Rue de Montagne, Luxemburg-Hamm © Collection Syndicat de Hamm Je größer desto besser? Die Eingemeindungen der Stadt Luxemburg

Seit 1244 ist Luxemburg eine Stadt Luxemburg, der Limperts- Stadt, deren späterer Ausbau berg, schon zu Beginn des 20. zur Festung eine räumliche Jahrhunderts fast vollständig Ausdehnung lange unmöglich bebaut. Wieder war die Stadt an machte. Dies änderte sich erst ihre Grenzen gestoßen, diesmal durch den Abzug der preußi- an die durch das franzö-sische schen Truppen und der Schlei- Regime eingeführten Gemein- fung der Festungswerke im Jahr degrenzen. Ihre heutige 1867. Nun hätte sich die Stadt Ausdehnung verdankt die jenseits des Festungsgürtels Hauptstadt zwei Gesetzen aus ausbreiten können. Allerdings dem Jahr 1920, die das Stadt- war das Stadtgebiet mit einer gebiet auf 5 100 Hektar an- Ausdehnung von 355 Hektar wachsen ließen. Die Bevölke- denkbar klein und das einzige rungszahl wuchs dadurch von bis dahin unbesiedelte Areal der 21 000 auf 46 000 Einwohner an.

26 Die Ausgangslage

Zu Beginn des 20. Jahrhundert gab es im Weichbild der Stadt Luxemburg vier ad- ministrativ unabhängige Gemeinden: Hol- lerich, Eich, und Hamm. Das bereits im 10. Jahrhundert ur- kundlich erwähnte Hollerich erlangte im Zuge der französischen Neuorganisation im Jahr 1796 den Status einer eigenstän- digen Gemeinde. Seine neuzeitliche Ent- wicklung von einem an der Petruß und der Straße nach Esch liegendem Bauerndorf zu einem wichtigen Industriestandort vor den Toren der Stadt Luxemburg wurde durch den 1859 auf ihrem Gemeindegebiet eingeweihten Hauptbahnhof begünstigt. Rathaus und Schule lagen gegenüber der Kirche an der Route d’Esch, dort, wo sich

heute der Autobahnzubringer befindet. © Photothèque de la Ville de Schnell zog die Gemeinde aufgrund ih- Die Schule der alten Gemeinde Hamm mit der Villa Godchaux (um 1940) rer guten Infrastruktur Industrien an: Die Eisenindustrie mit Paul Würth ab 1891, die Champagnerproduktion mit Mercier sowie der Tabakfabrikant Heinz von Landewyck, sprünglich zur Stadt Luxemburg gehörend, sämtlicher Mühlen an der Alzette, die zu- um nur einige zu nennen. Hollerich hatte war es seit der territorialen Neuordnung sammen mit einer weiteren Fabrik in Ettel- seine eigene Wasserversorgung, ein Gas- des französischen Regimes (1795-1814) brück zu den „Draperies de Luxembourg“ werk und einen Schlachthof. Als im Jahre Teil der Gemeinde Eich. Kurz nach der zusammengeschlossen waren. In ihrer 1867 die Festung geschleift wurde, wohn- Gründung einer eigenen Pfarrei im Jahr Blütezeit beschäftigten die Tuchfabriken ten hier 3 000 Menschen. Bis zum Beginn 1843 strebte die Bevölkerung die politische bis zu 2 000 Arbeiter. Als Folge des wirt- des Ersten Weltkrieges war die Bevölkerung Selbstverwaltung an. Im Jahr 1849 wurde schaftlichen Aufschwunges trennte sich auf das fünffache angestiegen. Allerdings schlussendlich die unabhängige Gemeinde Hamm im Jahre 1873 von der Gemeinde konnte die Gemeindeverwaltung mit der Rollingergrund geschaffen. Das Gemeinde- Sandweiler und bekam eine eigene Ver- schnellen Entwicklung nicht Schritt halten büro war in der von der Familie Boch ge- waltung. Vertreter der führenden Indust- und zeichnete sich durch Ineffizienz aus. stifteten Schule untergebracht. riellenfamilie waren auch in der Gemein- Die alte Gemeinde Eich, ebenfalls 1796 Der Ursprung von Hamm liegt in dem deverwaltung aktiv. Die Familie Godchaux entstanden, verdankte Ihre Entwicklung im 14. Jahrhundert gegründeten Katha- stellte von 1877-1918 die Bürgermeister. maßgeblich der dort ansässigen Hüttenin- rinenkloster, um das sich in der Folgezeit Ein eigenes Rathaus hatte Hamm nicht – dustrie, die die Gebrüder Metz in der ers- ein Dorf entwickelte. Die Nähe zur Alzette die Versammlungen des Gemeinderates ten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründeten. begünstigte den Bau mehrerer Mühlen, fanden in der Tuchfabrik Godchaux statt. Mitglieder der Familie Metz engagierten die ab 1835 die Grundlage für die erste Ab dem ersten Weltkrieg geriet die Tuch- sich in der Politik und stellten mehrmals Wollspinnerei- und -weberei bildeten. Im fabrik in wirtschaftliche Schwierigkeiten, den Bürgermeister der Gemeinde. Laufe der kommenden Jahre gelang den was den Niedergang der Gemeinde Hamm Rollingergrund entwickelte sich um Brüdern Godchaux der Ausbau ihrer zur Folge hatte. die Porzellanfabrik der Gebrüder Boch. Ur- Wollproduktion durch den Ankauf fast

