Plenarprotokoll 19/193

Deutscher

Stenografischer Bericht

193. Sitzung

Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung ...... 24367 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zusatzpunkt 17: Zimmermann (Zwickau), , Matthias W. Birkwald, weiterer Abge- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen ordneter und der Fraktion DIE LINKE: der CDU/CSU und SPD: Bedrängung von Neben der Sonderregelung für Kurzar- Abgeordneten verurteilen – Die parlamen- beit auch Sonderregelung für Arbeits- tarische Demokratie schützen losengeld I verlängern und ein Weiter- Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) ...... 24367 B bildungsgeld einführen Dr. (AfD) ...... 24369 A Drucksachen 19/23169, 19/24481 ...... 24382 B (SPD) ...... 24370 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Dr. (FDP) ...... 24371 B Europäischen Union zu dem Antrag der (DIE LINKE) ...... 24372 B Abgeordneten , René Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Springer, Jürgen Pohl, weiterer Abgeord- DIE GRÜNEN) ...... 24373 B neter und der Fraktion der AfD: Finanzie- rung des Kurzarbeitergeldes durch Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) ...... 24374 C Kürzung des deutschen Anteils am EU- (AfD) ...... 24375 D Haushalt Drucksachen 19/23724, 19/24480 ...... 24382 B Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 24377 C (CDU/CSU) ...... 24378 D , Bundesminister BMAS ...... 24382 C Susann Rüthrich (SPD) ...... 24379 D Martin Sichert (AfD) ...... 24383 D (CDU/CSU) ...... 24380 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . . 24385 D (DIE LINKE) ...... 24386 B

Tagesordnungspunkt 24: Johannes Vogel (Olpe) (FDP) ...... 24387 B a) – Zweite und dritte Beratung des von der Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 24388 C Bundesregierung eingebrachten Ent- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn wurfs eines Gesetzes zur Beschäfti- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 24389 B gungssicherung infolge der COVID- Martin Sichert (AfD) ...... 24390 C 19-Pandemie (Beschäftigungssiche- rungsgesetz – BeschSiG) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Drucksachen 19/23480, 19/24219, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 24391 A 19/24481 ...... 24382 A Bernd Rützel (SPD) ...... 24391 A – Bericht des Haushaltsausschusses (CDU/CSU) ...... 24391 D gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 19/24488 ...... 24382 A Carl-Julius Cronenberg (FDP) ...... 24392 D II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Jessica Tatti (DIE LINKE) ...... 24393 C c) Antrag der Abgeordneten Helin Evrim (CDU/CSU) ...... 24394 A Sommer, , Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. (SPD) ...... 24394 D DIE LINKE: 30. Jahrestag der Pariser Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU) ...... 24395 D Charta für ein neues Europa als Ver- pflichtung für Frieden und Sicherheit Martin Sichert (AfD) ...... 24396 B begreifen Drucksache 19/22917 ...... 24410 D Tagesordnungspunkt 25: d) Beschlussempfehlung und Bericht des a) Antrag der Abgeordneten Rüdiger Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Lucassen, , Siegbert der Abgeordneten Helin , Droese, weiterer Abgeordneter und der Andrej Hunko, , weiterer Fraktion der AfD: Reaktivierung der Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- Wehrpflicht KE: Die Organisation für Sicherheit und Drucksache 19/24401 ...... 24397 C Zusammenarbeit in Europa für Frieden und Abrüstung stärken d) Antrag der Abgeordneten Jan Ralf Nolte, Drucksachen 19/7121, 19/22287 ...... 24410 D Rüdiger Lucassen, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: , Bundesminister AA ...... 24411 A Gesundheitliche Beschwerden bei Sol- Paul Viktor Podolay (AfD) ...... 24411 D daten durch Druckwellen Jürgen Hardt (CDU/CSU) ...... 24412 B Drucksache 19/24392 ...... 24397 C (FDP) ...... 24413 A Rüdiger Lucassen (AfD) ...... 24397 D Helin Evrim Sommer (DIE LINKE) ...... 24413 D (CDU/CSU) ...... 24398 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 24414 B Alexander Müller (FDP) ...... 24399 C Rüdiger Lucassen (AfD) ...... 24400 B (SPD) ...... 24415 B Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 24400 D (CDU/CSU) ...... 24416 A Tobias Pflüger (DIE LINKE) ...... 24402 A Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) ...... 24416 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24403 B Tagesordnungspunkt 27: Ingo Gädechens (CDU/CSU) ...... 24404 A Antrag der Abgeordneten Susanne Ferschl, Jan Ralf Nolte (AfD) ...... 24404 D Matthias W. Birkwald, , Dr. (SPD) ...... 24405 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Minijobs in sozialversicherungs- Dr. (FDP) ...... 24407 A pflichtige Beschäftigung überführen – Dr. (BÜNDNIS 90/ Sozialversicherungssysteme stärken DIE GRÜNEN) ...... 24408 A Drucksache 19/24003 ...... 24417 D (CDU/CSU) ...... 24408 C (CDU/CSU) ...... 24409 C in Verbindung mit

Zusatzpunkt 13: Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten , a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, , , weiterer Abge- FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ordneter und der Fraktion der FDP: Minijobs 45 Jahre Schlussakte von Helsinki, dynamisieren 30 Jahre Charta von Paris – Die Orga- Drucksache 19/24370 ...... 24417 D nisation für Sicherheit und Zusammen- arbeit in Europa für künftige Aufgaben Susanne Ferschl (DIE LINKE) ...... 24418 A stärken Torbjörn Kartes (CDU/CSU) ...... 24419 B Drucksache 19/24390 ...... 24410 C Jürgen Pohl (AfD) ...... 24420 C b) Antrag der Abgeordneten Paul Viktor Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 24421 D Podolay, Armin-Paulus Hampel, Dr. , weiterer Abgeordne- Pascal Kober (FDP) ...... 24423 A ter und der Fraktion der AfD: Die Organi- (DIE LINKE) ...... 24423 C sation für Sicherheit und Zusammenar- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ beit in Europa auf der Grundlage der DIE GRÜNEN) ...... 24424 D Prinzipien der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit reformieren (CDU/CSU) ...... 24425 C Drucksache 19/24418 ...... 24410 D Dr. (SPD) ...... 24426 B Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 III

Johannes Vogel (Olpe) (FDP) ...... 24427 B und effektiv verhindern – Neustart für Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ eine aktive Finanzaufsicht und starken DIE GRÜNEN) ...... 24428 A Verbraucherschutz Drucksache 19/24385 ...... 24447 A Pascal Kober (FDP) ...... 24428 C c) Antrag der Abgeordneten , (CDU/CSU) ...... 24429 C , Jürgen Braun, weiterer (DIE LINKE) ...... 24430 A Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Angelika Glöckner (SPD) ...... 24431 A Sachkundenachweis und Aufsicht von Finanzanlagenvermittlern und Hono- (CDU/CSU) ...... 24431 D rar-Finanzanlagenberater zielgerichtet Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ durch Industrie- und Handelskammern DIE GRÜNEN) ...... 24432 B gewährleisten – Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht soll ein- heitliche Maßstäbe setzen und diese Tagesordnungspunkt 28: überwachen Erste Beratung des von der Bundesregierung Drucksache 19/24398 ...... 24447 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur d) Antrag der Abgeordneten Kay Gottschalk, Verbesserung der strafrechtlichen Bekämp- , Mariana Iris Harder- fung der Geldwäsche Kühnel, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 19/24180 ...... 24433 D Fraktion der AfD: Reduzierung des Zeit- , Bundesministerin raums zum verpflichtenden Wechsel der BMJV ...... 24433 D Abschlussprüfer und Erhöhung der (AfD) ...... 24434 D Haftungsgrenze Drucksache 19/24396 ...... 24447 B Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) ...... 24436 A Dr. Jürgen Martens (FDP) ...... 24437 A in Verbindung mit (DIE LINKE) ...... 24437 C (BÜNDNIS 90/ Zusatzpunkt 14: DIE GRÜNEN) ...... 24438 B Antrag der Abgeordneten Dr. Manuela Dirk Wiese (SPD) ...... 24438 D Rottmann, , Katharina Dröge, weite- (CDU/CSU) ...... 24439 C rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 24440 B NIS 90/DIE GRÜNEN: Mit einer starken Corporate Governance kriminellem Han- deln in großen, komplexen Unternehmen Tagesordnungspunkt 10: vorbeugen Drucksache 19/24384 ...... 24447 C Antrag der Abgeordneten , , , weiterer Abgeord- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . 24447 C neter und der Fraktion der FDP: Unterstüt- (CDU/CSU) ...... 24448 C zung für das System Luftverkehr in Zeiten von Corona Kay Gottschalk (AfD) ...... 24449 C Drucksache 19/24356 ...... 24441 A Dr. Jens Zimmermann (SPD) ...... 24450 C Bernd Reuther (FDP) ...... 24441 B Dr. (FDP) ...... 24451 B Björn Simon (CDU/CSU) ...... 24441 D Fabio De Masi (DIE LINKE) ...... 24452 A (AfD) ...... 24443 A Fritz Güntzler (CDU/CSU) ...... 24452 D (SPD) ...... 24443 D (SPD) ...... 24453 C Jörg Cezanne (DIE LINKE) ...... 24444 B (CDU/CSU) ...... 24454 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24445 A Nächste Sitzung ...... 24455 C Alois Rainer (CDU/CSU) ...... 24445 C (SPD) ...... 24446 B Berichtigung ...... 24455 A

Tagesordnungspunkt 30: Anlage 1 a) Antrag der Abgeordneten Lisa Paus, Anja Entschuldigte Abgeordnete ...... 24457 A Hajduk, Stefan Schmidt, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Betrug und Anlage 2 Finanzkriminalität frühzeitig aufdecken Amtliche Mitteilungen ...... 24458 A

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24367

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193. Sitzung

Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: der Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans und Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte auch auf Nötigung und mögliche Beleidigungstatbestän- nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. de. Das ist gut und richtig so. Die reguläre Präsenzpflicht am Dienstag der nächsten Nach den ersten Erkenntnissen sollen die in Verdacht Sitzungswoche wird im Benehmen mit dem Ältestenrat stehenden Personen durch Hilfe von AfD-Abgeordneten, wiederum aufgehoben. Nach § 14 Absatz 1 Satz 2 des der Abgeordneten Bystron, Müller, Hemmelgarn, in den Abgeordnetengesetzes bestimme ich, dass der Dienstag, Bundestag eingeschleust worden sein. Schleusertätigkeit 24. November 2020, nicht als Sitzungstag gilt. Damit sozusagen. entfällt insbesondere die Pflicht, sich an diesem Tag in die Anwesenheitslisten einzutragen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- (B) Die von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD ordneten der FDP und der LINKEN – Ulli (D) verlangte Aktuelle Stunde zum Thema „Bedrängung von Nissen [SPD]: Pfui!) Abgeordneten verurteilen – Die parlamentarische Demo- kratie schützen“ soll als erster Tagesordnungspunkt auf- Doch damit nicht genug. Der AfD-Abgeordnete Huber gerufen werden. Alle weiteren Tagesordnungspunkte soll mehrfach versucht haben, ohne Erlaubnis in fremde werden in der bestehenden Reihenfolge nach der Aktuel- Büros mit Kamera und anderen Personen zu gelangen. len Stunde aufgerufen. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 17 auf: NEN]: Die Videos hat er gelöscht!) Aktuelle Stunde – Gut. Wenn die Videos gelöscht sind, dann war das ja nicht besonders erfolgreich, weder in der einen noch in auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der anderen Hinsicht. SPD Meine Damen und Herren, wir sind es ja gewohnt, dass Bedrängung von Abgeordneten verurteilen – die AfD in jeder Plenarwoche versucht, parlamentarische Die parlamentarische Demokratie schützen Abläufe zu behindern, das Ansehen des Parlaments zu Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem schädigen. Das kennen wir alle, die Ersten Parlamentari- Kollegen Michael Grosse-Brömer, CDU/CSU. schen Geschäftsführer ganz besonders. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Dr. [AfD]: Das ist eine Lüge! ordneten der SPD) Das ist Unsinn! – Weitere Zurufe von der AfD) – Es ist immer so herrlich. Man hört das als Zuschauer Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): nicht, aber kaum hat man so etwas ausgesprochen, ist auf Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten der Seite totale Aufregung. Man merkt es gleich. Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Mittwoch (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem wurden Abgeordnete des Deutschen Bundestages, darun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- ter auch ein Mitglied der Bundesregierung, innerhalb die- ordneten der FDP und der LINKEN – Dr. Bernd ses Hauses massiv bedrängt, ohne ihr Einverständnis Baumann [AfD]: Weil es nicht stimmt! Weil aggressiv gefilmt und – so legen es die Aufnahmen nahe – das gelogen ist!) übelst beleidigt. Die Bundestagspolizei – und hoffentlich bald auch die Staatsanwaltschaft – prüft diese Vorfälle – Sie müssen die Wahrheit auch aushalten, Herr mit Blick auf Hausfriedensbruch, auf den Straftatbestand Baumann. 24368 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Michael Grosse-Brömer (A) Ich sage Ihnen: Seit Sie in dieses Haus eingezogen (Zuruf von der CDU/CSU]: Verfassungsfein- (C) sind, geht es Ihnen darum, diesen Bundestag schlecht- de!) zumachen. Sie wollen das Ansehen der anderen Fraktio- Sie mögen vielleicht die Methoden der Weimarer Zeit nen und des Hauses selbst in den Dreck ziehen. anwenden, aber diese Demokratie hat aus Weimar (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das tun Sie gera- gelernt. Sie ist standhaft, und sie ist wehrhaft. Sie werden de!) nicht das erreichen, was Sie wollen. Das ist permanent Ihre deutliche Absicht! (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Bernd GRÜNEN) Baumann [AfD]: Sie sind der Hetzer! Was soll das?) Das sieht man doch daran, dass AfD-Mitglieder irgend- welche seltsamen Filmchen drehen, um den Bundestag in Die größte Heuchelei ist Ihre Nummer mit der Grund- ein völlig anderes Licht zu stellen. Mit unsinnigen gesetz-Plakataktion. Sie halten hier Plakate des Grundge- Geschäftsordnungsmanövern betteln Sie um Aufmerk- setzes hoch und sorgen parallel dafür, dass diese Verfas- samkeit in den Medien, insbesondere in den sozialen sung mit Füßen getreten wird, indem irgendwelche Leute Medien. Ihnen geht es nicht um die Sache. In den Aus- von Ihnen parallel zu Ihrer Aktion Abgeordnete bedrän- schüssen glänzen Ihre Mitglieder oft durch körperliche gen und nötigen. oder geistige Abwesenheit. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ bei Abgeordneten der LINKEN – DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN) [SPD]: Schämen Sie sich!) Nein, es geht Ihnen nicht um die Sache, es geht Ihnen um Wenn Sie Angst um die Verfassung haben, kontrollieren Effekthascherei, um Futter für Ihre Kanäle. Sie wollen Sie sich selbst! dort Feuer anheizen. Deswegen ist dieses Rednerpult Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Aktio- für Sie nicht der Ort der Debatte, nen aus den Reihen und dem Umfeld der AfD sind keine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lappalien. Das ist ein Bruch mit unserer parlamentari- schen Kultur. dieses Rednerpult ist für Sie allein Kulisse für Ihre Video- clips, und das ist die größte Verachtung des Parlaments (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (B) durch Sie. Sie verweigern hier die Arbeit, Sie verweigern und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (D) die parlamentarische Arbeit. bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Ich will Ihnen sagen: Wir als CDU/CSU wollen einen der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE fairen Parlamentarismus. Wir wollen ein Ringen mit GRÜNEN) und durch Argumente. Mit den Ereignissen von vorgestern ist nun allerdings (Zurufe von der AfD) eine neue Qualität erreicht. Was wir am Mittwoch erleben Wir wollen überzeugen und nicht einschüchtern. So geht mussten, ist nicht weniger als ein Angriff auf das freie Demokratie! Mandat und ein Angriff auf die parlamentarische Demo- kratie, und da hört der Spaß nun wirklich auf. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, bei Abgeordneten der LINKEN) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Abstimmungen hier im Deutschen Bundestag, insbeson- dere eine spezielle Abstimmung, sollten offenbar nicht Kollege Grosse-Brömer, die Redezeit ist vorüber. mit Argumenten, sondern durch Bedrängung, ja, man könnte auch sagen, durch Nötigung beeinflusst werden. Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Nach meiner Überzeugung, Herr Gauland, sind die Ereig- Ja, und deswegen sage ich auch mit meinem letzten nisse vom Mittwoch nicht plötzlich passiert, nach dem Satz: Das, was die AfD will, hat kürzlich jemand aus Motto „Wir können ja nichts dazu“. den Reihen ausgeplaudert – ich zitiere einmal – – (Zuruf von der LINKEN: Na ja!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sie sind in meinen Augen der Tiefpunkt einer dauerhaften Herr Kollege Grosse-Brömer, nein. Entschuldigung, es Strategie der AfD in diesem Hause. tut mir leid. Sie müssen jetzt Ihre Rede beenden. Fünf (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Minuten Redezeit in der Aktuellen Stunde ist leider der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE eine strenge Pflicht. GRÜNEN) Ich will Ihnen hier an diesem Ort der Debatte eines Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): sagen: Sie täuschen sich! Sie beeindrucken uns nicht! Ich hatte tatsächlich fünf Sekunden – – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24369

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Allerdings vermisse ich bei der Bewertung dieser Zwi- (C) Nein, vielen Dank. schenfälle einmal mehr das Fair Play und die Gleichheit der Maßstäbe. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- (Beifall bei der AfD – Dr. SES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse- [CDU/CSU]: Was sind die Konsequenzen?) Brömer [CDU/CSU], an die AfD gewandt: Offenbar besteht für viele Journalisten und einige Kol- Sie haben sich entlarvt!) legen hier im Haus ein großer Unterschied darin, wer sich Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der AfD, im oder am Bundestag ungebührlich aufführt und welcher Dr. Alexander Gauland. politischen Gesinnung derjenige folgt. Ich erinnere nur an die fünf Mitglieder – oder wie sympathisierende Medien (Beifall bei der AfD) gerne schreiben: Aktivisten – von Extinction Rebellion, (Zuruf von der LINKEN) Dr. Alexander Gauland (AfD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass die am 2. Juli in der Westlobby Flugblätter warfen und gewählte Volksvertreter von Gästen zweier Abgeordneter Regenschirme aufspannten, um gegen den aus ihrer Sicht unserer Fraktion bedrängt und belästigt wurden, ist unzi- zu langsamen Kohleausstieg zu protestieren. vilisiert und gehört sich nicht. (Zuruf von der LINKEN: Ein unzulässiger (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Vergleich!) Heuchler! – Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Die Störer waren Gäste des parteilosen Abgeordneten Das ist Heuchelei!) Marco Bülow, bis 2018 SPD-Mitglied. Dafür entschuldige ich mich als Fraktionsvorsitzender. (Zurufe von der AfD: Hört! Hört!) (Beifall bei der AfD) Tags darauf stiegen Greenpeace-Mitglieder aus dem- Hier ist etwas, wie man sagt, aus dem Ruder gelaufen, selben Motiv auf das Dach des Bundestages und befestig- und die aufgeheizte Stimmung draußen hat sich nach ten über dem Portal ein Transparent. innen übertragen. Das hätten wir verhindern müssen, (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE wir hätten diese Besucher beaufsichtigen müssen. GRÜNEN]: Ist das jetzt eine Entschuldigung, (Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]: Wer soll oder was, Herr Gauland?) Ihnen den glauben? – Zuruf des Abg. Patrick Im Haus gab es ebenfalls eine Plakataktion durch Gäste (B) Schnieder [CDU/CSU]) eines Abgeordneten der Linken. (D) Ich möchte betonen, dass diese Besucher ganz offiziell (Zuruf des Abg. Dr. Marco Buschmann [FDP]) angemeldet waren und somit auch die Sicherheitsüber- prüfung durchlaufen haben. Wir konnten also nicht damit Aber das alles, meine Damen und Herren in diesem Haus, rechnen, dass so etwas passiert. scheinen gute Störer gewesen zu sein. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Genau! Das ist die NEN]: Ach, mir kommen die Tränen! – Zurufe Heuchelei!) von der LINKEN) Doppelte Maßstäbe erzeugen immer einen unangeneh- – Ja, ja. men Beigeschmack. So was nennt man im bürgerlichen Leben „Heuchelei“. Die Unterstellungen allerdings, diese Vorfälle seien von uns, wie es Herr Grosse-Brömer ja auch gerade ge- (Beifall bei der AfD – Dr. Marco Buschmann sagt hat, beabsichtigt gewesen, das sei eben der Stil der [FDP]: So wenig Schuldbewusstsein!) AfD, diese Unterstellungen sind infam. Die weit übelste Attacke auf einen Abgeordneten des (Beifall bei der AfD – Lachen bei der CDU/ Bundestages fand am Mittwoch übrigens außerhalb des CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten Parlaments statt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Britta (Zuruf von der LINKEN) Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich rede von unserem Kollegen Karsten Hilse, der Unter Was auch sonst!) den Linden Ecke Wilhelmstraße gegen 9.15 Uhr von der Was haben wir denn davon? Es sind ja auch drei der Polizei festgenommen, zu Boden geworfen und mit Besucher in das Büro unseres Parlamentarischen Ge- Handschellen gefesselt worden war, obwohl er sich als schäftsführers eingedrungen und haben, wie die Bundes- Mitglied des Bundestages ausgewiesen hatte. tagspolizei notierte, trotz der Proteste der anwesenden ( [AfD]: Ein Skandal!) Bürobeschäftigten ohne Erlaubnis dort gefilmt. Als Be- sucher hat man sich so nicht aufzuführen. Deshalb wer- Mehrere Beamte knieten auf seinem Rücken und drück- den diese Gäste nicht mehr eingeladen. ten sein Gesicht auf den Boden, obwohl er mehrmals laut rief, dass er kooperiere. Herr Hilse wurde dabei verletzt. (Zuruf von der LINKEN: Die dürfen auch nicht Auf Anraten der Parlamentsärztin begab er sich ins Bun- mehr rein!) deswehrkrankenhaus, wo seine Verletzungen attestiert Punktum. Und nochmals: Pardon. wurden. 24370 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Dr. Alexander Gauland (A) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Bürger in diesem Land, hier in diesem Haus steht auf (C) der SPD – Dr. Bernd Baumann [AfD], an CDU/ dem Boden des Grundgesetzes, verteidigt diese Verfas- CSU und SPD gewandt: Da lachen Sie? Das ist sung und will sie nicht in den Parlamenten angreifen und Ihnen egal?) aufheben. Meine Damen und Herren, ich halte es für mehr als (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP angemessen, wenn Sie auch und erst recht diesen Angriff und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf einen Volksvertreter verurteilen; denn damit könnten Sie beweisen, dass es keine Heuchelei ist, was Sie heute Ich möchte an dieser Stelle auch meinen großen Dank hier aufführen. sagen an die Polizistinnen und Polizisten, die dafür gesorgt haben, dass das Verfassungsorgan Bundestag sei- Ich bedanke mich. ner Arbeit nachgehen konnte. (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Dirk Wiese, SPD, ist der nächste Redner. Ich bin allerdings erschüttert, dass die Polizei am Mitt- woch auch das Haus der Bundespressekonferenz schüt- (Beifall bei der SPD) zen musste, weil auch unsere vierte Gewalt mit Attacken rechnen musste. Das ist etwas, was aus meiner Sicht uns Dirk Wiese (SPD): alle auffordert, aufzustehen, dagegenzuhalten, die Stim- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und me zu erheben. Kollegen! Der Parlamentarismus, die Debatte hier im Parlament, sie leben vom Austausch der Argumente. Die- Ich muss angesichts der Schilder einiger Protestieren- se Debatte ist intensiv. Sie ist manchmal auch hitzig. Ja, den eines sagen: Wir leben hier in keiner Diktatur. Wer manchmal ist sie auch durchaus nicht einfach bei man- eine Diktatur sehen will, der muss nach Belarus gucken, chen Punkten. Aber – das hat diesen Deutschen Bundes- aber nicht in die Bundesrepublik Deutschland. tag ausgezeichnet, und das hat bisher auch die Fraktionen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP hier im Deutschen Bundestag in den vergangenen Jahren und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie immer wieder ausgezeichnet – sie war immer getragen bei Abgeordneten der LINKEN) von Respekt, von Anerkennung des Arguments des ande- ren. Sie war geprägt davon, dass man zugehört hat. Ganz ehrlich, wer den Vergleich anstellt – auch aus Ihrer Fraktion wurde dies gemacht –, dass es sich hier (B) Zu dem, was wir allerdings in dieser Woche am Mitt- (D) woch erlebt haben, muss ich sagen: Das war kein Einzel- am Mittwoch um ein Ermächtigungsgesetz handeln fall, der zufällig passiert ist, weil man unachtsam gewe- würde, der handelt geschichtsvergessen. Das Ermächti- gungsgesetz von 1933 bedeutete die Aufhebung der Ge- sen ist bei der Überprüfung derjenigen, die man als Gäste mit in den Deutschen Bundestag genommen hat. Ich waltenteilung, die Verschmelzung von Legislative und muss schon sagen: Diese Rechtfertigung, die ich gerade Exekutive. Sozialdemokraten haben am Rednerpult gestanden – nicht hier, ein bisschen entfernt –, und sie hier an diesem Pult von Herrn Gauland gehört habe, die ist scheinheilig. haben dagegengestimmt, obwohl sie wussten, dass sie, wenn sie das tun, in die Konzentrationslager kommen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem und mit Folter und Tod bedroht werden. Da muss man BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- sagen: Wer diesen Vergleich zieht, der ist geschichtsver- ordneten der LINKEN) gessen, der hat keine Ahnung und der lügt bewusst über Das, was hier am Mittwoch stattgefunden hat, passte in das, was 1933 passiert ist. das System, wie die AfD hier im Deutschen Bundestag (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, auftritt. Es war wieder einmal eine bewusste Grenzüber- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE schreitung in voller Absicht, und Ihre Rechtfertigung GRÜNEN) gerade, Herr Gauland, die kann ich Ihnen nicht abneh- men. Es ist richtig, dass der Ältestenrat und damit auch der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutsche Bundestag beschlossen hat, diese Vorfälle jetzt der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE zu prüfen, strafrechtlich und ordnungsrechtlich. Ich kann GRÜNEN) nur sagen: Wir müssen aufpassen. Wehren wir diesen Anfängen. Kurt Schumacher, ein großer Sozialdemokrat, Ich will etwas zum Vergleich zu Weimar sagen; mein hat einmal gesagt: Kollege Grosse-Brömer hat es gerade angesprochen. Kurt Sontheimer hat einmal gesagt: Weimar „war eine Nur ein Deutschland, getragen von einem staatsbür- Demokratie, in der es weithin keine demokratische gerlichen Bewusstsein und sozialer Gerechtigkeit, Gesinnung gab“. Sie war von Verfassungsfeinden durch- kann erfolgreich in der Abwehr totalitärer Tenden- setzt. – Wir leben aber heute in einer anderen Zeit. Darum zen sein. ist es nicht vergleichbar. Unsere heutige Demokratie ist (Zuruf von der AfD) wehrhaft. Wir wissen, wie wir uns zur Wehr setzen kön- nen. Wir wissen, wie wir mit Verfassungsfeinden umge- Da, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir alle gefor- hen können. Die große Anzahl der Bürgerinnen und dert. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24371

Dirk Wiese (A) Lieber Herr Gauland, (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, (C) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Ulli Nissen [SPD]: „Lieber“?) GRÜNEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Das Sie haben hier im Deutschen Bundestag am Mittwoch glauben Sie doch selbst nicht! – Zuruf der eine Plakataktion gemacht und sich dabei auf das Grund- Abg. [AfD]) gesetz der Bundesrepublik Deutschland berufen. Dazu kann ich nur eines sagen – und da will ich Carlo Schmid Der große Staatsrechtslehrer Hans Kelsen hat die libe- zitieren; übrigens nicht Carl Schmitt, den Sie, glaube ich, rale Demokratie gegen alle ihre Feinde intellektuell ver- zu häufig gelesen haben –: Artikel 1 des Grundgesetzes teidigt, insbesondere warnte er vor den Waffen der ist „der eigentliche Schlüssel für das Ganze“. Artikel 1 Demokratiefeinde im Parlament. Das, was die AfD bis des Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unan- zum letzten Mittwoch betrieben hat, das nannte er „tech- tastbar“ – haben Sie bis zum heutigen Tage nicht ver- nische Obstruktion“. Damit meinte er „formell geschäfts- standen. ordnungsmäßige Mittel“, mit denen man Sand ins Getrie- be des Parlaments streut – das haben wir häufig genug (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, hier erlebt –, indem massenhaft Wahlgänge beantragt, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE spätabends Hammelsprünge durchgeführt, seltsame GRÜNEN) Geschäftsordnungsanträge gestellt werden usw., usf. Das merkt man in jeder Ihrer Reden hier im Deutschen (Stefan Keuter [AfD]: Das ist Parlamentaris- Bundestag. mus!) Von daher: Ja, diese Coronazeit ist eine herausfordern- Das alles hat aber nicht funktioniert; denn dieses Parla- de Situation für uns alle. Aber mit Respekt, Solidarität ment ist wehrhaft gegenüber seinen Feinden, egal ob sie und Gemeinschaftssinn werden wir diese schwierige Zeit außerhalb dieses Gebäudes agieren oder innerhalb. für die Bundesrepublik, für Europa überstehen. Da müs- sen wir gemeinsam ansetzen, mit Respekt und mit Tole- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD ranz. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Vielen Dank. bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Neben die technische Obstruktion stellte Kelsen aller- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- dings einen weiteren Begriff, und das ist die physische NISSES 90/DIE GRÜNEN) Obstruktion. Die physische Obstruktion soll durch Lärm, durch Gewalt und durch ein Klima der Bedrohung die Parlamentarier selbst von ihrer Arbeit abhalten. Hier (B) (D) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: zeigt sich der Tabubruch vom Mittwoch: Die AfD ist Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marco das erste Mal von technischer Obstruktion zu physischer Buschmann, FDP. Obstruktion des Parlaments übergegangen, und das ist (Beifall bei der FDP) unerhört. (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN Dr. Marco Buschmann (FDP): und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kollegen! Vor zwei Tagen habe ich der AfD von diesem Dr. Alexander Gauland [AfD]: Den Quatsch Rednerpult aus zugerufen, dass sie die Institutionen in glauben Sie selber nicht, Herr Buschmann!) den Schmutz zieht, weil sie sie hasst. Dazu schreibt der Journalist Jasper von Altenbockum (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie Heuchler! Was in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass der AfD soll das?) das – Zitat – „Wort Grundgesetz … im Halse stecken Schon während der AfD-Fraktionsvorsitzende, bleiben“ solle. – Recht hat der Mann! Alexander Gauland, das mit großer Vehemenz von sich (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD gewiesen hat, waren sie schon hier im Hause unterwegs: und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie die Unruhestifter, die Ihre Abgeordneten hier ins Haus bei Abgeordneten der LINKEN) gelassen haben, die Unruhestifter, die Mitglieder der Bundesregierung und Mitglieder dieses Hauses und unse- Und glauben Sie ja nicht, dass wir uns das gefallen re Mitarbeiter bedrängt haben, die sich Zutritt in Räume lassen. Wir werden alle bestehenden rechtlichen Instru- verschafft haben, wo sie nicht hingehören, und die hier mente nutzen, um uns dagegen zu wehren, und wenn die ein Klima der Bedrängung und der Bedrohung erzeugen nicht ausreichen sollten, dann werden wir sie erweitern. wollten. Sie wollten ein Klima der Bedrohung in dieses Haus tragen. Das war das Ziel. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja!) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Physische Obstruktion lässt sich dieses Parlament nicht und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gefallen, Herr Gauland, egal wie viele Krokodilstränen Sie hier vergießen. Was, frage ich Sie, braucht es eigentlich mehr, um zu beweisen, dass ich recht hatte mit meinem Satz: Sie wol- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD len die Institutionen in den Schmutz ziehen, weil Sie sie und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie hassen. bei Abgeordneten der LINKEN) 24372 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Dr. Marco Buschmann (A) Die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das haben wir (C) Ziblatt schreiben in ihrem Buch „Wie Demokratien ster- nicht gesagt! Das ist eine Lüge! – Gegenruf ben“ – Zitat –: der Abg. [DIE LINKE]: Natür- Alle erfolgreichen Demokratien stützen sich auf lich!) informelle Regeln, die zwar nicht in der Verfassung Das ist eine bodenlose Unverschämtheit, und das habe festgeschrieben sind, aber weithin bekannt sind und ich schon vor 14 Tagen von hier oben gerügt. beachtet werden. (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der Man kann diese Regeln auch mit einem Wort zusammen- SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE fassen: Anstand. GRÜNEN) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Es gab in der deutschen Geschichte ein Ermächti- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- gungsgesetz. ordneten der SPD und der LINKEN) (Karsten Hilse [AfD]: Nein, es gab zwölf!) Und an Anstand hat es die AfD vermissen lassen, seit Sie in diesem Parlament sitzen. Mit ihm löste die NSDAP 1933 den Deutschen Reichstag (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Den haben Sie auf. Es folgte eine faschistische Diktatur ohnegleichen, nicht!) inklusive Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, Holocaust und Zweitem Weltkrieg mit zig Millio- Aber Sie lassen es nicht an Anstand vermissen, weil Sie nen Toten. Wer das Gesetz zur Minderung der Corona- es nicht besser wüssten. Sie lassen es an Anstand fehlen, folgen gleichsetzt, verharmlost den Faschismus und ver- weil Sie nur ein Ziel verfolgen: Sie wollen die Institution höhnt seine Opfer. in den Schmutz ziehen, weil Sie sie hassen. (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das machen Sie SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE gerade!) GRÜNEN) Aber seien Sie sich eines sicher: Unsere Demokratie ist Übrigens: Die NSDAP zog seinerzeit mit folgender stärker als Ihr Hass. Ansage in den Reichstag ein – ich zitiere –: (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neut- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE rale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die GRÜNEN – Zuruf von der AfD: 4,9-Prozent- Schafherde einbricht, so kommen wir! (B) Partei!) (D) Ich habe sehr wohl wahrgenommen, dass Vertreter der Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: AfD – und ich benenne einen gleich namentlich, damit Sie gar nicht dazwischenrufen müssen –, unter anderem Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Die Lin- Herr Höcke, genau diese Drohung der NSDAP von Herrn ke. Goebbels für sich aufgenommen haben – im Wortlaut und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- im Agieren. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ( [Erfurt] [SPD]: Das ist nicht das erste Mal!) Petra Pau (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Das heißt, diese Vertreter sehen sich offenbar selbst als nen und Kollegen! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, Nachfolger dieser faschistischen Partei, und das ist erhel- die uns heute hier folgen! Es gibt viele Beschlüsse, die lend und verheerend. hier im Bundestag gefasst wurden oder werden, die ich (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der strikt ablehne. Es gibt viele Mitglieder des Bundestages, SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE die ich bestimmt nicht Freunde nenne, höchstens politi- GRÜNEN) sche Gegner; aber bei allen Differenzen in der Sache würde ich sie nie als Feinde brandmarken. Folglich ist es offensichtlich für etliche Abgeordnete der (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem AfD logisch, ja heldenhaft, wenn sie Personen in den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Reichstag holen, die andere Parlamentarier hier drinnen ordneten der CDU/CSU, der AfD und der FDP) bedrängen und bedrohen. Aber das ist für die Mehrheit des Deutschen Bundestages eben nicht logisch, sondern Feindbilder in diesem demokratisch gewählten Parlament menschenverachtend und demokratiefeindlich. haben mit der AfD massiv Einzug gehalten. Das ist kul- turlos und undemokratisch. (Beifall bei der LINKEN, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem bei Abgeordneten der CDU/CSU) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- ordneten der CDU/CSU) Die AfD wirft anderen Parteien vor, sie würden die Coronaepidemie parteiegoistisch missbrauchen. Im Zusammenhang mit dem Infektionsschutzgesetz, das vorgestern hier beschlossen wurde, sprach die AfD (Stefan Keuter [AfD]: Genauso ist es! – Wei- von einem Ermächtigungsgesetz. terer Zuruf von der AfD: Zu Recht!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24373

Petra Pau (A) Ich sage für Die Linke: Umgekehrt wird ein Schuh draus: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C) Die AfD versucht, sich auf Kosten von zig Erkrankten bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie und noch mehr gefährdeten Bürgerinnen und Bürger zu bei Abgeordneten der LINKEN) profilieren. Wir werden das Parlament vor diesen destruktiven und (Ulli Nissen [SPD]: Widerlich!) antiparlamentarischen Angriffen schützen. Bei aller Un- terschiedlichkeit in der Sache zwischen FDP, CDU/CSU, Das ist erbärmlich. Grünen, SPD und Linken werden wir dies zusammen tun. (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der GRÜNEN) LINKEN – Zurufe von der AfD) Schließlich: Die AfD gibt sich neuerdings als Bürger- Denn wir kennen unsere Verantwortung vor der Ge- rechts- und Freiheitspartei aus. schichte, meine Damen und Herren. Deshalb müssen diese Störmaßnahmen mit der Hausordnung, dem Ord- (Stefan Keuter [AfD]: Immer schon! Seit nungswidrigkeitenrecht und gegebenenfalls auch mit 2013!) dem Strafrecht konsequent geahndet werden. Mit Verlaub: Das ist nicht mal ein schlechter Scherz. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist purer Etikettenschwindel einer Partei mit rechtsextre- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der men Flügeln und rassistischen Positionen. CDU/CSU und der FDP und des Abg. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem [DIE LINKE]) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu müssen Rechtsverletzungen von und Sanktions- Die AfD schützt nicht das Grundgesetz. Im Gegenteil: möglichkeiten gegenüber Abgeordneten jetzt geprüft Die demokratische Gesellschaft muss unser Land vor werden. der AfD schützen, begonnen bei Artikel 1 des Grundge- Meine Damen und Herren, lassen Sie sich nichts weis- setzes. machen: Die Abgeordneten der AfD wussten ganz genau, wen sie einladen. (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- GRÜNEN) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Und sie wussten auch ganz genau, was die Absicht dieser (B) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Personen ist; denn diese Personen waren nicht zum ersten (D) Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, in die Mal eingeladen. nächste Rednerin. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU und der Abg. Bettina Stark-Watzinger [FDP])

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Man darf sich von diesen Äußerungen von Gauland hier Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- nicht täuschen lassen; sie sind Ausflüchte mit doppeltem ren! Hemmelgarn, Bystron, Müller, Huber in dieser Boden. Weidel, Gauland und andere schieben die Verant- Woche – morgen, übermorgen oder auch vor drei Wochen wortung von sich. waren es andere. Die von der AfD eingeschleusten Perso- (Beatrix von Storch [AfD]: Haben Sie nicht nen wollten die gewählten Abgeordneten an der Aus- zugehört?) übung ihres freien Mandates hindern. Das kennen wir aus jeder einzelnen Situation, wenn es (Stefan Keuter [AfD]: Das ist doch Unfug!) brenzlig wird für die AfD, meine Damen und Herren: Dann wussten sie nichts oder heulen Krokodilstränen. Das ist ein gravierender Vorfall. Wer versucht, Abgeord- Nehmen Sie das nicht ernst! nete einzuschüchtern, meine Damen und Herren, der greift unsere Demokratie an, und das ist ein Tabubruch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in diesem Haus. bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Sie versuchen, die Öffentlichkeit für dumm zu verkau- LINKEN) fen. Aber, meine Damen und Herren, wir lassen uns von Rechtsextremen nicht auf der Nase herumtanzen, weder Dennoch, meine Damen und Herren – und das ist die gute hier im Parlament noch anderswo! Lassen Sie sich das Botschaft vom Mittwoch –, sind die Störerinnen und Stö- gesagt sein! rer, die Schleuser der AfD und mit ihnen die AfD ge- scheitert. Der Bundestag mit seinen Abgeordneten, dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Parlament, hat in intensiver Debatte beraten, war arbeits- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie fähig und hat als Gesetzgeber Entscheidungen getroffen – bei Abgeordneten der LINKEN) trotz Ihrer Manöver und Ihres Tabubruchs, meine Damen Das war doch eine konzertierte Aktion. Und das ist Teil und Herren. Ihrer Strategie, das ist Teil der AfD-Strategie: 24374 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Britta Haßelmann (A) (Dr. Götz Frömming [AfD]: Nein!) (Beifall bei der CDU/CSU) (C) unaufrichtiges, geheucheltes Bedauern hier; denn man merkt, es wird brenzlig. Haben Sie es gesehen? Seit ges- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): tern werden auch alle Videos gelöscht. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind es ja mittlerweile leider gewohnt, dass Verfassungs- ( [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE feinde von außen den Bundestag verächtlich machen, den GRÜNEN]: Ja, genau!) Bundestag und unseren Parlamentarismus abschaffen Es gibt diese Videos plötzlich nicht mehr. Aber für wie wollen. Aber mit der Aktion vom Mittwoch, liebe Kolle- blöd halten Sie uns eigentlich? Jede Menge Journalistin- ginnen und Kollegen, hat die AfD mal wieder aufs Neue nen und Journalisten und auch wir haben Screenshots bewiesen: Die Feinde der Demokratie kommen nicht nur gemacht. von außen, die Feinde der Demokratie sitzen auch hier in (Zurufe von der AfD: Wow!) diesem Plenarsaal. Hier rechts im Plenarsaal sitzen Fein- de der Demokratie. Da kommen Sie nicht mehr raus, meine Damen und Her- ren. Da kommen Sie nicht mehr raus! (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der LINKEN) bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- geordneten der SPD und der Abg. Dr. Petra Es sind diejenigen, die immer behaupten, eine Alterna- Sitte [DIE LINKE]) tive für Deutschland zu sein. Diejenigen, die behaupten, eine Alternative zu sein, arbeiten in Wahrheit an einer Unaufrichtiges und geheucheltes Bedauern hier – auch Alternative zu unserer Demokratie, liebe Kolleginnen heute wieder – und dann Applaus von den anderen ein- und Kollegen. holen: Das ist die Strategie, meine Damen und Herren, und die müssen wir entlarven. Denn das geht so nicht; das (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- kann man auf gar keinen Fall so stehen lassen. Die AfD NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- macht Heuchelei, Rückgratlosigkeit und Manipulation ten der SPD – Claudia Roth [Augsburg] zur Methode; wir kennen unzählige Beispiele aus jeder [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Parlamentswoche. Sie versucht, die demokratischen Ich kann nur sagen: Wir werden Ihre Einschüchte- Institutionen verächtlich zu machen; auch das erleben rungsversuche nicht zulassen. Hier im Bundestag ent- wir jede Woche im Parlament. Die Geschehnisse von scheiden frei gewählte Abgeordnete über das Schicksal Mittwoch haben gezeigt, dass Sie auch keine Grenzen unseres Landes. Was wir vor zwei Tagen hier erlebt kennen. (B) haben, war der bewusste Versuch der AfD, genau diese (D) ( [AfD]: Sie kennen keine freie Entscheidung zu erschweren und zu untergraben. Grenzen!) Sie haben Leute in den Bundestag gebracht, die offenbar nur eines im Sinn hatten, nämlich Abgeordnete anderer Der Versuch der Zersetzung unserer Demokratie, das ist Fraktionen auf den Fluren abzufangen, sie vor laufenden das Ziel vieler derer, die in dieser Fraktion sitzen. Dage- Kameras zu beschimpfen und zu beleidigen. Und das Ziel gen werden Demokratinnen und Demokraten zusammen- ist klar: Sie wollen das Parlament lächerlich machen, Sie stehen, meine Damen und Herren! wollen Abgeordnete öffentlich vorführen, Sie wollen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Mitglieder des Bundestages einschüchtern. Ich kann nur bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie sagen: Wir lassen uns von Ihnen und Ihren Methoden bei Abgeordneten der LINKEN) nicht einschüchtern! Erinnern Sie sich noch, dass Gauland 2017 sagte: „Wir (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP werden sie jagen“? und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Dr. Götz Frömming [AfD]: Politisch!) Wir werden vor Ihren Fake News, Ihrer Demokratiever- Erinnern Sie sich daran? Gar nichts werden Sie, meine achtung, Ihrem Kampf gegen das Parlament keinen Fuß- Damen und Herren von der AfD! breit zurückweichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Wir meinen die (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Ein Held! – politische Auseinandersetzung!) Weiterer Zuruf des Abg. Markus Frohnmaier Denn Demokratinnen und Demokraten in diesem Haus [AfD]) und auch außerhalb des Parlaments werden zusammen- – Ja, ja. stehen, werden gemeinsam solchen Feinden der Demo- kratie entgegenstehen, und das wissen Sie ganz genau. Diese Pandemie stellt uns als Parlament vor eine Ihnen steht das Wasser bis zum Hals! schwierige Situation. Ja, wir müssen abwägen zwischen der Freiheit, sich mit Freunden zu treffen, ins Konzert zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gehen oder Restaurants zu besuchen, auf der einen Seite bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der und dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor einem LINKEN – Zurufe von der AfD) gefährlichen Virus auf der anderen Seite. Ich habe die Debatte am Mittwoch so erlebt, dass sich hier niemand Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: die Entscheidung leicht gemacht hat, weder diejenigen, Stefan Müller, CDU/CSU, ist der nächste Redner. die dem Gesetz zugestimmt haben, noch diejenigen, die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24375

Stefan Müller (Erlangen) (A) dem Gesetz nicht zustimmen konnten. Wir alle wissen Ihnen fehlt jede Voraussetzung für den demokratischen (C) aber: Wir treffen existenzielle Entscheidungen in diesem Diskurs in diesem Parlament. Haus. Aber natürlich ist es zu viel verlangt, die Hausordnung Jetzt frage ich mal: Wer ist denn hier wirklich der auf- einzuhalten, wenn Sie schon Probleme mit dem Grund- rechte Demokrat? gesetz haben. Dafür gibt es viele Beispiele. Eines ist: Herr Seitz sagt, der Bundestag sei ein Parlament der Schande. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Na Sie nicht!) Sie versuchen gezielt und bewusst, jedes demokrati- Derjenige, der Demonstrationen respektiert, der andere sche Verfassungsorgan lächerlich zu machen. Sie spre- Meinungen akzeptiert, der Gerichtsurteile aushält und chen über kriminelle Schleuserbanden. Am Mittwoch akzeptiert, oder derjenige, der andere Meinungen ver- waren Sie die kriminelle Schleuserbande. ächtlich macht, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Was Sie gerade und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie machen!) bei Abgeordneten der LINKEN) die Wahrheit verdreht oder ein Klima der Angst erzeugt, Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. so wie Sie es tun?

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollege Müller! Herr Gauland hat neulich hier im Parlament gesagt: „Der Güter höchstes ist die Freiheit.“ Ja, aber Freiheit Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): setzt Vielfalt voraus, offene Diskussionen und gegenseiti- Sie sind Gegner der Verfassung. So werden wir Sie gen Respekt. All das ist Ihnen ganz offensichtlich abhan- auch behandeln. dengekommen. Die Aktion vom letzten Mittwoch war die offizielle Austrittserklärung der AfD aus dem parlamen- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP tarischen Diskurs, liebe Kolleginnen und Kollegen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Abgeordnete Karsten Hilse, Jetzt erleben wir ja wieder das übliche Spiel: Es wird AfD. (B) bestätigt, was nicht geleugnet werden kann. Wir hören, (D) das sei ja alles nicht so schlimm; es waren ja nur ein paar (Beifall bei der AfD – Dr. Barbara Hendricks Gäste von ein paar wenigen Kollegen, die sich daneben- [SPD]: Das Grauen geht weiter!) benommen haben. Ich will nur sagen: Vor ein paar Wochen hat sich das noch ganz anders bei Ihnen ange- Karsten Hilse (AfD): hört. Ich zitiere: Der Deutsche Bundestag „steht für den Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- parlamentarischen Meinungsstreit im Plenarsaal und darf ren! nicht zum Objekt politischer Auseinandersetzungen auf der Straße missbraucht werden – egal von welcher Seite“. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wörtliches Zitat von ! NEN]: Wo ist denn heute das Querdenker- T-Shirt?) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die ist heute nicht da wegen der Partei- Dass Gäste, egal wo sie Gast sind, ihr Gastrecht miss- spendenaffäre!) brauchen, verurteile ich auf das Schärfste. Und das muss auch Konsequenzen für diejenigen haben, die die- Da ging es um die Stürmung der Reichstagstreppe, um sen Missbrauch begangen haben. ein Greenpeace-Transparent. Das hat man alles zu Recht kritisiert; aber davon wollen Sie ja heute nichts mehr (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Für die Ab- wissen. geordneten? Was ist mit den Abgeordneten, die sie reingelassen haben?) (Zuruf des Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD]) Das ist vollkommen klar. Ich werde Ihnen auch sagen, warum: weil Sie die Mei- nungsfreiheit nur gelten lassen, wenn es um Ihre eigene Dieser Mittwoch war aber nicht wegen der Missach- Meinung geht, tung des Gastrechts ein geschichtsträchtiger Tag. Wie er einst bewertet wird, hängt unter anderem davon ab, wie (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Genau! So ist die vielen zu erwartenden Klagen vor dem Bundesver- es!) fassungsgericht gegen dieses von einigen auch „Ermäch- weil die einzige Moral, die Sie kennen, Ihre Doppelmoral tigungsgesetz“ genannte Gesetz beschieden werden. ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Na, da (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, haben wir es doch! – Bettina Stark-Watzinger der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE [FDP]: So sieht also Ihre Interpretation von GRÜNEN) Ihrem Handeln aus!) 24376 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Karsten Hilse (A) Ja, das Wort „Ermächtigungsgesetz“ hat eine brisante 413 Abgeordnete haben die bundesweiten Demonstratio- (C) Konnotation, was allerdings Dr. von nen, die Bitten, auf ihr Gewissen zu hören, nicht interes- der CDU/CSU nicht davon abhielt, am 20. Januar 2012 siert. hier im Bundestag einen SPD-Gesetzentwurf als „min- (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Was wissen Sie destlohnpolitisches Ermächtigungsgesetz“ zu bezeich- eigentlich über Gewissen? – Zuruf der Abg. nen. Ulli Nissen [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Zuruf von Sie haben im vollen Bewusstsein aus Opportunität oder der AfD: Hört! Hört!) aus Feigheit für ein Gesetz gestimmt, das die Tür zur Allerdings hat der Begriff „Ermächtigungsgesetz“ seine Diktatur aufstößt. Schämen Sie sich! negative Konnotation auch erst erhalten, als die Parla- (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Zurufe mentarier des Deutschen Reichstages mit dem von den von der CDU/CSU und der SPD) Nationalsozialisten eingebrachten Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich ein Ermächtigungsgesetz Dazu passt, dass gegen friedliche Demonstranten Was- beschlossen, welches die Demokratie aus den Angeln serwerfer zum Einsatz kamen. Diese wurden seit Jahren hob und zur schlimmsten Katastrophe des 20. Jahrhun- in Berlin nicht einmal zu den Gewaltorgien linker Ter- derts führte. Bis zu diesem Zeitpunkt war „Ermächti- roristen oder zum Al-Quds-Marsch, wo die Auslöschung gungsgesetz“ ein üblicher Begriff, nach dem von 1914 Israels gefordert wird, eingesetzt. Wenn aber friedliche bis 1927 insgesamt elf Ermächtigungsgesetze erlassen Menschen für Frieden, Freiheit und Demokratie auf die wurden. Straßen gehen, dann kann es nicht genug Wasser und Tränengas sein. (Peter Beyer [CDU/CSU]: Ich kotze gleich! – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD], an die AfD (Armin-Paulus Hampel [AfD]: So ist es!) gewandt: Herr Baumann, Sie haben nicht mal Die Polizeiführung Berlins ist Erfüllungsgehilfe dieser Ihre Redner im Griff!) völlig außer Rand und Band geratenen Bundesregierung. Also bitte ich Sie inständig: Bitte lassen Sie die Kirche im (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Wider- Dorf! Wenn in einem Gesetz mehrmals von „Ermächti- spruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und gung“ gesprochen wird, dann kann man es mit Fug und der SPD) Recht ohne diese negative Konnotation so nennen. Neben vielen Polizeibeamten, die taten, was sie nicht nur (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Carsten gelernt, sondern als Polizist auch tief in sich tragen – Schneider [Erfurt] [SPD]: Mann, Mann, verhältnismäßig zu reagieren –, (B) Mann!) (D) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Eine Dieses am Mittwoch mit 413 Stimmen beschlossene Schande für die Polizei sind Sie! Schämen Sie Gesetz zieht die größten Grundrechtseinschränkungen sich!) seit 1949 nach sich. gab es am Mittwoch wieder Polizisten, die sich von der (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Da haben Hetzpropaganda der Regierung und ihrer Medien anste- wir es doch! – Bettina Stark-Watzinger cken ließen und völlig unverhältnismäßig handelten. [FDP]: Reden Sie doch mal zu den Vorfällen, die Ihre Abgeordneten herbeigeführt haben!) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Total ver- strahlt! Faschistoide Züge sind das hier! – Wir als AfD und viele Menschen da draußen werden mit Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- allen rechtsstaatlichen Mitteln versuchen, dieses Gesetz NEN]: 80 verletzte Polizisten!) wieder außer Kraft zu setzen. Allen Polizisten, die sich menschlich und vor allem (Beifall bei Abgeordneten der AfD) verhältnismäßig verhielten, gilt mein ausdrücklicher Dieser 18.11.2020 wird aber auch deswegen in die Dank. Geschichte eingehen, weil es noch nie in der deutschen (Beifall bei der AfD) Geschichte einen solch breiten Widerstand von Men- schen verschiedener politischer Grundüberzeugungen Aber ihr solltet auch beachten: Jeder Kollege, der in gegen ein Gesetz gab. rabiater und brachialer Weise gegen friedliche Demon- stranten vorgeht, um sie einzuschüchtern, zerstört das (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Bild, das ihr, diejenigen, die verhältnismäßig agieren, GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung!) zeigt. Noch nie haben Abgeordnete so viele – Abertausende – (Zuruf der Abg. Susann Rüthrich [SPD]) Mails, Briefe, Faxe erhalten mit der eindringlichen Bitte, dieses Gesetz abzulehnen. Auch ich wurde am Mittwoch Opfer von völlig unver- hältnismäßigem Handeln. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja, Opfer- Wir haben die Mails beantwortet und uns klar positio- kult!) niert: für Freiheit und Demokratie. Wegen einer vermeintlichen Ordnungswidrigkeit ging ich (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Haben Sie am mit zwei Beamten in Richtung ihrer Fahrzeuge zur Per- Mittwoch nicht!) sonalienfeststellung. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24377

Karsten Hilse (A) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das wird Dr. Barbara Hendricks (SPD): (C) die Staatsanwaltschaft klären!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damen und Herren Abgeordnete auf der rechten Seite Natürlich hatte ich mich von Anfang an als Bundestags- dieses Hauses! abgeordneter ausgewiesen. Als ich dann den Kollegen offensichtlich nicht schnell genug war, wurde ich erst (Stefan Keuter [AfD]: Was haben Sie genu- geschubst, gegen eine Scheibe gedrückt und fand mich schelt? – Gegenruf der Abg. Claudia Roth plötzlich auf dem Pflaster wieder, mit dem Gesicht im [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Asphalt, kniende Polizisten auf mir. Mehrmals hatte ich Jetzt reicht es aber!) den Beamten zugerufen, dass ich kooperiere, dass ich Ich bin seit mehr als 25 Jahren Mitglied dieses Bundes- meine Personalien angebe. Ich habe sogar die ganze tages, noch in Bonn und von Beginn an hier in Berlin. Wir Zeit meinen Personalausweis hochgehalten. hatten in all den Jahren ganz unterschiedliche Mehrhei- (Ulli Nissen [SPD]: Personalausweis!) ten, immer wieder wechselnde Mehrheiten. Wir hatten eine Fülle von Herausforderungen zu bestehen, die wir Sie hätten ihn einfach nur nehmen müssen. Das interes- nicht immer alle einstimmig vorangebracht haben, sierte sie nicht mehr. (Stephan Brandner [AfD]: „Nicht immer alle (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Sie wissen einstimmig“, ja!) ganz genau, was man machen muss, damit das aber doch in einem prinzipiellen Einvernehmen darüber, passieren muss! Sie sind Polizist! Eine Schande was der Wert der Demokratie ist und wie man sich in für die Polizei! Sie ziehen die Polizisten in den diesem Hause sowohl arbeitsmäßig als auch persönlich Dreck!) verhält. Ich weiß, dass die meisten von Ihnen das auch nicht (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP interessiert. Anders wäre es, wenn zum Beispiel Herr und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Bartsch oder Herr Hofreiter betroffen wären oder wenn bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von irgendjemand von Ihnen bei irgendeiner Gelegenheit in der AfD) dieser Situation gewesen wäre. Seit 2017 hat sich nicht nur die Arbeitsweise, sondern ( [DIE LINKE]: Das ist auch die Atmosphäre in diesem Haus grundlegend ge- unglaublich! Das darf doch wohl nicht wahr wandelt, und das liegt daran, dass die AfD als Fraktion sein!) Mitglied dieses Parlamentes werden konnte. Wir wissen Dann wäre das Geschrei groß. das, aber wir wollen uns nicht daran gewöhnen. Wir wis- (B) sen, dass Sie insbesondere Kolleginnen, die in Ihrer Nähe (D) sitzen, beleidigen, so, dass die Kolleginnen das hören, es Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: aber nicht ins Protokoll aufgenommen werden kann. Herr Kollege Hilse, Ihre Redezeit ist abgelaufen. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! – Zurufe von der AfD: Karsten Hilse (AfD): Verschwörung! – Verschwörungstheorie!) Okay. – Sie hätten dann – – Wir wissen, dass Mitglieder der Bundesregierung es im Prinzip fast nicht mehr aushalten können, in Ihrer Nähe Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: zu sitzen, wegen der provokanten Äußerungen, die wie- Bitte verlassen Sie das Pult. derum aus Ihren Reihen kommen, aber nicht im Protokoll (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Mikro aus! – erscheinen, weil sie nicht so laut gerufen werden. Weitere Zurufe) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Welche Äußerun- gen machen Sie denn? Die sind nicht besser! – Weitere Zurufe von der AfD) Karsten Hilse (AfD): Ich verlasse das Pult. – Und Ihr Geschrei zeigt, dass Sie Wir wissen dies alles, und wir müssen damit umgehen; nur Heuchler sind. Entschuldigung. das ist leider nicht zu ändern. (Beifall bei der AfD – Carsten Schneider Wir wissen, dass in Ihren Reihen Nazis sind, [Erfurt] [SPD]: Rechtsextremisten! – Katrin (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Unverschämt- Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heit! Herr Präsident!) NEN]: Ekelhaft! – Britta Haßelmann [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht man doch, und wir wissen, dass in Ihren Reihen Menschen sind, die was für ein geheucheltes Bedauern das von so tun, als seien sie Nazis, um der Provokation willen. Ihnen ist!) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Herr Präsident, das geht nicht! Ich lasse mich nicht als Nazi Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: beschimpfen! – Weitere Zurufe von der AfD) Herr Hilse! – Barbara Hendricks, SPD, ist die nächste – Ziehen Sie sich den Schuh an oder nicht. Rednerin. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das ist eine (Beifall bei der SPD) Unverschämtheit!) 24378 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Im Jahr 1976 hat Ernst-Wolfgang Böckenförde folgen- (C) Herr Kollege Hampel! den Satz geprägt: (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Ich lasse mich (Zuruf von der AfD: Barbaras Märchenstun- hier nicht als Nazi beschimpfen, Herr Präsi- de!) dent! – Gegenruf von der SPD: Sie sind Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von das! – Weitere Zurufe) Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren Herr Kollege Hampel, ich rufe Sie zur Ordnung. kann. (Zuruf des Abg. Armin-Paulus Hampel (Beatrix von Storch [AfD]: Das sollten Sie sich [AfD] – Weitere Zurufe von der AfD) noch mal ganz genau angucken!) – Ich rufe Sie erneut zur Ordnung und mache Sie auf die Ich erlaube mir, dieses berühmte Zitat von Ernst- Folgen eines dritten Ordnungsrufs aufmerksam. Wolfgang Böckenförde abzuwandeln: Der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat ist gefährdet, wenn eine klei- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Mit Verlaub, ne, aber lautstarke Minderheit Herr Präsident! – [AfD]: Dr. Schäuble, das ist der Tiefpunkt des Parla- (Beatrix von Storch [AfD]: Sie haben gar mentarismus, wenn Sie das zulassen!) nichts verstanden!) Frau Kollegin Hendricks. an diesen Voraussetzungen nicht nur nicht mitwirken will, sondern andere daran hindern will, diese Voraus- Dr. Barbara Hendricks (SPD): setzungen unserer Demokratie zu stärken. Bis hin zur Körperhaltung von einigen Mitgliedern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihrer Fraktion wird hier provoziert und gezeigt, dass DIE GRÜNEN – Beatrix von Storch [AfD]: Sie man dieses Parlament verachtet. Und was Sie nicht selbst haben nichts verstanden!) erledigen, das lassen Sie durch Mitarbeiterinnen und Mit- arbeiter erledigen, die Sie ganz offenbar unter dem Dies werden die Demokraten in diesem Parlament Gesichtspunkt auswählen, wer denn wohl der Skrupello- nicht zulassen, und wir wissen die Bürgerinnen und seste sei. Bürger unseres Landes an unserer Seite. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Herzlichen Dank. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (B) Kolleginnen aus anderen Fraktionen trauen sich nicht (D) mehr, spätabends auf den Fluren unterwegs zu sein, GRÜNEN) (Lachen bei der AfD – Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Patrick Schnieder, weil sie von Mitarbeitern Ihrer Fraktion oder von Mit- CDU/CSU. arbeitern von Abgeordneten Ihrer Fraktion bedrängt wer- den. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der AfD: Frau Hendricks, was reden Sie da für einen Scheiß?) Patrick Schnieder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Parla- Ich nenne ein Zitat aus der Kantine, die im Wesentlichen mentarische Demokratie, gerade in diesem Hause, lebt von den Abgeordnetenmitarbeitern genutzt wird. Ein vom Austausch der Sachargumente, lebt von Rede und Mitarbeiter der AfD-Fraktion oder eines AfD-Abgeord- Gegenrede, lebt vom politischen Diskurs und lebt davon, neten nimmt wahr, dass ein anderer ein vegetarisches dass wir Regeln haben, an die wir uns halten, geschrie- Gericht bestellt, und darauf kommt die Bemerkung: bene Regeln, Regeln von Anstand, aber auch ungeschrie- Euch kriegen wir auch noch, ihr Körnerfresser! – Das bene Regeln über die Grundlage unseres Zusammenar- ist eine Bedrohung im strafrechtlichen Sinne. beitens im Sinne unserer Demokratie. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie bezeichnen (Stephan Brandner [AfD]: Die Bundestagsvi- uns als Nazis, und dann kommen Sie mit so zepräsidentin zum Beispiel! Die Regeln haben was! Was für eine Heuchelei! Sie haben von Sie nicht verstanden!) Nazis gesprochen!) Das, was wir diese Woche an Handeln der AfD erlebt Das ist Realität, das ist so geschehen. Das ist zwar nicht haben, war die Aufkündigung all dessen, was parlamen- schriftlich dokumentiert, aber es ist mir glaubhaft ver- tarische Demokratie in diesem Hause ausmacht. sichert worden, dass es so war. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, (Zuruf von der AfD: Märchenstunde!) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Sie machen dies alles, um dieses Parlament verächtlich zu GRÜNEN) machen. Sie provozieren ganz bewusst. Sie haben sich in dieser Woche demaskiert. Sie haben (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta sich die Maske vom Gesicht gezogen. Herausgekommen Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ist die Fratze der Undemokraten, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24379

