ganz anderen selten öffentliche oder mediale Kritik, Ebene, nämlich der einer rechtsstaat- weilbekanntist,dasshierindenletzten lich einwandfreien, sensiblen und Jahren eine ganze Reihe terroristischer letztlich transparenten Zusammenar- Planungen tatsächlich unterbunden beit zwischen Verfassungsschutzbe- werden konnte, bevor es zu Anschlä- hörden und Strafverfolgungsbehör- gen kam. Unausgesprochen wird hier den im Bereich des Staatsschutzes. also auch von Kritikern ein erfolgrei- Ein Mehr an rechtsstaatlicher Kont- chesArbeitenderSicherheitsbehörden rolle durch eine bessere, engere und zugestanden. Offenbar ist es so: Führt frühere Einbindung der dem Legali- die Arbeit der Sicherheitsbehörden tätsprinzip verpflichteten Behörden zum Erfolg, ist der V-Mann-Einsatz könnte am Ende dazu führen, tat- akzeptabel, gibt es aber keine Erfolge, sächliche oder gefühlte Missstände zu wie jüngst in Sachen »NSU«, ist die ge- beseitigen und den Weg aus der viel- samte Arbeit – insbesondere des Ver- zitierten »Grauzone« zu weisen, fassungsschutzes – infrage zu stellen. ohne Abstriche an der Aufgaben- zuweisung insbesondere des Verfas- So einfach wird man es sich jedoch sungsschutzes vorzunehmen. Die nicht machen können. Nicht jedes gesetzlichen Rahmenbedingungen RAINER GRIESBAUM 327 dieser Zusammenarbeit bieten beste Gruppe« zu nennen. Die vier Ange- Voraussetzungen für ein Gelingen. klagten hatten nach einer Ausbildung bei der Terrorgruppe »Islamische Jihad Union« (IJU) im Grenzgebiet II. Neue Formen der Zusammen- von Afghanistan und Pakistan verab- arbeit am Beispiel des inter- redet, in Deutschland Sprengstoff- nationalen Terrorismus anschläge auf US-amerikanische Einrichtungen zu begehen. Mit den Die Sicherheits- und Strafverfol- Anschlägen wollten sie im Herbst gungsbehörden haben dank guter 2007 die Entscheidung des Bundesta- Zusammenarbeit Erfolge im Kampf ges über die Verlängerung des Bun- gegen den internationalen Terroris- deswehrmandats für Afghanistan mus erzielt. Insbesondere die An- beeinflussen.8 Das Ermittlungsver- schläge vom 11. September 2001 fahren des Generalbundesanwalts zeigten die Notwendigkeit von eng entstand aus einem internationalen abgestimmten Gegenstrategien auf. nachrichtendienstlichen Gefährdungs- Der ganzheitliche Bekämpfungsan- sachverhalt. Seit November 2006 gab es satz lässt sich wie folgt beschreiben: nachrichtendienstliche Erkenntnisse, In Strafverfahren gegen Mitglieder wonach die »Islamische Jihad Union« oder Unterstützer ausländischer ter- Verbindungen zu zwei Personen in roristischer Vereinigungen müssen Deutschland unterhalte, die nur unter Organisationsstruktur, personelle Decknamen bekannt und im Sommer Zusammensetzung sowie Ziele und 2006 in Pakistan militärisch ausgebildet Straftaten dieser Vereinigungen zur worden seien. Der Generalbundesan- Überzeugung des Gerichts festge- walt nahm an dem Informationsaus- stellt werden, trotz erheblicher Ein- tausch teil und leitete auf Grundlage schränkung der Ermittlungsmöglich- verdichteter Erkenntnisse in- und aus- keiten im Ausland: Ausländische ländischer Nachrichtendienste im Ap- Zeugen stehen nur selten unmittelbar ril 2007 ein Ermittlungsverfahren ein. zur Verfügung, Rechtshilfeersuchen werden häufig gar nicht oder unvoll- Vor dem Oberlandesgericht Düssel- ständig erledigt. Die Bekämpfung dorf endete am 4. März 2010 der Pro- länderübergreifender terroristischer zess gegen die vier Angeklagten mit Netzwerke mit den Mitteln des Straf- langjährigen Freiheitsstrafen. In sei- rechts wird daher maßgeblich durch nem Vorwort zur Urteilsbegründung Informationen von Nachrichten- hob der Vorsitzende Richter hervor, diensten mitbestimmt. dass Dienste – der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst – In diesem Zusammenhang ist bei- bei diesem Verfahren eine wichtige spielhaft das Düsseldorfer Verfahren Rolle gespielt hätten. Deren Erkennt- gegen die Mitglieder der »Sauerland- nisse seien mitentscheidend für die

8 Vgl. Pressemitteilung des GBA vom 05.09.2008 – 19/2008, www.generalbundesanwalt.de/de/aktuell.php. 328 ZUSAMMENARBEIT VON GBA UND VERFASSUNGSSCHUTZ BEI DER TERRORISMUSBEKÄMPFUNG

Einleitung des Ermittlungsverfahrens der Auftrag des Schutzes der verfas- und damit für die Aufdeckung des An- sungsmäßigen Ordnung verteilt ist – schlagsvorhabens der Angeklagten in und zwar auf den nachrichtendienst- Deutschland gewesen. Die Dienste lichen Verfassungsschutz im Vorfeld seien mittlerweile unverzichtbar bei nicht oder noch nicht strafbewehrter der Aufdeckung islamistischer jihadis- Verhaltensweisen (Art. 73 Abs.1 tischer Strukturen; sie seien insoweit Nr.10b GG), die Abwehr von Gefah- Teil des ganzheitlichen Bekämpfung- ren des internationalen Terrorismus sansatzes. Dieses Lob gebührt – einmal durch das Bundeskriminalamt in der mehr – auch dem Landesamt für Ver- Gemengelage zwischen konkreter fassungsschutz Baden-Württemberg. Gefahr und Anfangsverdacht (Art. 73 Abs.1 Nr.9a GG) und den strafrecht- Die Idee des ganzheitlichen Bekämp- lichen Staatsschutz, der im Umfeld fungsansatzes wurde für den Bereich des Anfangsverdachts beginnt (Art des islamistischen Terrorismus im Ge- 96Abs.5Nr.5GG).DerStaatsschutz meinsamen Terrorismusabwehrzen- ist also nach der Konzeption des trum(GTAZ)umgesetzt.Kernpunkte Grundgesetzes dann mustergültig der Zusammenarbeit von Nachrich- aufgestellt, wenn der strafrechtliche tendiensten, Polizei und Generalbun- Staatsschutz auf den Vorarbeiten des desanwalt sind der schnelle Austausch nachrichtendienstlichen Verfassungs- und die umfassende Analyse der ver- schutzes und der polizeilichen Ge- fügbaren Informationen. Die gesetz- fahrenabwehr aufbaut.9 Die Erfah- lichen Regelungen der Zusammen- rungen des Generalbundesanwalts arbeit von Sicherheits- und Strafver- seit dem 11. September 2001 haben folgungsbehörden sind hierfür die für den Bereich des internationalen Grundlage,bedürfenaberderkonkre- Terrorismus auch praktisch gezeigt, ten Umsetzung. Das GTAZ beweist, dass Bedrohungsszenarien nur durch dass sich gesetzliche Regelungen nicht den Verbund präventiver und repres- von selbst mit Leben erfüllen, sondern siver Sicherungen beherrschbar sind. einer organisatorischen Begleitung bedürfen. Nichts anderes gilt letztlich Der damalige Präsident des Bundes- für die Bereiche des Links- und amtes für Verfassungsschutz Fromm Rechtsterrorismus. fand anlässlich eines Symposiums 2008 treffende Worte: »Zum Auftrag des Verfassungsschutzes gehört es, im III. Gesetzliche Rahmenbedin- Rahmen der Gefahrenabwehr auch gungen als Grundlagen der Polizei und Staatsanwaltschaft Er- Zusammenarbeit kenntnisse zur Verfügung zu stellen. Sie brauchen verlässliche, möglichst Ein Blick auf die Staatsschutzkon- gerichtsverwertbare Informationen zeption des Grundgesetzes zeigt, dass zu strafrechtlich relevanten Sachver-

9 Werthebach/Droste in: Polzer um. (Hrsg.) BK Art. 73 Nr.10 Rn. 166–169. RAINER GRIESBAUM 329 halten und Gefährdungslagen.«10 Bestrebungenzusammelnundaus- Dieser Auftrag besteht aber nicht nur zuwerten, wenn »tatsächliche An- für den Bereich des internationalen haltspunkte« vorliegen; dazu ist der Terrorismus, sondern ebenso für den Einsatz nachrichtendienstlicher Mit- Links- und Rechtsterrorismus. tel zulässig, wenn »Tatsachen die An- nahme« bestimmter Erfolgserwar- tungen rechtfertigen, § 3 Abs.1, 1. Aufgaben von Verfassungs- §4Abs.1 Satz3,§8Abs.2,§9Abs.1 schutz und Generalbundes- BVerfSchG. Die vorausgesetzten anwalt Einsatzschwellen zeigen Parallelen zu § 152 Abs.2 StPO – »zureichende Die Aufgaben von Verfassungs- tatsächliche Anhaltspunkte« – auf schutzbehörden und Staatsanwalt- und bilden damit die rechtliche Brü- schaften, insbesondere der Bundes- cke für die Übermittlung der Daten anwaltschaft, ergänzen sich kraft des zu Strafverfolgungszwecken. Das jeweiligen gesetzlichen Auftrages. Strafrecht stellt aufgrund seiner Verfassungsschutz dient dem Schutz spezifischen Rechtsfolgen einen un- der freiheitlichen demokratischen verzichtbaren Bestandteil eines staat- Grundordnung, des Bestandes und lichen Gesamtkonzepts zur Bekämp- der Sicherheit des Bundes und der fung des internationalen Terrorismus Länder (vgl. §§ 1, 3 BVerfSchG). Das dar.11 Als Teil der Gesamtrechtsord- Landesverfassungsschutzgesetz Ba- nung hat das Strafrecht die Aufgabe, den-Württemberg (LVSG) bringt in individuelle und kollektive Rechts- § 3 Abs.1 die Nahtstelle zwischen güter zu schützen.12 Daher erfüllen Verfassungsschutz und Strafverfol- Strafnormen und Strafe nicht zuletzt gung deutlich zum Ausdruck: Das auch den Zweck, Verbrechen vorzu- LfV hat die Aufgabe, Gefahren für beugen.13 Das Staatsschutzstrafrecht die freiheitliche demokratische hat in diesem Sinne eine präventive Grundordnung, den Bestand und Prägung. Schutzgut des Staatsschutz- die Sicherheit der Bundesrepublik strafrechts ist nicht allgemein die Deutschland und ihrer Länder früh- freiheitliche demokratische Grund- zeitig zu erkennen und den zustän- ordnung, sondern der durch das digen Stellen zu ermöglichen, diese Grundgesetz konkretisierte demo- Gefahren abzuwehren. Die Verfas- kratische Rechtsstaat, die Bundesre- sungsschutzbehörden haben den publik Deutschland.14 Es liegt auf der Auftrag, Informationen über extre- Hand, dass im Hinblick auf den mistische und sicherheitsgefährdende hohen Wert dieser Schutzgüter in

10 Terrorismusbekämpfung in Europa – Herausforderung für die Nachrichtendienste, Bundesamt für Verfassungs- schutz, Köln 2008, S.53. 11 Zöller, Terrorismusstrafrecht, Heidelberg 2009, S.289. 12 MünchKommStGB/Radtke Vor §§ 38 ff. Rn. 2. 13 Roxin, Strafrecht AT Bd. I, 4. Aufl. München 2006, § 3 Rn. 37 ff. 14 Laufhütte LK 11. Aufl. Vor § 80 Rn. 20. 330 ZUSAMMENARBEIT VON GBA UND VERFASSUNGSSCHUTZ BEI DER TERRORISMUSBEKÄMPFUNG bestimmten Fällen nur der Tatbe- Sinne eine dezidiert präventive Funk- standstypus der abstrakten Gefähr- tion. Beim Vorliegen eines fest gefass- dungsdelikte vorverlagerten und ten gemeinsamen Willens zur Bege- damit wirksamen Rechtsgüterschutz hung von Straftaten sind bereits die leisten kann. Deren Strafwürdigkeit Bildung und der Fortbestand der Ver- folgt aus der Wahrscheinlichkeit einer einigung strafbewehrt, um bestimmte konkreten Gefährdung des geschütz- schwere Straftaten im Vorfeld der Be- ten Handlungsobjekts. Der straf- gehung zu verhüten. Die abstrakte rechtliche Terrorismusbegriff in Gefahr für die geschützten Individu- Deutschland beruht im Wesentlichen alrechtsgüter wird durch das Dauer- auf den Organisationsdelikten der moment noch erhöht. So begründet §§ 129a, 129b StGB. Sie schützen die Mitgliedschaft in einer terroristi- zum einen die öffentliche Sicherheit schen Vereinigung eine hohe Gefahr und die staatliche Ordnung. Zu die- für Leib oder Leben anschlagsge- sem Zweck findet eine Vorverlage- fährdeter Personen oder die als rung des Rechtsgüterschutzes statt, Anschlagsziele ausgewählten bedeu- umdenerhöhtenGefahrenzubegeg- tenden Sachwerte. Strafverfolgungs- nen, die im Falle der Planung und maßnahmen sind geeignet, die stän- Begehung von Straftaten durch fest- dige Gefahrenquelle zu beseitigen.19 gefügte Organisationen aufgrund der ihnen innewohnenden Eigendyna- mik für die öffentliche Sicherheit aus- 2. Übermittlung von gehen.15 Begreift man die öffentliche Erkenntnissen an die Sicherheit als Zustand relativer Frei- Staatsanwaltschaft heit von Gefahren für das unbedrohte Dasein aller im Staat16, so erschließt Das Legalitätsprinzip verpflichtet die sich der Zusammenhang zu den ei- Staatsanwaltschaft schon dann zur gentlich geschützten Rechtsgütern Vorklärung von Sachverhalten, wenn des Besonderen Teils des StGB, bei tatsächliche Anhaltspunkte für straf- § 129aStGB insbesondere zu denjeni- bares Verhalten vorliegen, mögen gen seiner Katalogtaten.17 Die Vor- diese auch noch nicht »zureichend« verlagerung des Rechtsgüterschutzes im Sinne des § 152 Abs.2 StPO sein.20 wegen der besonderen Gefährlichkeit Ein wesentliches Instrument der solcher Vereinigungen soll letztlich Vorklärung sind Anfragen bei Behör- die Begehung der in § 129a StGB ge- den auf der Grundlage des § 161 nannten Straftaten verhindern.18 Die StPO.21 Bedenkt man, dass bei Ge- §§ 129a, 129b StGB haben in diesem fahren für hochrangige Rechtsgüter

15 BGHSt41, 47, 51. 16 V. Bubnoff in LK 11. Aufl. § 125 Rn. 39. 17 SK-StGB-Ostendorf § 129 Rn. 4,5. 18 Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT Teil Band 2, Heidelberg 2005, § 95 I. 3. 19 BGH NStZ 1995, 601 f. 20 Keller/Griesbaum, NStZ 1990, 416, 417. 21 Ebenda, S.417. RAINER GRIESBAUM 331 die Schwelle zum Anfangsverdacht sondere das verfassungsrechtliche nieder ist, bedeutet das für die Staats- Gebot wirksamer Strafverfolgung, schutzdelikte in der Zuständigkeit das im Rechtsstaatsprinzip des des Generalbundesanwalts, dass er Art. 20 Abs.3 GG verankert ist und alle Informationen erhalten muss, um die Pflicht des Staates umfasst, die beurteilen zu können, ob und ab Einleitung und Durchführung des wann eine Gefahrenlage einen sol- Strafverfahrens sicherzustellen.23 chen Verdacht rechtfertigt. Dies er- fordert notwendigerweise die Über- Die maßgebliche Vorschrift, die den mittlung all jener Sachverhalte durch Datentransfer von nachrichten- die Verfassungsschutzbehörden an dienstlich erhobenen Erkenntnissen den Generalbundesanwalt, die einen zum Zwecke der Strafverfolgung re- für seine Zuständigkeit relevanten gelt, ist § 161 StPO. Nach dieser Be- strafprozessualen Anfangsverdacht fugnisnorm kann die Staatsanwalt- schon gegenwärtig oder jedenfalls bei schaft von allen Behörden Auskunft Hinzutreten weiterer Erkenntnisse über die dort vorhandenen Daten naheliegend in Zukunft begründen verlangen. Die Übermittlung von In- könnten. Rechtsgrundlage für den formationen der Nachrichtendienste Auskunftsanspruch ist die umfas- an die Staatsanwaltschaft orientiert sende Sachleitungsbefugnis der sich an unterschiedlichen Übermitt- Staatsanwaltschaft, zu deren Kernbe- lungsschwellen je nach Intensität des reich gerade die maßgeblich von ihr nachrichtendienstlichen Eingriffs. So anzustellende Beurteilung gehört, ob genügen als Schwelle für die Daten- ein Gefährdungssachverhalt bereits übermittlung gemäß § 20 Abs.1 einen Anfangsverdacht begründet BVerfSchG »tatsächliche Anhalts- (§ 152 Abs.2, §§ 160, 161 StPO). Nur punkte«, dass Erkenntnisse für die so kann das Entscheidungsmonopol Verfolgung von Staatsschutzdelikten, der Staatsanwaltschaft über die Ein- insbesondere §§ 129a, 129b StGB, er- leitung eines Ermittlungsverfahrens forderlich sind. Die Bewertung tat- gewahrt und die zentrale Stellung des sächlicher Anhaltspunkte setzt eine Generalbundesanwalts bei der Ver- frühzeitige Abstimmung zwischen folgung von Staatsschutzdelikten si- den Nachrichtendiensten und der chergestellt werden. Die frühzeitige Staatsanwaltschaft voraus. Die Über- Information der Bundesanwaltschaft mittlung von Informationen hängt über präventive Maßnahmen ist ein nicht davon ab, ob beim Generalbun- Gebot des Legalitätsprinzips, das – so desanwalt bereits ein Ermittlungsver- der Bundesgerichtshof – bei der fahren anhängig ist. Der Begriff »zur Strafverfolgung von Staatsschutz- Verfolgung von Staatsschutzdelik- delikten besondere Bedeutung er- ten« umfasst das gesamte Verfahren langt.22 Zu beachten ist hier insbe- von der Prüfung des Anfangsver-

22 BGHSt 15, 155, 157 f. 23 Vgl. BVerfGE 51, 324. 332 ZUSAMMENARBEIT VON GBA UND VERFASSUNGSSCHUTZ BEI DER TERRORISMUSBEKÄMPFUNG dachts bis zum Abschluss eines even- dadurch erlangte personenbezogene tuellen gerichtlichen Verfahrens.24 Daten ohne Einwilligung des Betrof- fenen im Strafverfahren nicht verwen- § 20 Abs.1 BVerfSchG regelt die Be- det werden können. Solche Daten fugnis oder Pflicht (in den Fällen des dürfen aber als Ermittlungsansätze § 138 StGB, vgl. unten III.3) zur Wei- herangezogen werden und können in tergabe personenbezogener Erkennt- Behördengutachten nach § 265 Abs. 1 nisse an die Staatsanwaltschaft, um Nr. 1a StPO verwendet werden.25 deren eigenverantwortliche Prüfung des Anfangsverdachts zu ermögli- Ein weiteres Argument für die Ent- chen. Eine Übermittlung der nach scheidung, Erkenntnisse rechtzeitig dem Artikel 10-Gesetz durch Nach- an den Generalbundesanwalt zu richtendienste erhobenen Daten an übermitteln, ist der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft und deren Ver- dem Verfassungsschutz (§ 8 Abs.3 wendung ist nur in Grenzen erlaubt. BVerfSchG) keine polizeilichen Das Gesetz enthält insofern eine ge- Befugnisse zustehen. Das Trennungs- genüberanderen präventiverhobenen gebot besagt nämlich, dass Geheim- Daten engere Verwendungsregelung. dienste keine polizeilichen Zwangs- Danach dürfen sowohl in den Fällen befugnisse haben, also etwa keine des § 3 als auch in denen des § 5 Daten Vernehmungen, Durchsuchungen, zur Verfolgung von Straftaten an die Beschlagnahmen durchführen dür- Staatsanwaltschaft nur übermittelt fen. Sie dürfen mithin nicht zur werden, wenn bestimmte Übermitt- gezielten Erlangung von Zufallsfun- lungsschwellen erreicht sind. In den den für nicht-nachrichtendienstliche Fällen des § 3 Abs.1, § 1 Abs.1 Nr.1 Zwecke eingesetzt werden.26 dürfen personenbezogene Daten ge- mäß § 4Abs.4 Nr.1a übermittelt wer- den zur Aufklärung von Straftaten, 3. Grenzen der Übermittlung wenn »tatsächliche Anhaltspunkte« für den Verdacht bestehen, dass je- Die Übermittlung von Informatio- mand eine der genannten Katalog- nen der Nachrichtendienste an Straf- straftaten plant oder begeht, also auch verfolgungsbehörden steht in einem Straftaten nach §§ 129a, 129b StGB. Spannungsfeld zwischen der Aufklä- Gleiches gilt gemäß § 7 Abs.4 Nr.1a rungspflicht gemäß §§ 161, 244Abs.2 für Daten nach § 5 G 10. Es ist jedoch StPO und dem staatlichen Geheim- zubeachten,dassdieStrafprozessord- haltungsinteresse, das § 96 StPO zu- nung eine dem § 5 G 10 vergleichbare grunde liegt. Die Entscheidung darü- Eingriffsmaßnahme nicht kennt und ber, ob eine Geheimhaltung nötig ist deshalb gemäß § 161 Abs. 2 S. 1 StPO und Informationen deshalb nicht

24 Vgl.LR-Böttcher, 25. Aufl. § 17 EGGVG Rn. 2 zum Begriff »Verfolgung von Straftaten«. 25 Vgl. KK-Griesbaum § 161 Rn. 36. 26 BVerfG NStZ 2011, 103, 106. RAINER GRIESBAUM 333 weitergegeben werden, hat der Ge- dieses Spannungsverhältnisses kann setzgeber ausdrücklich der betreffen- daher unter bestimmten Umständen den Behörde überlassen: Nachrich- zugunsten des Legalitätsprinzips und tendienste können Erkenntnisse aus damit zugunsten der Übermittlung operativen oder sonstigen nachrich- vonErkenntnissenausfallen.Sobe- tendienstlichen Gründen zurückhal- steht kein Ermessensspielraum bei ten (§ 23 BVerfSchG). Auch wenn es schweren Straftaten in den Fällen des grundsätzlich verfassungsrechtlich §138StGB. unbedenklich ist, dass behördliches Wissen den Strafverfolgungsbe- Besondere Probleme stellen sich, hörden vorenthalten wird, so stehen wenn Nachrichtendienste vertrauli- verwendungsbeschränkende Hin- che Informationen mit der Maßgabe weisklauseln bei Informationsüber- übersenden, dass sie zwar durch die mittlungen und Übermittlungsver- Strafverfolgungsbehörden ausgewer- bote dennoch in einem Spannungs- tet, nicht aber in einem Strafprozess verhältnis zum Legalitätsprinzip, das verwendet werden dürfen. Eine sol- die Staatsanwaltschaft zur umfassen- che Einschränkung ergibt sich nicht den Sachverhaltserforschung ver- schon aus der Einstufung als Ver- pflichtet.27 Die geheimdienstlichen schlusssache, denn damit ist lediglich Informationen beruhen auf opportu- bestimmt, in welcher Weise die Do- nen Ausforschungseinsätzen, wäh- kumente zur Wahrung des Schutzes rend die Strafprozessordnung die der enthaltenen Informationen zu be- Staatsanwaltschaft zur Aufnahme handeln sind. Häufig werden solche und Durchführung von Ermittlun- Unterlagen jedoch – obwohl die gen verpflichtet. Diese Verfolgungs- Strafprozessordnung, namentlich de- pflicht kann nicht der opportunen ren§96,einesolcheBegrifflichkeit Bestimmung anderer Behörden über- nicht kennt – von der übermittelnden lassen werden.28 Mit anderen Worten: Stelle zusätzlich als »nicht gerichts- Der Gang der Strafrechtspflege darf verwertbar« oder »nur für die Hand- nicht von – zurückgehaltenen – Ge- akten bestimmt« bezeichnet; die heimdiensterkenntnissen abhängig Übermittlung wird also mit der aus- sein, zumal Verfassungsschutz und drücklichen Beschränkung versehen, Staatsanwaltschaft in Staatsschutz- die Unterlagen weder dem Gericht sachen im Ergebnis für dieselbe Auf- noch dem Verteidiger, dem Beschul- gabenerfüllung – Staatsschutz – zu- digten oder sonstigen Verfahrensbe- ständig sind (vgl. oben II. 1.). Eine teiligten zugänglich zu machen. Prozesssteuerung durch den Verfas- sungsschutz darf es nicht geben. Die Der Generalbundesanwalt ist auf erforderliche Abwägung innerhalb die vertrauensvolle Zusammenarbeit

27 Vgl. Soine, ´ Erkenntnisverwertung von Informanten und V-Personen der Nachrichtendienste in Strafverfahren, NStZ 2007, 247, 248 f. 28 Lisken, »V-Leute« im Verfassungsprozess, ZRP 2003, 45, 47. 334 ZUSAMMENARBEIT VON GBA UND VERFASSUNGSSCHUTZ BEI DER TERRORISMUSBEKÄMPFUNG und den Informationsaustausch mit Beginn an nach § 96 StPO gesperrt Nachrichtendiensten angewiesen, um sind oder später endgültig gesperrt dem gesetzlichen Auftrag der Wahr- werden, denn die Vorschrift schränkt heitsermittlung im Ermittlungs- und allein im öffentlichen Interesse die Strafverfahren sowie der Durchset- Pflicht zur Amtshilfe ein und berührt zung des staatlichen Strafanspruchs mithin nicht den Rechtskreis des Be- nachkommen zu können. Dies hängt schuldigten oder anderer Verfahrens- in erster Linie damit zusammen, dass beteiligter.29 Diese können daher es sich bei Straftaten nach §§ 129a, auch nicht mit Erfolg geltend ma- 129b StGB um abstrakte Gefähr- chen, die Sperrung müsse zur Folge dungsdelikte im Vorfeld eines Tater- haben, dass die vorenthaltenen Infor- folges – also namentlich der Ver- mationen in keiner Weise genutzt übung terroristischer Anschläge – werden, es sei denn, sie sind – etwa handelt und die Sachverhaltserfor- weil nach den konkreten Umständen schung daher eine Vernetzung von nur eine Gesamtschau mit den ge- Gefahrenabwehr und Strafverfol- sperrten Ursprungsinformationen gung mit sich bringt. Das Legalitäts- ein zuverlässiges Bild ergibt – durch prinzip und der Grundsatz der best- die Erschließung neuer Ermittlungs- möglichen Sachaufklärung gebieten ansätze und Beweismittel in ihrem es daher, dass der Staatsanwalt ihm Anspruch auf ein faires Verfahren übermittelte vertrauliche Unterlagen verletzt. Spätestens im Hauptverfah- zur Kenntnis nimmt und darauf hin ren wird regelmäßig die Frage nach überprüft, ob sie für bereits anhän- einer ausreichenden verfahrensrecht- gige Ermittlungsverfahren relevant lichen Möglichkeit auftauchen, dem sind oder Ansätze für neue Ermitt- Gericht und der Verteidigung den lungen bieten. Nur so kann er eigene Zugriff auf die vertraulichen Unterla- Beweisergebnisse überprüfen und gen zu versagen. Insoweit ist auch zu möglicherweise entlastende Um- berücksichtigen, dass der Informati- stände erkennen. Außerdem kann er onsvorsprung der Staatsanwaltschaft nur bei Kenntnis der vertraulichen in einer Hauptverhandlung im Hin- Unterlagen darauf hinwirken, dass blick auf eine ausreichende verfah- diese für ein Strafverfahren zur Ver- rensrechtliche Waffengleichheit von fügung gestellt werden – oder zumin- Staatsanwaltschaft und Angeklagtem dest mittelbare Beweise, wie etwa ein wohlstärkerzuegalisierenseinwird Behördenzeugnis. Die Verwertung als im Ermittlungsverfahren. Der im Sinne der Erschließung neuer – Staatsanwalt muss sich deshalb früh- von der Ursprungsinformation an zeitig vor Erhebung der Anklage bei sich unabhängiger – Ermittlungsan- der aktenführenden Stelle gemäß sätze und Beweismittel begegnet § 161 StPO um die Freigabe von ver- grundsätzlichauchdannkeinenBe- fahrensrelevanten Unterlagen bemü- denken, wenn die Unterlagen von hen und darauf hinweisen, dass nur

29 Meyer-Goßner StPO 54. Aufl. § 96 Rn. 15. RAINER GRIESBAUM 335 eine Sperrerklärung nach § 96 StPO Polizeibehörden zur Verhinderung die Offenlegung verhindern kann. oder Verfolgung von Staatsschutz- Gesetzliche Übermittlungssperren delikten wird von § 20 Abs.1 wie § 23 BVerfSchG entfalten im Falle BVerfSchG zwingend vorgeschrie- eines Ersuchens um Auskunft keine ben. Eine Bindung des Empfängers Sperrwirkung im Strafverfahren.30 an den von der übermittelnden Stelle Die Anfragen sind in den Sachakten bestimmten Verwendungszweck bei zu dokumentieren. Ist bei Anklageer- der Informationsübermittlung ist hebung in der Sachakte noch nicht nicht vorgesehen. Eine dem § 19 niedergelegt, dass weitere – gesperr- Abs.1 Satz 2 BVerfSchG vergleich- te – Unterlagen existieren, dürfte es bare Regelung der Zweckbindung sich regelmäßig empfehlen, die übri- fehlt insoweit. Die Polizeibehörden gen Verfahrensbeteiligten frühzeitig, sind daher nicht gehindert, die ihnen möglichst noch vor Beginn der für präventive Zwecke übermittelten Hauptverhandlung, auf deren Vor- Informationen auch repressiv zur handensein hinzuweisen, zumal das Verfolgung von Staatsschutzdelikten Gericht nur dann in der Lage ist, die zu verwenden, was nach den für das Hauptverhandlung ordnungsgemäß Bundeskriminalamt geltenden Vor- vorzubereiten und schon vor der schriften der Strafprozessordnung Hauptverhandlung auf die Freigabe und des Bundeskriminalamtgesetzes gesperrter Unterlagen hinzuwir- nicht nur zulässig, sondern sogar ge- ken.31 boten ist, wenn der Anfangsverdacht einer Straftat infrage steht. Ein ähnliches Problem stellt sich, wenn nachrichtendienstliche Er- § 23 Nr.2 BVerfSchG, wonach eine kenntnisse zwar dem Bundeskrimi- Übermittlung unterbleibt, wenn nalamt – etwa in sogenannten § 4a überwiegende Sicherheitsinteressen BKAG-Fällen – übermittelt werden, dies erfordern, kann nicht dahinge- nicht aber dem Generalbundesan- hend ausgelegt werden, dass aus walt, und zwar mit der Begründung, Gründen überwiegender Sicherheits- diese Erkenntnisse seien dem Bun- interessen eine Übermittlung an das deskriminalamt ausdrücklich nur für Bundeskriminalamt unter gleich- präventive Zwecke, nicht aber für zeitiger verbindlicher Beschränkung Zwecke der Strafverfolgung übermit- des Verwendungszwecks möglich telt worden. Eine solche Verwen- wäre. Wenn (nicht: »soweit«) über- dungsbeschränkung ist nicht wirk- wiegende Sicherheitsinteressen ent- sam – und zwar aus folgendem gegenstehen, ist die Übermittlung Grund: Die Informationsübermitt- vielmehr insgesamt unzulässig. Ste- lung an Staatsanwaltschaften und hen solche Interessen nicht entgegen,

30 Vgl. Soine, ´ Erkenntnisverwertung von Informanten und V-Personen der Nachrichtendienste in Strafverfahren, NStZ 2007, 247, 248 f. 31 Vgl. auch LG Berlin StV 1986, 97. 336 ZUSAMMENARBEIT VON GBA UND VERFASSUNGSSCHUTZ BEI DER TERRORISMUSBEKÄMPFUNG hat die Übermittlung – dem Wortlaut aus § 138 StGB folgende Anzei- des § 20 Abs.1 Satz 1 BVerfSchG ent- gepflicht umfasst weite Bereiche sprechend – ohne weitere Beschrän- der Staatsschutzdelikte, insbesondere kung des Verwendungszwecks »zur auch Straftaten nach § 129a, 129b und Verhinderung oder Verfolgung von 89a StGB. Jedenfalls in diesen Fällen Staatsschutzdelikten«, also gleicher- ist eine Beschränkung der Informati- maßen für beide Zwecke, zu erfolgen. onsverwendung auf präventive Zwe- cke rechtswidrig und damit für den § 23 Nr.2 BVerfSchG kann auch nicht Empfänger unbeachtlich. etwa eine Ermächtigung zur verbind- lichen Beschränkung der Informati- onsverwendung auf rein präventive IV. Der Einsatz von V-Leuten Zwecke aus anderen Gründen ent- durch Verfassungsschutz- nommen werden. Die vorgesehene behörden Einschränkung der Übermittlungs- pflicht folgt aus dem besonderen Die Erfahrungen des Generalbundes- Auftrag des Verfassungsschutzes zur anwalts zeigen, dass die Übermittlung Informationsgewinnung mit nach- nachrichtendienstlicher Erkenntnisse richtendienstlichen Mitteln. Sicher- aus technischen Überwachungsmaß- heitsinteressen, die einer Informati- nahmen wesentlich problemloser er- onsübermittlung entgegenstehen folgt als bei sogenannten Quellener- können, sind folglich Gründe des kenntnissen, obwohl gerade in den Quellenschutzes, des Schutzes opera- Phänomenbereichen Links- und tiver Maßnahmen oder sonstige Ge- Rechtsterrorismus solchen Erkennt- heimhaltungsgründe. Diese sind ge- nissen für die Strafverfolgung große gen das öffentliche Interesse an der Bedeutung zukommt. Die Informati- Verfolgung oder Verhinderung von onsbeschaffung durch V-Leute bleibt Staatsschutzdelikten abzuwägen.32 eine unverzichtbare Methode der Das Schrifttum geht einhellig davon Erkenntnisgewinnung. Ein Nach- aus, dass der Straftatbestand der richtendienst, der einen Einblick in Nichtanzeige geplanter Straftaten die tatsächlichen Ziele und nichtöf- (§ 138 StGB) die äußerste Grenze bil- fentlichen Absichten eines extremisti- det, bis zu der sich der Verfassungs- schen Personenkreises gewinnen will schutz im Einzelfall auf entgegen- und in das, was hinter verschlossenen stehende operative Gründe berufen Türen geplant wird, kommt an dieser kann. Jenseits dieser Grenze aber Methodenicht vorbei.Diesgiltgerade wird eine uneingeschränkte Unter- beiderAufklärungmilitanterOrgani- richtungspflicht angenommen33.Die sationen. Die erfolgreiche Bekämp-

32 Vgl. Droste, Handbuch des Verfassungsschutzrechts, Stuttgart 2007, S.544. 33 Vgl. Zöller, in: Roggan/Kutscha, Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, 2. Aufl. Berlin 2006, S.500; ebenda Droste, S.554; Rose-Stahl, Recht der Nachrichtendienste, Brühl, 2002, S.92, jeweils m. w. Nachw. Zur Begründung wird darauf hingewiesen, dass die aus § 138 StGB folgende Anzeigepflicht für jedermann verbindlich sei und durch das für den Verfassungsschutz geltende Opportunitätsprinzip nicht außer Kraft gesetzt werde. RAINER GRIESBAUM 337 fung von Staatsschutzdelikten beruht strafbar war, beispielsweise weil sie häufig auf dem Einsatz von V-Leuten die Informationen als Mitglied, Un- der Verfassungsschutzbehörden. Die terstützer oder Werber einer in- oder Verfassungsschutzbehörden des Bun- ausländischen terroristischen Verei- des und der Länder dürfen Metho- nigung beschafft hat. den, Gegenstände und Instrumente zur heimlichen Informationsbeschaf- Rechtsprechung und Schrifttum ge- fung, wie den Einsatz von Ver- hen in einhelliger Auffassung davon trauensleuten und Gewährspersonen aus, dass eine nachrichtendienstliche (…) anwenden (vgl. § 8 Abs.2 Quelle den objektiven und subjekti- BVerfSchG; § 6 Abs.1 LVSG Baden- ven Tatbestand der §§ 129, 129a, 129b Württemberg). Informanten und StGB erfüllt, wenn sie sich im Rah- Vertrauensleute sind ferner von der men ihrer Ermittlungen an einer höchstrichterlichen Rechtsprechung solchen Vereinigung mitgliedschaft- als zulässige Mittel der Strafverfol- lich beteiligt oder sie unterstützt.36 gung anerkannt, deren Inanspruch- Für die Erfüllung des objektiven und nahme und Einsatz durch Polizei und subjektiven Tatbestandes der Mit- Staatsanwaltschaft in bundeseinheit- gliedschaft in einer terroristischen lich geltenden Richtlinien sowie inner- Vereinigung genügt es, dass die dienstlichen, bundes- und landesspezi- V-Person als Teil des auf Dauer ange- fischen Anweisungen geregelt ist.34 legten organisatorischen Zusammen- schlusses fest in die hierarchischen Das Bundesverfassungsgericht hat Strukturen der Organisation ein- mehrfach entschieden, dass die gebunden ist und aktive Förderungs- Strafverfolgungsorgane bei der Be- handlungen vornimmt. Dass die kämpfung besonders gefährlicher V-Person gleichzeitig die Organisa- Kriminalität, etwa der Bandenkrimi- tion durch ihre Informationen an den nalität und des Rauschgifthandels, Verfassungsschutz schwächen will, wenn sie ihrem Auftrag der rechts- steht dem Tatvorsatz nicht entgegen: staatlich gebotenen Verfolgung von Sie nimmt bei Begehung der Beteili- Straftaten überhaupt gerecht werden gungshandlungenbilligendinKauf, wollen, ohne den Einsatz sogenannter dass dadurch die organisatorische V-Leute nicht auskommen.35 Struktur gestärkt und die terroristi- sche Zwecksetzung der Vereinigung Problematisch ist jedoch die Beweis- gefördert wird. Dies ist zur Bejahung verwertung dann, wenn die Beschaf- des Tatvorsatzes ausreichend; eine fung der Informationen durch die darüber hinausgehende überschie- Vertrauensperson möglicherweise ßende Innentendenz etwa in dem