Rathaus und Schule der alten Gemeinde Hollerich an der Route d‘Esch (um 1940) © Archives de la Ville de Luxembourg © Photothèque de la Ville de Luxembourg 27 Je größer desto besser? Die Eingemeindungen der Stadt Luxemburg

Zustand vor der Gemeindefusion 1920

Gemeinde Rollingergrund

Gemeinde Eich

Stadt Luxemburg

Gemeinde Hamm

Gemeinde Hollerich

28 Gemeinsam stark?

Die Gemeindefusionen gehen auf die Initiative von zwei Akteuren zurück: Vom Staat und von den Bürgern von Hollerich und Bonneweg. Bereits aus dem Jahr 1907 stammt ein Gesetzesprojekt zur Abschaf- fung des Oktroi (siehe den Beitrag Guy May auf Seite 26). Zwei Jahre später reicht © Archives de la Ville de Luxembourg die Bevölkerung von Hollerich und Bonne- weg eine Petition für die Eingemeindung nach Luxemburg-Stadt ein. Aus dem Jahr 1911 stammt ein Brief der „Hollericher Ge- schäftswelt sowie der Eigentümer“, die die politischen Instanzen bitten, die Gemein- defusion endlich voran zu treiben, da es „mit der Hollericher Gemeinde nicht mehr so weiter geht“. Ein Jahr später wird die Eingemeindungsfrage im Hollericher Ge- meinderat diskutiert. Treibende Kraft war Volksabstimmung zur Eingemeindung Albert Louis Würth, der insbesondere das von Eich am 16. Mai 1920 Bedürfnis der Industrie nach geeignetem Bauland im Auge hatte. Seiner Meinung nach hemmten die räumlichen Unzuläng- lichkeiten der Hauptstadt die Entwicklung et la direction avec l‘outillage technique et Die Sonderkommission arbeitet einen der umliegenden Ortschaften. Es sollte administratif plus moderne. La fusion et neuen Bericht zur Fusion von Luxemburg, noch vier Jahre dauern, bis sich die Regie- l’extension Luxembourg-Hollerich ne sup- Hollerich, Rollingergrund und Eich aus, rung endlich zur Einberufung einer Spezi- portent plus de retard. On ne pourra pas der am 28. Mai 1919 vorliegt. So einfach alkommission zur Untersuchung der Ein- remettre la décision jusqu’à la reprise de wollten die Gemeinden das Gesetz aber gemeindungsfrage entschließen konnte. la spéculation du bâtiment.“ Insbesondere nicht durchwinken. Der Gemeinderat von Mitglieder dieser Kommission waren Léon das Bevölkerungswachstum spricht Bände. Eich stimmte am 2. Februar 1920 mit fünf Schaak, Commisaire de district, Albert Luxemburg hatte zwischen 1905 und 1916 zu drei Stimmen (mit einer Enthaltung) Rodange, Ingénieur en chef des travaux pu- ein Minus von 3,6% und Hollerich ein Plus gegen die Fusion. Am 18. Mai 1919 be- blics, Sosthène Weis, Architecte de l’Etat, von 30% zu verzeichnen. Die Hauptstadt schließt hingegen der Gemeinderat von Jacques Weis, Conseiller à la Chambre des war im Begriff zu verkümmern. Der Ge- Hamm, das bisher gar nicht zur Debatte comptes und Thomas Rousseau, Chef de meinderat der Stadt Luxemburg stand der stand, die Eingemeindung nach Luxemburg bureau au Gouvernement. Fusion positiv gegenüber, sie sollte sich zu beantragen. Hier ging die Initiative von Zunächst sollte es nur um eine Fusion aber auch auf Eich und, wegen der Nähe den Bürgern aus Pulvermühl aus, die sich von Luxemburg und Hollerich gehen. Ver- zum städtischen Bambësch, auf Rollin- auf Grund ihrer räumlichen Nähe eher der treter der beiden betroffenen Gemeinden gergrund beziehen. Die Einnahmeausfälle Hauptstadt zugehörig fühlten. waren in der Kommission nicht präsent. durch die Abschaffung des Oktrois sollte Zwei Jahre später, am 4. April 1918, liegt ein der Staat kompensieren. Die Reaktion der erster Bericht vor, wonach die Kommission Hollericher Stadtväter war eher verhalten, die Fusion für unabdingbar hält: „Hollerich streicht doch der Bericht die Unzulänglich- fournira le terrain, Luxembourg les moyens keiten der Gemeindeverwaltung heraus.