Patrick Schnieder (A) (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- Meine sehr geehrten Damen und Herren, alles hat auch (C) NIS 90/DIE GRÜNEN]) etwas Gutes. Sie haben in dieser Woche Grenzen über- schritten, und zwar gewaltig: Grenzen des Anstands und die Fratze derjenigen, die die parlamentarische Demokra- Grenzen unseres demokratischen Zusammenarbeitens. tie zerstören wollen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, (Stephan Brandner [AfD]: Grenzschützer!) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Das wird uns alle hier vereinen. Sie haben uns hier den GRÜNEN) Kampf erklärt, und wir nehmen den Kampf an, den Wir müssen uns vor Augen halten, dass es hier um eine Kampf der Demokraten gegen die Undemokraten. Wir orchestrierte Aktion ging. Schon Tage vorher ist in Chat- werden gegen diejenigen kämpfen, die versuchen, die gruppen darüber berichtet worden, dass aus Ihren Reihen, parlamentarische Demokratie von innen heraus zu zer- aus den Reihen der AfD-Fraktion im Bundestag, nach stören. draußen darauf hingewirkt wurde, Abgeordnete mög- lichst davon abzuhalten, ihr Mandat hier wahrzunehmen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, und am Mittwoch abzustimmen. der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das ist doch Blödsinn! Niemals! Sie lügen!) Es gibt noch etwas Gutes daran: Es ist ganz offen sicht- bar geworden, dass Sie Feinde unserer Verfassung sind, Das ist alles in Chatgruppen nachweisbar. Sie haben am und es ist jetzt höchste Zeit, dass der Verfassungsschutz Mittwoch Demokratiefeinde hier eingeschleust. Der Be- die AfD insgesamt beobachtet. Sie sind in der Tat ein Fall griff „Schleuserbande“ erhält eine ganze neue Konnota- für den Verfassungsschutz geworden. tion in diesem Zusammenhang. Sie haben Leute einge- schleust, die Abgeordnete bedrängt, bedroht und genötigt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der haben, auch um sie hier von ihrem freien Mandat abzu- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- halten. NEN) Sie haben in der Debatte historische Reminiszenzen Wir werden nicht nachlassen, offenzulegen, wie unde- evoziert mit Vokabeln wie „Ermächtigungsgesetz“ oder mokratisch Sie agieren und wie Sie die parlamentarische „Gesundheitsdiktatur“, die angesichts unserer histori- Demokratie von innen aushöhlen wollen. Wir werden das schen Verantwortung so was von geschichtsvergessen hier im Hause tun. Wir werden Sie hier mit allen demo- und so unterirdisch sind im parlamentarischen Diskurs, kratischen Mitteln stellen. Aber auch die Menschen drau- dass ich nur sagen kann: Sie sind Verfassungsfeinde, und ßen haben mitbekommen, wes Geistes Kind Sie sind. Wir (B) Sie haben sich in dieser Woche hier als Verfassungsfeinde werden den Kampf aufnehmen, hier im Haus, aber auch (D) geoutet! draußen auf der Straße. Wir werden Sie entlarven als das, was Sie sind, nämlich Feinde unserer Verfassung. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, GRÜNEN) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Das, was wir heute erleben und was wir gestern schon GRÜNEN) von Ihnen erlebt haben, Herr Gauland, das folgt dem normalen und üblichen Muster: Zunächst kommt die Pro- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: vokation, die Regelüberschreitung, der Tabubruch, und Nächste Rednerin ist die Kollegin Susann Rüthrich, dann kommen die Krokodilstränen, dann wird relativiert. SPD. Und das, Herr Gauland, ist pure Heuchelei. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Susann Rüthrich (SPD): Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, dann Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und war das die Rede von Herrn Hilse vorhin, der Sie auch Kollegen! Auf dem Weg in den Bundestag angeschrien noch Beifall gespendet haben. zu werden, den Bundestag nur betreten zu können mit- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, hilfe der Polizistinnen und Polizisten, die Blockadewilli- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE ge abhalten, Massenmails und Telefonate in oft wüstem GRÜNEN) Ton – man muss echt nicht zart besaitet sein, um zu sagen: Stopp, so geht das nicht, Leute! Herr Gauland, eines will ich Ihnen sagen: Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten. (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD] – Armin- Der demokratische Rest, der noch erkennbar ist, weist Paulus Hampel [AfD]: Das reden Sie seit sie- darauf hin, wie verzwergt die Demokratie in Ihren Reihen ben Jahren, Frau Kollegin, bei jedem Partei- geworden ist. tag!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP So gehen demokratische Abläufe kaputt, anstatt von uns und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie gepflegt zu werden. bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Alexander Gauland [AfD]) (Beifall bei der SPD) 24380 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Susann Rüthrich (A) Was aber wirklich entlarvend ist, ist die Tatsache, dass Kulturschaffende, Gewerkschafterinnen und Gewerk- (C) auch gewählte Abgeordnete, statt ihren Einfluss zur schafter, zivilgesellschaftlich Engagierte, Journalistinnen Mäßigung zu nutzen, an der Sabotage der Parlamente und Journalisten werden angegangen. größtes Interesse haben. War das gemeint, als der AfD- Sie wollen Grundrechte schützen? Haben Sie schon Chef nach der Bundestagswahl sagte: „Wir werden sie mitbekommen, dass dazu auch Vereinigungsfreiheit und jagen“? – Ja, damit waren wir alle gemeint: frei gewählte Pressefreiheit gehören, und zwar für alle und nicht nur für Abgeordnete und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Ihresgleichen? Diese ganze Sabotage ist kein Zufall; es ter. ist ein Wesensmerkmal von Rechtsextremismus, dieser Wir sind ein offenes, ein transparentes, ein demokrati- tritt hier offen zutage. sches Haus, wie unsere Gesellschaft auch. Es sind Mit- glieder dieses Hauses, Mitarbeitende dieser Abgeordne- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ten, die diese Offenheit sabotieren, und zwar nicht nur am BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- letzten Mittwoch. Kampagnen aus Bundestagsbüros ordneten der CDU/CSU und der FDP) haben wir schon vorher erlebt. Diese Destruktion hat Wann, wenn nicht jetzt, ist es an der Zeit, uns mit einem System. Demokratiefördergesetz verlässlich an die Seite derjeni- (Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜND- gen zu stellen, die in Kommunen und Initiativen unsere NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- vielfältige Demokratie hegen und pflegen und dafür lei- ten der LINKEN) der angegriffen werden? Wir hören aus diesen Reihen nicht nur Reden voller Ver- Was ich aber besonders perfide finde – das hat gar achtung, sondern sehen auch diese Taten. Wenn Sie, nichts mit uns Abgeordneten zu tun –: Mithilfe düsterster geehrte Bürgerinnen und Bürger, die Demokratie wirk- Szenarien wurde zur Demo am Mittwoch mobilisiert. Es lich wahren wollen, dann können Sie diese Destrukteure wurde einkalkuliert, dass es zu Gewalt kommt. Was hier nicht wählen. machen dann einige? Sie bringen absichtlich ihre Kinder mit, damit die Polizei milder reagieren möge. Wollen Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten absichtlich Ihre Kinder zu Opferhelden Ihrer Szene der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE machen? Kinder zu instrumentalisieren, das kennen wir GRÜNEN) aus rechten Kreisen: beim Kinderschutz, bei der Gebur- Liebe demokratische Kolleginnen und Kollegen, wir tenrate oder Ähnlichem. Aber auf einer dynamischen haben hier die Bundestagspolizei, wir haben eine starke Demo wie dieser geht es um reale Kinder, die absichtlich Geschäftsordnung. Wir können uns wehren gegen diese in Gefahr gebracht werden. Das ist es wirklich nicht wert. systematischen Angriffe. Leider haben diese Angriffe auf (B) (Beifall bei der SPD) (D) die repräsentative Demokratie aber nicht nur hier System. Wir sehen das auch in Landtagen, wir sehen das in Kom- Liebe Bürgerinnen und Bürger, kritisieren Sie uns, munen. Und da ist es besonders perfide. Oftmals werden demonstrieren Sie auch, gestalten Sie unsere Demokratie; ehrenamtliche Mandatsträgerinnen und Mandatsträger machen Sie das friedlich und so respektvoll, wie Sie bedrängt und bedroht, auch da von AfD-Mitgliedern selbst behandelt werden wollen, und machen Sie das bitte und deren Umfeld. nicht an der Seite von Rechtsextremen und Demokratie- (Zuruf des Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD]) feinden! Ganz aktuell nur ein Fall: Kreisräte und Landtagsabge- Vielen Dank. ordnete der AfD bedrängen in einem offenen Brief die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, amtierende Landrätin, nur weil diese die Verordnungen der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE umsetzt und das Kreiskrankenhaus am Laufen halten GRÜNEN) will. Mandatsträger können jede Frage ans Landratsamt stellen. Sie könnten jedes Thema auf die Tagesordnung der Kreistagssitzung setzen, wenn, ja wenn diese Demo- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: kratieverächter an Lösungen interessiert wären. Das sind Letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde ist die Kol- sie aber nicht. Es geht allein um öffentlichen Druck gegen legin Nina Warken, CDU/CSU. diejenigen, die unsere Demokratie tragen. Das ist so (Beifall bei der CDU/CSU) unverantwortlich angesichts dessen, was diese Gesell- schaft gerade zu stemmen hat. Nina Warken (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gen! Der Deutsche Bundestag hat bei seinem Umzug CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) nach Berlin im Jahr 1999 bewusst entschieden, sich Für nichts eine Lösung zu haben, aber auf allen Ebenen auch in seiner Bauweise als das zu zeigen, was er ist: diejenigen, die ernsthaft um Lösungen ringen, am Arbei- ein offenes Parlament. Alleine die Architektur der Lie- ten hindern – dafür wollen Rechtsextreme gewählt wer- genschaften, geprägt von Sichtbeton und großen Fens- den. Aber nicht, um für das Gelingen der Demokratie zu terfronten, spiegelt seither die Transparenz und die sorgen, sondern um deren Scheitern erst herbeizufanta- Offenheit unserer Demokratie wider. An kaum ein Parla- sieren und dann alles dafür zu tun. Bezieht sich diese mentsgebäude der Welt kommen Bürgerinnen und Bürger Sabotage aber nur auf Politik und Verwaltung? Nein, so nahe heran wie bei uns in Deutschland. Diese Offen- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24381

Nina Warken (A) heit, diese Nähe macht unsere parlamentarische Demo- vom „Ermächtigungsgesetz“, ohne wahrscheinlich zu (C) kratie aus, macht sie stark, meine sehr verehrten Damen wissen, was das überhaupt bedeutet. Sie verstecken sich und Herren. auf Zugtoiletten – wie der Kollege Brandner –, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU und der SPD) Die AfD hat diese Offenheit und das Vertrauen in die Sie verlassen das Plenum – wie der Kollege Hilse – und Bürgerinnen und Bürger am vergangenen Mittwoch wollen sich dann anschließend noch in die Opferrolle schamlos ausgenutzt, und das mit Wissen und Wollen, begeben. Die lückenlose Aufklärung der Vorfälle vom also vorsätzlich, weil drei namentlich bekannte Mitglie- vergangenen Mittwoch obliegt nun dem Bundestagsprä- der Ihrer Fraktion mehreren Personen, die zum Ziel hat- sidenten, der Polizei und gegebenenfalls der Staatsan- ten, durch Druck und Einschüchterungen uns Parlamen- waltschaft. tarier an der freien Ausübung unseres Mandats zu Aber auch wir Parlamentarier selbst, meine Damen hindern, als Gäste getarnt den Zutritt zu diesem Hohen und Herren, müssen ein Interesse daran haben, dass hie- Haus verschafft haben. Sie haben wissentlich Störer und raus die notwendigen Konsequenzen gezogen werden, Krawallmacher, die schon vorab auf verschiedenen Ka- um die Sicherheit in diesem Hohen Haus weiterhin zu nälen keinen Hehl daraus gemacht haben, was ihre garantieren. Dazu gehört auch die Frage, wie wir das Absichten und Vorstellungen für unseren demokratischen Reichstagsgebäude, das Symbol unserer freiheitlich-par- Staat sind, hierher eingeladen. Sie wussten, dass von die- lamentarischen Demokratie, und natürlich auch die ande- sen Menschen beträchtliche Störungen und Behinderun- ren Liegenschaften des Bundestages sichern. gen ausgehen würden. Herr Gauland, Ihre Märchenstun- de glaubt Ihnen kein Mensch mehr, spätestens nicht nach Meine Damen und Herren, die AfD hat nichts mit der Rede von Herrn Hilse, der anscheinend aber schon Recht und Ordnung am Hut, sondern mit Unrecht und das Weite gesucht hat. Unordnung. Sie versucht, Tabubrüche zu inszenieren, und spielt in einem kindlichen Verlangen den Bürger- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP schreck. Lassen Sie sich gesagt sein: Wir sind eine wehr- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hafte Demokratie; wir verteidigen sie gegen dümmliche Diese Störungen haben Sie nicht nur in Kauf genommen, Aktionen; wir Parlamentarier lassen uns nicht einschüch- Sie haben sie mit Ihrem Verhalten aktiv herbeigeführt. tern, Sie tragen die Verantwortung! (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- (B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ordneten der FDP und der LINKEN) (D) SPD) auch dann nicht, wenn sich die Gaulands und Weidels Damit aber nicht genug, meine sehr verehrten Damen und Storchs dieser Welt höchstpersönlich auf den Kopf und Herren. Denn wirft man einen Blick auf die Regula- stellen. rien dieses Hauses, dann erfährt man, dass sich diese Dabei wäre es fast fatal, wenn solche offenkundigen Gäste nicht ohne Begleitung durch Büromitarbeiter oder Demokratiefeinde es mit derartigen Aktionen schaffen durch die Abgeordneten selbst im Gebäude hätten bewe- würden, dass wir unsere Bürgernähe künftig einschrän- gen dürfen. ken müssen. (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Dazu fallen mir zwei Erklärungen ein: Entweder liegt GRÜNEN]: Genau!) durch die einladenden AfD-Fraktionsmitglieder eine wis- Jährlich kommen Tausende Besucher auf die Reichstags- sentliche Verletzung der Sicherheitsvorschriften vor, oder kuppel, Sie waren – und das würde dem Ganzen noch die Krone aufsetzen – selbst dabei, als Kollegen von Ihren Gästen ( [FDP]: 2 Millionen!) gefilmt, angepöbelt oder bedrängt wurden. dürfen sich während des laufenden Parlamentsbetriebs die Liegenschaften des Bundestages anschauen, unsere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Demokratie hautnah erleben. Dieses schützenswerte Gut SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gilt es unbedingt zu erhalten. NEN) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Das alles, meine Damen und Herren, ist Gegenstand der der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE andauernden Auswertung durch die Polizei und Bundes- GRÜNEN) tagsverwaltung. Sie geben vor, für Freiheit und Grundrechte einzutre- Diese Vorfälle sind aber auch strafrechtlich zu prüfen. ten, in Wirklichkeit treten Sie unsere Demokratie mit Neben dem Straftatbestand der Beleidigung steht mögli- Füßen; das hat sich heute wieder gezeigt. Ich sage ganz cherweise auch die Nötigung von Mitgliedern eines Ver- deutlich: Wehret den Anfängen! Die Vorgänge von Mitt- fassungsorgans im Raum. Die drei AfD-Abgeordneten, woch dieser Woche müssen vollständig aufgeklärt und die den Randalierern den Zutritt verschafft haben, werden die Konsequenzen daraus gezogen werden. sich gegebenenfalls der Beihilfe schuldig gemacht haben. Sie brechen hier Recht, lenken dann ab und schwafeln Vielen Dank. 24382 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Nina Warken (A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- (C) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie les: bei Abgeordneten der LINKEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- nen und Kollegen! Die Coronapandemie ist die größte Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herausforderung unserer Generation, und sie ist in aller- erster Linie eine Gesundheitskrise. Ich wende mich des- Die Aktuelle Stunde ist beendet. halb an dieser Stelle auch im Namen der Bundesregie- (Stephan Brandner [AfD]: Schade!) rung noch mal an alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c auf: Wir haben Maßnahmen ergriffen im Kampf gegen die a) – Zweite und dritte Beratung des von der Coronapandemie. Wir haben unser Gesundheitssystem Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ertüchtigt. Aber alle Maßnahmen des Staates werden eines Gesetzes zur Beschäftigungssiche- nicht ausreichen, wenn in dieser Zeit – das sage ich rung infolge der COVID-19-Pandemie auch angesichts der steigenden Infektionszahlen vom (Beschäftigungssicherungsgesetz – heutigen Tag – nicht alle Bürgerinnen und Bürger ihr BeschSiG) Möglichstes tun, um mitzuhelfen, die Gesundheit ihrer Drucksachen 19/23480, 19/24219 Mitmenschen und ihre eigene Gesundheit zu schützen. Dazu gehört es, sich an die bekannten Regeln zu halten, Beschlussempfehlung und Bericht des aber auch, wo immer es verantwortbar und möglich ist, Ausschusses für Arbeit und Soziales soziale Kontakte zu unterbrechen. Wir müssen und wir (11. Ausschuss) werden, meine Damen und Herren, alles tun, was staat- Drucksache 19/24481 lich möglich ist, um dieses Land in schwierigen Zeiten durch diese Gesundheitskrise zu führen. – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Ich weiß aber gleichzeitig – das sage ich auch an die Adresse der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes –, Drucksache 19/24488 dass sich viele Menschen angesichts der Tatsache, dass die Coronakrise nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern b) Beratung der Beschlussempfehlung und des in der Folge auch eine Weltwirtschaftskrise ist, in wirt- Berichts des Ausschusses für Arbeit und So- schaftlicher und sozialer Hinsicht Sorgen machen. Ich ziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der will Ihnen deshalb versichern, dass die Bundesregierung, Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwi- dass auch dieser Deutsche Bundestag alles, was möglich ckau), Susanne Ferschl, Matthias W. (B) ist, tut, um den Menschen neben den Ängsten, die sie um (D) Birkwald, weiterer Abgeordneter und der ihre Gesundheit und um die ihrer Angehörigen haben, Fraktion DIE LINKE ihre Sorgen um die wirtschaftlichen und sozialen Nöte Neben der Sonderregelung für Kurzarbeit von den Schultern zu nehmen. Das, was wir machen, auch Sonderregelung für Arbeitslosen- meine Damen und Herren, ist genau das. geld I verlängern und ein Weiterbildungs- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie geld einführen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Drucksachen 19/23169, 19/24481 GRÜNEN) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Unsere soziale Marktwirtschaft und unser Sozialstaat Berichts des Ausschusses für die Angelegen- mit seinen starken Ressourcen sind wie in keinem ande- heiten der Europäischen Union (21. Aus- ren Land der Welt ein starker Schutzschild für die Men- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten schen, und darauf ist in der Krise Verlass und, meine Martin Sichert, René Springer, Jürgen Pohl, Damen und Herren, auch darüber hinaus. Ich war kürz- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der lich zu Gast – digital – auf einer Konferenz einer ameri- AfD kanischen Universität. In den USA macht inzwischen ein deutscher Begriff Karriere. Wie früher der schöne Begriff Finanzierung des Kurzarbeitergeldes „Kindergarten“ ein Lehnwort im Amerikanischen gewor- durch Kürzung des deutschen Anteils am den ist, ist „the Kurzarbeitergeld“ inzwischen auch im EU-Haushalt amerikanischen Diskurs angekommen. Drucksachen 19/23724, 19/24480 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) beschlossen. Es ist zugegebenermaßen ein sperriges Wort, aber ein Wenn Sie bitte die Plätze wieder einnehmen oder, wirksames Konzept. soweit Sie an der Debatte nicht teilnehmen wollen, den Meine Damen und Herren, mit den Instrumenten und Plenarsaal verlassen. Mitteln der Kurzarbeit ist es im Verlauf der Krise gelun- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem gen, die Folgen dieser tiefsten Wirtschaftskrise unserer Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil. Generation am Arbeitsmarkt unter Kontrolle zu bringen. Die Arbeitslosenquote, ja, liegt auch in Deutschland bei (Beifall bei der SPD) 6 Prozent. Sie ist damit im Vergleich zum Vorjahr um Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24383

Bundesminister Hubertus Heil (A) 1,2 Prozentpunkte gestiegen. Aber wir wissen, dass wir, nigt, wo immer es möglich ist, Kurzarbeit mit Qualifi- (C) wie wenige Staaten auf der Welt auch, mit den Instrumen- zierung zu verbinden, setzen wir Anreize. Wir haben ten der Kurzarbeit vor allen Dingen eines getan haben, mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz weitere Instrumente nämlich Arbeitsplätze in der Krise zu sichern. geschaffen, um vor allen Dingen kleinen und mittelstän- Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich: Die Kurzarbeit dischen Unternehmen, aber auch großen zu helfen, dafür ist im Moment unsere stabilste Brücke über ein tiefes zu sorgen, dass die Beschäftigten von heute die Chance wirtschaftliches Tal. Während der ersten Welle im April haben, die Arbeit von morgen zu machen. waren circa 6 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Was ich nicht erleben will, ist, dass nach der Krise, nehmer in Deutschland in Kurzarbeit. Das entspricht sage nach Massenentlassungen, dann über Fachkräftemangel und schreibe 18 Prozent der sozialversicherungspflichti- gejammert wird. Deshalb ist es notwendig, jetzt auszu- gen Beschäftigten in Deutschland. Nach aktuellen Zah- bilden, trotz und gerade in dieser Krise. Aber es ist auch len – die letzten abgerechneten sind aus dem August – notwendig, wo immer es geht, weiterzubilden, damit wir waren immerhin noch 2,6 Millionen Menschen in Kurz- die Fachkräfte von morgen auch zur Verfügung haben. arbeit. Aber wir haben in den letzten Tagen zu registrie- Wir haben doch in den 20er-Jahren einen großen demo- ren, dass die Anzeigen in dieser Herbst- und Winterzeit in grafischen Wandel am Arbeitsmarkt, wir haben den digi- der Pandemie wieder steigen. talen Wandel und wir haben den ökologischen Wandel Ich bin deshalb froh und dankbar, dass wir heute mit unserer Industriegesellschaft vor der Brust – all das in der Verabschiedung des Beschäftigungssicherungsgeset- kürzerer Zeit. Deshalb ist es richtig, jetzt Kurzarbeit mit zes weitere pandemiebedingte Sonderregelungen zum Weiterbildung zu verbinden. Kurzarbeitergeld bis Ende des Jahres 2021 rechtzeitig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verlängern und weitere Anreize für Qualifizierung wäh- der CDU/CSU) rend der Kurzarbeit schaffen. Die Krise ist noch nicht vorbei, und deshalb ist es gut und richtig – meine Bitte Meine Damen und Herren, ich habe mich an die Bevöl- an Sie als Parlamentarier ist, das heute auch zu beschlie- kerung gewandt, an die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- ßen –, dass wir diese wichtige Brücke der Kurzarbeit in nehmer, an die Unternehmen. Ich möchte mich zum das Jahr 2021 verlängern. Schluss auch einmal an die Beschäftigten der Bundes- agentur und der Jobcenter wenden. Das sind Menschen, Ich sage an dieser Stelle auch sehr deutlich: Keine die Unglaubliches leisten, und zwar seit längerer Zeit, Frage, die Kurzarbeit ist sehr, sehr teuer. Wir haben allein und die weiter gefordert sind. Im Namen der Bundesre- in diesem Jahr ungefähr schon 18 Milliarden Euro für das gierung – ich denke, auch im Namen der meisten Kolle- Instrument der Kurzarbeit eingesetzt. Aber die Gewöh- ginnen und Kollegen in diesem Haus – möchte ich mich (B) nung an Massenarbeitslosigkeit wäre finanziell und so- ganz, ganz herzlich bei denen bedanken, die jetzt den (D) zial für dieses Land ungemein teurer. Es ist gut investier- Unternehmen und den Beschäftigten in den Jobcentern tes Geld in diesem Sinne. und bei der Bundesagentur helfen. Das sind Leute, die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie wirklich Großes leisten und die zeigen, dass in diesem der Abg. [DIE LINKE]) Land die Menschen sich in schwierigen Zeiten auf unse- ren Sozialstaat in unserer Demokratie verlassen können. Es hilft auch bei der Stabilisierung der gesamtwirt- schaftlichen Nachfrage. Es ist nicht nur gut für die Ganz herzlichen Dank. Beschäftigten und für die Unternehmen, sondern es ist (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gut für unsere gesamte Volkswirtschaft, dass wir dieses bei Abgeordneten der LINKEN und des Instrument haben. Es ist auch gut für die Unternehmen in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) diesem Land. Denn wir werden diese Krise überwinden. Dann ist es gut, dass die Wirtschaft mit guten Fachkräften auch wieder durchstarten kann. Deshalb geht an dieser Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Stelle mein Appell auch an die Unternehmen in Deutsch- Nächster Redner ist der Kollege Martin Sichert, AfD. land: Nutzen Sie, wenn es notwendig ist, dieses Instru- (Beifall bei der AfD) ment. Es ist besser, Arbeit zu finanzieren als Arbeitslo- sigkeit. Sie werden die Fachkräfte in Ihren Branchen nach der Krise brauchen. Deshalb ist das Gebot der Stunde für Martin Sichert (AfD): die Unternehmerinnen und Unternehmer, für die Unter- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum nehmen in Deutschland, in diesen schwierigen Zeiten sprechen wir heute über Kurzarbeitergeld und Weiter- alles zu tun, um ihrer Verantwortung gegenüber ihren bildungsmaßnahmen? Ganz einfach: weil die Regierun- Beschäftigten gerecht zu werden. Aber es ist auch im gen von Bund und Ländern mit ihrer Politik dafür gesorgt Interesse unternehmerischer Vernunft besser, die Leute haben, dass Millionen Arbeitnehmer in Deutschland mo- jetzt an Bord zu halten, als sie massenhaft zu entlassen. mentan ohne Arbeit sind. Wir helfen Ihnen als Staat; aber nutzen Sie das Instrument (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- auch, meine Damen und Herren. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsch! Das ist ökono- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) misch falsch!) Mein Appell an die Unternehmen in diesem Land ist Friedrich Merz hatte recht, als er sagte, man kann den auch: Da, wo wir erleben, dass die Coronapandemie den Menschen nicht dauerhaft verbieten, zu arbeiten, und Strukturwandel in Wirtschaft und Arbeitswelt beschleu- sie stattdessen durch den Staat finanzieren. Wir verschul- 24384 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Martin Sichert (A) den uns massiv, und wir werden diese Schulden nie aktuellen Lockdown in Schulen, Hotels und Gaststätten (C) zurückzahlen können, weil die Basis unseres Wohlstands zusammen gerade mal 2 Prozent aller Neuinfektionen durch die aktuelle Politik erodiert. statt. Durch den Lockdown liegen Wirtschaftsbereiche wie (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Gastronomie, Hotellerie, Tourismus oder das Veranstal- GRÜNEN]: 75 Prozent kann man gar nicht tungsgewerbe komplett lahm. Heute soll nun die Verlän- nachvollziehen!) gerung des Kurzarbeitergelds bis Ende nächsten Jahres Mehr als das Vierfache, nämlich 8,2 Prozent aller Neu- beschlossen werden. Das ist ein fatales Signal; denn es infektionen, hingegen gab es in Asylbewerberunterkünf- bedeutet, dass Sie davon ausgehen, dass Lockdown und ten. Dass man massivste Maßnahmen bei Schulen, Gast- wirtschaftliche Beschränkungen bis Ende nächsten Jah- stätten und Hotels verhängt, während man keine für res andauern werden. Asylbewerberunterkünfte ergreift, beweist, dass es nicht (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- um die Eindämmung von Infektionen geht. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um Stünde die Gesundheit der Bevölkerung im Vorder- Lockdown! Es geht um die Pandemie! Darum grund, käme man auch nicht auf die Idee, im November geht es!) bei kalten Temperaturen gegen friedliche Demonstranten Wenn das eintritt, bedeutet es die Insolvenz für unzäh- Wasserwerfer einzusetzen, und man würde Schüler auch lige Unternehmen und damit die Arbeitslosigkeit für nicht zwingen, mitten im Winter ständig im Luftzug zu Millionen Mitbürger. Ginge es um die Zukunftsfähigkeit sitzen, wo sie sich alle möglichen Krankheiten holen, Deutschlands, darum, den Menschen Vertrauen zu geben, (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Kommen Sie mal würde man nicht das Signal senden, dass das Kurzarbei- zur Sache, Herr Sichert!) tergeld bis Ende nächsten Jahres benötigt wird. vor allem, weil die Statistiken beweisen, dass es in der (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Altersgruppe von Schülern, Eltern und Lehrern keine NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie wollen Coro- erhöhte Sterblichkeit gibt. In der Altersgruppe von 0 bis na einfach wegzaubern, oder was? – Alexander 59 Jahre werden wohl weit mehr Menschen an Einsam- Ulrich [DIE LINKE]: Waren Sie schon einmal keit, in einer Firma?) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir reden Sie machen das, weil Sie jede Debatte über die massi- über Beschäftigungssicherung!) ven Schäden, die Sie mit dem Lockdown verursachen, vor der Bundestagswahl im nächsten Herbst vermeiden an verschobenen Untersuchungen und Operationen sowie (B) wollen. an Armut durch im Lockdown vernichtete Existenzen (D) sterben. All diese Toten haben Sie mit Ihrer Politik zu (Beifall bei der AfD) verantworten. Parteipolitisch kann ich Ihre Motive nachvollziehen; (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- gesellschaftspolitisch und verantwortungsethisch hinge- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen mehr gen ist es ein Offenbarungseid. Tote! Bei Ihrer Politik gäbe es viel mehr Tote!) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Es geht Ihnen nämlich gar nicht um den Schutz der NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen, dass Bevölkerung, sondern darum, die Menschen in eine Hys- mehr Menschen sterben! Das ist Ihr Ziel! Das terie zu stürzen, mit der Sie Ihre Ideologie leichter durch- ist die Konsequenz! setzen können. Sie wollen Corona nutzen, um Gesell- Weiterbildung ist gut. Menschen mit Kurzarbeitergeld schaft und Wirtschaft zu transformieren und Ihre Macht über eine Krise zu helfen, ist ebenfalls gut. Aber beides zu festigen. Indem Sie immer mehr Geld an die EU geben kann keine Arbeit ersetzen, schon gar nicht dauerhaft; und immer mehr Macht an die EU transferieren, entmach- denn eine dauerhafte Krise zerstört selbst die stärkste ten Sie die deutschen Bürger, die gar keine direkte Kon- Volkswirtschaft. trolle mehr ausüben können. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie sich durch- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn!) setzen würden, wäre die Krise viel größer!) Deswegen haben wir als AfD beantragt, statt der jähr- – Wenn Sie eine Frage haben, Herr Kollege, stellen Sie lichen Erhöhung der Mittel an die EU das Geld lieber sie doch einfach als Zwischenfrage; dann können wir für die Verlängerung der Dauer des Kurzarbeitergeldes gerne darüber diskutieren. einzusetzen. Warum haben wir diese Krise? Wegen der Intensivbet- ( [CDU/CSU]: Haben Sie ten? Wohl tendenziell eher nicht. Denn die Zahl der überhaupt ein Thema?) belegten Intensivbetten war in Deutschland am höchsten In einer solch elementaren Wirtschaftskrise darf man am 17. September, also zu einer Zeit, als Corona kaum nicht weiter Milliarden ausgeben, damit in Italien oder eine Rolle spielte. Wenn es nicht die Intensivbetten sind, Spanien Steuersenkungen ermöglicht werden, sondern ist es dann vielleicht der Bevölkerungsschutz? Schauen das Geld muss eingesetzt werden, um die heimische Wirt- wir uns doch dazu die ergriffenen Maßnahmen und deren schaft zu erhalten. Verhältnismäßigkeit an. Laut dem „Epidemiologischen Bulletin“ des Robert-Koch-Instituts fanden vor dem (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24385

Martin Sichert (A) Das Herz unserer deutschen, ja, das Herz der gesamten (Beifall bei der AfD) (C) europäischen Wirtschaft ist die deutsche Industrie. Aber Was Euro 7 bedeutet – da sind wir genau beim Thema dieses Herz ist schwer krank. Die Krankheit, die es befal- Beschäftigungssicherung –, sieht man jetzt schon. len hat, ist die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und der Europäischen Union. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind immer noch (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- nicht beim Thema!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die deutsche Indust- rie läuft! Die Industrieproduktion draußen So hat BMW vorgestern verkündet, dass man die Moto- läuft!) renproduktion in Deutschland bis 2024 beenden wird und stattdessen die großen Motoren – wo? – in Groß- In Deutschland ist die Industrieproduktion in diesem Jahr britannien baut. Für die Briten lohnt sich der Brexit. Für weit stärker eingebrochen als in allen anderen europä- die Deutschen hingegen ist diese Politik eine absolute ischen Ländern. Es ist für die Zukunft Deutschlands Katastrophe. eine Katastrophe, dass die industrielle Basis durch mas- sive staatliche Eingriffe in der Vergangenheit bereits stark (Beifall bei der AfD – Dr. Wolfgang geschwächt wurde. Dass man sie jetzt noch massiver Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- angreift als je zuvor, anstatt sie endlich zu schützen, ist NEN]: Es geht gar nicht um den Brexit!) verantwortungslos; Wir von der AfD werden diese Politik nicht mitma- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- chen; denn sie widerspricht elementar unserem Auftrag, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das liegt an der Pan- uns als Volksvertreter für Freiheit, Demokratie, Wohl- demie!) stand, Zukunft und ein lebenswertes Leben unserer Mit- bürger denn ohne die industrielle Basis gibt es keinen Wohl- (Lachen der Abg. Beate Müller-Gemmeke stand, und ohne Wohlstand gibt es keine Möglichkeit, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) all jene, die als Rentner und Pensionäre oder Arbeitslose vom Sozialsystem leben, künftig zu finanzieren. einzusetzen. Eine vernünftige Regierung versucht daher, gerade in Vielen Dank. Krisenzeiten das Herz der Wirtschaft, nämlich die Indust- (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Bei rie, zu schützen. Hierzulande passiert momentan aber manchen ist es gut, wenn sie Maske tragen!) genau das Gegenteil. Mit der Euro-7-Norm zerstört die EU die deutsche Automobilproduktion. (B) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (D) (Lachen des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- Peter Weiß, CDU/CSU, hat als nächster Redner das Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wort. Wenn in Europa ab 2025 keine Verbrennungsmotoren (Beifall bei der CDU/CSU) mehr gebaut werden können, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): NIS 90/DIE GRÜNEN]: Thema! Thema ver- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! fehlt!) Liebe Zuhörinnen und Zuhörer! Eine falsche Analyse führt immer auch zu einer falschen Politik. Deshalb betrifft das in Deutschland Millionen Arbeitsplätze. Es kurz einleitend folgende Bemerkung: Nicht die Politik, sind nicht nur die Arbeitsplätze bei VW, Audi, BMW das Virus ist die Ursache für die Krise, in der wir uns oder Daimler, sondern auch die ganzen Jobs bei den befinden. Zulieferern und auch beim Bäcker oder Metzger in Zuffenhausen oder Ingolstadt. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist sogar Ihre Frak- Ja, friedliche Demonstranten braucht es in der leben- tion schon eingeschlafen!) digen Demokratie. Friedliche Demonstranten halten sich aber an die Auflagen, Dass dem Arbeitsminister auf meine Frage vorgestern, ob die Bundesregierung sich gegen diese EU-Norm stel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und len und für den Erhalt der Arbeitsplätze einsetzen wird, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nur einfiel, zum Beispiel Mund-Nasen-Schutz zu tragen oder (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Abstandsregeln einzuhalten. Was wir am Mittwoch erlebt NIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbst Ihre Fraktion haben, war die bewusste Verletzung der Regeln für eine hört nicht mehr zu!) friedliche Demonstration. Das macht uns besorgt. dass man Umwelt und Arbeit nicht gegeneinander aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie spielen dürfe, sondern eine Transformation möchte, sagt bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- leider alles aus; denn es bedeutet nichts anderes, als dass SES 90/DIE GRÜNEN) der Verbrennungsmotor wegkann, und die Millionen Meine sehr geehrten Damen und Herren, nach einem Arbeitsplätze, die daran hängen, auch, Hauptsache, man tiefen Einschnitt in das Wirtschaftsleben durch die Coro- setzt die eigene Ideologie durch. napandemie haben wir im dritten Quartal dieses Jahres 24386 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Peter Weiß (Emmendingen) (A) eine deutliche Erholung auch der Industrieproduktion (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Michael Gros- (C) erlebt, einen deutlichen Rückgang der Zahl der Kurzar- se-Brömer [CDU/CSU]: Wer ist denn unser beiter auf knapp 2 Millionen nach einem Höchststand von Kanzlerkandidat? Der weiß ja mehr als wir!) 6,7 Millionen. Die Quote bei der Inanspruchnahme des Kurzarbeitergeldes liegt gerade noch bei 36 Prozent. Wir – Aber er möchte doch gern Kanzlerkandidat werden, sind auf einem guten Weg. Aber wir merken natürlich oder? Also lassen wir mal weg, ob er es jetzt schon ist auch, dass die steigenden Infektionszahlen und die da- oder nicht. Er möchte es jedenfalls gern werden. Gott durch notwendig gewordenen Maßnahmen diesen guten möge uns davor bewahren. Weg wieder stoppen könnten. Deswegen hat der Bundes- Er sagte: Durch Kurzarbeit gewöhnen sich relativ viele arbeitsminister, wie ich finde, zu Recht in seiner Rede Menschen daran, ein Leben ohne Arbeit zu führen. – Jetzt betont: Unser Appell an alle Bürgerinnen und Bürger haben Sie gerade gesagt: Kurzarbeit ist eigentlich ein muss sein: Bitte gefährdet durch euer eigenes Handeln Instrument, das gerade in der Krise sehr gut wirkt. – nicht den bemerkenswerten Wiederaufschwung, den wir Herr Heil hat gerade darauf hingewiesen, dass es inzwi- in den letzten Monaten erlebt haben, sondern helft bitte schen Amerikaner gibt, die das Wort sogar übernehmen, mit, dass wir gut durch diesen Winter kommen und wir weil sie das für gut halten. Ihr Möchtegernkanzlerkandi- den wirtschaftlichen Erfolg, den wir uns alle gönnen, dat – um es richtig zu formulieren – ist aber der Auf- nicht zerstören. fassung, dass sich die Menschen an Faulheit mehr oder (Beifall bei der CDU/CSU) weniger gewöhnen. Ein schlimmes Zitat! Ich hätte gern von Ihnen gewusst, wie Sie dieses Zitat Ihres Möchte- Unsere Zusage, die wir heute mit dem Beschäftigungs- gernkanzlerkandidaten bewerten. sicherungsgesetz einlösen, ist: Wir lassen die Betriebe, wir lassen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (Beifall bei der LINKEN) nicht allein. Ja, wir sind uns bewusst, auch im komm- enden Jahr wird es in einzelnen Branchen, in einzelnen Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Betrieben noch einmal notwendig sein, Kurzarbeit zu Herr Kollege Ernst, zuerst erbitte ich auch von der nutzen. Deshalb ist es ein Punkt der Verlässlichkeit, Linken Respekt gegenüber einem demokratischen Ent- auch der Solidarität, dass wir heute als Bundestag sagen: scheidungsprozess in einer demokratischen Partei, die Wir halten die Regeln für die Kurzarbeit bis 2021 im erst noch einen Kanzlerkandidaten nominieren muss. bisherigen Maße aufrecht. Wer sie braucht, kann sie nut- Das werden wir auch in einem geordneten und guten Ver- zen. Wer sie nicht nutzen muss, der ist Gott sei Dank gut fahren gemeinsam tun. Übrigens sind wir zwei Parteien, dran. Wir sind verlässlich. Wir sind solidarisch mit den CDU und CSU. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Lachen bei der LINKEN) Wir werden im kommenden Jahr etwas Zusätzliches Das Zweite ist: Mir ist weder von einem Kandidaten machen, nämlich Kurzarbeit stärker mit Fort- und Wei- noch von einem Nichtkandidaten aus der Union eine terbildung verbinden; auch das ist richtig. Äußerung bekannt, mit der das Instrument der Kurzarbeit in Zweifel gezogen wird. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber warum erst Das Dritte ist – mit Ihrer Zwischenfrage kommen Sie in einem halben Jahr?) zum Kern dessen, was wir im Gesetz machen –: Wir Wir haben als Koalitionsfraktionen den ursprünglichen wollen Kurzarbeit produktiver nutzen, nämlich nicht Entwurf der Regierung ein bisschen vom Kopf auf die nur dazu, dass Leute zu Hause bleiben müssen, weil keine Füße gestellt. Wir haben ein eigenes Konzept für die Arbeit da ist, sondern dazu, dass sie diese frei gewordene Weiterbildung in das Gesetz hineingeschrieben, das breit Zeit nutzen, sich selber fort- und weiterzubilden, als angelegt ist, das gleichzeitig aber auch auf Qualität setzt. Gewinn für sich persönlich, aber auch als Gewinn für das ganze Unternehmen. Wir brauchen für die Zukunft qualifiziertere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das ist Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: die Botschaft. Herr Kollege Weiß, der Kollege Ernst würde gerne eine Zwischenfrage stellen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir regeln es sogar so: Wenn eine Weiterbildungsmaß- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): nahme begonnen wird, aber die Kurzarbeit Gott sei Dank Bitte schön. abgesagt werden kann, fördern wir die Weiterbildungs- maßnahme weiter. Auch das ist ein wichtiges Signal, um Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: die Weiterbildungsbereitschaft und die Fortbildungsbe- Herr Kollege Ernst. reitschaft bei unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mern, bei unseren Unternehmen am Leben zu erhalten und zu bestärken. Wir wollen damit dafür sorgen, dass Klaus Ernst (DIE LINKE): wir am Schluss als deutsche Volkswirtschaft stärker aus Vielen Dank, Herr Präsident und Herr Weiß, dass Sie der Krise herauskommen, als wir hineingegangen sind. die Frage zulassen. – Ich habe eine Aussage von Ihrem Das ist unser Ziel. Kanzlerkandidaten zur Kurzarbeit gelesen, und ich hätte gern von Ihnen gewusst, was Sie denn davon halten. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24387

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Wir regeln übrigens mit, dass man weiterhin neben und Wladimir Putin behauptet haben: Die Solidarität in (C) Kurzarbeit einen 450-Euro-Job haben kann. Wir regeln der EU sei doch nur ein schönes Märchen. Dass Sie allen zusätzlich, dass, wenn jemand eine Beschäftigungssiche- Ernstes hier in der Krise beantragen, dass man Nationa- rungsvereinbarung eingegangen ist und die betroffenen lismus so auslebt, dass man die Menschen in Europa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter später doch arbeitslos gegeneinander ausspielt, indem Sie jetzt allen Ernstes werden sollten, das Arbeitslosengeld auf der Grundlage die Zuschüsse zur EU reduzieren wollen, das lässt tief des alten Gehalts berechnet werden wird. Das ist ein ganz blicken. Gott sei Dank macht die EU das ganz anders, großer finanzieller Vorteil. und Gott sei Dank haben Sie in diesem Land nichts zu Wir machen für die Unternehmen im kommenden Jahr melden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. etwas Wichtiges, indem wir sagen: Die Insolvenzgeldum- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, lage muss nicht auf 0,15 Prozent ansteigen, sondern nur der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE auf 0,12 Prozent; das können wir verantwortungsbewusst GRÜNEN) machen, weil wir genug Rücklagen haben. Auch da set- zen wir ein Zeichen: Überall da, wo wir die deutsche Aber zur Regierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wirtschaft in der Krise ein Stück weit entlasten können, ich finde auch, Kurzarbeitergeld ist ein erfolgreiches Kri- entlasten wir sie. seninstrument, und es ist stark, wie es international aner- kannt wird. Ich glaube deshalb, es ist richtig, dass wir hier Wir nehmen zudem von der Elterngeldberechnung die im parteiübergreifenden Konsens am Anfang der Krise Monate aus, in denen KUG bezogen wurde, und verlän- Kurzarbeitergeld in den Krisenregelungen möglich gern die Sonderregelungen zum Elterngeld bis zum gemacht haben. Wir haben es damit geschafft, gemein- 31. Dezember des kommenden Jahres. sam einen gewaltigen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Gesetz, verhindern. über das wir nachher abzustimmen haben, ist ein Gesetz, mit dem wir Solidarität üben, mit dem wir für Verläss- Gleichzeitig sind über eine halbe Million Menschen lichkeit sorgen. Wir wissen, dass wir dieses Gesetz nur mehr arbeitslos als vor einem Jahr. Das zeigt, dass Be- mit einem großen Arbeitsaufwand und -einsatz der Bun- schäftigungssicherung wichtig ist; aber Beschäftigungs- desagentur für Arbeit umsetzen können. sicherung ist in Wahrheit nur die halbe Miete, weil wir gleichzeitig auch Einstellungsdynamik brauchen, weil In der Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales wir gleichzeitig auch wirtschaftliches Wachstum brau- am Mittwoch dieser Woche haben wir dem Vorstandsvor- chen. Deshalb ist Kurzarbeitergeld gut, aber Sie müssten sitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Herrn Scheele, mehr für die Rahmenbedingungen tun, sodass auch neue aufgetragen, in unser aller Namen den Mitarbeiterinnen Jobs geschaffen werden: Entlastung bei Investitionen, (B) und Mitarbeitern der BA ein herzliches Dankeschön für Entlastung der Unternehmen, (D) den großartigen Einsatz zu sagen, den sie in dieser Zeit erbringen. Ich will das hier in der Öffentlichkeit des Ple- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Lohnneben- nums wiederholen: Ja, die Bundesagentur für Arbeit kosten runter!) bedarf auch in dieser Zeit unserer Unterstützung und Solidarität. Sie machen einen hervorragenden Job! zum Beispiel durch eine großzügigere Steuerrückerstat- tung bei den Verlusten dieses Jahres. Das wären Maß- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nahmen, mit denen wir auch dafür sorgen würden, dass bei Abgeordneten der AfD, der FDP, der LIN- neue Jobs entstehen. KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) (Beifall bei der FDP) Es geht mit dem Gesetz heute darum, zu zeigen: Wir Da sind Sie wirtschaftspolitisch leider ziemlich einfalls- sorgen für Verlässlichkeit. Wir sorgen für Planungssi- los. cherheit. Die Unternehmen in Deutschland, die Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer können auf uns, den Gleichzeitig verlängern Sie das Kurzarbeitergeld Deutschen Bundestag, zählen. anders als in der letzten Krise nicht schrittweise, sondern jetzt direkt bis nach der Bundestagswahl. Deshalb werden Vielen Dank. wir uns bei diesem Gesetz auch nur enthalten, liebe Kol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. leginnen und Kollegen. Bernd Rützel [SPD]) (Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Langfristiges Wachstum entsteht aber durch Innova- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Johannes tion. Was sind Treiber von Innovation? Kreativer Input Vogel, FDP. von innen, durch Aufstieg, kreativer Input von außen, durch Einwanderung, und natürlich Unternehmertum (Beifall bei der FDP) und Gründermut. Deshalb will ich noch etwas dazu sagen, wie Sie in dieser Krise mit den Menschen umge- Johannes Vogel (Olpe) (FDP): hen, die unternehmerisches Denken jeden Tag beweisen: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den Selbstständigen in diesem Land. Liebe Kolleginnen Zunächst ein Wort zu Herrn Sichert von der AfD: Am und Kollegen, da finde ich, dass das Nichthandeln dieser Anfang dieser Krise war einer der gefährlichsten frei- Koalition und das Handeln dieser Koalition in den letzten heitsfeindlichen Mythen, was Menschen wie Xi Jinping Tagen wirklich skandalös sind. 24388 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Johannes Vogel (Olpe) (A) Diese Woche ist internationale Gründerwoche, liebe Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) Kolleginnen und Kollegen. Und was tun Sie ausgerechnet Herr Kollege Vogel. in dieser Gründerwoche? Sie verlängern die Sonderrege- lung für Angestellte bis nach der nächsten Bundestags- wahl, und gleichzeitig drücken Sie den Selbstständigen Johannes Vogel (Olpe) (FDP): ohne Angestellte in diesem Land im größten Sturm jetzt Ich komme zum letzten Satz; ich komme zum ein kleines Cocktailschirmchen in die Hand, nachdem Sie Schluss. – Wir brauchen gerade auch nach dieser Krise sie ein halbes Jahr im Regen stehen gelassen haben. Das die Innovativität und Schaffenskraft der Selbstständigen, ist skandalös, liebe Kolleginnen und Kollegen von der der Künstler, der Coaches und der vielen Freiberufler in Koalition, und das reicht einfach nicht. diesem Land. Dafür tun Sie zu wenig, und das geht so nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Machen wir es mal konkret. Wir müssen uns das Pro- blem des sogenannten Unternehmerlohns kurz vor Augen führen. Es ist ja lange bekannt, dass in einer Wissensge- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: sellschaft auch Lebenshaltungskosten abgedeckt werden Sabine Zimmermann, Die Linke, erhält jetzt das Wort. müssen. Seit März haben wir hier im Deutschen Bundes- (Beifall bei der LINKEN) tag darauf hingewiesen – ich ganz persönlich, aber auch Kolleginnen und Kollegen von anderen Oppositionsfrak- tionen. Es kamen parteiübergreifende Bittbriefe aus den Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Bundesländern, permanente Nachfragen hier im Deut- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- schen Bundestag. ren! Herr Minister Heil, Sie haben gesagt, dass Kurzar- beit teuer ist. Ja, das ist richtig. Aber hätten Sie nicht den Und was haben Sie getan? Für die Beschäftigten gab es Beitrag zur Arbeitslosenversicherung in den letzten Jah- erhöhtes Kurzarbeitergeld, und die Selbstständigen haben ren so stark abgesenkt, hätten wir mehr Geld in der Kasse Sie als Erwerbstätige zweiter Klasse behandelt. Liebe gehabt, und das haben Sie versäumt. Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das ist skandalös, und das geht so nicht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Das Beschäftigungssicherungsgesetz ist überarbeitet Letzte Woche haben Sie endlich einen Vorschlag prä- worden. Der Entwurf liegt nun auf dem Tisch, und die sentiert. Den muss man sich aber mal genauer anschauen: Verbesserungen erkennen wir als Fraktion Die Linke an. (B) Sie haben eine Neustarthilfe aus dem Hut gezaubert wie Es gibt aber drei gravierende Leerstellen: (D) ein Kaninchen. Kaninchen sind oft mager; Ihr Kaninchen Erstens. Arbeitsplätze, die über das Kurzarbeitergeld ist aber halbverhungert; denn das Geld, das Sie jetzt den gefördert werden, müssen erhalten werden; das ist Sinn Selbstständigen angedeihen lassen wollen, ist geringer und Zweck von Kurzarbeit. Aber Kurzarbeit darf nicht als die Grundsicherung. zum Selbstbedienungsladen für Unternehmen werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist zusätzlich!) Deshalb fordert Die Linke: Wer Beschäftigte während oder direkt nach der Kurzarbeit entlässt, muss die erstat- Ihre Antwort lautet, wenn man Ihnen das vorwirft: Ja, die teten Sozialversicherungsbeiträge zurückzahlen. Grundsicherung kommt ja noch obendrauf. – Die Grund- sicherung können die meisten Selbstständigen gar nicht (Beifall bei der LINKEN) nutzen, wegen der Altersvorsorge, weil sie vielleicht in Zweitens. Sie wollen die Weiterbildung fördern, unter- einer Partnerschaft leben. Liebe Kolleginnen und Kolle- stützen aber nur die Arbeitgeber. Wir fordern ein Weiter- gen, das ist zu wenig für die Selbstständigen in diesem bildungsgeld in Höhe von 90 Prozent des letzten Nettos Land, die Innovationstreiber in unserem Land sind. für die Beschäftigten. (Beifall bei der FDP – Peter Weiß [Emmen- dingen] [CDU/CSU]: 8 000 Euro im Monat!) (Beifall bei der LINKEN) Kommen Sie mir nicht damit, dass die nicht einge- Weiterbildung muss sich auch für die Beschäftigten loh- zahlt haben. Erstens haben sie Steuern gezahlt. Zweitens nen; denn Bildung ist das A und O, um auf dem Arbeits- leben wir ja in einer Ausnahmesituation, in der die Poli- markt existieren zu können, meine Damen und Herren. tik – zwar aus guten gesundheitspolitischen Gründen, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. aber dennoch ist es so – Menschen das Geschäft verbietet. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Dann muss sie auch für Entschädigung sorgen, liebe Kol- NIS 90/DIE GRÜNEN]) leginnen und Kollegen, und da tun Sie für die Selbst- ständigen in diesem Land zu wenig. Das muss sich end- Drittens. Wir sind gerade mitten in der zweiten Welle lich ändern. der Pandemie. Sie verlängern die Sonderregelungen bei der Kurzarbeit; das ist richtig. Aber warum verlängern (Beifall bei der FDP) Sie dann nicht ebenfalls die Sonderregelung beim Sie trampeln damit auf dem zarten Pflänzchen von Arbeitslosengeld, wie es unter anderem auch der DGB Selbstständigkeit und Unternehmertum in diesem Land empfiehlt? Stocken Sie den Anspruch auf das Arbeits- herum. Wir brauchen nicht nur in der Krise, sondern losengeld auch 2021 um drei Monate auf, meine Damen wir brauchen gerade auch nach dieser Krise Innovativität. und Herren! Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24389

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Ohne die Einschränkungen, die wir jetzt haben, wäre (C) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- die ökonomische Krise viel größer. Sie sind nicht die NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ursache der Krise, wie die AfD immer behauptet, son- dern sie sind auch deshalb notwendig, um die ökonomi- Helfen Sie auch den Menschen, die gerade jetzt in dieser sche Krise zu begrenzen. Gucken Sie nach Schweden! schwierigen Zeit erwerbslos werden! Das wäre eine rich- Gucken Sie in die USA! Da sehen Sie, was passiert, tige Entscheidung. wenn nicht so stark gegen Corona gekämpft wird. Das Und weil wir heute über Beschäftigungssicherung re- macht die ganze Krise viel schlimmer. Auch deswegen den: Es gibt Unternehmen, deren Geschäft auch in der brauchen wir diese Einschränkungen. Pandemie gut läuft. Dazu gehört Haribo. Das Haribo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Werk in meinem Wahlkreis, in Wilkau-Haßlau bei Zwi- Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ckau, soll zum Jahresende geschlossen werden; dabei ist Das musste mal gesagt werden! Richtig!) es rentabel. Es ist das einzige Haribo-Werk im Osten. Wir sind in einer ganz labilen ökonomischen Phase. Die Sauerei, meine Damen und Herren – und ich spre- Wir wissen nicht, wie es mit der Pandemie weitergeht. che das hier auch ganz deutlich an –, ist, dass Millionen Es gibt ein paar Hoffnungsschimmer. Aber wenn man an Gewinnen in die Haribo-Zentrale abgeführt, aber nicht sich die Zahlen bei uns anguckt – heute gibt es einen ins Werk investiert wurden. Jetzt sagt die Geschäftsfüh- neuen Rekordwert bei den Infektionszahlen –, stellt rung, das Werk sei für künftige Anforderungen nicht man fest: Wir haben die Lage noch nicht im Griff. Es modern genug. So, meine Damen und Herren, wickelt ist unsicher, wie es in den nächsten Monaten weitergeht; man den Osten ab, und das lassen wir nicht zu. es ist auch weltwirtschaftlich noch nicht klar. Deswegen (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. ist es sehr richtig, dass die Kurzarbeiterregelungen ver- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- längert werden, sowohl was die Möglichkeit zur Kurzar- NEN] – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: beit als auch den leichteren Einstieg in die Kurzarbeit Was für ein Unsinn! Haribo baut ein riesiges angeht. Das ist ein ganz wichtiges Mittel in dieser Krise. neues Werk in Grafschaft!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Kolleginnen und Kollegen bei Haribo haben hier sowie bei Abgeordneten der SPD) jahrelang für niedrige Löhne geschuftet und Gewinne Ich sage es vorweg: Wir werden dem Gesetz nicht zu- erwirtschaftet. Als Dank werden sie jetzt zum Jahresende stimmen. Denn in diesem Gesetz geht es gar nicht darum, einfach vor die Tür gesetzt, direkt vor Weihnachten, in die Möglichkeit zur Kurzarbeit und den leichteren Zu- dieser Arbeitsmarktlage. Das ist nicht hinnehmbar, meine (B) gang zu Kurzarbeit zu verlängern. Das ist nämlich bereits (D) Damen und Herren. durch Verordnungen passiert; das ist richtig und gut so. In dem Gesetz geht es um viele Detailregelungen. Einige, (Beifall bei der LINKEN) die eben schon erwähnt worden sind und die insbesonde- In ganzen drei Minuten wurde die Belegschaft vor re auch durch die Ausschussberatungen dazugekommen zwei Wochen über die Schließung, über den Verlust ihrer sind, teilen wir; aber an den wichtigen Kernpunkten Arbeitsplätze informiert. Es geht um 150 Arbeitsplätze. haben wir Kritik. Herr Minister Heil, ich fordere Sie auf, sich persönlich für Erstens geht es darum, dass das Kurzarbeitergeld ange- den Erhalt des einzigen Haribo-Werkes im Osten einzu- hoben wird, und zwar je nachdem, wie lange die Leute in setzen, auch für die Beschäftigten und für die Familien. Kurzarbeit sind. Das geht an den Bedürfnissen der Be- Danke schön. troffenen vollkommen vorbei. Das zeigte auch die in der Anhörung angeführte Untersuchung des IAB, wonach die (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Befragten gesagt haben: Wir brauchen die Leistungen Wolfgang Wetzel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- jetzt, und es wäre günstig, wenn Menschen mit geringem NEN]) Einkommen eine höhere Leistung bekommen würden. – Genau das haben wir Grünen vorgeschlagen: ein Kurz- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: arbeitergeld Plus, bei dem die Lohnersatzrate für geringe Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Einkommen höher ist als für die anderen. Das wäre der Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen. bessere Weg gewesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweiter Punkt. Sie verlängern die Regelung zu den Hinzuverdienstmöglichkeiten. Aber Sie verschlechtern Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ sie; denn Sie begrenzen sie auf geringfügige Beschäfti- DIE GRÜNEN): gung. Das ist völlig unzureichend. Sie hätten die alte Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Regelung einfach nur verlängern müssen. Die Möglich- derzeitigen Beschränkungen, vor allen Dingen die Be- keit des Hinzuverdienstes nur auf geringfügige Beschäf- schränkungen der sozialen Kontakte, sind für uns alle tigung zu beschränken, ist wieder einmal eine Förderung schwierig; aber sie sind notwendig. Sie sind notwendig von geringfügiger Beschäftigung, und das finden wir aus gesundheitlichen Gründen, zum Schutz, damit die falsch. Pandemie nicht weiter vorangeht. Aber sie sind auch aus ökonomischen Gründen wichtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24390 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) Drittens. Anreize für Weiterbildung sind richtig. Auch Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen mehr (C) das, was im Gesetzentwurf steht, ist im Grundsatz richtig. machen, um Arbeitslosigkeit zu beenden. Aber es ist Auch die Änderungen, die in den Ausschussberatungen auch klar: In diesen Zeiten ist es für Arbeitslose beson- vorgenommen worden sind, sind richtig. Aber das soll ders schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden, und es erst ab Mitte nächsten Jahres gelten. Warum das? Wir dauert länger. Deswegen ist es für mich völlig unver- brauchen das jetzt. Wir brauchen jetzt eine Weiter- ständlich, dass Sie die Sonderregelung beim Arbeitslo- bildungsoffensive, die mit der Kurzarbeit verknüpft wird. sengeld I nicht auch verlängert haben. Es ist wichtig, dass Sie auch diese Sonderregelung verlängern. Bitte lie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fern Sie da noch nach! Mit einem Weiterbildungsbonus auf Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II würden Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jetzt Anreize für Weiterbildung schaffen. Wir brauchen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) jetzt eine Weiterbildungsoffensive, und das nicht nur für die Menschen in Kurzarbeit, sondern auch für die Schließlich müssen wir auch an diejenigen denken, die Arbeitslosen. Dazu gehört finanzielle Unterstützung wie nicht vom Kurzarbeitergeld profitieren, aber in einer ähn- das von uns geforderte Weiterbildungsgeld, das für viele lichen Situation sind: die vielen Selbstständigen, freibe- eine Weiterbildung erst möglich macht. Dazu gehört aber ruflich Tätigen und Künstlerinnen und Künstler, denen gerade jetzt auch ein Ausbau der digitalen Infrastruktur: das Einkommen ebenfalls weggebrochen ist. Sorgen Sie bei den Arbeitsagenturen, bei den Jobcentern, aber auch endlich dafür, dass sie ebenfalls eine einfache, unbüro- bei den Trägerinnen und Trägern, damit Beratung, Ver- kratische Leistung bekommen, die ihren Lebensunterhalt mittlung und Weiterbildung auch in diesen Coronazeiten sichert! besser möglich werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Strengmann-Kuhn, der Kollege Sichert Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Sichert, AfD. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ (B) DIE GRÜNEN): (D) Nein, danke. – Menschen in Beschäftigung zu halten, Martin Sichert (AfD): ist wichtig. Deswegen ist die Kurzarbeit ein gutes Mittel. Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Im Ausschuss hat uns – das ist eben schon erwähnt wor- Strengmann-Kuhn, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört, den – der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Scheele, gerade am Anfang. Ich wüsste gerne von Ihnen, warum gesagt: Die Kurzarbeit wirkt. Damit werden die Men- Sie Fake News verbreiten, indem Sie behaupten, dass die schen in Beschäftigung gehalten. – Er hat aber auch ge- schwedische Wirtschaft genauso hart oder gar härter als sagt: Der Anstieg der Arbeitslosigkeit entsteht vor allen die deutsche von der aktuellen Krise getroffen worden Dingen dadurch, dass Menschen nicht in Beschäftigung wäre. Denn das Gegenteil ist der Fall: Der schwedischen kommen. – Deswegen müssen wir auch das unbedingt in Konjunktur geht es besser als der deutschen. Der Wirt- den Blick nehmen. Arbeitslosigkeit, die jetzt entsteht, schaftseinbruch in Schweden – natürlich gibt es auch dort darf sich nicht verfestigen. Wir müssen ernsthaft darüber einen, weil viele Absatzmärkte momentan problematisch nachdenken, wie wir Einstellungen stärker fördern kön- sind – ist deutlich geringer als in Deutschland. nen, ohne dabei Mitnahmeeffekte zu verursachen. Es ist eben nicht die Coronaproblematik, sondern es ist Auch Existenzgründungen können in diesen Zeiten ein die Problematik des Lockdowns, die die Wirtschaft so Weg aus der Arbeitslosigkeit sein. Mit dem Gründungs- viel kostet. zuschuss gibt es ein Mittel, das im Grundsatz sehr erfolg- reich ist. Wir finden es wichtig, diesen Gründungszu- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: schuss wieder stärker einzusetzen. Wir brauchen doch Aktuelle Zahlen!) Ideen für die Zukunft. Diese sollten wir stärker fördern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Warum erkennen Sie das nicht an und verbreiten hier Fake News, indem Sie sagen, die schwedische Wirtschaft Wir müssen aber vor allem noch mehr für die jungen sei genauso stark oder stärker eingebrochen wie die deut- Menschen machen, die einen Ausbildungsplatz oder nach sche? einer Ausbildung erstmals einen Arbeitsplatz suchen. Wir müssen verhindern, dass es durch die Coronakrise eine (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verlorene Generation gibt. Da braucht es noch mehr An- NEN]: Statistik ist nicht Ihre Stärke!) strengungen der Bundesregierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: sowie der Abg. Jessica Tatti [DIE LINKE]) Zur Erwiderung der Kollege Strengmann-Kuhn. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24391