34 Soine, ´ Erkenntnisverwertung von Informanten und V-Personen der Nachrichtendienste in Strafverfahren, NStZ 2007, 247. 35 BVerfG NStZ 1981, 357; 1995, 600. 36 BGH NStZ 2011, 153; Fischer, StGB, 59.Aufl., § 129 Rn.37; MünchKomm StGB 2. Aufl.; Schäfer/Miebach, § 129 Rn.120 jeweils m.w.N. 338 ZUSAMMENARBEIT VON GBA UND VERFASSUNGSSCHUTZ BEI DER TERRORISMUSBEKÄMPFUNG

Sinne, dass es ihr auch auf die Errei- strafrechtlichen Verfolgung der Mit- chung der terroristischen Ziele an- glieder und Unterstützer dieser Or- kam, ist nicht erforderlich.37 ganisation beitragen will, lässt diese Motivation den Umstand unberührt, Unterstützungshandlungen liegen dass die V-Person die notwendige nahe, wenn die V-Person zugunsten »Zwischenfolge« einer finanziellen einer terroristischen Vereinigung Förderung der terroristischen Verei- Spendenzahlungen leistet. Unterstüt- nigung (bewusst) in Kauf nimmt. zen ist das Fördern des Fortbestandes oder der Verwirklichung der Ziele der Werbungshandlungen kommen in Vereinigung durch ein Nichtmitglied. Betracht, wenn die V-Person im In- Dazu zählt jedes Tätigwerden, das die ternet zugunsten einer terroristischen innere Organisation und den Zusam- Vereinigung Propaganda betreibt. menhalt der kriminellen Vereinigung Nach der Rechtsprechung des Bun- unmittelbar fördert, die Realisierung desgerichtshofs wirbt um Mitglieder der von der Vereinigung geplanten für eine terroristische Vereinigung Straftaten erleichtert oder sich sonst gemäß § 129a Abs.5 Satz 2 StGB, wer auf Aktionsmöglichkeiten und kri- sich um die Gewinnung von Perso- minelle Zwecksetzung der Vereini- nen bemüht, die sich mitgliedschaft- gung in irgendeiner Weise positiv lich in die Organisation einer solchen auswirkt und damit die ihr wesens- Vereinigung einfügen.38 Um Unter- eigene Gefährlichkeit festigt. Als stützer wirbt, wer bei anderen die Förderungsakt solcher Art kommt Bereitschaft zu wecken versucht, die insbesondere die finanzielle Unter- Tätigkeit oder die Bestrebungen der stützung der Vereinigung in Betracht. Vereinigung zu fördern, ohne sich als Für die Tathandlung des Unterstüt- Mitglied in deren Organisation ein- zens ist ein bedingter Vorsatz ausrei- zugliedern. Ein Werbungserfolg wird chend – also dass die V-Person eine nicht vorausgesetzt; auch der vergeb- Tatbestandsverwirklichung für mög- liche Versuch, andere als Mitglieder lich hält und das Eintreten des Erfol- oder Unterstützer für eine terroristi- ges billigend in Kauf nimmt. Eine sche Vereinigung zu gewinnen, wird Billigung einer an sich unerwünsch- vom Tatbestand erfasst. Die bloße ten, aber notwendigen Folge erfüllt Weitergabe fremder Äußerungen zu ebenfalls den subjektiven Tatbestand, Informationszwecken ist hingegen wenn sich der Täter mit ihr um eines nicht tatbestandsmäßig. Gleiches gilt erstrebten Zieles willen abfindet. für die reine Sympathiewerbung, also Auch wenn die V-Person die Geld- das allgemein befürwortende Eintre- spende lediglich zur Aufrechterhal- ten für eine terroristische Vereini- tung ihrer Legende und der eigenen gung, ihre Ziele, ihre Straftaten oder Sicherheit vornimmt und zu einer ihre Ideologie. Vielmehr muss zu-

37 OLG Düsseldorf, Urteil vom 06.09.2011, Az. III-5 StS 5/10, S. 102. 38 Vgl. BGHSt 51, 345. RAINER GRIESBAUM 339 mindest aus den Gesamtumständen sich im Rahmen ihrer Befugnisnorm der Äußerung deutlich werden, dass bewegen, unter dem Gesichtspunkt der Werbende gezielt Mitglieder oder der Wahrnehmung von Dienstrech- Unterstützer zugunsten einer be- ten oder einer Amtsbefugnis gerecht- stimmten terroristischen Organisa- fertigt sein kann41, überzeugt nicht. tion gewinnen will. Die Ausübung hoheitlicher Gewalt stellt für sich noch keinen Rechtfer- Eine Rechtfertigung solcher Hand- tigungsgrund dar, vielmehr bedarf es lungen, die unter den Augen des Ver- einer hinreichend konkreten gesetz- fassungsschutzes stattfinden, kann lichen Ermächtigungsgrundlage in allenfalls in entsprechender Anwen- Form einer Befugnisnorm. Dies folgt dung der für verdeckte Ermittler nicht zuletzt aus der Bindung aller i.S.d. § 110a StPO und verdeckt ope- staatlichen Gewalt an Gesetz und rierende Polizeibeamte geltenden Recht (Art. 20 Abs.3 GG), der auch Grundsätze unter den engen Voraus- die Verfassungsschutzbehörden als setzungen des rechtfertigenden Not- Stellen der öffentlichen Verwaltung stands nach § 34 StGB in Betracht unterliegen.42 kommen.39 Aber: Aufgrund des Aus- nahmecharakters des § 34 StGB, der Die Regelung des § 8 Abs.2 nur in einer gegenwärtigen, nicht an- BVerfSchG enthält eine solche ders abwendbaren Gefahr für ein Befugnisnorm nicht. Sie erlaubt in hochrangiges Rechtsgut eine Straftat allgemeiner Form den Einsatz nach- rechtfertigen kann, die zur Abwen- richtendienstlicher Mittel, die schlag- dung eben dieser Gefahr begangen wortartig aufgezählt werden. Dass wird, ist dieser Rechtfertigungsgrund damit der Erfüllung von Straftatbe- mit Blick auf geradezu planmäßig ständen die Rechtswidrigkeit genom- zu verwirklichende Straftaten von men werden soll, die angelegentlich V-Leuten, die über einen längeren des Einsatzes dieser Mittel verwirk- Zeitraum zur Wahrnehmung ihrer licht werden, lässt sich der Vorschrift Aufgabe zur Informationsbeschaf- nicht entnehmen. Es ist allein die fung in einer verbotenen Organisa- Aufgabe des Gesetzgebers, das ent- tion immer wieder ein Organisati- sprechende Instrumentarium zu onsdelikt begehen, grundsätzlich schaffen.43 Bei der Norm »Aufnahme nicht anwendbar.40 Die im nachrich- von Beziehungen zur Begehung einer tendienstlichen Schriftum vertretene schweren staatsgefährdenden Ge- Auffassung, dass die Verletzung von walttat« gemäß § 89b StGB etwa hat Straftatbeständen durch V-Leute, die der Gesetzgeber in Absatz 2 einen

39 BGH NStZ 2011, 154. 40 Schwarzburg, NStZ 1995, 469, 473 m.w.N.; OLG Düsseldorf, ebenda, S. 111. 41 Borgs, in: Borgs/Ebert, Das Recht der Geheimdienste, Stuttgart 1986, § 3 BVerfSchG Rn. 148; Frisch, DRiZ 2003, 199, 201. 42 OLG Düsseldorf, ebenda, S. 106. 43 Schwarzburg NStZ 1995, 469, 472 f.; vgl. auch OLG Düsseldorf, ebenda, S. 106. 340 ZUSAMMENARBEIT VON GBA UND VERFASSUNGSSCHUTZ BEI DER TERRORISMUSBEKÄMPFUNG

Tatbestandsauschluss für die Fälle der ten Gründen strafbar, schließt sich Erfüllung »rechtmäßiger« beruflicher die Frage an, ob daraus ein Beweis- oder dienstlicher Pflichten geschaf- verwertungsverbot folgt. Die Unzu- fen. Die Regelung soll namentlich lässigkeit oder Rechtswidrigkeit verdeckte Ermittlungen von Sicher- einer Beweiserhebung führt nicht heitsbehörden ermöglichen.44 Die ohne weiteres zu einem Beweisver- §§ 129a, 129b StGB enthalten einen wertungsverbot.46 Ein Beweisver- solchen Tatbestandsausschluss nicht. wertungsverbot ist von Verfassungs wegen aber zumindest bei schwer- Als »angemessene Berücksichtigung« wiegenden, bewussten oder will- bleibt, was der Bundesgerichtshof wie kürlichen Verfahrensverstößen, bei folgt umschreibt:45 »Der Umstand, denen die grundrechtlichen Siche- dass der Angeklagte über einen langen rungen planmäßig oder systematisch Zeitraum als nachrichtendienstliche außer Acht gelassen worden sind, Quelle tätig war, darf jedoch im weite- geboten.47 Ein absolutes Beweisver- ren Verlauf des Verfahrens nicht aus wertungsverbot unmittelbar aus den dem Blick geraten. (...) Der Einfluss Grundrechten hat das Bundesverfas- des BND auf die Mitwirkung des An- sungsgericht nur in den Fällen aner- geklagten in der DHKP-C wird sich kannt, in denen der absolute Kern- gegebenenfalls – abhängig von der Art bereich privater Lebensgestaltung undIntensität–zuGunstendesAnge- berührt ist (vgl. BVerfGE 109, 320). klagten bei der Strafzumessung aus- Ob ein Sachverhalt zum unantastba- zuwirken haben.« Ferner erlauben die ren Bereich privater Lebensgestal- Regelungen gemäß § 129 Abs.6 StGB tung oder zu jenem Bereich des priva- oder § 153e Abs. 1 StPO einzelfallbe- ten Lebens, der unter bestimmten zogene Prüfungen, ob ein Verfahren Voraussetzungen dem staatlichen Zu- durchgeführt oder ob im Fall der Ver- griff offensteht, zuzuordnen ist, lässt urteilung die Strafe gemildert oder gar sich nicht abstrakt beschreiben, son- von ihr abgesehen werden kann. Die dern kann befriedigend nur unter Be- Anwendung dieser Vorschriften liegt rücksichtigung der Besonderheiten insbesondere in Fällen nahe, in denen des einzelnen Falls beantwortet wer- sich Vertrauensleute bei der Beobach- den.48 tung verbotener Organisationen, also der Erfüllung staatlicher Aufgaben, strafbar machen. V. Regeln der Beweiswürdigung

War die Beschaffung von Daten Die Existenz von V-Leuten in einem durch eine V-Person aus den genann- Strafverfahren darf nicht zu einer

44 Fischer, StGB, 59. Aufl., § 89b Rn. 10. 45 BGH NStZ 2011, 154. 46 Vgl. BVerfG NStZ 2000, 488; NStZ 2006, 46. 47 Vgl. BVerfGE 113, 29; NJW 2006, 2686. 48 Vgl. BVerfGE 80, 367. RAINER GRIESBAUM 341

Steuerung der Beweisaufnahme füh- raussetzungen insbesondere Verhörs- ren. Der selektive Datentransfer personen als mittelbare Zeugen über durch Nachrichtendienste kann näm- die Angaben vernehmen, die ihnen lich zu einer Wahrnehmungsverzer- für das Gericht aufgrund der Sperr- rung bei der Beweiswürdigung füh- erklärung unerreichbare V-Leute ge- ren. Solche Informationsdefizite macht haben.51 Der Rückgriff auf müssen deshalb durch eine vorsich- Beweissurrogate infolge einer Sperr- tige Beweiswürdigung ausgeglichen erklärung verpflichtet das Tatgericht werden.49 Zweck einer frühzeitigen zu besonders vorsichtiger Beweis- Einbindung des Generalbundesan- würdigung und zu besonderen Be- walts in verdeckte Maßnahmen ist es gründungsanforderungen.52 Auf die daher, ein Mehr an rechtlicher Kon- mittelbar bekundeten Angaben einer trolle zu gewährleisten. Er hat die V-Person darf eine Feststellung regel- Aufgabe, die forensisch relevante Er- mäßig nur dann gestützt werden, kenntnisgewinnung des Verfassungs- wenn diese Angaben durch andere schutzes zu kontrollieren, damit die wichtige Beweisanzeichen bestätigt präventiv gewonnenen Erkenntnisse werden.53 in einem späteren Ermittlungsverfah- ren auch zu Beweiszwecken verwert- Hieraus ergeben sich Lehren für die bar sind. Sowohl die Verfahrensherr- Führung von Quellen und die Doku- schaft der Staatsanwaltschaft als auch mentation und Transparenz der ge- das Legalitätsprinzip dienen aber wonnenen Erkenntnisse, also die Ak- nicht nur dem öffentlichen Interesse tenführung, wobei schon zu Beginn an einer wirksamen Strafverfolgung, der Dokumentation eine spätere sondern auch ganz wesentlich den (Teil-)Offenlegung zu bedenken ist: rechtlich geschützten Belangen des Hintergründe und Motive der An- Beschuldigten.50 werbung der V-Person müssen ver- merkt werden. Es kann ein geläuter- Ist die Vernehmung einer Quelle we- tes Gewissen ebenso maßgeblich sein gen einer Sperrerklärung analog § 96 wie ein geldwerter Vorteil. Diese StPO nicht möglich, kann das Ge- Umstände sind darzulegen. Das gilt richt für das gesperrte Beweismittel gleichermaßen für Anlass, Inhalt und Beweissurrogate einführen und ver- Umfang der Zusicherung der Ver- werten, solange die Sperrerklärung traulichkeit sowie die Zuwendung nicht willkürlich, offensichtlich und Zweckbestimmung geldwerter rechtsfehlerhaft oder ohne Angaben Vorteile. Die Zuverlässigkeit von von Gründen erlassen worden ist. V-Leuten ist ein entscheidendes Kri- Das Gericht kann unter diesen Vo- terium für die Beweiswürdigung, so

49 BGHSt 49, 112 ff. 50 Vgl. Bäcker, Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt, Berlin 2009, S.63. 51 Vgl. BVerfGE 57, 250, 292. 52 Vgl. BVerfGE 57, 250, 292 f. 53 Vgl. BVerfG NJW 1996, 448, 449; BGHSt 42, 15, 25. 342 ZUSAMMENARBEIT VON GBA UND VERFASSUNGSSCHUTZ BEI DER TERRORISMUSBEKÄMPFUNG dass aus den sogenannten Treffbe- frühzeitig in die Erkenntnislage ein- richten deutlich werden muss, wie die gebunden wird. Denn die Verfahrens- Mitteilung konkret lautet und in wel- herrschaft der Staatsanwaltschaft und cher Beziehung die V-Person zum das Legalitätsprinzip dienen auch Aussagegegenstand steht (eigenes dem Schutz der Belange des Beschul- Wissen, mittelbare Kenntnis, Ge- digten. Darüber hinaus kann eine rüchte). Bei der Bewertung ist zu nachhaltige Steigerung der Effizienz berücksichtigen, ob die mitgeteilten des Staatsschutzes bewirkt werden: Erkenntnisse durch andere Indizien DiefrühzeitigeBeteiligungderStaats- belegt werden. Erfahrungen der Bun- anwaltschaft hilft Fehler bei der Ge- desanwaltschaft zeigen, dass soge- winnung und Aufarbeitung von Er- nannte VP-Akten häufig ausschließ- kenntnissen zu vermeiden, die einer lich unter dienstinternen Aspekten späteren strafprozessualen Verwer- geführt werden. Ein solcher Blick tung im Wege stehen können. Durch greift zu kurz. Die Verfassungs- die Aburteilung des Täters jedoch schutzgesetze von Bund und Län- kann der strafrechtliche Staatsschutz dern sind nämlich auf die gebotene seine volle Wirkung entfalten. Geheimhaltung einerseits und die er- forderliche Offenlegung andererseits Die Einrichtung eines Gemeinsamen ausgelegt. Gerade weil die Institution Abwehrzentrums gegen Rechtsextre- der V-Person rechtlich und tatsäch- mismus unter Beteiligung von Verfas- lich problematisch ist, sollte bei der sungsschutzämtern, Polizeien und Führung größte Sorgfalt auf die Do- des Generalbundesanwalts war über- kumentation und Transparenz der fällig. Ziel ist die Stärkung der behör- Einsätze gelegt werden. denübergreifenden Zusammenarbeit durch Verkürzung und Strukturie- rung der Kommunikationswege, VI. Schlussbetrachtung Bündelung und Bewertung vorlie- gender Informationen, Abstimmung Die verdeckte Datenerhebung durch operativer Maßnahmen und Inten- den Verfassungsschutz ist eine we- sivierung behördenübergreifender sentliche Bedingung für einen erfolg- Zusammenarbeit bei der Strafverfol- reichen Staatsschutz. Relevante Er- gung. Nur ein länder- und fachüber- kenntnisse aus dieser Datenerhebung greifender Informationsaustausch müssen unverzüglich an Polizei und bietet eine hinreichende Chance, die Staatsanwaltschaft übermittelt wer- Bildung gefährlicher verdeckter den, da nur so dem Legalitätsprinzip Strukturen rechtzeitig entdecken und Geltung verschafft und die erforderli- einer strafrechtlichen Verfolgung zu- chen Maßnahmender Strafverfolgung führen zu können. ergriffen werden können. Es führt zu einem Mehr an rechtsstaatlicher Kon- Der Autor dankt Herrn OStA beim trolle der Arbeit des Verfassungs- BGH Frank Wallenta für die Mitar- schutzes, wenn die Staatsanwaltschaft beit an diesem Text. 343

Der »Nationalsozialistische Untergrund« – Singuläres Phänomen im deutschen Rechtsterrorismus?

CHRISTIAN MENHORN

1. Einleitung und Fragestellung Dimension der Taten für Entsetzen gesorgt, waren doch die Sicherheits- Die gescheiterte Flucht zweier Bank- behörden in den vorangegangenen räuber, die sich am 4. November 2011 Jahren davon ausgegangen, dass in Eisenach in einem als Fluchtfahr- rechtsterroristische Strukturen nicht zeug genutzten Wohnmobil selbst er- existent gewesen waren. Zwangsläu- schossen, und die nur wenige Stun- fig richtete sich die Kritik in der Fol- den später erfolgte Inbrandsetzung gezeit verstärkt gegen die Polizei- der von den beiden Tätern und ihrer und Verfassungsschutzbehörden des Mitbewohnerin angemieteten Woh- Bundes und der Länder. Vorwürfe nung in Zwickau haben im Zuge der mangelhafter Arbeit wurden beson- daraufhin durchgeführten Ermittlun- ders in zweierlei Hinsicht geäußert. gen nur wenige Tage später zu einer Zum einen wurden die konkreten Erkenntnis geführt, die Gesellschaft, Ermittlungsmaßnahmen, die zur Politik und Sicherheitsbehörden tief Aufklärung der Taten und zum Auf- erschütterte. Die Funde einer Tat- enthaltsort der drei im Jahr 1998 un- waffe vom Typ Ceska in der ausge- tergetauchten Terroristen getroffen brannten Wohnung in Zwickau, mit worden waren, als unzureichend kri- derineinemZeitraumvon2000bis tisiert. Diesbezüglich wurde auch die 2006 neun Personen mit Kopfschüs- Frage nach der Intensität der Zusam- sen hingerichtet worden waren, und menarbeit zwischen Verfassungs- der Dienstwaffen einer 2007 in Heil- schutz und Polizei auf der einen Seite bronn ermordeten Polizistin und ih- undinnerhalbdesföderalenVer- res bei dem Angriff schwer verletzten fassungsschutzverbundes auf der an- Kollegen in dem ebenfalls verbrann- deren Seite gestellt. Der zweite ten Wohnmobil in Eisenach waren hauptsächliche (und schwerwiegen- Beleg für die Existenz einer rechtster- dere) Vorwurf war grundsätzlicher roristischen Gruppe, die unter dem Natur und bezog sich auf die Ana- Namen »Nationalsozialistischer Un- lyse- und Prognosefähigkeit der Ver- tergrund« (NSU) im Zeitraum von fassungsschutzbehörden. Er richtete 1999 bis 2011 zehn Morde, zwei sich an der Diskrepanz der von den Sprengstoffanschläge und mindes- Verfassungsschutzbehörden vertrete- tens 14 Banküberfälle begangen hatte. nen Bewertung des Rechtsterroris- Die mehr dem Zufall als konkreter mus, derzufolge ein solcher nicht zu Ermittlungstätigkeit geschuldete Auf- beobachten sei, und der langjährigen deckung der dreiköpfigen Gruppe um Existenz einer nicht auf dem Radar Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und der Behörden erscheinenden rechts- Beate Zschäpe hat angesichts der terroristischen Gruppe auf. So kom- 344 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS? mentierte die »Süddeutsche Zei- stellt der Beitrag zunächst die Bewer- tung«, eine »rechte Terrorbande wie tung und Gefährdungseinschätzung das Zwickauer Trio« habe »offenbar des BfV hinsichtlich rechtsterroristi- die Vorstellungskraft der Verfas- scher Bestrebungen seit dem Ende der sungsschützer« gesprengt.1 1990er Jahre dar (Nr.2). Daran schlie- ßensichÜberlegungenan,aufwel- Inwieweit Versäumnisse ermittlungs- cher Basis die Verfassungsschutzbe- technischer Art oder Defizite im hörden – abseits konkreter, operativ Informationsaustausch auf der föde- zu bearbeitender Hinweise auf spezi- ralen Ebene bzw. zwischen den poli- fische Personen und Gruppen – im zeilichen und nachrichtendienstli- Regelfall das abstrakte Gefährdungs- chen Stellen bestanden und somit potenzial des gewaltbereiten bzw. Maßnahmen der Sicherheitsbehörden terroristischen Rechtsextremismus ins Leere liefen, soll im Rahmen dieses analysieren können (Nr.3). In einem Beitrags nicht untersucht werden. Die weiteren Abschnitt werden die bis inzwischen hierzu installierten Gre- heute bekanntgewordenen Merkmale mien auf Bundes- und Länderebene von Gruppenstruktur und Taten des werden diesbezüglich zu Ergebnissen NSU vergleichend darauf hin unter- kommen. Der vorliegende Beitrag sucht, ob und inwieweit frühere kommentiert insofern kein sicher- rechtsterroristische Gruppierungen heitsbehördliches Handeln, sondern eine ähnliche Phänomenologie aufge- stellt den letztgenannten Vorwurf in wiesen haben (Nr.4). Dabei kann sich den Mittelpunkt einer abstrahierten die Darstellung nur auf den temporä- Betrachtung. Er versucht die Frage zu ren Erkenntnisstand eines noch lau- beantworten, ob die Verfassungs- fenden Ermittlungsverfahrens stüt- schutzbehörden im Rahmen ihrer zen, in dessen Verlauf neue Aspekte analytischen Möglichkeiten auf die durchaus noch zutage treten können.2 Existenz des NSU hätten schließen Insofern beschließt eine Bewertung, können. Hätte ein Rückgriff auf die die nur als vorläufig zu bezeichnen Erkenntnisse über die Merkmale frü- sein kann, den Beitrag (Nr.5). herer rechtsterroristischer Gruppie- rungen diesbezüglich Aussicht auf Erfolg geboten oder war der NSU ein 2. Bewertung des Rechtsterro- so singuläres Phänomen, dass dessen rismus durch die Verfassungs- spezifische Ausprägung von Grup- schutzbehörden seit Ende der penstruktur und Handlungsweisen 1990er Jahre des NSU eine Entdeckung der Gruppe faktisch unmöglich gemacht Das Bundesamt für Verfassungs- haben? Zur Erörterung dieser Punkte schutz hat seit 1998, dem Jahr des

1 Hans Leyendecker, Unterschätzter Hass, in: Süddeutsche Zeitung vom 16. Januar 2012, S.4. 2 Stand des Beitrags ist der 30. April 2012. CHRISTIAN MENHORN 345

Verschwindens von Mundlos, Böhn- den Einsatz dieser Waffen festgestellt hardt und Zschäpe3, in einer Vielzahl worden waren. Zudem waren diese von Berichten die Entwicklung des Funde nicht mehr nur Einzelperso- gewaltbereiten Rechtsextremismus nen zuzurechnen, sondern »Kleinst- bewertet und dabei auch Stellung ge- gruppen mit allerdings sehr geringen nommen zur Frage nach der Existenz Strukturen«.6 Darüberhinauswar und Ausprägung rechtsterroristi- seinerzeit eine Reihe von Strategie- scher Ansätze. papieren und Veröffentlichungen erschienen, die Aufrufe zum bewaff- Aus der Gesamtschau der Berichte neten Kampf gegen Vertreter des ergeben sich bei der Bewertung »Systems« und Überlegungen zu rechtsterroristischer Aktivitäten so- klandestinen Organisationsformen wohl zwei Zeitspannen, in denen sich für diesen Kampf enthielten und zu die Bewertung wandelte, als auch Beginn der 2000er Jahre in der deut- zwei Strukturmodelle, die für mögli- schen rechtsextremistischen Szene che rechtsterroristische Bestrebun- wieder verstärkt diskutiert wurden. gen als relevant angesehen wurden. Hierzu gehörten exemplarisch das Konzept der »leaderless resistance« War noch 1998 konstatiert worden, es (erschienen Anfang der 1990er Jahre), gebe keine rechtsterroristischen Or- die »Turner-Tagebücher« (Anfang ganisationen oder Strukturen4,soän- der 1990er Jahre), die Strategieschrift derte sich diese Einschätzung bis An- »Eine Bewegung in Waffen« (1992)7 fang der 2000er Jahre.Sosprachdas oder die unter dem Pseudonym »Max BfV von »Ansätzen für ein Entstehen Hammer« von dem schwedischen rechtsterroristischer Strukturen«5. Neonazi Erik Blücher verfassten Grundlage für diese Einschätzung Pamphlete »The Way Forward« und waren zum einen die vermehrten »Field Manual« (beide etwa 2000). (auch polizeilich festgestellten) Hin- Einige in der Szene kursierende Pu- weise auf beabsichtigte bzw. durch- blikationen wie das »Totenkopf-Ma- geführte Aktivitäten zur Waffen- und gazin« aus dem Jahr 2003 forderten Sprengstoffbeschaffung. So waren in den Aufbau bewaffneter Zellen.8 diesem Zeitraum bei Rechtsextremi- sten Waffen und Sprengkörper be- Die Aufdeckung des geplanten An- schlagnahmt worden, wobei in eini- schlags auf die Grundsteinlegung der gen Fällen konkrete Planungen für jüdischen Synagoge in München

3 Die drei Personen waren nach Durchsuchungen ihrer Wohnungen und angemieteter Garagen in Jena am 26.Januar 1998, bei denen in einer der Garagen Sprengstoff und funktionstüchtige Rohrbomben gefunden worden waren, ver- schwunden. Ein Haftbefehl wurde erst am 28. Januar 1998 ausgestellt. Vgl. Hans Leyendecker/Tanjev Schultz, Chronik der verpassten Gelegenheiten, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. Februar 2012, S.3. 4 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1998, Berlin 1999, S.25. 5 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2000, Berlin 2001, S.25. 6 Ebenda, S.37. 7 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2002, Berlin 2003, S.38. 8 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2003, Berlin 2004, S.39. 346 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS?

2003, der durch Mitglieder der »Ka- 3. Prognosen der Verfassungs- meradschaft Süd« um Martin Wiese schutzbehörden zu möglichen vorbereitet worden war, und die rechtsterroristischen Entwick- Brandanschläge des »Freikorps Ha- lungen velland« gegen ausländische Imbiss- betreiber in Brandenburg im Jahr Prognosen der Verfassungsschutz- 2004 stellten angesichts der bis dahin behörden über Entwicklungen in ex- angefallenen lediglich abstrakten tremistischen Phänomenbereichen Hinweise auf rechtsterroristische Be- basieren in der Regel auf zwei we- strebungen ein Novum dar. Die Ver- sentlichen Säulen. Zum einen bieten – urteilung der Akteure im Jahr 2005 zu trotz des dieser Aussage innewoh- teilweise mehrjährigen Haftstrafen nenden vermeintlichen Paradoxons – markierte das bisherige Ende tatsäch- Erfahrungen der Vergangenheit licher rechtsterroristischer Aktivitä- eine gewisse Aussagekraft über mög- tenindenfrühen2000erJahren. liche zukünftige Entwicklungen. Handlungsweisen von Extremisten Die Bewertung des BfV modifizierte und Erscheinungsformen extremisti- sich in der darauffolgenden Zeit an- scher Phänomene in der Vergangen- gesichts nachlassender Erkenntnisse heit bieten Anhaltspunkte für zu- auf mögliche rechtsterroristische An- künftige Potenziale, Möglichkeiten sätze. Seit etwa 2005 vertrat das BfV und Aktivitäten des jeweiligen Spek- wieder die bereits bis Ende der 1990er trums. In Bezug auf rechtsterroristi- Jahre geltende Einschätzung, dass sche Aktivitäten wurden hier die rechtsterroristische Strukturen nicht Aktionen zu Ende der 1970er/ zu verzeichnen seien, allerdings ent- Anfang der 1980er Jahre (z.B. »Deut- sprechende Taten durch Einzelperso- sche Aktionsgruppen«, Hepp-Kexel- nen nicht ausgeschlossen werden Gruppe) sowie die Erfahrungen aus könnten. Als Begründung für diese den Aktivitäten der »Kameradschaft Entwicklung wurden u.a. die Verur- Süd« bzw. des »Freikorps Havel- teilungen des Jahres 2005 herangezo- land« in den Jahren 2003 und 2004 he- gen, die abschreckend gewirkt hätten. rangezogen. In diesen beiden (relativ Zudem war seit 2005 die frühere sze- kurzen) Zeiträumen waren die bis- neinterne Gewaltdiskussion deutlich lang einzigen Ansätze für Rechtster- abgeebbt bzw. wurde diese später gar rorismus in der Bundesrepublik nicht mehr in relevanter Weise ge- Deutschland in Erscheinung getre- führt.9 ten. Aus diesen Erfahrungen wurden

9 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2005, Berlin 2006, S.51; Bundesministerium des In- nern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2006, Berlin 2007, S.55. CHRISTIAN MENHORN 347 vor allem Schlüsse auf organi- tremistischen Spektrums und eine satorische Strukturen möglicher Zunahme der Militanz im Lager der zukünftiger rechtsterroristischer Neonazis zu. Konkret auf den Gruppierungen sowie auf potenzielle Rechtsterrorismus bezogen war dies- Anschlagsziele gezogen. bezüglich vor allem die Beobachtung der szeneinternen Diskussion über Zum anderen können auch aktuelle – Möglichkeiten zur Umsetzung be- auch längerfristige – Entwicklun- waffneter Strategien um die Jahrtau- gen Ansätze für Prognosen liefern. sendwende von Relevanz. Aus der Extremistische Spektren, insbeson- Rezeption der seinerzeit kursieren- dere solche, die innerhalb des eigenen den Strategiepapiere innerhalb der Lagers Interdependenzen (z.B. im Szene konnte auf die Wahrscheinlich- Rechtsextremismus zwischen Sub- keit einer Umsetzung der darin kultur, Neonazis und Parteien) auf- postulierten Strategien geschlossen weisen, entwickeln sich in einer ge- werden, was sich in der Warnung wissen Kontinuität, innerhalb derer der Verfassungsschutzbehörden vor sie neben der Reaktion auf gesell- »Ansätzen für ein Entstehen rechts- schaftliche Entwicklungen auch auf terroristischer Strukturen« wider- Erfahrungen aus der Binnensicht des spiegelte. Letztlich wurde diese jeweiligen Spektrums zurückgreifen. Einschätzung durch die Aufdeckung Im gewaltbereiten rechtsextremisti- der Anschlagsplanungen der »Kame- schen Lager hat sich beispielsweise radschaft Süd« und der Anschläge des die Verschiebung weg von den rechts- »Freikorps Havelland« nur kurze extremistischen Skinheads als we- Zeit später bestätigt. sentlichen Trägern des subkulturellen Elements des Rechtsextremismus hin Bei den Prognosen über eine mög- zu den neonazistisch fundierten »Au- liche Umsetzung rechtsterroristi- tonomen Nationalisten« in einem scher Strategien wurden aufgrund der längeren Zeitraum von Anfang der Beobachtung historischer rechtster- 1990er Jahre bis zum Beginn der roristischer Strukturen der vorange- 2000er Jahre ergeben, nachdem die gangenen Jahrzehnte (vor allem der Szene gewahr wurde, dass die Attrak- späten 1970er und 1980er Jahre) zwei tivität des jugendkulturell ana- Organisationsmodelle für besonders chronistisch gewordenen Skinhead- wahrscheinlich gehalten und daher Habitus deutlich geschwunden war. entsprechende Entwicklungen auf- Beobachtungen wie diese lassen merksam beobachtet. Einmal hätten beispielsweise Schlüsse auf eine Ab- dies – ausgehend von der Definition nahme des subkulturellen rechtsex- der Verfassungsschutzbehörden des 348 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS?

Begriffes Terrorismus10 – klandestin Zum zweiten wurde die Gefahr gese- agierende, personell festgefügte hen, dass Einzeltäter oder Kleinst- Gruppen (»Braune Armee Frak- gruppen mittels in der rechtsextre- tion«) sein können, von denen aus ei- mistischen Szene vorhandener ner ideologischen Zielsetzung heraus Waffen oder Sprengstoffe relativ Gewalttaten gegen signifikante Ziele spontane Taten auch ohne langfristige (z.B. Objekte oder Personen mit Zielsetzung und Konzeption hätten besonderem Symbolwert) hätten aus- verüben können. Dies war Ausfluss gehen können. Dabei war nicht unbe- der Erfahrungswerte der Verfas- dingt auf Gruppen abgestellt worden, sungsschutzbehörden seit den frühen deren Mitglieder »abgetaucht«, also 1990er Jahren, als Einzelpersonen in der Illegalität hätten leben müssen. oder kleinere Personengruppen un- Fürmöglichwarauchein»Feier- geplante, z. T. schwere Gewalttaten abendterrorismus« erachtet wor- wie Brandanschläge vor allem gegen den.11 Erwartungsgemäß hätten der- Ausländer und politische Gegner ver- artige Gruppen über eine gewisse übt hatten und insofern eine Eskala- Logistik und ein Unterstützerumfeld tion durch den in den 2000er Jahren verfügen müssen.12 Die Wahrschein- festgestellten Waffen- und Spreng- lichkeit für ein derartiges Szenario stoffbesitz einzelner Rechtsextremi- war daher aufgrund fehlender Er- sten nicht auszuschließen war. Die in kenntnisse der Verfassungsschutzbe- der Szene kursierenden Strategie- hörden auch zu Beginn der 2000er schriften mit den Konzepten kleiner Jahre für nicht sonderlich groß gehal- bewaffneter Zellen oder »lone wol- ten worden. ves«13 wurden gleichfalls zur Unter- mauerung dieser Gefährdungspro- gnose herangezogen.

10 Nach Definition der Verfassungsschutzbehörden ist Terrorismus der »nachhaltig geführte Kampf für politische Ziele, die mithilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen durchgesetzt werden sollen, insbe- sondere durch schwere Straftaten, wie sie in § 129a Absatz 1 Strafgesetzbuch genannt sind, oder durch andere Straf- taten, die zur Vorbereitung solcher Straftaten dienen«; Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbe- richt 2006, S.358. 11 Bundesamt für Verfassungsschutz, Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten (Juli 2004), zit. nach: Das Netz der Bösen, in: Der Spiegel Nr.47/2011 vom 21. November 2011, S.25. 12 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1998, S.25. 13 Der Terminus »lone wolf« bezeichnet einen Einzeltäter, der zwar ohne organisatorische Anbindung an eine Gruppe oder Organisation, aber im Sinne oder zur Unterstützung einer (zumeist politischen) Bewegung terroristische Akte begeht. Prototypen eines »lone wolf« waren etwa Timothy McVeigh, der 1995 einen Bombenanschlag auf eine Be- hörde in Oklahoma City (USA) mit 168 Todesopfern beging, und Anders Behring Breivik, der am 22. Juli 2011 in Nor- wegen mit einem Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel und einem Schusswaffenüberfall auf der Insel Utoya 77 Menschen tötete. CHRISTIAN MENHORN 349

4. Bewertung des NSU 4.1 Politische Sozialisation der Mitglieder des NSU Die umfangreiche Presseberichter- stattung, die einen Teil ihrer Informa- Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt tionen auch aus (zum Teil mit entstammten der subkulturellen Verschlusssachengrad versehenen14) rechtsextremistischen Szene, zu der Behördenerkenntnissen heranzog, sie im Zuge der Nachwendezeit der versetzt auch nicht mit sicherheits- frühen 1990er Jahre als junge Er- behördlicher Ermittlungsarbeit be- wachsene Zugang gefunden hatten. traute Personen in die Lage, ein Uwe Böhnhardt war 18 Jahre alt, als umfassendes Bild von den drei mut- er 1995 zum ersten Mal in den Fokus maßlichen NSU-Mitgliedern, der der Sicherheitsbehörden geriet15, Gruppenstruktur und den Aktivitä- Beate Zschäpe 1995 20 Jahre16 und ten des NSU zu gewinnen. Aus der UweMundlos199421Jahre17.Bilder Vielzahl der Presseartikel lässt sich von 199618 zeigen Mundlos und eine Reihe spezifischer Merkmale ex- Böhnhardt mit Springerstiefeln, trahieren, die einen Vergleich mit Bomberjacken und kurzgeschorenen anderen rechtsterroristischen Struk- Haaren als typische Angehörige der turen der Vergangenheit ermögli- rechtsextremistischen Subkultur. Die chen. Im Folgenden soll versucht wer- damalige rechtsextremistische Szene den, einen solchen Vergleich anhand in Ostdeutschland war geprägt vom bestimmter Punkte zu ziehen, um die neonazistischen Habitus der ehema- Frage beantworten zu können, wel- ligen Skinhead-Szene der DDR19 und che Gemeinsamkeiten und Unter- von einer besonders hohen Militanz, schiede zwischen dem NSU und die Angehörige der Szene als Einzel- anderen rechtsterroristischen Verei- personen und im Gruppenzusam- nigungen bestanden. Besonders wird menhang an den Tag legten. Signifi- dabei auf die politische Sozialisation kant – nicht nur für die in Süd- und der Gruppenmitglieder, die Struktur Ostthüringen angesiedelte »Anti- der Gruppe, den Modus Operandi Antifa Ostthüringen« (später »Thü- und die Vermittlung der Taten sowie ringer Heimatschutz«, THS) – waren die strategische Zielsetzung der ter- sowohl die Ausrichtung der Gewalt roristischen Aktivitäten eingegangen. gegen den politischen Gegner (z.B. in

14 So z.B. ein als geheim eingestufter Bericht des BfV für das Parlamentarische Kontrollgremium des Deutschen Bun- destags; vgl. Das Desaster von Chemnitz, in: Der Spiegel Nr.1/2012 vom 2. Januar 2012, S.17. Wörtliche Auszüge des Berichtes finden sich in: Geheimbericht: Wie das Jenaer Nazi-Trio entkommen konnte, in: http://www.thueringer-all- gemeine.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/Geheimbericht-Wie-das-Jenaer-Nazi-Trio-entkommen-konnte-20573296 63 vom 25. Januar 2012 (gelesen am 30. Januar 2012). Z. T. wörtlich zitierte Inhalte einer Analyse des BfV mit dem Titel »Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten – Entwicklungen von 1997 bis 2004« finden sich bei Wolf Schmidt/Andreas Speit, Fatale Fehleinschätzung, in: die tageszeitung vom 29. März 2012, S.3. 15 »Ich schlafe jetzt ruhiger«, in: Focus Nr.4/2012 vom 23. Januar 2012, S.24. 16 Ebenda, S.24. 17 Der braune Virus, in: Der Spiegel Nr.51/2011 vom 19. Dezember 2011, S.65. 18 Das Netz der Bösen, in: Der Spiegel Nr.47/2011 vom 21. November 2011, S.22. 19 Vgl. Christian Menhorn, Skinheads. Portrait einer Subkultur, Baden-Baden 2001, S.154 ff. 350 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS?