Der Sportsverein „Tricolore“ von Eich vor dem ehemaligen Rathaus an der Rue d‘Eich Das Gebäude heute imedia © Société Gymnastique, Eich 29 Je größer desto besser? Die Eingemeindungen der Stadt Luxemburg

Eingemeindung von Hesperingen, Walferdingen und Strassen 1943, die 1944 rückgängig gemacht wurde. © Archives de la Ville de Luxembourg

30 Schlussendlich wird das Eingemein- dungsgesetz am 26. März 1920 zunächst ohne Eich verabschiedet. Dies war umso er- staunlicher, als insbesondere Eich sehr von der Infrastruktur der technischen Dienste wie der Wasserversorgung (Rollingergrund, 1893), der Kanalisation (1910), Gas-Elektri- zität und der Straßenbahn (1913) der Stadt Luxemburg abhängig war. Daher besannen sich die Verantwortlichen der Gemeinde Eich schon wenige Wochen nach der Fusi- on eines Besseren und beschlossen am 16. Mai 1920 ein Referendum abzuhalten. Ins- gesamt waren zwei Drittel der Einwohner für die Fusion. In Neudorf fand das Projekt 98% Zustimmung. Lediglich die Sektionen Dommeldingen und hatten sich mehrheitlich dagegen ausgesprochen. © Photothèque de la Ville de Luxembourg Der Rollingergrund um 1960