(A) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Am 13. März haben wir hier in einer ganz schnellen (C) DIE GRÜNEN): Aktion das Krisen-KUG scharfgestellt. Zwei Monate Herr Kollege, erstens. Was die ökonomischen Zahlen später, am 14. Mai, haben wir mit dem Sozialschutz- angeht, stimmt das nicht. Zweitens. Gucken Sie sich mal Paket II auch noch einmal die Höhe verändert; denn wir die Zahl der Toten in Schweden an! Schauen Sie sich die wissen: Die Luft wird dünn, wenn man lange in Kurzar- Sterblichkeit an! Gemessen an der Bevölkerung ist die beit bleibt. Deswegen gibt es höheres Kurzarbeitergeld. Zahl der Toten, Schon damals im Mai habe ich an diesem Pult gesagt: (Martin Sichert [AfD]: Sie haben von der Wenn das nicht reicht, dann machen wir ein Sozialschutz- Wirtschaft gesprochen!) Paket III oder IV. – Unsere Politik ist doch immer darauf ausgerichtet, vorauszuschauen und zu reagieren. Das ist die durch Corona gestorben sind, fünfmal so hoch wie in doch das Entscheidende in dieser Pandemie. Es gibt kein Deutschland. Fünfmal so hoch! Das wäre die Konse- Lehrbuch dafür. Heute machen wir genau das. Heute quenz Ihrer Politik, wenn Sie sich durchsetzen würden. geben wir die Zusage, dass das Kurzarbeitergeld bis Das gilt es zu verhindern. Ende nächsten Jahres gilt, auch was die Erhöhung angeht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Warum ist das so wichtig? Es ist wichtig, dass die sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Beschäftigten, aber auch die Unternehmen Planungssi- der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Die gehen cherheit haben. Wenn sie es nicht brauchen, umso besser. über Leichen!) Ich habe auch bei mir im Wahlkreis welche, die einstel- len, die ohne Ende brummen, die expandieren, weil sie Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Gewinner sind. Aber andere, ohne dass sie etwas dafür Nächster Redner ist der Kollege Bernd Rützel, SPD. können, haben noch eine Durststrecke zu durchwandern. Deswegen ist es wichtig, dass die sich darauf verlassen (Beifall bei der SPD) können. Wirtschaft ist immer auch Psychologie: Einfach zu Bernd Rützel (SPD): wissen: „Ich habe das, wenn ich es brauche“, ist besser, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- als zu wissen – was die FDP fordert –, dass nach zwei be Kollegen! Kurzarbeit ist ein ganz wichtiger Schutz oder drei Monaten Schluss ist. Dann stellt sich wieder die gegen Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenversicherung Frage: Gibt es noch einmal was oder nicht? Und nächstes gibt es so, wie es sie bei uns gibt, in den allermeisten Jahr haben wir Bundestagswahl, wo hier monatelang, von Ländern dieser Welt nicht. Deswegen schauen die zu Juli bis September, kein Betrieb stattfindet. Wie es dann (B) uns und fragen: Wie macht ihr das? – Hubertus Heil, weitergeht, wissen wir nicht. Deswegen schaffen wir heu- (D) unserer Arbeitsminister, sagte ja, dass sie dafür auch kei- te Sicherheit. nen Begriff haben; „the Kurzarbeitergeld“ etabliert sich (Beifall bei der SPD) weltweit. Die schauen auf uns, wie wir das meistern. Ich will mich ganz herzlich bei Arbeitsminister Die Kurzarbeit überbrückt schwierige Phasen, in die Hubertus Heil, beim ganzen Arbeitsministerium und bei Unternehmen gekommen sind, mit dem Instrument des allen, die in der Koalition mitgemacht haben, unter ande- Kurzarbeitergeldes: Die Menschen können an Bord blei- rem Peter Weiß, bedanken. Wir haben hier was Gutes auf ben, und die Wirtschaft ist nachher weiterhin erfolgreich, den Weg gebracht und viel mehr gemacht als nur dieses liebe Kolleginnen und Kollegen. Kurzarbeitergeld. Darauf geht mein Kollege Martin (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Rosemann ein. Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]) Ich bedanke mich. Zu dem, was mein Vorredner der AfD behauptet – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ( [AfD]: Sichert heißt er!) der CDU/CSU) man muss nur den technischen Fortschritt aufhalten, dann Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wird alles gut –, will ich sagen: Ich war über 30 Jahre Eisenbahner. Den Regelbetrieb der letzten Dampflo- Nächste Rednerin ist, sobald das Pult bereit ist, die komotiven haben wir 1977 eingestellt. Was hätte es Kollegin Antje Lezius, CDU/CSU. bedeutet, wenn wir gesagt hätten: „Wir wollen weiterhin (Beifall bei der CDU/CSU) Dampflokomotiven fahren“? Das wäre zwar ein schönes Bild – mir würde das gefallen –, aber das ist doch nicht Antje Lezius (CDU/CSU): erfolgreich. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sichert, Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Jim Knopf!) ich habe ja gewusst, dass Sie gut im Leugnen sind. Ich habe aber nicht gewusst, dass Sie offensichtlich auch Wir sind nur erfolgreich, wenn wir immer die neuesten blind sind und nicht sehen, was diese Pandemie weltweit und besten Produkte auf den Markt bringen. Darin ist anrichtet. unsere Wirtschaft stark, liebe Kolleginnen und Kollegen. Unser Land, ja die ganze Welt kämpft mit der Aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten breitung einer Infektionskrankheit mit hohen Erkran- der CDU/CSU) kungszahlen. Wir befinden uns in einer schwierigen 24392 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Antje Lezius (A) Situation. Aber dank verantwortungsvollem Handeln, nötigen Mittel, um Aufbau und Betrieb eines Weiter- (C) gegenseitiger Rücksichtnahme und eines sehr guten bildungsportals zu prüfen sowie gegebenenfalls zu ent- Gesundheitssystems ist uns in Deutschland bisher viel wickeln und zu betreiben. Innerhalb der CDU/CSU-Frak- Leid erspart geblieben. Dank einer herausragenden For- tion setzen wir uns bereits seit Längerem für den Aufbau schungslandschaft – durch BioNTech auch bei mir in einer übergeordneten Weiterbildungsplattform ein, und Idar-Oberstein – schöpfen wir bereits Hoffnung auf ein ich hätte mir gerade jetzt – während der Pandemie – ge- Abklingen der Pandemie im kommenden Jahr. wünscht, dass diese Plattform schon Realität wäre. Im Bereich Arbeit und Soziales wurde und wird alles (Beifall bei der CDU/CSU) unternommen, um Beschäftigung zu schützen und denen, die Unterstützung brauchen, diese schnell zu gewähren. Wenn wir eine Kultur der Weiterbildung erreichen Möglich ist all das, weil wir jahrelang solide gehaushaltet wollen, wenn wir erreichen wollen, dass lebensbegleiten- haben und unser Sozialstaat funktioniert. Dass es bis zum des Lernen digital und über Digitales in der breiten heutigen Tag trotz der Pandemie und all der damit ver- Gesellschaft ankommt, ja zu einer Selbstverständlichkeit bundenen Einschränkungen keinen extremen Anstieg der wird, muss der Einstieg attraktiver sein, muss die Platt- Arbeitslosenzahlen gibt, verdanken wir einem sehr wirk- form übersichtlich sein, muss sie Lust auf Lernen samen Instrument unserer Arbeitsmarktpolitik: der Kurz- machen. Diese Plattform braucht keineswegs zwingend arbeit. bei der Bundesagentur für Arbeit beheimatet zu sein. Aber ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen die Pro- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und Änderungen jektphase führt. der entsprechenden Regelungen verlängern wir die Gül- tigkeit für den erleichterten Bezug und die höheren Bezü- Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem vorliegen- ge bis zum 31. Dezember 2021. Wir verringern damit die den Gesetzentwurf stärken wir unser erfolgreiches Instru- Auswirkungen der Pandemie auf die Beschäftigten, ment der Kurzarbeit und verbinden es stärker mit der Johannes Vogel, die jahrzehntelang in die Arbeitslosen- Möglichkeit der Qualifizierung, damit die Krise nicht versicherung eingezahlt haben. Auch Selbstständige – nur überwunden, sondern auch eine Chance wird. das habe ich selbst als Selbstständige erlebt – konnten Vielen Dank. in die Arbeitslosenversicherung freiwillig einzahlen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld! – Gegenruf Vizepräsidentin Petra Pau: von der FDP: Genau! – Weiterer Gegenruf Das Wort hat der Kollege Carl-Julius Cronenberg für (B) des Abg. Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: die FDP-Fraktion. (D) Das ist schon ein wichtiger Fehler hier, Frau Lezius!) (Beifall bei der FDP) Mit der Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge entlasten wir die Unternehmen. Auch bleibt eine gering- Carl-Julius Cronenberg (FDP): fügig entlohnte Beschäftigung weiterhin anrechnungsfrei Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! möglich. Zeitarbeiter können auch im nächsten Jahr „Kurzarbeit ist ein erfolgreiches Kriseninstrument.“ Kurzarbeitergeld bekommen. Das alles baut eine wichti- „Kurzarbeit ist die stabilste Brücke durch die Krise.“ ge Brücke – das hat der Minister schon gesagt –, die die „Kurzarbeit schützt vor Arbeitslosigkeit.“ – Ich könnte Pandemiezeit überspannt und bis in die konjunkturelle den Reigen der Lobeshymnen beliebig lange fortsetzen. Erholung hineinreichen soll. Nur eins gerät dabei schnell in Vergessenheit: Wenn Wirt- schaft und Arbeitsmarkt bis jetzt einigermaßen durch die Auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist Krise gekommen sind, dann ist das nicht allein der Regie- Kurzarbeit von Bedeutung, weil sie den Unternehmen rung zu verdanken, sondern in erster Linie den Unter- erlaubt, ihr qualifiziertes Personal zu halten und die nehmen und ihren Beschäftigten. Die haben blitzschnell Kapazitäten, sobald sich die Auftragslage verbessert, die neuen Arbeitsschutzregeln umgesetzt. Die haben da, wieder hochzufahren und zum Aufschwung beizutragen. wo sie durften, so normal wie irgend möglich weiter- Uns ist wichtig, dass während der Kurzarbeit Weiter- gearbeitet. Die haben sich nicht ins soziale Netz fallen bildungen stattfinden. Deshalb haben wir im parlamenta- lassen, sondern Verantwortung gezeigt. Ich finde, denen rischen Verfahren dafür gesorgt, dass Qualifizierung kann man an dieser Stelle auch einmal Danke sagen, liebe während der Kurzarbeit zukünftig deutlich einfacher Kolleginnen und Kollegen. umgesetzt werden kann. Um weitere Anreize zu schaffen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten während der Kurzarbeit in Weiterbildung zu investieren, der SPD und der AfD) sieht der Gesetzentwurf neben der 50-prozentigen Erstat- tung von Sozialversicherungsbeiträgen auch eine pau- Die ersten 26 Milliarden Euro Kurzarbeitergeld, die schale Lehrgangskostenerstattung vor. ausgezahlt werden, sind keine großzügige Hilfe der Regierung, sondern die Rücklagen der Beitragszahler. Ebenfalls erwähnen möchte ich das Budget für eine Auch das verdient hier in dieser Debatte einmal Erwäh- digitale Weiterbildungsplattform. Zwar haben wir in nung. Deutschland bereits eine Vielzahl von digitalen Weiter- bildungsangeboten, es fehlt jedoch an einem Einstiegs- (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Das müssen Sie portal. Die Bundesagentur erhält durch das Gesetz die einmal dem Kollegen Vogel erklären!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24393

Carl-Julius Cronenberg (A) Die Unternehmen am Hellweg und im Sauerland be- Jessica Tatti (DIE LINKE): (C) stätigen mir, dass da, wo Kurzarbeit unvermeidbar war, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe die Agentur für Arbeit schnell, kompetent und hilfsbereit Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal: Der Gesetzent- zur Seite stand. Ich bin sicher, das war überall so, und wurf ist gar nicht so schlecht. Sie wollen die Weiterbil- deshalb schließe ich mich gerne dem Dank meiner Vor- dung stärken, und das ist eine richtig gute Sache. Die redner an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bun- Transformation steht während der Pandemie nicht still. desagentur an. Digitalisierung, Klimawandel, Demografie sind riesige Herausforderungen. (Beifall bei der FDP) Tatsache bei der Weiterbildung ist doch: Sind die Auf- Also, lieber Minister Heil, ein wenig mehr Beschei- tragsbücher voll, bleibt in den Betrieben oftmals keine denheit stünde der Regierung gut zu Gesicht; sonst läuft Zeit für Weiterbildung. Ist die Auftragslage schlecht, sie Gefahr, dass sie beim Kurzarbeitergeld das richtige wäre die Zeit da – so wie jetzt –; aber die Unternehmen Maß aus den Augen verliert. Denken Sie an Paracelsus: halten ihr Geld zusammen und investieren nicht in die Ob Gift oder Medizin, das ist eine Frage der Dosis. – Weiterbildung ihrer Beschäftigten. Das sind reale Wider- Immer mehr und immer länger Kurzarbeitergeld hilft sprüche. Umso wichtiger ist es jetzt, dass die Politik ein- nicht zwingend, die Krise zu überwinden. Es geht darum, greift, damit die Zeit in der Pandemie genutzt wird, die richtige Balance zwischen Kurzarbeit und Anreizen sodass die Leute auf die neuen beruflichen Anforderun- für neue Jobs zu finden; Johannes Vogel ist darauf einge- gen vorbereitet werden. Gut, dass wir uns in diesem Ziel gangen. einig sind. Apropos Maß. Sie verlängern für ein weiteres ganzes (Beifall bei der LINKEN) Jahr das höhere Kurzarbeitergeld; aber Sie wissen nicht, Jetzt zum problematischen Teil Ihres Gesetzes. Ich wie viele Beschäftigte länger als drei Monate in Kurzar- kann es mir nur so erklären, dass Sie nicht ganz zu beit sind und erhöhtes Kurzarbeitergeld beziehen. Das ist Ende gedacht haben. Sie führen einen Rechtsanspruch aber wichtig; denn längerer Bezug von Kurzarbeiter- auf Finanzierung von Weiterbildung ein, aber nur für geld ist nicht zwingend Corona geschuldet. Viele Bran- die Arbeitgeber, nicht jedoch für die Beschäftigten. Das chen stecken mitten in der Transformation, und Sie wis- ist ungerecht und falsch. sen: Corona verdrängt nicht Transformation, sondern be- schleunigt Transformation. Deshalb brauchen wir für die (Beifall bei der LINKEN) Feinsteuerung jetzt kurzfristig eine solide Datenbasis für Sie haben wohl nicht darüber nachgedacht, dass, wenn die Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld. die Arbeitgeber alleine entscheiden, wer in den Genuss (B) von Weiterbildungen kommt, sie dann weiterhin nur die (D) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Beschäftigten weiterbilden, die ohnehin schon ziemlich Ein Wort zur AfD. Ihr Antrag leistet keinen auch nur gut qualifiziert sind. So war das schon vor der Pandemie. ansatzweise sinnvollen Beitrag zur Überwindung der Kri- Also, was sollte sich daran ändern? Und wieder einmal se. Im Gegenteil: Eine wie auch immer geartete Schwä- bleiben dann diejenigen auf der Stecke, die nicht so gut chung des europäischen Binnenmarktes schwächt die qualifiziert sind. Das Gleiche gilt für die Beschäftigten, deutsche Wirtschaft sofort und empfindlich. Das ist wirt- die befristet tätig sind. Wenn ihre Arbeitgeber es alleine schaftspolitisches Harakiri, was Sie hier präsentieren, lie- entscheiden können, werden sie sie nicht weiterbilden. be Kollegen von der AfD. Wer investiert denn schon in jemanden, bei dem er sich noch nicht mal sicher ist, ob er ihn behalten wird? (Beifall bei der FDP) Eins verstehe ich überhaupt nicht: Warum verpennt die Und noch eins: Sie bejubeln den Brexit, und Sie bejam- Sozialdemokratie den Moment, ein Initiativrecht für mern den höheren deutschen Anteil am EU-Haushalt. Betriebsräte bei der Weiterbildung zu schaffen? Das grenzt an Heuchelei. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Das mit diesem Gesetz zu verbinden, Minister Heil, wäre klug und ideal gewesen. Liebe Bundesregierung, Kurzarbeit hilft, aber reicht nicht. Jobs sichern ist gut, neue Jobs schaffen ist besser. Und was ist eigentlich mit denen, die in der Pandemie Jobs sichern und neue schaffen wäre am besten. Freihan- arbeitslos werden? Für sie haben Sie nichts. Nach wie vor del und kluge Ordnungspolitik sind immer die beste Ar- erhalten doch Erwerbslose kaum Weiterbildungen, am beitsmarktpolitik. wenigsten die Menschen in Hartz IV, und das muss sich endlich ändern. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Zudem muss die Qualität der beruflichen Weiterbil- dung auf den Prüfstand. Die Förderungen kranken doch Vizepräsidentin Petra Pau: daran, dass Sie zu wenig Geld in die Hand nehmen. Des- Das Wort hat die Kollegin Jessica Tatti für die Fraktion halb kommt Wesentliches zu kurz, zum Beispiel praxis- Die Linke. nahes Lernen, das Menschen individuell begleitet, die schon lange aus dem Lernen raus sind, und das ihnen (Beifall bei der LINKEN) wieder Mut macht, etwas Neues anzupacken. 24394 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Jessica Tatti (A) (Beifall bei der LINKEN) schale und deutlich weiter gefasste Weiterbildungsför- (C) derung als heute. Wir entrümpeln die Förderkriterien Herr Minister und liebe Kolleginnen und Kollegen, und machen sie schlanker und einfacher handhabbar. eine kluge Beschäftigungssicherung ist nicht nur ein Lückenfüller während der Kurzarbeit in der Pandemie. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weiterbildung muss nachhaltig auf den Strukturwandel Dabei stellen wir insgesamt sicher, dass eine einmal vorbereiten und den Menschen Zukunftsperspektiven bezogene Fortbildungsmaßnahme auch beendet wird. bieten, und zwar allen Menschen. Ihr Gesetz reicht dafür Wir erstatten die Lehrgangskosten über die Zeit der Kurz- leider nicht aus. arbeit hinaus für die gesamte Zeit der Teilnahme an der (Beifall bei der LINKEN) Weiterbildung. Der Ersatz von Sozialaufwand und Lehr- gangskosten sind ein starker Bonus. Wir hoffen, dass dieser von den Unternehmen und von den Beschäftigten Vizepräsidentin Petra Pau: entsprechend genutzt wird. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Stracke das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Von entscheidender Bedeutung bleiben zwei Dinge: Erstens. Die Motivation eines jeden Arbeitnehmers in Stephan Stracke (CDU/CSU): Kurzarbeit muss gegeben sein, auch an Tagen des Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Arbeitsausfalls an Angeboten der Weiterbildung teilzu- Herren! In Krisenzeiten wird die Zukunft neu verteilt – nehmen. Weiterbildung lässt sich in den wenigsten Fällen das zeigt die Erfahrung –, und so wird es auch in dieser erfolgreich befehlen. Unternehmen müssen die Beleg- Pandemie sein. Die Megatrends der Digitalisierung und schaften begeistern, ihnen klarmachen, welche Chancen Globalisierung verstärken diese Entwicklung. Dazu kom- für jeden Einzelnen in der Weiterqualifizierung liegen. men Transformationsprozesse, beispielsweise was die Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Begeisterung. CO2-Freiheit oder den demografischen Wandel angeht. Die Welt von morgen wird anders sein als die von ges- Zweitens. Wir brauchen eine intensive Beratung der tern. Das wird alle Lebensbereiche betreffen, auch die Betriebe. Deshalb ist es gut, dass die Qualifizierungsbe- Arbeitswelt. Die Beschleunigung nimmt zu, die Verände- ratung Pflichtaufgabe der BA ist. Diese Beratungsange- rung nimmt zu. Das bedeutet beispielsweise für den Wan- bote müssen auch noch weiter ausgebaut werden. Wir del in der Arbeitswelt ein immer breiteres Qualifikations- wollen, dass Weiterbildung gerade vermehrt in kleinen niveau bei Bildung, Ausbildung und Weiterbildung, was und mittleren Betrieben und Unternehmen stattfindet; (B) entscheidend sein wird für die Zukunft. denn bislang ist das im Vergleich zu den größeren seltener (D) der Fall. Das wollen und müssen wir ändern. Deswegen Weiterbildung ist daher ein zentrales Handlungsfeld ist Beratung so wichtig; denn kleine Unternehmen ver- für Beschäftigte und Unternehmen. Deshalb engagieren fügen seltener über entsprechende Personalexperten. Die sich über 85 Prozent aller Unternehmen in Deutschland in Ausweitung der Beratungsangebote ist daher entschei- der betrieblichen Weiterbildung. Sie tun dies mit einem dend. Es ist gut, dass hier auch von staatlicher Seite unter- jährlichen Investitionsvolumen um die 34 Milliarden stützt wird und dass Länder, wie beispielsweise Bayern, Euro. Erfolgreiche Unternehmen wissen: Sie brauchen dies auch zeigen. Mitarbeiter, die über ein stets aktuelles und bedarfsspezi- Neben diesen Beratungsangeboten ist noch etwas fisches Fachwissen verfügen. Nur so gelingt es, im inter- wichtig: Kooperation. Weiterbildungsaktivitäten müssen nationalen Wettbewerb zu bestehen. Beschäftigte wissen, viel stärker in Verbünden organisiert werden. Regionale dass die betriebliche Weiterbildung ein wichtiger Bau- Weiterbildungsverbünde sind gerade für kleine und mitt- stein zum persönlichen Erfolg ist und auch die Beschäfti- lere Unternehmen extrem wichtig, um passgenaue Bedar- gungsfähigkeit im Unternehmen sichert. fe zu erheben und Qualifikationsmaßnahmen zu organi- Unsere Aufgabe als Politik ist es, die Bereitschaft zur sieren. Begeisterung, Beratung, Kooperation, das sind Weiterbildung und die Beteiligung an Weiterbildung zu drei zentrale Bausteine dafür, dass Weiterbildung in den unterstützen. Diese Aufgabe nehmen wir gerne an. Wir Betrieben noch besser gelingt als bisher. Dafür wollen wir haben in den letzten Jahren deshalb mehrfach und spürbar weiter arbeiten. die Angebote der Bundesagentur für Arbeit ausgebaut. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich denke hier beispielsweise an die Lehrgangskosten, ordneten der SPD) an die Zuschüsse zum Arbeitsentgelt für die Unterneh- men. Ich meine auch die Höhe der Fördersätze, die wir mehrfach verändert und verbessert haben. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat Dr. Martin Rosemann für die SPD-Frak- Wir wollen, dass Kurzarbeit mehr mit Qualifizierung tion. verbunden wird. Dafür setzen wir auch einen starken Anreiz. Wir erstatten den Unternehmen beispielsweise (Beifall bei der SPD) den Sozialaufwand komplett, wenn sie im zweiten Halb- jahr 2021 eine Weiterbildung durchführen. Danach wird Dr. Martin Rosemann (SPD): der Sozialaufwand zu 50 Prozent bis längstens Mitte Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- 2024 erstattet, wenn während der Kurzarbeit Weiterbil- legen! Die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeit hat seit dung erfolgt. Zudem schaffen wir eine transparente, pau- April dieses Jahres von über 6 Millionen auf rund 2 Mil- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24395

Dr. Martin Rosemann (A) lionen abgenommen. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit mal hinkriegen. Deswegen ist es richtig, dass wir den (C) nicht weiter gestiegen. Das zeigt: Kurzarbeit verhindert Unternehmen und den Weiterbildungsträgern sowie der Arbeitslosigkeit. Kurzarbeit ist die stabile Brücke über Bundesagentur für Arbeit die Zeit geben, sich genau diese Krise. Und das zeigt: Wenn wir Sozialdemokratin- darauf einzustellen und diese Angebote an Weiterbildung nen und Sozialdemokraten vom Recht auf Arbeit spre- in den kommenden Monaten auch zu schaffen. chen, dann liefern wir auch. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Weiß (Beifall bei der SPD) [Emmendingen] [CDU/CSU]) Meine Damen und Herren, vor allem wegen der inter- Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Große nationalen Dimension, wegen der internationalen Ver- Koalition schafft mit dem heutigen Gesetz – im Aus- flechtung vieler Unternehmen, besteht in vielen Bran- schuss wurde noch ein Änderungsantrag verabschiedet – chen weiter Bedarf an Kurzarbeit. Deshalb machen wir zugleich die Voraussetzungen dafür, dass wir kollektive diese Brücke breiter, länger und noch stabiler. Mein Kol- Beschäftigungssicherungsvereinbarungen zwischen lege Bernd Rützel hat dies im Einzelnen ausgeführt. Arbeitgebern und Beschäftigten attraktiver machen. Wir Gleichzeitig unterstützen wir Unternehmen bei der Wei- stellen sicher, dass solche kollektiven Beschäftigungssi- terbildung in Kurzarbeit. Das ist vor allem für Unter- cherungsvereinbarungen, die häufig mit einer geringeren nehmen im Strukturwandel wichtig, aber nicht nur für Arbeitszeit und einem geringeren Entgelt verbunden sie, sondern angesichts der großen Veränderungen durch sind, sich nicht negativ auf die Höhe des Arbeitslosen- die Digitalisierung auch für die Beschäftigten. Minister geldes bei den Beschäftigten auswirken. Das ist ein wich- Hubertus Heil hat es so gesagt: Damit die Beschäftigten tiges Kriseninstrument in dieser Pandemie. von heute die Arbeit von morgen machen können. – Lange Zeit hatten die Beschäftigten in vielen Unterneh- Mit all dem, meine Damen und Herren, sorgen wir men gar keine Zeit für Weiterbildung; die Auslastung war dafür – so hoch. Deshalb müssen wir jetzt die Phase der Kurzar- beit für Weiterbildung nutzen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall der Abg. [SPD]) Kollege Rosemann, achten Sie bitte auf die Zeit. Deshalb setzen wir die Anreize. Ab dem 1. Juli 2021 Dr. Martin Rosemann (SPD): (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- – ich komme zum Ende, Frau Präsidentin –, dass wir NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nicht gut durch die Krise kommen und gut aus der Krise jetzt! 1. Juli 2021 ist nicht jetzt!) herauskommen – mit dem Sozialstaat als Partner an der (B) wird die vollständige Erstattung der Sozialversicherungs- Seite der Beschäftigten. (D) beiträge an die Teilnahme an Weiterbildungen geknüpft. Ich will schließen mit einem Dank – Heute, meine Damen und Herren, regeln wir das kon- kret. Wir wählen bewusst einen breiten Ansatz. Jede Wei- Vizepräsidentin Petra Pau: terbildung, die in Kurzarbeit beginnt, die mindestens Bitte. 120 Stunden umfasst, bei der der Maßnahmenträger und die Maßnahme zertifiziert sind, wird berücksichtigt. Auch Fortbildungen zum Meister oder Techniker werden Dr. Martin Rosemann (SPD): anerkannt. – an die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit, die einen wichtigen Beitrag dazu leisten. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir sorgen, meine Damen und Herren, bei allen Betei- der CDU/CSU) ligten für einen einfachen Ansatz; denn die Unternehmen und die BA müssen das auch umsetzen. Deshalb schaffen wir ein eigenes und ein einfaches Förderregime für die Vizepräsidentin Petra Pau: Schulungskosten während der Kurzarbeit. Und: Wir Das Wort hat Dr. Christoph Ploß für die CDU/CSU- schaffen Verlässlichkeit; denn wir sorgen dafür, dass die Fraktion. Förderung der Schulungskosten auch weiterläuft, wenn (Beifall bei der CDU/CSU) die Kurzarbeit beendet wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): Dieser Weg hat in der Anhörung am Montag große Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zustimmung gefunden. Herr Strengmann-Kuhn, ich Wie überstehen wir den harten Coronawinter? Ist unser habe sehr wohl Ihre Kritik vernommen, dass wir damit Job in Zukunft, ist er in den nächsten Monaten noch früher anfangen müssten. Ja, gefühlt gebe ich ihnen recht. sicher? Kann ich in den nächsten Jahren noch meine Aber ich möchte Ihnen auch sagen: Wir müssen mehr Familie ernähren? – Das sind viele Fragen, Fragen, die Weiterbildungen am Markt haben, die so flexibel sind, sich die Menschen in unserem Land im Moment stellen. dass sie sich leicht mit dem flexiblen Instrument der Jeder von uns, der in seinem Wahlkreis aktiv unterwegs Kurzarbeit verbinden lassen, die gleichzeitig eine hohe ist und sich mit den Menschen dort austauscht, der wird Qualität aufweisen und zertifiziert sind. Das muss man häufig auf eine gewisse Hoffnungslosigkeit treffen, auf bei den Weiterbildungsträgern und den Unternehmen erst Verzweiflung, und er wird genau diese Fragen hören. 24396 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Dr. Christoph Ploß (A) Deswegen ist es umso wichtiger, dass die Politik nicht beliebig oft zur Verfügung haben, sondern nur ein (C) in diesen Zeiten starke Signale setzt, dass sie in diesen einziges Mal. Daher müssen wir weise entscheiden, wo- Zeiten Maßnahmen einleitet, um die Jobs zu sichern und für wir dieses Geld einsetzen. um Perspektiven zu schaffen. Das machen wir mit dem Kurzarbeitergeld. Das machen wir mit den eben erwähn- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Hat ten Beschäftigungs- und Fortbildungsmaßnahmen. Aber der Kollege sich schon mal die Exportzahlen das machen wir auch, indem wir in dieser Krise einen angeschaut?) Schwerpunkt auf Investitionen in die Infrastruktur setzen. Das sind Maßnahmen, mit denen es uns gelingt, Antwor- Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): ten auf diese Fragen geben zu können, meine Damen und Herr Kollege, wenn Sie sich einmal die Zahlen an- Herren. schauen, wohin die Exporte Deutschlands gehen, dann werden Sie feststellen, dass über 60 Prozent der deut- Jetzt hat die AfD mit ihrem Antrag gesagt: Ja, das schen Exporte in die Europäische Union gehen. macht die Regierung, das machen CDU/CSU gar nicht so schlecht. – Wenn man ins europäische Ausland schaut, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dann sieht man ja auch, dass wir in Deutschland im Ver- der SPD – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/ gleich sehr, sehr gut durch die Coronakrise kommen. Die CSU]: Genau so ist es! Das kapiert der nicht!) AfD sagt in ihrem Antrag auch: Das Instrument des Kurz- arbeitergeldes ist ja durchaus richtig. Aber wäre es nicht Das heißt, wenn wir sagen, wir wollen Europa stärken sinnvoll, wenn wir nur noch Kurzarbeitergeld zur Ver- und wollen auch in die europäische Infrastruktur inves- fügung stellen und nicht mehr in Europa investieren wür- tieren, dann bedeutet das nicht nur eine Stärkung Europas den? – Sie von der AfD stellen die Frage: Wollen wir in und setzt nicht nur ein Zeichen der Solidarität mit unseren Deutschland investieren, oder wollen wir in Europa in- europäischen Partnern, sondern dann investieren wir vestieren? Diese Frage, meine Damen und Herren, ist indirekt auch in Deutschland und tun das Beste für doch die absolut falsche Frage in diesen Zeiten. Deutschland. Deswegen kann ich überhaupt nicht nach- vollziehen – das muss ich Ihnen sagen –, dass Sie immer (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!) wieder die Frage stellen: Wollen wir etwas entweder nur national oder nur europäisch betrachten? Wir müssen Die Frage muss lauten: Wie können wir sowohl Deutsch- beides zusammenführen, und das wird auch der Ansatz land als auch Europa stärken? Das ist die entscheidende der CDU/CSU-Fraktion in den nächsten Monaten sein. Frage. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Damit kommen wir auch schon zu den nächsten The- (D) Ich halte Ihren Ansatz auch für brandgefährlich, weil er men: Wie können wir Arbeitsplätze in Europa sichern? nämlich die Axt an ein Fundament legt, das nicht nur uns Wie können wir die Klimaschutzziele erreichen? Was in Europa, sondern auch uns in Deutschland mittlerweile können wir tun, um den Wirtschaftsstandort Deutschland seit Jahrzehnten stark macht. Die europäische Einigung zu stärken? – Die Antwort auf all diese Fragen lautet, dass hat uns Frieden gebracht, Demokratie, Wohlstand, soziale wir in die europäische Infrastruktur investieren müssen, Marktwirtschaft. Sie hat uns die Etablierung von Men- dass wir auch in neue Technologien investieren müssen schenrechten gebracht. Deswegen müssen wir gerade und dass wir Klimaschutz mit einer vernünftigen Wirt- auch in dieser Coronapandemie in Europa investieren. schaftspolitik verbinden müssen. Häufig fällt in diesen Tagen der Satz: Die Krise ist Vizepräsidentin Petra Pau: auch eine Chance. – Zugegebenermaßen ist dieser Satz Kollege Ploß, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- etwas abgedroschen und vielleicht auch zu einer Phrase kung des Abgeordneten Sichert? verkommen; aber er ist dennoch wahr. Denn die Krise bietet natürlich auch Chancen, zum Beispiel, eine Was- Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): serstoffinfrastruktur nicht nur in Deutschland zu errich- Sehr gerne. – Bitte schön. ten, sondern auch in Europa. Sie bietet die Chance, dass Deutschland ein weltweit führender Standort für klima- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: neutrale Kraftstoffe wird, um so Mobilität klimafreund- Nein! Das kann nur schlimmer werden! – Zuru- lich zu machen, um so Fliegen nicht zu verbieten, sondern fe von der SPD) klimaneutral zu machen. Das sind doch die Ansätze, die wir gerade jetzt in dieser Krise forcieren müssen. Martin Sichert (AfD): Das wird aber nicht gelingen, wenn wir das Ganze Vielen Dank, Herr Kollege. – Ist Ihnen bewusst, dass nur auf Deutschland bezogen betrachten. Oder gehen man Geld nur einmal ausgeben kann? Sie davon aus, dass wir für einen Lkw, der Pasta, Toilet- tenpapier oder welche Güter auch immer von Italien (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- nach Deutschland bringt, kein Wasserstofftankstellennetz NIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Ökonomie keine brauchen, das Italien, Österreich, Deutschland miteinbe- Ahnung!) zieht, dass wir also nur in Deutschland ein Wasserstoff- Wir können unser Geld nur einmal ausgeben: entweder tankstellennetz brauchen? Das glaubt doch keiner. Des- zur Stärkung der deutschen Wirtschaft oder um es an die wegen müssen wir gerade in diesen Zeiten, in denen wir EU, an andere Länder zu geben. Das heißt, dass wir Geld eine funktionierende Logistik brauchen, in denen wir Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24397

Dr. Christoph Ploß (A) darauf angewiesen sind, dass auch in anderen europä- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die (C) ischen Ländern die Logistik funktioniert, diese Fragen Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- europäisch betrachten. tionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Linken und von Meine Damen und Herren, wir werden unterschied- Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD- liche Maßnahmen – das Kurzarbeitergeld, Fortbildungs- Fraktion angenommen. und Beschäftigungsmaßnahmen – auch in den nächsten Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 d auf: Monaten forcieren, damit es nach der Coronapandemie a) Beratung des Antrags der Abgeordneten schnell wieder aufwärtsgeht. Wir werden vor allem einen Rüdiger Lucassen, Marc Bernhard, Siegbert Schwerpunkt auf Investitionen in die deutsche, aber auch Droese, weiterer Abgeordneter und der Frak- in die europäische Infrastruktur legen. Dafür darf ich Sie tion der AfD ganz herzlich um Unterstützung bitten. Reaktivierung der Wehrpflicht Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Drucksache 19/24401 (Beifall bei der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Vizepräsidentin Petra Pau: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Arbeit und Soziales Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Beschäfti- Ralf Nolte, Rüdiger Lucassen, Jens Kestner, gungssicherung infolge der Covid-19-Pandemie. Der weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buch- AfD stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24481, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Gesundheitliche Beschwerden bei Solda- den Drucksachen 19/23480 und 19/24219 in der Aus- ten durch Druckwellen schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Drucksache 19/24392 dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Überweisungsvorschlag: wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalitions- Verteidigungsausschuss (f) fraktionen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält Ausschuss für Arbeit und Soziales sich? – Die Fraktionen AfD, FDP, Die Linke und Bünd- Ausschuss für Gesundheit nis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten (B) ter Beratung angenommen. beschlossen. – Ich warte noch, bis alle ihren Platz ein- (D) nehmen konnten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ordnete Rüdiger Lucassen für die AfD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- (Beifall bei der AfD) entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen. Rüdiger Lucassen (AfD): Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Konser- lung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Druck- vative schützen Dinge, die funktionieren. Die Wehr- sache 19/24481 fort. pflicht in Deutschland hat funktioniert, Tagesordnungspunkt 24 b. Unter Buchstabe b seiner (Zuruf des Abg. Tobias Pflüger [DIE LINKE]) Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die 200 Jahre lang. Sie verband die Streitkräfte mit unserem Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Volk. Sie lüftete die Kasernen in unserem Land mit Drucksache 19/23169 mit dem Titel „Neben der Sonder- frischem Geist. Junge Männer aus allen Regionen und regelung für Kurzarbeit auch Sonderregelung für Arbeits- Schichten Deutschlands kamen so zur Bundeswehr. Viele losengeld I verlängern und ein Weiterbildungsgeld ein- Generale von heute fingen als Wehrpflichtige an. Ohne führen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – den Wehrdienst hätten sie den Weg in die Streitkräfte nie Die Koalitionsfraktionen, die AfD-Fraktion und die FDP- gefunden. Die militärische Führung unterstützt in weiten Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion Die Linke. Teilen den heutigen Antrag der AfD zur Reaktivierung Wer enthält sich? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. der Wehrpflicht. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 24 c. Abstimmung über die Be- (Beifall bei der AfD – Dr. Tobias Lindner schlussempfehlung des Ausschusses für die Angele- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? – Tobias genheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Pflüger [DIE LINKE]: Das glaube ich über- Fraktion der AfD mit dem Titel „Finanzierung des Kurz- haupt nicht!) arbeitergeldes durch Kürzung des deutschen Anteils am Der Antrag ist die Chance, einen Kapitalfehler der EU-Haushalt“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- Bundesregierung zu korrigieren. Die Wehrpflicht war schlussempfehlung auf Drucksache 19/24480, den An- viel mehr als nur die Personalsicherung der Bundeswehr. trag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/23724 Sie war Wesenskern unserer Streitkräfte. Ganze Genera- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- tionen von jungen Deutschen fanden so zusammen, dien- 24398 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Rüdiger Lucassen (A) ten einer höheren Aufgabe, spürten, was es bedeutete, Vizepräsidentin Petra Pau: (C) sich in den Dienst unseres Landes zu stellen, lernten, Das Wort hat der Kollege Henning Otte für die CDU/ sich in eine Gemeinschaft zu integrieren. CSU-Fraktion. (Zuruf des Abg. [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Für ein paar Monate im Leben waren alle gleich: keine Henning Otte (CDU/CSU): Unterschiede durch Geld, teure Kleidung und die Her- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und kunft – eine wertvolle Sache. Die Wehrpflicht war nicht Herren! Bereits zum wiederholten Male stellt die AfD nur Wesenskern der Bundeswehr. Sie schuf ein gesell- in dieser Woche hier Anträge zur Bundeswehr: gestern schaftliches Band für viele Generationen. einen sicherheitspolitischen Antrag, der aber zu kurz gesprungen war, heute einen Antrag auf Wiedereinset- (Beifall bei der AfD) zung der Wehrpflicht, rückwärtsgewandt, mit romanti- Die Wehrpflicht war Teil der DNA unseres Landes. schen und verklärten Vorstellungen. Vor allem bieten Wer so etwas aufgibt, der ist nicht konservativ. Wer so die AfD-Anträge keinen Beitrag zur Lösung, sondern etwas aufgibt, der ist verantwortlich für die Zerstörung die AfD selbst stellt eher ein Problem dar. Wer an den eines Grundpfeilers unseres Staates und unserer Gesell- Grundpfeilern unserer Verfassung wirklich sägt, das schaft. konnte man am Mittwoch bei der Diskussion und Debatte zum Infektionsschutzgesetz sehen und daran, dass Sie (Henning Otte [CDU/CSU]: Na, na, na!) Demonstranten Zutritt in dieses Haus gewährt haben und dass Sie die Parlamentsdebatte zerstören. Das, meine Und das, meine Damen und Herren, machen Konserva- Damen und Herren, ist nicht konservativ. „Konservativ“ tive nicht. heißt für uns, werteorientierte Politik für die Bürgerinnen (Beifall bei der AfD) und Bürger zu machen, und das sind die Antworten, die wir heute in unserer Politik brauchen. Die Aufgabe der Wehrpflicht im Jahre 2011 ist Teil einer destruktiven Politik in Deutschland. Sie ist Teil (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. einer Politik, an deren Ende die Abschaffung unseres Jan Ralf Nolte [AfD]) Nationalstaates steht. Die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht 2011 war (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: O Gott! O richtig und notwendig. So hieß es im Wehrrechtsände- Gott!) rungsgesetz von 2011: „Auf diese Weise sollen Freiheit und Verantwortung neu austariert werden.“ Darum geht (B) (D) Diese Politik zerstört die Einsatzbereitschaft der Bundes- es. Es geht um Freiheit und Verantwortung. Als Sie, Herr wehr genauso, wie sie die Energiesicherheit, die kulturel- Lucassen, mein Vorredner, die Bundeswehr verlassen le Identität und jetzt die wirtschaftliche Basis Deutsch- haben – das muss ungefähr 2005 gewesen sein –, bin lands zur Disposition stellt. Die CDU trägt dafür die ich in den Deutschen Bundestag gekommen. Seitdem alleinige Verantwortung. hat sich vieles geändert. Die Zeit ist nicht stehen geblie- ben. (Beifall bei der AfD) (Zuruf von der LINKEN: Er ist aber stehen Denn es war immer die Pflicht der Union, den linken geblieben!) radikalen Kräften in Deutschland entgegenzutreten, Sie ist weitergegangen. (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Eijeijei!) Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Wir wollen deren Geschäftsmodell der Kampf gegen den eigenen appellieren an Freiheit und Verantwortung. Nicht Men- Nationalstaat ist. Stattdessen opferte die CDU einen schen zwingen, sondern sie überzeugen, freiwillig einen Schatz unseres nationalen Bürgerstaats: die Wehrpflicht. Dienst zu leisten, das ist werteorientierte und konserva- Für die Gier nach Posten und Macht, meine Damen und tive Politik. 8 000 Soldatinnen und Soldaten leisten heute Herren, wurde bereits zu viel Tafelsilber unserer Repu- einen freiwilligen Wehrdienst aus Überzeugung. Nicht blik geopfert. Das ist nicht konservativ. Das ist gefähr- Pflicht und Verpflichtung, sondern Freiwilligkeit – das lich. ist unser Koordinatensystem, und das ist Grundlage für 65 Jahre ist unsere Bundeswehr nun alt. Ich danke allen Professionalität. Soldaten für ihren treuen Dienst für Deutschland. Es ist Man sollte nicht immer die Arbeit der Soldaten nicht leicht für sie in diesen Zeiten. Der Außenminister schlechtreden, sondern mal sagen, wofür sie einstehen. gratuliert zu diesem Jubiläum einem Belgier auf Twitter. Sie stehen ein für die Landes- und Bündnisverteidigung. Die Verteidigungsministerin gendert in einem Grußwort Sie stehen ein für die Einsätze in anderen Ländern: im die ersten Soldaten der Bundeswehr des Jahres 1955, und Kosovo, in Afghanistan, Mali beispielsweise. Sie stehen der Bundespräsident ändert eigenmächtig die Eidesfor- ein in einsatzgleichen Verpflichtungen im Baltikum, mei- mel bei seiner Ansprache. Eine solche Regierung haben ne Damen und Herren. unsere Soldaten nicht verdient. Wir als CDU/CSU haben Hochachtung vor der profes- (Beifall bei der AfD – Stefan Müller [Erlangen] sionellen Arbeit unserer Truppe. Wir danken den Solda- [CDU/CSU]: Oje! – Tobias Pflüger [DIE LIN- tinnen und Soldaten sehr herzlich für ihren Dienst für KE]: Abtreten!) unser Land. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24399

Henning Otte (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Alexander Müller (FDP): (C) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 32 Jahren wollte ich nach dem Abitur Informatik Sie als AfD bezweifeln offensichtlich diese Leistung, studieren. Die jungen Damen aus meinem Abiturjahr- wenn Sie die Grundsätze anzweifeln und infrage stellen. gang durften sofort an die Uni, und ich wurde für 15 Mo- (Zuruf des Abg. Jan Ralf Nolte [AfD]) nate einkaserniert. Die Bundeswehr von heute ist eine moderne Armee mit (Zuruf von der SPD: Och!) modernen Waffensystemen, mit digitalen Führungssys- Die antragstellende AfD will diese Ungerechtigkeit wie- temen; „Supply-Chain-Management“ ist der feststehende der einführen. Sie geriert sich immer als Beschützerin der Begriff in der Logistik. Dafür braucht man eben eine gute Grundrechte, als die Bewahrerin der Freiheit. Heute zeigt und auch teure Ausbildung. Wir gehen diesen Weg wei- sie ihr wahres Gesicht. Sie wollen den jungen Leuten ein ter, den auch unsere internationalen Partner gehen, näm- Jahr Zwangsdienst aufbrummen. lich hin zur Professionalität. (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: So ist es!) Die Bundeswehr, meine Damen und Herren, ist nicht die Schule der Nation. Sie ist kein Erziehungsheim. Sie Sie wollen den jungen Leuten wieder ein Jahr ihres hat den sicherheitspolitischen Auftrag, die Landes- und Lebens rauben. Das ist Ihre Vision von Freiheit? – Na, Bündnisverteidigung sicherzustellen. Deswegen brau- vielen Dank. chen wir eine professionelle Streitkraft mit einem Attrak- (Beifall bei der FDP – Jan Ralf Nolte [AfD]: tivitätsprogramm, meine Damen und Herren. Da setzen Für Sie ist es Zeitverschwendung, was die Sol- wir an. Wir sagen: Wir wollen eine freiwillige Form des daten machen!) Wehrdienstes. Wir wollen den freiwilligen Wehrdienst Die Bundeswehr hat heute hochtechnisierte Waffen- für den Heimatschutz. Der beginnt ab April 2021. Frage, systeme, deren Handhabung man nicht mal eben im was du für dein Land tun kannst! Das ist die Geistes- Schnelldurchgang erlernen kann. Unsere Parlamentsar- haltung, die wir erreichen wollen: unserem Land zu die- mee ist eine Armee von Profis. Das sind Experten auf nen. Wir werben für das freiwillige Deutschlandjahr – ihrem Gebiet, die anständig bezahlt werden und die nicht im Konflikt mit dem Grundgesetz oder den europä- auch entsprechend motiviert ihre Arbeit machen. ischen Regeln. Deswegen geht Ihr Antrag auf Wiederein- setzung der Wehrpflicht in die falsche Richtung. Was für eine Verschwendung ist es, Leute wie mich ein Jahr einzusperren! Als IT-Experte zahle ich Unmengen Auch Ihr zweiter Antrag ist entbehrlich. „Breacher an Steuern und Sozialabgaben, als Rekrut muss mich der Brain“ – hier können wir deutlich sagen: Den Spezial- Staat durchfüttern, hat von mir aber überhaupt keinen (B) kräften ist dieses Problem bewusst – es gibt hierzu wis- militärischen Mehrwert. Die Wehrpflicht macht volks- (D) senschaftliche Publizierungen, vor allem wurde ein wehr- wirtschaftlich überhaupt keinen Sinn. Lassen wir doch medizinischer Forschungskorridor im BMVg etabliert –, den jungen Menschen in Deutschland die Freiheit, sich aber bisher gibt es keinen einzigen Fall. ihren Beruf selbst auszusuchen, ihren Traumberuf zu Ich sage noch einmal: Wir müssen deutlich machen: erlernen und auszuüben. Das ist gesamtwirtschaftlich Der Beruf des Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere. viel besser als die Wehrpflicht. Deswegen muss er umso mehr Attraktivität erfahren, (Beifall bei der FDP) Attraktivität auch durch Geld. Wir haben seit 2014 den Verteidigungshaushalt um 30 Prozent, um 10 Milliarden Als 1956 die Wehrpflicht kam, war Frauen noch jegli- Euro, erhöht. Aber Geld ist nicht alles. Wir haben das cher Dienst an der Waffe verboten. Deswegen war die Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz durchgesetzt, wir Wehrpflicht nur für Männer damals noch widerspruchs- haben das Besoldungsstrukturmodernisierungsgesetz frei. Heute dürfen Frauen jeden Job bei der Bundeswehr verabschiedet, und wir haben kostenloses Bahnfahren machen, und das ist auch richtig so, weil Frauen alles erreicht. Das ist Anerkennung für unsere Soldatinnen können, was Männer auch können. und Soldaten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Nicht ein rückwärtsgewandter Aktionismus ist für uns Aber das hat natürlich auch Konsequenzen. Es wäre maßgeblich, sondern für uns steht der Mensch im Mittel- Rosinenpickerei, wenn man, so wie Sie das wollen, eine punkt unserer christdemokratischen Politik. Für uns ste- Wehrpflicht nur für Männer einführt. Das heißt, Frauen hen der Soldat, die Soldatin als Staatsbürger in Uniform dürfen alles, und Männer werden gezwungen. Wie wollen im Mittelpunkt. Wir halten Ihre beiden Anträge für obso- Sie das in Karlsruhe durchkriegen? Das Verfassungsge- let, meine Damen und Herren. richt wird Ihnen das rechts und links um die Ohren hauen. Herzlichen Dank. Wenn Sie einen Zwangsdienst einführen wollen, dann muss er geschlechtergerecht sein, dann muss er für alle (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gelten. ordneten der SPD) (Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau: Wir sind bei einer Stärke von 800 000 Jugendlichen im Jahr, die die Schulen in Deutschland verlassen. Bei unge- Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Alexander fähr 180 000 Bundeswehrsoldaten insgesamt, die sich Müller das Wort. dann um die Ausbildung kümmern müssten, wünsche (Beifall bei der FDP) ich fröhliche Verrichtung. Wir haben auch noch nicht 24400 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Alexander Müller (A) über die fehlenden Unterkünfte, über fehlende Unifor- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) men und über persönliche Ausrüstung gesprochen. Das Herr Abgeordneter Lucassen, Sie müssten bitte stehen alles muss noch geklärt werden. Das weiß die AfD. Des- bleiben. wegen hat die AfD einen Plan und will nur 30 000 im Jahr zum Wehrdienst heranziehen. Na, da bin ich ja mal Alexander Müller (FDP): gespannt, wie das verfassungsgemäß funktionieren soll. Die Wehrpflicht ist im Jahr 1956 eingeführt worden. Das heißt, Sie wollen jeden 27. zwingen, Wehrdienst zu Ich habe es erklärt: Damals war Frauen der Dienst an der machen, aus jeder Klasse einen rausnehmen. Wie wollen Waffe verboten. Das ist heute anders. Jede Frau kann Sie das denn gerecht hinbekommen? jeden Job in der Bundeswehr machen, (Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Jan Ralf (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Nolte [AfD]) Gut so!) Vor allen Dingen: Was wollen Sie denn mit den anderen wenn sie die Qualifikation erbringt und die Tests besteht. 26 aus dieser Klasse machen? Wollen Sie die als Pflege- kräfte, als Billigarbeiter in die Krankenhäuser schicken – (Beifall bei Abgeordneten der FDP) 770 000 Jugendliche im Jahr? So viele Krankenhäuser Jeder Frau steht das offen. Der erste Mann, den Sie zwin- haben wir in Deutschland gar nicht. Das kann doch nicht gen wollen, wieder Wehrdienst zu machen, wird in Karls- Ihr Ernst sein. ruhe klagen, und er wird das durchbekommen; denn es kann nicht sein, dass Frauen dürfen und Männer gezwun- (Beifall bei der FDP) gen werden. Insofern bin ich sehr optimistisch: Das wird Die Befürworter der Wehrpflicht argumentieren nicht kommen. Wenn man heute eine Wehrpflicht will, immer, dass der Wehrdienst eine erzieherische Kompo- dann muss die für beide Geschlechter gelten. nente hätte, also den jungen Männern Disziplin und Ord- (Beifall bei der FDP) nung beibringen soll. Wir wollen, dass sich junge Menschen ihren Job selbst aussuchen dürfen und alle Freiheiten haben, ihr Berufs- Vizepräsidentin Petra Pau: leben selbst zu gestalten – ohne Zwangsjahr. Wir wollen Kollege Müller, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- eine professionelle Bundeswehr mit Spezialisten, die ihre kung des Abgeordneten Lucassen? Technik aus dem Effeff beherrschen und die wie Profis bezahlt werden. Alexander Müller (FDP): Wer hier im Saal Verteidiger der Freiheit ist und wer es Ja. (B) nicht ist, wird sich gleich bei der Abstimmung zeigen. (D) Vielen Dank. Rüdiger Lucassen (AfD): Danke schön, Herr Kollege Müller. – Erstens. Sie spra- (Beifall bei der FDP) chen eben das Problem an, das in Karlsruhe durchzube- kommen, wenn unser Antrag umgesetzt werden würde. Vizepräsidentin Petra Pau: Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass gemäß Artikel 12a Dr. Karl-Heinz Brunner hat für die SPD-Fraktion das Absatz 1 Grundgesetz und Artikel 116 Grundgesetz alle Wort. Männer wehrpflichtig sind und dass diese Pflicht nur durch die Aussetzung der §§ 3 bis 53 Wehrpflichtgesetz (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ausgesetzt worden ist; sie müssten also nur aktiviert wer- den. Karlsruhe ist hier gar nicht gefragt. Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Natürlich! Da und Kollegen! Ich bin am heutigen Tage schon verwun- kann doch jeder klagen! So ein Quatsch!) dert, dass wir im 65. Jahr der Bundeswehr, nach 65 Jahren Zweitens. Wenn Sie schon so ein monströses Zahlen- Erfolgsgeschichte Bundeswehr, über zwei solche Anträ- spiel bezüglich der 30 000 Wehrpflichtigen anstellen, ge diskutieren müssen, wie sie heute vorliegen. dann lesen Sie bitte unseren Antrag. In dem steht: min- Zum Antrag auf Reaktivierung der Wehrpflicht wird destens 30 000 Wehrpflichtige. Damit wollen wir der sich mein Kollege Fritz Felgentreu umfangreich äußern. demografischen Entwicklung entsprechend reagieren Ich darf an dieser Stelle sagen: Ich kann die Aussage können. unserer Wehrbeauftragten, die ich als kleiner Mann nur (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: auf Zehenspitzen dort hinten sehen kann, voll und ganz Wo ist denn Ihre Frage?) unterstreichen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich möchte mich auf die Erfolgsgeschichte Bundes- wehr beziehen, die 65 Jahre das Dienst- und Treuever- hältnis beinhaltet. Das Herauspicken eines einzelnen Alexander Müller (FDP): Lieber Kollege Lucassen, es geht um Artikel 12a Bereichs, „Breacher Brain“, zeigt nicht die Erfolgsge- schichte des Dienst- und Treueverhältnisses auf. Grundgesetz; Beim Dienst- und Treueverhältnis geht es nicht darum, (Rüdiger Lucassen [AfD]: Das ist korrekt!) wie der erste Redner in dieser Debatte gesagt hat, sich als ich habe es eben erklärt. Konservativer an Regeln zu halten. Ich halte mich immer Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24401