Form von Gewalttaten gegen dominieren. Nicht zuletzt die Werbe- »Linke«) als auch der Versuch, wirkung der mit der Skinhead-Bewe- behördliche Repräsentanten (z.B. gung eng verwobenen rechtsextremi- Polizei und Kommunalvertreter) ein- stischen Musik beförderte diesen zuschüchtern.20 Zuwachs des gewaltbereiten rechts- extremistischen Personenpotenzials. Mit diesen Merkmalen war die rechtsextremistische Szene in Ost- Zum anderen erwuchs aus dem mili- deutschland – vor allem in ihrer von tanten Habitus der gewaltbereiten Jugendlichen und Jungerwachsenen rechtsextremistischen Szene und ih- getragenen subkulturellen Ausprä- res Umfeldes eine konkrete Gewalt- gung – zum Motor einer neuen bereitschaft, die sich seit der Wieder- Strömung des Rechtsextremismus vereinigung in einer Vielzahl von avanciert, die ein deutlich größeres schweren rechtsextremistisch moti- Gefährdungsmoment aufwies als der vierten Gewalttaten vor allem gegen bis dahin in Westdeutschland beob- Ausländer manifestierte. So war bis achtete Rechtsextremismus mit sei- 1993 eine Reihe von Brandanschlägen nen parteipolitisch geprägten oder gegen von Ausländer bewohnte von neonazistischen Kadergruppen Wohnhäuser und Asylbewerber- gebildeten Strukturen. unterkünfte verübt worden, aus denen auch Todesopfer resultierten. Zum einen sorgte die Anziehungs- Dabei stellte das Jahr 1992 den kraft der subkulturellen rechtsextre- temporären Kulminationspunkt so- mistischen Szene mit ihren politi- wohl hinsichtlich des Personen- schen und habituellen Ausläufern für potenzials gewaltbereiter Rechtsex- einen deutlich größeren Zulauf vor tremisten (bundesweit 6.40021)als allem Jugendlicher zu rechtsextremi- auch rechtsextremistischer Gewaltta- stischen Strukturen wie dem THS, ten (bundesweit 2.63922) dar, wobei in die mit ihrer öffentlichen Präsenz beiden Bereichen die ostdeutschen versuchten, vor allem die ländlich ge- Bundesländer überproportional ver- prägten ostdeutschen Regionen zu treten waren.

20 Vgl. Christian Teevs/Birger Menke/Julia Jüttner, Das Rätsel der braunen Bombenbastler, in: http://www.spiegel.de/ panorama/justiz/0,1518,796857,00.html vom 9. November 2011 (gelesen am 13. Februar 2012). 21 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1992, Bonn 1993, S.66. Die Zahl dürfte tatsächlich nur den »harten Kern« der Szene, nicht aber das vermutlich mehrfach größere Sympathisantenumfeld umfasst ha- ben, da die Verfassungsschutzbehörden erst 1991 die rechtsextremistische Skinhead-Szene flächendeckend in die Beobachtung aufgenommen hatten. Noch 1991 hatte das BfV von »unvollständigen Erkenntnissen« und einem »bruchstückhaften Erkenntnisstand« über die Skinhead-Szene gesprochen; Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1991, Bonn 1992, S.91. 22 Um spätere Nachmeldungen bereinigte Zahl, vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1994, Bonn 1995, S.81. Darunter waren 15 Tötungsdelikte, 14 Sprengstoffanschläge und 708 Brandstiftungen. Zum Vergleich: 2011 wurden 762 rechtsextremistische Gewalttaten erfasst, darunter sechs versuchte Tötungsdelikte, zwei Sprengstoffanschläge und 29 Brandstiftungen; Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2010, Berlin 2011, S.36. CHRISTIAN MENHORN 351

Diese zum Teil schwersten Gewaltta- tensiven Analyse von Ermittlungsbe- ten, die aus der gewaltbereiten rechts- richten der Polizei und von Gerichts- extremistischen Szene heraus began- urteilen basierte, verfestigte sich bei gen wurden und zu Todesopfern den Verfassungsschutzbehörden die führten, wiesen in ihrer Gesamtheit Annahme, dass mit geplanten und ge- spezifische Merkmale auf, die prä- zielten Tötungen von Einzelperso- gend für die Gewaltausübung dieses nen aus diesem Spektrum heraus Spektrums waren. Erstens konnte in nicht zu rechnen sei. Diese Annahme der überwiegenden Zahl der Fälle galt auch für die Mitglieder des THS, keine Planung festgestellt werden. denen zwar in der Regel eine hohe Die Taten wurden zumeist spontan, Gewaltbereitschaft, nicht aber terro- oft unter Alkoholeinfluss begangen. ristische Absichten unterstellt wur- Dies galt sowohl für die zahlreichen den. Insofern galt diese Einschätzung Körperverletzungen im öffentlichen auch für das »Trio« Zschäpe, Mund- Raum als auch für die Brandan- los und Böhnhardt. Es ist fraglich, ob schläge auf Wohnungen. Langfristige die zum damaligen Zeitpunkt verfüg- Planungen bestanden ebenso wie da- baren Erkenntnisse zu den drei Per- raus folgende, über einen längeren sonen eine andere Bewertung not- Zeitraum durchgeführte Vorberei- wendig gemacht haben müssten. Dies tungshandlungen nicht. Zweitens gilt auch unter Berücksichtigung der konnten in nahezu allen Fällen keine Erkenntnis über den Besitz des gezielten Tötungsabsichten nachge- Sprengstoffs, der im Januar 1998 in wiesen werden, auch wenn Todesop- der Garage in Jena gefunden worden fer durch den Ablauf der Taten und war, sowie des Hinweises auf die Be- die (z.B. bei Brandanschlägen) unkal- schaffung von Waffen für »Überfälle« kulierbaren Folgen in Kauf genom- 199823 und der Aussage eines Szene- men wurden. Drittens konnte bei den angehörigen im Jahr 2001 über die bis Taten, bei denen Personen zu Scha- dahin bereits durchgeführten »Akti- den kamen, der Gebrauch von onen/Sachen«, die eine weitere finan- Schusswaffen nicht festgestellt wer- zielle Unterstützung nicht mehr den. Der Einsatz von Waffen be- notwendig gemacht hätten24.Zumei- schränkte sich auf Hieb- und Stich- nen standen die drei Personen bereits waffen sowie Brandsätze in einfacher in den Jahren zuvor im Verdacht, Bauart. Bombenattrappen an verschiedenen OrteninJenaabgelegtzuhabenund Aus dieser Feststellung eines typi- im Dezember 1996 drei Briefbom- schen Modus Operandi bei Gewalt- benattrappen an die Stadtverwaltung taten aus dem (subkulturellen) ge- Jena, die Polizeidirektion Jena und waltbereiten rechtsextremistischen die Lokalredaktion Jena der Thürin- Spektrum, der auf der jahrelangen in- ger Landeszeitung verschickt zu ha-

23 Tödliche Fehleinschätzung, in: Der Spiegel Nr.48/2011 vom 28. November 2011, S.30. 24 Er steuerte die Flucht, in: Focus Nr.2/2012 vom 9. Januar 2012, S.56. 352 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS? ben.25 In mindestens einem Fall, bei Hinweisen nicht auch nur ansatz- der Deponierung eines mit einem weise herausgelesen werden. Die Ein- Hakenkreuz versehenen Koffers vor bindung der drei Gesuchten in die ge- dem Jenaer Theater, war die Vorrich- planten und gezielten Taten der tung mit zehn Gramm Sprengstoff Ceska-Mordserie und des Heilbron- hergestellt und damit funktions-, ner Polizistenmordes war damit auf aber nicht zündfähig gemacht wor- Basis der Annahmen über die Spezi- den, weil man die Batterie weggelas- fika der Gewaltausprägung der ge- sen hatte.26 Damit unterschieden sich waltbereiten rechtsextremistischen die vor dem Abtauchen des »Trios« Szene und mangels konkreter Hin- abgelegten Bomben bzw. Attrappen weise zu den drei Personen für die Si- von den Sprengsätzen des NSU inso- cherheitsbehörden kaum zu vermu- fern, dass erstere nicht explosionsfä- ten. hig gewesen waren und zudem der rechtsextremistische Hintergrund aufgrund der äußeren Aufmachung 4.2 Gruppenstruktur und mit Hakenkreuz oder Judenstern27 – Modus Vivendi anders als bei den Bomben des NSU – offensichtlich war. Nach den dama- Die Struktur des NSU war geprägt ligen Erkenntnissen konnte somit durch eine Reihe von Besonderhei- nicht zwangsläufig angenommen ten. Hinsichtlich seines Mitgliederbe- werden, dass das »Trio« Personen- standes erfüllte er die Definition einer schäden durch Bombenanschläge Kleinstgruppe. Die Mitglieder des beabsichtigt hatte. Auch die auf nach- NSU lebten in der Komplettillegali- richtendienstlichem Weg gewonne- tät, d.h. jede ihrer Aktivitäten – von nen Hinweise auf »Überfälle«, womit der Anmietung von Wohnungen über Banküberfälle hätten vermutet wer- Reisebewegungen bis hin zu Hand- den können, konnten zum damaligen lungen zur Gestaltung des täglichen Zeitpunkt nur auf die Notwendigkeit Lebens28 – fand unter Angabe einer der Beschaffung von Geldern für das falschen Identität statt. Die Finanzie- Leben im Untergrund hindeuten. Die rung des Lebens in der Illegalität er- Bereitschaft und die Absicht der Mit- folgte durch strafbare Handlungen glieder des NSU, zehn Opfer durch (Banküberfälle), auch wenn sich die gezielte Schüsse in den Kopf hinzu- drei Gesuchten nach außen hin den richten, konnte aus den seinerzeitigen Anschein eines bürgerlichen Lebens-

25 Böhnhardt war im Oktober 1997 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden, weil er u.a. an einer Autobahnbrücke einen Puppentorso mit einem Judenstern und einem Schild mit der Aufschrift »Vor- sicht Bombe« angebracht hatte. Wegen der Briefbombenattrappen war gegen Mitglieder der Kameradschaft Jena er- mittelt worden, darunter auch die drei späteren NSU-Mitglieder. Vgl. Letzte Ausfahrt Eisenach, in: Der Spiegel Nr.46/ 2011 vom 14. November 2011, S.72. 26 Vgl. ebenda, S.72. 27 Vgl. FN 24. 28 Von Zschäpe ist z.B. bekannt, dass sie unter einem Aliasnamen Tierarztrechnungen beglichen hat. Vgl. Hans Leyen- decker, Heidi, Lilly und drei Mäuse; in: Süddeutsche Zeitung vom 3. Januar 2012, S.6. CHRISTIAN MENHORN 353 stils gaben, sich Kommentatoren Personenauchnacheinemlangen zufolge sogar hinter »spießiger Fassa- Zeitraum des Lebens im Unter- de«29 versteckten und als »hilfsbe- grund.34 Zschäpe soll die beiden reite, höfliche, aufgeschlossene« männlichen Mitglieder des »Trios« Nachbarn galten – eine Einschät- nach ihrer Festnahme sogar als zung, die auch eine aus Afghanistan »Familie« bezeichnet haben.35 stammende Familie teilte30.Diedrei Untergetauchten lebten zudem in ei- Der Vergleich mit den bisher bekann- ner quasi-familiären Verbindung. ten rechtsterroristischen Gruppen Bis 1995 war Beate Zschäpe mit Uwe ergibt einige Gemeinsamkeiten in Mundlos liiert gewesen. Nach der Be- Teilbereichen. Zwar hatte es Gruppen endigung der Beziehung durch gegeben, die entweder gar keine Per- Zschäpe ging diese eine Beziehung sonenlegenden (z.B. »Kameradschaft mit Uwe Böhnhardt ein, der bereits Süd«) oder aber nur Teillegendierun- zum damaligen Zeitpunkt mit Mund- genfürbestimmteZwecke(z.B. los eng befreundet gewesen war.31 konspirative Wohnungen der Hepp- Wie lange die Liaison zwischen Kexel-Gruppe zur Vorbereitung von Böhnhardt und Zschäpe dauerte, ist Anschlägen, gefälschte Pässe bei nicht bekannt. Die Freundschaft zwi- OdfriedHeppzumAufenthaltin schen Mundlos und Böhnhardt Frankreich 198536) benutzt hatten. scheint durch den Beziehungswech- Allerdings hatten in Einzelfällen sel Zschäpes nicht beeinträchtigt Rechtsterroristen wie Manfred Roe- worden zu sein. Möglicherweise lebte der unter Nutzung gefälschter Aus- Zschäpe auch in der Zeit nach dem weise und konspirativer Wohnungen Untertauchen in wechselnden Bezie- einige Zeit (Herbst 1979 bis Septem- hungen zu den beiden Männern.32 ber 1980)37 tatsächlich illegal gelebt. Auch die Aussagen von Personen, die Dennoch war ein Leben in der Illega- zu unterschiedlichen Zeitpunkten in lität über einen Zeitraum von über 13 direktem Kontakt zu den drei Flüch- Jahren – und nach den bisherigen tigen standen, ergaben das Bild eines Ermittlungsergebnissen zudem in harmonischen, einer Studenten-WG engster räumlicher Nähe (rund 80 Ki- ähnlichen33 Zusammenlebens der drei lometer) zum früheren Wohnort der

29 Hans Leyendecker/Nicolas Richter, Im Schutt, in: Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 2012, S.3. 30 Andreas Förster, Das Leben unter den anderen, in: Berliner Zeitung vom 7. Februar 2012, S.3. 31 Der braune Virus, in: Der Spiegel Nr.51/2011 vom 19. Dezember 2011, S.65. 32 In der Parallelwelt, in: Der Spiegel Nr.8/2012, S.66. 33 Vgl. Hans Leyendecker/Nicolas Richter: Im Schutt, in: Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 2012, S.3. 34 So etwa die Aussagen von Urlaubsbekanntschaften, die das »Trio« bei seinen jährlichen Aufenthalten auf der Ostseeinsel Fehmarn gemacht hatte; vgl. Hans Leyendecker, Die netten Camper von Fehmarn, in: http://www.sueddeutsche.de/politik/urlaubsfreunde-sprechen-ueber-zwickauer-terrorzelle-die-netten-camper-von- fehmarn-1.1243492 vom 23. Dezember 2011 (gelesen am 24. Dezember 2011). 35 »Ich schlafe jetzt ruhiger«, in: Focus Nr.4/2012 vom 23. Januar 2012, S.22. 36 Hans Josef Horchem, Die verlorene Revolution. Terrorismus in Deutschland, Herford 1988, S.112 f. 37 Vgl. ebenda, S.109 f.; Bernhard Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, Bonn 1995, S.279 ff. 354 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS? drei Flüchtigen – aufgrund dieser Er- Enge persönliche Verbindungen bis kenntnisse aus der Vergangenheit ein in den Bereich von intimen Bezie- von den Sicherheitsbehörden wohl hungen innerhalb von rechtsterroris- für unwahrscheinlich gehaltenes tischen Gruppen hatte es in Einzelfäl- Novum. len auch bereits früher gegeben. So war die seinerzeitige Geliebte von Banküberfälle zur Finanzierung Manfred Roeder auch Angehörige rechtsterroristischer Aktivitäten wa- der teilweise in der Illegalität leben- ren in der Vergangenheit mehrfach den Gruppe gewesen, die aber auch bekanntgeworden. So hatte eine neo- aus Personen bestand, die nur poli- nazistische Gruppe, die als »Wehr- tisch mit Roeder verbunden waren.41 wolf-Untergrundorganisation« und Die Konstellation der Zwickauer als »Wehrsportgruppe« firmierte, Zelle wies aufgrund ihrer Verqui- 1977 eine Sparkasse in Hamburg ckung von politisch Gleichgesinnten überfallen und 60.000 DM erbeutet.38 mit jahrelangen persönlichen und so- 1982 hatten Mitglieder der Hepp- gar intimen Verbindungen eher Ähn- Kexel-Gruppe fünf Banküberfälle lichkeiten mit den Kommandos der mit einer Gesamtbeute von rund »Rote Armee Fraktion« auf.42 Im Be- 630.000 DM begangen.39 Auch zwei reich des Rechtsterrorismus hat es Banküberfälle in den Jahren 1982 und nach bisherigem Kenntnisstand kein 1983, zu denen die Täter von dem adäquates Beispiel gegeben. Neonazi Wolfgang Koch angestiftet wurden, bewertete das BfV als Aktio- Auch wenn in Teilbereichen Gemein- nen zur Geldbeschaffung für »mili- samkeiten mit früheren rechtsterro- tante politische Pläne«40. Insofern ristischen Gruppen existierten, hat es mussten Banküberfälle – auch mit jedoch bis dahin keine vergleichbare dem Ziel einer Verwendung des Gel- Gruppe gegeben, die die Struktur- des für Gewalttaten – zumindest als merkmale des NSU in dieser Kombi- mögliche Aktivitäten von Rechtster- nation aufgewiesen hätte. Insbeson- roristen berücksichtigt werden. dere war vor allem die Dauer des

38 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1977, Bonn 1978, S.32; Bundesministerium des In- nern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1978, Bonn 1979, S.31. Gegen die Täter wurde durch den GBA wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt. Sechs Angeklagte wurden im sog. »Bückeburger Prozess« 1979 u.a. we- gen gemeinschaftlichen schweren Raubes, gefährlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz im Rahmen einer terroristischen bzw. in einem Fall einer kriminellen Vereinigung zu Freiheitsstrafen zwischen vier und elf Jahren verurteilt. Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1979, Bonn 1980, S.24. 39 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1983, Bonn 1984, S.158; Horchem, Die verlo- rene Revolution, S.113. 40 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1983, S.158. 41 Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, S.282 ff. 42 Einzelne Mitglieder von Kommandos der Angehörigen der dritten Generation der RAF waren miteinander liiert, bei- spielsweise Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams bzw. das Ehepaar Horst Ludwig und Barbara Meyer. Vgl. Alexan- der Straßner, Die dritte Generation der »Roten Armee Fraktion«. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall ei- ner terroristischen Organisation, Wiesbaden 2003, S.95 ff., 104 f. CHRISTIAN MENHORN 355

Lebens in der Illegalität und die auf Eminger45 und Matthias Dienelt46 re- der Symbiose zwischen gleicher poli- gelmäßige Kontaktpersonen der drei tischer Gesinnung und freundschaft- Gesuchten. Diese Personen waren licher Verbundenheit gründende Bin- zwar bis Anfang der 2000er Jahre in nenstruktur der Gruppe im Bereich lokale rechtsextremistische Zusam- des Rechtsterrorismus ein bis dahin menhänge eingebunden47, zeigten nicht beobachtetes Phänomen. aber seitdem keine Aktivitäten mehr (Dienelt und Andre Eminger) oder waren – wie Gerlach – im Laufe der 4.3 Kappung der Verbindungen darauffolgenden Jahre aus der Szene in die rechtsextremistische ausgestiegen48. Kontakte zu bedeu- Szene tenderen aktiven Rechtsextremisten, wie sie noch bis zum Jahr 2000 be- Nach 2001 sind bei den Verfassungs- standen haben zu scheinen (etwa zu schutzbehörden keine Erkenntnisse Angehörigen des »Thüringer Hei- mehr angefallen, die auf Verbleib matschutzes« oder zu Aktivisten der oder Aktivitäten der drei Flüchtigen ehemaligen »Blood-&-Honour«- hindeuteten.43 Dies hat nach dem bis- Sektion Sachsen)49, wurden nach herigen Erkenntnisstand damit zu 2001 nicht mehr festgestellt. tun, dass Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt sich bei ihren Kontakten Diese Kappung der Verbindung in die ab einem gewissen Zeitpunkt, zu dem rechtsextremistische Szene dürfte ei- sie auf elementare Unterstützung von ner der wesentlichen Gründe dafür außen nicht mehr angewiesen gewe- gewesen sein, dass die Verfassungs- sen waren, auf frühere persönliche schutzbehörden keinen Zugang zu Bekanntschaften beschränkten, deren Informationen über die Flüchtigen Zuverlässigkeit und Verschwiegen- mehr hatten. Der Abbruch der Bezie- heit sie (positiv) einschätzen konnten. hungen in die rechtsextremistische Nach dem Kenntnisstand zum Zeit- Szene, der möglicherweise von den punkt des Redaktionsschlusses dieses drei mutmaßlichen NSU-Mitglie- Beitrags waren nach 2001 nur mehr dern aus Gründen der Konspiration Holger Gerlach44, Andre und Susann vollzogen worden war, beinhaltete

43 Vgl. Das Desaster von Chemnitz, in: Der Spiegel Nr.1/2012 vom 2. Januar 2012, S.22. 44 Vgl. Doubletten für den Untergrund, in: Der Spiegel Nr.2/2012 vom 9. Januar 2012, S.36 ff. 45 Hans Leyendecker, Freundin in der Frühlingstraße, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. Januar 2012, S.6. 46 Tätowierter Totenkopf, in: Der Spiegel Nr.50/2011 vom 12. Dezember 2011, S.79. 47 Eminger und Dienelt waren angebunden an die »Weiße Bruderschaft Erzgebirge« im sächsischen Johanngeorgen- stadt, vgl. Claudia Wangerin, »Weiße Bruderschaft«, braune Seilschaften, in: junge Welt vom 16. Dezember 2011, S.5. Gerlach soll in zwei lokalen Kameradschaften in Hannover Mitglied gewesen sein, vgl. Andreas Speit, Terror-Helfer Holger G. packt aus, in: http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=a2&dig=2012 %2F01 %2F09 %2Fa0040 &cHash=ed12766239 vom 9. Januar 2012 (gelesen am 10. Februar 2012). 48 Doubletten für den Untergrund, in: Der Spiegel Nr.2/2012 vom 9. Januar 2012, S.37; Andreas Speit, Terror-Helfer Hol- ger G. packt aus, unter: http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=a2&dig=2012 %2F01 %2F09 %2Fa0040& cHash=ed12766239 vom 9. Januar 2012 (gelesen am 10. Februar 2011). 49 Vgl. Das Desaster von Chemnitz, in: Spiegel Nr.1/2012 vom 2. Januar 2012, S.18 ff. 356 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS? zudem ein für die bis dahin bekann- Die Mitglieder des NSU zeigten trotz ten rechtsterroristischen Gruppen der ausweislich des NSU-Werbevi- atypisches Merkmal. Alle diese deos eindeutig ideologisch motivier- Gruppen hatten in unterschiedlicher ten Taten aus bisher unbekannten Form versucht, den Kontakt zu Gründen keinerlei Interesse an einer Gesinnungsgenossen aufrechtzuer- Kommunikation mit der Szene. Die halten. Im Falle von in der Legalität einzige Ausnahme stellte ein vermut- lebenden Rechtsterroristen waren lich von Mundlos unter dem Pseudo- Szenekontakte und einschlägige Ak- nym »Uwe Unwohl« verfasster und tivitäten auch während der Planungs- im Oktober 1998 in dem Szene-Fan- phase von Anschlägen aufrechterhal- zine »White Supremacy« erschiene- ten worden (z.B. »Kameradschaft ner Artikel mit dem Titel »Gedanken Süd«). Aber auch die teilweise oder zur Szene« dar, in dem zu verstärk- ganz in der Illegalität lebenden tem politischem »Kampf« aufgerufen Rechtsterroristen hatten zumindest wurde.52 Dieser Artikel wurde aber über den publizistischen Weg An- weit vor dem ersten Mord des NSU schluss an die Szene gehalten. So hatte im September 2000 veröffentlicht Manfred Roeder während der Zeit und kann aufgrund der Zeichnung seines Auslandsaufenthaltes50 und durch »Uwe Unwohl« als Einzelper- später nach seiner heimlichen Rück- son nicht als Äußerung der Gruppe kehr in die Bundesrepublik über bewertet werden. Aus den ersten Jah- Rundbriefe seiner »Deutschen Bür- ren seiner Existenz, dem Jahr 2002, ist gerinitiative« (DBI) versucht, seine ein Werbebrief des NSU mit einer Anhänger ideologisch einzuschwö- Selbstdarstellung bekannt53, der aller- ren und die Gruppe strukturell auf- dings in der Szene keine Verbreitung rechtzuerhalten. Auch Walter Kexel fand (vgl. 4.7). Bei der Kommunika- und Odfried Hepp wandten sich tion mit Außenstehenden spielte das 1982 mit ihrer Schrift »Abschied vom Thema Politik – sowohl in allgemei- Hitlerismus« an die Szene, als sie be- ner Form als auch mit einer spezifi- reits Banküberfälle begangen hatten schen rechtsextremistischen Ausrich- und Sprengfallenanschläge auf US- tung – anscheinend keine Rolle. So Soldaten vorbereiteten.51 nahmen Bekanntschaften aus dem

50 Roeder war im Januar 1978 zunächst nach Südamerika geflohen, um sich der Verbüßung einer Haftstrafe zu entzie- hen. Im Herbst 1979 war er trotz eines bestehenden Haftbefehls heimlich nach Deutschland zurückgekehrt. Vgl. Ra- bert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, S.278. 51 Vgl. ebenda, S.293. 52 Vgl. In der Parallelwelt, in: Spiegel Nr.8/2012 vom 20. Februar 2012, S.62. 53 Hans Leyendecker, Werbebrief vom Killer, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Januar 2012, S.6. CHRISTIAN MENHORN 357

Urlaub das »Trio« als politisch desin- in Köln 2001 und 2004 war weder teressierte Personen54 wahr, die »nie eine unmittelbare noch mittelbare Er- eine extreme politische Meinung« 55 klärung der Taten ersichtlich. Eine äußerten. Dies scheint auch im Kon- solche wäre – wenn, wie im Fall der takt mit den wenigen ehemaligen Sze- NSU-Taten, keine Selbstbezichti- neangehörigen, die noch als regelmä- gung vorhanden war – nur dann gege- ßige Kontaktpersonen fungierten, ben gewesen, hätte man die Opfer der Fall gewesen zu sein. In den eher auch ohne intensive Deutungsbemü- belanglosen Unterhaltungen wurden hungen als Symbolfiguren bewerten politische Themen nahezu völlig aus- können. Aus den bisherigen Beob- geblendet.56 Gleiches galt für langjäh- achtungen früherer rechtsterroristi- rige direkte Nachbarn am letzten scher Anschläge und der Analyse ty- Wohnsitz des »Trios« in Zwickau57, pischer Feindbilder von Rechtsextre- ebenso wie für die Eltern Uwe Böhn- misten wären diesbezüglich drei hardts, die die drei Flüchtigen mehr- hauptsächliche Feindbilder und da- mals in einem Zeitraum von 1999 bis mit auch die potenzielle Zielrichtung 2002 konspirativ trafen58.Insofern vonAnschlägenzuerwartengewe- war nicht nur für die Sicherheitsbe- sen: herausgehobene Vertreter ethni- hörden, sondern auch für direkte scheroderreligiöserMinderheiten, Kontaktpersonen eine rechtsextremi- Repräsentanten des demokratischen stische Ausrichtung der drei Flüchti- Verfassungsstaates oder aber Ange- genabeinemgewissenZeitpunkt hörige ausländischer verbündeter nicht mehr erkennbar. Streitkräfte.

So war die antisemitische Ausrich- 4.4 Auswahl der Anschlagsziele tung des geplanten Anschlags von Angehörigen der »Kameradschaft Aus den Zielen der Mordanschläge Süd« auf die Grundsteinlegung des des NSU, neun Kleingewerbetrei- Neubaus der jüdischen Synagoge in bende türkischer bzw. griechischer München 2003 evident. Auch die Herkunft und eine deutsche Polizis- mutmaßlich Rechtsextremisten zu- tin, und der beiden Bombenanschläge zurechnende Ermordung des jüdi-

54 Hans Leyendecker, Die netten Camper von Fehmarn, unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/urlaubsfreunde- sprechen-ueber-zwickauer-terrorzelle-die-netten-camper-von-fehmarn-1.1243492 vom 23. Dezember 2011 (gelesen am 24. Dezember 2011). Auch Nachbarn, die jahrelang engere Kontakte vor allem zu Zschäpe unterhielten, teilten diesen Eindruck. Vgl. Andreas Förster, Das Leben unter den anderen, in: Berliner Zeitung vom 7. Februar 2012, S.3. 55 Urlauber fanden Terroristen »nett und höflich«, in: Focus Nr.52/1 2011/2012 vom 27. Dezember 2011, S.19. 56 So z.B. bei Max-Florian Burkhardt und Matthias Dienelt, die sich mit den drei Gesuchten über »Familie, Geld und Tat- toos« unterhielten. Vgl. Hans Leyendecker/Nicolas Richter, Im Leberwurstland, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Fe- bruar 2012, S.3. Gleiches scheint für Holger Gerlach gegolten zu haben, der 2005 dem »Trio«, als es Gerlach besuchte, erklärte, er sei aus der Szene ausgestiegen. Vgl. Andreas Speit., Terror-Helfer Holger G. packt aus, in: http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=a2&dig=2012 %2F01 %2F09 %2Fa0040&cHash=ed12766239 vom 9. Januar 2012 (gelesen am 10. Januar 2012). 57 Vgl. Wolf Schmidt, Die netten Mörder von Platz M80, in: die tageszeitung vom 7. April 2012, S.3; ebenso Nina Poel- chau u.a., Die Banalität der Bösen, in: Stern Nr.17 vom 19. April 2012, S.56 ff. 58 Vgl. John Goetz/Hans Leyendecker/Nicolas Richter, Unser Sohn, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. April 2012, S.3. 358 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS? schen Verlegers Shlomo Lewin und gestorben, nachdem die Täter das seiner Lebensgefährtin am 19. De- Objekt mit Molotow-Cocktails in zember 1980 in Erlangen war Indiz Brand gesetzt hatten.62 Auch die für eine antisemitische Motivation Brandanschläge auf von Ausländern deutscher Rechtsterroristen.59 Der betriebene Imbisse im Jahr 2003 Berliner Neonazi Ekkehard Weil ver- durch Angehörige des »Freikorps übte im Zeitraum von Februar bis Juli Havelland« entsprangen einer frem- 1982 fünf Sprengstoffanschläge auf denfeindlichen Ideologie und wiesen jüdische Wohnungen und Geschäfte zudem mit dem Ziel der Gruppe, in Wien und Salzburg60,darunterdie Ausländern die Existenzgrundlage zu Wohnung des jüdischen Publizisten nehmen, sie einzuschüchtern und Simon Wiesenthal61. Diese und an- letztlich zum Verlassen Deutschlands dere Beispiele rechtsterroristischer zu bewegen, eine deutliche strategi- Taten entsprangen genuin der natio- sche Komponente auf.63 nalsozialistischen Weltanschauung der Täter. Staatliche Stellen und Repräsen- tanten des »Systems« waren seitens Gezielte Anschläge mit fremden- rechtsterroristischer Gruppen zu- feindlicher Motivation gegen Aus- meist nur agitatorisch angegriffen länder waren seitens der »Deutschen worden. Manfred Roeder etwa hatte Aktionsgruppen« (DA) begangen in den Briefen seiner »Deutschen worden, dies allerdings nicht mit dem Bürgerinitiative« zwar immer wieder primären Ziel, Menschen zu töten. So den demokratischen Verfassungsstaat begingen Mitglieder der DA im Jahr diffamiert.64 Die Anschlagsziele der 1980 zwei Sprengstoff- und zwei später von ihm geleiteten »Deutschen Brandanschläge auf Ausländer- und Aktionsgruppen« konnten jedoch Asylbewerberunterkünfte in Zirn- nurinzweiFällenalsgegendasSys- dorf, Lörrach, Leinfelden und Ham- tem gerichtet verstanden werden; pri- burg. Bei dem Brandanschlag auf eine mär waren sie sogar antisemitisch Ausländerunterkunft in Hamburg konnotiert. Am 21. Februar 1980 ver- am 22. August 1980 waren zwei Viet- übten die DA einen Bombenanschlag namesen an ihren Brandverletzungen auf das Landratsamt Esslingen, wo zu

59 Der Tat verdächtig ist das ehemalige Mitglied der »Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann« Uwe Behrendt. Behrendt wurde vermutlich 1982 in einem Ausbildungslager der Fatah im Libanon von Gesinnungsgenossen ermordet. Der Leiter der »WSG Hoffmann« Karl-Heinz Hoffmann war 1984 deswegen wegen Anstiftung zum Mord zwar angeklagt worden, wurde aus Mangel an Beweisen aber in diesem Tatvorwurf freigesprochen. Vgl. Horchem, Die verlorene Re- volution, S.110. 60 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1982, S.124. 61 Vgl. Fahndung nach Nazi-Bomber Weil, in: Focus Nr.11/1999 vom 15. März 1999, S.16. 62 Vgl. Horchem, Die verlorene Revolution, S.109. 63 BGH, Mitteilung der Pressestelle Nr.36/2006 vom 9. März 2006, Urteile gegen fünf Mitglieder des »Freikorps Havel- land« rechtskräftig, in: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art= pm&Datum=2006&Seite=4&nr=35521&pos=142&anz=179 vom 9. März 2006 (gelesen am 10. Februar 2012). 64 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1977, S.37; Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1978, S.35. CHRISTIAN MENHORN 359 diesem Zeitpunkt eine Auschwitz- zisten und verletzte zwei weitere Ausstellung gezeigt wurde. Nachdem Polizeibeamte schwer, bevor er die Ausstellung nicht – wie von der Selbstmord beging. Schubert war ent- Gruppe beabsichtigt – abgebrochen deckt worden, als er zum wiederhol- wurde, brachten die DA am 18. April ten Mal Waffen über die Grenze 1980 am Wohnhaus des Landrats des schmuggeln wollte.67 Auch der Neo- Landkreises Esslingen einen zweiten nazi Kay Diesner, der am 19. Februar Sprengkörper zur Explosion.65 An- 1997 in Berlin einen Buchhändler der schlagsplanungen mit Sprengstoff ge- Berliner Landesgeschäftsstelle der gen öffentliche Gebäude, in Einzel- »Partei des Demokratischen Sozialis- fällen auch gegen Einzelpersonen des mus« (PDS) mit einer Pumpgun nie- öffentlichen Lebens, waren seit 1977 dergeschossen hatte, wollte seine in einigen anderen Fällen bekanntge- Flucht decken, als er am 23. Februar worden. So hatte eine Gruppe um den 1997 in Schleswig-Holstein bei einer Braunschweiger Neonazi Paul Otte Polizeikontrolle einen Beamten er- im September und Oktober 1977 schoss und einen weiteren schwer zwei Rohrbombenanschläge auf Jus- verletzte.68 Diese Taten konnten auf- tizgebäude in Flensburg und Hanno- grund der Umstände jedoch nicht als ver – als Racheakte für vorherige Ur- terroristische Taten bewertet werden. teile gegen Rechtsextremisten – durchgeführt und weitere gegen Eine spezifische Ausrichtung, die auf Repräsentanten des öffentlichen Le- denZeitraumzuBeginnder1980er bens geplant.66 Waren diese An- Jahre beschränkt war, besaßen die schläge immer auch mit einer gewis- Anschläge der Hepp-Kexel-Gruppe sen Symbolik behaftet, die sich mit gegen Vertreter der US-Armee in den angegriffenen Liegenschaften Deutschland, die aus der Ideologie oder Personen verband, so entspran- der Gruppe heraus resultierten und gen Angriffe auf Polizisten als un- auf dem starken Antiamerikanismus mittelbare Repräsentanten des Staates vor allem der beiden Protagonisten spontanen Situationen, in denen ein- und Namensgeber der Gruppe, Od- zelne Rechtsterroristen gestellt wur- fried Hepp und Walter Kexel, basier- den und verhaftet werden sollten. ten. So verstand sich die Gruppe als So erschoss der Neonazi Frank Schu- Teil einer weltweiten antiimperialisti- bert am 24. Dezember 1980 an der schen Bewegung, die den »Kampf ge- deutsch-schweizerischen Grenze ei- gendenAmerikanismus«–soinder nen Zollbeamten und einen Poli- Erklärung »Abschied vom Hitleris-

65 Vgl. Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, S.282 ff. 66 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1979, S.26; Carsten Hübner, Das Terrornetz- werk von Michael Kühnen kannte kein Erbarmen, in: Neues Deutschland Nr.287 vom 9. Dezember 2011, S.2. 67 Carsten Hübner, Das Terrornetzwerk von Michael Kühnen kannte kein Erbarmen, in: Neues Deutschland Nr.287 vom 9. Dezember 2011, S.2. 68 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1997, Bonn 1998, S.83; Focus Nr.10/1997 vom 3. März 1997, S.48. 360 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS? mus« – führen müsse.69 Kexel hatte müssen.71 Auch die gezielte Tötung bereits im August und Oktober 1982 der Polizeibeamtin in Heilbronn im Sprengstoffanschläge gegen amerika- Jahr 2007 durch die Mitglieder des nische Fahrzeuge verübt. Im Zusam- NSU war insofern nicht von vornhe- menwirken zwischen Kexel, Hepp rein als rechtsextremistische Tat aus- und weiteren Mitgliedern verübte die zuschließen. Die Gesamtumstände Gruppe im Dezember 1982 drei insbesondere des Modus Operandi Sprengstoffanschläge auf Fahrzeuge (siehe 4.5) als auch die aus dem der- von Angehörigen der US-Streitkräfte zeitigen Stand der Ermittlungen re- in Deutschland. Zwei der drei jeweils sultierende Annahme, die Tat habe unter den Fahrersitzen deponierten der Beschaffung der Dienstwaffen Bomben explodierten und fügten den der beiden Polizisten gegolten72,le- US-Soldaten schwerste Verletzungen gen aber den Schluss nahe, dass dies zu.70 nur eine theoretische Analyseoption für die Sicherheitsbehörden gewesen Diese Beispiele der Vergangenheit sein konnte. machten deutlich, dass die Ziele rechtsterroristischer Gruppen und Nicht ganz außer Acht gelassen wer- Einzeltäter in allen Fällen aus den dendurftenzudemAnschläge auf maßgeblichen rechtsextremistischen größere Menschenansammlungen, Ideologieelementen heraus erklärt die ausschließlich der Verbreitung werden konnten. Daher mussten von Angst und Schrecken dienen fremdenfeindlich motivierte Taten konnten. So hatte der Neonazi Gun- bei den Prognosen der Verfassungs- dolf Köhler als mutmaßlicher Einzel- schützer ebenso in Betracht gezogen täter am 26. September 1980 auf dem werden wie antisemitische und anti- Münchener Oktoberfest eine Bombe amerikanische Anschläge sowie An- gezündet, die ihn selbst und zwölf griffe gegen Repräsentanten des weitere Menschen tötete sowie Staates. Die Ermittlungen in der 211 Menschen zum Teil schwer ver- Ceska-Mordserie hätten somit auch letzte.73 Der Anschlag am 9.Juni 2004 die Möglichkeit einer rechtsextremi- in Köln mit einer Nagelbombe, die stischen Motivation berücksichtigen 22 Menschen verletzte und aller

69 Vgl. Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, S.291, 297. 70 Vgl. ebenda, S.293 f. 71 Nach Presseberichten soll die Soko Bosporus der Nürnberger Polizei, die von Mitte 2005 bis Anfang 2008 in der Mord- serie ermittelte, in zwei Profiling-Analysen einen rechtsextremistischen Hintergrund des bzw. der Täter für möglich gehalten haben. Vgl. Veronica Frenzel, Der Verdacht, in: http://www.tagespiegel.de/zeitung/der-verdacht/ 6016636.html vom 4. Januar 2012 (gelesen am 30. Januar 2012); Wolf Schmidt, Deutsch, rechts, Serientäter, in: die tageszeitung vom 21. April 2012, S.4. 72 Vgl. Hans Leyendecker, Ermittler finden Motiv für Polizistinnen-Mord, unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/ neue-erkenntnisse-zu-zwickauer-terrorzelle-ermittler-finden-motiv-fuer-polizistinnen-mord-von-heilbronn- 1.1243474 vom 24. Dezember 2011 (gelesen am 30. Januar 2012). Die gegenteilige Annahme des Mordes an der Poli- zistin als Beginn eines Feldzugs gegen Staatsdiener findet sich bei: Frank Jansen, Neue Theorie für Mord an Polizis- tin, unter: http://www.tagespiegel.de/politik/neue-theorie-fuer-mord-an-polizistin/6191964.html vom 10. Februar 2012 (gelesen am 10. Februar 2012). 73 Vgl. Horchem, Die verlorene Revolution, S.109. CHRISTIAN MENHORN 361

Wahrscheinlichkeit nach von Mund- Szene durchaus häufig vorhanden – los und Böhnhardt auf einem Fahrrad spielten hauptsächlich als Passivbe- deponiert worden war, wies insofern waffnung eine Rolle. Lediglich ein durch ihre von den Tätern unkalku- Mordanschlag mit mutmaßlich lierbare Wirkung einen ähnlichen rechtsextremistischem Hintergrund Modus Operandi wie der Anschlag – der Mord an dem jüdischen Verle- auf das Oktoberfest auf. Im Fall des ger Shlomo Lewin und dessen Le- Kölner Anschlags kam hinzu, dass bensgefährtin am 19. Dezember 1980 die Bombe in einer fast ausschließlich in Erlangen – wurde mit einer Schuss- von Menschen mit Migrationshinter- waffe begangen. Auch in zwei ande- grund bewohnten Straße explodierte, ren Fällen wurden Morde durch ei- was zumindest die Möglichkeit eines nen Rechtsextremisten mit einer fremdenfeindlichen Motivs der Tat Schusswaffe begangen. Diese Taten eröffnete. Dieser Ermittlungsansatz sind aber differenziert zu betrachten. scheint aber relativ bald als unwahr- So dürfte für den Neonazi Helmut scheinlich ausgeschlossen worden zu Oxner, der am 25. Juni 1982 in Nürn- sein. Die Ermittler gingen bereits im berg nach einem Streit in einer Juli 2004 davon aus, dass dem An- Diskothek zunächst zwei farbige US- schlag kein terroristischer Hinter- Amerikaner erschossen und eine Ko- grund zugrundelag.74 reanerin und einen türkischen Staats- angehörigen durch weitere Schüsse verletzt hatte, anschließend auf der 4.5 Modus Operandi (geplante Straße einen 21-jährigen Ägypter er- und gezielte Tötungen durch schoss und danach Selbstmord be- Schusswaffen) ging75, zwar rassistisch motivierter Ausländerhass eine Rolle bei seiner Bis zur Aufdeckung der Taten des Tat gespielt haben. Aufgrund der NSU hatten Rechtsextremisten mit Umstände ist dieses Gewaltverbre- Anschlägen vor allem gegen Einrich- chen aber nicht als geplante terroristi- tungen und Liegenschaften nur eine sche, sondern als Spontantat zu be- TötungvonMenscheninKauf werten. Auch die Erschießung zweier genommen, nicht aber gezielt und Beamter im Dezember 1980 durch geplant Einzelpersonen als An- den Neonazi Frank Schubert (vgl. schlagsziele gewählt. Das bevorzugte 4.4) kann nicht als terroristische Tat Tatmittel bei rechtsterroristischen gewertet werden, da Schubert sich Anschlägen waren selbstlaborierte dadurch einer drohenden Festnahme Sprengsätze. Schusswaffen – gleich- bei einer kriminellen Handlung ent- wohl in der rechtsextremistischen ziehen wollte.