Das Resultat

Die Eingemeindung brachte den Rand- tes waren ständig im Rathaus anwesend. Die Initiative für die Eingemeindun- gemeinden zahlreiche technische Vorteile Die Verwaltung sollte für die Bevölkerung gen von 1920 ging maßgeblich von den und der Stadt Luxemburg einen großen vereinfacht werden, die Büros des Zivilstan- Bürgern der Randgemeinden aus, die sich Gebietszuwachs. Sogar Hamm war mit 587 des, der Polizei mit den Bevölkerungsregis- durch die Zugehörigkeit zur Hauptstadt Hektar größer als die Hauptstadt mit 355 tern, der Armenfürsorge und der Einneh- Vorteile erhofften. Seit dem Inkrafttreten Hektar, die nun auf 5 100 Hektar anwuchs. mer der ehemaligen Gemeinden blieben des Gesetzes hat sich die Einwohnerzahl Insbesondere Hollerich steuerte aber auch zunächst als Zweigstellen bestehen. Luxemburgs mehr als verdoppelt, und viele bedeutende Infrastrukturen bei: So wurde Die 1916 eingesetzte Spezialkommissi- neue Wohnviertel wurden erschlossen. Das der Hollericher Schlachthof als städtischer on zur Untersuchung der Eingemeindungs- Gesetz von 1920 ermöglicht somit die Ent- Schlachthof beibehalten, was die Schlie- frage hatte im Sommer 1920 ihre Arbeit wicklung einer dynamischen Stadt, die bis ßung der Pfaffenthaler Einrichtung bedeu- eingestellt, empfahl aber am 9. April 1920 heute andauert. tete. Die Hollericher Wasserleitung verfüg- die Einsetzung einer Stadtplanungskom- te über das größte Netz. Direktor des neuen mission mit der Beteiligung der Architekten Evamarie Bange Wasserwerkes wurde Dominique Gengler, Wigreux und Petit sowie dem städtischen der ehemalige Chef der technischen Diens- Ingenieur Sax. Der Kölner Stadtplaner te Hollerichs. Im Jahr 1925 reichte Gengler Stübben arbeitete daraufhin Urbanisie- einen Bericht mit dem Wunsch nach Zen- rungspläne für Belair und Bonneweg aus, tralisierung der Werkstätten ein, die am die aber nur teilweise umgesetzt wurden. ihrem heutigen Standort in Mühlenbach Eine gesetzliche Grundlage für eine gezielte entstehen sollten. Stadtplanung gibt es erst seit 1937. Endlich wurde auch das Oktroi abge- schafft. Der Staat verpflichtete sich, die Die Eingemeindung Stadtkassen mit einer jährlichen Summe vom 26. März 1943 von 150 000 Franken über einen Zeitraum von zehn Jahren aufzubessern. Die 26 An- Eine weitere Eingemeindungsepisode Bibliographie: gestellten wurden auf andere Abteilungen gab es im Kriegsjahr 1943, als Strassen, - Archives Nationales de Luxembourg: INT 7; - Archives de la Ville de Luxemburg: EI 11.1 IV 26 ; LU 11 der Stadtverwaltung verteilt. Walferdingen und Hesperingen mit Luxem- VI/3_510 ; LU 11 IV/4_276, 277; LU 11 NS 289, 290 ; In der ersten Sitzung des gesamtlu- burg fusioniert wurden. Diese wird 1944 LU 60.1.1_ 291; - Stadt Luxemburg: Analytischer Bericht über die xemburgischen Gemeinderates am 5. Juni wieder rückgängig gemacht, und zwar auf Stadtratssitzungen 1919, 1920; 1920 waren unter Vorsitz von Bürgermeis- Grund eines großherzoglichen Beschlus- - Gemeinde Hollerich:Analytischer Bericht über die ter Houssse Mitglieder aller fünf Gemein- ses, der besagt, dass alle Maßnahmen der Gemeinderatssitzungen 1912, 1918-1920; - ons stad 26,1987 (Rollingergrund); 28, 1988 (Hamm); den vertreten, die einen Eid auf die „neue deutschen Besatzer bei der Befreiung Lu- 57,1998 (Hollerich); 79, 2005 (Bonneweg), 41, 1992 Stadt“ ablegen mussten. Eine gewisse xemburgs automatisch aufgehoben werden (Eich); Diskriminierung der neuen Gemeinderats- und der Zustand von 1940 wieder herge- - Evamarie Bange, Die Schleifmühle im Spiegel der Stadtarchive. In: Schläifmillen – Geschichte und mitglieder ergab sich durch die Verhand- stellt werden soll. Am 15. September 1944 Gegenwart (2007); lungssprache der Gemeinderatssitzungen, nimmt die Vorkriegsverwaltung der Stadt - Henri Beck, Cinq communes, une capitale: épisodes d’une fusion. In: La Ville de Luxembourg – du château da der hauptstädtische Gemeinderat ge- Luxemburg unter Bürgermeister Gaston des comptes à la métropole européenne (Luxembourg, wohnt war, französisch zu sprechen, eine Diderich ihre Tätigkeit wieder auf. Am glei- 1994); Sprache, der die Ratsmitglieder der kleinen chen Tag entscheidet sich der Gemeinderat - Fernand G. Emmel, Von der Bannmühle zur Gemeinde Rollingergrund. ons stad 26, 1987, 20ff. Gemeinden zum großen Teil nicht mächtig von Hesperingen, wieder eine unabhängi- - Norbert Etringer, Liebes altes Hollerich (Luxemburg waren. ge Gemeinde zu werden. Schwierigkeiten 1989); Die Volksvertreter bemühten sich um bereiten den nun wieder autonomen Ge- - Pierre Kieffer, Luxemburgs Urbanisierung nach der Öffnung der Stadt 1867. ons stad 21, 1986, 11ff; besondere Bürgernähe: Der Bürgermeister meinden zustehenden Rückzahlungen, die - Marc Ney, Elections dans la commune de und ein weiteres Mitglied des Schöffenra- sich bis Ende 1945 hinziehen sollten. Rollingergrund. Hémecht 59 (2007) H.4. 429-480.

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