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) an Regeln; ich müsste also ein Urkonservativer sein. Der In der 49. Sitzung des Vergabeausschusses in dieser (C) Redner hingegen kann offensichtlich keiner sein; denn Woche sind nunmehr 721 abgeschlossene Fälle, 466 posi- am vergangenen Mittwoch hat man sich ja wohl nicht tive Entscheidungen festgestellt worden, die Entschädi- an Regeln gehalten. Bitte bewerten Sie es nicht über, gungen in einer Größenordnung von 10 Millionen Euro wenn jemand meint, er müsse Konservatismus mit dem ermöglicht haben. Dies ist eine Erfolgsgeschichte unserer Einhalten von Regeln gleichsetzen. Bundeswehr. Dieses Gemeinschaftsprojekt, in dessen Rahmen jetzt auch mit der Katholischen Familienstiftung Aber unsere Bundeswehr hat in diesen 65 Jahren etwas für Soldaten das Thema „Angst, Depressionen, Suizid geleistet, was, glaube ich, keine Parlamentsarmee, keine und Einsatzfolgen“ wissenschaftlich bearbeitet wird und Armee dieser Welt geleistet hat, nämlich sich fortzuent- für das ich mit der Kollegin die Schirm- wickeln, Fehler einzugestehen, aus Fehlern zu lernen und herrschaft übernommen habe, zeigt dies noch einmal in im Sinne des Dienst- und Treueverhältnisses zu guten und besonderer Weise. vernünftigen Lösungen zu kommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall der Abg. Marianne Schieder [SPD]) Lassen Sie mich als Letztes sagen: Der Umgang mit Drei Beispiele, liebe Kolleginnen und Kollegen, möch- den homosexuellen Soldaten in der Bundeswehr während te ich dazu anführen. vieler Jahre ist in meinen Augen ein exzellentes Beispiel, um zu zeigen, wie die Bundeswehr mit dem eigenen Ver- Eine Geschichte, die uns Parlamentarierinnen und Par- halten – manchmal gesellschaftstypisches Verhalten, spä- lamentarier und die Bundeswehr schon länger beschäftigt ter Fehlverhalten – in der Lage ist umzugehen. Seit dem und zeigt, wie die Bundeswehr in der Lage ist, sich zu 3. Juli 2000, dem formellen Ende der Diskriminierung ändern, zu reflektieren und im Sinne des Dienst- und von homosexuellen Soldaten in der Bundeswehr durch Treueverhältnisses für Soldatinnen und Soldaten die rich- Aufhebung des Erlasses, hat es noch eine Zeit gedauert. tige Lösung zu finden: Radargeschädigte. Der eine oder Aber eine gute Studie, die Studie „Tabu und Toleranz“, andere, gerade unter den älteren Menschen, erinnert sich die vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwis- noch, dass die Schädigungen von an Radargeräten arbei- senschaften erarbeitet und am 17. September 2020 vor- tenden Soldaten – es waren damals eigentlich nur Män- gestellt wurde, hat den Umgang der Bundeswehr von ner – über lange Jahre belächelt und nicht wissenschaft- 1955 bis zur Jahrtausendwende in den Mittelpunkt lich ergründet, nicht entsprechend der Fürsorgepflicht gestellt. nach § 31 Soldatengesetz betrachtet wurden. Bis zum heutigen Zeitpunkt liegen die Anerkennungsquoten, Ein guter und überfälliger Gesetzentwurf, der nunmehr zum Teil auch bei Mitgliedern des Bundes zur Unterstüt- im November im Kabinett beraten und im Frühjahr 2021 (B) zung Radarstrahlengeschädigter, immer noch bei unter in den Bundestag eingebracht werden wird, zeigt, dass (D) 20 Prozent. Wir haben Verfahrenszeiten von 37 Jahren die Möglichkeit besteht, diese Geschichte mit einem und länger gehabt. Beispielsweise ist in einem noch lau- guten Ende abzuschließen. fenden Verfahren der Antragsteller bereits im Jahr 2019 (Beifall der Abg. Marianne Schieder [SPD]) verstorben. Die Verwaltung hat hier in Eigendynamik zwar rechtlich absolut korrekt gearbeitet, aber das Wort Die symbolische Entschädigung folgt dem Gedanken, „Fürsorge“ noch nicht verinnerlicht. dass die Benachteiligung und deren Folgen aus heutiger Sicht grundgesetzwidrig sind und waren. Unser Parlament, genauer: der Verteidigungsaus- (Beifall der Abg. [SPD]) schuss, hat gemeinsam mit der Bundeswehr einen Weg gefunden durch die Forderung nach einem runden Tisch 65 Jahre Bundeswehr brachten große Veränderungen mit Institutionen und Verbänden und die klare Aussage, mit sich. dass wir eine sofortige Entschädigung für diese Men- schen wollen; denn Fürsorge ist nicht nur während des Vizepräsidentin Petra Pau: Dienstes, sondern insbesondere nach dem Dienst erfor- Kollege Brunner, das wäre jetzt der Punkt gewesen. derlich. Ich bin zuversichtlich, dass wir dies gemeinsam, Parlament und Bundeswehr, auf den Weg bekommen, so wie wir in der ersten Phase nach Feststellung der Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Schädigungen von Radargeschädigten damals die bun- Ich komme zum Ende. – Ich darf mich für die Integra- desunmittelbare Deutsche Härtefallstiftung auf den Weg tion der Bundeswehr in der NATO, der Europäischen gebracht haben, die sich heute als rechtsfähige Stiftung Union und vor allen Dingen in diesem Parlament recht zum Beispiel auch mit den Folgen von „Breacher Brain“ herzlich bedanken und hätte mir gewünscht, dass wir beschäftigt. Sie kann soziale und finanzielle Hilfen über diese Debatte heute zum Anlass nehmen, mehr zu feiern. Jahre hinaus ermöglichen. Ich zitiere, Frau Präsidentin, mit Ihrer Erlaubnis aus dem Bericht des Wehrbeauftrag- Vizepräsidentin Petra Pau: ten 2019: Sie können weitermachen, aber dann auf Kosten des In besonders gelagerten Problemfällen kann auch Kollegen Felgentreu. die Deutsche Härtefallstiftung schnell Abhilfe schaffen. Sie übernimmt Aufgaben und Leistungen, Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): die der Dienstherr teilweise aus rechtlichen Gründen Das mache ich nicht, liebe Frau Präsidentin. – Deshalb nicht erbringen kann. sage ich: Vielen Dank. 24402 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heiterkeit kapiert, warum es richtigerweise Kriegsdienstverweige- (C) bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Fritz rung in der damaligen Wehrpflichtarmee gegeben hat. Bis Felgentreu [SPD]: Danke, Karl-Heinz!) heute ist die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung wichtig, auch wenn die Bundesregierung dies durch Vizepräsidentin Petra Pau: Rückforderung von Ausbildungskosten immer schwieri- ger macht. Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz ist im Übrigen Das Wort hat der Kollege Tobias Pflüger für die Frak- älter als die Bundeswehr selbst. Die Bundeswehr wurde tion Die Linke. erst durch die Wiederbewaffnung eingeführt. Das, was (Beifall bei der LINKEN) Sie quasi mit den Zivildienstleistenden machen wollen – Sie wollen sie zu zivilen Helfern der Bundeswehr degra- Tobias Pflüger (DIE LINKE): dieren –, das war nie Gedanke beim Zivildienst. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Zuerst zwei Vorbemerkungen. Eigentlich hat die AfD neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hier vier Anträge im Kontext der Bundeswehr angekün- digt, aber dann offensichtlich nur zwei auf die Reihe ge- Was die AfD will, ist „zurück in die alte Zeit“, diesmal bracht. Das ist auch irgendwie typisch; aber ehrlich ge- mit Kasernierung, zwölf Monaten Drill für alle jungen sagt ist es auch besser so. Männer. Und es ist schon interessant, was im Antrag nicht drinsteht. (Beifall bei der LINKEN – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Sonst machen die ja (Zuruf des Abg. Jan Ralf Nolte [AfD]) nichts!) Ich habe mir extra mal Ihre Broschüre „Streitkraft Bun- Einer der Anträge, die die AfD angekündigt und dann deswehr“ angeguckt; ich musste sie lesen. nicht auf die Reihe gebracht hat, wäre der Antrag zu ein- (Rüdiger Lucassen [AfD]: Das haben Sie gut satzbedingten psychischen Erkrankungen von Bundes- gemacht!) wehrsoldaten gewesen. Das ist ein sehr ernstes Thema. Dort steht drin, warum Sie das Ganze wollen. Da Bei nicht wenigen Soldatinnen und Soldaten treten durch schreiben Sie nämlich: „Deutschland erhebt Anspruch das Agieren in Auslandseinsätzen sogenannte Posttrau- auf eine militärische Führungsrolle in Europa.“ Aha! matische Belastungsstörungen auf – ein Thema, dem sich Dafür will also die AfD mehr Soldaten. Da sagen wir das Verteidigungsministerium widmet, aber nicht genug. als Linke klipp und klar: Solche deutschen Groß- Unabhängig davon, dass wir als Linke Auslandsein- machtfantasien lehnen wir ab. Das hat schon mehr als sätze der Bundeswehr grundsätzlich ablehnen, ist uns einmal zu Tod und Verderben geführt. (B) das Thema wichtig. Der BundeswehrVerband hat dazu (Beifall bei der LINKEN) (D) jüngst eine wichtige Studie vorgelegt mit einer Reihe von sinnvollen Vorschlägen, darunter auch, dass nicht Was die AfD hier propagiert, ist der alte Militarismus. nur Menschen in den Einsatzgebieten selbst PTBS haben Die Bundesregierung hat ja leider einen Rekordmilitär- können, sondern zum Beispiel auch Drohnenpiloten, die haushalt mit einem Volumen von 53,1 Milliarden Euro in Jagel, Schleswig-Holstein, stationiert sind. Auch hier nach NATO-Kriterien vorgelegt. Aber selbst das ist der ist eine Anerkennung von PTBS durch die Einsatzmit- AfD nicht genug. Jetzt sollen es noch mehr Soldaten – wirkung dringend notwendig. und ein paar Soldatinnen – werden. Die AfD ist eine Partei der Aufrüstung. Wie heißt es in dem Antrag? Zitat: (Beifall bei der LINKEN) Der Personalkörper muss unter Bedrohung auf- Kümmern Sie sich mehr um die Soldatinnen und Solda- wachsen und im Extremfall die Bundeswehr auf ten, die nach einem Auslandseinsatz unter den Einsatz- Kriegsstärke bringen können. erfahrungen leiden. Noch besser wäre es natürlich, die Soldatinnen und Soldaten erst gar nicht in die Auslands- Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was wir einsätze zu schicken. als Linke fordern. Wir wollen keine Aufrüstung, keine Militarisierung der Gesellschaft. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller Nun zu den Anträgen der AfD, die sie geschafft hat [Erlangen] [CDU/CSU]: Nein, die Abschaf- vorzulegen. Was wir in den Anträgen lesen mussten, ist fung! – Henning Otte [CDU/CSU]: Und trotz- AfD in Reinform: zurück zur vermeintlich guten alten dem stimmen Sie oft zusammen ab!) Zeit. Die AfD will die Wehrpflicht reaktivieren – für Männer. Für Frauen soll jetzt die Verpflichtung zu einem Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Broschüre Sanitätsdienst für den Verteidigungsfall ausgeplant wer- steht zum Beispiel auch: den. Was ein Unsinn! Mit dem Wehrdienst wird auch der Wehrwille des (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- deutschen Volkes gestärkt. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Oh! Das ist ein völlig überkommenes Rollenverständnis. Eijeijei!) Da steht doch tatsächlich – ich zitiere –: „Wer aus Es ist schon interessant, was Sie hier so als Ihre Positio- Gewissensgründen den Ehrendienst nicht antreten kann, nen formulieren. Und was sagte Herr Gauland? hat seinen Beitrag zur zivilen Verteidigung Deutschlands Die Deutschen haben ein gestörtes Verhältnis zur zu leisten.“ Die AfD hat offensichtlich bis heute nicht militärischen Gewalt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24403

Tobias Pflüger (A) (Zuruf von der LINKEN: Das ist auch gut so!) Soldatinnen und Soldaten sagen: Die große Mehrheit (C) Und warum? Weil sie – ach, wie schlimm! – Gewalt nicht der Menschen in der Bundeswehr erfüllt diesen Anspruch als legitime „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ mit Bravour. Es ist gerade auch in ihrem Interesse, dass betrachteten wie Clausewitz. Da wird es doch ganz deut- klargemacht wird, dass für Feinde der freiheitlichen lich: Die AfD will die Remilitarisierung der Gesellschaft, demokratischen Grundordnung, für Rechtsextremisten und sie will das Militär als ganz normales Mittel der und Reichsbürger, für Spione und Islamisten kein Platz Politik etablieren. Dazu sagen wir klipp und klar Nein. in der Bundeswehr sein darf. Da ist jeder Fall ein Fall zu viel, jeder Fall eine große Gefahr für Sicherheit und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Demokratie. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Wehrpflicht ist ausgesetzt. Das ist gut. Das wieder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) umzukehren, hilft niemandem. Die Bundeswehr wäre auf Wenn Rechtsextremisten in unseren Sicherheitsbehörden eine Wehrpflicht nicht vorbereitet. Was wir wollen, ist, entdeckt werden, dann braucht es schnellere Verfahren dass die Wehrpflicht nicht nur ausgesetzt wird, sondern und klarere, härtere Konsequenzen. abgeschafft wird. Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten (Beifall bei der LINKEN) Jahren mit vielen tapferen Soldatinnen und Soldaten Die Bundeswehr jetzt zu vergrößern, wäre eine Gefahr gesprochen, die Probleme aufgedeckt haben – ob es um für Frieden in Europa. Es wäre das grundfalsche Signal. Auslandseinsätze, um Rechtsextremismus oder um Rüs- Was wir brauchen, sind Abrüstung und Rüstungskontroll- tungsskandale ging –, mit Soldatinnen und Soldaten, die verträge. Aber davon versteht die AfD sowieso nichts. eben nicht wegschauen und ein hohes Verantwortungsge- Das kann sie nicht, und das sollte sie auch besser lassen. fühl zeigen. Die müssen wir stärker in dieser Haltung Die Wehrpflicht ist aus der Zeit gefallen, so wie die unterstützen. Antragsteller auch. Wir lehnen diesen AfD-Zwangsdienst Wir entscheiden als Parlament am Ende darüber, ob selbstverständlich ab. Soldatinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze ge- Vielen Dank. schickt werden. In elf Jahren im Verteidigungsausschuss habe ich eine Sache an unserer Arbeit besonders zu schät- (Beifall bei der LINKEN) zen gelernt – man sieht es seltener hier im Plenum, man erlebt es eher hinter den verschlossenen Türen des Aus- Vizepräsidentin Petra Pau: schusses –: Am Ende wollen alle demokratischen Frak- Das Wort hat die Kollegin Agnieszka Brugger für die tionen dieser Verantwortung gerecht werden, egal ob sie (B) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Auslandseinsätzen zustimmen oder sie kategorisch ab- (D) lehnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) So zum Beispiel, als uns die Soldatinnen und Soldaten Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): in Afghanistan und anderen Auslandseinsätzen erzählt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und haben, dass sie keine Möglichkeit haben, mit ihren Fami- Kollegen! Das erste Gesetz, das ich hier im Bundestag lien in Deutschland über Video zu telefonieren. Das Ver- begleiten durfte, war die Aussetzung der Wehrpflicht. teidigungsministerium meinte damals: „Das geht tech- Und jetzt kommen schon wieder welche mit dieser ver- nisch gar nicht“, obwohl nahezu alle anderen Staaten staubten Debatte um die Ecke, ganz so, als ob sie die das ermöglicht haben. Der Verteidigungsausschuss hat letzten zehn Jahre verschlafen hätten. Wobei Sie – das über Fraktionsgrenzen hinweg nicht lockergelassen und wurde hier zu Recht noch mal gezeigt – ja nicht nur gegen alle „Geht doch nicht“-Bedenkenträger das mög- zehn Jahre zurückwollen, sondern in noch viel dunklere lich gemacht, auch wenn sicherlich noch nicht alles per- Zeiten. Aber ich bin mir sicher, dass dies nicht der Hinter- fekt ist. grund für die Forderung der AfD ist. Mit Sorge höre ich, Und als es um an Körper und Seele verwundete Solda- dass im Zusammenhang mit der Wehrpflicht auch aus tinnen und Soldaten ging, haben wir gemeinsam die einer ganz anderen Ecke eine Frage gestellt wird: Würde ursprüngliche Rechtsauffassung des Ministeriums wider- die Einführung der Wehrpflicht nicht gegen Rechtsextre- legt. Wir haben auch hier gegen die „Geht nicht“-Front mismus in der Bundeswehr helfen? – Ich glaube, nein. die Beweislast zugunsten der Betroffenen umgekehrt. Die Lehre aus den letzten Jahren muss doch sein, dass Und wir machen weiter Druck, dass sich Behandlung eben nicht jeder dort richtig ist, sondern dass man viel- und Betreuung verbessern und die belastenden Wartezei- mehr genauer hinschauen muss, ten geringer werden. (Jan Ralf Nolte [AfD]: Dann müssen Sie uns zustimmen!) In diesem Sinne werden wir von den demokratischen Fraktionen weiter zusammenarbeiten, in der Verantwor- wer mit welcher Motivation den Dienst bei den Streit- tung gegenüber unserer Parlamentsarmee. Schaufenster- kräften leistet. anträge, selbsternannte Fürsprecher und verstaubte Ant- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) worten aus der Mottenkiste hat es dafür in den letzten Legislaturperioden nicht gebraucht, und die braucht es Wer in unserer Demokratie das Gewaltmonopol aus- auch jetzt nicht. übt, an den stellt die Gesellschaft zu Recht sehr hohe Anforderungen. Ich kann nach vielen Gesprächen mit Vielen Dank. 24404 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Agnieszka Brugger (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gute haften. Es stimmt: Die Wehrpflicht oder der Zivil- (C) sowie bei Abgeordneten der SPD) dienst war das letzte Element in unserer Gesellschaft, welches sehr stark verdeutlichte: Dieser Staat gibt dir Vizepräsidentin Petra Pau: nicht nur etwas, sondern er kann dir für die Sicherheit Deutschlands auch eine Pflicht auferlegen. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Ingo Gädechens das Wort. In meinen aktiven Dienstjahren war ich ein starker Befürworter der Wehrpflicht; aber die Zeiten haben sich (Beifall bei der CDU/CSU) rasant geändert. Die Anforderungen an modernes Gerät, eine immer anspruchsvollere Ausbildung beförderten Ingo Gädechens (CDU/CSU): schon damals die Wehrpflichtigen immer mehr ins Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- Abseits. Als sich nach der Bundestagswahl 2009 die legen! Die AfD hat sich in dieser Woche ja wieder so FDP und die CDU/CSU darauf einigten, die Wehrpflicht einiges geleistet. Was liegt da näher, als an einem Frei- auf nur noch sechs Monate zu reduzieren, war mir tagvormittag über zwei inhaltslose Anträge dieser Frak- bewusst, dass solche Wehrpflichtigen die aktive Truppe tion zu debattieren? mehr be- als entlasten würden. Der eigentliche Auftrag Nach Ihrer Auffassung soll durch die Reaktivierung der Bundeswehr lautete damals wie heute: Bündnis- und der allgemeinen Wehrpflicht endlich wieder eine Armee Landesverteidigung und nicht Schule der Nation, um von Bürgern in Uniform entstehen. Aus welcher Motten- eventuell vorhandene Defizite aus der Jugend- oder kiste, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kol- Schulzeit zu reparieren. legen der AfD-Fraktion, stammt denn bitte dieser Satz? Mit der Aussetzung der Wehrpflicht vor zehn Jahren (Zuruf des Abg. Jan Ralf Nolte [AfD]) wurde der gesamte Apparat an freiwillig dienstleistende Zeit- und Berufssoldaten angepasst. Kreiswehrersatzäm- Merken Sie gar nicht, dass Sie damit den jetzt aktiven ter mussten nicht mehr Heerscharen von jungen Männern Zeit- und Berufssoldaten unserer Bundeswehr attestieren, auf Diensttauglichkeit untersuchen. Die Zahl von Ein- dass sie nach Ihrer Diktion keine Bürger in Uniform sind, und Auskleidekammern wurde dezimiert, Ausbildungs- (Florian Hahn [CDU/CSU]: Sehr richtig!) kapazitäten angepasst und individualisiert. Die Grund- ausbildung konnte professionalisiert werden, weil man sondern nach Ihrer Meinung dafür dringend eine Wieder- nun wusste, dass die Soldatinnen und Soldaten nicht einführung der Wehrpflicht notwendig ist? – Nein, ich nur für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung stehen, stelle mich vor die Soldatinnen und Soldaten, die jetzt sondern dass die Ausbildung für sie weitergehen kann. in der Bundeswehr aktiv ihren Dienst leisten. Das sind (B) Bürger in Uniform. Eine seriöse Antwort, wie und mit welchem finanz- (D) iellen Aufwand das Rad nun wieder zurückgedreht wer- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- den soll, bleibt uns die AfD als Antragstellerin natürlich NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- schuldig. ten der SPD und der FDP) Meine Damen und Herren, machen Sie weiter in Ihren Wie rückwärtsgewandt und aus der Zeit gefallen Ihre rückwärtsgewandten Träumereien. Meine Fraktion, die Formulierungen im Antragstext sind, erkennt man an nur CDU/CSU-Fraktion, wird sich um die wirklichen, um wenigen Sätzen. Mir scheint, die AfD hat sich das Ziel die zukunftsfähigen Aufgaben für die Bundeswehr küm- gesetzt, die Lufthoheit über Stammtische zu erreichen, mern. Darin sehen wir unsere Aufgabe, und deshalb leh- die es in Wirklichkeit gar nicht mehr gibt. Alles getreu nen wir diesen Antrag in konsequenter Art und Weise ab. dem Motto: Früher war alles besser. Meine Damen und Herren, früher war nicht alles besser. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich habe weit über 30 Jahre in dieser unserer Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wehr gedient, habe Wehrpflichtige kommen und gehen ordneten der SPD) gesehen. Ich habe viele positive Erfahrungen hinsichtlich der unterschiedlichen Charaktere, die aus den unter- Vizepräsidentin Petra Pau: schiedlichsten sozialen Verhältnissen kamen und ganz Das Wort hat der Abgeordnete für die AfD- unterschiedliche geistige Fähigkeiten in die Truppe ein- Fraktion. gebracht haben. Der hochintelligente Abiturient merkte schnell, dass auch der nicht so schlaue Hauptschüler (Beifall bei der AfD) Fähigkeiten in die Gruppe, in den Zug, in die Kompanie mit einbrachte, die für ein gut funktionierendes Team von Jan Ralf Nolte (AfD): elementarer Bedeutung waren. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Ja, es stimmt, die Bundeswehr wie auch der Zivildienst und Herren! Derzeit sind mehr als 21 000 Stellen in der waren so etwas wie eine Schule der Nation, in der man Bundeswehr unbesetzt. Das klingt schlimm, aber die Rücksichtnahme, Toleranz und Teamfähigkeit erlernen Realität ist noch schlimmer. Die Musterungskriterien konnte – ein wunderbarer Nebeneffekt für einen an- wurden gelockert, damit man heute auch Bewerber zu spruchsvollen und fordernden Dienst an der Waffe. An Soldaten machen kann, die man früher nicht genommen diesen Nebeneffekt erinnern sich viele mittlerweile älter hätte. Es ist seit Aussetzung der Wehrpflicht auch deut- gewordene Männer, Herr Lucassen, sehr gerne, und in lich schwerer geworden, ungeeignete Rekruten wieder den Erinnerungen bleibt bekanntlich oftmals nur das loszuwerden. Sprechen Sie mal mit den Ausbildern. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24405

Jan Ralf Nolte (A) Die Soldaten sollen länger in der Bundeswehr bleiben, sind. Dies nicht zu wollen, hieße ja: Ich will gar nicht (C) die Bundeswehr soll also älter werden, und es sind zum wissen, welche Risiken für unsere Soldaten entstehen. Teil von vornherein viel zu wenig Stellen ausgeplant. Es Und das, liebe Kollegen, wäre ja völliger Wahnsinn. gibt Bataillone, die auf dem Papier eine gute Personal- (Henning Otte [CDU/CSU]: Völlig falsche lage aufweisen, die mit ihren Leuten aber nur deswegen Interpretation!) klarkommen, weil das Material, das ihnen zustünde, auch nicht da ist. Deswegen rechne ich nachher mit breiter Zustimmung zu unserem Antrag. Die Wehrpflicht bringt jungen Menschen wichtige Tugenden für das ganze Leben bei und vereint Bundes- Danke. wehr und Gesellschaft. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Vizepräsidentin Petra Pau: Frank-Walter Steinmeier, den ich sicherlich nicht oft Dr. Fritz Felgentreu hat nun für die SPD-Fraktion das zitiere, beklagt in seiner Rede zum 65. Geburtstag der Wort. Bundeswehr, dass das Wissen über die Bundeswehr mit Aussetzung der Wehrpflicht abgenommen habe. Hier (Beifall bei der SPD) sehen Sie, liebe SPD, dass eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht auch Ihnen direkt zugutekäme; dann würde Dr. Fritz Felgentreu (SPD): in Zukunft nämlich wieder jeder den Unterschied zwi- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum wie- schen deutschen und belgischen Soldaten erkennen. derholten Mal ruft die AfD-Fraktion das Thema Wehr- pflicht auf. Sie wollen die Reform von 2011 rückgängig (Beifall bei der AfD – Henning Otte [CDU/ machen, mit der die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. CSU]: Tätä, tätä, tätä!) Lassen Sie mich eine Anmerkung vorausschicken: Die Wer im Bundestag regelmäßig die Solidarität mit der Jahre der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013, Bundeswehr betont, der kann sich vor der Wiedereinfüh- lieber Ingo Gädechens, waren schlechte Jahre für die rung der Wehrpflicht nicht länger drücken. Und ja, dafür Bundeswehr. Der Verteidigungsetat stagnierte, und kurz- brauchen wir Einheiten, Infrastruktur und Ausrüstung, sichtige Sparmaßnahmen, zum Beispiel der weitgehende wir können die Wehrpflicht nicht übermorgen wieder ein- Verzicht auf die Bevorratung mit Ersatzteilen, haben die führen; das ist vollkommen klar. Aber wenn wir heute Einsatzbereitschaft massiv geschwächt. planen, wie das deutsche Heer im Jahre 2032 aussehen (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Jetzt kommt (B) soll oder welches Kampfflugzeug wir im Jahr 2040 haben (D) wollen, liebe Kollegen, dann können wir uns auch jetzt wieder die These „Seit die SPD dran ist, ist für die Wiedereinführung der Wehrpflicht entscheiden. der Militäretat hoch“!) Dass es noch ein paar Jahre dauert, bis das dann umge- Und auch die Wehrpflicht wurde mit einer ebenfalls nicht setzt ist, ist überhaupt kein Hinderungsgrund. durchdachten Reform ausgesetzt, bei der es vor allem darum ging, dass sich der damalige Verteidigungsmi- (Beifall bei der AfD) nister in der Öffentlichkeit als mutiger Modernisierer Wer meint, dass man aufgrund von moderner Technik stilisieren wollte. Die SPD hat dem Gesetz damals aus heute keine Wehrpflichtigen mehr brauche, der möge dies gutem Grund nicht zugestimmt. Seitdem wir wieder ein bitte auch Staaten wie Russland, China oder Israel erzäh- Teil der Regierungsmehrheit sind, arbeiten wir daran, die len – alles Staaten, die Streitkräfte haben, die uns in Erblast dieser vier Jahre abzutragen, und wir sind immer vielen Punkten technisch voraus sind und die Wehrpflich- noch nicht am Ziel. tarmeen sind. Tun wir Gesellschaft und Bundeswehr Mit dem AfD-Antrag könnte ich es mir einfach etwas Gutes, und führen wir die Wehrpflicht wieder ein! machen. Sie gehen mit keinem einzigen Wort auf die verfassungsrechtlichen und praktischen Probleme ein, (Beifall bei der AfD) die mit der Rückkehr zur Wehrpflicht zusammenhängen. Kurz noch ein Wort zu unserem zweiten Antrag. Der Die Voraussetzungen dafür sind einfach nicht da. Die bezieht sich auf die gesundheitlichen Risiken, denen Sol- Wehrpflicht muss nach dem Grundgesetz mit den Erfor- daten ausgesetzt sind, die regelmäßig mit leichten Druck- dernissen der Sicherheit Deutschlands begründet werden. wellen zu tun haben; beispielsweise die Breacher der Das kann in der gegenwärtigen Lage nicht gelingen, und Spezialkräfte. Herr Otte, wenn Sie sagen, es gebe noch wir sollten uns hier auch alle keine Lage wünschen, in der keinen einzigen Fall, dann zeigt das, dass Sie sich damit es doch wieder gelingen könnte. nicht so richtig befasst haben; denn das gehört zu dem, Und was die Praxis angeht: Der Umbau der Bundes- was man eben noch erforschen muss. wehr zur Freiwilligenarmee ist abgeschlossen. Das (Zuruf des Abg. Henning Otte [CDU/CSU]) bedeutet: Sie hat keine Unterkünfte für Wehrpflichtige mehr, keine Ausbilder, keine Waffen, kein Gerät. Die Wie wirken sich diese ständigen, wiederholten Druck- gesamte Struktur müsste neu aufgebaut werden. Die da- wellen aus? Was sind Symptome daraus? – Das war für notwendige Anstrengung wäre gerade kein Beitrag also der beste Beweis dafür, dass diese Forschung nötig zur Stärkung von Bündnis- und Landesverteidigung – ist. Das fordern wir. Wir möchten nur, dass herausgefun- im Gegenteil! Die Wiedereinführung der Wehrpflicht den wird, welchem Risiko unsere Soldaten ausgesetzt würde die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr um 10 24406 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Dr. Fritz Felgentreu (A) bis 15 Jahre zurückwerfen und behindern. Sie zitieren ja der Ehrlichkeit, denen, die aus absolut verständlichen (C) in Ihrem Antrag Hans-Peter Bartels – ein kluger Mann. Er Gründen der Wehrpflicht nachtrauern, die Wahrheit zu ist exakt dieser Meinung; Sie sollten ihm besser zuhören. sagen. Es gibt kein Zurück in die 80er- oder auch nur in (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: die 90er-Jahre! Deswegen haben Sie ihn auch nach Hause (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias geschickt!) W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann gäbe es wenigstens wieder „Magnum“ im Fernsehen! Dazu kommt, dass ein solcher Schritt die Bündnisfä- Das wäre gar nicht so schlecht!) higkeit Deutschlands schwächen würde. Um heute als Bündnispartner bestehen zu können, braucht die Bundes- Diese Bundeswehr gibt es nicht mehr, und sie kommt wehr sowohl in den Einsätzen als auch bei Übungen und auch nicht mehr zurück. Ich rekapituliere kurz, warum einsatzgleichen Verpflichtungen in der Bündnis- und das so ist: Landesverteidigung hochprofessionelle Streitkräfte. Der Erstens. Rekrutierungssorgen und die Verankerung der notwendige Ausbildungsstand ist mit einer einjährigen Bundeswehr in der Gesellschaft sind keine Begründun- Wehrpflicht nicht zu erreichen. Die im Vergleich ober- gen, die sich aus dem Grundgesetz ableiten lassen. Dort flächliche Ausbildung der Wehrpflichtigen aber würde sind die Erfordernisse der Sicherheit ausschlaggebend. der Truppe Personal mit gutem Ausbildungsstand entzie- Zweitens. Die Gründe für die Aussetzung der Wehr- hen: für Führung und Ausbildung. Ein weniger bündnis- pflicht sind inzwischen nicht entfallen; vor allem ist auf fähiges Deutschland ist aber auch ein weniger sicheres der Basis einer zwölfmonatigen Wehrpflicht Wehrge- Deutschland. Die AfD würde mit ihrer Politik genau das rechtigkeit nicht zu erreichen. Eine noch kürzere Wehr- Gegenteil von dem bewirken, was sie angeblich erreichen pflicht wäre militärisch sinnlos. will. Drittens. Der von Ihnen geforderte Weg ist nicht prak- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tikabel. Die Rückkehr zur Wehrpflicht würde die Bundes- Es wäre also relativ leicht, Ihren Antrag aus sachlichen wehr auf unabsehbare Zeit nicht stärker, sondern schwä- Gründen zurückzuweisen. Ich will es dabei aber nicht cher machen. bewenden lassen. Wenn ich Ihren Antrag lese, erkenne Eine denkbare Perspektive besteht allenfalls in dem ich neben der national-konservativen Verklärung wehr- immer wieder heiß diskutierten Modell einer allgemeinen politischer Ideen des 19. Jahrhunderts auch Motivatio- Dienstpflicht für junge Menschen beiderlei Geschlechts. nen, die eine eigene Auseinandersetzung verdienen. Darüber gibt es im Lande und auch in meiner Partei unter- Lassen Sie mich etwas weiter ausholen. Bei meinen schiedliche Meinungen: (B) Standortbesuchen mache ich immer wieder die Erfah- (Marianne Schieder [SPD]: Genau!) (D) rung, dass das Thema Wehrpflicht die Soldaten und Sol- datinnen beschäftigt. Gerade die Dienstälteren, oft vor Die einen sehen es als unzulässigen Eingriff in die indi- allem Portepeeunteroffiziere, empfinden die Lücke, die viduelle Freiheit, die Aussetzung der Wehrpflicht gerissen hat, durchaus (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) und auch schmerzlich. Sie vergleichen die Bundeswehr die anderen als sinnvollen Beitrag zu mehr Gemeinsinn, von heute mit der Bundeswehr, in der sie selber groß der unserer fragmentierten Gesellschaft guttun würde. geworden sind, und stellen fest, dass sie die Zeiten der Dazu tendiere auch ich eher. Beide Seiten haben starke Wehrpflicht in guter und im Vergleich oft in besserer Argumente. Die Sicherheit Deutschlands aber, und das ist Erinnerung haben. Manch einer hat seinen Weg zum entscheidend, wird normalerweise weder in Argumenten Berufssoldaten als Wehrpflichtiger begonnen; das kommt pro noch kontra allgemeine Dienstpflicht angeführt. dazu. Die Voraussetzung für eine so große Reform wäre in Die Stichworte, die in diesem Zusammenhang fallen, jedem Falle ein so breiter gesellschaftlicher und politi- haben in der Regel wenig mit Einsatzbereitschaft und scher Konsens, dass er eine Änderung des Grundgesetzes Bündnisfähigkeit zu tun. Die Wehrpflicht steht hier für möglich macht. Das zeichnet sich aber noch nicht einmal eine tiefere Verankerung der Bundeswehr in der Gesell- ansatzweise ab. schaft als ganzer. Und natürlich: Wenn jede Familie sich Lassen Sie uns also deshalb vor allem daran arbeiten, mit dem Thema auseinandersetzen muss, ob ihre jungen wie wir die Probleme der Bundeswehr mit den Mitteln Männer Wehr- oder Zivildienst leisten, dann wird die lösen, die uns realistischerweise zur Verfügung stehen. Bundeswehr viel stärker als integraler Bestandteil des Bekennen wir uns zu unserer Parlamentsarmee, die aus großen Ganzen wahrgenommen. Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen in Uniform besteht. Und die Wehrpflicht fehlt vielen auch als Talentreser- Gerade in diesen Tagen der Coronapandemie sprechen voir. Wie oft haben junge Männer erst als Wehrpflichtige wir davon, wie wichtig der Dienst der Soldaten und Sol- gemerkt, dass der Beruf des Soldaten ihre Berufung ist, datinnen für unser Land ist. Und lassen Sie uns diese und haben dann ihr Berufsleben in den Dienst der Lan- Bundeswehr so ausstatten, dass alle, die darin dienen, desverteidigung gestellt. Diesen Weg in die Truppe gibt ihren Dienst als sinnvoll und erfüllend erleben und diese es nicht mehr, und ich würde gar nicht bestreiten, dass er Zufriedenheit in ihrem persönlichen Umfeld auch aus- fehlt. strahlen. Dann ist mir um geeigneten und motivierten Ihr Lösungsweg aber, meine Damen und Herren, ist Nachwuchs für die Bundeswehr – auch ohne Wehr- entweder eine Illusion oder – wenn Ihnen nämlich klar pflicht – überhaupt nicht bange. ist, dass es so nicht geht – eine Scharade. Es ist ein Gebot Danke schön. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24407

Dr. Fritz Felgentreu (A) (Beifall bei der SPD – Henning Otte [CDU/ Deswegen steht in Ihrem Antrag eben nicht, wie man die (C) CSU]: Gute Rede!) Bundeswehr ins 21. Jahrhundert führt, wie man daraus eine moderne Armee macht, die auch in Zukunft ein Vizepräsidentin Petra Pau: intensives Gefecht bestehen kann. Ich nutze die Zeit, in der das Pult gereinigt wird, um Was braucht also die Bundeswehr? Die Bundeswehr meine Entscheidung gerade eben zu erläutern. Der Abge- braucht keine weiteren Grundsatzreden; davon haben ordnete Lucassen hatte sich eben noch einmal zu einer wir genug gehört. Die Bundeswehr braucht drei Dinge: Frage oder Bemerkung gemeldet. Ich kann das natürlich Erstens: Geld. Sie von der AfD wollen Milliarden in zulassen; aber der Abgeordnete Lucassen hat für seine die Wiedereinführung der Wehrpflicht stecken, um dann Fraktion in der Debatte gesprochen, mit dem Volkssturm Interkontinentalraketen abzufangen (Marianne Schieder [SPD]: Ja! Schlimm genug!) (Heiterkeit des Abg. Alexander Graf Lambsdorff [FDP]) hat eine Frage gestellt, und ich bin gehalten, auch dafür zu sorgen, dass die Debatte entsprechend weitergeht und und mit Wehrpflichtigen Cyberangriffe abzuwehren. sich nicht Redezeiten verdoppeln und verdreifachen. Das Dass das irre ist, kann, glaube ich, jeder erkennen. ist der Hintergrund meiner Entscheidung gerade eben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort hat nun Dr. Marcus Faber für die FDP-Frak- der CDU/CSU – Jan Ralf Nolte [AfD]: Das ist tion. so lächerlich, Herr Kollege! Sie reden gar nicht zur Sache! Ein Schwachsinn! – Gegenruf der (Beifall bei der FDP) Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Lassen Sie stecken! Sie sollten mal Dr. Marcus Faber (FDP): zuhören! Nehmen Sie mal Haltung an!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Werte rechtsextre- Das ist allerdings keine Begründung dafür, warum das me Fraktion, Verteidigungsministerium sich hinter Rechenspielen zur NATO-Quote versteckt. Der jetzt hinterlegte Haushalt, (Heiterkeit der Abg. Marianne Schieder [SPD]) der sich gerade in der Abstimmung befindet, kann den Sie beginnen Ihren Antrag mit Bezug auf die Preußische Investitionsbedarf nicht decken; er kann auch die Bünd- Heeresreform von 1807 nisverpflichtung in der NATO nicht decken. Deswegen sehen wir hier keine Zukunftsfähigkeit bei Ihrer Politik. (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Da sind sie auch (B) geblieben!) Zweitens: Beschaffungsdebakel. Bringen Sie Ihre (D) Strukturen in Ordnung! Sie brauchen Jahre, um ein und übersehen dabei, dass dazwischen über zweihundert Sturmgewehr zu beschaffen, und schaffen es dennoch Jahre militärtechnische Entwicklung und auch zwei ver- nicht, das Projekt über die Ziellinie zu bringen. Frank- lorene Weltkriege liegen. Die Zeit hat sich weiterentwi- reich braucht dafür ein Jahr und ist dabei erfolgreich. ckelt; das sollte auch bei Ihnen ankommen. Vielleicht nehmen Sie sich daran mal ein Beispiel. Was steht in Ihrem Antrag? In Ihrem Antrag steht, wie Ansonsten müssen Sie sich nicht wundern, wenn der man die Bundeswehr noch ineffektiver machen kann. französische Staatspräsident Ihnen mit Anlauf vors Schienbein tritt. Es geht jetzt nämlich nicht mehr um (Jan Ralf Nolte [AfD]: Nur Geschwafel von Grundsatzreden, sondern – das ist der dritte Punkt – jetzt Ihnen! Setzen Sie sich wieder hin!) geht es um Machen, Machen, Machen. In der Truppe Wenn man die Bundeswehr nachhaltig schädigen möchte, heißt es: Machen ist wie Wollen, nur krasser. – Ich glau- dann führt man jetzt die Wehrpflicht wieder ein. Das ist be, daran kann sich das Bundesverteidigungsministerium der sicherste Weg, um die Bundeswehr nachhaltig zu mal orientieren. schädigen. Ich glaube, es ist sinnvoll, wenn sich die Ministerin (Zurufe des Abg. Jan Ralf Nolte [AfD]) mehr mit Soldatinnen und Soldaten unterhält und etwas Das sage nicht nur ich; das sagt der oberste Soldat in weniger mit Herrn Laschet und Herrn Merz. Deutschland, der Generalinspekteur der Bundeswehr. Vielen Dank. Vielleicht hören Sie da mal zu. (Beifall bei der FDP) Sie wollen wieder Wehrpflichtige auf den Kasernen- höfen und übersehen dabei, dass es viele dieser Kasernen- höfe gar nicht mehr gibt, dass es auch die Ausbilder nicht Vizepräsidentin Petra Pau: mehr gibt. Herr Abgeordneter Faber, ich werde mir das Vorab- protokoll bringen lassen und werde prüfen, inwieweit (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das ist doch für Ihre Anrede nach der Begrüßungsformel eine entspre- kein Argument!) chende Rüge oder Ordnungsmaßnahme angesagt ist. Ich Und was man dann auch mit diesen Wehrpflichtigen in behalte mir das vor. einer modernen, spezialisierten Bundeswehr macht, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sagen Sie auch nicht. NEN]: Wegen Verharmlosung? – Gegenruf (Zuruf des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD]) von der AfD: Wegen Beleidigung!) 24408 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) – Herr Kollege Trittin, Sie bewegen sich gerade auf Herr Lucassen, Herr Gauland, nach dem, was wir am (C) einem schmalen Grat, ganz egal, wie die Abgeordnete Mittwoch hier in diesem Haus durch Schleuser Ihrer Pau sich verhalten würde, wenn sie für ihre Fraktion un- Fraktion erlebt haben, und nach dem, was nach einer geh- terwegs wäre. euchelten Entschuldigung von Ihnen heute hier abging, ist es, finde ich, ein starkes Stück, dass Sie sich jetzt allen (Rüdiger Lucassen [AfD]: Na, na, na! Neutra- Ernstes an dieses Pult stellen und über Sicherheit und lität!) Sicherheitspolitik reden wollen. Im Moment ist hier die Vizepräsidentin Pau, die entspre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chend die Verhandlungen führt. und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und CDU/CSU und der SPD und des Abg. Stefan des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Liebich [DIE LINKE]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben jeden Das Wort hat Dr. Tobias Lindner für die Fraktion Anspruch verspielt, den Soldatinnen und Soldaten Tipps Bündnis 90/Die Grünen. zu geben, wie man anständig und aufrecht diesem Land, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) seinen Werten und seinen Institutionen dient. Deswegen: Ziehen Sie am besten Ihren Antrag zurück. Hierzu ist alles gesagt. Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Vielen Dank. Kollegen! Reden wir mal über die Probleme, die die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundeswehr heute tatsächlich hat. Die Probleme resultie- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ren aus einer unklaren politischen Strategie: Träume über SPD und der FDP) den Indopazifik, während man es noch nicht mal schafft, ein Sturmgewehr zu beschaffen; das ist jetzt wirklich nicht unbedingt Rocket Science, um es Neudeutsch zu Vizepräsidentin Petra Pau: sagen. Die Probleme liegen beim Material, dessen Be- Das Wort hat der Kollege Jens Lehmann für die CDU/ schaffung lange dauert, noch mehr kostet und am Ende CSU-Fraktion. des Tages doch nicht funktioniert. Und ja, die Probleme (Beifall bei der CDU/CSU) liegen auch beim Personal und in Stellen, die nicht be- setzt sind. Jens Lehmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD- (B) Was braucht es dafür? Dazu braucht es eine verant- (D) wortungsbewusste Art der Rekrutierung, dazu braucht Fraktion arbeitet sich ja nun schon länger an der Wehr- es Verlässlichkeit seitens des Dienstherrn, dazu braucht pflicht ab. Aber selbst wenn Sie von Scharnhorst zitieren, es Planbarkeit des Dienstes in der Bundeswehr und Per- werden Ihre Argumente nicht besser. Dabei sollten Sie spektiven für die Zeit nach dem Dienst. Das alles braucht die Signale aus der Bundeswehr einfach mal richtig deu- es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Darüber hätte die ten. Die Truppe selbst sagt, dass sie einer Reaktivierung AfD heute in ihrem Antrag ja sprechen können. Und der Wehrpflicht sehr kritisch gegenübersteht. Wer so was machen Sie stattdessen? Sie wollen die Probleme wenig am Puls der Truppe ist, sollte nicht von sich der Bundeswehr von heute und von morgen mit den Ideen behaupten, die Partei der Soldaten zu sein. von gestern und vorgestern lösen. Das verrät vieles über (Henning Otte [CDU/CSU]: Sind sie ja auch Ihre Kompetenz auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik. nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, der Bundestag hat vor sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und knapp zehn Jahren beschlossen, die Wehrpflicht auszu- der SPD) setzen. Ja, dieser Schritt war schmerzhaft. Die Wehr- Sie nehmen in Ihrem Antrag ja Bezug auf die preußi- pflicht war zu Zeiten des Kalten Krieges sinnvoll und schen Heeresreformer: auf Gneisenau, auf Clausewitz, hat sich damals bewährt. Aber die Zeiten haben sich auf Scharnhorst. Das waren Menschen ihrer Zeit, die geändert. Darauf hat die Politik reagiert. Steigende die Probleme ihrer Zeit mit Mitteln ihrer Zeit beantwor- Einsatzverpflichtungen und die sinkende Zahl der Wehr- ten wollten. Wenn heute Soldatinnen und Soldaten einem pflichtigen in Deutschland waren damals die wesentli- demokratischen Deutschland – um Bundespräsident chen Treiber, die Wehrpflicht auszusetzen und stattdessen Gauck zu zitieren: „das beste, das wir kennen“ – dienen, das System der freiwillig Wehrdienstleistenden zu instal- dann muss der Dienstherr, dann muss dieses Hohe Haus lieren. Der Grundgedanke von damals ist auch heute noch ja vor allem eine Frage beantworten: Wofür kämpfen? richtig: Ein längerer freiwilliger Dienst ermöglicht die Wenn Soldatinnen und Soldaten schwören und geloben, Ausbildung für das gesamte aktuelle Einsatzspektrum das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu der Bundeswehr, was mit einem Wehrdienst in seinem verteidigen, dann ist das der Kern dessen, wofür sie klassischen Sinne nicht mehr möglich war. kämpfen. Es geht nicht darum, einen Ehrendienst, so Werte Kollegen, wir alle wissen, dass die Bundeswehr wie Sie es schreiben, zu leisten, der inhaltsleer ist, son- ihrer originären Aufgabe der Landes- und Bündnisver- dern die Soldatinnen und Soldaten eines demokratischen teidigung wieder mehr Aufmerksamkeit widmen muss. Deutschlands sind dem Grundgesetz, seinen Institutionen Die geopolitischen Verhältnisse haben sich nicht zum und den Werten, auf denen es basiert, verpflichtet. Besseren verändert. Im Gegenteil: Wir sehen, dass Russ- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24409

Jens Lehmann (A) land unverhohlen seine alte Stärke wiederaufleben lassen der Bundeswehr attraktiver zu machen; denn dadurch (C) will, und wir sehen, dass China mehr und mehr Einfluss gewinnen wir motivierte junge Menschen für den Dienst nimmt. Dennoch ist der Weg, den die AfD mit ihrem in den Streitkräften. Antrag gehen will, nicht der richtige. Denn die Antwort Danke. auf die Frage nach der Zahl von mindestens 30 000 Wehr- pflichtigen – wie kommen Sie auf diese Zahl? – bleibt die (Beifall bei der CDU/CSU) AfD schuldig. (Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Petra Pau: GRÜNEN]: Ja!) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion. 2009 hatten wir zuletzt 68 000 Grundwehrdienstleis- tende und freiwillig länger dienstleistende Soldaten ein- (Beifall bei der CDU/CSU) gezogen. Schon damals hieß es, die Wehrgerechtigkeit sei nicht mehr gegeben, da der überwiegende Teil eines Jahr- Florian Hahn (CDU/CSU): ganges nicht mehr eingezogen wurde. Meine Damen und Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Herren, diese Ungerechtigkeit würde der AfD-Antrag legen! Ich bin im Oktober 1995 meinen Wehrdienst bei sogar noch vergrößern. Denn wie wollen Sie den 30 000 der 1. Gebirgsdivision angetreten. Ich habe dort gerne jungen Männern erklären, warum sie jetzt ihren zwölf- gedient. Ich war einer von zwei Abiturienten in meinem monatigen Dienst antreten müssen, die überwiegende Zug. Wir waren acht Mann auf der Stube. Ich habe da Mehrheit aus ihrem Jahrgang aber eine Ausbildung oder Erfahrungen gemacht, die ich wahrscheinlich ohne die ein Studium beginnen kann? Mit Ihrem Antrag zementie- Bundeswehr nie gemacht hätte. Ich habe Freundschaften ren Sie die Ungleichheit eines Jahrgangs. Das kann nie- geknüpft, die bis heute halten, und möchte diese Erfah- mand wollen. rung tatsächlich nicht missen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen war ich 2010, als zum ersten Mal diskutiert Lassen Sie uns vielmehr darüber diskutieren, wie wir wurde, ob wir möglicherweise die Wehrpflicht aussetzen, die Bundeswehr attraktiver für junge Menschen machen, tatsächlich auch ein Stück weit geschockt von meinem damit die Leute freiwillig zur Bundeswehr gehen. Diesen eigenen Parteikollegen und damaligen Verteidigungsmi- Punkt haben Sie ja richtigerweise in Ihrem Antrag nister. Ich habe heftig mit ihm gestritten, und er hat ge- erkannt. Ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin: sagt: Florian, tue mir einen Gefallen. Nutze die Möglich- keiten als Abgeordneter, geh in die Truppe und schau dir Die Bedingungen und Chancen des Wehrdienstes an, wo heute – damals, 2010 – die Wehrpflicht steht. (B) müssen so beschaffen sein, dass sich idealerweise (D) die jungen Männer um die Wehrpflicht-Stellen Ich habe das gemacht und festgestellt: Die Erfahrungs- bewerben. welt der Wehrpflichtigen 2010 war nicht mehr die Erfah- rungswelt von 1995, war nicht mehr meine. Der Blick auf Zitat Ende. – Das kommt ja faktisch einer Freiwilligkeit die Organigramme, wo Wehrpflichtige eingesetzt waren, gleich, und damit würden wir viel mehr erreichen. Denn hat gezeigt: Das hatte nichts mehr damit zu tun, die Trup- wer sich freiwillig meldet und um den Dienst in der pe tatsächlich zu unterstützen und notwendig zu sein, um Bundeswehr bewirbt, macht dies aus Überzeugung. Diese verteidigungsfähig zu sein. Deswegen war es richtig, da- Motivation brauchen wir. Wir müssen dafür sorgen, dass mals die Wehrpflicht auszusetzen. Sie hätte vermutlich der Dienst in der Bundeswehr so attraktiv und in der einer nächsten Überprüfung, auch vor dem Bundesver- Gesellschaft anerkannt wird, dass sich viele junge Men- fassungsgericht, nicht mehr standgehalten. schen freiwillig für den Dienst in der Bundeswehr ent- scheiden und damit aktiv unsere Werte verteidigen und Jetzt zum Antrag der AfD. Im Antrag der AfD wird unser Land in Frieden und Freiheit bewahren. klar: Es soll die Wehrpflicht nur für Männer geben. Es soll dezidiert keinen Zugang für Ausländer geben; auch Um den Dienst in den Streitkräften für junge Men- nichtdeutsche Freiwillige haben keinen Zugang. Die schen so attraktiv wie möglich zu machen, haben wir Frauen sollen bitte einen Sozialdienst ableisten – auch nunmehr zwei Säulen, die sich sehr gut ergänzen: das hier eine Verpflichtung –, und es wird vom „Ehrendienst“ bewährte System des freiwillig Wehrdienstleistenden gesprochen. Schon zu DDR-Zeiten wurde im Übrigen die mit bis zu 23 Monaten Dienstzeit am Stück sowie das Wehrpflicht mit der Bezeichnung „Ehrendienst“ tituliert neu eingeführte Angebot „Dein Jahr für Deutschland“, und auch im Dritten Reich der Reichsarbeitsdienst als welches Sie ja wieder abschaffen wollen. Das Konzept „Ehrendienst“ bezeichnet. Das ganze Paket zeigt, welch des Freiwilligenjahres zielt effektiver auf die langfristige Geistes Kind die AfD bis heute ist. Das hat, lieber Herr und emotionale Bindung der Wehrdienstleistenden an die Lucassen, auch nichts mit Konservativsein zu tun. Denn Streitkräfte. Bei der Wehrpflicht, die Sie wieder einfüh- Konservativsein – das hat schon Franz Josef Strauß ge- ren wollen, ist nach zwölf Monaten Schluss. Im Freiwilli- sagt – bedeutet, an der Spitze des Fortschritts zu sein, und genjahr dienen die Menschen sieben Monate am Stück. das sind Sie definitiv nicht. Die restlichen fünf Monate werden in einzelnen Ab- schnitten innerhalb von sechs Jahren geleistet. (Beifall bei der CDU/CSU) Werte Kollegen, der vorliegende Antrag ist aus vielen Die AfD hätte es uns viel schwerer machen können. Gründen abzulehnen, nicht zuletzt, weil einige Forderun- Die AfD hätte beispielsweise diskutieren können, ob man gen darin bereits umgesetzt sind. Daher sollten wir unsere einer allgemeinen Dienstpflicht nähertritt. Der Kollege Anstrengungen lieber darauf verwenden, den Dienst in Felgentreu hat viele positive Dinge aufgezählt, die einer 24410 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Florian Hahn (A) solchen Idee tatsächlich entspringen. Aber ich will über (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (C) Gründe gegen eine allgemeine Dienstpflicht, wie sie auch Yasmin Fahimi [SPD]) oftmals in meiner Partei noch diskutiert wird, sprechen. Es gibt einfach keine militärische Notwendigkeit. Um Vizepräsidentin Petra Pau: verteidigungsfähig zu sein, brauchen wir keinen Zwangs- Ich schließe die Aussprache. dienst. Den aktuellen Bedrohungen müssen wir nicht mit einer riesigen Anzahl von Köpfen entgegentreten, son- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf dern mit entsprechenden Fähigkeiten, mit modernen Waf- den Drucksachen 19/24401 und 19/24392 an die in der fensystemen, mit modernen IT-Systemen, die resilient Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. sind. Wir müssen verteidigungsfähig sein im Sinne von Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht Verfügbarkeit und Durchhaltefähigkeit, aber nicht durch der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. die schiere Anzahl von Köpfen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d auf: Die Gefahr eines großen vaterländischen Krieges ist – a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ ich glaube, darin sind wir uns alle einig – so nicht da. Die CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE Gefahren lauern woanders. Hier müssen wir uns tatsäch- GRÜNEN lich besser rüsten. 45 Jahre Schlussakte von Helsinki, 30 Jah- Es gibt aber auch rechtliche Gründe, die gegen eine re Charta von Paris – Die Organisation allgemeine Wehrpflicht sprechen. Eine Grundgesetzän- für Sicherheit und Zusammenarbeit in derung wäre notwendig. Eine allgemeine Dienstpflicht Europa für künftige Aufgaben stärken verstößt außerdem gegen völkerrechtliche Verpflichtun- gen. Da seien das ILO-Abkommen oder europäische Drucksache 19/24390 Abkommen bis hin zum Internationalen Pakt über bürger- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul liche und politische Rechte genannt. Viktor Podolay, Armin-Paulus Hampel, Ein weiteres Argument lautet, eine allgemeine Dienst- Dr. Roland Hartwig, weiterer Abgeordneter pflicht sei wichtig zum Beispiel für das Gesundheitswe- und der Fraktion der AfD sen, für die sozialen Dienste. Da kann man nur den Hin- Die Organisation für Sicherheit und Zu- weis geben, dass sich beispielsweise der Paritätische sammenarbeit in Europa auf der Grund- Wohlfahrtsverband, die Arbeiterwohlfahrt und der VdK lage der Prinzipien der Konferenz für gegen einen solchen Dienst aussprechen. Sicherheit und Zusammenarbeit refor- (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Aus guten mieren (B) (D) Gründen!) Drucksache 19/24418

Weitere praktische Gründe, die gegen eine allgemeine Überweisungsvorschlag: Dienstpflicht sprechen: Eine Wehrpflicht, wie sie die Auswärtiger Ausschuss AfD vorschlägt und in deren Folge es 30 000 Wehrpflich- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten tige geben würde, würde bedeuten, dass wir bei einem Helin Evrim Sommer, Andrej Hunko, Heike Faktor von 3,5 Personen, die zur Betreuung eines Wehr- Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Frak- pflichtigen notwendig sind – das ist die Erfahrung, die tion DIE LINKE wir in der Zeit der Wehrpflicht gemacht haben –, 105 000 Soldatinnen und Soldaten mehr bräuchten, um diese 30. Jahrestag der Pariser Charta für ein 30 000 Wehrpflichtigen entsprechend auszubilden. Ich neues Europa als Verpflichtung für Frie- weiß gar nicht, wie es uns mit Blick auf den vorhandenen den und Sicherheit begreifen Fachkräftemangel Drucksache 19/22917 (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Einen d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Fachkräftemangel gibt es nicht! Es gibt Fach- Berichts des Auswärtigen Ausschusses kräfteengpässe in einigen Berufen!) (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- und mit Blick auf die tatsächlich schwierige Situation der neten Helin Evrim Sommer, Andrej Hunko, Bundeswehr gelingen soll, zusätzlich zu den 30 000 Stefan Liebich, weiterer Abgeordneter und Wehrpflichtigen 105 000 Soldatinnen und Soldaten zu der Fraktion DIE LINKE rekrutieren. Es müsste ein riesiger Verwaltungsapparat Die Organisation für Sicherheit und Zu- aufgebaut werden, der über 700 000 Menschen je Alters- sammenarbeit in Europa für Frieden und kohorte entsprechend verwaltet. Das ist ein totaler Irrsinn Abrüstung stärken und würde sicherlich den Fachkräftemangel in unserem Drucksachen 19/7121, 19/22287 Land massiv verstärken. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Deshalb setzen wir als CDU/CSU auf eine attraktive, beschlossen. Ich bitte, zügig die Plätze einzunehmen. eine freiwillige Bundeswehr, auf eine motivierte Reserve und auf freiwillige Angebote, die attraktiv sind, wie bei- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- spielsweise das Deutschland-Praktikum oder „Dein Jahr minister des Auswärtigen, Heiko Maas. für Deutschland“. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herzlichen Dank. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24411