74 Polizei nimmt zwei Verdächtige fest, unter: http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,308374,00.html vom 12. Juli 2004 (gelesen am 8. Februar 2012). 75 Vgl. Horchem, Die verlorene Revolution, S.111. 362 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS?

Aus diesen Beispielen, denen über- rend gewesen wären. So hatte die dies eine Vielzahl von Anschlägen mit Hepp-Kexel-Gruppe 1982 ihre gegen Sprengkörpern gegenüberstand, ließ die Präsenz der USA in Deutschland sich für die Sicherheitsbehörden kein gerichteten Anschläge zwar nicht im typischer Modus Operandi für direkten Tatzusammenhang erläutert, rechtsterroristische Taten herausle- aber mit ihrem nur wenige Monate sen. Obwohl als Konnex zwischen zuvor erschienenen Traktat in den den ansonsten scheinbar zusammen- Kontext eines »antiimperialistischen hanglos verübten Taten die Verwen- Kampfes« gesetzt. Zumindest in zwei dung derselben Waffe, einer tschechi- Fällen waren Anschläge der »Deut- schen Ceska vom Typ 83, diente, ließ schen Aktionsgruppen« – auf das die Begehungsweise der Taten des Landratsamt in Esslingen und das NSU – die Täter betraten die Ge- Privathaus des Landrats im Februar schäfte ihrer Opfer zu den üblichen und April 1980 – mit einem kurzen Ladenöffnungszeiten und richteten Bekenneranruf bzw. -schreiben be- ihre Opfer mit wenigen gezielten gründet worden.78 Schüssen ins Gesicht aus nächster Nähe hin – im Gegenteil durch ihre Andere rechtsterroristische Taten be- Brutalität und öffentliche Aufmerk- durften demgegenüber keiner separa- samkeit vermeidende Kaltblütigkeit ten Erklärung, sprach die Auswahl eher auf professionelle Täter aus dem der Ziele doch für sich selbst. Hätten kriminellen Milieu schließen.76 Anschläge auf US-Soldaten oder auf öffentliche Liegenschaften zu Beginn der 1980er Jahre durchaus auch aus 4.6 Fehlende Tatbekennungen linksextremistischer Motivation he- raus begangen worden sein können, Obwohl in der Vergangenheit Ideo- was ein Grund für die flankierende logien und Programmdiskussionen Erklärung von Hepp und Kexel so- für Rechtsterroristen eine deutlich wie die Bekennungen der »Deut- geringere Rolle als für linksextremi- schen Aktionsgruppen« gewesen sein stische Terroristen spielten77,gingen könnte, so mussten Taten wie der ge- die Sicherheitsbehörden – aus den Er- plante Anschlag auf die Grundstein- fahrungswerten der 1980er Jahre – legung des Neubaus der jüdischen davon aus, dass Rechtsterroristen Synagoge in München 2003 durch ihre Handlungen zumindest dann Angehörige der »Kameradschaft ideologisch rechtfertigen würden, Süd« fast zwingend rechtsextremisti- wenn die Taten durch die Auswahl schen Tätern zugerechnet werden. der Anschlagsziele nicht selbsterklä- Ähnliches galt auch für die Angriffe

76 Noch im August 2011 berichtete der Spiegel, dass »die Morde, so viel wissen die Ermittler, […] die Rechnung für Schulden aus kriminellen Geschäften oder die Rache an Abtrünnigen« gewesen seien. Vgl. Conny Neumann/And- reas Ulrich, Versteck in der Schweiz, in: Der Spiegel Nr. 34/2011 vom 22. August 2011, S.32. 77 Vgl. Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, S.263 ff., 270 ff. 78 Vgl. ebenda, S.283 f. CHRISTIAN MENHORN 363 der »Deutschen Aktionsgruppen« ginalsequenzen der Zeichentrickserie auf Asylbewerberheime und ebenso »Der rosarote Panther«, mit denen in für die Serie von Brandanschlägen auf Form einer episodenhaften Erzäh- von Ausländern geführte Imbisse lung die Taten der Ceska-Mordserie – durch Mitglieder des »Freikorps Ha- zum Teil mit Originalbildern der Op- velland«, denen ausweislich einer Sat- fer von den Tatorten – als »NSU- zung der Gruppe sowie aufgrund der Deutschlandtour« dargestellt wer- objektiven Tatumstände erkennbar den.80 Zwei vorherige Versionen des eine fremdenfeindliche Motivation Bekennervideos von März und Ok- zugrundelag.79 Insofern gab es durch- tober 2001, die nie veröffentlicht aus Möglichkeiten für die Sicher- wurden, thematisierten in deutlich heitsbehörden, einzelne terroristi- aggressiverer Aufmachung die bis da- sche Taten auch ohne zugehöriges hin begangenen Taten; die zweite Selbstbezichtigungsschreiben einem Version nannte die bis zu diesem tatsächlichen rechtsextremistischen Zeitpunkt vier ermordeten Opfer mit Kontext zuzuordnen. dem Zusatz »… weiß nun, wie ernst uns der Erhalt der deutschen Nation Diese Analysemöglichkeit bestand ist«. Diese Sequenzen waren unter- im Fall der Zwickauer Zelle nicht. legt mit Liedern der rechtsextremisti- Die Mitglieder der Gruppe hatten schenBand»NoieWerte«.81 sich bis zum November 2011 zu kei- ner der von ihnen mutmaßlich began- Die auf einer Computer-Festplatte in genen Taten aus dem Zeitraum von der ausgebrannten Wohnung in Zwi- 2000 bis 2007 bekannt. Dass sie selbst ckau aufgefundene Datei mit einem sowohl die Ceska-Mordserie als auch Werbebrief des NSU kann anders als den Polizistenmord in Heilbronn der eindeutige Videofilm nicht als und die beiden Bombenattentate in Tatbekennung bewertet werden. Er Köln 2001 und 2004 für erklärungs- enthält lediglich eine Selbstdarstel- bedürftig hielten, belegt das vermut- lung des NSU in allgemeiner Form lich im Jahr 2007 vorbereitete und und einen Verweis auf ein »anony- aufwendig gestaltete Werbevideo m(es) und unerkannt(es)« Agieren des »Nationalsozialistischen Unter- bei der »energischen Bekämpfung der grunds«, das allerdings erst nach dem Feinde des deutschen Volkes«82,nicht Suizid von Mundlos und Böhnhardt aber die Ankündigung konkreter Ak- vermutlich von Zschäpe im Umlauf tionen. Inhalt und Diktion des Brie- gebracht wurde. Das Video zeigt Ori- fes reihen sich damit nahtlos in die

79 Vgl. M. Lukaschewitsch, Elfköpfige Schülerbande unter Terrorismus-Verdacht, unter: http://www.welt.de/print-welt/ article335566/Elfkoepfige_Schuelerbande_unter_Terrorismus_Verdacht.html vom 21. August 2004 (gelesen am 10. Februar 2012). 80 Letzte Ausfahrt Eisenach, in: Der Spiegel Nr.46/2011 vom 14. November 2011, S.67 ff. 81 Vgl. Claudia Wangerin, »Weiße Bruderschaft«, braune Seilschaften, in: junge Welt vom 16. Dezember 2011, S.5; Christian Rath, »Erhalt der deutschen Nation«, unter: http://www.taz.de/!83725 vom 14. Dezember 2011 (gelesen am 9. Februar 2012). 82 Hans Leyendecker, Werbebrief vom Killer, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Januar 2012, S.6. 364 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS?

Vielzahl der von der rechtsextremisti- einen musste man davon ausgehen, schen Szene veröffentlichten, mit dass terroristische Aktionen zur Er- inhaltsleerem Pathos und realitätsfer- zielung eines einschüchternden Ef- nem Selbstbild der eigenen Bedeu- fekts zumindest bei den potenziell tung erfüllten Pamphlete ein. Aus von Anschlägen gefährdeten Opfer- diesem Grund hätte der Brief, selbst gruppen durchgeführt werden konn- wenn er den Sicherheitsbehörden ten. Die gezielten Bomben- und zeitnah bekanntgeworden wäre, Brandanschläge etwa der Hepp-Ke- nicht mehr als ein vages Indiz dienen xel-Gruppe auf US-Soldaten in können, von dem fraglich gewesen Deutschland oder des »Freikorps wäre,obesindenKontextderCeska- Havelland« auf ausländische Imbiss- Mordserie, der beiden Anschläge in betreiber dienten nach Intention ih- Köln und des Polizistenmordes in rer Initiatoren genau diesem Ziel, Heilbronn hätte gesetzt werden kön- durch die vermeintliche Wahllosig- nen. keit der Anschläge auf einzelne Angehörige der Zielgruppe einen sol- chen Effekt bei allen anderen Grup- 4.7 Fehlen eines strategischen penangehörigen zu erzielen. Zwei- Ziels tens war damit in etlichen Fällen auch die Absicht verbunden, durch die Bei der Darstellung der rechtsterro- Anschläge selbst, aber auch durch ristischen Gefährdungslage für das flankierende Taterklärungen eine Jahr 1998 war seitens des BfV explizit Werbewirkung für potenzielle Sym- das Fehlen einer »auf die aktuelle pathisanten innerhalb und außer- SituationinDeutschlandbezogenen halb der rechtsextremistischen Szene Strategie zur gewaltsamen Überwin- hervorzurufen. So luden Hepp und dung des Systems«83 als Grund für die Kexel mit ihrem Papier »Abschied Nichtexistenz einer rechtsterroristi- vom Hitlerismus« explizit sowohl schen Organisation aufgeführt wor- deutsche als auch »in der BRD den. Das Fehlen eines »politischen lebende, ausländische Antiimperialis- Konzept(s) für einen bewaffneten ten« ein, sich am »Kampf gegen den Kampf«84 war auch noch ein Jahr spä- Amerikanismus« zu beteiligen.85 Als ter konstatiert worden. Die Verfas- dritten Eckpunkt einer strategischen sungsschutzbehörden nahmen somit Zielsetzung mussten die Sicherheits- an, dass rechtsextremistischer Terro- behörden eine konkrete politische rismus strategische Ziele hätte verfol- Intention, die mit terroristischen gen müssen. Aus den Erkenntnissen Taten verbunden war, annehmen. der Vergangenheit bestanden solche So beabsichtigte die Hepp-Kexel- zumindest in dreierlei Hinsicht. Zum Gruppe, durch eine Vielzahl von An-

83 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1998, S.25. 84 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1999, S.25. 85 Ein Faksimile der Erklärung »Abschied vom Hitlerismus« findet sich in: Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, S.397 ff. CHRISTIAN MENHORN 365 schlägen gegen Angehörige der US- tivation zuzuweisen, hat es nicht ge- Streitkräfte die alliierten »Besatzer« geben. Ebensowenig sind Absichten zum Abzug aus Deutschland zu be- bekanntgeworden, die Mordtaten wegen. Die Mitglieder des »Freikorps und Anschläge für eine Rekrutierung Havelland« waren bei der Begehung von Sympathisanten oder gar neuen ihrer Taten von einer ähnlichen Ziel- NSU-Mitgliedern zu nutzen. Auch setzung, nämlich der Vertreibung der hierzu wären Tatbekennungen oder Ausländer zunächst aus dem Havel- eine andere Art der Kommunikation land und später aus ganz Deutsch- mit der rechtsextremistischen Szene land, motiviert gewesen.86 und der Öffentlichkeit notwendig ge- wesen. Das einzige Indiz dafür, dass Diese Kriterien, an denen sich die eine solche zumindest in der Zeit Sicherheitsbehörden anhand der his- nach den ersten Morden beabsichtigt torischen rechtsterroristischen Be- gewesen war, stellt der Entwurf des strebungen orientierten, wurden von NSU-Werbebriefes aus dem Jahr der Zwickauer NSU-Zelle in allen 2002 dar.87 In diesem findet sich eine drei Punkten nicht erfüllt. Für die Vorstellung der Gruppe als »neue Absicht einer Einschüchterung der politischeKraftimRingenumdie Zielgruppe türkischstämmiger Ge- Freiheit der deutschen Nation«. Auf- schäftsinhaber gibt es keine Anhalts- gaben des NSU seien die »energische punkte. Insbesondere das Fehlen von Bekämpfung der Feinde des deut- Tatbekennungen führte sogar dazu, schen Volkes« und die »bestmögliche dass die Mordserie der Jahre 2000 bis Unterstützung von Kameraden und 2006 von den Sicherheitsbehörden nationalen Organisationen«. Ein Pas- und den Medien dem kriminellen Mi- sus am Ende des Briefes legt nahe, lieu zugerechnet wurde. Dass die ent- dass die potenziellen Empfänger des sprechende Berichterstattung über Briefes finanziell unterstützt werden die Ceska-Morde von den drei NSU- sollten.88 Tatsächlich scheint der Brief Mitgliedern beobachtet wurde, ergibt – möglicherweise tatsächlich mit sich aus der Wiedergabe von Zei- einer beigefügten Spende – nur in ei- tungsartikeln und Fernsehbeiträgen nem einzigen Fall im selben Jahr an in dem im November 2011 versand- ein Szenemagazin mit dem Titel »Der ten NSU-Werbevideo. Versuche der Weiße Wolf« versandt worden zu Gruppe, die Fehleinschätzung der sein. Dessen Herausgeber bedankte Behörden und der Öffentlichkeit zu sich in der darauffolgenden Ausgabe berichtigen und der Mordserie ihre ihres Heftes in ihrem Vorwort mit ei- tatsächliche rechtsextremistische Mo- nem Satz, ohne weiter auf den Inhalt

86 BGH, Mitteilung der Pressestelle Nr.36/2006 vom 9. März 2006, Urteile gegen fünf Mitglieder des »Freikorps Havel- land« rechtskräftig. in: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art =pm&Datum= 2006&Seite=4&nr=35521&pos=142&anz=179 vom 9. März 2006 (gelesen am 10. Februar 2012). 87 Nach den Ermittlungsergebnissen war die Datei zuletzt am 5. März 2002 geändert worden. Vgl. Hans Leyendecker, Werbebrief vom Killer, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Januar 2012, S.6. 88 Vgl. ebenda. 366 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS? des Briefes einzugehen.89 Es liegen land lebenden Ausländern zu erzeu- auch sonst keine Hinweise darauf gen oder aber Nachahmungstaten zu vor, dass der Brief oder der NSU als initiieren. Eben dies ist, wie gerade Organisation in der Szene nähere Be- geschildert, nicht geschehen. Darü- achtung fanden oder dort diskutiert ber hinaus lassen die in der Wohnung wurden. Aus der Gesamtschau der in Zwickau asservierten Listen mit vorliegenden Erkenntnisse ergeben Namen potenzieller Anschlagsziele – sich somit nur wenige rudimentäre etwa Politiker, Vertreter von Sicher- Hinweise aus der Frühzeit der Exis- heitsbehörden, jüdische Einrichtun- tenz des NSU, dass die Gruppe ihre gen, Obdachlosenunterkünfte – auch Existenz oder ihre Taten öffentlich- andere Feindbilder erkennen.91 Der keits- und damit werbewirksam ver- in dem NSU-Brief genannte selbstge- breiten wollte. Zuletzt bleibt auch das stellte Auftrag der »Bekämpfung der von der Gruppe angestrebte politi- Feinde des deutschen Volkes« war sche Ziel vage. Hier bieten zumindest ebenfalls zu unkonkret formuliert, Sequenzen aus Vorversionen des um als realistisches strategisches Ziel letztlich 2007 fertiggestellten NSU- gelten zu können. Videofilms sowie die Auswahl der Opfer der Mordanschläge Hinweise. So finden sich in einer auf dem Com- 5. Zusammenfassung und puter in der Zwickauer Wohnung ge- Bewertung speicherten Filmsequenz Losungen wie »Der Ali muss weg« und »Mit- Ausgehend von den Merkmalen der streiter gesucht im Kampf gegen die Zwickauer Zelle, was die politischen Kanakenflut«.90 Zusammen mit der Biographien der Gruppenmitglieder, Tatsache, dass die Gruppe neun Op- die Gruppenstruktur, den Modus fer mit Migrationshintergrund er- Operandi und die Vermittlung der mordete, lässt sich hieraus zumindest Taten sowie die strategische Ziel- eine fremdenfeindliche Motivation setzung der terroristischen Aktivitä- herauslesen. Wenn das Ziel der An- ten anbelangt, muss anhand des schläge darin bestand, Ausländer Vergleiches mit früheren rechtsterro- zum Verlassen Deutschlands zu ristischen Gruppierungen von einem zwingen, hätte die Gruppe dies aller- bislang singulären Phänomen in der dings zeitnah öffentlich verlautbaren Geschichte des bundesdeutschen lassen müssen, um ein Klima der Ver- Rechtsextremismus ausgegangen wer- unsicherung unter den in Deutsch- den. Die Zahl der Opfer, deren

89 Vgl. Maik Baumgärtner/Sven Röbel, Wusste die Neonazi-Szene schon 2002 von den NSU-Morden?, in: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,824278,00.html vom 28. März 2012 (gelesen am 29. März 2012). Eine Verbindung zwischen der Danksagung an den NSU im »Weißen Wolf« und dem elektronischen Entwurf des NSU- Briefes zieht auch Hans Leyendecker, Das Heft in die Hand nehmen, in: Süddeutsche Zeitung vom 31. März 2012, S.5. 90 Vgl. Hans Leyendecker, Werbebrief vom Killer, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Januar 2012, S.6. 91 Vgl. Das Netz der Bösen, in: Der Spiegel Nr.47/2011 vom 21. November 2011, S.28; Frank Jansen, Von Anfang an, in: http://www.tagesspiegel.de/politik/von-anfang-an/5956412.html vom 13. Dezember 2011 (gelesen am 13. Dezem- ber 2011). CHRISTIAN MENHORN 367 gezielte und brutale Ermordung und können. Auf der anderen Seite aber die jahrelange Dauer des unerkann- widersprach das über den gesamten ten Lebens dreier Rechtsterroristen Tatzeitraum währende Schweigen der in der Illegalität sind die drei mar- NSU-Zelleebendiesenbeiden kanten Eckpunkte dieser Singularität. möglichen Zielsetzungen. Auch Diese Bewertung wird gestützt durch wenn die Verfassungsschutzdefini- die Tatsache, dass diese neue Dimen- tion des Begriffes93 die durch Öffent- sion des Rechtsterrorismus weder lichkeitswirksamkeit herzustellende von den Sicherheitsbehörden noch psychische Wirkung von Terrorismus von Fachjournalisten erkannt unterschlägt, ist als eines seiner wurde.92 Abgesehen von der bis da- wesentlichen Merkmale das Ziel der hin nicht beobachteten Kombination Verbreitung von Schrecken im ur- von spezifischen Merkmalen bei der sprünglichen Sinne des Wortes anzu- NSU-Zelle hinsichtlich politischer sehen.94 Dass die Taten des NSU dazu Sozialisation der Mitglieder, der geeignet gewesen wären, steht außer Struktur einer auch persönlich mit- Frage; die Kommunikationsstrategie einander verbundenen Kleinstgruppe der Zwickauer Zelle stand demgegen- und fehlender Anbindung an die über hierzu in diametralem Gegen- rechtsextremistische Szene waren es satz. vor allem zwei Phänomene, deren bisher nicht geklärte Widersprüch- Die neue Dimension des Rechtster- lichkeit eine Zuordnung der Taten zu rorismus, den der NSU mit diesen einem aus dem rechtsextremistischen beiden Merkmalen begründete, hat Spektrum stammenden Täterkreis dazu geführt, dass die Sicherheitsbe- nahezu unmöglich gemacht haben. hörden die zugrundeliegenden Mo- Auf der einen Seite standen die über tive für die Taten nicht erfassten und einen langen Zeitraum verübten damit auch den Kreis potenzieller Mordtaten an neun ausländischstäm- Verdächtiger nicht auf die mutmaßli- migen Opfern und einer deutschen chen Täter eingrenzen konnten. Dass Polizistin, die den Tätern allein we- die untergetauchten Rechtsextre- gen der Zahl der Opfer und der Bru- misten und ihre Taten durchaus talität der Tatausführungen sowohl ernsthafte Aufklärungsbemühungen für eine Einschüchterung der Opfer- erfuhren, belegt die inzwischen be- gruppen (Ausländer und Polizisten) kanntgewordene seinerzeitige inten- als auch für eine breite öffentliche In- sive Ermittlungstätigkeit von Poli- szenierung ihrer selbst hätten dienen zei und Verfassungsschutz: Die Ver-

92 Gleiches gilt übrigens auch für rechtsextremistische Aktivitäten besonders aufmerksam beobachtende linksextremi- stische Antifa-Gruppen. Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Fehler und Fehlwahrnehmungen des Verfassungsschutzes. Kri- tische Anmerkungen zu einigen Zerrbildern in den Medien, unter: http://www.endstation-rechts.de/index.php?op- tion=com_k2&view=item&id=6897:fehler-und-fehlwahrnehmungen-des-verfassungsschutzes- %E2 %80 %93-kriti- sche-anmerkungen-zu-einigen-zerrbildern-in-den-medien&Itemid=410 vom 10. Februar 2012 (gelesen am 10. Fe- bruar 2012). 93 Vgl. Fn. 9. 94 Vgl. Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, S.16 ff. 368 DER »NSU« – SINGULÄRES PHÄNOMEN IM RECHTSTERRORISMUS? fassungsschutzbehörden versuchten zei fahndete mit Sonderkommissio- auch ohne Wissen um die Verant- nen und Ermittlungsgruppen auf un- wortlichkeit der drei flüchtigen terschiedlichen Ebenen nach den Rechtsextremisten für die Morde, Mördern, ohne den rechtsextremisti- über einen langen Zeitraum deren schen Hintergrund der Taten zu ken- Aufenthaltsort zu ermitteln, die Poli- nen. 369

Besuch in einer salafistischen Moschee

Eine Reportage von ALBRECHT METZGER

Aachen, Brabantstraße Nummer 8. dem Fremden Angst, der hierher In einer ehemaligen Tanzschule un- kommt, und sie fragen sich, was er weit des Hauptbahnhofs treffen sich will.« rund vierzig junge Männer zum Fas- tenbrechen. Es ist Ramadan, der isla- Die Rahman-Moschee ist keine Mo- mische Fastenmonat. Wo früher schee wie jede andere. Wie sich im Paare im Walzertakt übers Parkett Laufe der Recherchen herausstellt, schwebten, befindet sich heute eine wird sie seit Jahren von mehreren Moschee. Das Gebäude ist unschein- Verfassungsschutzämtern beobach- bar, von außen ist es nicht als Gebets- tet. Sie haben hier Spitzel einge- haus zu erkennen: kein Minarett, schleust, weil man wissen will, was in keine Kuppel, nicht einmal ein Schild. der Rahman-Moschee passiert, was Obwohl die Rahman-Moschee mit- unter den Gläubigen geredet wird, ob ten in einem Wohngebiet liegt, verirrt sie für den Dschihad sind und was sie sich nie ein Nachbar hierher. Es ist über die deutsche Gesellschaft den- eine abgeschottete Welt, in der Ara- ken. Angeblich wird hier ein Islam bisch gesprochen wird, nur selten gepredigt, der das Potential hat, junge Deutsch. Männer zu radikalisieren.

Die jungen Männer kommen aus al- Am Anfang meiner Bemühungen, len Himmelsrichtungen der Erde: Zugang zur Rahman-Moschee zu be- Jordanien, Jemen, Irak, Libanon, kommen, stand ein Auftrag des Ham- Togo, Kamerun, Bosnien. Viele sind burger Magazins stern. Die Redak- Studenten an der Technischen Hoch- tion wollte eine Geschichte über das schule in Aachen. Die jungen Männer Innenleben einer Moschee haben. sind nicht abweisend, aber auch nicht Natürlich nicht irgendeiner Moschee. redselig. Deutschen Medien begegnet Ein Redakteur drückte das so aus: maninderRahman-Moscheemit »Am besten wäre natürlich, wenn am Vorbehalt. Kaum einer der Gläubigen Ende rauskommt: ›Oh, l`a, l`a, in deut- möchte offen ins Mikrofon sprechen. schen Moscheen geht es aber ganz »Die Leute sind an solche Besuche schön radikal zu.‹« Diese Haltung ist nicht gewöhnt«, sagt Abu Hafsa, nicht untypisch für deutsche Publi- zweiter Vorsitzender der Rahman- kumszeitschriften. Es sind einfach die Moschee. »Zum ersten Mal ist ein Regeln des Journalismus: Dschiha- Journalist in die Moschee gekommen. disten, die offen zum Heiligen Krieg aufrufen, sind interessanter als ein Außerdem haben sie das Gefühl, dass Imam, der von Versöhnung redet. So der Islam von den Medien angegrif- ist das eben. Gewalt, Sex und Radika- fen wird. Deswegen haben sie vor je- lismus verkaufen sich besser. 370 BESUCH IN EINER SALAFISTISCHEN MOSCHEE

So begab ich mich auf die Suche. sprache. Er bläut den Männern ein, Durch Zufall stieß ich auf die Rah- ihre Töchter zu verschleiern, das sei man-Moschee. besonders wichtig in einer unisla- mischen Gesellschaft wie dieser. Ein Bekannter von mir hatte Kon- Außerdem fordert er zu brüderli- takte nach Aachen und sagte, da gebe chem Verhalten auf. »Viele von euch es eine Moschee, wo es äußerst streng kennen sich gar nicht«, klagt er. »Be- zuginge. Mehr wusste er nicht. Die sucht euch, unterstützt euch gegen- Recherchen erwiesen sich als müh- seitig!« Zum Schluss wird es poli- sam. Per Google ließ sich nicht viel tisch: Scheich Omar wettert gegen über die Rahman-Moschee heraus- die Schiiten, die im Irak die Sunniten finden. Auch das Zeitungsarchiv gab abschlachteten und vom Westen da- nicht viel her. Also fragte ich beim bei unterstützt würden, um die Ein- Verfassungsschutz nach, wie es Jour- heit der Muslime zu schwächen. nalisten in solchen Fällen zu tun pfle- Nach Ende der Predigt kam ein gen. »Die Rahman-Moschee ist uns Herr mit langem Bart auf mich zu nicht unbekannt«, erklärte mir ein und fragte nach meinem Begehren. Mitarbeiter der Behörde am Telefon. Ich übergab ihm meine Visitenkarte Der Imam sei aufgefallen, weil er das und erklärte ihm, ich wolle eine Re- Paradies in den schönsten Farben be- portage über die Rahman-Moschee schrieben habe. Er habe jungen Män- schreiben. Die Moscheeleitung bat nern versprochen, sie würden dort sich einige Tage Bedenkzeit aus. Man schöne und gestählte Körper haben, müsse sich beraten. Die Beratung ohne etwas dafür tun zu müssen. verlief – zu meiner Überraschung – positiv: Die Moschee sei bereit, die Das klang nicht gerade sensationell. Tore für mich während des Ramadan Jedenfalls nicht nach Selbstmordat- zu öffnen. Eine Bedingung stellte tentätern. Wenn aber vom Paradies Scheich Omar jedoch: Fotos von die Rede ist, dann spitzen Verfas- Personen seien nicht erlaubt. Das sei sungsschützer die Ohren. Sie vermu- gegen die Scharia. Damit war die ten dahinter das Anliegen, junge Geschichte für den stern gestorben: Männer mental auf den Dschihad Ohne Fotos keine Reportage. Trotz- vorzubereiten. Der ja – im Falle des dem entschied ich mich, das Projekt Märtyrertodes – bekanntlich im Pa- weiterzuverfolgen. radies endet. Das also waren die spär- lichen Informationen, die ich hatte, Einige Wochen später kehrte ich in als ich das erste Mal die Rahman-Mo- die Rahman-Moschee zurück, um die schee betrat. letzten Tage des Fastenmonats mitzu- erleben. In dieser Zeit lernte ich mehr Ein Freitag im August 2007, zwei über das Denken und Fühlen streng- Uhr nachmittags. Scheich Omar Ba- gläubiger Muslime als in sieben Jah- kri Habou steht auf der Kanzel und ren Studium der Islamwissenschaft. predigt auf Arabisch, seiner Mutter- Als erstes verabredete ich mich mit ALBRECHT METZGER 371

ScheichOmarzueinemInterview. selbst herrschen«, sagt er. »Aber Gott Scheich Omar redet nicht gerne über sagt: Die Herrschaft gehört nur ihm! seine Vergangenheit. Er kommt aus Demokratie ist unislamisch. Unsere Aleppo, der zweitgrößten Stadt Syri- Rechtsgelehrten sagen, dass es verbo- ens. In den vergangenen Jahren hat ten ist, sich ins Parlament wählen zu sich Aleppo zu einer konservativen lassen, weil dort nicht die Gesetze Hochburg des Landes entwickelt. Gottes herrschen. Wenn du aber auf Kaum eine Frau wagt sich noch ohne die Gesetze schwörst und nicht daran Kopftuch auf die Straße. Das müsste glaubst, dann lügst du, dann verbirgst Scheich Omar eigentlich sehr entge- du etwas. Und das ist verboten im Is- genkommen. Trotzdem fühlt er sich lam.« in Deutschland wohler: »Ich bin Deutschland dankbar dafür, dass wir Das also ist die Theologie, die hier eine Moschee gründen durften«, Scheich Omar in Aachen unters Volk sagt er. »In Syrien könnte ich das bringt. Er versucht, streng nach den nicht, obwohl Syrien sich ein islami- Regeln des Korans und der Sunna zu sches Land nennt. Dafür danken wir leben. Mit der Sunna ist das vorbild- der deutschen Regierung und dem hafte Verhalten des Propheten Mo- deutschen Volk.« hammed gemeint. Es ist in zigtau- senden Berichten, die die Gefährten Abgesehen davon verbindet ihn je- Mohammeds aufgezeichnet haben, doch wenig mit der deutschen Gesell- festgehalten. Muslime, die sich buch- schaft. Seine Tochter schickt Scheich stabengetreu an den Koran und die Omar ins benachbarte Holland in die Sunna halten, nennt man Salafis. Un- Schule – wegen der Menschenrechte, ter den über drei Millionen Musli- wie er sagt: »Meine Tochter war auf ei- men in Deutschland gibt es gerade ner katholischen Schule. Als sie sieben mal 4.000 bis 5.000 Salafis, aber die wurde, sollte ich unterschreiben, dass Bewegung wächst. Vor zehn Jahren sieallesmitmachenmuss,wasinder waren es nur ein paar hundert. Die Schule gemacht wird. Ich habe mich Salafis nehmen für sich in Anspruch, geweigert. Ich habe sie jetzt nach Hol- den einzig wahren Islam zu vertre- land auf eine Schule gebracht. Es gibt ten. Das macht sie besonders intole- hier ein Gesetz, das das Tragen des rant, auch gegenüber anderen Musli- Kopftuches für meine Frau verbietet. men. Schon wer sich keinen Bart Der Koran schreibt mir aber dieses Ge- wachsen lässt, wie es laut Überliefe- bot vor. Die Deutschen verletzen ihre rung der Prophet getan hat, ist für eigenen Gesetze, mehr als wir Muslime die Salafis ein schlechter Muslim. selbst es tun.« Im Laufe meiner Recherchen stieß So die Sicht des Scheichs. Apropos ich auf einen brisanten Bericht über Gesetze: Was hält Scheich Omar von den Salafismus des Landeskriminal- der Demokratie? »Demokratie be- amtes Sachsen. Genauer gesagt: Der deutet, dass die Menschen über sich Mitarbeiter einer Sicherheitsbehörde 372 BESUCH IN EINER SALAFISTISCHEN MOSCHEE steckte mir diesen Bericht zu. Er Auch die Rahman-Moschee wird an meinte, das Thema müsse »dringend« einer Stelle in dem Bericht erwähnt. an die Öffentlichkeit gebracht wer- Sie soll eine Zweigstelle der Leipziger den, die salafistischen Netzwerke Moschee von Hassan Dabbagh sein. würden sich rasant ausbreiten. Die Moscheeleitung räumt ein, Kon- takte zu Hassan Dabbagh gehabt zu Zwar sind die Salafis laut dem Bericht haben, doch die seien eingeschlafen. erst seit wenigen Jahren in Deutsch- Vom gewaltbereiten Salafismus eines land aktiv, aber sie gewinnen an Zu- Osama bin Laden distanziert sich lauf. Auch wenn die meisten von ih- Scheich Omar hingegen eindeutig. Er nen friedlich sind, gibt es unter den halte sich an die hiesigen Gesetze, Salafis eine gewaltbereite Klientel. selbst wenn er die Demokratie im Zum Beispiel die Mitglieder der soge- Prinzip ablehne. Er rufe seine Ge- nannten Sauerland-Gruppe, die im meinde immer zur Besonnenheit auf: Herbst 2007 festgenommen wurden. »Als die schändlichen Karikaturen Sie hatten einen massiven Bombenan- veröffentlich wurden, habe ich der schlag auf amerikanische Einrichtun- Gemeinde gesagt: Brüder, bewahrt geninDeutschlandvorbereitet. die Ruhe, bewahrt die Ruhe! Wenn der Prophet Mohammed, Gott segne Dieser Bericht vom April 2007 trägt ihn und schenke ihm Heil!, beleidigt den nüchternen Titel: »Auswertebe- wird, darf nicht jeder auf eigene Faust richt Salafismus«. Verfasst wurde er losziehen und kämpfen. Dazu von einem Islamwissenschaftler des braucht man einen islamischen Staat, LKA Sachsen. Im Kern handelt er man braucht das Gesetz. Wenn sich von einem gewissen Hassan Dab- die Muslime in dieser Situation ruhig bagh. Er ist Imam an einer Moschee verhalten, dann werden die Men- in Leipzig und eine zentrale Figur in schen Sympathie für den Islam entwi- der salafistischen Szene in Deutsch- ckeln und so zum Glauben finden. land. Seine Verbindungen reichen Denn die Menschen sympathisieren nach Erkenntnissen der Sicherheits- immer mit den Schwachen.« behörden bis in gewaltbereite Kreise hinein, aber auch ins kriminelle Mi- Tatsächlich gibt es Salafis, die Leute lieu. Wirklich nachweisen konnte wie Scheich Omar als feige bezeich- man ihm bislang jedoch nichts. Je- nen. Sie wollen Taten: Der Islam sei denfalls stand er noch nie vor Ge- im Belagerungszustand, der Westen richt. Ungeachtet dessen kommt der wolle ihn in die Knie zwingen. Man Bericht zu dem Schluss: »Die Ver- müsse sich verteidigen. Der Dschihad breitung gewaltbereiter salafistischer sei in dieser Situation eine individu- Strukturen in Deutschland macht die elle Pflicht, die jeder Muslim zu erfül- Entstehung hausgemachter dschiha- len habe. Das ist die Ideologie von distischer Netzwerke wahrschein- al-Qaida. Die Mehrheit der Salafis lich.« weltweit denkt hingegen wie Scheich Omar: Sie halten den Dschihad der- ALBRECHT METZGER 373 zeit für keine gute Idee. Das steht Aachen gekommen und lernte auch in dem Bericht des LKA Sach- Deutsch.ErwolltenachdemEndedes sen. Allerdings: Der Übergang vom Sprachkurses an der Technischen friedlichen zum gewaltbereiten Sala- Hochschule in Aachen studieren. fismus sei fließend. Das ist der Musawargroßgewachsen,einschlan- Grund, warum die Sicherheitsbehör- ker Typ mit freundlichen Gesichtszü- den auch Moscheen wie die Rahman- gen. Moschee in Aachen im Auge behal- ten. In einer Gebetspause kam er auf mich zu: Er würde gerne mit mir reden, Ein junger Muslim, der sich heute an sagt er, aber er habe auch Angst davor. das Geduldsgebot von Scheich Omar Was, wenn ich ein Polizist sei, wenn hält, kann morgen schon ganz anders er etwas Falsches sage? Dann könne denken. Das liegt unter anderem an er des Landes verwiesen werden. den intensiven Gefühlen, die Religio- Überhaupt wunderte sich Musa, wa- nen auslösen können. Und mit eben rum ein Journalist in die Rahman- diesen Gefühlen spielen die Rekrutie- Moschee gekommen war: Denken rer von al-Qaida. Sie schüren die nicht alle Deutschen schlecht über Höllenängste junger Muslime, um ih- den Islam? nen anschließend die Lösung für ihre Probleme zu präsentieren: »Sterbt im Wir kamen doch ins Gespräch: Er er- Dschihad gegen die Feinde des Islam zählte von seinen Ängsten, den Ver- und euch steht das Paradies offen!« führungen in der Fremde zu erliegen. All die aufreizenden Frauen. Er hatte Es ist zwölf Uhr nachts, einige Gläu- Angst, Gottes Gebote zu verletzen. bige haben sich zum Gebet in der Für mich als aufgeklärten Menschen Moschee versammelt. Es sind die war diese unmittelbare Gottesfurcht letzten Tage vor dem Ende des Rama- etwas Fremdes, aber auch Faszinie- dan. In einer dieser Nächste ist laut rendes. Mit der Hölle konnte mich Überlieferung der Koran herabge- noch nie jemand schrecken, obwohl sandt worden. Jedes Gebet, das in der ichkeinAtheistbin. sogenannten »Nacht der Bestim- mung« verrichtet wird, ist tausend- Ein Vorbeter liest Suren aus dem Ko- mal so viel wert wie ein Gebet an je- ran vor. In der Sure ist von der All- dem anderen Tag. Das Gebet ist ein macht Gottes die Rede, von den Stra- zentraler Pfeiler im Glaubenskanon fen, die all jene zu erwarten haben, die des Islam. Es ist eine Pflicht, die jeder seine Gebote verletzen. Einige Gläu- so oft wie möglich erfüllen muss, bige fangen an zu schluchzen, wäh- wenn er ins Paradies kommen will. rend sie den Worten lauschen. »Seht ihr, wie sie weinen«, sagt Musa. »Sie Unter den Gläubigen war auch Musa, haben Angst vor der Strafe Gottes. ein junger Marokkaner, um die Sie haben Angst, etwas falsch zu ma- 20. Musa war vor einem Jahr nach chen und in der Hölle zu landen.« 374 BESUCH IN EINER SALAFISTISCHEN MOSCHEE