(A) Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: diesen Tagen wieder betonen, gerade in Richtung Bela- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und rus, wo Herr Lukaschenko endlich zur Kenntnis nehmen Kollegen! Meine Damen und Herren! Die deutsche muss: Ohne freie und faire Wahlen, ohne Gerechtigkeit Wiedervereinigung und die Unterzeichnung der Charta und Respekt vor dem eigenen Volk gibt es eben keine von Paris vor 30 Jahren, das war ein Glücksmoment für Stabilität. Deshalb werden wir nicht aufhören, die Deutschland. Es war aber auch vor allen Dingen ein OSZE auch in ihren menschlichen und wirtschaftlichen Glücksmoment für Europa; denn dieser Moment bedeu- Dimensionen zu unterstützen, gerade auch mit Blick auf tete nicht nur das Ende der Teilung unseres Landes, son- diesen Konflikt. dern – so wie es die Charta formuliert hat – vor allen Dingen auch die Hoffnung auf ein neues Zeitalter der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Demokratie, des Friedens und der Einheit in Europa. Meine Damen und Herren, die Welt ist heute – und das Tatsächlich war dieses Europa in den vergangenen ist ja in der letzten Debatte auch schon der Fall gewesen; 30 Jahren das demokratischste, das stabilste und auch da ging es um viel größere Zeiträume – eine andere als das wohlhabendste seiner Geschichte, und das auch 1975 oder 1990. Aber die Grundidee der Schlussakte von dank der Institutionen, die es dazu gemacht haben: der Helsinki und der Charta von Paris, nämlich kooperative Europäischen Union, des Europarats, der NATO und Sicherheit als bleibende europäische Aufgabe zu verste- auch der OSZE. hen, dürfen wir auch heute nicht aus den Augen verlieren. So steht es auch im vorliegenden Antrag. In dieser Über- Aber der Optimismus von 1990 scheint an vielen Ort zeugung wird sich die Bundesregierung überall, wo sie verflogen zu sein. Konflikte wie zuletzt zwischen Arme- kann – in den unterschiedlichen Organisationen, auf der nien und Aserbaidschan werden mittlerweile wieder mit internationalen Ebene –, einsetzen und weiter danach Waffengewalt ausgetragen und Aufrufe, die Waffen handeln. schweigen zu lassen, von den Konfliktparteien abgelehnt. Russland hat – und auch das haben wir nicht vergessen – Herzlichen Dank. mit der Annexion der Krim die Friedensordnungen von (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Helsinki und Paris ganz eindeutig gebrochen. (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Nicht nur Vizepräsidentin Petra Pau: Russland!) Das Wort hat der Abgeordnete Paul Viktor Podolay für die AfD-Fraktion. Und doch: Gerade für Krisenzeiten haben uns die Schlussakte und die Pariser Charta eine ganz klare Bot- (Beifall bei der AfD – Yasmin Fahimi [SPD]: (B) schaft hinterlassen: Europäische Sicherheit braucht Was ist das für eine Art, eine Maske zu tragen? (D) neben Verteidigungsfähigkeit und Stärke auch immer Das zählt nicht!) Dialog- und Kompromissbereitschaft. Für diesen doppel- ten Ansatz brauchen wir eben Organisationen wie die Europäische Union, die NATO und auch eine starke Paul Viktor Podolay (AfD): OSZE; denn letztlich sorgt gerade die OSZE für Stabilität Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen in Krisenzeiten und an Krisenorten. Ihre Sonderbeobach- und Kollegen! 45 Jahre Schlussakte von Helsinki und termission in der Ukraine zum Beispiel hilft, den aktuel- 30 Jahre Charta von Paris, das ist eine lange Zeit, um len Waffenstillstand – den längsten, den wir da bisher sich heute folgende Frage zu stellen: Was haben diese hatten – zu sichern. Im Konflikt um Bergkarabach bietet beiden Regelwerke eigentlich gebracht? Die Antwort die Minsk-Gruppe der OSZE die zentrale Verhandlungs- darauf fällt ernüchternd aus. Europa steht heute vor einem plattform für eine wirklich nachhaltige politische neuen Ost-West-Konflikt. Wann also, wenn nicht heute, Lösung. ist der richtige Zeitpunkt dafür, sich auf die Kernprinzi- pien der KSZE und ihrer Nachfolgerin, der OSZE, zu Die OSZE ist auch zentral für die Rüstungskontrolle in besinnen? Europa. Der von Deutschland 2016 angestoßene „struk- Bei dieser Besinnung sollten wir die Entwicklung der turierte Dialog“ soll Gespräche über Frieden und Sicher- OSZE in den letzten Jahrzehnten und vor allem ihrer heit in Europa fördern, im Übrigen auch und gerade mit Strukturen kritisch hinterfragen. Was ist so schiefgelau- Russland. Dazu sind Fortschritte im Dialog zwischen den fen, dass wir heute in einem Europa leben, dessen Sicher- USA und Russland gerade zur nuklearen Rüstungskon- heitslage fragiler ist, als sie noch vor 20 oder 30 Jahren trolle und vor allen Dingen zu New START notwendig. war? Die knappe Antwort hierauf lautet: Wir haben das Dafür setzt sich die Bundesregierung mit vielen Partnern, Vertrauen zwischen Ost und West zerstört. Wir stecken in die wir in unterschiedlichen Organisationen und auf der einer tiefgreifenden Vertrauenskrise auf dem europä- internationalen Bühne haben, gerade jetzt ganz besonders ischen Kontinent. Dabei ist Vertrauen eine Grundbedin- ein; denn wir glauben, dass auch die Wahl des neuen gung für eine langfristige Friedenssicherung. Das fehlen- amerikanischen Präsidenten dafür eine große Chance bie- de Vertrauen kann man vor allem in unserem Verhältnis tet. zu Russland feststellen. Bis jetzt haben wir es nicht ge- Wie keine andere Organisation steht die OSZE für schafft, unsere strategischen Interessen im Umgang mit umfassende Sicherheit. Frieden und Wohlstand in Europa diesem Land zu definieren. Dafür haben wir aber eigent- in den vergangenen 30 Jahren sind eben auch ein Produkt lich alle notwendigen Voraussetzungen; denn die OSZE wirtschaftlichen Fortschritts, von Rechtsstaatlichkeit und ist mit ihren 57 Teilnehmerstaaten das größte Sicherheits- der Einhaltung von Menschenrechten. Das muss man in forum der Welt. 24412 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Paul Viktor Podolay (A) Liebe Kollegen, einen solchen Einsatz für die erste „Neuen Deutschland“ in der Schublade in ihrem Nacht- (C) Dimension der Schlussakte von Helsinki, also für die kasten gehabt und gesagt: Eines Tages werden wir uns politisch-militärische Zusammenarbeit, vermisse ich in darauf berufen können. – Allein deswegen ist das eine Ihrem Antrag. Ein Überfluss nachgeordneter Themen großartige Sache gewesen. zeichnet Ihr Vorhaben aus. Wir müssen jedoch zurück (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zur DNA der OSZE, zu ihren grundlegenden Prinzipien! ordneten der SPD und der FDP) (Beifall bei der AfD) Die Charta von Paris ist dann tatsächlich so etwas Wir brauchen eine neue europäische Sicherheitsarchi- geworden wie das Fundament der europäischen Friedens- tektur auf Basis der Ursprungsprinzipien der KSZE und ordnung nach Überwindung des Kalten Krieges. Demo- ihres inklusiven Charakters, vor allem des Prinzips der kratie, Unverletzlichkeit der Grenzen, Bündnissouveräni- Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten ande- tät: Das sind die Prinzipien, die die Charta von Paris rer Staaten. Dafür müssen wir die Themen „Rüstungs- tragen. Die OSZE ist auch insofern einzigartig, als sie kontrolle“ und „Krisenbewältigung“ ins Zentrum unserer tatsächlich auch Kanada und die USA, aber eben auch Arbeit stellen. Dazu gehört in erster Linie unser Bemühen alle Staaten der früheren Sowjetunion und die Mongolei um einen Neustart der Beziehungen mit Russland. Nur und die Türkei umfasst. Sie ist also letztlich ein Band des gemeinsam mit Russland können wir die neuen und Friedens und der Demokratie von Nordamerika über den zugleich alten Konflikte in Europa angehen und entschär- Atlantik und Europa bis nach Asien hinein. Das ist ein fen. Dafür müssen wir das System der kollektiven Sicher- besonderer, ein einzigartiger multilateraler Ansatz, den heit im Rahmen der OSZE substanziell erweitern. wir auf jeden Fall pflegen und schützen sollten. Meine Damen und Herren, Deutschland als größter Beitragszahler der OSZE in Europa sollte aktiv und zu- Es gibt eine starke parlamentarische Vertretung. Ich sammen mit seinen Partnern den Reformprozess der vermute, dass Doris Barnett, die ja auch auf der Redner- OSZE anstreben. liste steht, dazu sprechen wird; deswegen werde ich mich da zurückhalten. Ich freue mich, dass das ein Forum ist, in (Beifall bei der AfD) dem man ganz offen und energisch darüber reden kann. Dabei muss Deutschland die Rolle als Vermittler zwi- Wir haben dort hitzige Debatten, aber es ist eben auch schen Ost und West wahrnehmen. Die AfD fordert die einer der wenigen Orte, wo tatsächlich unterschiedliche Bundesregierung daher auf, in Deutschland ein Gipfel- Konfliktparteien aufeinandertreffen und wir unter dem treffen der Staats- und Regierungschefs der OSZE zu Schutz des Daches der OSZE in der Wiener Hofburg – einer künftigen strategischen Ausrichtung zu realisieren. oder wo wir jeweils immer tagen – die Konflikte entspre- Der letzte Gipfel fand vor zehn Jahren statt. Bis jetzt chend austragen können. (B) waren alle Debatten darüber ergebnislos. Wachen Sie Was ich mir für die Zukunft wünsche – das ist jetzt der (D) bitte auf! Blick nach vorne, und das haben wir im Rahmen der Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Haushaltsberatungen für den Bundeshaushalt natürlich (Beifall bei der AfD) auch immer im Auge –: Die OSZE ist stark beim Moni- toring von Wahlen, von demokratischen Prozessen in den Vizepräsidentin Petra Pau: Mitgliedstaaten. Sie ist stark bei der Überwachung von Waffenstillständen oder der Einhaltung von entsprechen- Das Wort hat der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/ den Verträgen. Sie könnte auch dort stark sein, wo es um CSU-Fraktion. die Moderation von Friedensprozessen geht. Dass der (Beifall bei der CDU/CSU) Konflikt um Bergkarabach so lange ungelöst blieb, muss uns auch in der OSZE dazu bringen, die Frage zu Jürgen Hardt (CDU/CSU): stellen: Warum ist es eigentlich in den letzten 25 Jahren Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht gelungen, da mehr zu tun, als wir getan haben? 45 Jahre KSZE-Schlussakte, 30 Jahre Charta von Paris – Aber es ist auch erforderlich, dass es eine entsprechen- das ist der Jahrestag, den wir morgen, am 21. November, de Ausstattung dafür gibt. Wenn wir zum Beispiel in begehen –: Das war für die Koalition Grund und Anlass Belarus möglicherweise schon bald neue Wahlen haben, genug, diesen Antrag zum Thema OSZE zu formulieren. dann muss eben auch die OSZE personell, inhaltlich und Ich freue mich, dass dieser Antrag über die Grenzen der technisch aufgestellt sein, um ihre Arbeit zu schaffen. Regierungskoalition hinaus in diesem Hause Zustim- mung finden wird. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Auch Ich finde es wichtig, dass wir uns einmal rückschauend finanziell!) versichern, was die OSZE für uns geleistet hat; ich denke Ich glaube, dass Deutschland das Jubiläum zum Anlass speziell an die deutsche Geschichte. Ich glaube, dass nehmen sollte, auch zu prüfen, ob wir ausreichend Mittel die Veröffentlichung der KSZE-Schlussakte von Helsinki bereitstellen, damit diese Fähigkeiten der OSZE sozusa- in allen ihren drei Paketen – Sicherheit, Wirtschaft, aber gen auf Knopfdruck abrufbar und verfügbar sind. eben auch politische und menschliche Freiheiten – im Ich wünsche der OSZE noch eine gute Zukunft, dass „Neuen Deutschland“ 1975 eben auch ein erster Schritt sie die zentrale Dialogplattform für Sicherheit, Freiheit zur Überwindung der Mauer gewesen ist. Es hat zwar und Demokratie über die Kontinente hinweg bleiben dann noch lange gedauert, bis zum Beispiel der Schieß- wird. befehl ausgesetzt wurde. Aber ich glaube, es haben viele Bürgerinnen und Bürger in der DDR diesen Abdruck im Herzlichen Dank. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24413

Jürgen Hardt (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Den Antrag der Linken, der sich ganz deutlich an (C) neten der SPD und des Abg. Michael Georg NATO und Europäischer Verteidigungsinitiative abarbei- Link [FDP]) tet, lehnen wir ab, weil er aus unserer Sicht einfach die falschen Akzente setzt. NATO und OSZE werden beide Vizepräsidentin Petra Pau: gebraucht. Die Bündniskritik vereint Sie von den Linken interessanterweise mit der AfD. Ich komme zurück auf meine Ankündigung beim vor- herigen Tagesordnungspunkt. Ich habe jetzt den Vorab- Herr Kollege Podolay, auch in Ihrem Antrag werden auszug des Protokolls der Rede des Abgeordneten die Europäische Verteidigungsinitiative und die NATO Dr. Marcus Faber hier. Ich fordere Sie auf, Herr Dr. Faber, ganz massiv kritisiert. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: sich zukünftig bei der Anrede und natürlich auch im Kein einziges Mal bringen Sie hier die Menschenrechte Redebeitrag einer parlamentarischen Ausdrucksweise an. Sie haben Wurzeln in der Slowakei. Vaclav Havel, die zu befleißigen, und hoffe, dass sich das nicht wiederholt. Mitglieder der Charta 77 und all der Helsinki-Gruppen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, die drehen sich im Das Wort hat der Abgeordnete Michael Link für die Grabe um, wenn sie hören, was sie heute hier gesagt FDP-Fraktion. haben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Georg Link (FDP): Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Exakt so Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ist es!) der Tat, 30 Jahre Charta von Paris, 30 Jahre Kopenhage- Ich finde es sehr gut und sehr wichtig, dass die Bun- ner Dokument, viele andere Grunddokumente der OSZE: desregierung mit Helga Schmid eine Kandidatin für das Das war, wie man sagt, eine andere Zeit. Manche sagen Amt der Generalsekretärin der OSZE stellt; ein sehr, sehr vielleicht: Da gingen Dinge, die sonst nicht gingen. – gutes Signal. Es ist dann aber auch wichtig, dass Sie, Herr Aber sie gingen, und sie wurden genutzt. Damals wurde Minister, nicht nur heute hier reden, sondern auch zum etwas geschaffen, weil man bewusst, sozusagen noch mit Ministerrat reisen. Wenn Sie nicht können: Sie haben drei dem Kalten Krieg in den Knochen, auch wollte, dass Staatsminister; wenigstens einer der Staatsminister sollte Institutionen geschaffen werden, die in der Zukunft Men- da sein. Beim letzten Ministerrat in Bratislava war die schenrechtsverletzungen ganz konkret dokumentieren Bundesregierung zwar durch die sehr gute Botschafterin, und ansprechen. Es sind damals drei Einrichtungen ge- aber eben nicht politisch vertreten, und das geht nicht. schaffen worden, die wirklich so eine Art früher Rechts- Herr Lawrow hat sich drei Tage Zeit genommen; die staatsmechanismus sind, wenn wir es so ausdrücken (B) Bundesregierung war politisch überhaupt nicht vertreten. (D) wollen. Denn da wurden drei Institutionen der OSZE Das geht nicht! geschaffen, die Staaten den Spiegel vorhalten, wenn etwas schiefläuft. (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Totalaus- fall!) Freimut Duve war damals der erste Medienbeauftragte der OSZE; er war so ein Beispiel. Er war vorher Kollege Mein letztes Wort – Frau Präsidentin, lassen Sie mich von der SPD. Oder denken Sie an den Hochkommissar das noch sagen –: Danke an alle Kolleginnen und Kol- für nationale Minderheiten. Das sind Watch Dogs, das legen, die bei der Wahlbeobachtung in den USA dabei sind Alarmglocken, die deutlich läuten sollten, wenn waren. Ich sehe hier zum Beispiel die Kollegin Keul. was schiefläuft. Und natürlich – es sei mir erlaubt, das Danke an all diejenigen, die das auf sich genommen auch deutlich anzusprechen – auch ODIHR mit dem haben. Danke auch, dass wir das mit der Dienstreisege- schönen Namen „Büro für Demokratische Institutionen nehmigung hingekriegt haben. Denn das Instrument der und Menschenrechte“. Dass die damals geschaffen wur- Wahlbeobachtung ist, glaube ich, für uns alle fraktions- den und dass es sie bis heute gibt, ist eine der größten übergreifend entscheidend wichtig. Errungenschaften der OSZE. Wir würden sie heute wahr- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. scheinlich nicht mehr einstimmig schaffen können; die (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Einstimmigkeitsregel ist ein großes Problem der OSZE. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber deshalb müssen wir diese menschenrechtlichen Institutionen dringend schützen, und das tun wir heute mit diesem gemeinsamen Antrag. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Michael Link. – Einen schönen Tag, liebe (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Kolleginnen und Kollegen; können wir alle brauchen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Helin Diese Institutionen müssen wir auch deshalb so schüt- Evrim Sommer. zen, weil viele sie ganz eindeutig schwächen wollen. Es geschieht schon lange Zeit, dass sie gerade auch finan- (Beifall bei der LINKEN) ziell ausgehöhlt werden; denn auch der Haushalt der OSZE muss einstimmig beschlossen werden. Es gibt Helin Evrim Sommer (DIE LINKE): genügend Staaten, die das immer wieder torpedieren, Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! wie zum Beispiel Russland, die Türkei, Aserbaidschan „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas und andere Länder aus dem zentralasiatischen Raum. Es ist zu Ende gegangen“ – heißt es in der Präambel der ist deshalb gut und wichtig, dass es diesen Antrag gibt. Pariser Charta. Und weiter: „Wir erklären, daß sich unse- 24414 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Helin Evrim Sommer (A) re Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenar- Charta von Paris erinnern. Mit dem gemeinsamen Antrag (C) beit gründen werden.“ Diese Worte klingen heute wie aus fordern wir einen Neustart der konventionellen Rüstungs- der Zeit gefallen. Aktuell sind Frieden und Sicherheit kontrolle und neue vertrauensbildende Maßnahmen. Lei- bedroht, und das auch durch die Aufkündigung der inter- der ist dieser Appell nötiger denn je. 30 Jahre nach der nationalen Verträge. Charta von Paris erleben wir einen neuen Kalten Krieg Im INF-Abkommen von 1987 vereinbarten die USA und eine beispiellose Aufrüstungsspirale. Dem müssen und die UdSSR die Vernichtung nuklearer Mittelstre- wir endlich Einhalt gebieten. ckensysteme, und dann kommt da ein inzwischen abge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wählter „America First“-Präsident und sagt: Was interes- sowie des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE siert mich die Welt? Ich kündige den Vertrag! LINKE]) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in Europa schla- Ich will dazu einmal aus der Primärquelle zitieren, die gen ungelöste Langzeitkonflikte in heiße Kriege um, wie wir hier heute feiern: im Südkaukasus zwischen Aserbaidschan und Armenien. Wir begrüßen die Unterzeichnung des Vertrags über Wir Linke fordern, den OSZE-Etat in den kommenden Konventionelle Streitkräfte in Europa …, der zu fünf Jahren zu verzehnfachen, statt Milliarden Steuergel- niedrigeren Niveaus der Streitkräfte führen wird. der für fliegende Festungen zu verpulvern. Weiter heißt es: (Beifall bei der LINKEN) Die beispiellose Reduzierung der Streitkräfte … in So kostet ein einziger B-2-Stealth-Bomber der US Air Europa wird … unser Verständnis von Sicherheit in Force umgerechnet 1 Milliarde Euro. Der OSZE stand Europa verändern und unseren Beziehungen eine im vergangenen Jahr für ihre Arbeit lediglich ein Fünftel neue Dimension verleihen. zur Verfügung. Ein Fünftel, meine Damen und Herren! Und was macht die Bundesregierung? Sie will die hirn- Wenn es nicht schon vor 30 Jahren aufgeschrieben wor- tote NATO, wie Frankreichs Präsident Macron sie be- den wäre, müsste man es jetzt aufschreiben. zeichnete, wiederbeleben. Stattdessen sind in der OSZE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) als einzigem Forum fast alle europäischen Staaten, Russ- Stattdessen glauben einige heute ernsthaft, man könne land, die Nachfolgestaaten der UdSSR sowie die USA die Probleme lösen, indem wir den Verteidigungshaushalt und Kanada zusammengefasst – eine nichtmilitärische immer weiter erhöhen und uns zu einem 2-Prozent-Ziel Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit ohne verpflichten. Mit der Grundidee der Charta von Paris hat Veto. Deswegen sagen wir Linke: OSZE First! das allerdings wenig zu tun. (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das muss das Motto sein. Ich will noch auf eine andere Stelle der Charta auf- Das Völkerrecht muss wieder Vorrang haben. Militär- merksam machen, die bislang leider nicht die angemes- ische Besetzungen und einseitige Sezessionen sind sene Aufmerksamkeit bekommen hat – Zitat –: immer völkerrechtswidrig. Das muss für die USA gelten, die Türkei, Russland und alle anderen, meine Damen und ... werden wir nicht nur darum bemüht sein, nach Herren. wirksamen Verfahren zur Verhütung immer noch möglicher Konflikte durch politische Mittel zu (Beifall bei der LINKEN) suchen, sondern im Einklang mit dem Völkerrecht Noch einmal zurück zur Pariser Charta: „Wir erklären, auch geeignete Mechanismen zur friedlichen Beile- daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und gung eventueller Streitfälle festzulegen. Zusammenarbeit gründen.“ Hierfür brauchen wir wieder Auf dieser Grundlage wurde der OSZE-Streitschlich- ein besseres Verhältnis zu Russland tungsmechanismus auf den Weg gebracht, den wir leider (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) bis heute zu wenig genutzt haben. Anders als beim In- ternationalen Gerichtshof müsste hier nicht eine Seite die und eine neue Entspannungspolitik im Geiste von Willy andere verklagen, sondern man könnte sich auf die Brandt. Schlichtung einigen. Mir würden da einige geeignete Fäl- In diesem Sinne: Vielen Dank. le einfallen, beispielsweise die offenen Grenzfragen im östlichen Mittelmeer, aber auch der Konflikt um Berg- (Beifall bei der LINKEN) karabach, der schon angesprochen worden ist. Es ist eine Stärke des Linkenantrags, diesen OSZE- Vizepräsidentin Claudia Roth: Schiedsgerichtshof ausdrücklich zu erwähnen. Vielen Dank, Helin Evrim Sommer. – Nächste Redne- rin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katja Keul. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für eine Zustimmung reicht es leider trotz der guten Ansätze nicht, weil Die Linke es sich doch wieder nicht Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verkneifen konnte, OSZE und NATO gegeneinander aus- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und zuspielen. Kollegen! Es ist gerade in der heutigen Zeit wichtig und richtig, dass wir anlässlich des 30. Jahrestages an die (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Nein!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24415

Katja Keul (A) Als dritten und letzten Punkt möchte ich noch einmal lung. Da gibt es gute Ansätze. Wir treffen uns dreimal im (C) auf den Vertrag über den Offenen Himmel zurückkom- Jahr. Außerdem können wir dem Außenminister Danke men, den die USA leider ohne Not einseitig gekündigt sagen, dass wir jetzt Mittel fest installiert haben, mit haben. Der Austritt aus diesem letzten funktionierenden denen wir hier in Deutschland jedes Jahr mindestens ein Rüstungskontrollabkommen wird am 22. November, also Seminar für die OSZE mit unseren Kollegen aus den dieses Wochenende, rechtswirksam. Der Wiedereintritt OSZE-Staaten machen können, um genau die Konflikte durch den neuen Präsidenten Biden ist mit erheblichen anzusprechen, die uns am Herzen liegen: ob das Berg- Risiken verbunden, sollte es keine demokratische Mehr- karabach, die Ukraine, Belarus oder andere sind. Wir heit im Senat geben. arbeiten kräftig daran, hier zu Verbesserungen zu kom- Professor Peter Jones, langjähriger OSZE-Diplomat, men. hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Vertragsstaa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten sich darauf einigen könnten, den Fristablauf am Ich kann nur sagen: Ich bin auch ein Stück weit stolz 22. November zu unterbrechen, bis die neue Biden- auf ODIHR, die Organisation für Wahlbeobachtung und Administration nach dem 20. Januar die Kündigung ein- Menschenrechte. ODIHR hatte es sehr lange schwer, fach zurücknehmen kann. Ich rege dringend an, dass die Beachtung zu finden. Aber, ich glaube, mit dem, was Bundesregierung diese Option mit den anderen Vertrags- sie jetzt mit der Wahlbeobachtung in den USA geleistet partnern kurzfristig prüft und wahrnimmt. hat, hat sie sich einen festen Platz innerhalb der Organisa- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- tion geschaffen. Sie war wirklich neutral, hat neutral beo- SES 90/DIE GRÜNEN) bachtet und hat auch eine gute Stellungnahme abgeben. Ich glaube, das könnte zur Befriedung der Lage beitra- Auf dass wir retten, was noch zu retten ist von dieser gen, wenn denn nur alle hören würden. großartigen Idee von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vielen Dank. Es kann nicht sein, dass ODIHR nur auf der einen Seite (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gehört wird, sie muss auch auf der anderen Seite gehört werden. Das gilt sowohl für die USA als auch für Russ- Vizepräsidentin Claudia Roth: land und andere Länder. Vielen Dank, Katja Keul. – Nächste Rednerin: für die Ich hoffe jetzt natürlich, dass wir im Rahmen der SPD-Fraktion Doris Barnett. Reformen, die wir angestoßen haben, auch tatsächlich zu Verbesserungen kommen. Ich als Parlamentarier wür- (B) (Beifall bei der SPD) (D) de mir wünschen, dass wir als Parlamentarische Ver- sammlung zum Beispiel öfter mit dem Ministerrat tagen. Doris Barnett (SPD): Wir tagen gar nicht mehr mit ihm zusammen. So könnten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wir nämlich Meinungen austauschen. Das würde mit Kollegen! In fünf Jahren feiern wir sogar 50 Jahre OSZE. Sicherheit die Arbeit erleichtern. Vor 45 Jahren war die Gründung mit Sicherheit ein Anlass zur Freude. Denn es wurde etwas eingeleitet, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten was schließlich auch zur deutschen Einheit führte; das der CDU/CSU und der Abg. Michael Georg sollten wir nicht vergessen. Aber in der Zwischenzeit ist Link [FDP] und Katja Keul [BÜNDNIS 90/ die OSZE in die Jahre gekommen, ist älter geworden, und DIE GRÜNEN]) die Probleme sind leider auch nicht kleiner geworden; im Und ich würde mir wünschen, dass wir unsere Missionen Gegenteil. in den konfliktbeladenen Gebieten erweitern und verbes- Wir befinden uns auch hier in einer Art Krise; denn wir sern können. erleben eine Renationalisierung der Staaten. So beginnt Ich habe noch einen kleinen Herzenswunsch, den ich die OSZE, wie auch die UNO, die WHO und andere Ihnen sozusagen in die Hand lege. Wir haben eine OSZE- internationale Organisationen, leicht zu erodieren, wenn Akademie in Bischkek. Die bietet unter anderem jungen wir diese Entwicklung nicht aufhalten. Es gibt auch zahl- Studenten aus Afghanistan die Möglichkeit, dort mit Kol- reiche Konflikte innerhalb des OSZE-Raums, und die legen aus dem ganzen OSZE-Raum zusammenzukom- Werte und Prinzipien werden gefährdet. Das erschwert men und zu studieren. die Zusammenarbeit. Zum Beispiel hätte ich mir in Bezug auf Bergkarabach gewünscht, dass die Minsk- Gruppe viel früher hätte eingreifen und was richten kön- Vizepräsidentin Claudia Roth: nen. Frau Kollegin, ganz schnell den Wunsch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Doris Barnett (SPD): der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Ich weiß, es gibt das Einstimmigkeitsprinzip; Sie müs- Das hat leider nicht geklappt. sen immer mit einer Stimme sprechen. Aber vielleicht Es hängt ein Stück weit auch an uns Abgeordneten, wie kriegen Sie Ihre Kollegen dazu, dass man hier etwas Kollege Hardt sagte, und nicht nur an den Regierungen; anhebt. Das wäre mir im Moment wichtiger, als die das ist richtig. Denn wir können viel dazu beitragen. Wir OSZE zu einer Art NATO auszubauen. brauchen eine Stärkung der Parlamentarischen Versamm- Vielen Dank. 24416 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Doris Barnett (A) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen Und zwar geht es um eine Stärkung in vielen verschie- (C) Hardt [CDU/CSU]) denen Feldern; wir haben sie hier niedergeschrieben. Ich nenne nur die Bereiche Rüstungskontrolle, wirtschaftli- Vizepräsidentin Claudia Roth: che Zusammenarbeit, Menschenrechte, die so wichtig sind, Demokratie und auch Rechtsstaatlichkeit. Der Vielen Dank, Doris Barnett. – Nächster Redner: für die gewählte Präsident Joe Biden hat immer wieder betont – CDU/CSU-Fraktion Peter Beyer. ich darf das jetzt auch noch mal ganz bewusst wieder- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) holen –: Es geht um die Stärkung der regelbasierten Welt- ordnung, um den Multilateralismus, um die Stärkung internationaler Organisationen, die handlungsfähig wer- Peter Beyer (CDU/CSU): den müssen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist nicht Meine Damen und Herren, es darf aber auch nicht sein, ganz ohne Witz, dass ich mit Russland beginne; aber ich dass wir diese Organisationen überfordern. Sie müssen kann es nicht ändern, genauso war es. ertüchtigt werden. Das geht natürlich auf vielfältige Weise. Es geht mit Geld, es geht mit Personal. Inhaltlich – Gestern genau vor einem Jahr hat sich in Sankt Peters- das muss ich sagen – müssen wir Prioritäten setzen. Es burg eine kleine Gruppe junger deutscher politisch inte- muss die Rolle des Generalsekretärs gestärkt werden. ressierter Menschen mit einem russischen Menschen- Und ja – Doris Barnett, du hattest es auch angesprochen –, rechtler, Herrn Gutnikow, getroffen. Er schilderte in die Parlamentarische Versammlung muss wieder mehr diesem Gespräch sehr intensiv seine eigenen Erfahrun- mit eingebunden werden. gen, die Erfahrungen der dortigen Opposition und der Medien, wie sie in Bezug auf ihre Freiheiten behandelt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und worden sind und wie es um die Rechtsstaatlichkeit be- der Abg. Dr. [SPD] und stellt ist. Michael Georg Link [FDP]) Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir Parlamentarier Noch Stunden nach Beendigung dieses Gespräches in hier mehr Arbeit leisten können. Sankt Petersburg haben die jungen Deutschen unterei- nander diskutiert und waren von diesen Schilderungen Aber auch zwischen den anderen supranationalen von Herrn Gutnikow noch tief beeindruckt. Sie kommen Organisationen – wie dem Europarat und der Europä- zu dem Ergebnis: Nicht nur in Russland, sondern auch in ischen Union – kann mehr Zusammenarbeit in verschie- vielen anderen Ländern der Region ist es um die Sicher- denen Themenfeldern erfolgen: beim Klimawandel, bei heit, um die Rechtsstaatlichkeit, um die Menschenrechte, der Cyberkriminalität, bei Desinformationskampagnen, (B) um die Demokratie und die Freiheitsrechte eben nicht bei der Bekämpfung des Terrorismus. (D) zum Besten bestellt. Meine Damen und Herren, schaffen wir doch wirklich Meine Damen und Herren, die jungen Menschen sind die Perspektive, die sich die Menschen von Wladiwostok überzeugt: Das können wir so doch nicht stehen lassen. bis Vancouver oder auch von Vancouver bis Wladiwostok Wir müssen da was tun. – Als sie dann zurückkommen, erhoffen, die sie verdient haben! Reformieren wir die treffen sie sich mit meinem hochgeschätzten Kollegen OSZE, stärken wir sie! Die Menschen brauchen sie und und mir. Wir unterhalten uns über haben es verdient. das, was sie in Sankt Petersburg erlebt haben und welche Herzlichen Dank. Gedanken sie sich gemacht haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Roderich und ich sind zu dem Schluss gekommen: Wir bei Abgeordneten der FDP) müssen was tun. – Das war sozusagen die Geburtsstunde, die Initialzündung für diesen Antrag, den wir heute mit- Vizepräsidentin Claudia Roth: einander verhandeln und gleich auch verabschieden wer- Vielen Dank, Peter Beyer. – Letzter Redner in dieser den mit einer breiten Mehrheit dieses Hauses. Ich bin Debatte: Christian Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion. ausdrücklich allen Kolleginnen und Kollegen und Mitar- beiterinnen und Mitarbeitern dankbar dafür, dass wir das (Beifall bei der CDU/CSU) heute tatsächlich auf den Weg bringen können. Meine Damen und Herren, die OSZE hat schon viel zu Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): lange nicht den Stellenwert beigemessen bekommen, den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sie wirklich verdient. Von den 57 Teilnehmerstaaten Clausewitz, richtig verstanden, führt zur OSZE. Falsch möchte ich hier die besondere Rolle der Vereinigten Staa- verstanden, führt er zu dem, was wir in Bergkarabach ten von Amerika hervorheben. Der Herr Bundesminister im Augenblick sehen. Wir spüren, dass sehr viel mehr hatte vorhin zu Recht darauf hingewiesen: Der Re- getan werden muss, damit Clausewitz richtig verstanden gierungswechsel, der sich jetzt in den USA vollziehen wird. wird, bietet eine Chance, die OSZE in dem Sinne zu Die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln als stärken, wie wir es in dem Antrag niedergeschrieben Definition oder Legitimierung eines Krieges ist eben haben. Denn Joe Biden, der gewählte Präsident, hat sich gerade nicht der Punkt, sondern es geht darum, bewaff- dazu bekannt, die internationale Weltordnung, die regel- nete Konflikte durch Kontrolle, durch Vertrauensbildung, basierte Weltordnung und die internationalen Organisa- durch Einvernehmen, durch Anerkennung von Prinzipien tionen – wie die OSZE eine ist – weiter zu stärken. überflüssig zu machen. Und gerade im Fall Bergkara- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24417

Christian Schmidt (Fürth) (A) bach – ich will es noch mal sagen – hat man den Ein- der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen, der CDU/CSU (C) druck, dass da jemand versucht hat, die Politik und die und FDP. Dagegengestimmt haben die Fraktionen der Diplomatie, die sehr viel investiert hatte – das gilt gerade AfD und der Linken. für die OSZE –, durch bewaffnete Vorgehensweise zu konterkarieren. Tagesordnungspunkt 26 b. Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 19/24418 an den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Auswärtigen Ausschuss vorgeschlagen. Weitere Vor- der SPD und des Abg. Michael Georg Link schläge gibt es nicht. – Dann verfahren wir so. [FDP]) Tagesordnungspunkt 26 c. Abstimmung über den An- Wir hatten mit der Charta von Paris den Ansatz trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/22917 mit „Gewaltverzicht, Menschenrechte, staatliche Selbstbe- dem Titel „30. Jahrestag der Pariser Charta für ein neues stimmung, internationale Kooperation“ zur rechten Zeit Europa als Verpflichtung für Frieden und Sicherheit entwickelt; denn er trug dazu bei, dass in Osteuropa der begreifen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt Übergang friedlich gewesen ist. Der Punkt ist aber: Wir dagegen? – Enthaltungen sehe ich keine. Bei Zustim- dürfen nicht nur Jahrestage feiern, sondern wir brauchen mung der Fraktion Die Linke und Ablehnung aller ande- einen neuen Aufbruch in diesem Bereich der Rüstungs- ren Fraktionen im Haus ist der Antrag abgelehnt. kontrolle, der gegenseitigen Vertrauensbildung – interna- tional und regional. Tagesordnungspunkt 26 d. Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Sie gestatten, dass ich daran erinnere, dass morgen vor Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Die Orga- 25 Jahren ein weiterer Vertrag paraphiert wurde. Dieser nisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Vertrag, Herr Bundesaußenminister, war damals stark für Frieden und Abrüstung stärken“. Der Ausschuss emp- inspiriert von Ihrem Vorgänger Hans-Dietrich Genscher fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache als KSZE-Vorsitzendem, ein Vertrag, der in den beginn- 19/22287, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck- enden 90er-Jahren vom Geist der OSZE mit geprägt war sache 19/7121 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- und dann von amerikanischer Seite unterstützt und for- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- muliert wurde, nämlich der Vertrag von Dayton. gen sehe ich keine. Die Beschlussempfehlung ist bei Dieses Datum jährt sich zum 25. Mal, nachdem Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Zustimmung schreckliche Menschenrechtsverbrechen in Srebrenica aller anderen Fraktionen im Haus angenommen. stattgefunden hatten. Und wir stellen fest, dass die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatz- Herausforderungen, die damals bestanden, heute nicht punkt 13 auf: (B) mehr so bestehen. Es wäre aber eine völlige Fehlein- (D) schätzung von geschichtlichen und faktischen Risiken, 27 Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne zu glauben, dass das gegenseitige Vertrauen gerade auf Ferschl, Matthias W. Birkwald, Sylvia dem Balkan so weit wäre, dass man ausschließen könne, Gabelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- dass wir bei weiteren Jubiläen von Verträgen wieder tion DIE LINKE schlimme Erkenntnisse berichten müssten. Minijobs in sozialversicherungspflichtige Be- Deswegen darf es keinen politischen Ermüdungsbruch schäftigung überführen – Sozialversiche- geben. Deswegen muss in Formaten wie OSZE, Dayton rungssysteme stärken und anderen weiter daran gearbeitet werden. Ich will nicht verhehlen, dass ich mich gerne denen anschließen, Drucksache 19/24003 die sagen: Da erwarten wir auch von einer Administration Überweisungsvorschlag: Joe Biden sehr, sehr viel und gute Unterstützung. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Herzlichen Dank. ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Pascal (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kober, Michael Theurer, Jens Beeck, weiterer neten der SPD und des Abg. Michael Georg Abgeordneter und der Fraktion der FDP Link [FDP]) Minijobs dynamisieren Vizepräsidentin Claudia Roth: Drucksache 19/24370 Vielen Dank, Christian Schmidt. – Damit schließe ich Überweisungsvorschlag: die Aussprache. Ausschuss für Arbeit und Soziales Tagesordnungspunkt 26 a. Wir kommen zur Abstim- Für die Aussprache ist eine Dauer von 60 Minuten mung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, beschlossen. – Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, SPD, FDP und von Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- zügig die Plätze zu tauschen und einzunehmen, damit ich sache 19/24390 mit dem Titel „45 Jahre Schlussakte von die Aussprache eröffnen kann. Helsinki, 30 Jahre Charta von Paris – Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa für künfti- Dann rufe ich die erste Rednerin in der Debatte auf. ge Aufgaben stärken“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das ist für die Fraktion Die Linke Susanne Ferschl. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der An- trag ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen (Beifall bei der LINKEN) 24418 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

(A) Susanne Ferschl (DIE LINKE): Die Union schlägt dem Ganzen den Boden aus, wie (C) Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- immer, wenn es um Arbeitnehmerschutz geht. Sie will legen! Keine Stunde Arbeit ohne soziale Absicherung, die Verdienstgrenze bei Minijobs auch noch anheben. das muss doch die Lehre aus dieser Krise sein. Statt bis 450 Euro soll künftig bis 600 Euro sozialver- sicherungsfrei gearbeitet werden. (Beifall bei der LINKEN) (Torbjörn Kartes [CDU/CSU]: Nicht nur die Regulär und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Union!) konnten in großen Teilen Kurzarbeit in Anspruch neh- Die FDP setzt mit ihrem Antrag noch eins obendrauf. men, und das ist gut so. Auf der anderen Seite wurden Sie will, dass die Verdienstgrenze mit dem Mindestlohn Tausende Minijobber sofort vor die Tür gesetzt: zuver- mitwächst. Den Antrag haben Sie doch vor zwei Jahren dienende Rentnerinnen und Rentner, Studierende, Men- schon einmal gestellt. schen im Niedriglohnbereich, die sich ihr Einkommen durch einen Minijob aufstocken, usw. 850 000 Menschen (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Das ist Ihnen ja haben so ihren Job verloren. völlig fremd!) Das Minijob-Versprechen „Brutto ist gleich Netto“ Das ist der immer gleiche Griff in die neoliberale Mot- wurde für diese Beschäftigten zum Bumerang. Es besteht tenkiste. kein Anspruch auf Kurzarbeitergeld, kein Anspruch auf (Beifall bei der LINKEN) Arbeitslosengeld. Sie sind sofort dem Sanktionsregime Durch eine Erhöhung des Mindestlohns reduziert sich von Hartz IV ausgeliefert. Und ausreichende Rentenan- die Stundenzahl der Beschäftigten. Ja, das haben Sie rich- sprüche kann man so auch nicht erwerben. tig erkannt. Das ist auch gut so, meine Damen und Her- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wohl ren. Wenn Arbeitgeber mehr Stunden brauchen, dann wahr!) sollen sie die Menschen in sozialversicherungspflichti- gen Jobs anstellen. Diese Beschäftigungsform ist frei vom sozialen Schutz, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. und deswegen muss ihr endlich Einhalt geboten werden. Gabriele Hiller-Ohm [SPD] und Dr. Wolfgang (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stimmt doch gar nicht!) NEN]) Bei einer Anhebung der Verdienstgrenze verlieren eine Wenn man genauer hinsieht, dann stellt man fest, dass halbe Million sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Minijobs in mehrerlei Hinsicht zum Nachteil der den Schutz. Das ist die Arbeitsmarktpolitik von Union (B) Beschäftigten sind; denn sie sind doppelt und dreifach (D) und FDP. Ich will Ihnen einmal etwas sagen, meine prekär. Fast die Hälfte der Minijobber hat nur einen Damen und Herren von der FDP: Ich habe mir Ihren befristeten oder gar keinen Arbeitsvertrag. Die Löhne Antrag angesehen. Schon bei dem ersten Satz habe ich liegen häufig unter denen von regulär Beschäftigten. einen dicken Hals und Bluthochdruck bekommen. Ich Und als Betriebsrätin habe ich oft genug mitbekommen, zitiere einmal: dass die Arbeitgeber den Minijobbern Urlaubsansprüche und Sonderzahlungen, zum Beispiel das Weihnachtsgeld, Minijobs sind für viele Bürgerinnen und Bürger in verweigern. Deutschland eine Möglichkeit, im geringen Umfang zu arbeiten und trotzdem ein gutes Einkommen zu Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge, Lohnfortzah- erzielen … lung im Krankheitsfall – alles Dinge, die für Minijobber häufig nicht gelten. Deswegen haben Arbeitgeber trotz Das schreiben Sie, obwohl Ihnen bekannt ist, dass 70 Pro- der höheren pauschalen Sozialabgaben ein so großes zent der Minijobbenden einen Stundenlohn unterhalb der Interesse daran. Beschäftigte im Minijob werden nämlich Niedriglohnschwelle haben. Das ist wirklich zynisch, zu oft als billige Arbeitskräfte missbraucht, und damit meine Damen und Herren. muss Schluss sein. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ten der SPD) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Frauen in der Union sind einen Schritt weiter. Ich Manche Arbeitgeber splitten bisweilen Vollzeitstellen zitiere aus dem Beschluss des Vorstands der Frauen in mehrere Minijobs auf. So werden reguläre Jobs ver- Union der CDU Deutschlands mit dem Titel „Lessons drängt. Die Zahl der Minijobs ist seit 2003 um 43 Prozent learned – Jetzt handeln!“ vom 29. Juni 2020: gestiegen. So entgehen den Sozialversicherungen jährlich mehrere Millionen Euro. Mini-Jobs fallen in Krisenzeiten zuerst weg. Gegen diesen Verdienstausfall gibt es keine Absicherung. Was macht die Regierung? Jetzt in der Krise, in der Die sozialversicherungsrechtlichen Sonderregelun- offensichtlich geworden ist, welche Probleme Minijobs gen für auf Dauer angelegte Mini-Jobs müssen ent- mit sich bringen, weitet sie als eine der ersten Krisen- fallen. maßnahmen die Minijobs auch noch aus. Das ist doch (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) absurd. Das trägt auch zu einer eigenständigen Altersvor- (Beifall bei der LINKEN) sorge bei. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24419

Susanne Ferschl (A) (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (C) LINKE]) GRÜNEN]: Ja!) Ja, da hat die Frauen Union recht. Dafür muss die Politik die Rahmenbedingungen schaf- fen. Das haben wir in den letzten Jahren – das kann (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate man, glaube ich, so sagen – auch äußerst erfolgreich Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- getan, meine Damen und Herren. NEN] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ja. – Und ja, es ist ein Frauenthema; denn 60 Prozent Der Minijob – das unterscheidet uns dann, glaube ich – der Minijobbenden sind Frauen. Und für diese ist es ein ist ein wichtiger und richtiger Teil unseres deutschen Weg in die Sackgasse; denn Minijobs sind eben keine – Arbeitsmarktes. Er wird von vielen Menschen in unserem wie Sie von der FDP fälschlicherweise in Ihrem Antrag Land gewollt und genutzt – das gilt für Schüler, für den auch behaupten – „Brücke in eine reguläre Beschäfti- Rentner, für die Studentin –, die sich etwas dazuverdie- gung“. Deswegen sagen wir: Schluss damit! nen wollen. Hunderttausende Menschen haben darum dieses Modell gewählt und sind damit auch sehr zufrie- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- den. Die Darstellung in Ihrem Antrag ist also einmal neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mehr sehr einseitig und wird der Realität in unserem Unsere Position ist klar: Beschäftigte, egal ob im Land nicht gerecht. Hauptjob oder im Hinzuverdienst neben Studium und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rente, brauchen sozialen Schutz. Die Bundesregierung Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Haben Sie die sollte endlich anfangen, die Weichen richtig zu stellen; DIW-Studie nicht gelesen?) denn das gibt doch gerade in der Krise den Menschen die entsprechende Sicherheit. Jede Beschäftigung ab dem Der Unterschied zwischen uns ist: Wir verschließen ersten Euro muss sozialversicherungspflichtig sein. die Augen auch nicht davor, dass es sehr viele Menschen gibt, die einen Minijob ausüben, weil sie es müssen, weil (Beifall bei der LINKEN) ihr reguläres Einkommen nicht ausreicht oder weil sie und der Mindestlohn muss auf wenigstens 12 Euro erhöht überhaupt kein anderes Einkommen haben. Das gehört werden. zur Wahrheit, und das beschreiben Sie auch zutreffend in Ihrem Antrag. Aber es gibt eben beide Seiten. Sie (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- glauben doch nicht wirklich, dass mit der faktischen Ab- SES 90/DIE GRÜNEN) schaffung des Minijobs, die Sie heute ins Plenum einge- (B) Soziale Sicherheit und gute Arbeit, meine Damen und bracht haben, alle diese Menschen plötzlich sozialversi- (D) Herren, dafür steht Die Linke. cherungspflichtig beschäftigt würden. Und parallel dazu wollen Sie dann mit sofortiger Wirkung auch noch den Vielen Dank. Mindestlohn auf 12 Euro erhöhen, (Beifall bei der LINKEN) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das miteinander zu tun?) Vizepräsidentin Claudia Roth: und das in dieser Zeit. Da kann ich Ihnen nur sagen: Ich Vielen Dank, Susanne Ferschl. – Danke auch, dass Sie halte das für unverantwortlich und glaube auch, das kon- eine Punktlandung bei der Redezeit gemacht haben. terkariert am Ende unsere Bemühungen, dass in dieser Daran werde ich jetzt alle anderen messen. Krise möglichst wenige Menschen ihren Job verlieren. Daher werden wir Ihren Antrag auch ablehnen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ja, ich habe schon die Liste gesehen und weiß, wer alles redet. Ich weiß schon, was ich sage. Wir haben die Feststellung der Mindestlohnhöhe auch bewusst einer unabhängigen Kommission anvertraut, ins- Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Torbjörn besondere auch, um politischen Überbietungswettbewerb Kartes. zu verhindern. In diesem Sinne ist die weitere Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU) lung des Mindestlohns schon festgelegt. Er wird von der- zeit 9,35 Euro bis Mitte 2022 auf 10,45 Euro steigen. So Torbjörn Kartes (CDU/CSU): weit sind wir dann also auch nicht mehr auseinander. Das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten geht aus meiner Sicht in die richtige Richtung und ist Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste – es sind zwar Ergebnis einer Gesamtabwägung. Ich halte das insgesamt nur wenige da – auf den Tribünen! Ich möchte zu Beginn für vernünftig. Das ist sicher nicht so populär wie Ihr ganz deutlich sagen: Unser gemeinsames Ziel ist und Vorschlag, aber, ich glaube, es ist im Sinne einer nach- bleibt, dass möglichst viele Menschen einer sozialversi- haltigen Entwicklung unseres Arbeitsmarktes. cherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, für die Sie kritisieren in Ihrem Antrag auch noch andere Punk- Rente ansparen können, auf eigenen Füßen stehen, im te, auf die man gar nicht alle eingehen kann. Sie sagen, Erwerbsleben Halt finden und ihren Kindern ein Vorbild die Landwirtschaftslobby – so bezeichnen Sie es – hätte sind. Und das beste Mittel gegen Armut ist, die Menschen durchgesetzt, dass die sogenannte 70-Tage-Regelung in Arbeit zu bringen, und zwar in sozialversicherungs- temporär auf 115 Arbeitstage ausgeweitet worden ist. pflichtige Arbeit. Da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Schlimmer noch, Sie wollen diese Regelung eigentlich 24420 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Torbjörn Kartes (A) im Ganzen abschaffen; denn Sie sagen jetzt: Jede Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Beschäftigung muss ab dem ersten Euro der vollen Vielen Dank, Torbjörn Kartes. – Nächster Redner: für Sozialversicherungspflicht unterliegen. die AfD-Fraktion Jürgen Pohl. Dazu kann ich Ihnen nur das Folgende sagen: Die 70- (Beifall bei der AfD) Tage-Regelung ist für unsere heimische Landwirtschaft von existenzieller Bedeutung. Jeder, der auf einem Hof Jürgen Pohl (AfD): war, weiß das auch. Ich bin sehr froh, dass es gelungen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe ist – das sage ich ganz deutlich –, dass diese Regelung Zuschauer an den TV-Geräten! Die wirtschaftlichen durch die Koalition Anfang 2019 unbefristet im SGB IV Fehlentscheidungen der Bundesregierung haben längst verankert worden ist. Sie hat sich während der Über- den Arbeitsmarkt erreicht und eine Beschäftigungskrise gangsphase auch schon bewährt. Sie hat zu keinen sozial- ausgelöst. In der Lockdown-Krise sind Hunderttausende politisch bedenklichen Entwicklungen geführt. Die An- Minijobs weggebrochen. Am härtesten hat es die Arbeit- zahl der kurzfristigen Beschäftigungen hat sich auch nehmer wohl im Gastgewerbe getroffen, doch auch in den kaum verändert. Deswegen hat sich diese Regelung anderen Branchen sind viele Minijobs weggefallen, wie bewährt. die Arbeitsmarktstatistik zeigt. Die Zahlen sprechen hier eine klare Sprache. Insbesondere Saisonarbeitsbetriebe haben mit ihr die Chance, ihren saisonalen Bedarf an Arbeitskräften zu „Minijobs“: Das ist eigentlich ein ziemlich misslunge- decken. Ohne diese Saisonarbeitskräfte könnten Betriebe ner und herabwürdigender Begriff für menschliche wie zum Beispiel bei mir zu Hause im Rhein-Pfalz-Kreis, Arbeit. Diese Minijobs sind in jeder Hinsicht prekär, wo ganz viel Gemüse mit arbeitsintensiven Kulturen das heißt eine unsichere Beschäftigungsform. Diese angebaut wird, dichtmachen. Das müssen die Menschen Arbeitnehmer sind die Ersten, die in einer Krise fallen- einfach wissen; denn den Bedarf, den diese Betriebe gelassen werden. Darunter leiden jetzt Hunderttausende haben, können sie mit Mitarbeitern aus Deutschland Arbeitnehmer, denen persönlich keine Schuld zuzurech- überhaupt nicht decken. Deswegen ist es gut und richtig, nen ist. dass die sozialversicherungsfreie und kurzfristige (Beifall bei der AfD) Beschäftigung von Saisonarbeitskräften dauerhaft veran- kert worden ist. Wir wollen, dass unsere Landwirte in Die Auswirkungen sind fatal. Minijobber erwerben Deutschland auch weiterhin regionale Produkte erzeu- keinen Anspruch auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeiter- gen, anbauen und ernten können. Dafür brauchen wir geld. Diese Diskriminierung trifft gerade viele geringfü- auch den Einsatz von Saisonarbeitskräften. Das gehört gig Beschäftigte hart. (B) auch zur Wahrheit. Wir werden ihn – das kann ich Ihnen Menschen, die sich etwas durch Minijobs hinzuver- (D) sagen – auch in Zukunft sicherstellen. dienen, sind zumeist auf dieses Geld angewiesen. Folg- lich müssen sie in der Krise doppelt um ihr Auskommen (Beifall bei der CDU/CSU) kämpfen: einerseits durch das geringere Einkommen auf- grund Kurzarbeit bei ihrem Hauptarbeitgeber, anderer- Jetzt kritisieren Sie die Ausweitung auf 115 Tage und seits durch den Wegfall des Hinzuverdienstes in Höhe sagen: Das ist eine weitere Aushöhlung der sozialversi- von 450 Euro. Herr Minister, ich rege dringend an: Zur cherungspflichtigen Beschäftigung. – Ich bin der Mei- Überwindung der Benachteiligung von geringfügig nung: Auch das kann man so nicht stehen lassen. Es Beschäftigten sollte eine Anpassung der Sonderregelung war eine temporäre Lösung, sie ist mittlerweile beendet, im SGB III erfolgen, sodass auch den Minijobbern ein und sie diente einzig und allein dem Gesundheitsschutz Anspruch auf Kurzarbeitergeld gewährt wird. und dem Infektionsschutz. Wir hatten im März und im April große Schwierigkeiten, Saisonarbeitskräfte nach (Beifall bei der AfD – Peter Weiß [Emmen- Deutschland zu bekommen. Es war sinnvoll, dass sie dingen] [CDU/CSU]: Ohne Beiträge?) temporär länger geblieben sind und wir diese Arbeits- Die Prekarisierung menschlicher Arbeit ist wahrlich kräfte nicht so oft auswechseln mussten. So konnten kein Ruhmesblatt der Regierung Merkel, aber sie gehört wir am Ende auch die Ernte einfahren. – Das ist genau zu einer ehrlichen Bilanz einer endlich endenden Kanz- so gewesen, und wenn Sie zu den Höfen gehen, dann lerschaft. werden Sie das auch hören. Es ging also um den Infek- tionsschutz und nicht um eine Aushöhlung der sozialver- (Beifall bei der AfD – Torbjörn Kartes [CDU/ sicherungspflichtigen Beschäftigung. CSU]: Oh!) Schauen wir zurück in die vorangegangenen Kanzler- Wir stehen also vor großen Herausforderungen und schaften des Genossen Gerhard Schröder. Es war poli- kämpfen dafür, dass möglichst wenige Menschen ihren tisch total verkorkst, was dort in der Sozialpolitik organi- Job in dieser Krise verlieren und unser Gesundheitssys- siert und erlassen worden ist; denn dass wir heute bei den tem nicht überlastet wird. Minijobregeln herumdoktern, hat seine eigentliche Ursa- Ihren Antrag, glaube ich, brauchen wir in dieser Krise che in den unsäglichen Regelungen der Agenda 2010 von nicht. vor über 15 Jahren. (Beifall bei der AfD) Vielen Dank. Den unsozialen Sozialdemokraten unter Kanzler (Beifall bei der CDU/CSU) Schröder haben wir dieses Elend zu verdanken. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24421

Jürgen Pohl (A) Die damals politisch gewollte brutale Deregulierung Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns liegt, wie (C) des Arbeitsmarktes plus Hartz IV führte zu einem drama- Sie wissen, aus guten Gründen im Verantwortungsbe- tischen Anstieg der atypischen und der prekären Beschäf- reich der Mindestlohnkommission und soll ganz bewusst tigung, zu einer massiven Ausweitung von Leiharbeit – nicht einem politischen Überbietungswettbewerb an- meistens zu Hungerlöhnen – und zu einer Ausweitung heimfallen. von Teilzeit-, Mini- und befristeten Jobs. Das führte – und das ist das Entscheidende – zu einer Senkung des (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Immer Realeinkommens. Da liegt der Kern des Problems. noch nicht verstanden! Einmal und dann wie- der Kommission!) (Beifall bei der AfD) Werte Kollegen, in den Jahren, in denen die Sozial- Mit ehrlicher Arbeit kann sich heute keiner mehr demokraten, Christdemokraten, Grünen und Liberalen Wohlstand für sich und seine Kinder erarbeiten. Eine nun regieren, ging die soziale Schere immer weiter aus- weltweit einmalige Abgabenlast frisst jeden Verdienst einander. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt. gnadenlos weg. Arbeit schützt nicht mehr vor Armut. Darum sollten Politik und Staat die aktuelle Krise auch Das ist das, was diese Regierungen verbrochen haben. als Chance begreifen, eine Wiedergeburt der sozialen (Beifall bei der AfD – Beate Müller-Gemmeke Marktwirtschaft einzuleiten. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt gera- (Beifall bei der AfD) de die AfD!) Die AfD als Partei der Arbeitnehmer und des kleinen Ich sage Ihnen: Die Bürger draußen im Land spüren Mittelstandes das. Die Arbeitnehmer in unserem Land spüren das täg- lich, und sie verlieren immer mehr das Vertrauen in diese (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- Regierung. Wenn ich die Reaktion hier im Hohen Haus KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sehe, dann kann es auch nicht mehr so weit her sein mit dem Vertrauen in die Vertreter dieser Parteien. fordert eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der das sozialversicherungspflichtige Normalarbeitsverhältnis Fakt ist: Die soziale Sicherheit sank unter dem Kanzler mit anständigen Tariflöhnen, also Wohlstandslöhnen, Schröder und der Kanzlerin Merkel, und das belegen die wieder der Regelfall wird. – Lachen Sie jetzt immer Armuts- und Reichtumsberichte. Das können Sie einfach noch? Warum lachen Sie, wenn wir diese Forderung erhe- nachlesen. Die Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmern ben? verschärfte sich – und dies sogar europaweit. Das Wort „Lohndumping“ kann diese Misere und den sozialen (Beifall bei der AfD – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Aber nur für Deutsche!) (B) Abstieg von Millionen Arbeitnehmern und ihren Fami- (D) lien kaum zum Ausdruck bringen. Gemeint sind Löhne, mit denen man in seinem Arbeits- Sehr geehrte Kollegen, kommen wir zu den Anträgen leben wieder ein Haus bauen, eine Familie gründen und selbst. Sie sind alle plakativ und sämtlich aus der Abtei- eine Familie unterhalten kann. lung „Propaganda der jeweiligen Partei“. Und jetzt lachen Sie bitte weiter, damit Ihre Wähler Es liest sich wie das Who’s Who der Forderungen im sehen, was Sie für ein soziales Gewissen haben! Sozialen betreffend die Arbeitszeit, betreffend die Mini- Danke schön. jobs. Wir haben wider die ökonomische Vernunft Vor- schläge vorliegen, mit der vollen Sozialversicherungs- (Beifall bei der AfD – Matthias W. Birkwald pflicht geringfügiger Beschäftigung ab dem ersten Euro [DIE LINKE]: Was Sie da machen, ist eine zu beginnen. Viele Minijobs würden für den Arbeitgeber Contradictio in adiecto!) finanziell unattraktiv. Sie würden abgeschafft, und mit diesem Ergebnis wäre niemandem gedient. Das wissen Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie, und trotzdem stellen Sie den Antrag. Danke schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Frak- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das tion Gabriele Hiller-Ohm. sieht der DGB völlig anders, nämlich so wie wir! Das ist die Vertretung der Beschäftigten! – (Beifall bei der SPD) Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Arbeit da ist, dann müssen Gabriele Hiller-Ohm (SPD): auch Beschäftigte eingestellt werden!) Geschätzte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Die Festschreibung einer Mindestwochenarbeitszeit in Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicher- Höhe von 22 Stunden ist viel zu unflexibel. Sie erzeugt lich das Recht der Opposition, zu kritisieren, höhere Lohnkosten, und die Umsetzung würde dazu füh- (Pascal Kober [FDP]: Die Pflicht!) ren, dass wir eine Entlassungs- und eine Pleitewelle haben. aber es wäre gut gewesen, wenn wir von der AfD auch alternative Vorschläge gehört hätten. Da bleiben Sie aber Das Modell der FDP würde zu einer Ausweitung des zurück. Sie pöbeln hier nur rum und zeigen keine realisti- Heeres der unsicher Beschäftigten führen. Sie wollen schen Lösungsmöglichkeiten auf. noch mehr Veränderungen in diesem Bereich. Das würde dazu führen, dass wir noch mehr prekär Beschäftigte (Beifall bei der SPD – Jürgen Pohl [AfD]: Ich haben. lache wenigstens nicht!) 24422 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Gabriele Hiller-Ohm (A) Das ist ein großer Fehler, den Sie machen. Damit machen Das würde bedeuten, dass eine knappe halbe Million (C) Sie sich unglaubwürdig; denn pöbeln alleine reicht nicht Menschen, die derzeit nicht im Minijob arbeitet, zu Mini- und wird die Menschen langfristig auch nicht überzeu- jobberinnen und Minijobbern degradiert würde. Das kön- gen. nen wir doch nicht wollen. (Jürgen Pohl [AfD]: Sagen Sie das Ihren Kol- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem legen!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias – Herr Pohl, ich will Ihnen sagen: Mir reichen schon die Bartke [SPD]: So ist es!) Fake News, die ich von Trump ertragen musste. Sie soll- Die Nachteile der Minijobs sind uns ja allen bestens ten damit aufhören. Es ist nicht die Bundesregierung, bekannt: Ein Sprungbrett in reguläre Arbeit sind sie nicht. sondern das Virus, das zu den jetzigen Problemen – Es ist auch keineswegs so, dass Minijobberinnen und auch in der Wirtschaft – beigetragen hat. Minijobber durch die Ausübung des Minijobs besser qua- lifiziert werden. Im Gegenteil: Es ist doch so, dass viele Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in dieser Minijobberinnen und Minijobber vollkommen unter Legislaturperiode hier ja schon mehrfach über den Nied- ihrem Wert arbeiten. Sie haben zum Teil gute Ausbildun- riglohnsektor und insbesondere über die Minijobs gen, aber als Minijobber führen sie oft Hilfstätigkeiten gesprochen. Ich finde es richtig, Frau Kollegin Ferschl, aus und machen nicht das, was sie einmal gelernt haben – dass wir dieses Thema heute wieder auf der Tagesord- und das für sehr, sehr geringen Lohn. Das können wir nung haben; denn gerade während der Pandemie wird nicht hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. doch ein Schlaglicht auf die Situation der Minijobberin- nen und Minijobber geworfen, und wir sehen, dass sie zu (Beifall bei der SPD) den großen Verliererinnen und Verlierern der Krise zäh- Die Frauen wurden schon angesprochen. 3 Millionen len. Frauen stecken in der Minijobfalle. Es kann doch nicht (Beifall des Abg. Dr. Matthias Bartke [SPD]) Ihr Ernst sein, dass Sie dies jetzt noch weiter ausweiten wollen; denn Minijob und Altersarmut – das wissen wir Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es wichtig, alle – sind zwei Seiten genau derselben Medaille. dass wir darüber debattieren und dass wir uns Gedanken machen, wie wir die Situation der 7 Millionen Minijob- (Beifall bei der SPD – Friedrich Straetmanns berinnen und Minijobber verbessern können. [DIE LINKE]: Dann ändert es doch mit uns!) (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie zeigen mit Ihrem Antrag wieder einmal, für wen Sie hier Politik Frau Ferschl, Sie haben darauf hingewiesen: machen. Das sind eben nicht die Minijobberinnen und 850 000 Menschen haben allein bis Juni ihren Job ver- (B) Minijobber und die Menschen, die für wenig Geld arbei- (D) loren. Als Beispiel führe ich die Gastronomie an. Dort ten müssen. Für sie machen Sie keine Politik. Sie machen sind allein durch die erste Coronawelle 330 000 Men- Politik für diejenigen Arbeitgeber, für die Minijobberin- schen von Arbeitslosigkeit betroffen. Sie wurden aus nen und Minijobber oft eine flexible Arbeitsmarktreserve ihren Jobs direkt in die Arbeitslosigkeit katapultiert. sind; ich will es mal so ausdrücken. Da machen wir nicht Das können wir so nicht hinnehmen. Wir brauchen des- mit. Wir wollen, dass das sozialversicherungspflichtige halb dringend eine Ausstiegsstrategie für die Minijobs. Beschäftigungsverhältnis wieder voll im Mittelpunkt Heute liegen uns nun zwei völlig unterschiedliche steht und die Basis für den Arbeitsmarkt ist. Anträge vor. Die Linke fordert die Abschaffung der Mini- Aber ich will auch sagen, dass es auch volkswirtschaft- jobs. Die FDP will die Ausweitung der Minijobs. Das ist lich ein großer Fehler ist, Minijobs weiter auszubauen. ein alter Hut; den Antrag haben Sie hier schon öfter Sie verschärfen nämlich den Fachkräftemangel. gestellt, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Den gibt (Pascal Kober [FDP]: Der wird aber immer es nicht! Es gibt Fachkräfteengpässe in abgelehnt!) 20 Berufen, aber keinen Mangel! Das ist ein Sie kommen immer wieder mit denselben falschen Argu- Märchen! Das habe ich schon einmal dazwi- menten. Sie sagen, die Ausweitung der Minijobs sei eine schengerufen!) Gerechtigkeitsfrage, die Jobs seien ein Sprungbrett in den Auch das wird oft gar nicht so richtig gesehen. Wir kla- regulären Arbeitsmarkt, in die sozialversicherungspflich- gen über Fachkräftemangel. Gleichzeitig hängen viele tige Beschäftigung. Minijobberinnen und Minijobber, die nach ihrer Ausbil- (Pascal Kober [FDP]: Statistisch bewiesen!) dung nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten können, im Minijob fest und können nicht als Fachkräfte eingesetzt Das ist durch viele Studien widerlegt worden. Da sind Sie werden. vollkommen auf dem Holzweg, das ist nicht richtig. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Meine Damen und Herren, was würde passieren, wenn Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. wir die Lohnobergrenze für Minijobs auf 660 Euro hoch- schrauben würden, wie Sie das, liebe Kolleginnen und Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Kollegen von der FDP, wollen? Was würde dann passie- Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Das, liebe ren? Kolleginnen und Kollegen, sollte sich ein Land, das hän- (Zuruf von der FDP) deringend nach Fachkräften sucht, auf keinen Fall leisten. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24423