Die Begegnung mit Musa empfand dem 11. September waren die Mus- ich als tragisch. Er hatte offensicht- lime die Bösen. Gestern waren sie lich Interesse an seiner neuen Heimat. noch gut, heute sind sie alle schlecht, Gleichzeitig hatte er aber das Gefühl, wie kann das sein?« mit seinem Glauben nicht willkom- menzusein.Dassprachnichtgerade Abu Hafsa hat, ähnlich wie der junge für die Offenheit der deutschen Ge- Musa, wenig Kontakt mit der deut- sellschaft. Oder lag es doch an den schen Gesellschaft. Nach 17 Jahren Predigten, die er sich jeden Freitag spricht er kaum Deutsch. Imad, eine anhörte? Jene Predigt etwa, wie ich seiner Vertrauenspersonen in der sie von Scheich Omar am ersten Tag Moschee, ist da ganz anders. Er ist in gehört hatte, in der er die Gläubigen Marokko geboren, aber in Deutsch- dazu aufrief, ihre Töchter von der land aufgewachsen. Imad ist 30 Jahre deutschen Gesellschaft fernzuhalten? alt und hat eine aufwühlende Vergan- Ursache und Wirkung sind manch- genheit hinter sich. Deswegen mal schwer auseinanderzuhalten. möchte er seinen wirklichen Namen nicht nennen und auch nicht ins Mik- Auch Abu Hafsa ist Marokkaner. Er rofon sprechen. ist der Zweite Vorsitzende der Rah- man-Moschee. 1991 kam er nach Es war ein Autocrash, der Imad zum Deutschland, auf der Suche nach Ar- gläubigen Muslim machte. Als er am beit. Abu Hafsa ist auf den ersten Heiligen Abend 2000 sein Mercedes- Blick als strenggläubiger Muslim zu Cabriolet über die Autobahn Rich- erkennen: Er hat eine gehäkelte weiße tung Köln scheuchte, kam ihm ein Mütze auf dem Kopf, einen langen Lastwagen in die Quere und zerlegte schwarzen Bart, der ihn älter erschei- sein Gefährt in drei Teile. Imad über- nen lässt als er ist. Damit zieht er die lebte, außer einer Rippenprellung Aufmerksamkeit der Leute auf sich. trug sein kräftiger Körper keine Bles- suren davon. Ein Wunder. Seit dem 11. September 2001 sei das Klima sehr unfreundlich geworden. Ein göttliches? Er macht vor allem die Medien für die schwierige Lage des Muslime im Jedenfalls war das die Stunde, in der Westen verantwortlich. Imad seine Wiedergeburt erlebte. Beim Aufprall des Wagens brach es »Vor den Anschlägen vom 11. Sep- aus ihm heraus: »La Illaha illa Allah« tember haben die Muslime in Frieden –esgibtkeinenGottaußerGott. gelebt«, sagt Abu Hafsa, »alles war Das islamische Glaubensbekenntnis. normal. Man wurde früher nicht we- Imad spürte die Kraft seines Schöp- gen seines Äußeren angeguckt, wegen fers, zum ersten Mal im Leben, das ei- seiner Kleidung. Es gab keine Vor- gentlich schon zuende war. Er fuhr in würfegegendieMuslime,aberdie seine Wohnung nach Aachen, sam- Medien haben das geändert. Nach melte alles Bargeld zusammen und ALBRECHT METZGER 375 begab sich auf den Spendenpfad. das war’s. Die nötige Muskelmasse Imad wollte sich reinwaschen von baute Imad im Fitnessstudio auf, und den Sünden, die er in den Jahren zu- als ihm die Natur Grenzen setzte, be- vor angehäuft hatte. 13.000 Mark gann er, Anabolika zu schlucken. Bis schickte er anonym an UNICEF, heute hat er das Kreuz eines Möbel- 47.000 Mark nahm er mit nach Ma- packers. rokko und verteilte das Geld an die Armen. Auch seine Uhr von Cartier Alles hätte so weitergehen können, musste dran glauben, ein Symbol der wenn nicht dieser Vierzigtonner ge- Dekadenz, das auf Nimmerwiederse- kommen wäre und Imads Weltbild hen im Rhein verschwand. Dort rot- zerknautscht hätte. Was ist der Sinn tet sie vor sich hin, das Prachtstück im des Lebens? Warum bin ich hier? Als Wert von 15.000 Mark. Lude hatte er sich solche Fragen nie gestellt, Moral war etwas für Schlapp- Imads Reichtum stammte aus einem schwänze. Durch das Nahtoderlebnis Gewerbe, in dem die Geschäfte in bar änderte sich das komplett. Imad stand abgewickelt werden und sich nur vor dem Neubeginn und verspürte Männer mit Schlagkraft durchsetzen. das Bedürfnis nach Reinigung. Was Er war Zuhälter. Vierzehn Nutten lag da näher, als Zuflucht in der Reli- schafften für ihn in der Aachener In- gion zu suchen. nenstadt an, er kontrollierte die Bar »Tegale« am Hansemannplatz und Imad klapperte die Gotteshäuser in besaß ein Freudenhaus in der Antoni- Aachen ab und landete schließlich in usstraße 71. »Ich habe nie eine Frau der Rahman-Moschee. Warum hat geschlagen«, sagt er, »ich habe sie im- Imad ausgerechnet hier seinen See- mer gut behandelt. Wenn ich abends lenfrieden gefunden? Und ist er des- mein Geld abgeholt habe, habe ich wegen zu einer Gefahr für die deut- mich bei ihnen bedankt.« Ein richtig sche Gesellschaft geworden? netter Lude. Männer, die ihm ko- misch kamen, hatten jedoch schlechte Seit dem 11. September 2001 sind Karten. weltweitForschungsinstituteaus dem Boden geschossen, die sich mit nur ei- Das galt besonders für Leute, die ner Frage beschäftigen: Warum wer- glaubten, ihm sein Terrain streitig den junge Männer zu Terroristen? machen zu können. Jahrelang trai- »Homegrown Terrorism« heißt der nierte Imad bei einem stadtbekannten englische Fachbegriff für ein Phäno- Kickboxer, der Männer mit erhöhten men, das europäischen Sicherheitsbe- Testosteronwerten zu Kampfmaschi- hörden schlaflose Nächte bereitet. nen ausbildete. »Wir haben gelernt, Die politische Korrektheit verbietet einen Menschen mit zwei Tritten zum es, Klartext zu reden, aber letztlich Krüppel zu machen«, erzählt Imad: sind mit Homegrown Terrorists – frei Ein Tritt auf die Kniescheibe, der übersetzt »hausgemachte Terroris- zweite ins Gesicht des Gekrümmten, ten«–jungeMuslimegemeint,diehier 376 BESUCH IN EINER SALAFISTISCHEN MOSCHEE aufgewachsen sind und aus irgend- müssen, um über Nacht auf der rich- welchen Gründen einen derartigen tigen Seite zu stehen. Aus Böse wird Hass auf die westliche Gesellschaft Gut, aus dem Hurenbock ein Mora- entwickelt haben, dass sie bereit sind, list. Das Gefühl, die Wahrheit auf der zu lynchen und zu morden. Men- eigenen Seite zu haben – und damit schen wie Mohammed Bouyeiri, der letztlich Gott –, habe etwas »Ermäch- im November 2004 den holländi- tigendes«, so der amerikanische Is- schen Islamhasser Theo van Ghogh lamwissenschaftler Bernard Haykel. rituell abschlachtete und mit diesem Akt der Barbarei europaweit Schock- Es hat aber auch etwas Abgrenzen- wellen auslöste. Was trieb ihn an? des. Viele Salafis wollen mit der un- gläubigen Gesellschaft um sie herum Vor einigen Jahren veröffentlichte die nichts zu tun haben. Sie leben in Par- New Yorker Polizei einen For- allelwelten. Das ist nicht verboten. schungsbericht mit dem Titel »Radi- Die Abgrenzung kann allerdings calization in the West: The Home- dann zu einem Problem werden, grown Threat«. Darin vergleichen die wenn sie einhergeht mit dem Gefühl, Autoren die Radikalisierungspro- von Feinden umgeben zu sein, die zesse von hausgemachten Terroris- den Islam zerstören wollen. Anlass ten. Zwei Merkmale stechen dabei dafür gibt es genug, wenn man sich in hervor: Erstens vollziehen die jungen die Probleme hineinsteigert, die ei- Männer an einem bestimmten Punkt nem als Muslim in europäischen Ge- ihres Lebens einen radikalen Schnitt sellschaften begegnen können. Das mit der Vergangenheit und begeben fängt mit der alltäglichen Diskrimi- sich auf Identitätssuche. Auslöser für nierung an, die seit dem 11. Septem- diese Sinnkrise können verschiedene ber 2001 zweifellos zugenommen hat, Dinge sein: die Erfahrung von Aus- und endet bei weltpolitischen Kon- grenzung und Rassismus – real oder flikten, die sich leicht in das Freund- wahrgenommen –, der Verlust eines Feind-Schema der Salafis einordnen Jobs, der Tod von geliebten Men- lassen. Dazu gehört vor allem der schen, oder eben ein Unfall. Zweitens amerikanische Angriff auf den Irak landen sie bei der Identitätssuche ir- im Jahr 2003, der einen Radikalisie- gendwann bei einer bestimmten rungsschub unter Muslimen in Eu- Form des Islam, dem Salafismus. ropa verursacht hat. Also bei der Form des Islam, die der Prediger Omar Bakri Habou in der Längst nicht alle Salafis sind gewalt- Rahman-Moschee vertritt. tätig. Die meisten von ihnen konzen- trieren sich auf die Daawa, die islami- Für unsichere Seelen auf der Suche sche Mission. Doch Hochmut und nach Halt bietet der Salafismus eine Erniedrigung, Gefühle, die viele Sala- attraktive Lebensalternative: Er gibt fis gleichzeitig in sich tragen, können ihnen eindeutige moralische Parame- zu einer explosiven Mischung wer- ter an die Hand, die sie nur befolgen den, wenn junge Männer einmal zu ALBRECHT METZGER 377 der Überzeugung gelangt sind, die würde, würde ihnen gefallen. Trotz- Zeit sei gekommen, für den eigenen dem versuchte ich, fair zu sein: Ich Glauben in den Krieg zu ziehen. Der beschrieb das Problem des Salafismus Schritt zur Gewalt ist dann nicht aus der Perspektive der Sicherheits- mehr weit. Was ihn letztlich auslöst, behörden, die fließenden Übergänge darüber zerbrechen sich Experten vom friedlichen zum dschihadisti- weiter die Köpfe. Eines ist jedoch schen Salafismus. Ich erzählte Imads klar: Alle Täter, die in der Studie der Werdegang vom Zuhälter zum stren- New Yorker Polizei unter die Lupe gen Muslim, ausgelöst durch ein trau- genommen wurden, durchliefen ei- matisches Erlebnis. Ich zitierte die nen schleichenden Radikalisierungs- Studie der New Yorker Polizei, in der prozess, an dessen Anfang der Besuch beschrieben wird, wie junge Mus- einer salafistischen Moschee stand. lime, die ähnliche Brüche wie Imad erlebten, in den Terrorismus abgeglit- Imad passte in dieses Schema. Als ich ten waren. in ihn traf, war mir sofort klar: Das wird der Einstieg für meine Repor- Mein Fazit war aber eindeutig: tage. Seine Biographie bot genug Scheich Omar und die Rahman-Mo- Stoff für eine eigene Geschichte. schee verträten den friedlichen, nur Imad war redselig und betonte immer auf Mission ausgerichteten Salafis- wieder, er sei anders als die anderen in mus. Imad habe mit Selbstmordatten- der Rahman-Moschee, er sei offen. Er taten nichts im Sinn. Für mein Emp- hatte jedoch scheinbar unterschätzt, finden kam die Rahman-Moschee in dass Journalisten alles notieren, was der Reportage gut weg. Eine Moschee sie sehen und hören. Als wir eines Ta- zumal, die seit Jahren vom Verfas- ges durch die Aachener Innenstadt sungsschutz beobachtet wird und ei- liefen, küsste er zur Begrüßung eine nen Vorbeter engagiert, der sich ge- Bekannte auf die Wange. Eine kom- gen die Demokratie ausspricht. Die plett unerotische Handlung. Strenge Betroffenen sahen das jedoch ganz Salafis geben jedoch einer Frau noch anders. nicht einmal die Hand. Ich fand das positiv, weil das Imads liberale Ein- Wenige Tage nach Erscheinen der Re- stellung zeigte. Ihm gefiel es jedoch portage in der Wochenzeitung DIE gar nicht, als er das einige Wochen ZEIT greift Imad zum Telefon. Er ist später in der Zeitung las. empört. »Du hast mich als Terrorist dargestellt«, ruft er in den Hörer. Ich war mir dieses Problems bewusst. »Außerdem hast du meine Klamotten Ich steckte in einem Dilemma. Nach beschrieben, meine weiße Lederja- zehn Tagen hatte sich zwischen mir cke. Was soll das? Jetzt kann mich je- und einigen Moscheebesuchern – vor der erkennen. Die Jacke kann ich allenDingenImadundAbuHafsa– nicht mehr tragen. Außerdem weißt eine Art Vertrautheit entwickelt. du genau, dass ich keine fremde Frau Nicht alles, was ich über sie schreiben berührt habe. Du hast mich lächerlich 378 BESUCH IN EINER SALAFISTISCHEN MOSCHEE gemacht!« In den nächsten Tagen ruft Tatsächlich wird die Rahman- Imad noch mehrmals an und beklagt Moschee nur deshalb vom Verfas- sich, ich hätte ihn hintergangen. »Im- sungsschutz beobachtet, weil man mer müsst ihr uns als Terroristen hin- befürchtet, aus ihrem Milieu könnten stellen«, lautet sein Vorwurf. »Ich sich Extremisten rekrutieren. Kon- kenne deine Adresse«, sagt er am kret vorzuwerfen hat man ihr nichts. Telefon. Bedroht fühle ich mich den- So gesehen war es problematisch, die noch nicht, ich gebe sogar meine Moschee im Zusammenhang mit Ter- Bereitschaft zu erkennen, die Mo- rorismus zu erwähnen. In gewisser schee erneut zu besuchen, um meine Weise hatte ich die Rahman-Moschee Reportage vor den Gläubigen zu benutzt: Benutzt, um das Phänomen verteidigen. Das beeindruckt Imad des Salafismus in allen seinen Schat- offensichtlich, damit hat er nicht ge- tierungen zu beschreiben. Sie diente rechnet. »Aber jetzt ist keine gute als mein Anschauungsobjekt. Trotz- Zeit«, sagt er, »lass lieber ein wenig dem empfand ich die Kritik von Imad Gras drüber wachsen.« und Abu Hafsa als überzogen. Es wäre ein Leichtes für mich gewesen, Auch Abu Hafsa ist aufgebracht. »Ihr die Reportage schärfer zu schreiben. habt meine Glaubwürdigkeit infrage Ich hätte nur ein, zwei Fäden aufneh- gestellt«, sagt er. »Dann geht doch men und weiterspinnen müssen, und zum Geheimdienst und besorgt euch die Rahman-Moschee hätte sehr viel meine Akten, wenn ihr mir nicht schlechter dagestanden. Allein die glaubt!« Aussage von Scheich Omar zum Dschihad: Er sagte, die islamische Die Heftigkeit der Reaktion über- Welt sei derzeit schwach, deswegen raschte und verunsicherte mich. War müsse man Geduld haben und den Is- ich wirklich so unfair gewesen? Ich lam friedlich unters Volk bringen. rief einen Islamwissenschaftler bei ei- ner Sicherheitsbehörde an, der sich Im Umkehrschluss hieße das: Wenn seit Jahren mit dem Salafismus die islamische Welt stark wäre, würde beschäftigt, und bat ihn um seine sie sehr wohl ihren Glauben mit dem Meinung. Er hielt die Reportage für Schwert verbreiten. Ich stellte solche ausgewogen. Einschränkend sagte er Überlegungen gar nicht erst an, son- jedoch: »Du hast die Rahman-Mo- dern beschrieb Scheich Omar als schee im Zusammenhang mit Terro- friedlichen Salafi. rismus diskutiert. Ob du es willst oder nicht: Das wird der Moschee in Zudem stellte ich beim Überprüfen Zukunft anhaften, das wird sie nicht meiner Aufzeichnungen fest, dass ich mehr loswerden. Die Leute in der mich selbst zensiert hatte – zugunsten Moschee werden sich in ihrem Welt- von Abu Hafsa. Vielleicht wollte ich bild bestätigt fühlen, dass die deut- ihn vor sich selbst schützen? In unse- sche Gesellschaft gegen sie ist.« rem letzten Gespräch hatte er näm- ALBRECHT METZGER 379 lich eine krude antisemitische Welt- Seitdem sind einige Jahre vergangen. verschwörungstheorie entworfen: Ich habe den Kontakt zur Rahman- Die Juden würden die Welt beherr- Moschee verloren, inzwischen gibt es schen, Christen seien genauso ihre sie nicht mehr. Aber irgendwann rief Opfer wie die Muslime. Ich hatte das mich Imad an und fragte mich, wie es zwar in meiner Reportage erwähnt, mir ginge. Er und seine Familien seien die härtesten Aussagen aber wegge- wohlauf, er gehe weiter in die Mo- lassen. Außerdem bezeichnete Abu schee. Trotz allem fand er mich wohl Hafsa den Holocaust als »Märchen«. doch noch sympathisch und hatte In- Auch das ließ ich weg. Die Leugnung teresse an einem Gedankenaustausch. des Massenmordes an den Juden ist in Ich werde ihn demnächst besuchen Deutschland immerhin strafbar. und ihn fragen, was er sich damals ei- Kann eine Moscheeleitung in gentlich von mir erwartet hatte. Eines Deutschland ernsthaft erwarten, po- ist jedoch sicher: Sollte Imad weiter- sitiv dargestellt zu werden, wenn sie hin ein Salafi sein, so gehört er nicht solche Aussagen von sich gibt? Bis zu denjenigen, die sich komplett von heute weiß ich nicht, warum die Rah- der »ungläubigen« Gesellschaft ab- man-Moschee mich hereingelassen schotten. Sonst hätte er mich nach all hat. Am Ende unseres Telefonates denJahrenbestimmtnichtangerufen. fragte ich Abu Hafsa, ob ich wieder- kehren könne. Zu meiner Überra- schung sagte er: »Ahlan wa sahlan.« Herzlich willkommen!

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Deradikalisierung und Ausstieg aus dem islamistischen Extremismus – eine Illusion?

BENNO KÖPFER

Vorbemerkungen einsverbote, Frauen im Niqab, bär- tige Männer in merkwürdiger Klei- Spätestens nach den Anschlägen vom dung prägen hier die Berichterstat- 7. Juli 2005 in London stellte sich tung. Seit dem Frühjahr 2012 ist diese nicht nur Sicherheitsbehörden die radikale und extremistische Form als Frage, wie man den Gefahren des so- Salafismus nicht mehr nur einem klei- genannten »homegrown terrorism« nenKreisvonExperten,sondernei- begegnet. Mit dem Begriff »hausge- ner breiten Öffentlichkeit bekannt. machter Terrorismus« beschreiben Sicherheitsbehörden in den letzten Das Landesamt für Verfassungs- Jahren jene jihadistisch motivierten schutz Baden-Württemberg widmet Gewaltakte, deren Urheber, Unter- in seinen Jahresberichten seit 2004 stützer und Propagandisten nicht diesem Phänomen breiten Raum. Im mehr nur aus islamisch geprägten Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeit Ländern stammen oder Nachkom- machten und machen die Mitarbeite- men muslimischer Immigranten sind, rinnen und Mitarbeiter auf die Ge- sondern etwa als Fritz, Daniel, fahren und das Radikalisierungspo- Danny, Roman, Ahmet, Bünyamin, tential dieser Strömung aufmerksam. Monir oder Luisa und Filiz in Da salafistische Vorstellungen und Deutschland aufgewachsen und zur gewaltlegitimierende Propaganda sa- Schule gegangen sind. lafistischer Ideologen in jiahdistische Anschläge münden können, ergriffen Es sind zum größten Teil deutsche Sicherheitsbehörden die bekannten Staatsangehörige, Jugendliche, die Maßnahmen wie Beobachtung durch zum Islam konvertierten oder als ge- den Verfassungsschutz, strafrechtli- bürtige Muslime für sich eine neue, che Ermittlungen und Maßnahmen attraktivere Form des Islam entdeck- der Gefahrenabwehr, Vereinsverbote, ten, die mit den traditionellen soge- ausländerrechtliche Konsequenzen nannten volksislamischen Formen usw. ihrer Eltern brechen und in deutscher Sprache einen vermeintlich reinen, ursprünglichen Islam propagieren. Es Prävention und Deradikalisie- handelt sich hierbei um einen Islam, rung als neue Aufgaben der sich am Vorbild der ehrbaren Vor- fahren (arab. as-Salaf as-S¯alih), den Inzwischen hat sich aber die Er- Prophetengefährten, orientiert. Ko- kenntnis durchgesetzt, dass dies nur ranverteilaktionen, Razzien und Ver- ein Teil jener Schritte sein kann, mit 382 DERADIKALISIERUNG UND AUSSTIEG AUS DEM ISLAMISTISCHEN EXTREMISMUS – EINE ILLUSION? denen man diesen Entwicklungen be- ohne dass dies sichtbare Ergebnisse gegnen sollte.1 2008 wurde von ver- gehabt hätte.«3 schiedenen Seiten in der öffentlichen Diskussion und von Seiten der Poli- Dabei lassen sich die Bemühungen tik die Notwendigkeit weiterreichen- und Überlegungen der verschiedenen der Schritte im Bereich der Präven- Sicherheitsbehörden auf diesem Feld tion gefordert. In der Folge wurde im sehr leicht auf der Internetseite der Dezember 2009 in Berlin die AG »Initative Sicherheitspartnerschaft« Deradikalisierung im Gemeinsamen nachlesen.4 Dies mögen vielleicht Terrorismusabwehrzentrum einge- nicht die erwarteten sichtbaren Er- richtet. Diese AG richtet ihren gebnisse sein, die manche Kritiker Schwerpunkt auf den Erfahrungs- staatlicher Präventionsprojekte ein- und Informationsaustausch über fordern oder erwarten. Denn der »good practices« sicherheitspoli- Journalist Wolf Schmidt fordert hier tischer Maßnahmen und Handlungs- völlig zu Recht: ansätze zur Bekämpfung von Radika- lisierungen im islamischen Milieu.2 »Was wir brauchen, ist aber keine rein sicherheitspolitische Lösung von Der Ruf nach Prävention und Dera- oben, sondern eine Einmischung von dikalisierung erreichte damit als For- unten. Natürlich müssen Polizei und derung die Sicherheitsbehörden, hier Geheimdienste ihre Arbeit machen neue Aufgaben bei der Bekämpfung und die Bevölkerung vor Anschlägen gewaltorientierter islamistischer Ak- schützen. Doch einer Radikalisierung teure zu übernehmen. In der öffentli- von jungen Menschen vorzubeugen chen Wahrnehmung sind diese Über- kann nicht auch noch allein ihre Auf- legungen aber offenkundig noch gabe sein.«5 nicht im erforderlichen Maße ange- kommen, wenn z.B. Guido Steinberg So zahlreich inzwischen Studien und in einem Interview am 19. Juli 2012 Veröffentlichungen zu Radikalisie- formuliert: rungsverläufen und -faktoren sind, so wenig Erfahrung gibt es in Deutsch- »Es gibt beim Gemeinsamen Terroris- land mit dem Ausstieg aus dem mili- mus-Abwehrzentrum von Bund und tanten Islamismus oder einer aktiven Ländern die Arbeitsgemeinschaft De- Deradikalisierung. Eine erste veröf- radikalisierung, die seit Jahren tagt, fentlichte Begriffsbestimmung macht

1 Vgl. Wolf Schmidt, Jung Deutsch Taliban, Berlin 2012, S.164. 2 http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Standardartikel/DE/Themen/Sicherheit/Extremismus/islamismuspraeven- tion.html?nn=1869550 sowie http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Standardartikel/DE/Themen/Sicherheit/Terroris- mus/GTAZ.html;jsessionid=547B3750F8A326D34F6BC522CA0E0E2A.2_cid239?nn=1869550 (gelesen am 28. Juli 2012). 3 http://www.fr-online.de/rhein-main/islam-experte-guido-steinberg-wir-brauchen-aussteiger-,1472796,16654988.html (gelesen am 29. Juli 2012). 4 http://www.initiative-sicherheitspartnerschaft.de/SPS/DE/Startseite/startseite-node.html. 5 Wolf Schmidt a. a. O. S.182. BENNO KÖPFER 383 deutlich, dass hier noch immer Ab- cherheitsbehörden / anderen staatli- stimmungs- und Diskussionsbedarf chen Behörden und nichtstaatlichen besteht: Einrichtungen unerlässlich. Weiterhin ist es zwingend notwendig, dass De- Deradikalisierung ist einerseits ein in- radikalisierungsmaßnahmen von ge- dividueller Prozess, bei dem eine ra- schultem und erfahrenem Personal dikalisierte Person ihr Bekenntnis durchgeführt werden.6 und Engagement für extremistische Denk- und Handlungsweisen, ins- Diese Begriffsbestimmung und der besondere die Befürwortung von Stufenplan machen bereits die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele, Schwierigkeiten bei diesem Vorhaben aufgibt. Andererseits beschreibt deutlich. Wann ist Deradikalisierung Deradikalisierung Maßnahmen, die erfolgreich, wer soll diese Maßnah- darauf abzielen, Personen oder Grup- men durchführen? Und an dieser pen dazu zu bewegen und zu unter- Stelle ungeklärt ist die Frage, über stützen, sich aus dem extremistischen welche Personengruppe sprechen Umfeld herauszulösen und extremi- wir, wer ist die konkrete Zielgruppe? stische Handlungen aufzugeben (Dis- Gilt noch immer, was Markus Weh- engagement) sowie entsprechende ner am 27. Juli 2010 schrieb? Denkweisen abzulegen. »Wie bringt man islamistische Ge- Deradikalisierung kann in mehrere walttäter auf den Pfad der Tugend? Stufen eingeteilt werden: Der Verfassungsschutz weiß es nicht, • Stufe 1 zielt auf Gewaltverzicht startet aber ein Programm. Ein Repa- ab raturbetrieb für die Versäumnisse in • Stufe 2 zielt auf Gewaltverzicht der Integrationspolitik?«7 sowie die Unterlassung von Un- terstützungshandlungen für ex- tremistische Bestrebungen ab Radikalisierungsprozesse • Stufe 3 zielt auf Gewaltverzicht, Unterlassung von Unterstüt- Die Erkenntnisse über Radikali- zungshandlungen sowie die Ak- sierungsprozesse und deren Protago- zeptanz der herrschenden Rechts- nisten im Bereich des jihadistisch mo- normen ab tivierten Terrorismus haben in den vergangenen Jahren erheblich zuge- nommen. Beispielhaft gilt hier die Zur erfolgreichen Umsetzung von vielzitierte Studie des New York Po- Deradikalisierungsmaßnahmen ist lice Department (NYPD) von 2007.8 die Zusammenarbeit zwischen Si- Im Bereich der Deradikalisierung

6 http://www.bamf.de/SPS/DE/Service/Left/Glossary/_function/glossar.html?lv2=2508546&lv3=2545466 (gelesen am 16. Juli 2012). 7 Markus Wehner, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/islamisten-alle-aussteigen-bitte-11010216.html. 8 http://www.nypdshield.org/public/SiteFiles/documents/NYPD_Report-Radicalization_in_the_West.pdf. 384 DERADIKALISIERUNG UND AUSSTIEG AUS DEM ISLAMISTISCHEN EXTREMISMUS – EINE ILLUSION? sind deutschsprachige Veröffentli- dem es viele weitere Komponenten chungen aber noch rar. Man ist vor neben den ideologischen zu beachten allem auf die Forschungen von gilt.10 Thinktanks in den Vereinigten Staa- ten oder Großbritannien angewie- Brynjar Lias »Architect of Global Ji- sen.9 Für Deutschland bedeutet dies, had« zählt sicher zu den bedeutends- dass man diese Forschungen zu- ten jüngeren Veröffentlichungen und nächst zur Kenntnis nehmen muss beschreibt die Veränderungen und und, wenn möglich, deren Übertrag- Entwicklungen in jihadistischen barkeit auf hiesige lokale Gegeben- Strömungen und Gruppierungen am heiten zu prüfen haben wird. Im Beispiel der Biographie eines der ein- Sinne einer »best practice« sollten wir flussreichsten Ideologen des Jihadis- hier lernen. Denn was in den Nieder- mus: Abu Musab al-Suri.11 landen, Dänemark oder Großbritan- nien funktionierte, kann möglicher- Die jüngsten Entwicklungen – Er- weise auch in Deutschland helfen, kenntnisse aus laufenden Strafpro- Radikalisierungstendenzen im Um- zessen und Ermittlungen – sind in feld jihadistischer Popkultur und weiten Teilen eine Bestätigung der Propaganda einzudämmen. von Abu Musab al-Suri vorhergesag- ten und geforderten Veränderungen jihadistischer Strategien und Organi- Radikalisierungsfaktoren sationsformen, die sich kurz als eine Theorie von dezentral agierenden un- Vor Deradikalisierungsüberlegungen abhängigen Zellen ohne feste Basis stellen sich die Fragen nach der Rele- oder nachweisbare organisatorische vanz von Ideologie und der mög- Verbindungen beschreiben lässt. lichen Auseinandersetzung mit ent- sprechenden gewaltlegitimierenden Im Mittelpunkt steht nun die Idee, Narratives (Erzählungen), die in Tex- die bei jeder Form von Radikalisie- ten, Jihadhymnen (nasheeds) und rung implementiert wird, dass man, Bildern verbreitet werden. Es gilt egal wo, sich am bewaffneten Jihad zu hier, einen regelrechten »Motivati- beteiligen habe. So war es etwa für die onscocktail« zu berücksichtigen, in Mitglieder der sogenannten Sauer-

9 Deradicalizing Islamist Extremists by Angel Rabasa, Stacie L. Pettyjohn, Jeremy J. Ghez, Christopher Boucek, RAND Corporation 2010 als pdf unter: http://www.rand.org/pubs/monographs/MG1053.html oder Peter Neumann u.a.: Pri- sons and Terrorism Radicalisation and De-radicalisation in 15 Countries. ICSR 2010, als pdf: http://icsr.info/publicati- ons/papers/1277699166PrisonsandTerrorismRadicalisationandDeradicalisationin15Countries.pdf; von Laurie Fens- termacher u.a. Current Multi-Disciplinary Perspectives on Root Causes, the Role of Ideology, and Programs for Coun- ter-radicalization and Disengagement 2010, als pdf unter: http://www.start.umd.edu/start/publications/U_Counter_ Terrorism_White_Paper_Final_January_2010.pdf; Laurie Fenstermacher Countering Violent Extremism. Scientific Methods & Strategies. September 2011. Als pdf unter http://www.icst.psu.edu/docs/U_Counter_Violent_Extre- mism_Final_Approved_for_Public_Release_28Oct11.pdf. 10 Vgl. Clark McCauley/Sophia Moskalenko: Mechanismen der Radikalisierung von Individuen und Gruppen, in Der Bürger im Staat, Radikalisierung und Terrorismus im Westen. Heft 4-2011, S.219–224. 11 Lia, Brynjar: Architect of Global Jihad. The Life of Al-Qaida Strategist Abu Mus’ab al-Suri. New York 2008. BENNO KÖPFER 385 land-Gruppe nach eigenen Aussagen Islam«,13 wo der Jihad bezeichnen- unerheblich, wo sie kämpfen würden. derweise im Kapitel »Grundbedürf- Tschetschenien, Irak oder Afghanis- nisse des Menschen auf der Erde« tan kamen gleichermaßen in Frage. (S.22 ff.) abgehandelt wird. Der Auch die Organisation oder Vereini- Kampf für die Sache Allahs wird zur gung, der man sich anschloss, spielte Pflicht für gläubige Muslime erklärt. kaum eine Rolle – wichtig war aber, dass sie für den bewaffneten Jihad »Allah macht den Kampf für seine Sa- eintritt. che, zu einer belohnten Handlung, an die die Muslime glauben und die sie Die Doktrin von al-Suri »nizam la praktizieren. Tatsächlichist der Gihad tanzim« (»System, nicht Organisa- als der ›Höcker‹ des Kamels tion”) machte aus al-Qaida mehr als betrachtet, die höchste Stelle des Ka- eine Organisation. Neben einer ter- melkörpers, und genauso sollte dies für roristischen Gruppe mit den bekann- den Muslim gelten. (…) Gihad wurde ten Personen wurde im Laufe der schon früher eingeführt – Allah weiß letzten Jahre aus ihr auch ein Ruf, es am besten – weil die Mentaltitäten eine Referenz und Methode eines der Menschen überall auf der Erde globalen Jihad, wie etwa Lawrence streitsüchtig sind. Darüberhinaus Wright schrieb.12 existieren das Gute und das Böse in al- len Gesellschaften immer nebenein- ander in der Geschichte. Deshalb Salafismus wurde der Gihad eingeführt und fest- gelegt, um Tyrannei zu beseitigen und Wie sehr diese im Salafismus gegrün- tyrannische Herrscher zu entfernen, deten Ideen eines gewaltsamen die von Allahs Weg und dem Lebens- Kampfes verbreitet sind, zeigt sich kodex, den Er dem Menschen zur etwa an der Vielzahl von YouTube- Pflicht gemacht hat, abweichen.« Videos aber auch Schriften jihadis- tischer Ideologen, die auch hier in Die Bundesprüfstelle für jugendge- Baden-Württemberg in deutscher fährdende Medien schrieb daher in Sprache Verbreitung fanden. Man der Entscheidung: kann hier leicht eine Popularisierung des Jihadgedankens erkennen. Jüngs- »Die Broschüre wird nicht wegen des ter Beleg ist etwa der Inhalt der in- religiösen Inhalts indiziert, sondern zwischen indizierten Schrift »Miss- wegen nicht im Ansatz akzeptabler verständnisse über Menschrechte im sozialethisch desorientierender Ausle-

12 Lawrence Wright, The Master Plan: For the New Theorists of Jihad, Al Qaeda is Just the Beginning, The New Yorker, 11. September 2006, S.50. 13 Vgl. Bekanntmachung Nr.6/2012 über jugendgefährdende Trägermedien vom 21. Juni 2012, https://www.bundesanzeiger.de/ebanzwww/contentloader?state.action=genericsearch_loadpublicationpdf&ses- sion.sessionid=f66ede2d0d587d0198fd89cd60d4c0ae&fts_search_list.destHistoryId=06629&fts_search_list.selec- ted=afc6952fa4150c17&state.filename=BAnz %20AT %2029.06.2012 %20B8 (gelesen am 29. Juli 2012). 386 DERADIKALISIERUNG UND AUSSTIEG AUS DEM ISLAMISTISCHEN EXTREMISMUS – EINE ILLUSION? gungen und Aussagen im Hinblick nicht Jihad sagen, ist weil dies die auf die Aufforderung zur Teilnahme Worte des Qur’aan sind.« 15 am gewalttätigen Dschihad und hinsichtlich der propagierten Gewalt »Daher ist der einzige Weg um zum gegenüber vom Islam Abtrünniger, Deen zurückzukehren, zum Jihad fi wegen der Propagierung eines Straf- Sabeelillah zurückzukehren; daher systems, das in eklatanter Weise die entspricht der Jihad gleich Religion. Menschenwürde der Täter negiert Das ist also die Lösung; die Lösung und wegen eines diskriminierenden für die Ummah ist zum Jihad fi Sa- Frauenbildes.«14 beelillah zurückzukehren.«16

Diese Würdigung einer Schrift, die in Wir sehen uns daher einer wachsen- deutscher Sprache aus Saudi-Arabien den einheimischen Bedrohung mit ei- im Internet und als Broschüre auf In- nem veränderten Muster gegenüber. fotischen, auch in Baden-Württem- Da die Popularität dieser Jihad-Ideen berg, vertrieben wird, macht deutlich, bereits sehr junge Menschen erreicht wo erste Ansätze einer Radikalisie- hat und Konvertiten direkt den Islam rung auftreten. in jihadistischen Zirkeln annehmen, muss neben der strafrechtlichen Ver- Diese salafistischen Erbauungsschrif- folgung der Täter ein viel breiterer ten können daher als Hinführung zu Ansatz zur Deradikalisierung der be- entsprechenden bekannten Jihadide- troffenen Personen und zur Dekon- ologen gelesen werden. Dies wird struktion dieser zerstörerischen beispielsweise deutlich, wenn Schrif- Ideen gefunden werden. ten von Yusuf al-Uyayree und Anwar al-Awlaki bei Akteuren in Baden- In diesem Zusammenhang ist die Württemberg gefunden werden. Auseinandersetzung zwischen Marc Dort liest man: Sageman und Bruce Hoffman äußerst interessant und lehrreich.17 Der Streit »Sie brandmarken die Anhänger die- dieser beiden einflussreichen Terro- ses Pfades als Terroristen, Extremisten rismusexperten dreht sich um die und Revolutionäre um uns mit diesen Frage nach der Art der Bedrohung. Namen zu betrügen. Wenn immer du Der Historiker Bruce Hoffman sieht das Wort Terrorismus siehst, ersetzte in al-Qaida noch immer eine äußerst es mit Jihad. Der Grund, warum sie gefährliche hierarchisch geführte Or-

14 Entscheidung Nr 10528 (V) vom 8. Juni 2012, bekannt gemacht im Bundesanzeiger AT 29.06.2012, S.28. 15 Yusuf al-’Uyayree, Konstanten auf dem Weg des Jihad, S.7 [Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S.27]. 16 Al-Awlaki, Allahs Vorbereitung auf den Sieg, S.32–34 [Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S.29]. 17 Vgl. Hoffman, Bruce: The Myth of Grass-Roots Terrorism. Foreign Affairs May/June 2008. Hofmann, Bruce; Rosenau, William; Curiel, Andrew J.; Zimmermann, Doron: The Radicalization of Diasporas and Terrorism. A Joint Conference by the RAND Corporation and the Center for Security Studies, ETH Zurich. 2007 und Sageman, Marc: Leaderless Ji- had. Terror Networks in the Twenty-First Century. Philadelphia 2008. Sageman, Marc u. Hofmann Bruce: Does Osama Still Call the Shots? Foreign Affairs July/August 2008. BENNO KÖPFER 387 ganisation. Wohingegen für den Sozi- Erste Schritte ologen und Psychologen Marc Sage- man die Gefahr nicht von einer Orga- Im April 2009 hat das Islamwis- nisation ausgeht, sondern von unten senschaftliche Kompetenzzentrum kommt – von radikalisierten Indivi- (IKO) im Bundesamt für Verfas- duen und Gruppen, die sich im Inter- sungsschutz seine Arbeit aufgenom- net oder der Nachbarschaft treffen men. Konkrete Aufgaben des IKO und einen Anschlag planen. sind u.a. die Durchführung von Un- tersuchungen und Analysen, u.a. zu Dieser Streit kann keinen eindeutigen den Themen »Radikalisierung«, »De- Sieger haben, aber es werden wichtige radikalisierung« und »Prävention«18 Argumente formuliert. Denn noch ist es sehr schwer zu sagen, wo die Radi- Am 25. November 2009 fand eine kalisierung beginnt, in einer Gruppe Fachtagung des Hamburger Landes- von Freunden, mit der Predigt eines amtes für Verfassungsschutz (LfV), Imams oder zuhause im Internet. »Islamistisch motivierter Terroris- Und wann ist operatives Training mus: Internationale Entwicklungen – durch al-Qaida ein Faktor? Man wird Aktuelle Lage – Handlungskon- beide Überlegungen weiter in der Ar- zepte«, statt. Ziele der Veranstaltung beit der Nachrichtendienste berück- waren nicht nur eine Lagedarstellung, sichtigen müssen. Dabei handelt es sondern auch die Suche nach Ansatz- sich aber nicht nur um Theorie. Ir- punkten für Prävention und Dera- gendwo in Europa werden beinahe dikalisierung, um die Arbeit des Ver- wöchentlich jihadistische Anschlags- fassungsschutzes in einen breiteren planungen aufgedeckt und es kommt gesellschaftlichen Zusammenhang zu zu Verhaftungen. stellen.19

Dass diese Ideen auch in der schwäbi- »Islamismus: Prävention und Dera- schen Provinz auf fruchtbaren Boden dikalisierung« war das Thema des fallen, muss die Verfassungsschutz- Symposiums des Berliner Ver- behörden in der Arbeit, diese jihadis- fassungsschutzes am 22. November tischen Tendenzen mit allen uns zur 2010. Rund 160 Gäste aus den Be- Verfügung stehenden Mitteln entge- reichen Wissenschaft und Politik, Si- genzutreten, bestärken. cherheitsbehörden, Justizvollzugsan-

18 http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Standardartikel/DE/Themen/Sicherheit/Terrorismus/iko.html?nn=293106 (gelesen am 29. Juli 2012). 19 http://www.hamburg.de/schlagzeilen/1997872/symposium-zusammenfassung-verfassungsschutz-fhh-hamburg.html (gelesen am 29. Juli 2012). 388 DERADIKALISIERUNG UND AUSSTIEG AUS DEM ISLAMISTISCHEN EXTREMISMUS – EINE ILLUSION? stalten und freien Organisationen beitern von Sicherheitsbehörden mit diskutierten im »Haus der Kulturen jenen aus der Praxis der Jugendarbeit der Welt« die aktuelle Thematik. und der politischen Bildung.

Im Dezember 2010 wurde in Nieder- Dies sind nur einige Beispiele, an de- sachsen die Projektgruppe »Antiradi- nen deutlich wird, welche Bedeutung kalisierung« eingerichtet. Sie hat den dieses Thema seit einigen Jahren für Auftrag, ein ganzheitliches Hand- die Sicherheitsbehörden und deren lungskonzept zur Prävention von Öffentlichkeitsarbeit einnimmt. und der Intervention bei Radikalisie- rungsprozessen zu erarbeiten. Im Kern stehen dabei vier Ziele: 1. Sensi- Fragen bilisierung, 2. Früherkennung, 3. Im- munisierung, 4. De-Radikalisierung. Am Ende aller Veranstaltungen und »De-Radikalisierung« zielt auf die Diskussionen stellen sich regelmäßig Möglichkeiten, gefährdete Personen Fragen der Zuständigkeit und der von einer weiteren Radikalisierung Ausgestaltung konkreter Maßnah- abzuhalten bzw. ausstiegswillige Per- men. sonen aus extremistischen/terroristi- schen Strukturen herauszulösen.20 Welche Rolle können die Sicherheits- behörden wie der Verfassungsschutz Das Symposium »Globaler Jihad – übernehmen? Voraussetzungen, Auswirkungen, Konsequenzen«, das am 3. Novem- Aufgrund der kontinuierlichen Be- ber 2011 vom Landesamt für Verfas- obachtung islamistischer militanter sungsschutz Baden-Württemberg in Szenen und den inzwischen festge- Stuttgart organisiert und gemeinsam stellten Radikalisierungsverläufen bei mit der Landeszentrale für politische verurteilten Jihadisten verfügen die Bildung durchgeführt wurde, wid- Sicherheitsbehörden über hinrei- mete »Konzepten der Deradikalisie- chende Kenntnisse, um individuelle rung« ein eigenes Panel.21 Etwa 160 Präventions- und Ausstiegsangebote Interessierte aus Politik, Verwaltung zu unterstützen und in der Praxis ak- und Justiz, Sicherheitsbehörden, Bil- tiv zu begleiten. Ob aber eine indivi- dungs- und Jugendarbeit sowie Wis- duelle Betreuung die Aufgabe einer senschaft und Medien haben in einem Sicherheitsbehörde sein sollte, darf »Knowledge Caf´e« in mehreren Grup- bezweifelt werden. Eine präzise Auf- pen Präventionsansätze diskutiert. Be- tragsklärung bei der Mitwirkung an sonders intensiv war der Austausch entsprechenden Angeboten ist des- zwischen Mitarbeiterinnen und Mitar- halb unerlässlich.

20 http://www.verfassungsschutz.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=27686&article_id=94732&_psmand=30 (gelesen am 29. Juli 2012). 21 http://www.verfassungsschutz-bw.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1083:symposium-globa- ler-jihad-voraussetzungen-auswirkungen-konsequenzenq-&catid=144:allgemeines&Itemid=46. BENNO KÖPFER 389

Wo sind die Ansätze? Bisher fehlt es an Ansprechpartnern für Familien, in denen etwa ein Sohn Es geht um politische und hier beson- nach schulischem Versagen seine ders um religiöse, d.i. islamisch legi- Selbstbestätigung in einer radikalen timierte Gewalt eines Einzelnen islamistischen Gruppe sucht. Auch oder einer Gruppe. Der Organisati- Selbsthilfegruppen von Angehörigen, onsgrad, die enge oder eher lose Ver- deren Kinder in die radikale islamisti- bindung zu einer speziellen Gruppe, sche Szene abgerutscht sind oder die spielt hier ebenso eine Rolle wie die sich in die Ausbildungslager nach Pa- entsprechenden Autoritäten und kistan abgesetzt haben, gibt es nicht. Mentoren, die die Begründungen lie- »Viele, die zu uns kommen, sind schon fern und Gefolgschaft einfordern. von Beratungsstelle zu Beratungs- Problematische Entwicklungen, Kri- stelle verwiesen worden«, sagt sen in einer Biographie, bilden indivi- Dantschke. Und die wenigen Initiati- duelle Ansatzpunkte für Gespräche ven, die es in Deutschland gibt, sind und unterstützende Maßnahmen, die bislang auch nicht miteinander ver- auf Nachhaltigkeit der Abkehr ange- netzt.22 legt sein müssen. Die Begleitung eines Einzelnen unter Einbindung des Umfelds ist nicht nur für die betreu- Erste Aussteiger enden Personen, seiensieMitarbeite- rin oder Mitarbeiter einer Sicher- An der oben erwähnten Veranstal- heitsbehörde oder seien sie Teil einer tung in Berlin nahm Hanif Qadir aus nichtstaatlichen zivilgesellschaftli- London teil, der heute Jugendliche chen Organisation, mit erheblichem vom Abdriften in die Militanz abhal- Aufwand verbunden. Wichtig ist da- ten will.23 In Deutschland haben wir her auch die Stärkung des unmittel- noch keinen prominenten Jihad-Aus- baren Umfelds, der Angehörigen. Als steiger, dennoch haben Journalisten prominentes Beispiel wurde in einem einige Ausstiege aus der jihadis- Artikel Claudia Dantschke zitiert, tischen Szene anonym oder unter eine Mitarbeiterin der »ZDK Gesell- Verwendung von Pseudonymen do- schaft Demokratische Kultur kumentiert. Man gibt sich also keinen gGmbH« und der dortigen Bera- Illusionenen hin, wenn man über De- tungsstelle HAYAT. Derzeit arbeitet radikalisierung und Ausstieg aus dem sie im Rahmen des ZDK – Commu- militanten Islamismus nachdenkt. nity-Coaching-Ansatzes an einer Umsetzung der Erkenntnisse der Der erste teilweise auch in den Me- Kommunalanalyse im Berliner Be- dien breiter aufgegriffene Fall war der zirk Mitte-Tiergarten-Wedding. Ausstieg des Barino B. in Köln, der

22 Vgl. Markus Wehner, Alle aussteigen, bitte! 25. Juli 2010. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/islamisten-alle- aussteigen-bitte-11010216.html (gelesen am 27. Juli 2012). 23 Vgl. Mirjam Schmitt, Radikale entlarven, 11. Februar 2011; http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?res- sort=ba&dig=2011 %2F02 %2F10 %2Fa0166&cHash=ce48e8db2a (gelesen am 28. Juli 2012). 390 DERADIKALISIERUNG UND AUSSTIEG AUS DEM ISLAMISTISCHEN EXTREMISMUS – EINE ILLUSION?

2008 auch Thema einer TV-Doku- froh, dass er den Absprung geschafft mentation war. hat: »Ich wäre beinahe ein Islamist geworden. Die ständigen Androhun- »Auf der Suche nach religiöser Hei- gen von Teufel und Hölle haben mich mat wurde Barino B. erst Muslim, immer weiter in dieses unheilvolle dann Islamist. Fünf Jahre später kehrt System gebracht.« (…) Er hört später er dem Islam den Rücken – für einige noch öfter, wie alles Westliche verteu- Ex-Glaubensbrüder ein todeswürdi- felt wird: der Staat, die Gesellschaft, ges Verbrechen. Der TV-Journalist Wahlen. Frank N.: »Dabei äußern sie Antonio Cascais begleitete ihn auf sei- sich meistens in einer Weise, die juris- nem Weg. (…) Barinos Geschichte tisch nicht angreifbar ist, wie zum bündelt verschiedene Stränge. Einer Beispiel ›Viele große Gelehrte sagen, ist seine Konversion zum Islam und dass Wahlen unislamisch sind‹.« Un- anschließende Radikalisierung, die ter sich drückten sich viele deutlicher darin gipfelte, dass er dazu aufrief, aus: »Wenn der Islam in Deutschland den Dschihad ›zu implementieren.‹ herrschen würde, gäbe es all die Ein zweiter sein Weg aus dem Islam schlimmen Dinge nicht mehr: keinen heraus. »Irgendwann konnte ich mich Alkohol, keine Diskotheken, keinen nicht mehr als Teil des Islam fühlen«, Sex im Fernsehen…« Frank N.: »Das sagt er heute. »Ich stellte den Prophe- Unglück auf der Loveparade sehen ten als Gesandten Gottes in Frage – einige von ihnen beispielsweise als ge- da war mir klar, dass ich nicht mehr rechte Strafe für unsere verkommene im Islam stand.«24 Gesellschaft.«25

In der Folge sah man Barino B. in ei- Eine weitere Ausstiegsgeschichte nigen Talkshows. Ob er ein Vorbild spielt in Bremen. Dort schafft Rolf für Ausstiegswillige sein könnte, Schindler den Ausstieg. Er wurde ge- bleibt nach seiner koptischen Taufe fragt, ob den 3.000 bis 5.000 Salafisten aber fraglich. Dieser öffentliche Reli- inDeutschlandsovielAufmerksam- gionswechsel macht ihn für Muslime, keit gebührt. die den Ausstieg aus einem radikali- sierten Milieu suchen, aber ihre Reli- Rolf Schindler hält die Aufmerksam- gion weiter leben wollen, nicht be- keit für berechtigt. Er hat den Sala- sonders glaubwürdig. fismus erlebt als eine Radikalisie- rungsmaschine. In Wirklichkeit trägt Im August 2010 berichtet »RP On- er einen anderen Namen, denn er line« über den Aussteiger Frank N. in fürchtet um seinen Ruf – und den Mönchengladbach. Er ist Zorn seiner früheren Glaubensgenos-

24 Vgl. Yassin Musharbash, Wie Barino aus der Islamistenszene ausstieg, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/tv- dokumentation-wie-barino-aus-der-islamistenszene-ausstieg-a-574458.html (gelesen am 29. Juli 2012). 25 Gabi Peters, Salafisten – ein Aussteiger berichtet, http://www.rp-online.de/niederrhein-sued/moenchengladbach/ nachrichten/salafisten-ein-aussteiger-berichtet-1.717095 (gelesen am 29. Juli 2012). BENNO KÖPFER 391 sen. Die Abkehr vom Islam wird mit dul-Rahman al-Sheha aus der saudi- dem Tode bestraft, so hat er es gelernt. arabischen Hauptstadt Riad. Er hat SeineGeschichteistdieeinesjungen darin begründet, warum abtrünnige Mannes, der Anschluss sucht und ihn Muslime getötet werden müssen. Der bei den Salafisten findet, den die Ge- Schritt führe zu Unfrieden, die Tö- meinschaft aufleben lässt, der die tung sei »in Wirklichkeit eine Erlö- Lehre aufnimmt wie eine Erleuch- sung für die restlichen Mitglieder der tung – und am Ende doch den Aus- Gesellschaft«. Der Austritt wird zum stieg schafft.26 Angriff auf den Islam. »Aus diesem Grund ist eine solche Strafe vorge- Der Bericht über den Ausstieg von schrieben, Allah weiß [ES] am bes- Rolf Schindler ist besonders interes- ten.« So wird die Logik des Extremis- sant, weil er deutlich macht, wie die mus konstruiert. Der Koran ist Gottes oben erwähnte Schrift »Missverstän- WortundGottweißalles–manselbst disse über Menschenrechte im Islam« kann sich ja irren. »Man wird gelehrt, wirken kann. Er berichtet vom Imam das Denken für Gut und Böse abzu- seiner Moscheegemeinde: schalten«, sagt Rolf Schindler heute.

»Der war sehr politisch«, sagt Rolf Diese Einzelbeispiele belegen, dass Schindler, »den deutschen Staat ha- ein Ausstieg keine Illusion bleiben ben sie abgelehnt.« Man dürfe keine muss. Abschließend noch die jüngs- Parteien wählen, hört er da. Die ten beiden Ausstiegsberichte zweier Scharia sei das einzig gültige, weil Salafisten aus dem Raum Siegburg göttliche Gesetz, demokratische Re- und Köln, Ahmet Stein und Ben geln widersprächen diesen Gesetzen. Emam27: Zu Terrorismus ruft niemand auf. Doch Sympathien für die Glaubens- Als sich Ahmet Stein sechs Monate brüder in Palästina oder Afghanistan später auch optisch zum Islam be- werden durchaus erkennbar. Ein kennt, beschäftigt er sich mit Glau- Land, das einmal muslimisch gewor- bensbrüdern, die sich abgespalten ha- den sei, dürfe nie wieder hergegeben ben von der Masse. Er liest viel über werden, hört Rolf. Und: Wer bereit die Attentäter vom 11. September sei, sein Leben für den Islam zu op- und junge Deutsche, die sich militan- fern, der komme ins Paradies. ten Dschihadisten am Hindukusch anschließen. Sie schwärmen vom Hei- In der Moschee bekommt Rolf das ligen Krieg und dem Märtyrertod, Buch »Missverständnisse über Men- den Islam verstehen sie als Kampfauf- schenrechte im Islam« von einem Ab- trag.

26 Roland Preuß, Ex-Salafist packt aus. Gottgefällig im Nischenbiotop, http://www.sueddeutsche.de/politik/ex-salafist- packt-aus-gottgefaellig-im-nischenbiotop-1.1371686 (gelesen am 29. Juli 2012). 27 Die Namen wurden von der Spiegel-Online-Redaktion geändert. 392 DERADIKALISIERUNG UND AUSSTIEG AUS DEM ISLAMISTISCHEN EXTREMISMUS – EINE ILLUSION?

»Ich habe versucht, ihr Handeln, ihre Teil eines sozialen Geflechts, gegen Argumentation zu verstehen«, sagt das ich mich auf einmal entschieden Ahmet Stein, 22, Student. Er sitzt in hatte«, sagt Emam. Lange Zeit hofft einem Caf´e in Siegburg, reibt sich ge- er, den einen oder anderen Freund aus dankenverloren den gestutzten Bart. der Szene behalten zu können, doch »Aber es gelang mir nicht, und da es gelingt ihm nicht. »Der Bruch mit wusste ich: Ich hab die falsche Ab- dem Islam bedeutete, sehr, sehr gute zweigung genommen.« Freunde, mit denen ich tagtäglich zu- sammen war, aufzugeben.« Auf Die Schwierigkeiten des Ausstiegs Übertritt steht nach islamischem und die Methoden der salafistischen Recht die Todesstrafe. Emam muss ei- Missionare macht Emam deutlich: nensozialenTodsterben,seinImam verbietet der Gemeinde, mit ihm zu Diese würden in Moscheen, auf Semi- reden. 28 naren und in Jugendzentren bearbei- tet. Ihre Sprache: die der Jugend. Ihre Diese wenigen Fälle zeigen, dass der Botschaft: Es gibt nur Gläubige oder Ausstieg (Disengagement) und die Ungläubige. Ihr Ziel: Wer ins Para- Deradikalisierung Handlungsoptio- dies kommen will, muss tun, was der nen sind. Radikalisierungsprozesse Imam vorlebt. »Wenn es nur eine po- lassen sich, die Bereitschaft der Ak- litische Ideologie wäre, wäre das teure vorausgesetzt, umkehren. Ein schlimm genug«, sagt Emam, »aber Slogan könnte hier lauten: Itjtihad die Verknüpfung mit spiritueller statt Jihad. Das bedeutet, selber Identität ist der geniale Cocktail der zu denken und nicht vorgefertigte Gehirnwäsche«. (…) Antworten von Autoritäten zu über- nehmen. Dies gilt im engeren Sinn Zweifel kommen auf. Auf kritische besonders für die Interpretation isla- Fragen erhält Emam keine Antwor- mischer Quellen. Im Lauf des Ablö- ten. Er stellt sich Diskussionen. Die sungsprozesses von einer extremisti- Debatten vermischen sich mit Erleb- schen Szene wird es für Betroffene nissen aus der Moschee, die sich auf wichtig, Fragen stellen zu dürfen und die wortwörtliche Auslegung des Ko- eigene Überlegungen anzustellen. Sie ran beziehen und den jungen Konver- müssen lernen, mit Unsicherheiten titen zum Nachdenken bringen. Es ist und Zweifel umzugehen. Dies wurde ein quälender Prozess, den einen in den oben vorgestellten Interviews Schlüsselmoment gibt es nicht. deutlich. Es geht um die Akzeptanz und das Aushalten von Zumutungen, Der Ausstieg ist schwer. Außer den etwa der Anerkenntnis dessen, dass Eltern gibt es niemanden von früher, Islam historisch und in der Gegen- dem er sich zuwenden kann. »Ich war wart immer auch Vielfalt und Viel-

28 Julia Jüttner, Aussteiger aus Salafisten-Szene. Allah im Kopf, http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/salafi- sten-aussteiger-warnen-vor-islam-a-841711.html. BENNO KÖPFER 393 deutigkeit bedeutet. Es gibt nicht die eine nachhaltige, dauerhafte Ausei- klaren Positionen, wie sie salafisti- nandersetzung mit dem Problem sche Prediger und vermeintliche sau- salafistischer Radikalisierung er- dische Autoritäten vorgaukeln. schwert, obwohl es sich um eine lang- fristige Aufgabe handelt.

Fazit Wir sehen aber im Bereich der Terro- rismus-Bekämpfung stets das Di- Radikalisierungsprozesse sind keine lemma, dass man zu viel will und Einbahnstraßen in die Militanz oder vermeintlich zu wenig kann. Denn den jihadistischen Terror. In den für die Sicherheitsbehörden sind die von Journalisten dokumentierten vielen verhinderten oder misslunge- Beispielen gelang der Ausstieg offen- nen Anschläge nur kurzfristige Er- sichtlich nur unter großen Schwierig- folge. Während ein durchgeführtes keiten, jedoch ohne größere Unter- Attentat für die Jihad-Bewegungen stützung von außen. Wie viel könnte langanhaltenden Auftrieb geben hier entsprechende Hilfe bewirken? kann, wenn man sieht, wie etwa die Anschläge vom 11. September 2001 Inzwischen gibt es nichtstaatliche bis heute in der Propaganda verarbei- Stellen wie das »Zentrum Demokra- tet werden. Vor diesem Hintergrund tische Kultur«, in dem Angehörigen müssen auch die Entwicklungen in- in der »Beratungsstelle HAYAT« folge des sogenannten »arabischen geholfen wird.29 Das »Violence Pre- Frühlings« in Tunesien, Ägypten, Je- vention Network« arbeitet mit inhaf- men und Mali zu denken geben, wo es tierten Tätern und bietet Anti-Ge- salafistischen Aktivisten immer wie- walt- und Kompetenz-Training an.30 der gelingt, die neuen Freiheiten für Und im Vorfeld arbeitet etwa das ihre Auftritte zu nutzen. »Team meX« der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Würt- Bei dem mühevollen Weg raus aus temberg in Kooperation mit dem dem islamistischen Extremismus Landesamt für Verfassungsschutz im bleibt zu hoffen, dass das alte arabi- Bereich der Prävention. All diesen sche Sprichwort Gültigkeit behält: Vorhaben ist gemein, dass es sich hier »WennGeduldbitterist,dannistdas um befristete Projekte handelt, was Ergebnis süß.«

29 http://www.exit-deutschland.de/Startseite/Islamismus-/-Ultranationalismus/Arbeitsstelle-Islamismus-und-Ultrana- tionalismus-ASTIU-K326.htm; dort auch die Veröffentlichungen von Claudia Dantschke, Ahmad Mansour, Jochen Müller und Yasemin Serbest. http://www.exit-deutschland.de/Startseite/Islamismus-/-Ultranationalismus/Neue- Handreichung/Neue-Handreichung-E1299.htm. 30 http://www.violence-prevention-network.de/home.

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»Wie viel Islam verträgt das Land?« Warum die Islamfeindschaft ein gesellschaftliches Problem ist – und nicht der Islam

JOCHEN MÜLLER

Das Spektrum von Islamfeindschaft SEN SICH NICHT MEHR in Deutschland reicht von Unkennt- LANGE VON DIESEN ASSOZIA- nis und Vorurteilen bis zu rassisti- LEN UNTERMENSCHEN IN schen Einstellungen und Gewaltta- IHREN EIGENEN LAND AUS- ten. Insgesamt betrachtet ist sie – das BEUTEN UND TERRORISIE- zeigt eine ganze Reihe von Untersu- REN! TÜRKEN AUS DEUTSCH- chungen – in der Gesellschaft weit LAND PRÜGELN! HEIL HIT- verbreitet. Meist knüpft sich an Is- LER!« (1) lamfeindlichkeit die Erwartung, Muslime müssten »den Islam« und Gerichtet an das Büro des Bundes- ihre religiösen Überzeugungen grund- vorsitzenden von Bündnis 90/Die legend verändern, um in einer mo- Grünen, Cem Özdemir, steht die hier dernen demokratischen Gesellschaft zitierte E-Mail beispielhaft für einen leben zu können. Dabei bestärken Rassismus, wie er in dieser extrem solche Forderungen das Denken in menschenverachtenden Form vor al- WIR und DIE und fördern damit ein- lem vom rechtsradikalen Rand der hergehende Probleme und Konflikte Gesellschaft allgemein gegen »Tür- – nicht zuletzt, weil auf diese Weise ken« und andere »Ausländer« formu- notwendige Anerkennungsprozesse liert wird. Aber auch wenn gezielt auf erschwert werden. Ein Weg, dem ent- »den Islam« und »die Muslime« ab- gegenzuwirken, wäre ein umfassen- gehoben wird, sind vergleichbare Be- der und entspannterer Blick auf »den leidigungen, Diffamierungen, Ab- Islam« und »die Muslime«. Dazu wertungen, Hetz- und Hasspropa- können unter anderem Politik, Me- ganda sowie Verschwörungstheorien dien und Schule beitragen – aber auch keine Seltenheit: Von Muslimen als islamische Einrichtungen und Reprä- »Kinderfickern«, »Muselpack«, »Is- sentanten. lamfaschisten«, Kriminellen oder Brunnenvergiftern, die man »loswer- »DEUTSCHLAND WIRD SICH den« müsse, um Deutschland und NICHT GEFALLEN LASSEN Europa »islamfrei« oder »moslem- DAS DIESES TÜRKENPACK frei« zu machen, ist dann die Rede. ÜBER IHR VATERLAND WEI- So werden etwa auf der populären TER HER FÄLLT! TÜRKEN Website PI (»Politically Incorrect«) SIND WIE AASGEIER (...) ABER regelmäßig und mit größter Selbst- BALD SETZT DAS DEUTSCHE verständlichkeit Islam und Muslime VOLK DIESER SCHWEINEREI angegriffen. Kein Wunder – denn Is- EIN ENDE! DEUTSCHE LAS- lamfeindschaft ist hier Programm: So 396 »WIE VIEL ISLAM VERTRÄGT DAS LAND?« behaupten Betreiber und Nutzer von In den vergangenen Jahren haben al- PI ausdrücklich, dass sie nicht etwa lerdings Ereignisse wie der Mord an Ausländer oder Migranten im Allge- der in lebenden Ägypterin meinen ablehnen würden. Vielmehr Marwa El-Sherbini, die Debatten um kaprizieren sich die Kommentare die Thesen von Thilo Sarrazin, wie- hier auf den Islam und die Gruppe derholte Angriffe auf Moscheen oder der deutschen bzw. in Deutschland die Diskussion um die Schweizer und Europa lebenden Muslime. (2) Volksabstimmung über ein Minarett- verbot (2009) für eine größere Sensi- Dabei wird in den Positionen, wie sie bilität gegenüber antimuslimischen etwa auf Websites und Blogs wie »Po- Stimmungen in Deutschland gesorgt. litically Incorrect«, »Die grüne Pest« So haben auch Politik und Sicher- oder »Akte Islam« zum Ausdruck heitsbehörden begonnen, sich mit kommen, auch deutlich, dass Islam- den Aktivitäten einzelner Akteure feindschaft und Vorurteile gegen wie PI zu befassen. Vorwürfe der Muslime nicht nur eine Sache des Volksverhetzung und die Forderung rechten Randes sind, sondern weit in nach dem Verbot der Website wurden die Mitte der Gesellschaft hineinrei- lauter: Unter anderem erklärte der chen. Abzulesen ist dies etwa daran, SPD-Innenpolitiker Sebastian Eda- dass die Schreiber von diffamieren- thy, dass es sich bei PI um ein »verfas- den E-Mails und Leserbriefen dies sungsfeindliches Forum« handele, nicht selten unter Angabe ihres vollen das »antidemokratische Stimmung« Namens, ihrer beruflichen Tätigkei- verbreite. (6) ten und im Bewusstein und Gestus vermeintlicher Tabubrecher tun, die doch lediglich unbestreitbare Die Forderung nach Wahrheiten verkündeten, die eine »Integration« schweigende Mehrheit nur nicht aus- zusprechen wage. (3) Von einem »ver- Nun mögen Verbote aus verfassungs- rohenden Bürgertum« und einer rechtlicher Perspektive schwierig »Vereisung des sozialen Klimas« und umstritten sein. Eine erhöhte sprechen die Bielefelder Sozialfor- Achtsamkeit und die deutlichere öf- scher um Wilhelm Heitmeyer und di- fentliche Ablehnung islamfeindlicher agnostizieren dabei nicht zuletzt eine Ressentiments sind indes aus mehre- zunehmende Islamfeindlichkeit, die ren Gründen überfällig: Zum einen, sich – im Unterschied zur mit Höhe weil radikale Positionen, wie die ein- des Bildungsgrades abnehmenden gangs zitierte, sowie tätliche Über- allgemeinen Fremdenfeindlichkeit – griffe und nicht zuletzt auch die quer durch alle Schichten ziehe. (4) NSU-Morde nur zu verstehen sind »In der Mitte wächst der Hass«, ti- und ihnen wirksam zu begegnen ist, telte dazu die taz. (5) wenn dabei gesamtgesellschaftliche Diskurse einbezogen werden, durch die sich Einzelne in ihrem Denken JOCHEN MÜLLER 397 und Handeln legitimiert sehen. Und Dauer unmöglich sei. 83 % der zum anderen, weil islamfeindliche Befragten verbinden den Islam mit und anti-muslimische Positionen Fanatismus und rund 60 % sind der nicht erst dann ein Problem und eine Meinung, Islam und Demokratie Gefährdung des gesellschaftlichen vertrügen sich nicht. Einer Untersu- Friedens darstellen, wenn sie offen chung der Universität Münster beleidigend oder körperlich verlet- zufolge (2010) haben ca. 60 % der zend in Erscheinung treten. Befragten eine negative Haltung ge- genüber dem Islam. Und nach den Schließlich gefährdet es die gesamt- Studien von Heitmeyer (s. Anm.4) gesellschaftliche Integration, wenn erklärten 26 % der Befragten, man einzelne Bevölkerungsgruppen von solle die Zuwanderung von Musli- anderen aufgrund vermeintlicher ge- men untersagen; 76 % meinten, »dass meinsamer Merkmale ausgeschlos- die muslimischen Ansichten über sen, herabgesetzt und für der Gesell- Frauen unseren Werten widerspre- schaft insgesamt wesensfremd erklärt chen« und 30 % äußerten Überfrem- werden. So jedenfalls lautet – in ver- dungsängste: »Durch die vielen Mus- schiedenen Variationen – der Haupt- lime fühle ich mich manchmal wie ein vorwurf an »den Islam« und »die Fremder im eigenen Land« (2011; Muslime«. In der folgenden Position 2010 waren es noch 39 %). 67 % hal- kommt er in charakteristischer Weise ten die Werte des Islam für unverein- zum Ausdruck: bar mit den eigenen (bzw. denen der »westlichen Welt«). 41,5 % erklärten »Islam ist nicht ›kompatibel‹. Und den Islam für rückständig (2003) und das wird sich auch niemals ändern, da 14,8 % befürworteten, dass Musli- der Koran Allahs direktes Wort ist. men in Deutschland die Religions- (…)EsgibtnurdieAlternative:Islam ausübung untersagt werden solle oder nicht Islam. Ich bin für Letzte- (2005). (8) Oft fallen solche Zahlen res. Und deshalb: Wer in Europa le- umso höher aus, je weniger Muslime ben will und unbedingt einen Gott in einer Region leben bzw. je weniger haben will, der soll dem Islam/Koran die Befragten mit Muslimen zu tun abschwören und Christ werden. Alle haben. (9) anderen sollen aus Europa ver- schwinden. Thilo Sarrazin hat Recht. Gute Reise und viel Erfolg.« (Armin EXKURS: Die Geschichte der P., Dipl.-Betriebswirt) (7) »Islamfeindschaft«

Mit dieser Haltung steht der Autor Bereits seit dem Mittelalter stehen Is- dieser Zeilen nicht allein. Laut Unter- lam und Christentum in einem be- suchungen des Institus für Demosko- sonderen Verhältnis zueinander. (10) pie in Allensbach (2006) nimmt die Dabei wurden schon im »christlichen Ansicht zu, dass ein friedliches Zu- Mittelalter« und zur Zeit der Kreuz- sammenleben mit Muslimen auf züge in der Regel Unterschiede 398 »WIE VIEL ISLAM VERTRÄGT DAS LAND?« betont und nur selten die vielen Ge- folge ökonomischer und sozialer Kri- meinsamkeiten der beiden Religio- sen) aus »Ausländern« Muslime, und nen hervorgehoben. Dies gilt auch wieder dient das Fremdbild als Spie- heute noch: Zunehmend werden gel zur Bestätigung eigener Überle- Menschen muslimischen Glaubens genheit und Fortschrittlichkeit: So vor allem als Muslime markiert, also können sich in der Auseinanderset- als Angehörige einer »anderen« Reli- zung mit Islam und Muslimen auch gion wahrgenommen. Wobei der konservative Stimmen als Verfechter Islam aber oft nur eine Projektions- von Emanzipation und Frauenrech- fläche darstellt: So suchen Nichtmus- ten stilisieren. Dieser Diskurs nahm lime häufig den letzten Grund auch nach dem 11. September 2001 an für eine Reihe »nicht-religiöser« Phä- Schärfe zu, wobei nun insbesondere nomene wie etwa soziale Konflikte das Bild vom Islam als gewalttätiger und Krisenerscheinungen in der Reli- undkriegerischerReligioninden gion. Die Bilder sind dabei seit der Vordergrund trat. frühen Neuzeit und den »Türken vor Wien« weitgehend die gleichen: eine Zur Beschreibung dieser Diskursver- Mischung aus Furcht und Fantasie. schiebungen fanden neue Begrifflich- So ging der mal christlich, mal zivili- keiten Eingang in den Sprachge- satorisch begründete kolonialistische brauch – wie etwa der Begriff der »Is- Anspruch auf Herrschaft und Über- lamophobie«, der sich seit Ende der legenheit immer einher mit exotisti- 1990er Jahre insbesondere bei vielen schen Projektionen, wie sie etwa in muslimischen Organisationen durch- Haremsbildern oder Opern des gesetzt hat. Dabei trägt der Terminus 19. Jahrhunderts zum Ausdruck neben der quantitativen Zunahme kommen. Edward Said hat für dieses anti-muslimischer Haltungen auch Verhältnis, in dem »der Westen« erst deren inhaltlicher Verschiebung »den Orient« und »den Islam« kon- Rechnung: »Islamophobie« beschreibt struiert, um sich auf diese Weise weniger die Verletzung individueller selbst zu erfinden, den Begriff des Menschenrechte von Muslimen auf- Orientalismus geprägt. grund typischer rassistischer Zu- schreibungen, sondern bezeichnet Vom »Feindbild Islam« ist insbeson- Angst (Phobie) und daraus resultie- dere seit 1989 die Rede: Demnach sei rende Feindschaft gegenüber dem Is- dem Westen mit dem Ende des Kalten lam als Religion und den Muslimen Krieges sein Gegenüber abhandenge- als deren Repräsentanten. Vor diesem kommen, weshalb erneut der Islam Hintergrund kann »Islamophobie« als vermeintlich monolithischer als eine Spielart von insgesamt neuar- Block und kulturelles Gegenbild zur tigen, weil kulturalistisch begründe- Begründung »westlicher« Identität ten Rassismen gelten, die in den 80er herhalten musste. Zunehmend wer- und 90er Jahren den biologistischen den nun in Deutschland (auch in- Rassismus abgelöst haben. JOCHEN MÜLLER 399