Gabriele Hiller-Ohm (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aber was würde es denn für die Arbeit der Vollzeitbe- (C) schäftigten, der Vollsozialversicherungspflichtigen in Wir werden uns dafür einsetzen, dass – – den Branchen der Hotellerie, der Gastronomie, der Kunst und Kultur bedeuten, wenn sie keine Unterstützung mehr Vizepräsidentin Claudia Roth: hätten? Frau Kollegin, das war ernst gemeint. Ihre Redezeit ist (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu Ende. NEN]: Nein, eben nicht Vollzeit! Das ist der Unterschied!) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Frau Präsidentin, wir werden uns dafür einsetzen, dass Vizepräsidentin Claudia Roth: sich der Niedriglohnsektor durch Minijobs nicht weiter Herr Kober, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung vergrößern kann. Und da sind wir auf einem guten Weg. – oder eine Zwischenfrage von Herrn Straetmanns? Danke, Frau Präsidentin. (Beifall bei der SPD) Pascal Kober (FDP): Weil er es ist. Vizepräsidentin Claudia Roth: So geht das nicht, ich sage Ihnen das noch einmal. Ich Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): meine, das ist nicht zum ersten Mal so. Wenn ich Sie bitte, Herzlichen Dank, Herr Kober, dass Sie meine Anmer- Ihre Rede zu beenden, dann sollten Sie das wirklich tun, kung zulassen. – Ich schätze Sie als Mensch sehr, aber ich sonst werde ich die Zeit bei Ihren Kollegen abziehen, und kann das, was Sie hier in Ihrer Rede zu Ihrem Antrag als dann müssen Sie sich mit denen auseinandersetzen. soziales Potpourri des Lebens in Deutschland vor uns entfalten, so nicht unkommentiert stehenlassen. (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Das bin ich!) Sie haben Ihren Redebeitrag mit der Feststellung – Nein, ich mache es jetzt nicht. Aber das ist nicht zum begonnen, dass sich jeder über die Tageszeitung freut. ersten Mal. Wissen Sie, das kann man vielleicht vertreten, wenn man in einer Partei ist, deren Mitglieder keine Minijobber Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Pascal Kober. sind. Ich bin in einer Partei Mitglied, in der es den Alters- rentner gibt, der einen Minijob zum Aufstocken ausüben (Beifall bei der FDP) muss und der sich morgens aus dem Bett quält. Ich habe (B) in meinem Kreisverband Mitglieder, die auch aus ande- (D) Pascal Kober (FDP): ren Gründen auf den Minijob angewiesen sind und nicht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! aufstocken können. Minijobs sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzuden- Deshalb möchte ich das Ganze vielleicht noch mal mit ken. einem anderen Punkt garnieren: Der Minijob, wenn er (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE denn sozialversicherungspflichtig wäre, würde ja den GRÜNEN]: Doch!) Betroffenen helfen, die Rentenvoraussetzung für be- stimmte Altersrenten zu erfüllen. Bei einigen Altersren- Wir freuen uns am Morgen alle über die Zeitung in unse- tenarten haben wir 35 Jahre Wartezeit als Voraussetzung. rem Briefkasten. Wir freuen uns, wenn die Regale in den Um diese Dinge bringen Sie die Menschen. In Ihrem Supermärkten auch in Stoßzeiten voll sind, wenn sich die Antrag entfalten Sie für mich ein Bild einer Gesellschaft, Schlangen vor den Kassen auflösen, weil eine neue Kasse die ich komplett ablehne und die nicht das ist, was ich mir öffnen kann. Wir freuen uns, wenn die Sonne scheint und unter einem Sozialstaat vorstelle. Das ist das eine. die Biergärten und die Straßencafés spontan öffnen kön- Und jetzt stelle ich eine Frage: Haben Sie die Studie nen. Viele Familien und Singles freuen sich über Unter- des DIW vom 4. November 2020 eigentlich gelesen, in stützung in ihrem Haushalt durch haushaltsnahe Dienst- der diese soziale Wirklichkeit beschrieben wird? leistungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Minijobs sind ein Erfolgsmodell, und wenn wir sie nicht hätten, müssten wir sie erfinden. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kober, bitte. (Beifall bei der FDP) (Frank Sitta [FDP]: Aber kurz muss es sein! – Das gilt auch für Kunst und Kultur, die wir in der Frei- Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE zeit genießen. Vom Kartenabreißer bis zur Unterstützung LINKE]: Zwei Minuten sind erlaubt, das waren im Bereich der Technik und der Sicherheitsdienste: Das 1 Minute und 24 Sekunden! Ich habe alles im sind häufig Minijobs, die uns allen den Alltag verschö- Griff!) nern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, und was will Die Pascal Kober (FDP): Linke? Sie möchte dieses Erfolgsmodell beerdigen. Lieber, geschätzter Kollege Straetmanns, vielen Dank für Ihre Frage. – Es ist unstrittig, dass ein Minijob kein (Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Das ist kein Ersatz für eine voll sozialversicherungspflichtige Be- Erfolgsmodell!) schäftigung sein kann. Es muss unser Ziel sein, dass die 24424 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Pascal Kober (A) Menschen über einen langen Zeitraum ihres Erwerbsle- FDP die volle Unterstützung. Wir haben entsprechende (C) bens voll sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Vorschläge vorgelegt, wie man sie besser in den Arbeits- Das ist überhaupt gar keine Frage, und das ist nicht strit- markt integrieren kann. Aber richtig ist auch, dass sich tig. die Chance eines Arbeitsuchenden, in ein voll sozialver- Aber schauen wir uns doch mal die Lebenswirklichkeit sicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu kommen, um an. Wir haben Minijobber, die Studierende sind. Die stei- 40 Prozent verbessert, wenn er zuvor einen Minijob hatte. gen dann in das Berufsleben ein. Die finanzieren sich Diese Chance eines gleitenden Einstiegs und Aufstiegs in einen Teil ihres Studiums. den Arbeitsmarkt sollten wir den Menschen nicht neh- men. Schauen Sie sich die Wirklichkeit an. Es gibt Men- schen, die in Haushalten oder in der Industrie arbeiten, (Beifall bei der FDP) zusätzlich zu einer sozialversicherungspflichtigen Be- Auch bei den Frauen ist es so, dass fast die Hälfe nach schäftigung. Das sind nicht alles Menschen, die in ihrem Ausübung eines Minijobs in eine voll sozialversiche- Hauptjob schlecht verdienen, sondern auch Menschen, rungspflichtige Beschäftigung im Umfang von mindes- die sich etwas hinzuverdienen wollen; das ist statistisch tens 20 Stunden wechselt. Auch hier ist der Minijob die belegt. Man muss sich konkret anschauen, aus welchen Chance für einen Einstieg oder Wiedereinstieg in das Gründen und aufgrund welcher Motivation Menschen Berufsleben. Viele Rentnerinnen und Rentner arbeiten einen Minijob haben, und dann dort ansetzen, wo wir deshalb in einem Minijob, weil sie Schritt für Schritt Probleme erkennen. aus der Beschäftigung ausgleiten wollen, Gleichzeitig muss man betonen: Wir leben in einer ( [SPD]: Ich dachte, weil freien Gesellschaft. Jeder ist ein Stück weit mitverant- sie zu wenig Rente bekommen! Da lag ich wortlich dafür, sich in seinem Berufsleben möglichst so wohl falsch!) zu positionieren, dass es für ihn am Ende passt. und nicht, weil sie dringend auf das Einkommen ange- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE wiesen sind. Es gibt viele Menschen, die sich über den GRÜNEN]: Das ist ja schräg! – Minijob ein zusätzliches Hobby leisten können. Es gibt [SPD]: Ganz schräge Haltung! Jeder ist seines die Studierenden, die sich ihr Studium finanzieren. Wir Glückes Schmied!) als Gesellschaft haben sehr viel zusätzlichen Reichtum durch das Angebot, Minijobs machen zu können. Unsere Aufgabe ist es, ihn dabei zu unterstützen. Dafür macht die FDP hinreichend gute Vorschläge, die hier (Beifall des Abg. Frank Sitta [FDP]) leider keine Mehrheit finden. Aber sehr wichtig wäre bei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre dringend spielsweise, dass wir die Zuverdienstmöglichkeiten bei notwendig, dass wir die seit 2013 festgemauerte Minijob- (B) (D) den Minijobs verbessern, nicht nur, indem wir die Mini- grenze von 450 Euro deutlich erhöhen. Wir schlagen eine jobgrenze erhöhen, wie wir das in unserem Antrag for- Erhöhung auf das 60-Fache des Mindestlohns vor, damit dern, sondern auch, indem wir die Zuverdienstgrenzen bei jeder Erhöhung des Mindestlohns die Einkommens- ausweiten. Wir müssen das Transfer- und Steuersystem möglichkeiten der Menschen in Minijobs künftig steigen. insgesamt so verändern, dass die Minijobfalle gar nicht Das wäre sinnvoll. Dazu gehört eine Verbesserung bei erst entsteht. den Zuverdienstgrenzen; denn für diejenigen, die aufsto- (Beifall bei der FDP) cken, sind derzeit nur 170 Euro der 450 Euro anrech- nungsfrei. Das ist ungerecht, und das ist leistungsfeind- lich. Das muss nicht sein. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall des Abg. Frank Sitta [FDP]) So, jetzt haben Sie ausführlich geantwortet. Danke schön. – Jetzt geht es weiter in Ihrer Rede. Liebe Kolleginnen und Kollegen, geben Sie sich einen Ruck! Erhöhen Sie die Minijobgrenze, und lassen Sie den Minijob als ein zusätzliches Instrument am Arbeitsmarkt Pascal Kober (FDP): Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sähe die Situa- bestehen! tion der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hotellerie Vielen Dank. und Gastronomie aus, wenn sie zu Stoß- und Randzeiten (Beifall bei der FDP) nicht die Unterstützung von Minijobberinnen und Mini- jobbern hätten? Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank, Pascal Kober. – Nächste Rednerin: für GRÜNEN]: Sie würden ganz normal angestellt Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke. werden!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das würde mehr Stress und mehr Arbeitsbelastung erzeu- gen, und das wäre nicht richtig. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich habe es in der Antwort auf die Frage von Herrn NEN): Straetmanns gesagt: Natürlich ist der Minijob kein Ersatz Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- für ein voll sozialversicherungspflichtiges Arbeitsver- legen! Die Beschäftigten in Minijobs haben am Anfang hältnis; aber das wissen die Menschen. Diejenigen, die der Coronapandemie als Erste ihren Arbeitsplatz verlo- Schwierigkeiten haben, einen voll sozialversicherungs- ren. Weil der Minijob keine normale Beschäftigung ist, pflichtigen Arbeitsplatz zu finden, haben vonseiten der werden sie weder durch Kurzarbeitergeld noch durch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24425

Beate Müller-Gemmeke (A) Arbeitslosengeld aufgefangen. Wer in einem Minijob (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) arbeitet, ist also in keiner Weise sozial abgesichert. Des- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) halb fordern wir Grüne genauso wie Die Linke mit ihrem Antrag heute, dass die Minijobs sozialversicherungs- Vizepräsidentin Claudia Roth: pflichtig werden. Auch Beschäftigte in kleinen Jobs müs- Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Nächster sen ordentlich abgesichert sein. Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Axel Knoerig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU) und bei der LINKEN)

Minijobs haben noch viele andere Nachteile, die schon Axel Knoerig (CDU/CSU): lange bekannt sind. Wir wissen, dass vor allem Frauen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und davon betroffen sind. Diese Nachteile hat das Institut für Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Be- Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei einer Anhörung reits seit Jahren wollen die Grünen und die SPD die auf den Punkt gebracht – übrigens zu einem fast identi- Minijobs abschaffen. Jetzt fordert Die Linke dasselbe. schen Antrag der FDP –: Beschäftigungsverhältnisse bei Minjobs sind häufig befristet. Minijobber haben häufig (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE keinen schriftlichen Arbeitsvertrag. Sie haben keine ver- GRÜNEN]: Wir wollen sie nicht abschaffen! tragliche Arbeitszeit. Es ist häufig Arbeit auf Abruf. Viele Wir wollen sie sozialversicherungspflichtig bekommen keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und machen!) auch keinen bezahlten Urlaub. Außerdem verdrängen Wir als Union haben das in all den Jahren immer wieder Minijobs sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. abgewogen und kommen immer wieder zu demselben Das alles dürfen wir nicht zulassen. Deshalb wollen wir Schluss, nämlich die Minijobs beizubehalten. Denn Fol- die Minijobs nicht ausweiten – wie die FDP –, sondern gendes ist Fakt: Beschäftigte wie auch Unternehmen sozialversicherungspflichtig machen. schätzen die Flexibilität. Gerade kleinere Betriebe kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen so Zeiten mit hoher Auftragslage abdecken – die sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE Beispiele sind schon genannt worden –: bei der Ernte in LINKE]) der Landwirtschaft, beim Gastgewerbe in der Tourismus- saison. Wir fordern also eine Reform. Interessant wird es aber, wenn es darum geht, wie diese Reform aussehen soll. Wir haben – das ist richtig – mittlerweile 7,7 Millionen Bekommen die Beschäftigten, die 200 Euro verdienen, Minijobber. Sie nutzen diesen Nebenerwerb – das ist für bei sehr geringen Beiträgen gleich den gesamten Kran- mich das wichtigste und herausragendste Argument in (B) kenversicherungsschutz? Zahlen die Beschäftigten sofort dieser Debatte – für größere Anschaffungen oder um (D) die kompletten Sozialversicherungsbeiträge, egal wie für den Urlaub zu sparen. Das ist die Wirklichkeit. viel sie verdienen? Hier braucht es ein gutes, ein gerech- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE tes und ein umsetzbares Konzept. Im Antrag der Linken GRÜNEN]: Das ist doch kein Nebenerwerb! fehlt es leider. Solch ein Konzept ist aber notwendig. Das ist ganz normale Arbeit! – Susanne Ferschl (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [DIE LINKE]: Die Menschen arbeiten, um sich Urlaub zu leisten?) Im Antrag der Linken geht es auch um den Mindest- lohn, der auf 12 Euro aufgestockt werden soll. Es ist Es ist richtig ausgeführt worden: Schüler, Studenten und bekannt: Das wollen wir auch. Es gibt auch die Forde- Rentner profitieren von diesem Hinzuverdienst. Für viele rung, dass Tarifverträge leichter für allgemeinverbindlich junge Leute ist es der Einstieg in eine Vollzeit- oder Teil- erklärt werden können; auch hier sind wir uns einig, auch zeitbeschäftigung. das fordern wir schon lange. Fakt ist aber auch: Über 80 Prozent der Minijobber lassen sich von der Rentenversicherungspflicht befreien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hier müssen wir ansetzen und bei der Altersvorsorge Dann gibt es noch die Forderung, dass es eine Mindest- nachbessern. Ich sage ganz klar: Das Einzahlen in die stundenzahl von 22 Stunden pro Woche geben soll. Diese Rentenversicherung darf nicht länger freiwillig sein. Sie Forderung lehnen wir ab. Abgesehen davon, dass das muss auch für Minijobber verpflichtend werden. überhaupt nicht praktikabel ist, wollen wir die Menschen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nicht einschränken. Sie sollen schon selber entscheiden, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wie viel sie arbeiten wollen und können. Meine Damen und Herren, das gehört in den nächsten (Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Können sie ja! Koalitionsvertrag. Hier darf es keine Ausnahmen geben. Lesen!) Das gilt übrigens auch für Werkverträge. Grundsätzlich Stattdessen fordern wir – und das sage ich immer und muss gelten: Jede Tätigkeit, die entlohnt wird, muss voll immer wieder – echte Zeitsouveränität für die Beschäf- sozialversicherungspflichtig sein. Ich sage auch und tigten durch Einflussnahme auf die Dauer, die Lage und ergänze: Das ist heute technisch kein Problem. Durch den Ort ihrer Arbeit. Arbeit muss ins Leben passen. die Digitalisierung können auch kleinere Beiträge gut ab- Arbeit soll vor allem gut sein. Arbeit soll auch sozial geführt werden. absichern. Genau so muss es sein, auch bei kleinen Jobs. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank. NEN]: Ja!) 24426 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Axel Knoerig (A) Wir müssen die Minijobs auch pragmatisch weiterent- Wir werden diesen ganzen Unsinn nämlich verhindern. (C) wickeln. Viele Branchen wünschen sich eine Anhebung Wenn wir Minijobs sofort komplett abschaffen würden, der 450-Euro-Grenze. Ich sage hier als Arbeitnehmer: ginge das an den Bedürfnissen der Menschen völlig vor- Auch die Mittelstandsvereinigung der Union spricht bei. sich für eine Dynamisierung der Obergrenze aus. Einerseits sind Minijobs für bestimmte Gruppen (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE attraktiv und auch sinnvoll, zum Beispiel für Studierende, GRÜNEN]: Wie? Was jetzt? Sozialversiche- die einen Nebenjob während ihres Studiums brauchen, rungspflichtig oder nicht?) oder für Rentnerinnen und Rentner, die sich etwas hinzu- Die FDP fordert in ihrem Antrag aber eine zu hohe Ver- verdienen wollen. Andererseits, Frau Ferschl, haben Sie dienstgrenze; 2019 hatte sie schon eine Anhebung auf mit Ihrer Kritik natürlich durchaus recht. 2019 lag die 560 Euro vorgeschlagen. Damit würde der Anschluss zu Zahl der Minijobber bei 7,5 Millionen; das entspricht den Midijobs, die im Verdienstbereich zwischen 450 und fast einem Fünftel aller Arbeitnehmer. Das sind natürlich 1 300 Euro liegen, nicht mehr passen. Hier müsste dann nicht nur Studierende und Rentner. Das sind leider auch die Untergrenze entsprechend dynamisiert werden; aber Beschäftigte, die statt eines Minijobs viel lieber einen davon sehen wir besser ab. Wir haben bereits in 2019 die Teilzeitjob hätten. Für die haben die Minijobs einen Verdienstmöglichkeiten und die Rentenansprüche bei den ganz zentralen Nachteil: Sie bieten keinen Sozialversi- Midijobs verbessert. Dadurch sind auch die Midijobs eine cherungsschutz. gute Alternative im Bereich kleinerer Einkommen ge- In den vergangenen Monaten mussten das viele Men- worden. schen schmerzhaft erfahren. In der Krise haben viele Meine Damen und Herren, Die Linke – das ist gerade Minijobber ihren Job verloren. Sie haben kein Kurzarbei- angesprochen worden – hat in ihrem Antrag die Forde- tergeld bekommen, und sie haben kein Arbeitslosengeld rung aufgeführt, den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhö- bekommen. Sie alle sind jetzt auf Grundsicherung ange- hen. Da haben wir ganz klar die Vorstellung, dass die wiesen. Daher ist es der völlig falsche Weg, Minijobs Zuständigkeit dafür auch weiterhin bei der Mindestlohn- auch noch auszuweiten, wie es die FDP fordert. kommission liegen soll. Wir wollen hier schlichtweg kei- (Beifall bei der SPD) nen Bieterwettbewerb ausloben. Liebe Linke, auch wenn ich Ihre erste Forderung nach Wir als Union setzen auf Flexibilität am Arbeitsmarkt. völliger Abschaffung der Minijobs ja noch nachvollzie- Wer zum Beispiel mit 63 in Rente geht und die Flexirente hen kann, so blieb mir bei Ihrer zweiten Forderung bezieht, der soll auch zukünftig weitaus mehr hinzuver- schlicht die Spucke weg. Sie wollen ernsthaft eine Min- dienen können. Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Das soll destarbeitsstundenanzahl von 22 Stunden pro Woche ein- (B) unbegrenzt möglich sein. Das wäre leistungsgerecht und führen. Nach unten abgewichen werden darf nur noch auf (D) ein guter Anreiz für ältere Fachkräfte, der Wirtschaft Wunsch der Beschäftigten. Kein Unternehmen darf künf- länger zur Verfügung zu stehen. Hier sind Arbeitgeber tig noch Arbeitsstellen für 15 oder 20 Wochenstunden und Arbeitnehmer auf einer Linie. So etwas unterstützen anbieten. wir. (Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Doch, natür- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. lich! – Gegenruf des Abg. Torbjörn Kartes (Beifall bei der CDU/CSU) [CDU/CSU]: Lesen Sie mal Ihren Antrag!) Ich fürchte, diese Forderung kommt aus Ihrem wirt- Vizepräsidentin Claudia Roth: schaftspolitischen Paralleluniversum. Vielen Dank, Axel Knoerig. – Nächster Redner: für die (Beifall des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD]) SPD-Fraktion Dr. Matthias Bartke. Und Sie begründen das auch gar nicht. Mal ernsthaft: (Beifall bei der SPD) Geht’s noch? Da ist mir Ihre dritte Forderung schon wieder deutlich Dr. Matthias Bartke (SPD): sympathischer: Einführung eines 12-Euro-Mindestlohns. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das wollen wir auch. Beim Thema Minijobs offenbaren sich hier die ganz (Lachen des Abg. Max Straubinger [CDU/ großen parteipolitischen Unterschiede. Die Linke möchte CSU]) die Minijobs komplett abschaffen, Der erste Sozialdemokrat, der das gefordert hat, war übri- (Beifall des Abg. [DIE LINKE]) gens Olaf Scholz – ein sehr guter Mann. die FDP will sie ausweiten und die Verdienstgrenze auf (Beifall bei der SPD) 570 Euro anheben, und die Union will die Verdienstgren- ze im Zweifelsfall noch weiter anheben. Als Sozialdemokrat sage ich: Wir wollen mehr Mini- jobs in ordentliche Jobs umwandeln. Das funktioniert am Meine Damen und Herren, da sieht man mal wieder, besten über einen steigenden Mindestlohn. Mit der Ein- wie wichtig es ist, dass es in diesem Hause eine starke führung des gesetzlichen Mindestlohns ging damals nicht SPD gibt – die Hüterin der Vernunft und die Kraft der nur die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftig- Mitte. ten nach oben, sondern gleichzeitig auch die Zahl der (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heiterkeit Minijobber nach unten. Ein guter Mindestlohn ist daher bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch eine Waffe gegen ausufernde Minijobs. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24427

Dr. Matthias Bartke (A) Nur haben wir andere Vorstellungen, wie wir zu einem Ja, es gibt zu viele Menschen, insbesondere Langzeit- (C) 12-Euro-Mindestlohn kommen. Wir sagen: Die Festle- arbeitslose, die im Minijob feststecken und nicht heraus- gung des Mindestlohns ist Sache der Mindestlohnkom- finden in eine sozialversicherungspflichtige Beschäfti- mission und nicht des Bundestages. gung. Das liegt aber nicht am Minijob, sondern an den unfairen Zuverdienstregelungen bei Hartz IV. (Beifall des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD] – Susanne Ferschl [DIE LINKE]: War- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE ten wir halt noch zehn Jahre! – Gegenruf des GRÜNEN]: Nein, das stimmt nicht!) Abg. Torbjörn Kartes [CDU/CSU]: Quatsch!) Wir müssen den Leuten eine trittfeste Leiter bauen, damit Die Aufgabe der Kommission muss es daher sein, die sie da herauskommen. Da kann der Minijob aber nichts Höhe so festzulegen, dass man nach einem Arbeitsleben dafür. zum Mindestlohn nicht in die Grundsicherung fällt. Man (Beifall bei der FDP) muss nicht nur vom Lohn leben können, man muss danach auch von der Rente leben können. Reden wir mal über Fakten, darüber, wer die Mini- jobber in diesem Land sind. Die Statistik ist da ganz Liebe Linke, als Letztes fordern Sie die Erhöhung der eindeutig: Die absolute Mehrzahl, drei Viertel der Mini- Tarifbindung und die Erleichterung der Allgemeinver- jobber, ist in einer Lebenssituation, in der sie – nach re- bindlichkeitserklärung. Wir sehen bei der Pflege gerade, präsentativen Umfragen – gar nichts anderes haben will wie schwer es ist, eine Allgemeinverbindlichkeitserklä- als einen Minijob. Die größte Gruppe der Minijobber sind rung hinzubekommen. Es hätte mich schon gefreut, wenn Rentner, Schüler und Studenten. Dann ist es aber unfair, Sie im Antrag geschrieben hätten, wie Sie das konkret dass wir diese Menschen in den Minijob faktisch einsper- erreichen wollen. ren, wenn es Lohnerhöhungen gibt. In diesem Land dyna- misieren wir alles in der Sozialpolitik mit der Lohnent- (Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Wir haben wicklung, nur die Minijobs nicht. Liebe Kolleginnen und doch schon einen Antrag eingebracht!) Kollegen, das ist doch unfair! Aber ich fürchte, da bin ich wieder mal zu anspruchsvoll. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vielen Dank. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Deswegen wollen wir die Minijobs übrigens, anders als behauptet wurde, auch nicht ausweiten; wir wollen sie nur nicht einschränken, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vizepräsidentin Claudia Roth: (B) Vielen Dank, Dr. Matthias Bartke. – Nächster Redner: (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (D) für die FDP-Fraktion Johannes Vogel. Das ist es nämlich, was aufgrund der aktuellen Rechts- lage passiert. (Beifall bei der FDP) Reden wir mal ganz konkret darüber, was das heißt, zum Beispiel für Studentinnen und Studenten, die auf Johannes Vogel (Olpe) (FDP): BAföG angewiesen sind und deswegen nicht mehr arbei- Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! In der Tat: ten dürfen als im Rahmen eines Minijobs. Dann erhöhen Die Debatte über Minijobs ist immer wieder eine Debatte sich die Löhne, und die Studentinnen und Studenten voller Missverständnisse. haben nicht mehr in der Tasche; aber sie müssen weniger (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Stunden in der Woche arbeiten, obwohl sie es anders GRÜNEN]: Das glaube ich nicht!) wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Mini- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- jobs verdrängen keine sozialversicherungspflichtige NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist doch gut! Dann Beschäftigung. haben sie mehr Zeit zum Studieren!) Das, finde ich, ist eine soziale Ungerechtigkeit, liebe (Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Doch!) Kolleginnen und Kollegen. Im Gegenteil: Sie verdrängen Schwarzarbeit. (Beifall bei der FDP) Was man in dieser Debatte wieder beobachten konnte, Die einzige Lösung ist, den Minijob mit der Lohnent- ist ein klassisches Problem, nämlich die Verwechslung wicklung zu dynamisieren. Das ist überfällig. von Korrelation und Kausalität. Ja, es gibt zu viele – ins- besondere Frauen – in unserem Land, die zu lange in Also: Gehen Sie nicht den Minijob an, sondern die Minijobs stecken bleiben, zu viele Jahre den Minijob unfaire Steuerklasse V – da haben Sie uns an Ihrer Seite –, machen. Ich halte das für ein echtes Problem. Das liegt und gehen Sie die Zuverdienstregelungen an! Übrigens: aber nicht – Kausalität – am Minijob, sondern an den Gerade für junge Leute ist es eine der größten sozialen nicht ausreichend lebensnahen Betreuungseinrichtungen Ungerechtigkeiten in unserem Land, dass Jugendliche und insbesondere an der veralteten Steuerklasse V. Dann aus Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind, von müssen wir die doch endlich abschaffen, liebe Kollegin- dem Geld aus einem Minijob, in dem sie als Schüler viel- nen und Kollegen, und nicht den Minijob! leicht 450 Euro verdienen, nur 170 Euro behalten dürfen. Wir bestrafen Anstrengungen und verhindern soziale (Beifall bei der FDP) Teilhabe. 24428 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Johannes Vogel (Olpe) (A) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Ich sage das jetzt mal als Wirtschaftspolitikerin: Das ist (C) GRÜNEN]: Eigentlich wollen Sie was ganz auch für die Betriebe ein Problem. Ich habe mit so vielen anderes!) Gastronomen in dieser Krise gesprochen. Die haben ge- sagt: Wir wollen die Leute eigentlich gar nicht raus- Das sind die Reformen, die Sie angehen müssten. Der schmeißen. Minijob kann nichts dafür. Die Minijobber haben es ver- dient, dass die Minijobs an die Lohnentwicklung ange- passt werden. Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Vielen Dank. -bemerkung von Herrn Kober? (Beifall bei der FDP) Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, klar. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Johannes Vogel. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge. Pascal Kober (FDP): Frau Kollegin Dröge, vielen Dank, dass Sie die Frage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zulassen. – Es ist ja unstrittig, dass gerade die Branchen, die ich am Anfang meiner Rede genannt habe, von der Coronakrise am härtesten getroffen sind: die Gastrono- Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mie, die Hotellerie, die Freizeit- und Kulturbranche. Dass Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und da Arbeitsplätze verloren gehen, ist ja völlig unstrittig. Kollegen! Sehr geehrter Herr Vogel, sehr geehrter Herr Jetzt sprechen Sie die Verdienstausfälle an, die ohne Kober, ich fand es schon sehr bezeichnend, dass Sie es Zweifel vorliegen. Ich frage Sie: Ist es nicht klug, gerade geschafft haben, in dieser Debatte über die Eindämmung jetzt die Minijobgrenze zu erhöhen, damit, wenn die von Minijobs so gar nicht auf die Situation einzugehen, in Branche wieder Fuß fasst und die Öffnungen wieder ein der wir uns aktuell befinden, nämlich die Coronakrise Leben in Gastronomie, Hotellerie und in der Freizeit- und und die Entwicklungen, die wir in dieser Wirtschaftskrise Kulturbranche ermöglichen, Einkommenseinbußen zu- auch mit Blick auf die Minijobs verzeichnen müssen. Sie mindest nachträglich ausgeglichen werden können? Das sind nicht darauf eingegangen, dass wir in dieser Krise wäre doch sinnvoll. Finden Sie nicht auch? einen massiven Jobverlust bei den Minijobbern hatten, massiv überdurchschnittlich im Vergleich zu den regulä- (Beifall bei der FDP) (B) ren Beschäftigungsverhältnissen. Während es bei den (D) Minijobs minus 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sind, sind es bei den regulären Beschäftigungsverhältnis- Vielen Dank für die Frage. – Ich glaube, Sie machen da sen minus 0,2 Prozent. Wenn man über Minijobs spricht einen Denkfehler. Wenn man die Minijobs in sozialver- und über die Frage, warum es ein sozialversicherungs- sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umwan- pflichtiges Beschäftigungsverhältnis braucht für die delt, dann gibt es diese 450-Euro-Grenze, diese harte Menschen, die in dieser Stunden- und Einkommensklasse Grenze gar nicht mehr. Dann muss man diese Anhebung, arbeiten, dann muss man diese Frage so beantworten: über die Sie jetzt sprechen, einfach nicht mehr machen. Minijobs bedeuten keine Absicherung in der Krise. – Wenn die Menschen dann höhere Löhne verdienen kön- Das ist die Realität, mit der wir uns jetzt auseinander- nen, dann können sie diese höheren Löhne auch bekom- setzen. men. Dann können sie genauso viel arbeiten wie vorher oder mehr. Das ist ja der Sinn: Wenn man zum Beispiel Die Antwort, die wir als Grüne geben, ist: Aus den die Minijobzone in die Midijobzone ausweitet, dann gibt Minijobs sind sozialversicherungspflichtige Beschäfti- es diese harte Grenze nicht mehr. Das ist ja einer der gungsverhältnisse zu machen, Gründe, warum dieses Modell, das wir vorschlagen, so sinnvoll ist und warum es Ihren Vorschlag an dieser Stelle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überhaupt nicht braucht. sowie des Abg. Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weil Minijobber eben keinen Anspruch auf Kurzarbeiter- Das Zweite, was man zu Ihrem Vorschlag sagen muss, geld haben. Und das wäre für viele wichtig gewesen. ist: Sie geben immer nur eine Antwort darauf, was ist, Insbesondere wenn man unserem Antrag gefolgt wäre, wenn die Leute irgendwann mal wieder einen Job haben. das Kurzarbeitergeld für die unteren Einkommensgrup- Sie geben eben keine Antwort darauf – und das werfe ich pen auf 90 Prozent anzuheben, hätten sie eine echte Ihnen vor –, dass die Leute ihren Job verlieren. Ich habe finanzielle Unterstützung in dieser Krise gehabt. Es mit vielen Gastronomen gesprochen, auch großen Be- geht um Menschen, für die 450 Euro im Monat echt trieben. Die haben zum Beispiel gesagt: Ich habe 90 viel Geld sind. Wenn das weg ist, können einige die Miete Beschäftigte, 45 sind regulär beschäftigt, 45 sind Mini- nicht mehr zahlen. Deswegen sind sie darauf angewiesen. jobber. Die 45 Minijobber haben den Job verloren, die Aber Minijobber wurden in dieser Krise reihenweise ent- anderen sind in Kurzarbeit gegangen. – Auch als Wirt- lassen. schaftspolitikerin muss ich Ihnen sagen: Das sind Beschäftigte, die gut eingearbeitet sind. Das sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beschäftigte, die man schätzt. Das sind Beschäftigte, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24429

Katharina Dröge (A) die zum Team gehören. Die Gastronomen mussten sie Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) feuern, weil es eben keine Möglichkeit gab, sie in Kurz- Vielen Dank, Katharina Dröge. – Nächster Redner: für arbeit zu schicken. Das heißt, diese Leute müssen sich die CDU/CSU-Fraktion Max Straubinger. jetzt, weil die Einnahmen aus dem Minijob fehlen, auf dem Arbeitsmarkt eine andere Beschäftigung suchen und (Beifall bei der CDU/CSU) stehen dann nach der Krise diesem Arbeitgeber gar nicht mehr zur Verfügung. Das heißt, am Ende haben doch auch die Arbeitgeber ein Eigeninteresse daran, dass die Max Straubinger (CDU/CSU): Minijobber sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es Darauf geben Sie keine Antwort. ist immer eine angeregte Debatte, wenn es um Minijobs oder insgesamt um kurzfristige und sozialversicherungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN freie Beschäftigungen geht. Unser Sozialrecht lässt diese sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ja zu, und das bedeutet vor allen Dingen eine richtige und gute Absicherung für alle Beteiligten. Es wird ja immer Vizepräsidentin Claudia Roth: so dargestellt, als sei der Minijobber nicht abgesichert. Weiter mit der Rede. Aber er ist abgesichert: im Familienverbund. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): GRÜNEN]: Wie bitte?) Noch einen Satz dazu: Sie sprechen die ganze Zeit von der Flexibilität, die die Unternehmen brauchen, und – Ja, natürlich. Im Rahmen der Krankenversicherung, im sagen, weshalb es diese Minijobs braucht. Herr Kober, Rahmen der Rentenversicherung kann er sich selbst ver- Sie haben sich ja sogar darauf verstiegen, zu sagen, diese sichern mit den 3,6 Prozent, die er selbst zu berappen hat ganzen Berufsgruppen gäbe es nicht mehr, wenn man und mit denen er einen Rentenanspruch erwirbt. die Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäfti- gungsverhältnisse umwandelte. Sie haben von den Zei- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- tungszustellern gesprochen, die es dann nicht mehr gäbe, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat doch eben ge- und von den Ticketabreißern, die es dann nicht mehr sagt, das machen nur 20 Prozent!) gäbe. Das ist ja Unfug. Diese ganzen Tätigkeiten wird Frau Kollegin Ferschl, es ist völlig egal, ob Sie Ein- es auch weiterhin geben. Die Menschen werden da wei- kommen ab 300 Euro mit Blick auf die Rente sozialver- terhin arbeiten. Der einzige Unterschied ist, sie wären sicherungspflichtig machen oder ob Sie eine Absicherung dann sozial abgesichert. (B) über den Minijob vornehmen. Der Rentenanspruch ist (D) (Susanne Ferschl [DIE LINKE], an die FDP immer der gleiche, solange die Äquivalenz die Grundlage gewandt: Zuhören, FDP!) für die Rentenberechnung ist. Es sei denn, Sie wollen die Äquivalenz aufheben; dann wäre das etwas anderes. Aber Das ist der einzige Unterschied, den es an dieser Stelle ansonsten ist der Anspruch immer der gleiche. gibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich glaube, zuerst einmal ist darzustellen, warum wir Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Wünsch dir diese Minijobs haben. Wir hatten ja schon mal eine Zeit, was!) in der sie abgeschafft waren, unter Rot-Grün. In der Zeit haben wir ja auch Erfahrungen gesammelt. Im Rahmen Es gibt natürlich genug reguläre Beschäftigungsver- der Hartz-IV-Reformen haben wir als Union durchge- hältnisse, in denen Flexibilität möglich ist, die auch ein setzt, dass es diese Möglichkeit wieder gibt. Wir stehen Arbeiten zu Spitzenzeiten ermöglichen. All das vernei- dazu, weil sie notwendig sind, um Arbeitsspitzen in ein- nen Sie, weil Sie am Ende den Minijobbern diese Grund- zelnen Bereichen abdecken zu können. Aber das meiste absicherung einfach nicht zur Verfügung stellen wollen. sind kurzfristige Beschäftigungen mit keiner langen Arbeitszeit, sei es Zeitung oder Prospekte austragen und (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Blanker dergleichen mehr. Unsinn!)

Das ist die zentrale Kontroverse. Es geht nicht um die Vizepräsidentin Claudia Roth: Frage, ob es diese Tätigkeiten gibt. Es geht nicht um die Frage, ob es eine begrenzte Arbeitsstundenzahl gibt. Herr Straubinger. Es geht nicht um die Frage, ob man Leute als Hilfe zu Spitzenzeiten einstellen kann. Es geht nicht um die Frage Max Straubinger (CDU/CSU): der Flexibilität. Das alles beantworten wir mit einem Ja. Möchte jemand eine Zwischenfrage stellen? Ja, das muss es weiterhin geben, aber die Menschen müs- sen vernünftig sozial abgesichert werden. Dann haben sie nämlich Unterstützung in der Krise. Dann ist der Sozial- Vizepräsidentin Claudia Roth: staat ein Versprechen für die Krise, für die Unternehmen Ja, genau. Ich wollte Sie fragen, ob Sie eine Zwischen- und für die Beschäftigten. Deswegen haben alle etwas frage von Frau Vogler von den Linken zulassen. davon, da ein Stück weit reinzuinvestieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Max Straubinger (CDU/CSU): sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ja, gerne. 24430 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

(A) Kathrin Vogler (DIE LINKE): um ihr Taschengeld aufzubessern, und die Studenten, um (C) Herr Kollege Straubinger, Sie haben ja gerade wort- ihre Lebenssituation mit einem Hinzuverdienst zu ver- reich vorgetragen, dass die Rentenansprüche, die man bessern. aus Minijobs erwirbt, den in sozialversicherungspflichti- gen Arbeitsverhältnissen erworbenen Ansprüchen nicht Diese Frage ist auch bei den Rentnern zu beantworten. nachstünden. Aber Ihnen ist doch sicherlich auch be- Bei den Rentnern gibt es unterschiedliche Motivlagen. kannt – das hat die Kollegin Ferschl hier ja gerade vor- Die einen nehmen einen Minijob an, weil sie etwas zur getragen –, dass sehr, sehr viele Minijobs im Niedrig- Rente hinzuverdienen wollen, und die anderen, weil sie lohnbereich liegen und dass die Menschen, die in sagen: Ich bin noch rüstig; ich möchte nicht nur zu Hause Minijobs arbeiten, pro Stunde deutlich weniger verdienen sitzen, sondern ich möchte mich noch irgendwo betätigen als Menschen, die über weniger prekäre Arbeitsverhält- und einbringen. – Deshalb gehen sie einem Minijob nach. nisse verfügen. Es gibt also verschiedenste Motivlagen für den Mini- Es gibt auch die Tendenz von Arbeitgebern, sozialver- job. Dem muss man gerecht werden; dem wird Ihr Antrag sicherungspflichtige, tariflich abgesicherte Arbeitsver- aber nicht gerecht, allein schon dadurch, dass Sie 22 Stun- hältnisse, wo zumindest eine Person einen einigermaßen den als Arbeitszeit vorschreiben. Das ist das beste Pro- nachhaltigen Rentenanspruch erwerben könnte, umzu- gramm dafür, dass die kurzfristigen Tätigkeiten in die wandeln und aus einem Vollzeitarbeitsverhältnis mehrere Schwarzarbeit abgedrängt werden. kleine Jobs zu machen. Das führt dazu, dass mehr Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schen in mehreren kleinen Jobs – viele lieben die Mini- jobs so sehr, dass sie sich gleich drei davon leisten – dann Das haben wir in unserer Gesellschaft alles schon gehabt. deutlich weniger bekommen, als wenn sie die gleiche (Zuruf von der LINKEN) Arbeitszeit in vernünftigen Jobs und vernünftigen Arbeitsverhältnissen verbrächten. Vizepräsidentin Claudia Roth: Machen Sie da nicht ein bisschen eine Milchmädchen- Gut, Herr Straubinger. – Nein, bitte Platz nehmen! rechnung auf? Ich finde das wirklich sehr verstörend. Jetzt wechseln wir wieder.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Straubinger. Von daher ist der Minijob eine gute und vernünftige Einrichtung. Ich habe gerade schon erklärt, warum es Max Straubinger (CDU/CSU): (B) dieses Instrument gibt. Da ist zunächst die Steuerfreiheit, (D) Frau Kollegin Vogler, der Arbeitgeber kann gar kein die für manche vielleicht ein Anlass ist, zu sagen: Ein Interesse daran haben, die Arbeitsverhältnisse in Minijo- Hinzuverdienst von 5 400 Euro steuerfrei, cash, das ist bregelungen umzuwandeln. für mich eine Motivation. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Die FDP will dem mit dem Antrag, den sie gestellt hat, GRÜNEN]: Das gibt es aber!) entgegenwirken. Ich sage ganz offen: Da bin ich nicht ganz konform mit der Meinung der FDP-Fraktion. Ich Denn das ist für den Arbeitgeber teurer, als wenn er die bin nicht unbedingt ein Freund davon, den Minijob gren- Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigen zenlos auszuweiten; denn ein Minijob bedeutet, kleintei- würde, weil hier der Arbeitgeber über 30 Prozent an Pau- ligste Arbeit kurzfristig abzudecken. schalen abführen muss. So aber zahlt er nur die Hälfte, nämlich rund 20 Prozent der Sozialversicherungsbeiträ- Heute wurde beklagt, dass die soziale Sicherheit im ge. Von daher hat der Arbeitgeber überhaupt kein Inte- Zusammenhang mit den Minijobs eine mindere Sicher- resse, diese Arbeitsverhältnisse umzuwandeln. heit bedeutet, insbesondere wenn Arbeitslosigkeit die Folge ist. Die Union und insgesamt die Koalition Beim Minijob ist es so – ob es ein richtiger Gewinn ist, hat ein hervorragendes Angebot für die Bürgerinnen sei dahingestellt –, dass der Minijobler seinen Verdienst und Bürger und für die Arbeitnehmer geschaffen, indem sozusagen steuerfrei erhält. Das kann man ganz offen wir nämlich den Midijob bis zu einem Umfang von sagen: Das sind – in diesem Sinn subventioniert – 1 300 Euro brutto ausgeweitet haben. Zudem führt dies 5 400 Euro, die ich – als steuerzahlende Person wohlge- nicht zum Nachteil in der Rentenversicherung, was den merkt – steuerfrei hinzuverdienen kann. Erwerb von Rentenversicherungspunkten betrifft, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE obwohl niedrigere Beiträge abgeführt worden sind. GRÜNEN]: Ja, aber das ist doch auch nicht Ich stehe als Christsozialer dafür, dass das sozialver- gerecht, oder?) sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis im Vor- Das gilt für die Masse derer, die sich einen Hinzuver- dergrund stehen muss, auch für die Bürgerinnen und dienst zum regulären Arbeitsverhältnis schaffen. Das Bürger und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- betrifft rund 2,3 Millionen Menschen in unserem Land. mer. Bei Schülern und Studenten gibt es dieses Motiv nicht, Ich gebe dem Kollegen Vogel ausdrücklich recht: Wir weil sie in der Regel nicht diese steuerliche Präferenz müssen nochmals überlegen, ob bei der steuerlichen Ver- haben. Aber es gibt das Motiv, sich selbst schnell etwas anlagung die Steuerklasse V die richtige Antwort bedeu- hinzuzuverdienen: die Schüler durch Prospektaustragen, tet. – Ehrlicherweise muss man aber auch sagen: Wenn Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24431

Max Straubinger (A) eine gemeinsame steuerliche Veranlagung von Partnern Ich muss mich wundern, dass man in einer solchen (C) stattfindet, dann wird das sicherlich auch wieder ausge- Situation einen Antrag stellt, der zum Ziel hat, genau glichen. diese Arbeitsverhältnisse noch mehr auszuweiten. Das halte ich für falsch. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber nicht beim Arbeitslosen- (Beifall bei der SPD) geld!) Ziel der Politik muss es sein, diese Arbeitsverhältnisse Das ist momentan nur der große steuerliche Abzug. zurückzudrängen, und dafür steht meine Fraktion, die SPD. Das sind die Dinge, die wir hier insgesamt zu diskutie- ren haben. Auch der zweite Aspekt ist noch zu sehen, (Beifall) lieber Kollege Vogel. Die soziale Absicherung der Mini- jobler zum Beispiel bei der Krankenversicherung beruht Ich sage den Kolleginnen und Kollegen von den Lin- natürlich auf den Beiträgen all derer, die in die Sozialver- ken ganz deutlich: Es ist wichtig, dass man die Dinge sicherung einzahlen. Das Delta, das dadurch entsteht, differenziert betrachtet. Sie haben einen Antrag gestellt, dass die einen als Minijobler nichts einzahlen, müssen bei dem es in seinem Titel heißt: „Minijobs in sozialver- die anderen, die voll Sozialversicherungspflichtigen, sicherungspflichtige Beschäftigung überführen“. Das fin- letztendlich auffangen. Deshalb muss man auch die Frage de ich gut. Sie wollen aber die Minijobs abschaffen. Das stellen, ob es gerechtfertigt ist, die Einkommensgrenze hört sich zunächst gut an. Man muss Ihnen, wie so oft, bei der Minijobregelung zu erhöhen. aber auch wieder sagen: Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß. Es gibt ganz unterschiedliche Lebenslagen. Unter diesen Gesichtspunkten werde ich mit gutem Gewissen beide Anträge ablehnen. Es wurde schon mehrfach angesprochen, was es bei- spielsweise für die jungen Leute bedeutet, die sich als (Beifall bei der CDU/CSU) Schüler oder Studenten Geld hinzuverdienen müssen, wenn wir die Minijobs einfach abschaffen. Darüber Vizepräsidentin Claudia Roth: muss man schon nachdenken. Ich finde, das ist ein wich- tiger Punkt. Das würde gerade diejenigen schwächen, die Vielen Dank, Max Straubinger. – Nächste Rednerin: sowieso aus einkommensschwächeren Familien kom- für die SPD-Fraktion Angelika Glöckner. men. Da muss man genau hinschauen. Vor allen Dingen (Beifall bei der SPD) muss man dort hinschauen, wo Minijobs dazu führen, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können, (B) dass sie im Alter arm sind, dass sie sozial nicht abge- (D) Angelika Glöckner (SPD): sichert sind. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe vor meiner Zeit als Abgeordnete im Das sind die Punkte, die man sich genau anschauen Deutschen Bundestag Seit’ an Seit’ mit vielen Arbeits- muss, und dafür steht meine Fraktion, die SPD. An dieser kolleginnen und -kollegen dafür gekämpft und dafür Stelle wollen wir handeln. Deswegen sage ich: Unsere gestritten, dass es Gute Arbeit gibt. Was heißt „Gute Position ist die beste, und wir müssen Ihre Anträge ableh- Arbeit“ eigentlich, was kennzeichnet „Gute Arbeit“? Vie- nen, tut mir leid. les wurde bereits genannt; aber ich glaube, von allen (Beifall bei der SPD) Kriterien steht doch ganz oben, dass man von seinem Lohn leben kann. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der SPD) Vielen Dank, Angelika Glöckner. – Die letzte Rednerin Da schließt sich doch die nächste Frage an. Wer, der in dieser spannenden Debatte: Jana Schimke für die einen Minijob macht, kann von seinem Lohn leben? Die CDU/CSU-Fraktion. Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand: Niemand! (Beifall bei der CDU/CSU) Niemand, der einen Minijob macht, verdient einen Lohn, von dem er leben kann. Da muss man doch anset- zen. Es wurde viel über Statistiken gesprochen; aber Jana Schimke (CDU/CSU): reden Sie doch einmal mit den Betroffenen, mit den Men- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf schen – es sind überwiegend Frauen; das wurde schon heute hier in dieser spannenden Debatte den Punkt setzen, mehrfach gesagt –: Verkäuferinnen, Leute, die in Lagern und das mache ich natürlich gerne, das können Sie sich arbeiten; Zeitungszustellerinnen und viele andere mehr, vorstellen. Ich sage Ihnen eines: Minijobs sind wichtig, die wichtige Tätigkeiten ausüben. und sie sind aus unserem Arbeitsmarkt auch nicht mehr wegzudenken. Eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie sind motiviert, sie sind engagiert, sie leisten wichtige Tätigkeiten für unsere (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gesellschaft, und sie haben es schlicht verdient, dass sie der CDU/CSU) auch ordentlich vergütet werden und dass man sie in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse über- Wer soll denn bitte die Spitzenzeiten in der Gastronomie führt. Dafür steht meine Fraktion, die SPD. abdecken, die Abendschichten? Wer soll denn im Einzel- handel die Regale befüllen? Wer soll denn in den Saison- (Beifall bei der SPD) betrieben das Gemüse und das Obst ernten? 24432 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Jana Schimke (A) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- dann können Sie natürlich für solche Tätigkeiten auch (C) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie meiner voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigte einstel- Kollegin nicht zugehört?) len. Nur, wer macht denn diesen Job noch? Die meisten Der Arbeitsmarkt hat sich gewandelt. Wir sind ein Hoch- Menschen wählen doch andere Berufswege. Wir haben technologieland. Die Menschen können sich ihre Berufe einfach das Problem in der deutschen Wirtschaft, dass wir auswählen; das tun sie auch. Das führt aber dazu, dass wir für bestimmte Tätigkeiten keine voll sozialversiche- in anderen Bereichen einen immer größeren Fachkräfte- rungspflichtigen Arbeitskräfte mehr finden und schlicht- mangel haben und dass man schlichtweg auf solche Fle- weg darauf angewiesen sind, besondere Instrumente zu xibilisierungsmöglichkeiten angewiesen ist. entwickeln, die solche Tätigkeiten attraktiv machen. Wenn ich beim Minijob brutto für netto bekomme, ist Es gibt unterschiedlichste Ursachen dafür, warum das ein Anreiz. Minijobs so beliebt sind. Eine ganz wesentliche Ursache ist natürlich, dass es brutto für netto gibt. Ich erinnere (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mich selber an meine Zeit als Studentin: Ich war darauf der CDU/CSU) angewiesen, so einen Job zu machen. Dafür bin ich bis heute sehr dankbar; er hat mir letztendlich auch den Weg Vizepräsidentin Claudia Roth: in den Beruf geebnet. Vielen Dank. – Weiter in Ihrer Rede.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Jana Schimke (CDU/CSU): Frau Schimke, ganz schnell, erlauben Sie eine Zwi- Ich bin bei meiner Studentenzeit stehen geblieben. schenfrage oder -bemerkung von Frau Müller- Mein Minijob hat mir auch den Berufseinstieg gesichert; Gemmeke? denn ein nur theoretisches Studium garantiert Ihnen den auch nicht mehr, Sie brauchen schon ein bisschen Praxis- Jana Schimke (CDU/CSU): erfahrung im Vorfeld. Ja, gerne. Wie sieht es bei den Rentnern aus? Die meisten Rent- nerinnen und Rentner sind noch sehr fit und machen das Vizepräsidentin Claudia Roth: sehr gerne, und diese Freiheit möchte ich ihnen nicht So, das ist dann aber echt die letzte. nehmen. (Heiterkeit) (Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP])

(B) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deswegen brauchen wir selbstverständlich Minijobs. (D) NEN): Aber es gibt ein ganz zentrales Argument für Minijobs, Vielen Dank, Frau Präsidentin, ich mache es auch ganz weshalb wir sie uns nicht mehr wegdenken könnten: Sie kurz. – Frau Schimke, ich möchte einfach nur, dass Sie sind schlichtweg unbürokratisch. Es reicht, ein Formular mir erklären, warum die Regale im Supermarkt nicht von auszufüllen, und sie haben einen Beschäftigten, eine sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eingeräumt Beschäftigte. Sie zahlen als Arbeitgeber pauschal unge- werden können. fähr 30 Prozent Sozialversicherungsbeiträge, Sie haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den ganzen bürokratischen Kram nicht an der Backe. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Ich habe das gerade selbst erleben dürfen. In einer Kreis- der SPD) tagsfraktion gab es eine schöne Stelle, diese wurde aber nicht mit einer voll sozialversicherungspflichtigen Be- Warum können bitte die Bedienungen abends, am schäftigung ausgeschrieben, sondern mit zwei Minijobs. Wochenende nicht sozialversicherungspflichtig arbeiten? Auf meine Frage, warum man das macht, war die Ant- Warum können kleine Jobs nicht sozialversicherungs- wort: Na, weil es eben unbürokratischer ist. – Meine pflichtig sein? Da, wo Arbeit ist, braucht es Beschäftigte, Damen und Herren, das müssen wir einmal zur Kenntnis und die können immer sozialversicherungspflichtig ange- nehmen stellt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- der CDU/CSU) KEN) und vielleicht auch in künftige Beschlüsse dieses Hauses einbeziehen und etwas dafür tun, dass Arbeitsmarktpoli- Vizepräsidentin Claudia Roth: tik auch unbürokratischer wird. Frau Schimke. (Zurufe von der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Jana Schimke (CDU/CSU): Frau Müller-Gemmeke, Sie haben theoretisch natür- lich völlig recht. Wenn Sie diese Idee am Reißbrett den- Vizepräsidentin Claudia Roth: ken, Können wir jetzt einfach wieder ein bisschen durch- atmen? (Dr. Florian Toncar [FDP]: So machen die das immer!) (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Om!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24433

(A) Jana Schimke (CDU/CSU): Es gibt in diesem Segment natürlich auch Mitnahmeef- (C) Minijobber, meine Damen und Herren, sind auch nicht fekte; darüber können wir gerne reden. Aber das, was Sie schutzlos; das soll an dieser Stelle auch gesagt sein. Sie tun, nämlich eine Situation prekär zu reden und daraus genießen Kündigungsschutz, sie haben Urlaubsanspruch, eine gesamtgesellschaftliche Zustandsbeschreibung zu und sie haben natürlich auch ein Recht auf Entgeltfort- machen, ist falsch. zahlung im Krankheitsfall. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie argumentieren jetzt mit Corona und sagen: 12 Pro- der CDU/CSU) zent der Minijobs sind weggefallen, und das ist alles nicht Also, lassen Sie uns die Fehlanreize am Arbeitsmarkt krisensicher. – Das ist alles richtig; aber der Minijob dient angehen! Lassen Sie uns für Entbürokratisierung in allen doch nicht dazu, in wirklich jeder Krise und jeder Lage Bereichen des Arbeitsmarktes sorgen! Wir müssen natür- abzusichern. lich auch über die Entgeltgrenze beim Minijob reden. (Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Das ist egal, (Gabriele Katzmarek [SPD]: Garantiert nicht!) oder was?) Der Mindestlohn steigt stetig an, deshalb muss natürlich Das ist eine Nebenbeschäftigung, wenn Sie so wollen. auch die Grenze des Minijobs angehoben werden. Darauf haben wir uns schon verständigt. Im Grunde genommen (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE ist es wichtig, den Menschen weiterhin durch möglichst GRÜNEN]: Arbeit ist Arbeit! Es gibt keine viel Flexibilität ihren Arbeitsplatz zu sichern. Arbeit erster und zweiter Klasse!) Vielen Dank. Niemand hat gesagt, dass man sein gesamtes Berufsleben einen Minijob ausüben soll. Das ist auch nicht unsere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auffassung, und wir haben auch niemals gesagt, dass man davon leben kann. Vizepräsidentin Claudia Roth: Uns ist natürlich bewusst, wie es vielen Frauen in Vielen Dank, Frau Schimke. – Damit schließe ich die diesem Lande geht, die ausschließlich eine Tätigkeit als Aussprache. Minijobberin ausüben. Das gefällt uns ganz und gar Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf nicht; deswegen ist es auch richtig, dass unsere Frauen den Drucksachen 19/24003 und 19/24370 an die in der Union darauf hinweist. Aber die Reaktion darauf kann Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – doch nicht sein, zu sagen: Wir verbieten das jetzt ein- Es gibt keine weiteren Vorschläge. Dann wird so verfah- fach. – Vielmehr besteht unsere Aufgabe doch darin, zu ren. (B) sensibilisieren, auf die Tücken und die Fehlanreize, die (D) ein Erwerbsleben manchmal haben kann, hinzuweisen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir doch bitte Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- den Menschen auch die Freiheit, ihr Leben, ihr Berufs- leben so zu leben, wie sie es gerne möchten. serung der strafrechtlichen Bekämpfung der Geldwäsche (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Drucksache 19/24180 der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil sie das Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) auch immer freiwillig machen!) Ausschuss für Inneres und Heimat Das gilt für Studenten, das gilt für Rentnerinnen und Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Rentner, und das gilt natürlich auch für jene Menschen beschlossen. – Ich warte, bis Sie die Plätze getauscht in diesem Land, die einen Minijob als Nebenerwerb aus- haben. üben. In diesem Bereich haben wir erhebliche statistische Ich eröffne die Aussprache und erteile zu Beginn die- Schwächen, das soll auch gesagt sein: das berühmte Bei- ser Debatte das Wort der Bundesministerin Christine spiel von Korrelation und Kausalität; Kollege Vogel hat Lambrecht für die Bundesregierung. es eben angesprochen. Wir wissen schlichtweg nicht, warum die Leute das tun. (Beifall bei der SPD) Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus der Individualempi- rie. Der Malermeister sagt: Ich würde meinen Beschäftig- Christine Lambrecht, Bundesministerin der Justiz ten gerne ihre Überstunden bezahlen, ich würde sie gerne und für Verbraucherschutz: noch mehr beschäftigen. Ich würde gerne diejenigen in Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Teilzeit auf Vollzeit hochstufen. – Und was sagen die Herren! Wir müssen der Realität ins Auge sehen: Dro- Mitarbeiter? Nein, machen wir nicht, wir gehen lieber genhandel, Schutzgelderpressung, Schmuggel und Kor- bei einem anderen als Minijobber arbeiten, weil es sich ruption, bei diesen schmutzigen Geschäften geht es um schlichtweg mehr lohnt. richtig viel Geld. Auch in anderen Bereichen erwirtschaf- ten Kriminelle mit ihren Straftaten enorme Gewinne. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Durch Geldwäsche werden die Verfolgung von Straftaten NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das liegt doch an und die Vermögensabschöpfung erschwert, wenn nicht unseren Regeln! Das liegt daran, dass das sogar unmöglich gemacht. Das dürfen wir nicht länger steuerfrei ist! Das müssen wir ändern!) hinnehmen. 24434 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Bundesministerin Christine Lambrecht (A) Wir müssen die Täter zur Rechenschaft ziehen, wo wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) nur können. Das betrifft zum einen die Täter, aus deren der CDU/CSU) Straftaten die kriminellen Profite stammen, ebenso wie die Geldwäschetäter. Denn nur, wenn klar ist, dass beide Vizepräsidentin Claudia Roth: Tätergruppen konsequent verfolgt werden, haben wir Vielen Dank, Christine Lambrecht. – Nächster Redner: eine Chance, uns gegen kriminelle Machenschaften zu für die AfD-Fraktion Thomas Seitz. stellen, insbesondere gegen die organisierte Kriminalität. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der AfD – Abg. Thomas Seitz der CDU/CSU) [AfD] begibt sich mit einer Mund-Nase-Bede- ckung aus Netzstoff zum Rednerpult – Patrick Vermögenswerte, die aus Drogenhandel, Raub und Schnieder [CDU/CSU]: Ist das eine Netzmas- Erpressung oder irgendeiner anderen Straftat stammen, ke? – Gegenruf der Abg. [BÜND- haben einen Makel, und solange sie diesen Makel mit NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nee, oder? – Gegen- sich tragen, dürfen sie nicht Teil des ehrlichen Wirt- ruf des Abg. Patrick Schnieder [CDU/CSU]: schaftslebens sein oder werden. Es darf nicht angehen, Doch! Das ist eine Netzmaske! – Abg. Thomas dass illegale Vermögenswerte zum Kauf von Immobilien, Seitz [AfD] hängt seine Mund-Nase-Bede- Kunstwerken, Schmuck oder Autos benutzt werden. ckung an das Mikrofon am Rednerpult – Steffi (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann doch nicht sein! Jetzt ist aber Schluss Es darf nicht angehen, dass mit illegalen Vermögenswer- mit der Sauerei! – Dr. Jan-Marco Luczak ten legale Geschäfte finanziert werden. [CDU/CSU]: Das ist ja eine Frechheit!) Meine Damen und Herren, Geldwäsche ist ein Problem auf nationaler, auf europäischer und auch auf globaler Vizepräsidentin Claudia Roth: Ebene, und sie schadet der Integrität und Stabilität der Würden Sie bitte die Maske da wegnehmen und vorne Finanzbranche. Geldwäsche beschädigt den europä- hinlegen? ischen Binnenmarkt, und Geldwäsche gefährdet die in- nere Sicherheit. Deshalb gehen wir jetzt noch schärfer gegen sie vor. Wir weiten den Geldwäscheparagrafen Thomas Seitz (AfD): wie folgt aus: Bisher ist es nötig, dass das Geld aus Also, bevor wieder die AfD die Demokratie angreift, ganz bestimmten Straftaten stammt, und das wollen wir nehme ich sie gerne weg, ja. ändern. In Zukunft soll gelten: Ganz egal, aus welcher (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Frech- (B) Straftat Vermögen erlangt wird, wer dieses Vermögen heit! Kasper, wirklich!) (D) wäscht, der macht sich strafbar. Punkt. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Das macht die Strafverfolgung deutlich einfacher und Danke schön, Herr Seitz. damit wirksamer; denn künftig muss nicht mehr sehr auf- wendig nachgewiesen werden, aus welcher Straftat genau Thomas Seitz (AfD): das illegale Vermögen stammt. Der Geldwäscheparagraf Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen greift bereits dann, wenn das Gericht zu der Überzeugung und Herren! Frau Ministerin! Es geht um die Umsetzung gelangt, dass das gewaschene Vermögen irgendeinen kri- der 6. EU-Geldwäscherichtlinie auf den letzten Drücker; minellen Ursprung hat. In Zukunft wird der Geldwäsche- denn die Frist läuft in zwei Wochen ab. Zwei Jahre hatten paragraf deshalb viel häufiger als bisher greifen, und das Sie Zeit; aber erst im Sommer kam der Referentenent- ist richtig. Die Geldwäschebekämpfung bekommt so wurf, Frau Ministerin, das ist Gesetzgebung der ganz mehr Biss. schlechten Art. Die Ermittlungsbefugnisse der Strafverfolgungsbe- Schon 2015 schätzte eine Dunkelfeldstudie der Martin- hörden gestalten wir gleichzeitig wirksam und dabei Luther-Universität Halle-Wittenberg den durch Geldwä- grundrechtssensibel aus. Telefonüberwachungen oder sche verursachten Schaden auf über 100 Milliarden Euro Onlinedurchsuchungen bei Geldwäscheverdacht sind jährlich nur für Deutschland. Der heutige Betrag dürfte möglich, wenn es wie bisher um besonders schwerwie- weitaus höher liegen. Denken wir doch nur an die Aus- gende Fälle geht; das sind Summen ab 50 000 Euro. Auf breitung krimineller Clans arabisch-kurdischer Migran- diese schwerwiegenden Fälle sollten wir die Überwa- ten. chungsmaßnahmen konzentrieren. (Zuruf von der Linken: Wie bitte?) Meine Damen und Herren, mit der Änderung des Geld- wäscheparagrafen, so wie Ihnen vorgestellt, haben wir Der Gesetzentwurf ist hochkomplex, deshalb in Kürze die große Chance, Sand in die Maschinerie der organis- die wichtigsten Anmerkungen: ierten Kriminalität zu werfen. Wir haben die Chance, Erstens. Der Tatbestand der Geldwäsche knüpft nicht illegale Geldflüsse auszutrocknen, und wir haben die mehr an einen Straftatenkatalog an, sondern lässt jede Chance, Bürgerinnen und Bürger vor kriminellen Straftat als Vortat genügen. Dieser über die Vorgaben Machenschaften zu schützen. Deswegen ergreifen wir der Richtlinie hinausgehende „all crimes“-Ansatz soll diese Chance mit diesem Gesetzentwurf! die Anwendung erleichtern und wird von Polizei und Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Justiz ausdrücklich begrüßt. Es ist ja auch einfacher, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24435

Thomas Seitz (A) wenn sich das Gericht nur noch die volle Überzeugung chung hier für eine halbwegs konturierte Anwendung (C) verschaffen muss, dass Taterträge aus einem einfachen gesorgt haben wird. Lassen Sie Polizei und Justiz in Betrug stammen anstatt aus einem gewerbsmäßig oder Ruhe ihre Arbeit machen, ohne permanent die Strafvor- bandenmäßig begangenen. schriften zu ändern und zu verkomplizieren! Sie konterkarieren damit allerdings das Ziel der Richt- Vielen Dank. linie, organisierte Kriminalität und Terrorismus besser zu (Beifall bei der AfD) bekämpfen, wenn jedes Bagatelldelikt zur Vortat taugt. In der Praxis wird man sich damit behelfen, dass großzügig nach §§ 153, 154 und 154a StPO eingestellt wird. Dies Vizepräsidentin Claudia Roth: dient aber der Opportunität und Effektivität der Strafver- Herr Seitz, warten Sie bitte! Da Sie keine Maske folgung im Einzelfall und rechtfertigt nicht die Schaffung haben, sondern nur ein löchriges Tuch, fordere ich Sie einer viel zu weit geschafften Strafnorm sehenden Auges. auf, diese Maske jetzt zu tragen. Zweitens. Es bleibt das Problem, dass Vorsatz aus- (Vizepräsidentin Claudia Roth hält Abg. scheidet, wenn der Täter sich keine klaren Vorstellungen Thomas Seitz [AfD] eine Mund-Nase-Bede- von irgendeinem Vergehen oder Verbrechen macht. Pro- ckung hin – Beifall bei Abgeordneten der fessionelle Geldwäscher, also spezialisierte Anbieter von CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- Geldwäschedienstleistungen, haben schon aus Gründen SES 90/DIE GRÜNEN – Abg. Thomas Seitz des Selbstschutzes kein Interesse an der Kenntnis der [AfD] verweist auf seine Mund-Nase-Bede- Herkunft der von ihnen gewaschenen Vermögenswerte. ckung aus Netzstoff) Gerade im Kernbereich der organisierten Kriminalität – Sie haben ein löchriges Tuch. wird deshalb Vorsatz regelmäßig nicht nachweisbar sein und das Ziel der EU-Richtlinie klar verfehlt. (Zuruf von der SPD: Da läuft er schon die ganze Zeit mit rum!) Drittens. Ist der Vorsatz bezüglich der Vortat nicht nachweisbar, war bisher auch leichtfertiges Handeln Das ist keine Maske. strafbar. Die Streichung dieser Vorschrift im Referenten- (Thomas Seitz [AfD]: Das ist eine Mund-Nase- entwurf stieß zu Recht auf deutliche Kritik. Hier ist das Bedeckung!) Ministerium zu loben, dass der Gesetzentwurf die Straf- barkeit leichtfertigen Handelns doch beibehält. Es mag – Das ist keine Maske! Ich fordere Sie auf, diese Maske sein, dass künftig nicht mehr über die Hälfte der Verur- zu tragen. teilungen wegen Geldwäsche als leichtfertig begangene (Vizepräsidentin Claudia Roth hält Abg. (B) Tat erfolgt. An der großen Bedeutung der Vorschrift wird Thomas Seitz [AfD] erneut eine Mund-Nase- (D) sich aber nichts ändern. Bedeckung hin – Thomas Seitz [AfD]: Haben Viertens. Sie schreiben lapidar, dass ein Erfüllungsauf- Sie auch eine steril verpackte? Dann nehme ich wand für die Wirtschaft nicht zu erwarten sei, was ich für sie gerne von Ihnen! Diese haben Sie jetzt kon- hochgradig zweifelhaft halte. Sie können nicht einerseits taminiert!) den Anwendungsbereich des § 261 StGB uferlos auswei- – Die ist aus der sterilen Verpackung. – Gut, Sie bleiben ten und andererseits ernsthaft davon ausgehen, dass dies jetzt hier stehen. Das ist ein Theater, das hier abgeht. Das nicht massive Auswirkungen auf die Erfüllung der Sorg- ist nicht zu fassen. Ich nehme jetzt hier den Stift, damit falts- und Meldepflichten nach dem Geldwäschegesetz ich sie nicht berühre. hat. (Vizepräsidentin Claudia Roth öffnet eine Fünftens. Im Hinblick auf weitere Kosten räumt der Packung mit Mund-Nase-Bedeckungen und Gesetzentwurf immerhin ein, dass mit einem beträchtli- entnimmt dieser eine mit einem Stift – Heiter- chen Mehraufwand im justiziellen Kernbereich der Län- keit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/ der zu rechnen ist. Was ist aber auf der Stufe davor? Die CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Strafgerichte werden nicht ohne die Vorarbeit der Staats- DIE GRÜNEN – Patrick Schnieder [CDU/ anwaltschaften tätig, und genauso verhält es sich mit dem CSU]: Sie sind erbärmlich, Herr Seitz!) Verhältnis Staatsanwaltschaft zu Polizei. Die Änderung wird also nicht nur eine spürbare Personalaufstockung So! Und die setzen Sie jetzt bitte auf. bei Gerichten und Staatsanwaltschaften, sondern auch (Abg. Thomas Seitz [AfD] nimmt die Mund- bei der Polizei notwendig machen, und das in Zeiten, in Nase-Bedeckung entgegen und setzt sie auf – denen den Ländern die Steuereinnahmen bedingt durch Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den Ausnahmezustand ohnehin wegbrechen. Das ist Geht doch! Warum nicht gleich so? – Thomas unverantwortlich, Frau Ministerin. Seitz [AfD]: Vielen Dank! Und mit dem Maul- (Beifall bei der AfD) korb darf ich jetzt hier das Pult verlassen?) – Das ist kein Maulkorb, sondern das ist eine Maske! Und Ich komme zum Schluss. Nur die Abgabe unserer Sou- wenn Sie so weitermachen, dann kriegen Sie einen Ord- veränität an die EU zwingt uns, gesetzgeberisch tätig zu nungsruf! werden. Es hätte gereicht, die Vorschrift punktuell nach Maßgabe der Richtlinie zu ergänzen. Noch besser wäre (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem es, eine ohnehin schwierige Vorschrift gar nicht zu än- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- dern; denn es wird Jahre brauchen, bis die Rechtspre- ordneten der CDU/CSU und der FDP – 24436 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Thomas Seitz [AfD]: Sie hatten mir nur verbo- Vortatenkatalog. Nach dem All-Crimes-Ansatz ist es (C) ten, zu gehen! Deswegen habe ich nachgefragt! zukünftig wesentlich einfacher, den Nachweis für die Ich will nichts Falsches machen! – Steffi Geldwäsche zu führen. Es kommt nicht darauf an, welche Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Vortat es war. Ganz egal, aus welcher Vortat Kapital er hat doch gehört!) geschlagen wurde, kann man sich danach künftig strafbar machen. Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Jan- Marco Luczak. Und – das ist mir ganz wichtig – damit das Gesetz (Beifall bei der CDU/CSU) tatsächlich ein scharfes Schwert ist, damit wir die organi- sierte Kriminalität bekämpfen können, haben wir als Union verhindert, dass die leichtfertige Geldwäsche, so Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): wie es im Referentenentwurf zunächst vorgesehen war, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen gestrichen wird. Ich habe gerade mit einem Vorsitzenden und Kollegen! Ich glaube, der Kollege Seitz hat vorher einer Strafkammer gesprochen, der mir noch mal gesagt eine Maske, die offensichtlich sehr eng gesessen haben hat: Die Leichtfertigkeit ist das zentrale Instrument in der muss, getragen. Da scheint nicht mehr so viel Sauerstoff Praxis. Die allermeisten Verurteilungen bei der Geldwä- durchgekommen zu sein. sche erfolgen nach dem Tatbestand der leichtfertigen (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Geldwäsche. – Es hätte zu massiven Strafbarkeitslücken und der SPD) geführt, wenn wir nur noch auf vorsätzliche Straftaten bei der Geldwäsche hätten rekurrieren können. Wir sagen – Meine Damen und Herren, am Dienstag in dieser das muss auch zukünftig so bleiben –: Wer leichtfertig Woche gab es eine große Razzia hier in Berlin gegen seine Augen davor verschließt, dass Vermögen aus kri- die organisierte Clankriminalität. 1 600 Beamte aus meh- minellen Machenschaften stammt, der muss zukünftig reren Bundesländern waren hier im Einsatz gegen die auch mit Strafe rechnen, meine Damen und Herren. stadtbekannte Remmo-Clanfamilie. Es ging darum, den Kunstdiebstahl – das haben Sie alle in den Medien ver- Dringend nachgebessert werden muss das Gesetz aber folgt – im Dresdner Grünen Gewölbe aufzuklären. Dort bei der selbstständigen Einziehung von Vermögen unbe- sind Kunstschätze von unschätzbarem Wert – sowohl kannter Herkunft. Momentan ist es so – so steht es im kunsthistorisch als auch materiell – gestohlen worden. Gesetzentwurf –, dass es nur noch möglich ist, selbst- Viele Hunderte Millionen Euro ist diese Beute wert ständig einzuziehen, wenn die Vortat bandenmäßig gewesen. Die Mitglieder der gleichen Clanfamilie waren begangen worden ist oder wenn sie gewerbsmäßig erfolgt auch verantwortlich für den Einbruch ins Berliner Bode- ist. Aber das ist gerade das Problem bei der selbstständi- (B) Museum, wo eine 100-Kilo-Goldmünze gestohlen wur- gen Einziehung. Wir wissen in aller Regel nicht, um (D) de. Von dieser Beute und der Beute aus dem Grünen welche Vortat es sich gehandelt hat. Wenn wir nicht wis- Gewölbe fehlt bislang jede Spur. sen, um welche Vortat es sich gehandelt hat, dann können Was passiert jetzt mit dieser Beute? Sie wird zu Geld wir auch nicht sagen, ob sie bandenmäßig oder gewerbs- gemacht, und anschließend wird es gewaschen. Das mäßig begangen worden ist. Wir würden am Ende, wenn heißt, es wird in den legalen Wirtschaftskreislauf zurück- das so bliebe, das ganze Instrument seiner Wirksamkeit gebracht. Das Geld wird angelegt. Es werden Geschäfte berauben. Deswegen werden wir im parlamentarischen gekauft oder Immobilien erworben. Die Kriminellen las- Verfahren darauf dringen, dass das geändert wird. Es sen es sich damit gut gehen, alles mit Geld aus kriminel- darf zukünftig nicht so sein, dass das hier eingeschränkt len Machenschaften. Hier, meine Damen und Herren, wird. Das wäre absolut absurd und kontraproduktiv. Des- fordert die organisierte Kriminalität unseren Rechtsstaat wegen muss das geändert werden, meine Damen und heraus. Für uns als Union ist deswegen ganz zentral, dass Herren. wir hart, konsequent und auch wirksam darauf antworten können. Unser Rechtsstaat muss an dieser Stelle wehrhaft (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sein, meine Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank. Wir müssen ganz deutlich sagen: Straftaten dürfen sich nicht lohnen. Genau diese Botschaft wird jetzt Gesetz. Wir folgen dem einfachen Prinzip „Follow the money“. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Es ist das Geld, das den Anreiz für Straftaten gibt. Des- „Vielen Dank“, das ist das Schlusszeichen. – Wir wür- wegen müssen wir bei der Bekämpfung von Kriminalität, den bei der Beweislastumkehr auch noch gerne ein Stück insbesondere bei der Bekämpfung der organisierten Clan- weitergehen. Aber das wird der nächsten Rede vorbehal- kriminalität, genau da ansetzen. Kriminelle müssen wir ten bleiben. dort treffen, wo es ihnen wehtut, und das ist das Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank. Genau deswegen nehmen wir uns jetzt die Vorschriften (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zur Straftat der Geldwäsche vor. Wir gestalten sie um zu einem scharfen Schwert, sodass die Strafverfolgung wirklich erleichtert wird. Wie machen wir das? Künftig – Vizepräsidentin Claudia Roth: darauf hat die Ministerin schon hingewiesen – entfällt der Vielen Dank, Dr. Luczak. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24437

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der FDP) (C) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, Noch etwas – aber das ist eher etwas für das Fach- FDP. publikum im Ausschuss –: Es ist hinsichtlich der Straf- (Beifall bei der FDP) bestimmung fraglich, ob die Regelung zu Auslandstaten dann bestimmt genug ist, wenn sie nicht nur Auslands- Dr. Jürgen Martens (FDP): taten einbezieht, die im Ausland schon strafbar sind, son- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und dern sich auch auf Taten bezieht, die im Ausland nach Herren! Zu diesem Gesetzentwurf, der Novellierung des Beschlüssen und Richtlinien der EU möglicherweise Geldwäschetatbestandes, ist eines anzumerken: Nach der strafbar sein sollten. Da sind die Grenzen des Bestimm- Vorstellung des Gesetzentwurfes durch die Bundesjustiz- theitsgrundsatzes möglicherweise verletzt. Aber das ist ministerin hat keiner meiner Vorredner gesagt, dass es eine Detaildiskussion, die wir noch zu führen haben. hier nichts zu verbessern gebe. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Ingmar Jung [CDU/CSU]: Doch! Herr (Beifall bei der FDP) Luczak!)

– Entschuldigung, das war allein Herr Luczak. - Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Dr. Florian Toncar [FDP]: Aber er hat Scha- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Fabio De Masi, densminderung betrieben!) Die Linke. Auch wir finden, dass dieser Gesetzentwurf durchaus (Beifall bei der LINKEN) noch verbesserungsfähig ist. Geldwäsche ist in der Tat ein Delikt mit einem eigenen Fabio De Masi (DIE LINKE): Unwertgehalt, das seinen Unwertgehalt nicht aus der Vor- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! tat alleine bezieht, sondern selber einen eigenen Unwert „Geldwäsche“ klingt etwas niedlich, aber wir sprechen besitzt, indem es nämlich die Voraussetzungen für die über schwerste Finanzkriminalität, und einige der Kolle- Begehung weiterer Straftaten, deren Finanzierung und ginnen und Kollegen hier im Raum konnten dieser Kri- auch die Erhaltung von möglicherweise dahinterstehen- minalität gestern über mehrere Stunden ins Auge blicken, den Strukturen erst schafft. Insofern ist es notwendig, als wir Dr. Markus Braun, den ehemaligen CEO von Geldwäsche umfassend und nachhaltig zu bekämpfen, Wirecard, versucht haben zu vernehmen. Es geht um meine Damen und Herren. Terrorismus, um Waffen- und Menschenhandel, um Kor- (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ruption, um Steuerhinterziehung. Und wer so etwas (D) der CDU/CSU und der Abg. Canan Bayram macht, der versucht natürlich, die Spur des Geldes zu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) verschleiern. Es ist von daher positiv, dass die Bundesre- Ob dies allerdings mit dem schlichten Wegfall der Kata- gierung es jetzt mit dem All-Crimes-Ansatz erleichtert, logtaten, also der Aufzählung bestimmter Vortaten, zu die Verschleierung von Geldflüssen zu bekämpfen, und erreichen ist, das ist zweifelhaft. Es geht auch uns nicht jede strafbare Vortat dafür heranzieht. alleine darum, Taten möglichst hart zu bekämpfen, son- Es ist auch positiv, dass Sie bei der Leichtfertigkeit dern sie möglichst wirksam zu bekämpfen. noch einmal in sich gegangen sind und dort eine Ver- Wenn hier eingeräumt wird, durch den Wegfall der schlechterung der gesetzlichen Lage abgewendet haben. Vortaten werde es zu einem deutlichen Anstieg der Zahl Aber das alles bleibt symbolische Rechtspolitik, solange der Verfahren kommen, dann bedeutet das natürlich einen der Vollzug nicht verbessert wird. deutlichen Anstieg an Belastungen für Gerichte und (Beifall bei der LINKEN) Staatsanwaltschaften. Das müssen die Länder finanzie- ren. Es ist einfach, im Bund Gesetze zu verschärfen, Denn in den Bundesländern fehlt es an guter IT, es fehlt deren Ausführung – und auch die Finanzierung der Aus- an fähigem Personal. Wir müssen hier die Expertise der führung – den Ländern obliegt. Meine Damen und Her- Landeskriminalämter miteinbeziehen. Wir brauchen so ren, so einfach können wir es uns eigentlich nicht etwas wie eine Finanzpolizei in Deutschland – wie in machen. Italien die Guardia di Finanza –, die auch wirklich schlag- kräftig ist. (Beifall bei der FDP) Noch etwas: Mit diesem Gesetz wird eine Richtlinie (Beifall bei der LINKEN) der Europäischen Union, auf die sich die Mitgliedstaaten Auch weiterhin ist die Verschleierung selbst nicht insgesamt verständigt haben, umgesetzt. Allerdings wird strafbar. Das ist ein Problem, weil zum Beispiel eine sie nicht nur umgesetzt, sondern sie wird mal wieder komplexe Mafiaorganisation natürlich in der Lage ist, übermäßig umgesetzt. Denn die Richtlinie verlangt ja über viele Tarnfirmen, über viele Schritte ihre Straftat nur das Aufführen bestimmter Katalogtaten und nicht zu verheimlichen, sodass wir allein die Tatsache, die das Streichen sämtlicher Vortaten. Das wird aber hier dahintersteht, nicht kennen. Deswegen ist es wichtig, gemacht. Das heißt, wir packen mal wieder gesetzgebe- dass auch die Geldwäsche selbst schon Anlass ist, Ermitt- risch zusätzlich etwas auf die Anforderungen der Europä- lungen aufzunehmen. ischen Union drauf. Auch das schafft möglicherweise einen nicht notwendigen Aufwand. (Beifall bei der LINKEN) 24438 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Fabio De Masi (A) Wenn wir es aber mit der Mafia aufnehmen wollen, Ganze Häuserblocks werden gekauft und verkauft. Wir (C) brauchen wir endlich auch transparente Strukturen. Es wissen nicht, ob mit schmutzigem oder gewaschenem kann nicht sein, dass Rocco und vier Brüder reichen, Geld. Wir haben immer noch keinen Straftatbestand. um die Auflagen des Transparenzregisters zu umgehen. Deswegen muss man tatsächlich darüber nachdenken, Es kann nicht sein, dass in Deutschland eine Immobilien- ob man das nicht unter Strafe stellt. Das müssen wir party mit Betongold steigt, wo Oligarchen ganze Häuser- ändern, meine Damen und Herren. komplexe bar aus dem Rindslederkoffer bezahlen kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen. Dagegen brauchen wir Maßnahmen in Deutschland. In Berlin stellt sich heraus, dass allein eine kriminelle (Beifall bei der LINKEN) Gruppierung mindestens 28 Millionen Euro dreckiges Zuletzt zur Vermögensabschöpfung. Die hat sich be- Geld aus illegalen Geschäften in Immobilien investiert währt, auch im Kampf gegen Clankriminalität oder bei hat. Und obwohl die Behörden daraufhin ganze 77 Immo- Cum/Ex-Clankriminalität – auch dort haben wir clanähn- bilien beschlagnahmt haben, konnten die weiterhin über liche Strukturen, organisierte Kriminalität. Aber es soll einen Strohmann die Mieten kassieren. den Gerichten ermöglicht werden, dass sie den Angeklag- (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das war ten auferlegen können, dass diese nachweisen müssen, Clankriminalität! Das können Sie auch mal so dass ihr Geld aus legalen Quellen stammt. Und jetzt wol- benennen!) len Sie diese Möglichkeit weiter einschränken, indem Sie den Nachweis verlangen, dass der Vermögensgegenstand Man muss sich vorstellen: Menschen zahlen ihre Miete aus einer bandenmäßigen Vortat stammt. Das ist insbe- und denken, dass sie dafür etwas bekommen, und in sondere bei der Terrorismusfinanzierung häufig nicht der Wirklichkeit wird mit diesen Mieten schlimmste Krimi- Fall. Laut Bundesgerichtshof darf man aber keine über- nalität finanziert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das spannten Anforderungen an die Richter stellen. Deswe- muss sich ändern. gen sagen wir: Hier droht eine Verschlechterung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesetzeslage. Das zentrale Problem der Verfolgung von Geldwäsche Eine allerletzte Bemerkung, weil die AfD sich hier so ist, dass die Herkunft des Vermögens durch komplizierte aufgeblasen hat: Einer unserer Zeugen gestern, der uns Konstruktionen aus Strohmännern, Briefkastenfirmen noch vor einer Woche verklagen wollte und den wir aus und Offshorestrukturen verschleiert wird. Woher das der JVA heraus vernommen haben, hat enge Beziehungen Geld dann kommt, wissen wir nicht. Das können wir zu einer Abgeordneten, die in diesen Reihen sitzt. Des- nicht hinnehmen. wegen sollten Sie vielleicht bei diesem Thema etwas Deswegen finde ich es wirklich ehrenwert, dass die (B) mehr den Ball flachhalten. Bundesregierung sich daran versucht, den Geldwäsche- (D) Vielen Dank. paragrafen zu ändern. Aber leider gelingt es nicht, das Gesetz entsprechend hinzubekommen. Dabei reicht es (Beifall bei der LINKEN – Dr. Florian Toncar vielleicht, sich zumindest mal die Stellungnahme der [FDP]: Aber dafür kann sie jetzt ausnahmswei- Praktiker anzuschauen. Der Bund Deutscher Kriminal- se mal nichts!) beamter hat dort deutlich gemacht, welche Vorschläge wir im Ausschuss diskutieren sollten. Denn es ist doch Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: klar – das wurde hier auch schon gesagt –: Keine Ver- Nächste Rednerin ist die Kollegin Canan Bayram, besserung, sondern eine Verschlechterung der strafrecht- Bündnis 90/Die Grünen. lichen Bekämpfung der Geldwäsche wäre so ziemlich das Dümmste, was wir machen könnten. Aber genau das, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) liebe Frau Ministerin, wirft Ihnen der Bund Deutscher Kriminalbeamter vor. Das müssen wir ändern. Darüber Canan Bayram (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): müssen wir uns im Ausschuss verständigen, liebe Kolle- Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ginnen und Kollegen. Kollegen! Ob es die italienische Mafia ist oder die Finan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zierung von Terrororganisationen: Gerade hier in sowie des Abg. Fabio De Masi [DIE LINKE]) Deutschland machen wir es allen noch immer viel zu leicht, ihr schmutziges Geld zu waschen, Geld, das bei Geschäften mit Drogen oder Waffen oder beim Men- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: schenhandel verdient wurde, um nur ein paar der Bei- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dirk Wiese, spiele zu nennen. Und wo fließt dieses Geld dann hin, SPD. meine Damen und Herren? Da brauche ich nur in meinen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Jan- eigenen Wahlkreis, nach Friedrichshain-Kreuzberg zu Marco Luczak [CDU/CSU]) schauen. Die Mieter wohnen in Häusern, von denen nie- mand so genau weiß, wem sie eigentlich gehören. Auch Dirk Wiese (SPD): die Eigentumsverschleierung bei Immobilien ist ein Rie- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und senproblem im Zusammenhang mit der Geldwäsche, Kollegen! Geldwäsche – wir haben es gehört – sichert meine Damen und Herren. Kriminellen Geld aus oft schwersten Straftaten und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN finanziert damit meist die nächsten Straftaten. Die Geld- und bei der LINKEN) wäsche – das wissen wir von den Ermittlungsbehörden – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24439

Dirk Wiese (A) funktioniert dabei auf den verschiedensten Wegen. Von (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Jan- (C) verschachtelten Firmennetzwerken über virtuelle Zah- Marco Luczak [CDU/CSU]) lungssysteme bis hin zu Computerspielwährungen nutzen die Täter heute unterschiedlichste Mittel zur Verschleie- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: rung von Finanztransaktionen und zur Vermögensmeh- Nächster Redner ist der Kollege Ingmar Jung, CDU/ rung. Das Wichtigste ist dabei neben gesetzlichen Ände- CSU. rungen, Verschärfungen und Anpassungen, dass wir vor Ort eine gute Ausrüstung, genügend Personal und vor (Beifall bei der CDU/CSU) allem auch gute Voraussetzungen für die Strafverfol- gungsbehörden haben; denn darauf kommt es letztendlich Ingmar Jung (CDU/CSU): vor Ort in der Praxis entscheidend an. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Ich will ausdrücklich hervorheben, dass im Bereich der ren! Liebe Kollegen! Das ist schon eine beeindruckende Geldwäsche und Clankriminalität gerade das Bundesland Debatte heute, auch wenn der Höhepunkt mit der Rede Niedersachsen mit dem Innenminister Boris Pistorius in von Herrn Dr. Ullrich gleich noch kommt, wie gewohnt den vergangenen Jahren an vielen Stellen vorangegangen am Ende. ist. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der nordrhein- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) westfälische Innenminister Reul Geldwäschebekämp- Doch wenn man es gewohnt ist, hier über Strafrecht zu fung mit dem Besuch von Shishabars gleichsetzt. Hier diskutieren, ist es irgendwie etwas irritierend, muss ich wäre, glaube ich, mal ein Anruf in Niedersachsen fällig; sagen. denn hier wird wirklich gute Arbeit geleistet. (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD) NEN]: Freuen Sie sich doch, Herr Jung!) Der jetzt von Christine Lambrecht vorgestellte Ent- Ich habe es noch nie erlebt, dass die AfD plötzlich erklärt: wurf geht in die richtige Richtung, und er ist, glaube Man darf doch nicht so hart vorgehen, man darf doch im ich, bei der Bekämpfung der Geldwäsche ein wichtiger Strafrecht nicht viel zu weit gehen, man muss doch mal Meilenstein. Zwei Beispiele. Verständnis für die Täter haben. Eine entscheidende Erleichterung gibt es bei der Straf- Noch mehr bin ich überrascht, dass Die Linke und, verfolgung. Es wird nun nicht mehr darauf ankommen, Frau Bayram, die Grünen plötzlich harte Strafen, hartes dass Vermögenswerte aus ganz bestimmten Straftaten Vorgehen fordern. oder bestimmten Tathergängen herrühren. Beispielsweise (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) konnte der Täter A, der regelmäßig, aber nicht gleich- NEN]: Ja, freuen Sie sich doch mal!) (D) zeitig gewerbsmäßig Betrug beging und das Geld in neue, hochwertige Pkws steckte, früher nicht wegen Ja, „Geldwäsche“ klingt so ein bisschen nach Kapital, da Geldwäsche belangt werden. Das wird sich durch dieses verschwimmt hier alles ein bisschen. wichtige Gesetzesvorhaben ändern. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Ein zweites Beispiel. Bisher konnten die aus beschlag- der FDP) nahmten Vermögenswerten gezogenen Nutzungen teil- Also, diese Debatte ist schon beeindruckend gewesen. weise nicht eingezogen werden. Wenn also der Clan X Lassen Sie mich vielleicht noch die Kernpunkte fest- sich mit seinem schmutzigen Geld auf der Schloßallee ein halten. Mehrfamilienhaus kauft, in dem unter anderem auch ein Restaurant zur Pacht ist, dann kann der Staat künftig Erstens. Zu dem All-Crimes-Ansatz haben schon eini- dieses Grundstück einziehen, und er erhält auch alle Ein- ge etwas gesagt. Ich halte es für einen außerordentlich nahmen aus den Mietverhältnissen und die mit dem Gast- wichtigen Punkt, dass wir jetzt, bezogen auf die Herkunft stättenbetreiber vereinbarte Pacht. Das ist eine wichtige der Vermögensgegenstände, die dann wieder in den Wirt- gesetzliche Änderung, die den Strafverfolgungsbehörden schaftskreislauf gegeben werden, alle Vortaten und nicht sehr wichtige Instrumente an die Hand gibt. Es ist gut, nur bestimmte Straftaten für taugliche Geldwäschevor- dass das jetzt vom Bundesjustizministerium und von taten halten; denn letztlich haben sie doch einen eigenen Bundesjustizministerin Christine Lambrecht auf den Unrechtsgehalt. Wenn ich unrechtmäßig erworbene Ver- Weg gebracht wird. mögensgegenstände habe und die dann zurück in den legalen Wirtschaftskreislauf gebe, ist es doch relativ (Beifall bei der SPD) egal, wie strafbar und wie schlimm die Vortat war. Das Denn es gibt gerade bei Immobilien in Toplagen wirklich kann die Strafe der Vortat beeinflussen; aber inkrimi- beträchtliche Miet- und Pachteinnahmen, und es ist gut, nierte Vermögensgegenstände sind inkriminierte Vermö- dass die jetzt auch eingezogen werden können. gensgegenstände. Da gibt es keine guten und keine schlechten. Deswegen finde ich es gut, dass wir jetzt Die anstehenden Beratungen werden wir mit unserem eine Verbesserung schaffen und in Zukunft stärker dage- Koalitionspartner sehr gut und konstruktiv führen. Ich gen vorgehen können. glaube, am Ende wird hier ein sehr wichtiges Gesetz herauskommen, das im Kampf gegen Geldwäsche wirk- Zum Zweiten bin ich außerordentlich dankbar, Frau lich ein wichtiges Zeichen setzt. Ministerin, dass Sie die Strafbarkeit der Leichtfertigkeit jetzt wieder mit aufgenommen haben. Ich glaube, wir alle Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. haben in den letzten Wochen viel mit Praktikern gespro- 24440 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Ingmar Jung (A) chen. Jeder Staatsanwalt sagt: Wenn ich das nicht drin Dennoch will ich auf zwei Dinge hinweisen, die mir (C) habe, dann kann ich viele Verfahren gar nicht erst in wichtig sind. Gang setzen. – Deswegen finde ich es wichtig, dass wir hier am Ende keine Aufweichung des Geldwäschepara- Wenn man sich ansieht, welchen Umfang die Geld- grafen haben. wäsche allein in Deutschland schätzungsweise hat, dann muss man sich auf eine Studie der Uni Halle aus dem Jahr Über die selbstständige Einziehung, lieber Herr Kolle- 2015 beziehen. Darin wird die unvorstellbare Summe von ge Wiese, müssen wir, glaube ich, noch mal reden. Ich 100 Milliarden Euro genannt – knapp ein Drittel unseres stimme all dem, was Sie zu Immobilien usw. gesagt Bundeshaushaltes. Diese 100 Milliarden Euro zeigen haben, zu. Aber bei den Voraussetzungen haben wir jetzt nicht nur den Umfang der Kriminalität, sondern sie zei- eine Änderung, die schon bemerkenswert ist. Dass wir gen auch das Leid auf, das dahintersteht, weil hinter jeder plötzlich nur noch bei gewerbs- oder bandenmäßiger Geldwäschetat auch eine Vortat steht, die wir in diesem Begehung der Tat die selbstständige Einziehung machen Rechtsstaat bekämpfen müssen. können, finde ich im Ergebnis okay; denn das sind natür- lich die, die wir eigentlich meinen. Deswegen ist es richtig, dass wir mit diesem Gesetz Aber was wird denn da geregelt? Da haben wir die weiter daran arbeiten, Geldwäsche zu unterbinden. Gera- Möglichkeit, zu einem sehr frühen Zeitpunkt auf Vermö- de weil die Anzahl und der Umfang der Vortaten größer gensgegenstände zugreifen zu können, nämlich ab dem wird, ist es richtig, dass wir auf den Katalog der Vortaten Zeitpunkt, ab dem der Anfangsverdacht besteht. Aber verzichten und damit jede Straftat als Vortat zulassen. Ich wenn der Anfangsverdacht einer Geldwäschestraftat freue mich auch, dass unser Ansinnen erfolgreich war besteht, weiß man doch oft noch gar nicht, ob eine qua- und die sogenannte leichtfertige Geldwäsche, von der lifizierte Vortat vorlag oder die Qualifikation erst danach Praktiker sagen, sie sei das Einfallstor, jetzt auch aus gegeben ist. Und wenn wir das jetzt so ändern, dass wir dem Referentenentwurf heraus Eingang in den Regie- die selbstständige Einziehung einschränken, wenn wir rungsentwurf gefunden hat. diese Aufweichung drin haben, haben wir vielleicht nicht mehr die Möglichkeit, bei Clankriminalität und Ähnlich- Worüber wir noch sprechen müssen, ist in der Tat die em zuzugreifen. Darüber müssen wir, glaube ich, in den Frage der selbstständigen Einziehung, § 76a Strafgesetz- nächsten Wochen noch mal sehr genau reden. buch. Das ist eine Strafrechtsnorm, über die man viel- leicht nicht sofort stolpert, die aber für die Staatsanwalt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schaften enorm wichtig ist, nämlich bei der Frage: Wie Ich will noch eins sagen. In der Diskussion ist gele- kann ich sofort Vermögensgegenstände sichern, wenn ich gentlich gesagt worden, man könne ganz auf die Vortaten vielleicht noch gar nicht weiß, was genau die Vortat war? (B) verzichten. Herr De Masi, Sie haben gesagt: Es muss aus Deswegen dürfen wir da nicht zu einer Verengung der (D) sich heraus strafbar sein. – Ich weiß nicht, ob Sie damit Vortat kommen, sondern es muss jeder Anfangsverdacht sagen wollten, man könne auf die Vortat ganz verzichten. genügen, um dieses Geld sicherzustellen; denn jedes Aber es ist eine Diskussion dazu gelaufen, und es gab Geld, das sichergestellt ist, wird aus dem kriminellen Wissenschaftler, die darüber gesprochen haben. Ich Kreislauf herausgenommen. Deswegen ist es, glaube muss ehrlicherweise sagen, das würde auch uns ein gan- ich, ein ganz wichtiges Momentum, das wir uns im Ver- zes Stück zu weit gehen. Denn das, was bei inkriminier- lauf der Debatte sehr gut anschauen müssen. ten Vermögensgegenständen als Tathandlung bestraft wird, sind teilweise Verhaltensweisen, die alltäglich und Mir ist auch noch wichtig, zu betonen, dass wir über gebräuchlich sind und auch möglich sein müssen. Dann den gesetzlichen Rahmen hinaus ein Bewusstsein brau- brauchen wir schon noch eine Vortat, damit daraus eine chen. Sowohl bei den LKAs und Staatsanwaltschaften Straftat wird. Aber ich glaube, dass dies im Moment auch der Länder wie auch bei unserer Financial Intelligence keiner mehr ernsthaft fordert. Wie gesagt, an der einen Unit beim Zollkriminalamt brauchen wir gute Leute Stelle war ich mir nicht ganz sicher. und müssen offen sein für die Ausweisung von Stellen; denn der Staat kann nur dann gut und sicher handeln, Ich höre jetzt auf, bevor mir das Wort entzogen wird. wenn er auch das entsprechende Personal hat. Wir schaf- Herzlichen Dank. fen den rechtlichen Rahmen; aber der Staat muss diese Vorschriften auch vollziehen. Denn es gibt noch weitere (Beifall bei der CDU/CSU) Herausforderungen, die auf uns zukommen, zum Beispiel die Frage der Geldwäsche im Bereich Bitcoin. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Wir sagen den kriminellen Machenschaften den Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. Kampf an und werden mit diesem Gesetz die Geldwäsche in Deutschland zurückdrängen. Lassen Sie uns darüber (Beifall bei der CDU/CSU) gut debattieren.

Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Herzlichen Dank. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! Ich bin jetzt natürlich versucht, zu sagen, dass den (Beifall bei der CDU/CSU) klugen Worten des Kollegen Jung nichts mehr hinzuzufü- gen ist. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der CDU/CSU) Damit schließe ich die Aussprache. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24441

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs chen vor allen Dingen eine einheitliche Teststrategie. (C) auf der Drucksache 19/24180 an die in der Tagesordnung Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, damit die Men- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere schen wieder Zutrauen haben, in ein Flugzeug zu steigen Vorschläge? – Offensichtlich nicht. Dann verfahren wir und zu fliegen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. wie vorgeschlagen. (Beifall bei der FDP) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Aber das wird nicht reichen, liebe Kolleginnen und Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd Kollegen. Wir müssen – auch das ist eine Forderung der Reuther, Frank Sitta, Torsten Herbst, weiterer Freien Demokraten – die Abgabenlast im Luftverkehr Abgeordneter und der Fraktion der FDP ganz deutlich senken, sei es bei der Luftverkehrsteuer, Unterstützung für das System Luftverkehr in die die Große Koalition in dieser Wahlperiode nochmals Zeiten von Corona erhöht hat, sei es bei den Luftsicherheitsgebühren, sei es bei den Defiziten der Flugsicherung; um nur einige Punk- Drucksache 19/24356 te hier zu nennen. Da gibt es viele Stellschrauben, wo Überweisungsvorschlag: man was machen kann. Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Auswärtiger Ausschuss (Beifall bei der FDP) Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ich möchte auch noch einen anderen Punkt anspre- Finanzausschuss chen. Natürlich werden in diesen Tagen viel weniger Ausschuss für Wirtschaft und Energie Verteidigungsausschuss Flugzeuge von den Airlines bestellt, weil sie selber viele Ausschuss für Gesundheit Überkapazitäten haben. Das führt dazu, dass gerade die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Forschung und Entwicklung für innovatives, klima- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus freundliches Fliegen, für die Entwicklung von syntheti- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union schen Kraftstoffen weit hinter den Erwartungen zurück- Haushaltsausschuss bleibt. Da müssen wir handeln. Deswegen fordern wir Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Freie Demokraten eine Aufstockung der Mittel für diese beschlossen. Forschungsprogramme. Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein oder – wie sagt (Widerspruch des Abg. man? –: Fasten your Seatbelts! [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Heiterkeit) – Auch wenn der Kollege Gelbhaar den Kopf schüttelt, Wenn Sie so weit sind, eröffne ich die Aussprache und glaube ich, dass das ein ganz wichtiger Punkt ist, den wir (B) erteile das Wort dem Kollegen Bernd Reuther, FDP. hier angehen müssen. (D) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Das sind nur drei wichtige Punkte aus unserem Antrag. Bernd Reuther (FDP): Ich hätte noch eine ganze Reihe anderer nennen können, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch was den ETS-Handel angeht. Anschnallen ist in der Tat notwendig; denn die Luftfahrt- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ich hätte es branche befindet sich in ihrer größten Krise seit dem gerne gehört! – Gegenruf des Abg. Hagen Zweiten Weltkrieg, eine Branche mit Hunderttausenden Reinhold [FDP]: Stellen Sie doch eine Zwi- von Arbeitsplätzen in unserem Land. Und was macht die schenfrage! Dann hat er drei Minuten länger!) Bundesregierung, was macht das Bundesverkehrsminis- terium? Anfang des Monats wieder einmal einen Flug- – Beim nächsten Mal, Frau Lötzsch. Vielleicht gehen Sie gipfel – ohne Strategie, ohne Plan, ohne konkrete Zusa- ja darauf ein. – Unser Antrag verfolgt die Strategie, diese gen. Meine Damen und Herren, das ist nicht zielführend Branche substanziell am Leben zu erhalten und sie in eine für diese Branche. So geht es nicht weiter. gesunde Zukunft zu führen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. Die Bundesregierung lässt da leider (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Frank noch viel zu wünschen übrig. Vielleicht folgt sie ja unse- Magnitz [AfD]) rem Pfad. Wir brauchen eine sinnvolle Strategie für die Luftfahrt- Herzlichen Dank. branche. Denn wenn man sich in diesen Tagen an deut- schen Flughäfen umguckt, sieht man vor allen Dingen (Beifall bei der FDP) eins: gähnende Leere; selbst an den großen Drehkreuzen nur wenige Maschinen, die starten und landen. Wir müs- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: sen da handeln. Genau in diese Richtung geht der Antrag Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Björn Simon, der Freien Demokraten, den wir heute vorlegen. CDU/CSU. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will zwei, drei Punkte nennen. Wir müssen zum einen das Vertrauen der Menschen in den Verkehrsträger Björn Simon (CDU/CSU): Luftverkehr zurückholen. Dafür brauchen wir keine pau- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schalen Einreiseverbote in ganze Drittstaaten. Wir brau- Kollegen! Lieber Kollege Reuther, ganz ehrlich: Ich bin chen eine differenzierte Risikostrategie, und wir brau- Ihnen und der FDP-Fraktion dankbar für diesen Antrag. 24442 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Björn Simon (A) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Die Konsequenzen aus den Coronamaßnahmen spüre (C) ich ganz deutlich in meinem Wahlkreis. Stadt und Kreis Sie lenken damit nämlich die Aufmerksamkeit dieses Offenbach, aber auch das gesamte Rhein-Main-Gebiet Parlaments zu Recht erneut auf einen wichtigen Wirt- sind als direkte Anrainer des Frankfurter Flughafens wirt- schaftsfaktor in unserem Land, der nicht zu vernachläs- schaftlich und infrastrukturpolitisch betroffen. Der Flug- sigen ist. hafen ist mit 80 000 Beschäftigten die größte lokale Das bietet mir und meiner Fraktion abermals die Gele- Arbeitsstätte in ganz Deutschland. Mit circa 40 000 Mit- genheit, darauf hinzuweisen, welche umfassenden Maß- arbeitern ist die Lufthansa der größte Arbeitgeber in Hes- nahmen die Koalitionsfraktionen gemeinsam mit der sen, den es zu sichern gilt. Nicht ohne Grund siedeln sich Bundesregierung und der Luftverkehrsbranche bereits immer mehr Menschen im Umfeld unserer Flughäfen an. heute teils umsetzen und teils planen. Stünden Sie ebenso Und jetzt, während Corona? Sie glauben doch nicht, wie wir mit der Branche so im Austausch, dann wüssten dass der Bundesregierung oder den Koalitionsfraktionen Sie auch da Bescheid. Reisebeschränkungen und andere coronabedingt notwen- Während die FDP fröhlich einen Antrag formuliert mit dige Maßnahmen, die der Branche faktisch die Grundlage Forderungen, die für uns alles andere als neu sind, hat das für ihr Geschäftsmodell entziehen, Freude bereiten? BMVI vor genau zwei Wochen – Sie haben darauf hin- (Zuruf von der FDP: Überhaupt nicht!) gewiesen – unter Minister digital einen Ich möchte daran erinnern: Vor einem Jahr haben wir Nationalen Luftverkehrsgipfel abgehalten, gemeinsam an dieser Stelle über den überfüllten Luftraum, überfor- mit Vertretern der gesamten Luftverkehrsbranche. Man derte Sicherheitskontrollen an den Flughäfen und über formulierte sowohl gemeinsame Ziele als auch eine die Lösung der damit verbundenen Probleme debattiert. geeignete, sachdienliche Herangehensweise, eine Strate- Flughäfen und Airlines veröffentlichten jedes Jahr neue gie. Das ist verantwortungsvolle Politik im Dialog, meine Rekorde bei den Passagierzahlen. Und heute? Heute fin- Damen und Herren. den wir selbst zu ehemaligen Stoßzeiten leere Flughafen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – terminals vor. Der Luftverkehr ist praktisch zum Erliegen Jörg Cezanne [DIE LINKE]: Das haben aber gekommen. Uns droht ein Arbeitsplatzabbau von rund nur Sie erkannt, nicht wahr!) 60 000 Stellen. Das ist mehr als jeder fünfte Arbeitsplatz. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Situation des – Sie waren nicht dabei. Luftverkehrs ist dramatisch. Die Branche braucht drin- Noch vor einem Jahr war die zivile Luftfahrt für uns gend mehr Unterstützung; da stimme ich Ihnen zu. Sie selbstverständlich. Das Flugzeug als Fortbewegungsmit- glauben doch nicht, dass die Forderungen, die Sie in (B) tel war sowohl im privaten als auch im beruflichen Reise- Ihrem Antrag stellen, nicht schon längst in der Prüfung (D) verkehr nicht wegzudenken. Der Luftverkehr verbindet sind. Entgegen der Kritik hat die Bundesregierung Menschen, leistet einen Riesenbeitrag zur individuellen die Luftverkehrswirtschaft während der Pandemie nicht Mobilität und fördert so Völkerverständigung und kultur- alleine gelassen. ellen Austausch. Zudem ist das Flugzeug, statistisch Andreas Scheuer, unser Verkehrsminister, steht zusam- gesehen, weltweit noch immer das sicherste Verkehrsmit- men mit seinen beiden Parlamentarischen Staatssekretä- tel. ren, und , sowie dem ge- Insbesondere spielt der Luftverkehr vor allem eine samten Ministerium hinter der Luftverkehrswirtschaft, herausragende Bedeutung für den Wirtschaftsstandort weil sie und weil wir wissen, dass ein Wegfall dieses Deutschland, aber auch im europäischen Kontext. Als Wirtschaftsfaktors für Deutschland nichts Gutes zu ver- Exportnation verbindet der Luftverkehr deutsche Unter- heißen hätte. Die Wettbewerbsfähigkeit dieser Branche nehmen mit wichtigen Zuliefer- und Absatzmärkten in darf nicht aufs Spiel gesetzt werden! aller Welt und sichert so Beschäftigung und Wohlstand (Beifall bei der CDU/CSU) im ganzen Land. Bereits im Frühjahr wurde ein Schutzschirm aus 300 000 Frauen und Männer sind direkt bei Fluggesell- Zuschüssen, Bürgschaften, steuerlichen Erleichterungen schaften, in der zivilen Luftfahrtindustrie, an den Flug- und unbegrenzten Liquiditätshilfen gespannt. Besonders häfen und bei der Flugsicherung beschäftigt, weitere erwähnenswert sind auch hier das viel gelobte Kurzarbei- 350 000 bei Unternehmen, die von Aufträgen aus der tergeld, KfW-Programme sowie die Steuerentlastungen, Luftfahrt abhängen: Bauwirtschaft, Lebensmittelindust- die zum Tragen kamen, von denen auch der Luftverkehr rie usw. Durch die Konsumausgaben der direkt und indi- profitiert. rekt Beschäftigten, die ich eben genannt habe, entstehen Sie sind ja zum Glück auf die 9 Milliarden Euro aus noch einmal 155 000 sogenannte induzierte Arbeitsplät- dem Stabilisierungspaket für die Lufthansa eingegangen. ze. Die Luftfahrt sichert also in Summe deutlich über In Ihrem Antrag, liebe FDP, sprechen Sie von den 9 Mil- 800 000 Arbeitsplätze in ganz Deutschland. Und die liarden Euro. Dieser Kredit war und ist übrigens wichtig FDP glaubt wirklich, dass wir das nicht auf dem Schirm und richtig, auch weil das Unternehmen bis zur Pandemie haben? operativ gesund und profitabel war. Den Kritikern dieser (Dr. Florian Toncar [FDP]: Sieht man doch! – Milliardenhilfe, die ich auch in diesem Parlament ver- Weitere Zurufe von der FDP: Ja!) mute, möchte ich zurufen, dass die Lufthansa diesen Kre- dit vollumfänglich mit einem nicht unbeträchtlichen Zins – Ich habe es gemerkt. Das Gegenteil ist der Fall. wieder zurückzahlen wird. Auch die in meinem Wahl- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24443

Björn Simon (A) kreis ansässige Condor hat seitens des Bundes und des Die Pleiten deutscher Fluggesellschaften wie Air Ber- (C) Landes Hessen einen KfW-Kredit in Höhe von 550 Mil- lin und defizitäre Flughäfen stellten der Regierung bereits lionen Euro erhalten. Hier stünden ansonsten vor den Coronamaßnahmen kein gutes Zeugnis aus. 5 000 Arbeitsplätze auf der Kippe. Offensichtlich ist man nicht einmal in der Hauptstadt fähig, einen vernünftigen Flughafen zu bauen. Deshalb Eine Unterstützung der regionalen Flughäfen, wie Sie sollten wir mit denen pfleglich umgehen, die wir noch sie im Antrag erwähnt haben und fordern, ist bereits haben. rechtskonform ausgearbeitet. Es fehlt hier noch die Unterstützung der einzelnen Ressorts in der Bundesregie- (Beifall bei der AfD) rung. Daher appelliere ich an die zuständigen Finanzpoli- Dazu gehört auch, die Vorhaltekosten offengehaltener tiker und die gesamte Bundesregierung im Hinblick nicht Flughäfen zu erstatten und den eigenen Pilotennach- nur auf die Flughäfen und die Regionalflughäfen, son- wuchs zu fördern. Die Übernahme der Kosten der Flug- dern auch auf die gesamte Luftverkehrswirtschaft: Las- hafenfeuerwehren wird zum Beispiel in bereits sen Sie uns diesen Weg, den wir bisher erfolgreich gegan- praktiziert, ist aber alleine bei Weitem nicht ausreichend. gen sind, gemeinsam weitergehen! Helfen wir der Wer Globalisierung und Europäisierung ohne Rücksicht Luftverkehrsbranche und den über 800 000 Beschäftig- auf den deutschen Marktteilnehmer vorantreibt, muss ten! dann die Lufthansa mit Steuergeldern retten, deren Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Umfang den Marktwert des Unternehmens übersteigt. (Beifall bei der CDU/CSU) Öffentliches Eingreifen in die Eigentumsordnung ist übrigens eines der Grundmerkmale des Sozialismus,

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Bingo! – Hei- terkeit bei der SPD) Nächster Redner ist der Kollege Frank Magnitz, AfD. was jedenfalls für uns kein Grund zur Freude ist. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD)

Frank Magnitz (AfD): Ich danke deshalb der Fraktion der FDP ausdrücklich Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mei- dafür, dass unsere seit drei Jahren vorgetragenen Positio- ne beiden geschätzten Vorredner haben ja schon auf die nen, zum Beispiel zur Abschaffung der Luftverkehr- wirtschaftliche Bedeutung der Luftverkehrsbranche hin- steuer, zum Flughafenkonzept und zur Kerosinsteuer, gewiesen. Ich muss aber trotzdem erwähnen, dass die Eingang in ihren Antrag gefunden haben. (B) Probleme des deutschen Luftverkehrs nicht in der ange- Wir plädieren für die Überweisung an den federführ- (D) blichen Pandemie begründet liegen. Sie treten jetzt nur enden Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur. deutlicher zutage. Verkehrsfeindliche Auflagen zeigen Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ihre Wirkung zum Nachteil Deutschlands nicht nur in der Automobilbranche, sondern eben auch am Himmel. (Beifall bei der AfD – Stefan Gelbhaar Für alles wird Corona verantwortlich gemacht, und die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Übrigens, Massenmedien schüren die Angst der Bevölkerung. der BER ist schon offen! Ihre Rede hätte ein Update gebraucht!) Nicht Corona hindert die Menschen, zu fliegen; es sind die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen. Die Unverhält- nismäßigkeit der Maßnahmen tritt gerade in der Luftfahrt Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: klar zutage. Dabei ist das Risiko einer Verbreitung von Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Arno Klare, Covid-19 an Bord praktisch nicht gegeben; so ist die SPD. Aussage einer aktuellen Studie des US-Verteidigungsmi- (Beifall bei der SPD) nisteriums. Die Technik an Bord eines Flugzeuges ist definitiv wirksamer, als im Klassenzimmer mal eben Arno Klare (SPD): ein Fenster zu öffnen. In kaum einem Verkehrsmittel Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- sind unsere Bürger so sicher vor Corona wie in einem ren! Die Lage ist in der Tat, wie beschrieben, ernst. In Flugzeug. Dagegen ist Bus- und Bahnfahren im ÖPNV ernsten Lagen muss man das Notwendige tun. Beifallhei- eine Risikosportart, schende, maximalistische Wunschzettel helfen da wenig. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten woran auch ein Lappen vor Mund und Nase nichts ändert. der CDU/CSU) Die Bundesregierung hat auch vor Covid-19 versäumt, „Das Notwendige“ muss man mal wirklich wörtlich neh- die gesetzlichen Rahmenbedingungen an die Realitäten men. Es geht nämlich um das, was die Not wendet. Was des internationalen Wettbewerbs anzupassen. Bereits vor ist das? Die Hilfen für die Airlines hat Kollege Simon Corona lag Deutschland beim Wachstum der Branche auf gerade schon beschrieben. Die anderen Instrumente, den hinteren oder hintersten Plätzen in Europa. Sowohl Kurzarbeitergeld etc. sind Ihnen allen bekannt. Das nut- die deutsche Luftverkehrsteuer als auch der Sonderweg zen auch alle Akteure in der Luftverkehrswirtschaft. bei der Finanzierung der Sicherheitskontrollen und die Was in der Tat fehlt, sind die Hilfen für die Flughäfen, rigiden Nachtflugverbote an unseren Flughäfen belasten nicht für die ganz kleinen – da sind die 20 Millionen jetzt die Branche. safe –, aber im großen Stil. 24444 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Arno Klare (A) (Bernd Reuther [FDP]: Wann kommen denn rechten Umbau des Sektors. Sie sind ein Rettungsschirm (C) die 20 Millionen?) für die Aktionäre. Hier hat die Bundesregierung unver- antwortlich gehandelt und muss dringend nachbessern. Wir brauchen – das sage ich jetzt sehr deutlich an alle, die da verhandeln – eine Länder-Bund-Kooperation – das ist (Beifall bei der LINKEN) bitte auch in der Reihenfolge zu sehen – bei der Unter- stützung des Flughafensystems in Deutschland. Ohnehin zielen die Fluggesellschaften keineswegs nur auf krisenbedingt notwendige Kosteneinsparungen. (Beifall der Abg. Dorothee Martin [SPD]) Wenn Sie genau hinschauen, so sehen Sie: Es wird ver- Das kann nicht warten. Da können wir uns nicht bis sucht, sich mit den Staatshilfen im Rücken für den Ver- Januar Zeit lassen. Das muss jetzt auf den Tisch. drängungswettbewerb nach der Krise fit zu schrumpfen, und das auf Kosten der Beschäftigten. Tarifverträge und (Beifall bei der SPD) Betriebsvereinbarungen werden einseitig gekündigt, Klartext: Es muss eine finanzielle Hilfe für die Flughäfen auch von der Lufthansa. Die Lufthansa baut mit Ocean geben. Das ist das in der Tat Notwendige. eine neue Billigflugtochter zu schlechteren Tarifbedin- gungen auf. Der Verkauf der Catering-Tochter LSG mit Zur Perspektive noch ein paar Sätze. Wir brauchen mehr als 5 000 Beschäftigten an den Konkurrenten Gate- auch so etwas wie ein Luftverkehrskonzept 2030 – das group wird vorangetrieben. Die Mehrzahl der Beschäftig- Luftverkehrskonzept, das wir haben, ist das des BMVI; es ten ist seit mehr als 15 Jahren im Betrieb. Sie sind nach ist in der letzten Legislaturperiode nicht ressortabge- Tarifvertrag faktisch unkündbar. Bei Gategroup besteht stimmt worden –, und in diesem Luftverkehrskonzept für sie kein Kündigungsschutz, und sie werden, wenn 2030 muss natürlich ein Flughafenkonzept enthalten sein. überhaupt, zu schlechteren Bedingungen beschäftigt wer- (Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den. NEN]: Das stimmt!) Über Monate verzögerte die Lufthansa den Abschluss Dieses Lufthafenkonzept muss aber eine volkswirtschaft- einer Betriebsvereinbarung für das Bodenpersonal und liche Gesamtbetrachtung beinhalten, keine betriebswirt- ließ die Beschäftigten im Unklaren über deren Zukunft. schaftliche, wie die, die wir kennen, bei denen dann eini- Mira Neumaier von Verdi hat völlig recht, wenn sie for- ge Flughäfen einfach hinten herunterfallen. dert, die Beschäftigten als Rückgrat des Luftverkehrs müssten in den Mittelpunkt gerückt werden. Weitere Ich sage Ihnen nur ein Beispiel. Der Hauptbahnhof in staatliche Hilfen darf es nur gegen Sicherung von Mülheim an der Ruhr ist betriebswirtschaftlich auch ein Arbeitsplätzen und von Arbeitsbedingungen sowie bei Fiasko. Trotzdem macht ihn keiner zu. Das heißt, wir Mitbestimmung der Beschäftigten geben. (B) brauchen eine systemische Netzbetrachtung, die das (D) volkswirtschaftlich untersucht. Das ist bisher nicht vor- (Beifall bei der LINKEN) liegend. Insofern bitte ich oder fordere ich, dass wir die- ses Konzept jetzt beginnen zu erarbeiten. In der Liste der Staaten mit dem höchsten Klimaaus- stoß würde der internationale Luftverkehr einen Platz Meine letzten Sätze betreffen die Zukunft des Fliegens. unter den ersten zehn einnehmen, zwar nicht im Moment, Wir brauchen Mittel für den Erhalt der bedeutenden Luft- aber vor der Krise ja, und auf dieses Niveau will man und Raumfahrtnation Deutschland. Wir brauchen die wieder gelangen. Ein erster Schritt wäre es gerade jetzt, Mittel für die Transformation hin zu grünem Fliegen. den bisherigen Transport mit Kurzstreckenflügen auf die Da stehen Unsummen im Haushalt. Aber die dürfen jetzt Bahn zu verlagern, das Ganze energisch voranzutreiben auch nicht mehr sozusagen zuwartend verwaltet werden, und den Luftverkehr auf Zukunft einzustellen. sondern sie müssen in reale Projekte umgesetzt werden. Das erwarte ich auch. Arno Klare hat die Frage des Luftverkehrs und des Flughafensystems angesprochen. Obgleich Betriebswirt- (Beifall bei der SPD) schaft nicht alles ist, muss man sagen: 12 von 14 deut- schen Regionalflughäfen überleben überhaupt nur, weil Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Kommunen Steuergeld zuschießen. Defizitäre und ver- Jetzt erhält das Wort der Kollege Jörg Cezanne, Die kehrspolitisch nicht notwendige Regionalflughäfen dür- Linke. fen nicht auch noch mit weiteren Steuergeldern unter- stützt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Jörg Cezanne (DIE LINKE): Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Luft- NEN]) verkehr ist von Einschränkungen durch die Covid-19- Zu guter Letzt. Um es zumindest zu erwähnen: Die Pandemie besonders dramatisch betroffen; wir wissen Umsetzung der Forderungen im Antrag der FDP würde das alle. Deshalb sind staatliche Hilfen grundsätzlich alles nur schlimmer machen – für die Beschäftigten, für berechtigt und notwendig. das Klima und für einen zukunftsfähigen Luftverkehr. Die bisherigen Stützungsmaßnahmen, insbesondere Deshalb sollte man sie ablehnen. die insgesamt 9 Milliarden für die Lufthansa, beinhalten Danke schön. aber keinen Schutz für die Beschäftigten, sie beinhalten keine Vorgaben für den dringend notwendigen klimage- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24445