Allerdings geriet der Begriff Islamo- den Positionen herauskristallisieren: phobie schnell in die Kritik: Zum Der Islam gilt vielen Nichtmuslimen einen, weil damit die meist sozial als rückständig, frauenfeindlich, gründende Einstellung von Gruppen aggressiv, statisch, fatalistisch, ge- auf den Faktor Angst (vor »Musli- walttätig und für unvereinbar mit men« und ihrer Kultur) reduziert Demokratie, Rechtsstaat und Men- wird; zum anderen fungierte der Be- schenrechten oder gleich der »Zivili- griff nicht zuletzt als Schlagwort, um sation«. Dabei haben die meisten auch legitime Kritik am Islam und an dieser Bilder vom Islam eine jahrhun- Verhaltensmustern von Menschen dertelange Geschichte – und sie wer- mit muslimischem Hintergrund als den pauschal auf »die Muslime« über- Rassismus zu diskreditieren und ge- tragen, die damit hinsichtlich der wissermaßen zu pathologisieren. In genannten Attribute unter einen Ge- der Folge hat sich in den vergangenen neralverdacht gestellt werden. Die Jahren im deutschen Sprachraum der Botschaft, die muslimischen Deut- Terminus Islamfeindschaft (oder Is- schen und Muslimen in Deutschland lamfeindlichkeit) etabliert. Er um- mit diesen Bildern und Stereotypen fasst negative Einstellungen, Haltun- suggeriert und vermittelt wird, lautet: gen und Handlungen gegenüber »Wenn ihr anerkannt werden und da- Menschen, die als Muslime markiert zugehören wollt, müsst ihr so werden werden – gleich, ob die jeweils ge- wie wir. Und dazu müsst ihr erst mal meinten Individuen sich selbst als eure Religion ablegen.« Muslime betrachten oder überhaupt religiös sind: »In der Islamfeindlich- keit mischen sich negative religiöse, Wer ist WIR? ethnische, rassistische und politische Reflexe. Sie unterstellt Islamismus, Extremistische und rassistische Töne Terrorismus, Nicht-Integration, Se- sind dabei, wie schon bemerkt, nur xismus usw. Das alles gibt es, aber die die Spitze des Eisbergs – der ab- Islamfeindlichkeit relativiert nicht, wertende Diskurs über Islam und prüft nicht die Realität nach Ursa- Muslime, aus dem sie erstehen, ist chen von Unterschieden, und sie un- weitverbreitet. Als etwa der damalige terstellt die Stereotype der ganzen Bundespräsident Wulff den Satz for- Kategorie: also dem Islam und den mulierte, dass der Islam zu Deutsch- Muslimen. Die Feindlichkeit strebt land gehöre, konterte die BILD-Zei- nach Ungleichwertigkeit (…).« (Zick, tung am nächsten Tag in großen Let- a. a. O.) tern auf ihrer ersten Seite mit der Schlagzeile: »Wie viel Islam verträgt Deutschland?« (11 ) Und der Focus Betrachtet man diese und weitere machte auf mit einem stereotypen Untersuchungen zur Haltung gegen- Bild von Wulff als älterem muslimi- über Islam und Muslimen in schem Mann mit Häkelmütze und Deutschland, lassen sich die folgen- Schnurrbart. (12) Das sind deutliche 400 »WIE VIEL ISLAM VERTRÄGT DAS LAND?«

Botschaften (Furcht vor einer »Isla- vermittelt, dass Migranten selbstver- misierung«) und Signale (Muslime ständlich »dazugehören«, und dass es seien »anders« und müssten sich an- deren Kinder und Enkel sein werden, passen). Dann legte ausgerechnet die in nächster Zukunft die Rente der anlässlich der Deutschen Islamkonfe- Generation von Thilo Sarrazin ver- renz der Unionsfraktionschef Volker dienen werden. (14) Vor diesem Hin- Kauder noch einmal nach: Wohl ge- tergrund war die Sarrazin-Debatte hörten Muslime zu Deutschland, eine verspätete Auseinandersetzung nicht aber der Islam. Wörtlich er- über das nationale Selbstverständnis klärte er: »Der Islam ist nicht Teil und die notwendige Gestaltung einer unserer Tradition und Identität in multikulturellen Gesellschaft, die un- Deutschland.« (13) Zwar wurde ter schwierigen, wechsel- und krisen- Kauder für seine Äußerung vielfach haften ökonomischen Bedingungen kritisiert – wie verbreitet das dahin- erfolgt. terstehende Selbstverständnis noch ist, hatte jedoch kurz zuvor die Sarra- Wenn also Politiker oder Medien ein zin-Debatte gezeigt: deutsches WIR ohne Islam beschwö- ren, dann ist das ein Bild von gestern. »Deutschland schafft sich ab« lautete Die deutsche Gesellschaft lässt sich der Titel des Bestellers von Thilo gar nicht mehr ohne Islam, Muslime Sarrazin – und tatsächlich war die undandereMigrantenmitihrenHer- Debatte um das Buch nicht zuletzt künften und Religionen denken. (15) Ausdruck des deutschen Problems, Wer es dennoch versucht, der schließt sich als Einwanderungsgesellschaft Teile der Bevölkerung aus. Und darf zu verstehen. Denn diese Entwick- sich dann nicht wundern, wenn diese lung wurde lange Zeit ignoriert und sich in der Folge nicht zugehörig und es dauerte noch einmal sehr lange, bis diskriminiert fühlen. Wie etwa in ei- sich die Politik durchringen konnte, ner Begegnung muslimischer Jugend- sie auch offiziell anzuerkennen. Ver- licher einer Neuköllner Oberstufe ständlicherweise kommen viele mit Thilo Sarrazin: Ihr größtes Anlie- Menschen da nicht mit – tatsächlich gen war es, dem bekannten Politiker verändert sich ja buchstäblich das und Autor zu zeigen, dass sie in Gesicht des Landes: Man werfe nur Deutschland leben, ihre Sprache einen Blick in die Schulklassen der Deutschist,siehier–wodennauch Groß- und Mittelstädte. Das sind – sonst – Karriere machen und ihre zumal diese Prozesse nicht ohne Kinder großziehen wollen. »Was soll Probleme und Konflikte vonstatten ichdennnochmachen,umdeutsch gehen – bisweilen irritierende und zu sein?« fragte eine von ihnen. Wo- verunsichernde Erfahrungen für viele rauf Sarrazin antwortete: »Solange Menschen, nicht nur, aber vor allem Sie ein Kopftuch tragen, werden Sie der älteren Generationen. Denn in Deutschland nie das Gefühl haben, gleichzeitig wurde ihnen nicht genug integriert zu sein.« (16) JOCHEN MÜLLER 401

Es sind nicht zuletzt Erwartungen gestellten Behauptungen über Mus- wie diese, die Unterschiede – das lime und Migranten mit ihrem Zah- vermeintliche »Anderssein« von lenmaterial widerlegt. Nach den Sen- Muslimen – betonen und einseitige dungen erhielt sie Morddrohungen Veränderungen als Voraussetzung für und hunderte E-Mails mit wüsten Anerkennung betrachten, die Inte- Beschimpfungen, die sie unter grationsprozessen im Wege stehen. anderem aufforderten, »zurück« in Solche Stimmen tragen in Politik, ihre »Heimat« zu gehen. Wie Forou- Medien oder in der Schule selbst ent- tan sahen sich viele »Migranten« – scheidendzudembei,wassie(oft und zwar nicht zuletzt solche, die lauthals) beklagen: Segregationser- bestens »integriert« und etabliert sind scheinungen. Dabei spielt es zunächst – plötzlich darauf zurückgeworfen, eine untergeordnete Rolle, ob Aussa- vorallemalsMuslimegesehenzu gen wie die gerade zitierte im Einzel- werden. Das machte sie zu Verbünde- nen nun rassistisch und islamfeind- ten: »Nie haben wir uns so sehr als lich zu nennen sind, ob es sich um Muslime gefühlt wie jetzt«, sagten gezielte »Islamkritik« (im Sinne von viele.Undsowandtesichdanneine Religionskritik) handelt, wie es viele Reihe Prominenter muslimischer Vertreter der oben skizzierten Bilder Herkunft in einem offenen Brief an vom Islam für sich in Anspruch neh- Bundespräsident Wulff, die eigentlich men, oder ob sie »nur« Ausdruck von nicht viel zu verbinden scheint: Zähl- Vorurteilen und Unkenntnis über Is- ten zu den Unterzeichnern doch lam und Muslime sind ... Entschei- Repräsentanten eher konservativer dend ist vielmehr, dass solche Aussa- deutscher Islamverbände ebenso wie gen und Erwartungshaltungen von Künstler und Autoren wie Fatih Muslimen in Deutschland subjektiv Akin, Feridun Zaimoglu oder Hilal als diskriminierend erfahren werden, Sezgin. (17) sie sich zurückgestoßen, nicht zuge- hörig fühlen und viele in der Folge in Jugendliche sind besonders sensibel einer Art Gegenbewegung ihre Reli- für solche Stimmungen – sind sie gion und Herkunft stärker betonen doch ohnehin auf der Suche nach als zuvor. Identität, Anerkennung und Zugehö- rigkeit. Das gilt umso mehr für jene So fühlen sich viele Menschen mit Mi- Jugendlichen, die aufgrund ihrer grationshintergrund angesprochen, Herkunft »zwischen den Welten« un- wenn es um »die Muslime« geht. »Ich terwegs und auf der Suche nach Ori- habe das Gefühl, ich kenne mein entierungen sind, die sowohl die Land nicht mehr«, schrieb etwa die Geschichte und Kultur ihrer Fami- Berliner Wissenschaftlerin Naika Fo- lien berücksichtigen als ihnen auch routan im Zuge der Sarrazin-Debat- alle Optionen für das Leben in dem ten. Als Expertin hatte sie in diversen Land eröffnen, das ihr Geburts- und TV-Talkrunden über Migration und Heimatland ist. Tatsächlich geben Integration eine Reihe der darin auf- aber viele Jugendliche an, sich ausge- 402 »WIE VIEL ISLAM VERTRÄGT DAS LAND?« grenzt, fremd, benachteiligt und dis- nach dem Motto »Jetzt erst recht« kriminiert zu fühlen: durch »komi- wenden sich in der Folge nicht we- sche Blicke« in der Öffentlichkeit, im nige von ihnen nun ihrem vermeintli- Unterricht oder durch Darstellungen chen »Anderssein« mit besonderer in den Medien. Sie beklagen Vorur- Aufmerksamkeit zu: Bei ihnen avan- teile gegenüber dem Islam, man- cieren Religion und/oder Herkunft gelnde Anerkennung und fehlenden zum zentralen Bestandteil von Iden- Respekt. (18) »Die Deutschen«, er- tität. Das kann durchaus emanzipato- klären Jugendliche immer wieder, risch wirken – etwa wenn junge reli- »werden mich in 100 Jahren noch fra- giöse Muslime sich dafür einsetzen, gen, wo ich herkomme, nur weil ich als deutsche Muslime selbstverständ- schwarze Haare habe.« Weitere Fel- liche Anerkennung zu finden. Das der, die von Migranten in der Regel kann aber auch radikale Formen an- genannt werden, sind Diskrimi- nehmen – zum Beispiel wenn sich nierungen bei der Arbeits- oder Jugendliche und junge Erwachsene Wohnungssuche – wobei hier oft un- ultranationalistischen Organisatio- definiert bleiben muss, ob die Diskri- nen wie den »Grauen Wölfen« an- minierung als »Muslim« oder als schließen. (20) Oder wenn sie sich »Ausländer« wahrgenommen wird. an den Salafisten orientieren: Diese (19) islamistische Strömung wendet sich insbesondere an junge Muslime (mi- Nun mögen – gerade bei Jugend- grantischer oder deutscher Her- lichen und jungen Erwachsenen – kunft), verspricht ihnen den »wahren Übersensibilitäten und Verschwö- Islam« und spielt dabei ganz bewusst rungstheorien bei solchen Wahrneh- auf der Klaviatur von Ausgrenzungs- mungen durchaus eine Rolle spielen. und Diskriminierungserfahrungen. Nicht selten projizieren Jugendliche Der nächste Holocaust drohe den etwa schlechte schulische Leistungen Muslimen, erklären sie und instru- oder die Absage eines Ausbildungs- mentalisieren die Islamfeindschaft platzes allein darauf, wegen ihrer Re- zur Propaganda in eigener Sache, in- ligion und Herkunft diskriminiert zu dem sie junge Muslime, die auf der werden. Dennoch: Vorurteile und Suche nach Identität und Zugehörig- Unwissenheit über Islam und Mus- keit sind, auffordern, sich zusam- lime sowie eine weitverbreitete Is- menzuschließen und von Nichtmus- lamfeindschaft, die sich in verschie- limen fernzuhalten. Und weil Teile denstenFormenbishinzuoffenem dieser Strömung zudem eine offen Rassismus Ausdruck verschafft, tra- antidemokratische und gewaltbereite gen wesentlich dazu bei, dass gerade Ideologie vertreten, werden sie und bei jungen Muslimen und Migranten ihre meist jungen Anhänger auch ein die Selbstverständlichkeit abnimmt, Problem für Sicherheitsbehörden mit der sie sich als Deutsche und in und Verfassungsschutz. (21) Deutschland zuhause fühlen. Und JOCHEN MÜLLER 403

Zugehörigkeit anerkennen fern die Munition für jene herkunfts- deutschen »Experten«, die dann mit Ganz anders stellen sich indes jene dem Koran in der Hand zu beweisen Probleme dar, die in einer multikultu- suchen, dass der Islam doch eine rellen Gesellschaft aus Unwissenheit, wahlweise gewalttätige, frauenfeind- Vorurteilen, Feindschaft und Rassis- liche, anti-demokratische oder ander- mus gegenüber Islam und Muslimen weitig rückständige Religion sei – entstehen. Auch hier sind in einigen womit sie ein Islamverständnis an rechtsextremen Einzelfällen Verfas- den Tag legen, das meist demjenigen sungsschutz und Sicherheitsbehör- besagter islamischer Fundamentalis- den gefragt. Insbesondere aber soll- ten sehr nahe kommt. Zu sehr noch ten sie Pädagogik (hier z.B. in einem sind die Muslime in Deutschland – entsprechenden Religionsunterricht), und dabei auch die junge Generation politische Bildung, Medien und Poli- – von einem normativen Religions- tik beschäftigen. Es gilt nämlich, verständnis geprägt, das sich auf Ri- deutlich und offen zu zeigen, dass Is- tuale sowie Gebote und Verbote und lam und Muslime in Deutschland die Betonung von Besonderheiten selbstverständlich dazugehören. Ins- konzentriert. Stärker als bisher sollte besondere Jugendliche und junge Er- aber eine Werte- und Lebensweltori- wachsene – gleich ob sie religiös sind entierung im Mittelpunkt von Religi- oder nicht – sollten nicht durch Vor- onsvermittlung stehen: Wie kann ich haltungen und Erwartungen in eine Werte wie Toleranz, Friede, Gleich- Verteidigungshaltung und zur Selbst- heit, soziale Gerechtigkeit und Barm- behauptung gezwungen werden. In herzigkeit, die selbstverständlich im vielen Fällen führt das erst in die Iso- Islam zuhause sind, in der Gesell- lierung und macht einige junge Men- schaft denken und leben? schen anfällig für Radikalisierungen. Und zu dieser Offenheit gehört es Der Etablierung eines solchen Islam- auch, die Kompatibilität von Islam, verständnisses wurde u.a. an den Demokratie und moderner Gesell- dazu eingerichteten Lehrstühlen und schaft aufzuzeigen, statt diese etwa in hier insbesondere bei der Ausbildung Medien und Politik ein ums andere von Imamen und Religionspädago- Mal infrage zu stellen. gen zuletzt besondere Aufmerksam- keit geschenkt – es zu vermitteln ist Und hier beginnt auch eine Verant- eine Aufgabe sowohl islamischer wortung der Muslime und ihrer Einrichtungen als auch der Gesell- Repräsentanten selbst: Zu sehr über- schaft insgesamt. Auf diese Weise lassen sie bisher noch solchen Strö- können alle Beteiligten Islamfeind- mungen unwidersprochen das Feld, schaft entgegenwirken und eine als die fundamentalistische, anti-demo- wechselseitiger Prozess verstandene kratische und traditionalistische Po- Integration befördern. Das zeigt auch sitionen behaupten und sie zum die pädagogische Arbeit mit Jugend- »wahren Islam« erklären. Diese lie- lichen muslimischer Herkunft (22): 404 »WIE VIEL ISLAM VERTRÄGT DAS LAND?«

Viele von ihnen stecken in einem den Exkurs weiter unten in diesem Loyalitätskonflikt, da ihnen sowohl Beitrag.) in ihrer Community als auch seitens der Öffentlichkeit allzu häufig sugge- (3) Von einem »planmäßigen Erobe- riert wird, nur eines sein zu können – rungsfeldzug« durch den Islam islamisch und herkunftsbewusst oder sprach der bayerische Landesvorsit- demokratisch und deutsch. Wird ih- zende der Partei »Die Freiheit« auf nen jedoch Anerkennung signalisiert deren Bundesparteitag 2011: »Wir und deutlich gemacht, dass sie sehr sind hier in einem Kampf, in dem es wohl beides sein können, sieht man keinezweiteChancegibt.WasderIs- manchmal förmlich, wie eine Last lam einmal in den Händen hat, das von ihren Schultern fällt. wird er nicht wieder loslassen.«, zit. nach: Shooman, Yasemin: Das Zu- sammenspiel von Kultur, Religion, Anmerkungen: Ethnizität und Geschlecht im anti- muslimischen Rassismus, in: ApuZ (1) Das Zitat wurde entnommen der 16–17/2012, S.57. Einladung zu einer Podiumsdiskus- sion der Jungen Islam Konferenz (4) So Wilhelm Heitmeyer in diversen (JIK), die unter dem Titel »Hassflu- Interviews.IndenvonseinerFor- ten im anonymen Raum. E-Mails, schungsgruppe herausgegebenen Leserbriefe und Kommentare an Bänden untersuchte er in repräsenta- Menschen, die das Thema Islam in tiven Studien von 2002–2011 unter Deutschland streifen« am 2. März dem Titel »Deutsche Zustände« ver- 2012 in Berlin stattfand. Dokumen- schiedene Formen von »gruppen- tiert wurden im Veranstaltungsflyer bezogener Menschenfeindlichkeit«; E-Mails und Schreiben, die in der zuletzt: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) Vergangenheit an die einzelnen Podi- Deutsche Zustände, Folge 10, Frank- umsteilnehmer gerichtet worden wa- furt/M. 2011. (Zum GMF-Projekt ren. und den Bänden 1–10 siehe hier: http://www.uni-bielefeld.de/ikg/ (2) Die Website PI und die dort zum Handout_Fassung_Montag_ Ausdruck kommenden Muster von 1212.pdf). islamfeindlichen und rassistischen Argumenten, Stereotypen, Ressenti- (5) taz vom 4. Dezember 2010. ments und Hasspropaganda hat erst- mals Yasemin Shooman ausführlich (6) So Edathy im Portal abgeordne analysiert: Shooman, Yasemin: Is- tenwatch.de. Er stellte – auch wegen lamfeindschaft im Wold Wide Web, persönlicher Hetze gegen ihn selbst – in: Wolfgang Benz, Jahrbuch für An- Strafanzeige gegen PI. In einer Pres- tisemitismusforschung 17, Berlin semitteilung der Bundesregierung 2008, S.69–96. (Zu Begriff und Ge- hieß es jedoch, dass eine rechtsextre- schichte der Islamfeindschaft siehe mistische Ausrichtung von PI derzeit JOCHEN MÜLLER 405 nicht festgestellt werden könne. In- Moellendorf: Muslime in der deut- wiefern Handlungsbedarf bestehe, sei schen Gesellschaft – eine Zielgruppe »eine Frage des Einzelfalls und allein der politischen Bildung?, in: Zu- von den jeweils zuständigen Strafver- kunftsforum Politik Nr.106, 2011). folgungsbehörden zu beurteilen« (PM Zahlen zu Migranten und Muslimen der Bundesregierung vom 1. Dezem- in Deutschland, die den Vorurtreilen ber 2011: widersprechen, hat auch Naika Fo- http://www.bundestag.de/presse/ routan im Forschungsprojekt HEY- hib/2011_12/2011_499/08.html). MAT im Zuge der Sarrazin-Debatte zusammengestellt und kommentiert (7) Zitat aus der Einladung zur oben (http://www.heymat.hu-berlin.de/ genannten Podiumsdiskussion der dossier-sarrazin-2010). Sie betont u.a. JIK (s. Anm 1). Die Zitate wurden den in einer ganzen Reihe von Studien anonymisiert. dokumentierten Integrationswillen der meisten in Deutschland lebenden (8) Zusammenstellung der Zahlen Muslime. Demnach nahmen 77 % der aus: Zick, Andreas: Das Potenzial in dazu aufgeforderten Muslime an Inte- Deutschland. Islamfeindliche Ein- grationskursen teil, 84 % der »Tür- stellungen in der Bevölkerung, in: ken« meinen, dass man ohne die deut- Benz, Wolfgang/Pfeiffer,Thomas sche Sprache als Zuwanderer keinen (Hrsg.), »WIR oder Scharia?« Islam- Erfolg haben könne, 80 % der »Tür- feindliche Kampagnen im Rechtsex- ken« (mit und ohne deutsche Staats- tremismus, 2011, S.31–49. Zu ähnli- bürgerschaft)lebenaufderGrundlage chen Ergebnissen kommen andere eigener Einkommensquellen. Und: Untersuchungen wie etwa: Biele- 63%derBefragtensindderMeinung, feldt, Heiner: Das Islambild in dass jeder sich hocharbeiten kann, der Deutschland. Zum öffentlichen Um- sich anstrenge – in der Gesamtbevöl- gang mit der Angst um den Islam, in: kerung sehen das nur 57 % so. (Unter Schneider, Thorsten Gerald (Hrsg.): anderem beziehtsichForoutanauf die Islamfeindlichkeit. Wenn die Gren- BAMF-Studie »Muslimisches Leben zen der Kritik verschwimmen, 2009, in Deutschland«, eine Sinus-Um- S.167–200. frage, die Heitmeyer-Studien »Deut- sche Zustände«, Allensbach-Umfra- (9) Zahlen, die diesen Bildern wider- gen, die Studie von Heiner Bielefeldt sprechende Schlüsse nahelegen, wer- »Das Islambild in Deutschland« so- den häufig ignoriert: Dass etwa das wie Untersuchungen des Instituts für Vertrauen von deutschenMuslimenin Mittelstandsforschung der Uni InstitutionendesRechtsstaatsundder Mannheim.) freiheitlichen Ordnung (Polizei, Jus- tiz, Parlamente, Medien) in der Regel (10) Vergleiche zum Folgenden: Zick, ebenso und oft stärker ausgeprägt ist Andreas: a.a.O.; Shooman, Yasemin: als unter Nichtmuslimen, wird wenig Das Zusammenspiel ..., a. a. O.; reflektiert (s. dazu: von Wilamowitz- Müller, Jochen: Die Islamophobie 406 »WIE VIEL ISLAM VERTRÄGT DAS LAND?« und was sie vom Antisemitismus uner- gleichnamigen Modellprojekt, Bonn scheidet, in einem bpb-Dossier: 2011, S.24 ff. http://www.bpb.de/politik/extremis mus/antisemitismus/37969/antisemi (17) taz vom 13. September 2010: tismus-und-islamophobie; s. auch: http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/ Farid Hafez (Hrsg.): Jahrbuch für artikel/?ressort=sw&dig=2010 %2 Islamophobieforschung. Deutsch- F09 %2F13 %2Fa0083&cHash=bf8c land, Österreich, Schweiz, Innsbruck 68c271. 2010; Bundschuh/Drücker/Jagusch (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Aspekte, (18) Viola Neu, Jugendliche und Isla- Stimmen, Gegenstrategien, Düssel- mismus in Deutschland. Auswertung dorf 2012. einer qualitativen Studie der Korad- Adenauer-Stiftung, Berlin 2011, (11) BILD vom 5. Oktober 2010. www.kas.de, S.31 ff.

(12) Focus vom 18. Oktober 2010. (19) Toprak, Ahmet, Integrationsun- willige Muslime?: Ein Milieubericht, (13) Vgl. Widmann, Arno, Wer kann Freiburg 2010, S.153 ff. Zuletzt hat schon Deutsch?, in: Berliner Zeitung, eine Studie von Amnesty Internatio- 20. April 2012 S.2. nal Vorurteile und Diskriminierung vonMuslimeninEU-Länderndarge- (14) Vor diesem Hintergrund dürfte legt und u.a. gezeigt, wie sich diese in bereits der Kauf des Buches von Ablehnung auf dem Arbeitsmarkt Thilo Sarrazin für viele ein politisches niederschlagen: Statement gewesen und das Werk auf http://www.amnesty.org/en/library/ diese Weise zum wohl meistverkauf- info/EUR01/001/2012/en. Erhe- ten nichtgelesenen Sachbuch der ver- bungsdaten über individuelle Dis- gangenen Jahrzehnte geworden sein. kriminierungserlebnisse und die Wahrnehmung kollektiver Marginali- (15) Über dieses WIR hat Navid Ker- sierung bei muslimischen Jugendli- mani ein sehr schönes Buch geschrie- cheninDeutschlandfindensichinder ben: Kermani, Wer ist Wir? Deutsch- BMI-Studie »Muslime in Deutsch- land und seine Muslime, München land« (S.236 ff.). 2009. (20) Götz Nordbruch zeigt verschie- (16) Müller, Jochen: »Er hat nicht dene jugendkulturelle Erscheinungs- richtig zugehört«. Die Dialoggruppe formen solcher Identitäts- und einer Neuköllner Oberstufe trifft Zugehörigkeitsfindungsprozesse: Thilo Sarrazin, in: Jugendkultur Reli- Nordbruch, Götz: Ethnozentrische gion Demokratie. Politische Bildung Gemeinschaftsvorstellungen bei Ju- mit Jugendlichen in der Einwande- gendlichen mit Migratoinshinter- rungsgesellschaft, Broschüre der bpb grund, in: ApuZ 16–17/2012, S.42 ff. und der Robert-Bosch-Stiftung zum JOCHEN MÜLLER 407

(21) Zu den Salafisten siehe: Berlin 2011; sowie den Beitrag von Dantschke/Mansour/Müller/Ser- Claudia Dantschke in diesem Band. best: »Ich lebe nur für Allah«. Argu- mente und Anziehungskraft des Sala- (22) Siehe zur Arbeit mit Jugendli- fismus, herausgegeben von: ZDK, chen von ufuq.de: www.ufuq.de/pro jekte.

ANHANG

60 VERFASSUNGSSCHUTZ 1952 – 2012

411

Autorenverzeichnis

Sercan Bayrak M.A., Politikwissenschaftlerin und Soziologin; wissenschaftliche Mitarbeiterin in der »Analysegruppe Internationaler Extremismus und Terrorismus« beim Lan- desamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Bettina Blank Dr.phil., Politikwissenschaftlerin; wissenschaftliche Mitarbeiterin Linksextremis- mus beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Beate Bube Juristin; Präsidentin des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Claudia Dantschke Dipl.-Sprachmittlerin für Arabisch und Französisch; Leiterin der Arbeitsstelle Is- lamismus und Ultranationalismus der ZDK Gesellschaft für demokratische Kul- tur gGmbH, Berlin.

Frank Dittrich Jurist; Stellvertretender Amtsleiter und Leiter der Abteilung Rechts-/Linksextre- mismus und -terrorismus beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Würt- temberg.

Tobias Faller Dipl.-Verwaltungswirt; Mitarbeiter im Referat Scientology-Organisation beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Rainer Griesbaum Jurist; Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Ständiger Vertreter des General- bundesanwalts beim Bundesgerichtshof und Abteilungsleiter Terrorismus.

Walter Jung Dr. phil., Historiker; wissenschaftlicher Mitarbeiter Rechtsextremismus beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Benno Köpfer Dr.phil., Islamwissenschaftler; Leiter der »Analysegruppe Internationaler Extre- mismus und Terrorismus« beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Würt- temberg. 412 AUTORENVERZEICHNIS

Christian Menhorn Freier Autor zu Themen über jugendliche Subkulturen und Rechtsextremismus.

Albrecht Metzger Islamwissenschaftler; freier Journalist (u.a. für »Die Zeit«) mit Schwerpunkt Isla- mismus.

Herbert Landolin Müller Dr.phil., Historiker und Islamwissenschaftler; Leiter der Abteilung Internationa- ler Extremismus und Terrorismus beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden- Württemberg.

Jochen Müller Dr.phil., Islamwissenschaftler, Publizist und Fortbildner; Mitbegründer des Ver- eins »ufuq.de – Jugendkultur, Medien & politische Bildung in der Einwanderungs- gesellschaft«.

Armin Pfahl-Traughber Dr.phil., Politikwissenschaftler und Soziologe; Professor an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl mit den Schwerpunktthemen »Ex- tremismus« und »Ideengeschichte«, Herausgeber des »Jahrbuchs für Extremis- mus- und Terrorismusforschung«.

Michael Reinhard M.A., Islamwissenschaftler; wissenschaftlicher Mitarbeiter in der »Analyse- gruppe Internationaler Extremismus und Terrorismus« beim Landesamt für Ver- fassungsschutz Baden-Württemberg.

Holger Schmidt LL.M.; Redakteur des Südwestrundfunks, »ARD-Terrorexperte«.

Svenja Schneider Juristin; Referentin für Rechtsangelegenheiten beim Landesamt für Verfassungs- schutz Baden-Württemberg.

Stefan Schnöckel Dr. iur., LL.M.; Leiter der Abteilung Spionageabwehr, Geheim- und Sabotage- schutz, Mitwirkungsaufgaben, Scientology-Organisation beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Winfriede Schreiber Juristin; Leiterin des Verfassungsschutzes des Landes Brandenburg. AUTORENVERZEICHNIS 413

Klaus Schroeder Prof. Dr.rer.pol.habil.; Politikwissenschaftler und Zeithistoriker; wissenschaftli- cher Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin; Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.

Georg Spielberg Dipl.-Theologe, Journalist; Lektor beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Ilker Vidinlioglu ˘ M.A., Politikwissenschaftler und Soziologe; Referent für Presse- und Öffentlich- keitsarbeit beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Harald Woll Jurist; bis April 2010 Leiter der Abteilung Spionageabwehr, Geheim- und Sabota- geschutz, Mitwirkungsaufgaben, Scientology-Organisation beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Michael Zügel Dr. iur.; behördlicher Datenschutzbeauftragter des Landesamts für Verfassungs- schutz Baden-Württemberg.

415

Gesetz über den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg (Landesverfassungsschutzgesetz – LVSG) in der Fassung vom 5. Dezember 2005

Inhaltsübersicht

§ 1 Zweck des Verfassungsschutzes § 9 Übermittlung personenbezoge- ner Daten an das Landesamt für § 2 Organisation, Zuständigkeit Verfassungsschutz

§ 3 Aufgaben des Landesamtes für § 10 Übermittlung personenbezo- Verfassungsschutz, Vorausset- gener Daten durch das Landes- zungen für die Mitwirkung an amt für Verfassungsschutz Überprüfungsverfahren § 11 Übermittlungsverbote §4 Begriffsbestimmungen § 12 Unterrichtung der Öffentlich- § 5 Befugnisse des Landesamtes für keit Verfassungsschutz § 13 Auskunft an den Betroffenen § 5a Einholen von Auskünften bei nicht-öffentlichen Stellen § 14 Berichtigung, Löschung und Sperrung personenbezogener § 6 Erhebung personenbezogener Daten Daten mit nachrichtendienstli- chen Mitteln § 15 Parlamentarische Kontrolle

§ 7 Speicherung, Veränderung und § 16 Einschränkung von Grund- Nutzung personenbezogener rechten Daten § 17 Erlass von Verwaltungsvor- § 8 Speicherung, Veränderung und schriften Nutzung personenbezogener Daten von Minderjährigen § 18 Inkrafttreten 416 LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG

§1 Deutschland und ihrer Länder früh- Zweck des Verfassungsschutzes zeitig zu erkennen und den zuständi- gen Stellen zu ermöglichen, diese Ge- Der Verfassungsschutz dient dem fahren abzuwehren. Schutz der freiheitlichen demokrati- schen Grundordnung, des Bestandes (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben und der Sicherheit der Bundesrepu- sammelt das Landesamt für Verfas- blik Deutschland und ihrer Länder. sungsschutz Informationen, insbe- sondere sach- und personenbezogene Auskünfte, Nachrichten und Unter- §2 lagen von Organisationen und Perso- Organisation, Zuständigkeit nen über

(1) Zur Wahrnehmung der Aufgaben 1. Bestrebungen, die gegen die frei- des Verfassungsschutzes unterhält heitliche demokratische Grund- das Land ein Landesamt für Verfas- ordnung, den Bestand oder die sungsschutz. Das Amt hat seinen Sitz Sicherheit des Bundes oder eines in Stuttgart und untersteht dem In- Landes gerichtet sind oder eine nenministerium. ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfas- (2) Verfassungsschutzbehörden an- sungsorgane des Bundes oder eine derer Länder dürfen im Geltungs- Landes oder ihrer Mitglieder zum bereich dieses Gesetzes nur im Ein- Ziele haben, vernehmen mit dem Landesamt für Verfassungsschutz tätig werden. 2. sicherheitsgefährdende oder ge- heimdienstliche Tätigkeiten im (3) Das Landesamt für Verfassungs- Geltungsbereich des Grundgeset- schutz darf einer Polizeidienststelle zes für eine fremde Macht, nicht angegliedert werden. 3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch die §3 Anwendung von Gewalt oder da- Aufgaben des Landesamtes für rauf gerichtete Vorbereitungs- Verfassungsschutz, Vorausset- handlungen auswärtige Belange zungen für die Mitwirkung an der Bundesrepublik Deutschland Überprüfungsverfahren gefährden,

(1) Das Landesamt für Verfassungs- 4. Bestrebungen im Geltungsbereich schutz hat die Aufgabe, Gefahren für dieses Gesetzes, die gegen den Ge- die freiheitliche demokratische danken der Völkerverständigung Grundordnung, den Bestand und (Artikel 9 Abs.2 des Grundgeset- die Sicherheit der Bundesrepublik zes), insbesondere gegen das fried- LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG 417

liche Zusammenleben der Völker fung von Personen, die sich um (Artikel 26 Abs.1 des Grundgeset- Einstellung in den öffentlichen zes), gerichtet sind, Dienst bewerben, sowie auf An- forderung der Beschäftigungsbe- und wertet sie aus. Sammlung und hörde bei der Überprüfung von Auswertung von Informationen nach Beschäftigten im öffentlichen Satz 1 setzen im Einzelfall voraus, Dienst, bei denen der auf Tatsa- dass für Bestrebungen oder Tätigkei- chen beruhende Verdacht be- ten nach Satz 1 tatsächliche Anhalts- steht, dass sie gegen die Pflicht punkte vorliegen. zur Verfassungstreue verstoßen,

(3) Das Landesamt für Verfassungs- 5. bei der sicherheitsmäßigen Über- schutz wirkt mit prüfung von Einbürgerungsbe- werbern, 1. beiderSicherheitsüberprüfungvon Personen, denen im öffentlichen 6. bei der sicherheitsmäßigen Über- Interesse geheimhaltungsbedürf- prüfung von Ausländern im Rah- tige Tatsachen, Gegenstände oder men der Bestimmungen des Aus- Erkenntnisse anvertraut werden, länderrechts, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich verschaffen können, 7. bei der Überprüfung der Zuver- lässigkeit von Personen nach dem 2. bei der Sicherheitsüberprüfung Waffen-, Sprengstoff- und Jagd- von Personen, die an sicherheits- recht, empfindlichen Stellen von le- bens- oder verteidigungswichti- 8. bei der Überprüfung der Zuver- gen Einrichtungen beschäftigt lässigkeit von Personen nach sind oder werden sollen, §12bdesAtomgesetzes,

3. bei technischen oder organisato- 9. bei der sicherheitsmäßigen Über- rischen Sicherheitsmaßnahmen prüfung von Personen, die zu zum Schutze von im öffentlichen sicherheitsempfindlichen Berei- Interesse geheimhaltungsbedürf- chen von Flughäfen Zutritt ha- tigen Tatsachen, Gegenständen ben, nach § 29 c des Luftver- oder Erkenntnissen gegen die kehrsgesetzes, Kenntnisnahme durch Unbe- fugte sowie bei Maßnahmen des 10. bei sonstigen Überprüfungen, vorbeugenden Sabotageschutzes, soweit dies im Einzelfall zum Schutz der freiheitlichen demo- 4. auf Anforderungen der Einstel- kratischen Grundordnung oder lungsbehörde bei der Überprü- für Zwecke der öffentlichen Si- cherheit erforderlich ist. Näheres 418 LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG

wird durch Verwaltungsvorschrift che politisch bestimmten, ziel- des Innenministeriums bestimmt. und zweckgerichteten Verhaltens- weisen in einem oder für einen Die Mitwirkung des Landesamtes für Personenzusammenschluss, der Verfassungsschutz nach Satz 1 erfolgt darauf gerichtet ist, die Freiheit in der Weise, dass es eigenes Wissen des Bundes oder eines Landes von oder bereits vorhandenes Wissen der fremder Herrschaft aufzuheben, für die Überprüfung zuständigen Be- ihre staatliche Einheit zu beseiti- hörde oder sonstiger öffentlicher gen oder ein zu ihm gehörendes Stellen auswertet. In den Fällen des Gebiet abzutrennen; Satzes 1 Nummern 1 und 2 führt das Landesamt für Verfassungsschutz 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit weitergehende Ermittlungen durch, des Bundes oder eines Landes sol- wenn die für die Überprüfung zu- che politisch bestimmten, ziel- ständige Behörde dies beantragt. und zweckgerichteten Verhaltens- weisen in einem oder für einen (4) Die Mitwirkung des Landesam- Personenzusammenschluss, der tes für Verfassungsschutz nach Ab- darauf gerichtet ist, den Bund, satz 3 setzt im Einzelfall voraus, dass Ländern oder deren Einrichtun- der Betroffene und andere in die gen in ihrer Funktionsfähigkeit er- Überprüfung einbezogene Personen heblich zu beeinträchtigen; über Zweck und Verfahren der Über- prüfung einschließlich der Verarbei- 3. Bestrebungen gegen die freiheitli- tung der erhobenen Daten durch die che demokratische Grundord- beteiligten Dienststellen unterrichtet nung solche politisch bestimmten, werden. Darüber hinaus ist im Falle ziel- und zweckgerichteten Ver- der Einbeziehung anderer Personen haltensweisen in einem oder für ei- in die Überprüfung deren Einwilli- nen Personenzusammenschluss, gung und im Falle weitergehender der darauf gerichtet ist, einen der ErmittlungennachAbsatz3Satz3 in Absatz 2 genannten Verfas- die Einwilligung des Betroffenen er- sungsgrundsätze zu beseitigen forderlich. Die Sätze 1 und 2 gelten oder außer Geltung zu setzen. nur, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Für einen Personenzusammenschluss handelt, wer ihn in seinen Bestrebun- gen aktiv sowie ziel- und zweckge- §4 richtet unterstützt. Verhaltensweisen Begriffsbestimmungen von Einzelpersonen, die nicht in ei- nem oder für einen Personenzusam- (1) Im Sinne des Gesetzes sind menschluss handeln, sind Bestrebun- gen im Sinne dieses Gesetzes, wenn 1. Bestrebungen gegen den Bestand sie auf Anwendung von Gewalt ge- des Bundes oder eines Landes sol- richtet sind oder aufgrund ihrer Wir- LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG 419 kungsweise geeignet sind, ein Schutz- §5 gut dieses Gesetzes erheblich zu be- Befugnisse des Landesamtes schädigen. für Verfassungsschutz

(2) Zur freiheitlichen demokrati- (1) Das Landesamt für Verfassungs- schen Grundordnung im Sinne dieses schutz kann die zur Erfüllung seiner Gesetzes zählen: Aufgaben nach § 3 erforderlichen In- formationen verarbeiten. Soweit die- 1. das Recht des Volkes, die Staats- ses Gesetz keine Regelungen trifft, gewalt in Wahlen und Abstim- richtet sich die Verarbeitung perso- mungen und durch besondere nenbezogener Daten nach den Vor- Organe der Gesetzgebung, der schriften des Landesdatenschutzge- vollziehenden Gewalt und der setzes mit Ausnahme der §§ 8 und 13 Rechtsprechung auszuüben und Abs.2bis4sowie§§14bis24des die Volksvertretung in allgemeiner Landesdatenschutzgesetzes. unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, (2) Werden personenbezogene Daten beim Betroffenen mit seiner Kenntnis 2. die Bindung der Gesetzgebung an erhoben, so ist der Erhebungszweck die verfassungsmäßige Ordnung anzugeben. Der Betroffene ist auf die und die Bindung der vollziehen- Freiwilligkeit seiner Angaben und bei den Gewalt und der Rechtspre- einer Sicherheitsüberprüfung nach § 3 chung an Gesetz und Recht, Abs.3 auf eine dienst-, arbeitsrechtli- che oder sonstige vertragliche Mitwir- 3. das Recht auf Bildung und Aus- kungspflicht hinzuweisen. übung einer parlamentarischen Opposition, (3) Polizeiliche Befugnisse oder Wei- sungsbefugnisse stehen dem Landes- 4. die Ablösbarkeit der Regierung amt für Verfassungsschutz nicht zu; und ihre Verantwortlichkeit ge- es darf die Polizei auch nicht im Wege genüber der Volksvertretung, der Amtshilfe um Maßnahmen ersu- chen, zu denen es selbst nicht befugt 5. die Unabhängigkeit der Gerichte, ist. Abweichend hiervon ist es jedoch berechtigt, die Polizei in eilbedürfti- 6.derAusschlussjederGewalt-und genFällenaußerhalbderregulären Willkürherrschaft und Dienstzeiten des Kraftfahrtbundes- amtes um eine Abfrage aus dem Fahr- 7. die im Grundgesetz konkretisier- zeugregister beim Kraftfahrtbundes- ten Menschenrechte. amt im automatisierten Verfahren zu ersuchen. 420 LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG

(4) Von mehreren geeigneten Maß- lung seiner Aufgaben nach § 3 Abs.2 nahmen hat das Landesamt für Ver- Satz 1 Nr.2 bis 4 unter den Vorausset- fassungsschutz diejenige zu wählen, zungen des § 3 Abs.1 des Artikel 10- die den Betroffenen voraussichtlich Gesetzes vom 26. Juni 2001 (BGBl. I am wenigsten beeinträchtigt. Eine S.1254, ber. S.2298) bei Personen Maßnahme darf keinen Nachteil her- und Unternehmen, die geschäftsmä- beiführen, der erkennbar außer Ver- ßig Postdienstleistungen erbringen, hältnis zu dem beabsichtigten Erfolg sowie bei denjenigen, die an der Er- steht. bringung dieser Dienstleistungen mitwirken, unentgeltlich Auskünfte zu Namen, Anschriften, Postfächern §5a und sonstigen Umständen des Post- Einholen von Auskünften bei verkehrs einholen. nicht-öffentlichen Stellen (3) Das Landesamt für Verfassungs- (1) Wenn es zur Erfüllung seiner schutz darf im Einzelfall zur Er- Aufgaben nach § 3 Abs.2 Satz 1 Nr.2 füllung seiner Aufgaben nach § 3 bis 4 erforderlich ist und tatsächliche Abs.2Satz1Nr.2bis4unterden Anhaltspunkte für schwerwiegende Voraussetzungen des § 3 Abs.1 des Gefahren für die dort genannten Artikel 10-Gesetzes bei denjenigen, Schutzgüter vorliegen, darf das Lan- die geschäftsmäßig Telekommu- desamt für Verfassungsschutz im nikationsdienste und Teledienste Einzelfall unentgeltlich Auskünfte zu erbringen oder daran mitwirken, un- entgeltlich Auskünfte über Telekom- 1. Konten, Konteninhabern und munikationsverbindungsdaten und sonstigen Berechtigten sowie wei- Teledienstenutzungsdaten einholen. teren am Zahlungsverkehr Betei- Die Auskunft kann auch in Bezug auf ligten und zu Geldbewegungen zukünftige Telekommunikation und und Geldanlagen bei Kreditinsti- zukünftige Nutzung von Telediens- tuten, Finanzdienstleistungsinsti- ten verlangt werden. Telekommuni- tuten und Finanzunternehmen, kationsverbindungsdaten und Tele- dienstenutzungsdaten sind: 2. Namen, Anschriften und zur Inanspruchnahme von Transport- 1. Berechtigungskennungen, Kar- leistungen und sonstigen Umstän- tennummern, Standortkennungen den des Luftverkehrs bei Luft- sowie Rufnummer oder Kennung fahrtunternehmen des anrufenden und angerufenen Anschlusses oder der Endeinrich- einholen. tung,

(2) Das Landesamt für Verfassungs- 2. Beginn und Ende der Verbindung schutz darf im Einzelfall zur Erfül- nach Datum und Uhrzeit, LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG 421

3. Angaben über die Art der vom nen und personenbezogenen Daten Kunden in Anspruch genomme- erstreckt. Entscheidungen über Aus- nen Telekommunikations- und künfte, die die Kommission für unzu- Teledienst-Dienstleistungen, lässig oder nicht notwendig erklärt, hat das Innenministerium unverzüg- 4. Endpunkte festgeschalteter Ver- lich aufzuheben. bindungen, ihr Beginn und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit. (6) Für die Verarbeitung der nach den Absätzen 1 bis 3 erhobenen Da- (4) Auskünfte nach den Absätzen 1 ten ist § 4 des Artikel 10-Gesetzes bis 3 dürfen nur auf Antrag eingeholt entsprechend anzuwenden. werden. Der Antrag ist durch den Leiter des Landesamtes für Verfas- (7) Das Auskunftsersuchen und die sungsschutz oder seinen Vertreter übermittelten Daten dürfen dem Be- schriftlichzustellenundzubegrün- troffenen oder Dritten vom Aus- den. Über den Antrag entscheidet das kunftsgeber nicht mitgeteilt werden. Innenministerium. (8) Für die Mitteilung an den Betrof- 5) Das Innenministerium unterrich- fenen findet § 12 Abs.1 und 3 des Ar- tet die Kommission nach § 2 Abs.2 tikel 10-Gesetzes entsprechende An- des Ausführungsgesetzes zum Arti- wendung. kel 10-Gesetz über die beschiedenen Anträge vor deren Vollzug. Bei Ge- (9) Das Innenministerium unterrich- fahr in Verzug kann das Innenminis- tet im Abstand von höchstens sechs terium den Vollzug der Entscheidung Monaten das Gremium nach § 2 auch bereits vor der Unterrichtung Abs.1 des Ausführungsgesetzes zum der Kommission anordnen; in diesem Artikel 10-Gesetz über die Durch- Fall ist die Kommission unverzüglich führung von Maßnahmen nach den zu unterrichten. Die Kommission Absätzen 1 bis 3. Dabei ist insbeson- prüft von Amts wegen oder aufgrund dere ein Überblick über Anlass, Um- von Beschwerden die Zulässigkeit fang, Dauer, Ergebnis und Kosten der und Notwendigkeit der Einholung im Berichtszeitraum durchgeführten von Auskünften nach den Absätzen 1 Maßnahmen zu geben. bis 3. § 15 Abs.5 des Artikel 10-Ge- setzes ist mit der Maßgabe entspre- (10) Das Innenministerium unter- chend anzuwenden, dass die Kon- richtet das Parlamentarische Kon- trollbefugnis der Kommission sich trollgremium des Bundes jährlich auf die gesamte Erhebung, Verarbei- über die nach den Absätzen 1 bis 3 tung und Nutzung der nach den Ab- durchgeführten Maßnahmen. Ab- sätzen 1 bis 3 erlangten Informatio- satz9Satz2giltentsprechend. 422 LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG

§6 geheimdienstliche Tätigkeiten er- Erhebung personenbezogener forderlich ist. Daten mit nachrichten- dienstlichen Mitteln (3) Das in einer Wohnung nicht öf- fentlich gesprochene Wort darf mit (1) Das Landesamt für Verfassungs- technischen Mitteln nur dann heim- schutz kann Methoden, Gegenstände lich mitgehört oder aufgezeichnet und Instrumente zur heimlichen werden, wenn es im Einzelfall zur Informationsbeschaffung, wie den Abwehr einer gegenwärtigen gemei- Einsatz von Vertrauensleuten und nen Gefahr oder einer gegenwärtigen Gewährspersonen, Observationen, Lebensgefahr für einzelne Personen Bild- und Tonaufzeichnungen, unerlässlich ist und geeignete polizei- Tarnpapiere und Tarnkennzeichen liche Hilfe für das bedrohte Rechts- anwenden (nachrichtendienstliche gut nicht rechtzeitig erlangt werden Mittel). Diese sind in einer Dienst- kann. Satz 1 gilt entsprechend für den vorschrift zu benennen, die auch die verdeckten Einsatz technischer Mit- Zuständigkeit für die Anordnung tel zur Anfertigung von Bildaufnah- solcher Informationsbeschaffung re- men und Bildaufzeichnungen in gelt. Die Dienstvorschrift bedarf der Wohnungen. Maßnahmen nach Satz Zustimmung des Innenministeriums, 1 und 2 bedürfen der Anordnung das den Ständigen Ausschuss des durch das Amtsgericht, in dessen Be- Landtags unterrichtet. zirk sie durchgeführt werden sollen. §31Abs.5Satz2bis4desPolizeige- (2) Das Landesamt für Verfassungs- setzes sind entsprechend anzuwen- schutz kann personenbezogene Da- den. Bei Gefahr im Verzug können ten und sonstige Informationen mit die Maßnahmen nach Satz 1 und 2 nachrichtendienstlichen Mitteln er- vom Leiter des Landesamtes für Ver- heben, wenn tatsächliche Anhalts- fassungsschutz angeordnet werden; punkte dafür vorhanden sind, dass diese Anordnung bedarf der Bestäti- gung durch das Amtsgericht. Sie ist 1. auf diese Weise Erkenntnisse über unverzüglich herbeizuführen. Einer Bestrebungen oder Tätigkeiten Anordnung durch das Amtsgericht nach § 3 Abs.2 oder die zur Erfor- bedarf es nicht, wenn technische Mit- schung solcher Erkenntnisse er- tel ausschließlich zum Schutz der bei forderlichen Quellen gewonnen einem Einsatz in Wohnungen tätigen werden können oder Personen vorgesehen sind; die Maß- nahme ist in diesem Fall durch den 2. dies zur Abschirmung der Mit- Leiter des Landesamtes für Verfas- arbeiter, Einrichtungen, Gegen- sungsschutz anzuordnen. Eine ander- stände und Quellen des Lan- weitige Verwertung der hierbei er- desamtes für Verfassungsschutz langten Erkenntnisse zum Zweck der gegen sicherheitsgefährdende oder Gefahrenabwehr ist nur zulässig, LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG 423 wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der sind nach Beendigung der Maßnahme Maßnahme durch das Amtsgericht unverzüglich zu löschen. § 5a Abs.4 festgestellt worden ist; bei Gefahr im bis 9 gilt entsprechend. Verzug ist die richterliche Entschei- dung unverzüglich nachzuholen. Die (5) Die Erhebung nach den Vor- Landesregierung unterrichtet den schriften der Absätze 2 bis 4 ist unzu- Landtag jährlich über den nach die- lässig, wenn die Erforschung des sem Absatz erfolgten Einsatz techni- Sachverhalts auf andere, den Betrof- scher Mittel. Die parlamentarische fenen weniger beeinträchtigende Kontrolle wird auf der Grundlage Weise möglich ist; eine geringere Be- dieses Berichtes durch das Gremium einträchtigung ist in der Regel anzu- nach Artikel 10 des Grundgesetzes nehmen, wenn die Informationen ausgeübt. durch Auskunft nach § 9 Abs.3 gewonnen werden können. Die (4) Das Landesamt für Verfassungs- Anwendung des nachrichtendienst- schutz darf zur Erfüllung seiner Auf- lichen Mittels darf nicht erkennbar gabennach§3Abs.2Satz1Nr.1, außer Verhältnis zur Bedeutung des sofern die dort genannten Bestrebun- aufzuklärenden Sachverhalts stehen. gen durch Anwendung von Gewalt Die Maßnahme ist unverzüglich zu oder darauf ausgerichtete Vorberei- beenden, wenn ihr Zweck erreicht ist tungshandlungen verfolgt werden, oder sich Anhaltspunkte dafür erge- sowie zur Erfüllung seiner Aufgaben ben, dass er nicht oder nicht auf diese nach§3Abs.2Satz1Nr.2bis4unter Weise erreicht werden kann. den Voraussetzungen des § 3 Abs.1 des Artikel 10-Gesetzes auch techni- (6) Bei Erhebungen nach den Absät- sche Mittel zur Ermittlung des Stand- zen 3 und 4 und solchen nach Absatz ortes eines aktiv geschalteten Mobil- 2, die in ihrer Art und Schwere einer funkgerätes und zur Ermittlung der Beschränkung des Brief-, Post- und Geräte- und Kartennummern einset- Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10 zen. Die Maßnahme ist nur zulässig, des Grundgesetzes) gleichkommen, wenn ohne die Ermittlung die Errei- ist der Eingriff nach seiner Beendi- chung des Zwecks der Überwa- gung der betroffenen Person mitzu- chungsmaßnahme aussichtslos oder teilen, sobald eine Gefährdung des wesentlich erschwert wäre. Für die Zweckes der Maßnahme ausge- Verarbeitung der Daten gilt § 4 des schlossen werden kann. § 12 des Arti- Artikel 10-Gesetzes entsprechend. kel 10-Gesetzes gilt entsprechend. Personenbezogene Daten eines Drit- Die durch solche Maßgabe erhobe- ten dürfen anlässlich solcher Maß- nen Informationen dürfen nur nach nahmen nur erhoben werden, wenn Maßgabe von § 4 des Artikel 10-Ge- dies aus technischen Gründen zur Er- setzes verwendet werden. § 2 Abs.1 reichung des Zwecks nach Satz 1 un- des Ausführungsgesetzes zum Arti- vermeidbar ist. Sie unterliegen einem kel 10-Gesetz findet entsprechende absoluten Verwertungsverbot und Anwendung. 424 LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG

(7) Die Befugnisse des Landesamtes Personengruppen der Betroffene zu- für Verfassungsschutz nach dem Ar- zuordnen ist. tikel 10 Gesetz bleiben unberührt. 3) Die nach Absatz 1 Nummer 3 und Absatz 2 gespeicherten personenbe- §7 zogenen Daten dürfen nur für die Speicherung, Veränderung und dort genannten Zwecke sowie für Nutzung personenbezogener Zwecke verwendet werden, die für Daten die Wahrnehmung von Aufgaben nach § 3 Abs.2 erforderlich sind. (1) Das Landesamt für Verfassungs- schutz kann zur Erfüllung seiner 4) Das Landesamt für Verfassungs- Aufgaben personenbezogene Daten schutz hat die Speicherungsdauer auf speichern, verändern und nutzen, das für seine Aufgabenerfüllung er- wenn forderliche Maß zu beschränken.

1. tatsächliche Anhaltspunkte für (5) Personenbezogene Daten, die Bestrebungen oder Tätigkeiten ausschließlich zu Zwecken der Da- nach § 3 Abs.2 vorliegen, tenschutzkontrolle, der Datensiche- rung oder zur Sicherstellung eines 2. dies für die Erforschung und Be- ordnungsgemäßen Betriebs einer Da- wertung von Bestrebungen oder tenverarbeitungsanlage gespeichert Tätigkeiten nach § 3 Abs.2 erfor- werden, dürfen nur für diese Zwecke derlich ist oder und hiermit in Zusammenhang ste- hende Maßnahmen gegenüber Be- 3. das Landesamt für Verfassungs- diensteten genutzt werden. schutz nach § 3 Abs.3 tätig wird.

(2) Zur Aufgabenerfüllung nach § 3 §8 Abs.3 dürfen vorbehaltlich des Satzes Speicherung, Veränderung und 2 in automatisierten Dateien nur Da- Nutzung personenbezogener ten über die Personen gespeichert Daten von Minderjährigen werden, die der Sicherheitsüberprü- fung unterliegen oder in die Sicher- (1) Das Landesamt für Verfassungs- heitsüberprüfung einbezogen wer- schutz darf unter den Voraussetzun- den. Zur Erledigung von Aufgaben gen des § 7 personenbezogene Daten nach § 3 Abs.3 Satz 1 Nr.4 dürfen in über Minderjährige, die das 14. Le- automatisierten Dateien nur Daten bensjahr noch nicht vollendet haben, solcher Personen erfasst werden, in zu ihrer Person geführten Akten über die bereits Erkenntnisse nach § 3 nur speichern, verändern und nutzen, Abs.2 vorliegen. Bei der Speicherung wenn tatsächliche Anhaltspunkte da- in Dateien muss erkennbar sein, wel- für bestehen, dass der Minderjährige cher der in § 3 Abs.2 und 3 genannten eine der in § 3 Abs.1 des Artikel 10- LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG 425

Gesetzes genannten Straftaten plant, (2) Soweit nicht schon bundesrecht- begeht oder begangen hat. In Dateien lich geregelt, können die zuständigen ist eine Speicherung von Daten Min- StellenindenFällendes§3Abs.3das derjähriger, die das 14. Lebensjahr Landesamt für Verfassungsschutz um noch nicht vollendet haben, nicht zu- Auskunft ersuchen, ob Erkenntnisse lässig. über den Betroffenen oder über eine Person, die in die Überprüfung mit (2) Sind Daten über Minderjährige in einbezogen werden darf, vorliegen. Dateien oder in Akten, die zu ihrer Dabei dürfen die erforderlichen per- Person geführt werden, gespeichert, sonenbezogenen Daten und sonsti- ist nach zwei Jahren die Erforderlich- gen Informationen an das Landesamt keit der Speicherung zu überprüfen für Verfassungsschutz übermittelt und spätestens nach fünf Jahren die werden. Im Falle einer Überprüfung Löschung vorzunehmen, es sei denn, nach§3Abs.3Satz1Nr.4istdasEr- dass nach Eintritt der Volljährigkeit suchen über das Innenministerium zu weitere Erkenntnisse nach § 3 Abs.2 leiten. angefallen sind. Satz 1 gilt nicht, wenn das Landesamt für Verfas- (3) Das Landesamt für Verfassungs- sungsschutz nach § 3 Abs.3 tätig schutz kann vorbehaltlich der in § 11 wird. getroffenen Regelung von jeder öf- fentlichen Stelle nach Absatz 1 ver- langen, dass sie ihm die zur Erfüllung §9 seiner Aufgaben erforderlichen per- Übermittlung personen- sonenbezogenen Daten und sonsti- bezogener Daten an das Landes- gen Informationen übermittelt, wenn amt für Verfassungsschutz die Daten und Informationen nicht aus allgemein zugänglichen Quellen (1) Die Behörden des Landes und die oder nur mit unverhältnismäßigem landesunmittelbaren juristischen Aufwand oder nur durch eine den Personen des öffentlichen Rechts so- Betroffenen stärker belastende Maß- wie die Gerichte des Landes, die nahme erhoben werden können. Das Staatsanwaltschaften und, vorbehalt- Landesamt für Verfassungsschutz lich der staatsanwaltschaftlichen braucht Ersuchen nicht zu begrün- Sachleitungsbefugnis, die Polizei- den, soweit dies dem Schutz des Be- dienststellen übermitteln von sich aus troffenen dient oder eine Begrün- dem Landesamt für Verfassungs- dung den Zweck der Maßnahme ge- schutz die ihnen bekannt geworde- fährden würde. Die Ersuchen sind nen personenbezogenen Daten und aktenkundig zu machen. sonstigen Informationen, wenn tat- sächliche Anhaltspunkte dafür beste- (4) Das Landesamt für Verfassungs- hen, dass diese Informationen zur schutz darf Akten anderer öffentli- Wahrnehmung von Aufgaben nach cher Stellen und amtliche Register § 3 Abs.2 erforderlich sind. unter den Voraussetzungen des Ab- 426 LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG satzes 3 und vorbehaltlich der in § 11 Maßnahme nach § 100 a der Strafpro- getroffenen Regelung einsehen, so- zessordnung bekanntgeworden sind, weit dies ist nach den Vorschriften der Absätze 1 und 3 nur zulässig, wenn tatsächli- 1. zur Erfüllung der Aufgaben nach che Anhaltspunkte dafür bestehen, § 3 Abs.2 oder 3 oder dass jemand eine der in § 3 Abs.1 des Artikel 10-Gesetzes genannten Straf- 2. zum Schutz der Mitarbeiter und taten plant, begeht oder begangen Quellen des Landesamtes für Ver- hat. Auf die dem Landesamt für fassungsschutz gegen Gefahren Verfassungsschutz nach Satz 1 über- für Leib und Leben mittelten Unterlagen findet § 4 des Artikel 10-Gesetzes entsprechende erforderlich ist und die sonstige Anwendung. Übermittlung von Informationen aus den Akten oder den Registern den (6) Das Landesamt für Verfassungs- Zweck der Maßnahmen gefährden schutz prüft unverzüglich, ob die ihm oder das Persönlichkeitsrecht des Be- übermittelten personenbezogenen troffenen unverhältnismäßig beein- Daten für die Erfüllung seiner Aufga- trächtigen würde. Dazu gehören auch ben erforderlich sind. Ergibt die Prü- personenbezogene Daten und sons- fung, dass sie nicht erforderlich sind, tige InformationenausStrafverfah- hat es die Unterlagen zu vernichten ren wegen einer Steuerstraftat. Das oder, sofern diese elektronisch gespei- Landesamt für Verfassungsschutz chert sind, zu löschen. Die Vernich- braucht Ersuchen nicht zu begrün- tung oder Löschung kann unterblei- den, soweit dies dem Schutz des ben, wenn die Trennung von anderen Betroffenen dient oder eine Begrün- Informationen, die zur Erfüllung der dung den Zweck der Maßnahme Aufgaben erforderlich sind, nicht gefährden würde. Über die Einsicht- oder nur mit unvertretbarem Auf- nahme nach Satz 1 hat das Landesamt wandmöglichist;indiesemFallsind für Verfassungsschutz einen Nach- die Daten zu sperren. weis zu führen, aus dem der Zweck und die Veranlassung, die ersuchte Behörde und die Aktenfundstelle §10 hervorgehen. Die Nachweise sind ge- Übermittlung personenbezoge- sondert aufzubewahren, gegen unbe- ner Daten durch das Landesamt rechtigten Zugriff zu sichern und am für Verfassungsschutz Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr ihrer Erstellung folgt, zu ver- (1) Das Landesamt für Verfassungs- nichten. schutz kann personenbezogene Da- ten an Behörden und juristische Per- (5) Die Übermittlung personen- sonen des öffentlichen Rechts sowie bezogener Daten und sonstiger In- an die Gerichte des Landes übermit- formationen, die aufgrund einer teln, wenn dies zur Erfüllung seiner LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG 427

Aufgaben erforderlich ist oder der sichtlich der in der Bundesrepublik Empfänger die Daten zum Schutz Deutschland stationierten ausländi- der freiheitlichen demokratischen schen Streitkräfte vom 3. August Grundordnung oder sonst für Zwe- 1959 (BGBl. 1961 II S.1183) über- cke der öffentlichen Sicherheit mitteln. Die Übermittlung ist akten- einschließlich der Strafverfolgung be- kundig zu machen. Der Empfänger nötigt. Der Empfänger darf die über- ist darauf hinzuweisen, dass die über- mittelten Daten, soweit gesetzlich mittelten Daten nur zu dem Zweck nichts anderes bestimmt ist, nur zu verwendet werden dürfen, zu dem sie dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden und das Lan- ihm übermittelt wurden. desamt für Verfassungsschutz sich vorbehält, um Auskunft über die vor- (2) Das Landesamt für Verfassungs- genommene Verwendung der Daten schutz übermittelt den Staatsanwalt- zu bitten. schaften und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftlichen Sachlei- (4) Die Übermittlung personenbe- tungsbefugnis, den Polizeidienststel- zogener Daten an andere als öffentli- lendesLandesvonsichausdieihm che Stellen ist nur zulässig, soweit bekannt gewordenen personenbezo- dies zum Zwecke einer erforder- genen Daten, wenn tatsächliche An- lichen und zulässigen Datenerhebung haltspunkte dafür bestehen, dass die durch das Landesamt für Verfas- Übermittlung zur Verhinderung oder sungsschutz unabdingbar ist und Verfolgung von Straftaten erforder- dadurch keine überwiegenden lich ist, die in § 3 Abs.1 des Artikel schutzwürdigen Interessen der Per- 10-Gesetzes oder in den §§ 74a oder son, deren Daten übermittelt werden, 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes beeinträchtigt werden. Personenbe- genannt sind oder bei denen aufgrund zogene Daten dürfen darüber hinaus ihrer Zielsetzung, des Motivs des Tä- an andere als öffentliche Stellen nur ters oder dessen Verbindung zu einer übermittelt werden, wenn dies zur Organisation tatsächliche Anhalts- Abwehr von Gefahren für die in § 3 punkte dafür vorliegen, dass sie gegen Abs.2Satz1Nr.1bis4genannten die in Artikel 73 Nr.10 Buchst. b oder Schutzgüter oder zur Gewährleis- c des Grundgesetzes genannten tung der Sicherheit von lebens- oder Schutzgüter gerichtet sind. verteidigungswichtigen oder beson- ders gefahrenträchtigen Einrichtun- (3) Das Landesamt für Verfassungs- gen im Sinne des § 1 Abs.3 des Lan- schutz kann personenbezogene dessicherheitsüberprüfungsgesetzes Daten an Dienststellen der Stationie- erforderlich ist. Die Übermittlung rungsstreitkräfte im Rahmen von Ar- personenbezogener Daten an eine tikel 3 des Zusatzabkommens zu dem sonstige Einrichtung oder Unterneh- Abkommen zwischen den Parteien mung, insbesondere der Wissenschaft des Nordatlantik-Vertrages über die und Forschung, des Sicherheitsge- Rechtsstellung ihrer Truppen hin- werbes oder der Kredit- und Finanz- 428 LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG wirtschaft, ist nur zulässig, wenn dies die Übermittlung zur Erfüllung sei- zurAbwehrschwerwiegenderGe- ner Aufgaben oder zur Wahrung er- fahren für die Einrichtung oder Un- heblicher Sicherheitsinteressen des ternehmung erforderlich ist. Die Empfängers erforderlich ist. Die Übermittlung nach den Sätzen 2 und Übermittlung unterbleibt, wenn aus- 3 bedarf der vorherigen Zustimmung wärtige Belange der Bundesrepublik durch den Innenminister oder im Deutschland, Belange der Länder Verhinderungsfall durch seinen Ver- oder überwiegende schutzwürdige treter. Das Landesamt für Verfas- Interessen des Betroffenen entgegen- sungsschutz hat die Übermittlung stehen. Die Übermittlung ist akten- aktenkundig zu machen. Für Über- kundig zu machen. Der Empfänger mittlungennachSatz2gilt§9Abs.4 ist darauf hinzuweisen, dass die über- Sätze 4 und 5 entsprechend. Der mittelten Daten nur zu dem Zweck Empfänger darf die übermittelten verwendet werden dürfen, zu dem sie Daten nur zu dem Zweck verwenden, ihm übermittelt wurden und das Lan- zu dem sie ihm übermittelt wurden. desamt für Verfassungsschutz sich Der Empfänger ist auf die Verwen- vorbehält, um Auskunft über die vor- dungsbeschränkung und darauf hin- genommene Verwendung der Daten zuweisen, dass das Landesamt für zu bitten. Verfassungsschutz sich vorbehält, um Auskunft über die vorgenommene (6) Erweisen sich personenbezogene Verwendung der Daten zu bitten. Die Daten,nachdemsiedurchdasLandes- Übermittlung der personenbezoge- amt für Verfassungsschutz übermit- nen Daten ist dem Betroffenen durch telt worden sind, als unvollständig das Landesamt für Verfassungsschutz oder unrichtig, sind sie unverzüglich mitzuteilen, sobald eine Gefährdung gegenüber dem Empfänger zu berich- seiner Aufgabenerfüllung durch die tigen oder zu ergänzen, es sei denn, Mitteilung nicht mehr zu besorgen dass dies für die Beurteilung eines ist. Einer Mitteilung bedarf es nicht, Sachverhaltes ohne Bedeutung ist. wenn das Innenministerium feststellt, dass diese Voraussetzung auch fünf Jahre nach der erfolgten Übermitt- §11 lung noch nicht eingetreten ist und Übermittlungsverbote mit an Sicherheit grenzender Wahr- scheinlichkeit auch in absehbarer Zu- (1) Die Übermittlung von Informa- kunft nicht eintreten wird. tionen nach den §§ 5, 9 und 10 unter- bleibt, wenn (5) Das Landesamt für Verfassungs- schutz kann personenbezogene Da- 1. für die übermittelnde Stelle er- ten an öffentliche Stellen außerhalb kennbar ist, dass unter Berück- des Geltungsbereichs des Grundge- sichtigung der Art der Informatio- setzes sowie an über- und zwischen- nen und ihrer Erhebung die staatliche Stellen übermitteln, wenn schutzwürdigen Interessen des LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG 429

Betroffenen das Allgemeininte- schutzwürdige Interesse des Betrof- resse an der Übermittlung über- fenen überwiegen. wiegen,

2. überwiegende Sicherheitsinteres- §13 sen oder überwiegende Belange Auskunft an den Betroffenen der Strafverfolgung dies erfordern oder (1) Das Landesamt für Verfassungs- schutz erteilt dem Betroffenen über 3. besondere gesetzliche Übermitt- zu seiner Person gespeicherte Daten lungsregelungen entgegenstehen; auf Antrag unentgeltlich Auskunft, die Verpflichtung zur Wahrung ge- soweit er hierzu auf einen konkreten setzlicher Geheimhaltungspflich- Sachverhalt hinweist und ein beson- tenodervonBerufs-oderbesonde- deres Interesse an einer Auskunft ren Amtsgeheimnissen, die nicht darlegt. Es ist nicht verpflichtet, über aufgesetzlichenVorschriftenberu- die Herkunft der Daten, die Empfän- hen, bleibt unberührt. ger von Übermittlungen und den Zweck der Speicherung Auskunft zu (2) Informationen über Minderjäh- erteilen. rige vor Vollendung des 14. Lebens- jahres dürfen nach den Vorschriften (2) Die Auskunftserteilung unter- dieses Gesetzes nicht an ausländische bleibt, soweit oder über- oder zwischenstaatliche Stellen übermittelt werden. 1. eine Gefährdung der Aufgabener- füllung durch die Auskunftsertei- lung zu besorgen ist, §12 Unterrichtung der Öffentlichkeit 2. durch die Auskunftserteilung Quellen gefährdet sein können Das Innenministerium und das Lan- oder die Ausforschung des Er- desamt für Verfassungsschutz unter- kenntnisstandes oder der Arbeits- richten die Öffentlichkeit periodisch weise des Landesamtes für Verfas- oder aus gegebenem Anlass im Ein- sungsschutz zu befürchten ist, zelfall über Bestrebungen und Tätig- keiten nach § 3 Abs.2. Dabei dürfen 3. die Auskunft die öffentliche Si- auch personenbezogene Daten be- cherheit gefährden oder sonst dem kanntgegeben werden, wenn die Be- Wohl des Bundes oder eines Lan- kanntgabe für das Verständnis des des Nachteile bereiten würde oder Zusammenhangs oder der Dar- stellung von Organisationen oder 4. die Daten oder die Tatsache der unorganisierten Gruppierungen er- Speicherung nach einer Rechts- forderlich ist und die Informationsin- vorschrift oder ihrem Wesen nach, teressen der Allgemeinheit das insbesondere wegen der überwie- 430 LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG

genden berechtigten Interessen ei- die Aufgabenerfüllung nicht mehr er- nes Dritten, geheimgehalten wer- forderlich ist. Die Löschung unter- den müssen. bleibt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass durch sie schutzwürdige Die Entscheidung trifft der Behör- Belange des Betroffenen beeinträch- denleiter oder ein von ihm besonders tigt würden. In diesem Fall sind die beauftragter Mitarbeiter. Daten zu sperren. Sie dürfen nur noch mit Einwilligung des Betroffe- (3) Die Ablehnung der Auskunftser- nen übermittelt werden. teilung bedarf keiner Begründung, soweit dadurch der Zweck der Aus- (3) Das Landesamt für Verfassungs- kunftsverweigerunggefährdetwürde. schutz prüft bei der Einzelfallbear- Die Gründe der Auskunftsverweige- beitung und nach festgesetzten Fris- rung sind aktenkundig zu machen. ten, spätestens nach fünf Jahren, ob in Wird die Auskunftserteilung abge- Dateien gespeicherte personenbezo- lehnt, ist der Betroffene auf die gene Daten zu berichtigen oder zu lö- Rechtsgrundlage für das Fehlen der schen sind. Gespeicherte personen- Begründung und darauf hinzuweisen, bezogene Daten über Bestrebungen dass er sich an den Landesbeauftrag- nach § 3 Abs.2 Satz 1 Nr.1, die ihre ten für den Datenschutz wenden Ziele durch Gewalt oder darauf ge- kann. richtete Vorbereitungshandlungen verfolgen, sowie über Bestrebungen nach§3Abs.2Satz1Nr.3oder4sind §14 spätestens nach fünfzehn Jahren, im Berichtigung, Löschung und Übrigen spätestens nach zehn Jahren Sperrung personenbezogener zu löschen, es sei denn, der Behör- Daten denleiter oder sein Vertreter stellt im Einzelfall fest, dass die weitere Spei- (1) Das Landesamt für Verfassungs- cherung zur Aufgabenerfüllung oder schutz hat die in Akten oder Dateien aus den in Absatz 2 Satz 2 genannten gespeicherten personenbezogenen Gründen erforderlich ist. § 8 Abs.2 Datenzuberichtigen,wennsieun- bleibt unberührt. Der Lauf der Frist richtig sind; in Akten ist dies zu ver- nach Satz 1 oder 2 beginnt mit der merken. Wird die Richtigkeit der Da- letzten gespeicherten relevanten In- ten von dem Betroffenen bestritten, formation. so ist dies in der Akte zu vermerken oder auf sonstige Weise festzuhalten. (4) Das Landesamt für Verfassungs- schutz hat die in Akten gespeicherten (2) Das Landesamt für Verfassungs- personenbezogenen Daten zu sper- schutz hat die in Dateien gespeicher- ren, wenn es im Einzelfall feststellt, ten personenbezogenen Daten zu dass die Speicherung unzulässig war. löschen, wenn ihre Speicherung un- Dasselbe gilt, wenn es im Einzelfall zulässig war oder ihre Kenntnis für feststellt, dass ohne die Sperrung LANDESVERFASSUNGSSCHUTZGESETZ – LVSG 431 schutzwürdige Interessen des Betrof- Verfassungsschutzes im Ständigen fenen beeinträchtigt würden und die Ausschuss bekanntgeworden sind. Daten für seine künftige Aufgabener- Dies gilt auch für die Zeit nach ihrem füllung voraussichtlich nicht mehr er- Ausscheiden aus dem Ständigen Aus- forderlich sind. Gesperrte Daten sind schuss oder aus dem Landtag. mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen; sie dürfen nicht mehr (4) Die Unterrichtung umfasst nicht genutzt oder übermittelt werden. Die Angelegenheiten, über die das Innen- Sperrung kann wieder aufgehoben ministerium das Gremium nach dem werden, wenn ihre Voraussetzungen Artikel 10-Gesetz zu unterrichten nachträglich entfallen sind. Akten, in hat. denen personenbezogene Daten ge- speichert sind, sind zu vernichten, wenn die gesamte Akte zur Aufga- §16 benerfüllung nicht mehr benötigt Einschränkung von wird. Grundrechten

Aufgrund dieses Gesetzes können §15 das Grundrecht des Brief-, Post- und Parlamentarische Kontrolle Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10 des Grundgesetzes) und das Grund- (1) Das Innenministerium unterrich- recht auf Unverletzlichkeit der Woh- tet den Ständigen Ausschuss des nung (Artikel 13 des Grundgeset- Landtags über die Tätigkeit des Ver- zes) eingeschränkt werden. fassungsschutzes halbjährlich sowie auf Verlangen des Ausschusses und aus besonderem Anlass. §17 Erlass von Verwaltungs- (2) Art und Umfang der Unterrich- vorschriften tung des Ständigen Ausschusses werden unter Beachtung des not- Das Innenministerium kann zur Aus- wendigen Schutzes des Nachrichten- führung des Gesetzes allgemeine Ver- zuganges durch die politische waltungsvorschriften erlassen. Verantwortung der Landesregierung bestimmt. §18 (3) Die Mitglieder des Ständigen Inkrafttreten Ausschusses sind zur Geheimhaltung der Angelegenheiten verpflichtet, die Dieses Gesetz tritt am Tag nach seiner ihnen im Zusammenhang mit der Be- Verkündung in Kraft. richterstattung über die Tätigkeit des