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: rung alternativer Treibstoffe für Flugzeuge unterstützen. (C) Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Daniela Wagner, Da wäre es schon schön, wenn die FDP oder auch die Bündnis 90/Die Grünen. Bundesregierung mal sagen würden, wo eigentlich diese Unmengen an Grünstrom herkommen sollen, die man zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herstellung synthetischer Treibstoffe braucht, wenn man gleichzeitig die Energiewende nicht voranbringt. Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Keine Frage, der Luftverkehr gehört zu den Branchen, Meine Damen und Herren, ein letzter Gedanke dazu. die am härtesten von der Coronakrise gebeutelt sind. Es Wir befinden uns spürbar an den Grenzen dieses Wachs- ist durchaus in unserem Interesse, Airlines und Flughäfen tums. Wir sollten alle ruhig damit beginnen, das zu in systemrelevantem Umfang zu erhalten, und dabei sind akzeptieren und darüber nachzudenken, wie es weiter- Rettungsmaßnahmen unumgänglich; deswegen haben gehen soll auf ökologisch verträgliche Art und Weise. wir sie mitgetragen. Aber es kann nicht das Ziel sein, Vielen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. den Flugbetrieb in allen Teilen steuerfinanziert durch die Krise zu bringen, jedwede Nachfrage weiterhin bedie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen zu können oder diese sogar zu erzeugen. Das ist falsch. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Alois Rainer, sowie des Abg. Jörg Cezanne [DIE LINKE]) CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Fliegen ist, wie man es dreht und wendet, auch beson- ders energieintensiv. Wir brauchen keine staatlich sub- ventionierten Kurztrips, die vor allem deshalb stattfinden, Alois Rainer (CDU/CSU): weil Fliegen gerade so billig ist. Das hat sogar die Kanz- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und lerin inzwischen öfter festgestellt. Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 31. Oktober war es endlich so weit: Der neue Berliner Flughafen (Beifall der Abg. Dr. [BÜND- BER wurde eröffnet. So wie die ersten beiden Flieger, NIS 90/DIE GRÜNEN]) die wegen des dichten Nebels nacheinander statt, wie Wir brauchen auch nicht jeden Regionalflughafen um eigentlich vorgesehen, parallel landen mussten, so läuft die Ecke, solange bei akzeptablen Fahrtzeiten Flughäfen im Luftverkehr in diesem Krisenjahr 2020 weniges bis erreichbar sind. Meine Damen und Herren, Rettungsmaß- gar nichts so wie geplant. Zum Zeitpunkt der Eröffnung (B) nahmen dürfen den Abbau von Überkapazitäten nicht des BER steckt die Luftverkehrswirtschaft in einer der (D) dauerhaft behindern. Das Race to the Bottom muss unbe- größten Krisen ihrer Geschichte. dingt beendet werden. Das hatte die FDP im Ausschuss Im Jahr 2020 flogen an den beiden Berliner Flughäfen sogar schon selber gesagt. Die derzeitigen Preiskämpfe nur rund 30 Prozent der Fluggäste verglichen mit dem lähmen die Handlungsfähigkeit der Airlines eminent, Vorjahreszeitraum. Zeitweise lag der Flugverkehr im weil nämlich alles auch zulasten der Umwelt geht. Sie Frühjahr 2020 deutschlandweit bei nur rund 1 Prozent sind gehindert, in Dinge zu investieren, die notwendig gegenüber 2019. Eben erreichten uns die aktuellen Zah- sind. len für den Oktober 2020: Circa 4 Millionen Passagiere Die Luftverkehrsbranche wurde bereits mit Coronahil- nutzten die deutschen Flughäfen. Das sind circa 83 Pro- fen im zweistelligen Milliardenbereich bedacht. Dabei ist zent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der es geradezu absurd, dass dies fast völlig unkonditioniert gewerblichen Flugbewegungen geht um circa 62 Prozent geschehen ist: ohne Klimaauflagen, ohne irgendwas. Ihr zurück. Antrag fällt sogar noch weit hinter das zurück. Demgegenüber stieg das Cargoaufkommen zwar (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wenig, aber trotzdem um 0,6 Prozent. Gerade dies ver- SES 90/DIE GRÜNEN) deutlicht: In dieser Krise wurde die volkswirtschaftliche Bedeutung des Luftverkehrs zur Aufrechterhaltung von Sie wollen neben weiteren Coronahilfen die Luftverkehr- Lieferketten zur Versorgung mit medizinischen und wei- steuer wieder abschaffen. Sie wollen die Kerosinsteuer, teren kritischen Gütern deutlich. Einen wichtigen Beitrag die endlich auf EU-Ebene diskutiert wird, verhindern. Sie dazu haben die Flughäfen geleistet, die den Betrieb die wollen die Regionalflughäfen über 2024 hinaus weiter ganze Zeit aufrechterhalten haben und so auch die Mög- am Tropf der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hängen lichkeit geschaffen haben, dass unsere Flugzeuge mit lassen. Das ist grundfalsch; das lehnen wir ab. notwendigen und wichtigen Gütern hier bei uns landen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können. Ein herzliches Dankeschön an all die Verant- wortlichen! Wir Grüne wollen, dass Mobilität auch die ökologische Wahrheit sagt. Wir wollen ökologisch verantwortliche (Beifall bei der CDU/CSU) Mobilität beim Preis entlasten und all die Fortbewe- Dabei ist klar: Die Luftverkehrswirtschaft wurde wie gungsarten, die den Klimawandel antreiben, beim Preis der gesamte Mobilitätssektor sehr hart von der Krise belasten, und zwar so, dass es auch verhaltensrelevant getroffen. Davon erfasst sind alle Bereiche der Wert- wird. Mit den Mehreinnahmen im Haushalt wollen wir schöpfungskette. Dies erforderte schon früh entschlosse- die Erforschung, die Herstellung und die Markteinfüh- nes Handeln, um Arbeitsplätze zu sichern und Unterneh- 24446 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Alois Rainer (A) men vor der unverschuldeten Pleite zu schützen. Dabei tem, wie Sie es nennen, das sind für uns an erster Stelle (C) besteht zwischen Bundesregierung, dem Parlament und die über 800 000 direkt oder indirekt Beschäftigten – bei den betroffenen Unternehmen Einvernehmen darüber, den Airlines, an Flughäfen, bei Zulieferern, in der Indust- dass die Luftverkehrswirtschaft die Coronakrise mög- rie und darüber hinaus. Unser klares Ziel ist es, den Luft- lichst ohne strukturelle Schäden überstehen muss, sodass fahrtstandort Deutschland auch nach der Krise als Wirt- gerade diese Mobilität und die Arbeitsplätze in Deutsch- schaftsfaktor und vor allem als Arbeitgeber zu sichern – land auch dauerhaft gesichert werden. mit eben einer guten Infrastruktur für Fluggäste und für Luftfracht. Die Bundesregierung hat deshalb bereits zu Beginn der Coronakrise mit Hilfsangeboten an die Branche reagiert. Das alles gelingt aber nur, wenn der Bund, die Länder So wurde beispielsweise, um die Arbeitsplätze zu sich- und die gesamte Branche sowie die Gewerkschaften eng ern, der Zugang zum Kurzarbeitergeld erleichtert. Ferner zusammenarbeiten. Wir brauchen einen Schulterschluss wurde durch Sonderprogramme den betroffenen Unter- von Politik, Luftfahrt und Beschäftigten, und ich teile nehmen kurzfristig Liquidität zur Verfügung gestellt. durchaus die Kritik von einigen Gewerkschaften und Ver- bänden, dass beim letzten Luftfahrtgipfel Anfang Auch auf EU-Ebene wurde zur Stabilisierung des Luft- November zu wenig über die Beschäftigung gesprochen verkehrs seit Beginn der Coronapandemie beigetragen. wurde. Eine Ausnahmeregelung für die Beibehaltung histori- scher Start- und Landerechte wurde etabliert. Diese Aus- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pandemie er- nahmeregelung soll bis zum Sommer 2021 gelten. Zudem zeugt jetzt ohne Zweifel Druck auf die Unternehmen. kann die Luftverkehrswirtschaft durch einen beihilfe- Es darf allerdings nicht sein, dass die Krisenphase jetzt rechtlichen Sonderrahmen der Europäischen Kommis- dazu genutzt wird, Personalabbau im großen Stil zu sion seit Mitte August 2020 unterstützt werden, und es betreiben oder die Arbeitsbedingungen zu verschlech- ist auch ein Ausgleich bei den Flugsicherungsgebühren tern, um sich im Preiskampf taktische Vorteile zu ver- vorgesehen. schaffen. Wir wollen ganz klar, dass Social Dumping aufhört. Meine Damen und Herren, der Antrag der FDP ist sehr wohl gut gemeint. Bloß, vieles davon machen wir schon. (Beifall bei der SPD) Es laufen zum Beispiel zur Erleichterung des Reisever- Hier sind nicht nur wir in Deutschland gefragt; hier sind kehrs bereits Versuche mit Coronaschnelltests. Ziel ist es, vor allem auch gesamteuropäische Lösungen notwen- das große Hemmnis für die internationalen Verbindungen dig. – Auch von unserer Seite ein ganz herzliches Danke- zu verringern. Dieses Hemmnis sind gerade die langen schön an die Beschäftigten, die gerade in den letzten Quarantäneregelungen. Es werden sich die Reisewar- schwierigen Monaten ganz hervorragende Arbeit geleis- nungen und Einstufungen von Risikogebieten abhängig (B) tet haben! (D) vom Infektionsgeschehen zwar weiterhin dynamisch ent- wickeln, jedoch gibt es durch die rasch fortschreitende (Beifall bei der SPD) Entwicklung bei den Impfstoffen Hoffnung auf baldige Wie in fast allen Bereichen sind natürlich auch in der Entspannung im internationalen Reiseverkehr. Die An- Luftfahrtwirtschaft ganz viele Menschen in Kurzarbeit – tragsfrist für Zuschüsse zum Ausgleich von pandemie- auch in meinem Hamburger Wahlkreis, wo der Flughafen bedingten Schäden soll verlängert werden. Es sollen und auch die Lufthansa Technik sind. Die Verlängerung finanzielle Hilfen auch für Flughäfen und für Fixkosten des Kurzarbeitergeldes – das wurde schon oft erwähnt, möglich sein. aber man kann es nicht oft genug erwähnen –, die wir Man sieht bei vielen Dingen, die man hier aufzählen heute beschlossen haben, gibt den Unternehmen und den könnte: Unser Bundesverkehrsministerium mit Andreas Beschäftigten ganz konkrete Unterstützung, Zuversicht Scheuer an der Spitze hat vieles erreicht. Bei vielem sind und Planungssicherheit bis zum Ende des kommenden wir zusammen mit unserem Koalitionspartner noch am Jahres, und darauf kommt es jetzt an, liebe Kolleginnen Arbeiten, und wir werden hier auch viel erreichen. Ich bin und Kollegen. zuversichtlich: Wenn der BER ein Jahr offen ist, nämlich (Beifall bei der SPD) am 31. Oktober 2021, dann werden wir wieder wesentlich mehr Flugverkehr in unserem Land haben. Außerdem kommt es darauf an, sich jetzt Gedanken über die künftige Infrastruktur zu machen, und daher ist Vielen herzlichen Dank. es völlig richtig, wie mein Kollege Arno Klare sagte, dass (Beifall bei der CDU/CSU) jetzt die strategischen Fragen und Diskussionen für ein Luftfahrtkonzept sowie ein Flughafenkonzept 2030 ange- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gangen werden müssen. Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Genau solche Ansätze vermisse ich in dem Antrag der Kollegin Dorothee Martin, SPD. FDP, der ein ziemliches Sammelsurium von bekannten oder auch wenig sinnvollen Forderungen ist. (Beifall bei der SPD) (Alois Rainer [CDU/CSU]: Na ja, so schlimm ist er nicht!) Dorothee Martin (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klar ist: Wir brauchen und wollen in Deutschland ein „Unterstützung für das System Luftverkehr in Zeiten leistungsfähiges, ökologisch nachhaltiges Luftverkehrs- von Corona“ – so der Titel des FDP-Antrags. Das Sys- system, wir brauchen eine gute Infrastruktur, wir brau- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24447

Dorothee Martin (A) chen gute Arbeitsplätze, und dafür sind eben nicht nur die ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten (C) Länder in der Verantwortung, sondern auch der Bund hat Dr. , Lisa Paus, Katharina ein vitales Interesse daran, dass der Luftverkehr auch Dröge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion nach der Krise gut funktioniert. Daher wäre es eben nur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN logisch, wenn beide Seiten dafür einen finanziellen Bei- Mit einer starken Corporate Governance kri- trag leisten. minellem Handeln in großen, komplexen Un- Ich danke Ihnen. ternehmen vorbeugen Drucksache 19/24384 (Beifall bei der SPD) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Damit schließe ich die Aussprache. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der beschlossen. Drucksache 19/24356 an die in der Tagesordnung aufge- Nachdem Sie Platz genommen haben, eröffne ich die führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe keine wei- Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Lisa Paus, teren Vorschläge. Dann wird so verfahren. Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a, 30 c und 30 d (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie Zusatzpunkt 14 auf: 30 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Paus, , Stefan Schmidt, weiterer Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Wire- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- card-Skandal war wahrscheinlich der größte Bilanz- und NIS 90/DIE GRÜNEN Finanzbetrug in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, aber er war nicht der einzige. Wir erinnern uns beispiels- Betrug und Finanzkriminalität frühzeitig weise an P&R-Schiffscontainer 2018 – da geht es um aufdecken und effektiv verhindern – Neu- Milliarden –, wir erinnern uns an Cum/Ex, aber auch start für eine aktive Finanzaufsicht und nach Wirecard – und das fällt dann schon gar nicht starken Verbraucherschutz mehr auf – gab es einen nächsten Finanzbetrug, nämlich den größten Immobilienbetrug der letzten zehn Jahre: Drucksache 19/24385 (B) 1 Milliarde Euro bei der German Property Group. Das (D) Überweisungsvorschlag: zeigt noch mal ganz deutlich: Die Liste des Versagens Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz der Finanzaufsicht ist lang, und deswegen brauchen wir Ausschuss für Wirtschaft und Energie einen Neustart, meine Damen und Herren. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kay (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gottschalk, Stephan Brandner, Jürgen Braun, sowie des Abg. Fabio De Masi [DIE LINKE]) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Die „Süddeutsche“ formuliert es wie folgt: „Die … AfD BaFin wirkt nicht wie ein Löwe, sondern wie ein Kätz- Sachkundenachweis und Aufsicht von Fi- chen: klein, putzig, ungefährlich“. – Das geht zulasten der nanzanlagenvermittlern und Honorar- Kleinanlegerinnen und Kleinanleger, zulasten von uns Finanzanlagenberater zielgerichtet durch allen. Symbolisch steht dafür aus meiner Sicht, dass es Industrie- und Handelskammern gewähr- bis heute in der BaFin nicht mal einen eigenen Geschäfts- leisten – Bundesanstalt für Finanzdienst- bereich für den finanziellen Verbraucherschutz gibt. Das leistungsaufsicht soll einheitliche Maßstä- ist absurd. be setzen und diese überwachen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Drucksache 19/24398 Für uns ist klar: Die BaFin braucht nicht nur ein biss- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss chen mehr Personal, sie braucht auch nicht nur ein biss- chen mehr Kompetenzen; die Aufsicht muss vom Kopf d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kay auf die Füße gestellt werden. Wir brauchen einen Neu- Gottschalk, Siegbert Droese, Mariana Iris start der Finanzaufsicht in Deutschland; Harder-Kühnel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Reduzierung des Zeitraums zum ver- denn nur so werden wir es schaffen, Betrug und Finanz- pflichtenden Wechsel der Abschlussprüfer kriminalität endlich effektiv zu bekämpfen und Anleger- und Erhöhung der Haftungsgrenze schutz zu gewährleisten. Drucksache 19/24396 Fünf grundlegende Änderungen sind dafür aus unserer Überweisungsvorschlag: Sicht entscheidend, und die legen wir Ihnen hier heute Finanzausschuss vor: 24448 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Lisa Paus (A) Erstens. Wir brauchen einen Kulturwandel in der dazu gehört aber auch die internationale Zusammenarbeit (C) BaFin. Statt einer intransparenten, nachgelagerten Be- und der Aufbau einer starken EU-Börsenaufsichtsbehör- hörde unter politischem Einfluss und mit kollegialer de für große international tätige Finanzunternehmen. Unverantwortlichkeit brauchen wir eine klar geregelte Verantwortung des Präsidenten der Finanzaufsicht, wir Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: brauchen starke Rechenschaftspflichten gegenüber dem Frau Kollegin. Parlament und der Öffentlichkeit, und wir brauchen im Gesetzblatt veröffentlichte Weisungen des Finanzminis- ters und eine Anhörung der Führungsspitzen vor dem Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Parlament vor ihrer Ernennung durch die Bundesregie- Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. rung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Danke. Zweitens muss die neue Finanzaufsicht nicht das for- male Häkchen bei der Projektprüfung machen, sondern sie muss die Bekämpfung von Betrug und Geldwäsche in Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen, meine Damen und Jede Krise kann eine Chance sein. Man muss sie aller- Herren. dings nutzen. Unsere Vorschläge legen wir hier heute auf den Tisch. Lassen Sie uns diese Chance ergreifen für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einen echten Neustart der Finanzaufsicht; denn er ist not- Dazu gehört der Aufbau einer Spezialeinheit, die in Ver- wendig, und er ist überfällig! dachtsfällen von Betrug und Marktmissbrauch effektiv ermitteln kann, das heißt, auch Durchsuchungen vorneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men und Beweismittel sichern darf. Dabei ist ein klarer, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) geregelter Informationsaustausch mit Staatsanwaltschaft und Polizei wichtig, um sicherzustellen, dass Hand in Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Hand und nicht gegeneinander oder womöglich gar nicht Nächster Redner ist der Kollege Matthias Hauer, CDU/ ermittelt wird, obwohl es angezeigt gewesen wäre. Und CSU. dazu gehört eine Reform der Bilanzkontrolle. Das zahn- lose zweistufige Verfahren aus DPR und BaFin wollen (Beifall bei der CDU/CSU) wir abschaffen, und eine Neuaufstellung der Geldwä- (B) schebekämpfung in der BaFin ist dazu unerlässlich. (D) Matthias Hauer (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) ren! Der Skandal um Wirecard hat den Finanzplatz Deutschland und auch das Vertrauen in die Finanzauf- Drittens sagen wir: Die neue Finanzaufsicht muss klar sicht insgesamt massiv erschüttert. Wir müssen gemein- aufseiten der Anlegerinnen und Anleger sein. Deswegen sam die Lehren daraus ziehen. Anleger, Mitarbeiter, brauchen wir erstens einen eigenen Geschäftsbereich, wir Investoren, alle Akteure am Finanzmarkt müssen darauf brauchen zweitens einen aktiven Schutz von Anlegerin- vertrauen können, dass die Finanzaufsicht verlässlich und nen und Anlegern durch Testkäufe bis hin zu Vertriebs- ordnungsgemäß arbeitet. Das ist auch einer der Schwer- verboten, und wir brauchen drittens endlich auch eine punkte, die wir derzeit im Untersuchungsausschuss Wire- Taskforce zum Grauen Kapitalmarkt. card fraktionsübergreifend aufzuklären versuchen. Viertens brauchen wir endlich auch innerhalb der BaFin eine strenge Compliance. Es hat ja nur Kopfschüt- Heute diskutieren wir über gesetzgeberische Änderun- teln verursacht, als öffentlich wurde, dass BaFin-Mitar- gen. Es liegen jeweils zwei Anträge der Grünen und der beiterinnen und -Mitarbeiter selbst mit Wirecard-Aktien AfD vor. Wir als Union haben einen klaren Kompass, wie gezockt haben. Deshalb sagen wir: Für Mitarbeiterinnen die Finanzaufsicht gestärkt werden kann. Wir wollen ein und Mitarbeiter gehört der Handel mit Aktien von durch besseres System der Finanzkontrolle mit mehr Rechten die BaFin beaufsichtigten Unternehmen verboten. Außer- für die BaFin, beispielsweise durch eigene forensische dem schlagen wir eine regelmäßige Rotation der Prüfer- Prüfungen, einer Weiterentwicklung des zweistufigen innen und Prüfer in der BaFin vor, um einer zu großen Verfahrens der Bilanzkontrolle und einer BaFin, die Nähe zu beaufsichtigten Unternehmen entgegenzuwir- sich mit voller Kraft auf ihre Kernaufgaben konzentrieren ken. kann. Wir wollen eine bessere Verzahnung von Aufsichtsrä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten und Prüfern mit stärkerer Compliance, engerem Aus- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) tausch zwischen Aufsichtsräten und Abschlussprüfern – Fünftens brauchen wir eine BaFin, die endlich intern, auch mal ohne den Vorstand –, einem Rederecht des aber auch extern vernetzt ist und auf Augenhöhe arbei- Abschlussprüfers auf der Hauptversammlung, einem tet. Dazu gehört ein funktionierendes Whistleblower- gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungsausschuss inner- System statt eines praktisch verwaisten Briefkastens in halb jedes Aufsichtsrates und der Möglichkeit, Ab- der BaFin, dazu gehört die Zusammenarbeit mit wichti- schlussprüfer über mehrere Geschäftsjahre im Voraus gen Informationsträgern wie den Finanzmarktwächtern, zu bestellen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24449

Matthias Hauer (A) Wir wollen eine bessere Haftung, Transparenz und Stärken Sie doch mit uns gemeinsam die BaFin! Halsen (C) Rotation mit höheren Haftungsgrenzen bei Pflichtverstö- Sie ihr nicht völlig ohne Not weitere Mammutaufgaben ßen, höheren Geldbußen bei Berufspflichtverletzungen auf, die sie von ihren Kernaufgaben ablenken! durch Prüfungsgesellschaften, mehr Transparenz über Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. die Prüfungsergebnisse der Abschlussprüferaufsicht und regelmäßigen Wechseln der Abschlussprüfer. (Beifall bei der CDU/CSU) Bei kapitalmarktorientierten Unternehmen soll spätes- tens alle zehn Jahre die Prüfungsgesellschaft wechseln Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: und zusätzlich innerhalb der Prüfungsgesellschaft spätes- Nächster Redner ist der Kollege Kay Gottschalk, AfD. tens alle fünf Jahre auch das Prüfungsteam. Diese und weitere Maßnahmen braucht es für eine starke Finanzauf- (Beifall bei der AfD) sicht, für bessere Regelungen für Aufsichtsräte und Prü- fer und für mehr Anlegerschutz. Kay Gottschalk (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Lie- Derzeit läuft in der Bundesregierung die Verständi- be Mitbürger! Lieber Kollege Matthias Hauer, in der gung auf konkrete Maßnahmen. Wir als Union haben Kürze liegt auch manchmal die Würze und nicht in ellen- Vorschläge vorgelegt; ich habe einige davon gerade vor- langen Seiten. getragen. Auch andere Fraktionen haben Vorschläge unterbreitet. Aus den heute vorliegenden Anträgen der Das Thema „Finanzbetrug, Finanzkriminalität“ – die Grünen und der AfD will ich jeweils einen Punkt heraus- Kollegen erwähnten es – ist leider dieser Tage wieder greifen. en vogue. Der Fall Wirecard zeigt aber hier – ein Kollege hat es gesagt – ein multiples Systemversagen der beson- Die AfD fordert auf mageren drei Seiten deren Art. (Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Immerhin!) Die Aufklärung – es wurde hier genannt –, die ist in die Verkürzung der externen Rotation auf maximal vier vollem Gange. Das ist gut so, und ich bin auch froh, dass Jahre, und das sogar für alle Unternehmen. Auch wir ich mich im entsprechenden Ausschuss an dieser Auf- wollen eine Verkürzung der Rotation. Jeder sollte aber klärung beteiligen darf. auch wissen, dass sich Prüfer bei einem komplexen neuen Prüfungsmandat erst einmal einarbeiten müssen, auch (Beifall bei der AfD) über die Besonderheiten der Geschäftsmodelle Kenntnis- Leider scheinen aber einige Fraktionen hier im Hohen se erlangen müssen. Die AfD will die Höchstdauer so Hause falsche Schwerpunkte zu setzen. Im Übrigen dach- (B) kurz bemessen, dass das Gegenteil dessen erreicht würde, te ich eben, als ich Frau Paus hörte: Mein Gott, sie hat mir (D) was sinnvoll ist. Sie würden die Kontrolle durch in vielen Anhörungen zum Thema BaFin zugehört; denn Abschlussprüfer nämlich schwächen, anstatt sie zu stär- vieles habe ich bereits gesagt; ich bin auch in meinen ken. Reden darauf eingegangen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Was?) Die beiden Anträge der Grünen sind deutlich substan- – Ja, man stelle sich das vor. Aber ich bedanke mich, Sie ziierter als die Anträge der AfD. Sie behandeln auch haben vieles hier rezitiert, was ich in den letzten zwei einige richtige Punkte. Jahren – wir hatten ja viele Anhörungen zum Thema (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- BaFin – gesagt habe. NEN – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Das halte ich NEN]: Danke dafür!) aber für ein Gerücht! Das kann nicht sein!) – Ja, das ist nicht schwierig; das weiß ich. Dennoch sollte Sowohl die Grünen als auch wir von der AfD-Fraktion man das hier bemerken. haben also entsprechend hier Anträge vorgelegt zum The- (Zuruf von der AfD) menkomplex, der die Bereiche Corporate Governance, Gestaltung von Aufsichtsräten, Personal- und Kompe- Die Grünen holen aber auch ein Thema aus der Ver- tenzausstattung der BaFin – dazu werde ich gleich kom- senkung, das spätestens nach Wirecard eigentlich end- men –, Reduzierung des Zeitraums zum verpflichtenden gültig in der politischen Mottenkiste bleiben sollte: Sie Wechsel, Kollege Hauer, der Abschlussprüfer und Erhö- wollen die Aufsicht über 38 000 Finanzanlagenvermittler hung der Haftungsgrenze umfasst. Das Letzte ist unter- auf die BaFin übertragen – ein Irrweg, auf dem bedauer- schlagen worden; wir haben nämlich ein bisschen mehr in licherweise auch unser Koalitionspartner, die SPD, noch diesen Antrag geschrieben. unterwegs ist. Sie sehen also: ein Strauß von Themen. Insoweit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie möchte ich nur auf unsere eigenen Anträge eingehen. bei Abgeordneten der AfD) Leider ist dieses Thema dem Hohen Hause ja nur Sie wollen das auf die BaFin übertragen, übrigens die 30 Minuten wert. Vielleicht hätten wir hier mal eine Stun- BaFin, die Frau Paus gerade als putziges Kätzchen de drüber diskutieren sollen. bezeichnet hat. (Matthias Hauer [CDU/CSU]: In der Zeit hät- (Dr. Florian Toncar [FDP]: Sie haben das im ten Sie den ganzen Antrag vorbereiten kön- Koalitionsvertrag vereinbart!) nen!) 24450 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Kay Gottschalk (A) Zum einen beantragen wir – darauf möchte ich ein- ein Mentalitätswechsel sowie eine Regierung und ein (C) gehen –, dass die zukünftige Sachkundeprüfung – ein Finanzminister, die der BaFin Mut machen, eben auch bekanntes Thema, lieber Kollege Hauer – und die Auf- dorthin zu schauen, wo Feuer ist. Wie heißt es so schön? sicht über Finanzanlagenvermittlung und Honorar- Wo Feuer ist, da ist auch Rauch. Finanzberatung für alle Bundesländer einheitlich auf die Industrie- und Handelskammern übertragen werden soll (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und gleichzeitig – gleichzeitig! – die Bundesanstalt für NEN]: Andersrum!) Finanzdienstleistungsaufsicht, im Folgenden: BaFin, ein- Deswegen werden wir einer konstruktiven Debatte zu- heitliche Maßstäbe für die Aufsicht und die Sachkunde- stimmen. Wir beantragen, wie die Kollegen, eine Über- prüfung entsprechend überprüfen und erlassen soll. weisung an den Finanzausschuss und werden hier die Warum sage ich das? Ich habe den Eindruck, insbeson- Debatte konstruktiv und mit kurzen, aber sehr guten dere die SPD und die Grünen – Sie haben es eben gesagt; Anträgen und Maßnahmen begleiten. da gehen wir nicht d’accord – wollen wieder einmal die Danke schön. BaFin aufblähen. Kollege Hauer, ich nehme Sie und die CDU/CSU-Fraktion hier beim Wort: auf die Kernkompe- (Beifall bei der AfD – Matthias Hauer [CDU/ tenzen konzentrieren. CSU]: „Kurz“ stimmt! – Fabio De Masi [DIE LINKE]: Erklären Sie doch mal „Benchmarke- (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Dafür brauchen ting“!) wir aber Ihren Antrag nicht! Das können wir auch alleine!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Das heißt: an einigen Stellen die BaFin entschlacken. Was sie nicht kann, soll sie nicht noch zusätzlich mit Dr. Jens Zimmermann, SPD, erhält jetzt das Wort. Beamtenstellen aufgetragen bekommen, meine verehrten (Beifall bei der SPD) Damen und Herren. (Beifall bei der AfD) Dr. Jens Zimmermann (SPD): Auch die Pleiten von P&R und des grünen sozusagen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben Investors Prokon – die Kollegin hat es genannt – muss in dieser Debatte gesehen: Es gibt eine große Überein- man der BaFin mit anlasten. Nochmals: Wir folgen hier stimmung hier im Hohen Haus darüber, dass wir Refor- der Expertenmeinung. Wir haben also mit diesem Antrag men bei der Finanzaufsicht benötigen. Da die vorliegen- sozusagen Expertenmeinung in Antragsform gegossen. den Anträge den Wirecard-Skandal als Ausgangspunkt nehmen, ist es mir wichtig, den gesamten Kontext deut- (B) (D) (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Aber welche lich zu machen; denn es geht nicht allein um die Finanz- Experten?) aufsicht. Etwas Besseres kann eigentlich nicht passieren. Wir haben gestern fast bis Mitternacht im Untersu- Kommen wir aber zu unserem zweiten Antrag „Redu- chungsausschuss an der Aufklärung gearbeitet. Es ist zierung des Zeitraums zum verpflichtenden Wechsel der sehr deutlich geworden – nicht nur, weil es zwei Schalten Abschlussprüfer und Erhöhung der Haftungsgrenze“. in bayerische Justizvollzugsanstalten gab –, dass wir es Uns ist bewusst, dass diese vier Jahre sicherlich ein mit einem kriminellen Topmanagement zu tun hatten, Hemmnis darstellen und schwierig sind. Andererseits und das muss uns zu denken geben. Viele konnten sich induziert das ja: Die ersten zwei, drei Jahre prüft man nicht vorstellen, dass wir es in einem DAX-30-Konzern mal so, lernt das Unternehmen kennen. Da müsste ich mit militärisch-kameradschaftlichem Korpsgeist und ja fragen: Kann der Kapitalmarkt in den ersten Jahren Treueschwüren untereinander zu tun haben. Wir haben überhaupt noch auf diese Testate nach einem Wechsel gestern im Ausschuss einen der Hauptdrahtzieher erlebt. vertrauen? – Nein. Ich glaube, bei so viel Expertise und Er hat nicht viel gesagt; aber laut all dem, was man lesen Benchmarketing kann ich in diesem Bereich erwarten, kann, ist das einer der Ausgangspunkte dieses Skandals. dass E&Y oder andere Wirtschaftsprüfungsgesellschaften hier nahtlos einsteigen können und das Geschäftsmodell Ich will auch ganz klar sagen: Ja, wir müssen bei der verstehen. Finanzaufsicht etwas tun. Es freut mich, was der Kollege Hauer gesagt hat, dass die Union den Aktionsplan von Deswegen: vier Jahre Rotation, die Haftungsgrenze Minister Scholz und Ministerin Lambrecht aufgegriffen auf 10 Millionen und nicht auf die utopischen 20 Millio- hat. nen Euro bringen und ansonsten 1 Prozent auf den Jahres- umsatz des zu prüfenden Unternehmens. Und Sie unter- (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Das haben Sie schlagen: Wir haben klar das gefordert, was seit Jahren falsch verstanden! Herr Scholz hat abgeschrie- gesagt wird, gerade in Bezug auf Personal-Service-Fir- ben!) men, nämlich die Trennung von steuerlicher Beratung Mit Unterstützung der Opposition werden wir ganz und Abschlussprüfung; lesen Sie die Aufsätze dazu. sicher gute Reformen hinbekommen. Wir werden die Auch die Wissenschaft bejaht dies sehr deutlich, meine Finanzaufsicht stärken, und wir werden stärker auf die Damen und Herren. Abschlussprüferinnen und Abschlussprüfer schauen Es klang an – da wende ich mich an den leider nicht müssen. Wir brauchen härtere Strafen bei Bilanzmanipu- anwesenden Olaf Scholz –: Was notwendig ist, sind nicht lation, und wir müssen natürlich auch auf den Anleger- nur Gesetze, sondern eine Änderung der Behördenethik, und Verbraucherschutz schauen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24451

Dr. Jens Zimmermann (A) Ein Punkt ist mir wichtig – das ist in der Debatte auch Sie hat dabei Beweismaterial vorgelegt, das von Wirecard (C) klar geworden –: All denjenigen, die sich jetzt so einig produziert wurde, und zwar durch Kontakte in die Londo- darüber sind, dass wir die Finanzaufsicht stärken müssen, ner Unterwelt: durch einen Zeugen, der „Aktienhändler“ sage ich: Wir werden ganz genau hinschauen, wenn es genannt wurde, aber ein verurteilter Drogendealer war, dann an die Gesetzgebung geht. Wir erleben es doch an durch einen Zeugen, der ein dubioser Nachtklubbesitzer ganz vielen Stellen: Wenn draußen die Empörung groß war. Dieses Beweismaterial hat die BaFin der Staatsan- ist, weil wir einen Skandal haben – nehmen wir zum waltschaft gegen die Journalisten vorgelegt. Eine Auf- Beispiel die Fleischindustrie –, sicht, die so arbeitet, und ein Präsident, der sich dafür nicht entschuldigt, sind nicht tragbar, meine Damen und (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Nehmen Sie mal Herren. den Finanzplatz! – Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Cum/Ex!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dann sagen alle: Hier muss etwas passieren. – Aber wenn es dann an den Treueschwur hier im Deutschen Bundes- Zusammen mit dem Leerverkaufsverbot war das Sig- tag geht, wenn Gesetze gemacht werden, wenn wirklich nal in den Markt: Bei Wirecard ist alles in Ordnung; man etwas unternommen wird, dann zeigt sich, was auf die kann die Aktie weiter kaufen. – Und das haben die Inves- Treueschwüre wirklich zu geben ist. Da werden wir toren getan. Das hatte Folgen: Noch 2019 – das wissen sehr genau hinschauen, meine Damen und Herren. wir schon – gelang es Wirecard, über 2 Milliarden Euro von Investoren und Banken einzusammeln. Das Geld ist (Beifall bei der SPD – Fritz Güntzler [CDU/ fast in Echtzeit in dubiose Kanäle abgeflossen. Das sin- CSU]: „Cum/Ex“ sage ich nur!) kende Schiff wurde geplündert. Die Aufsicht hat durch Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen: Ja, der ihr Handeln dafür reichlich Zeit verschafft. Das ist Fakt. Bund muss seine Hausaufgaben machen. Aber im Fall (Beifall bei der FDP) Wirecard ist auch eines ganz klar geworden: Wir haben in unserem föderalen System auch Zuständigkeiten der Was allerdings bei der BaFin funktioniert hat, das war Länder, und da sieht es an vielen Stellen nicht gut aus. Es der Eigenhandel der Beschäftigten mit den Wirecard- ist wahrscheinlich nur ein Versehen, dass zum Beispiel Aktien, und zwar auch durch solche, die Zugang zu die Rolle der Börsenaufsicht in Hessen es nicht in die Insiderwissen haben. Das Vertrauen in die BaFin ist aus Reformpläne des Grünenantrags geschafft hat. dieser Kombination von Dingen in einer Weise erschüt- tert, dass die BaFin ohne einen Neuanfang an ihrer Spitze (Cansel Kiziltepe [SPD]: Gute Frage!) aus diesem Autoritätsproblem nicht wieder herauskom- (B) Herzlichen Dank. men wird, liebe Kolleginnen und Kollegen. (D) (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: GRÜNEN) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Florian Toncar, FDP. Deshalb, Frau Staatssekretärin Ryglewski aus dem Finanzministerium: Wenn Olaf Scholz entscheidet, dass (Beifall bei der FDP) die BaFin so bleibt, wie sie ist, weil er sich selbst damit schützen will, dann trägt er auch die Verantwortung Dr. Florian Toncar (FDP): dafür, dass die BaFin diesen Autoritätsverlust dauerhaft Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit sich herumschleppen muss, und das kann in keinem Nach dem Fall Wirecard – das kann man sagen – ist die Interesse von irgendjemandem sein, jedenfalls nicht im deutsche Finanzaufsicht BaFin in der tiefsten Krise ihrer Interesse des deutschen Finanzmarkts. Geschichte. Nicht nur wurde eklatanten Hinweisen nicht (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Kay nachgegangen: Statt der Hausdurchsuchung hat sich der Gottschalk [AfD]) Finanzstaatssekretär Kukies noch selbst bei Markus Braun zum Frühstück eingeladen. Wir brauchen neben einem personellen Wechsel auch stärkere Fähigkeiten, eine forensische Eingreiftruppe bei (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Zum Geburts- der BaFin und auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von tag!) den Grünen, mehr Personalaustausch mit der Privatwirt- Das ist – in einem Satz zusammengefasst – das Versagen schaft; denn das ist der Grund, warum zum Beispiel ame- von Finanzministerium und Finanzaufsicht im Fall Wire- rikanische Behörden so viel schlagkräftiger sind. card. Wichtig ist vor allem auch: Fokus, Schwerpunktset- zung. Es bringt nichts – und es ist auch nicht zu rechtfer- (Beifall bei der FDP) tigen –, dass jede Volksbank anlasslos in die Mangel Aber die Sache ist noch schlimmer. Nicht nur wurde genommen wird, aber bei einem Unternehmen wie Wire- weggeschaut: Die BaFin hat sich sogar aktiv vor den card die notwendigen Prüfungen trotz klarer Verdachts- Karren von Wirecard spannen lassen. Sie hat die zwei momente nicht stattfinden. Das ist unverhältnismäßig Journalisten der „Financial Times“, die die Wahrheit und, wie man sieht, auch ungeheuer schädlich. geschrieben haben, bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja!) der CDU/CSU) 24452 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Dr. Florian Toncar (A) Wir brauchen keine neuen Aufgaben für die BaFin. die Zehntausende Mitarbeiter haben, nichts. Sie braucht (C) Wir brauchen nicht mehr Heu auf dem Heuhaufen. Wir auch qualifiziertes Personal: Leute mit Wirtschaftsprüfer- brauchen Menschen, die wissen, was Heu ist und was examen, wie es sie beim Bundesrechnungshof gibt. eine Stecknadel ist; das ist die Konsequenz aus den Vor- gängen bei Wirecard. Genau dahin müssen wir mit der Wir brauchen eine Trennung von Prüfung und Bera- BaFin kommen. tung. Außerdem ist es natürlich ein Problem, dass die Wirtschaftsprüfer von den Unternehmen bezahlt werden, Vielen herzlichen Dank. die sie prüfen sollen. Deswegen gehen unsere Überlegun- gen in die Richtung einer Poolfinanzierung, die unabhän- (Beifall bei der FDP) giger macht.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der LINKEN) Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi. Wir brauchen das Vieraugenprinzip, also Joint Audits. (Beifall bei der LINKEN) Das heißt, dass auch die mittelständischen Prüfer beteiligt werden. Wir brauchen eine Aufhebung des Haftungspri- vilegs; denn Haftung ist doch ein fundamentales Prinzip Fabio De Masi (DIE LINKE): einer Marktwirtschaft. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der P&R-Skandal, der Wirecard-Skandal, Cum/Ex: Die (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und Finanzaufsicht in Deutschland hat ein fundamentales des Abg. Frank Schäffler [FDP]) Problem. Sie hat sich in den letzten Jahren häufig mehr wie ein Schlaflabor und weniger wie eine Finanzaufsicht Es kann doch nicht sein, dass EY ungeschoren davon- verhalten. kommt. (Beifall bei der LINKEN) Wir freuen uns über viele der nützlichen Vorschläge in dem Antrag der Grünen. Ich bin nicht die Stiftung Waren- Im Wirecard-Skandal wurde ein Journalist der „Finan- test, aber ich finde: Das ist eine gute Grundlage. Das gilt cial Times“, Dan McCrum, mit einer Strafanzeige über- insbesondere auch für die Punkte zur Prospekthaftung, zogen, weil er seine Arbeit gemacht hat. Es wurde ihm die hier angesprochen werden; denn wir hatten beim vorgeworfen, er würde mit Insiderhändlern unter einer P&R-Skandal die Situation, dass die BaFin sich den Pros- Decke stecken. Ich habe Herrn Hufeld vor wenigen Tagen pekt angeguckt hat und gesagt hat: Ist ja alles drin – Titel- beim Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“ auf- blatt, Inhaltsangabe, Schluss –, aber wir haben gar nicht gefordert, sich bei diesem Journalisten zu entschuldigen. geprüft, was da drinsteht. – Wozu braucht man eine Pros- (B) Er hat das als obszön bezeichnet. Das zeigt: Wir haben pekthaftung, wenn man nicht prüft, was in den Prospek- (D) ein fundamentales Führungsproblem an der Spitze der ten steht? Das ist, als wenn ich eine Klassenarbeit in der BaFin. Schule verteile und dann nur prüfe, ob es da ein Deckblatt gibt, aber nicht, ob der Schüler Goethes Faust gelesen hat. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Insofern haben wir viele Aufgaben vor uns. GRÜNEN) Ich entlasse Sie jetzt noch nicht ins Wochenende – das Gleichzeitig haben Mitarbeiter der BaFin offenbar sel- macht der Präsident –, aber ich bedanke mich für Ihre ber Insiderhandel betrieben, weil in der Abteilung für Aufmerksamkeit. Vielen Dank. Marktüberwachung mit hochspezialisierten Derivaten auch auf Wirecard gewettet wurde. (Beifall bei der LINKEN) Ich bin den Grünen dankbar für ihren Antrag und für die Debatte heute. Wir haben im Sommer einen Zehn- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Punkte-Plan zur Reform der Finanzaufsicht vorgelegt; Fritz Güntzler, CDU/CSU, ist der nächste Redner. den gibt es unter anderem im „Handelsblatt“. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Florian Toncar [FDP]: Unter welcher Drucksachennummer?) Fritz Güntzler (CDU/CSU): Ich will in der Kürze der Zeit nur einige Punkte nen- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen. Ein fundamentales Problem ist, dass wir staatliche, nen und Kollegen! Zum Abschluss der Woche beschäfti- hoheitliche Aufgaben immer mehr an Private verlagert gen wir uns mal wieder mit dem Thema „Finanzaufsicht haben. Ja, selbstverständlich kann die BaFin nicht jedes und Anlegerschutz“, alles ausgelöst durch den größten Unternehmen prüfen. Aber wenn die Polizei ein Tempo- Finanzskandal der Nachkriegszeit, den Wirecard-Skan- 30-Schild am Ortseingang aufstellt, dann muss sie einen dal. Bilanzfälschung, Betrug, dunkle Geschäfte, Geheim- Autofahrer auch aus dem Verkehr ziehen, wenn er mit dienstkontakte usw. usf. sind mit diesem Skandal verbun- 200 Sachen über die Kreuzung brettert. den. Der Untersuchungsausschuss, den dieser Bundestag eingesetzt hat, hat bereits sechs Sitzungen durchgeführt (Beifall bei der LINKEN) und die Arbeit aufgenommen. Er hat nicht nur den Auf- Genau das kann die BaFin heute nicht; denn sie hat nur trag, die Dinge zu erörtern, herauszufinden, woran es neun Personen, die Bilanzen forensisch prüfen könnten. gelegen hat, sondern auch, Empfehlungen zu erarbeiten, Das ist im Vergleich zu den großen Wirtschaftsprüfern, die der Gesetzgeber umsetzen kann. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24453

Fritz Güntzler (A) Von daher will ich deutlich sagen: Ich meine, wir sind die teurer wird, die zu höheren Marktkonzentrationen (C) am Anfang eines umfassenden Aufklärungsprozesses beiträgt, wird letztendlich auch für die Unternehmen teu- und noch lange nicht am Ende. Von daher würde ich rer, sodass diese ihre Tätigkeit nicht vernünftig wahrneh- auch davor warnen, weil noch viele Fragen offen sind, men können. dass wir hier überall mit Schnellschüssen reagieren, nur Von daher: Insgesamt ist Augenmaß angebracht. Wir weil es politisch opportun ist. Ich glaube, auch hier ist als Union sind dabei, gute Lösungen zu finden, aber, wie Sorgfalt vor Eile angesagt. gesagt, sorgfältig und in Ruhe. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herzlichen Dank. des Abg. [Heidelberg] [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Wie Sie wissen, gibt es einen Referentenentwurf zum Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz, in dem einige Punkte enthalten sind. Dieser ist derzeit Gegenstand in Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: einer Verbandsanhörung und befindet sich in der Ressort- Nächste Rednerin ist die Kollegin Cansel Kiziltepe, abstimmung. Wir werden sehen, was die Bundesregie- SPD. rung hier noch vorlegen kann. Von daher ist sie auch nicht (Beifall bei der SPD) untätig – falls die Anträge der Opposition suggerieren sollten, dass die Bundesregierung in diesem Bereich nicht Cansel Kiziltepe (SPD): tätig ist. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ges- Es geht aber nicht nur um die BaFin, über die wir hier tern konnten wir uns im Untersuchungsausschuss erst- heute gesprochen haben, es geht meines Erachtens, gera- mals ein Bild von den Wirecard-Hauptdrahtziehern de nach der Zeugeneinvernahme im Untersuchungsaus- machen, die höchstpersönlich in den größten Bilanzskan- schuss gestern, auch um die Frage der Governance, die dal der europäischen Geschichte verstrickt waren. Und Frage: Was hat ein Aufsichtsrat zu tun? Wie hat ein Auf- auch wenn Dr. Wirecard nicht zur Aufklärung beigetra- sichtsrat seine Tätigkeit wahrzunehmen? Wie funktio- gen hat, ist etwas Licht ins Dunkel gekommen. niert das mit dem Vorstand zusammen? Wir fragen uns nicht nur, wer schuld ist, wir wollen Und es geht auch um die Frage der Abschlussprüfer; auch Betrug und Selbstbereicherung in Zukunft einen das ist doch völlig klar. Auch ich als Wirtschaftsprüfer Riegel vorschieben. bin schon teilweise etwas verwundert, was da geschehen (Beifall der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD]) ist, dass 1,9 Milliarden Euro an liquiden Mitteln ver- Das jetzige System ist diesen Aufgaben offensichtlich (B) schwunden sind. Ich kann Ihnen als Prüfer sagen: Es ist (D) eigentlich das einfachste Geschäft für einen Prüfer, liqui- nicht gewachsen, und genau das werden wir verändern, de Mittel nachzuweisen. Das ist ein Prüfungspunkt, den angefangen bei den Wirtschaftsprüfern, die im Fall von man eigentlich recht schnell abarbeiten kann. Die Kolle- Wirecard als Erste hätten Alarm schlagen müssen. Aber ginnen und Kollegen, die Kenntnis haben, nicken eifrig; solange Prüfer und Prüfling, wie seit Jahrzehnten üblich, das ist wirklich so. Von daher wundert man sich schon, gemeinsam in einen Jacuzzi steigen, können wir nicht dass so ein Bilanzposten als Luftnummer in der Bilanz von Prüfung sprechen. Deswegen müssen und werden erscheinen kann und ein vollständiges Testat erteilt wur- wir die Rotationspflicht verschärfen. de. (Beifall bei der SPD) Aber ich warne schon davor – da möchte ich auch viele Auch die auf 4 Millionen Euro beschränkte Haftungs- Kolleginnen und Kollegen der Wirtschaftsprüferzunft in summe muss fallen. Die milliardenschweren Prüferkanz- Schutz nehmen –, dass man angesichts dessen, dass es leien zahlen solche Summen aus der Portokasse, liebe hier vielleicht Einzelfallprobleme bei einer großen deut- Kolleginnen und Kollegen. Wer fahrlässig handelt, schen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft gibt, verallgemei- muss auch voll dafür haften. nert und sagt: Wir haben ein Systemproblem in der Abschlussprüfung. – Wir sollten schon aufpassen, dass Auch die Finanzaufsicht, die BaFin, werden wir auf- wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und nur möbeln. Sie braucht Ressourcen, und sie muss Zähne nach Aktionismus schreien, um einfach zu zeigen: Wir bekommen. Spekulative Geschäfte von BaFin-Mitarbei- tun hier was. tern sind selbstverständlich ein No-Go. Das zweistufige Verfahren zur Bilanzkontrolle muss weg, und mit dem Wenn ich die drei Punkte betrachte, die auch im AfD- Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz nehmen wir all Antrag enthalten sind und die wahrscheinlich nächste diese Punkte in Angriff. Und wir wollen das nicht auf Woche Freitag hier debattiert werden, stelle ich fest: Es die lange Bank schieben, Herr Güntzler. geht um die alten Fragen, die wir schon 2016 diskutiert haben, nämlich um Rotation, um Haftung und die Tren- (Beifall bei der SPD) nung von Prüfung und Beratung. Die Zeit erlaubt es nicht, Doch es gibt einen weiteren notwendigen und äußerst all das einzeln auszuführen. Aber ich frage mich, ob all effektiven Hebel, um Skandale wie diesen auch in der die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang vorgetra- Zukunft zu verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen. gen werden, tatsächlich den Wirecard-Skandal verhindert Es wurden nämlich nicht nur Aktionäre und Geschäfts- hätten. Das glaube ich eben nicht. Von daher: Wir müssen partner betrogen, sondern auch Tausende Beschäftigte die Abschlussprüfer kritisch betrachten. Wir sollten aber von Wirecard, die jahrelang dachten, für einen aufstei- mit Augenmaß vorgehen; denn eine Abschlussprüfung, genden Stern am Fintech-Himmel zu arbeiten. Hätten 24454 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

Cansel Kiziltepe (A) sie bei Wirecard wirklich etwas zu sagen gehabt, wäre es haben nur draufgeschaut, ob die entsprechenden Unter- (C) wohl nie so weit gekommen, liebe Kolleginnen und Kol- lagen, ob die entsprechenden Prospekte eingereicht wur- legen. Mitbestimmung gehört zu einer guten Corporate den, aber reingeschaut haben wir nicht. – Viele Anleger Governance. Auch darüber werden wir reden müssen, haben Geld verloren, weil sie darauf vertraut haben, dass weil es bei Wirecard weder eine Arbeitnehmer/-innen- es das Premiumsegment ist. bank im Aufsichtsrat noch einen Prüfungsausschuss (Zuruf der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE noch einen Betriebsrat in einer der Tochtergesellschaften GRÜNEN]) gab. Deshalb werden wir auch hierüber reden müssen. Meine Damen und Herren, die Zuständigkeit beim Vielen Dank. Thema Geldwäsche ist in Deutschland regional aufge- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) teilt. Wir wissen sehr gut und sehr genau, dass wir hier einen europäischen, einen internationalen Ansatz brau- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: chen, um gegen Geldwäsche effektiv vorzugehen. Die komplexe rechtliche Frage, die hier zu klären ist, bei Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte und Bezirksregierungen abzuladen, ist viel zu einfach. möglicherweise auch in dieser Woche ist der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU. Die Ausführungen, die mein Kollege Hauer zu den Aufsichtsräten getätigt hat, sind zweifelsohne richtig. (Beifall bei der CDU/CSU) Zum Verbraucherschutz: Frau Kollegin Paus, Sie wol- len Produkte verbieten, die ungeeignet, die gefährlich Alexander Radwan (CDU/CSU): sind. Über den Verbraucherschutz müssen wir diskutie- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt bin ich ren, auch darüber, wie die BaFin Verbraucherschutz der Letzte, der zwischen Ihnen und dem Wochenende wahrnehmen kann. Aber wir sollten hier angesichts der steht. Nichtsdestotrotz möchte ich einige Punkte ergän- kriminellen Energie im Fall Wirecard keinen falschen zen zu dem, was die Kollegen Hauer und Güntzler hier Eindruck erwecken. Ich habe Sie jetzt nicht so verstan- ausgeführt haben. den, dass Sie der Meinung sind, wenn es mehr Verbrau- Ich bin Fritz Güntzler ausgesprochen dankbar, dass er cherschutz gegeben hätte, hätten die Wirecard-Anleger betont hat: Der Untersuchungsausschuss Wirecard dient nichts verloren. Diesen Eindruck sollten wir hier nicht zur Aufklärung, zur politischen Aufklärung – er ist das erwecken. Parlamentsinstrument –, aber natürlich auch zur inhalt- lichen Aufklärung. Aus den Ergebnissen werden wir (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dann unsere Konsequenzen ziehen. Das heißt, dieser Nein, das wollen wir nicht!) (B) Wettlauf mit der Opposition in diesem Bereich darum, Meine Damen und Herren, mit Blick auf die BaFin (D) wer die ersten Vorschläge macht – angefangen beim Vor- möchte ich angesichts des oben schon beschriebenen schlag des BMF selber –, hat zwar begonnen; aber dass Wettlaufs, der gerade stattfindet, nur eines sagen: Wir damit noch nicht die besten Vorschläge gebracht wurden, brauchen einen Kulturwandel; das ist richtig. Ich würde ist ja offensichtlich. mir wünschen, dass wir eine deutsche, eine europäische SEC in diesem Bereich bekommen, die sich auf die Meine Damen und Herren, es ist natürlich sehr wich- schweren Themen, auf die komplexen Themen fokussiert tig – das war auch bei den Reden, die ich gehört habe, der und vielleicht da mit der gleichen Energie vorgeht, mit Fall –, das Augenmerk auf die BaFin zu legen und die Frage zu stellen, wie effektive und gute Finanzaufsicht in der momentan gegen Regionalbanken vorgegangen wird. Deutschland funktionieren kann – ich ergänze: auch in Was ich nicht möchte, ist, meine Damen und Herren, Europa funktionieren kann. Da hilft es nicht, wenn man dass nach dieser Diskussion und nach den zu erwartenden regelmäßig erklärt, aus der Europäischen Union und der zukünftigen Gesetzesänderungen mögliche Verschärfun- EZB austreten zu wollen. Europäische Finanzaufsicht ist gen insbesondere die Kleinen treffen. Dazu gehört eben hier eben auch notwendig. Aber es ist darüber hinaus auch, dass die Zuständigkeit für die Finanzanlagenver- komplexer. Allein über die BaFin-Struktur wird man die- mittler in der jetzigen Phase bei der BaFin wirklich nichts ses Problem nicht lösen. Es wurde teilweise schon ange- zu suchen hat. Die muss dort bleiben, wo sie jetzt ist, sprochen: Es geht hier um kriminelle Energie, es geht um meine Damen und Herren. Lassen Sie uns die BaFin Betrug, es geht darum, wie die Staatsanwaltschaften zu- auf das fokussieren, was notwendig ist. Ziel muss eine künftig damit umgehen. Verbesserung der Aufsicht in Deutschland sein. Daran arbeiten wir gemeinsam in den nächsten Wochen und Die Wirtschaftsprüfer wurden angesprochen; ich Monaten sehr gerne. möchte nur ergänzen: Es gibt gute Argumente für Rota- tion und Haftung, aber mir ist vor allen Dingen wichtig, Besten Dank, meine Damen und Herren. die Frage zu klären, was ein Testat eines Wirtschaftsprü- (Beifall bei der CDU/CSU) fers zukünftig noch wert ist. Mir ist es eben zu wenig, nur zu sagen: Wir haben die Sachen gesichtet, aber ansonsten konnten wir nicht näher hineinschauen. Also eine Plausi- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: bilitätsprüfung muss zukünftig schon stattfinden. Damit schließe ich die Aussprache. Was mir völlig abgeht, ist, welche Rolle bei der Frage Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf der Aufnahme in den DAX die Deutsche Börse gespielt den Drucksachen 19/24385, 19/24398 und 19/24396 und hat. Ich finde es beschämend, wenn gesagt wird: Wir 19/24384 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24455

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) schüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Vorschläge? – Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- (C) Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschla- tages auf Mittwoch, den 25. November 2020, 13 Uhr, ein. gen. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende. Halten Sie Abstand! Bleiben Sie Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- sicher und gesund! nung. (Schluss: 16.42 Uhr)

Berichtigung In den Abstimmungslisten der ersten bis vierten na- mentlichen Abstimmungen in der 191. Sitzung am Mitt- woch, dem 18. November 2020, Seiten 24080 C, 24083 B, 24099 C und 24111 D ist bei den jeweiligen Abstimmungen der Name „“ durch den Namen „“ zu ersetzen.

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24457

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/ Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN Bellmann, Veronika CDU/CSU Lechte, Ulrich FDP Beutin, Lorenz Gösta DIE LINKE Lehmann, Sven BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Bleck, Andreas AfD Manderla, Gisela CDU/CSU Bluhm-Förster, Heidrun DIE LINKE Miazga, Corinna AfD Brand (Fulda), Michael CDU/CSU Mützenich, Dr. Rolf SPD Busen, Karlheinz FDP Nick, Dr. Andreas CDU/CSU Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Nietan, Dietmar SPD Esdar, Dr. Wiebke SPD Noll, Michaela CDU/CSU Felser, Peter AfD Nord, Thomas DIE LINKE Freihold, Brigitte DIE LINKE Özoğuz, Aydan SPD Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Pellmann, Sören DIE LINKE

(B) Gottberg, Wilhelm von AfD Pilger, Detlev SPD (D) Grötsch, Uli SPD Post, Florian SPD Hartmann, Sebastian SPD Remmers, Ingrid DIE LINKE Hartmann, Verena fraktionslos Rimkus, Andreas SPD Hebner, Martin AfD Rix, Sönke SPD Heider, Dr. Matthias CDU/CSU Rupprecht, Albert CDU/CSU Heinrich, Gabriela SPD Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU Herdt, Waldemar AfD Schlund, Dr. Robby AfD Herrmann, Lars fraktionslos Schmid, Dr. Nils SPD Herzog, Gustav SPD Schulte, Ursula SPD Höchst, Nicole AfD Solms, Dr. Hermann Otto FDP Holmeier, Karl CDU/CSU Steffel, Frank CDU/CSU Ihnen, Ulla FDP Steinke, Kersten DIE LINKE Irlstorfer, Erich CDU/CSU Theurer, Michael FDP Jung, Andreas CDU/CSU Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE Kaiser, Elisabeth SPD Weber, Gabi SPD Kapschack, Ralf SPD Weidel, Dr. Alice AfD Kemmer, Ronja* CDU/CSU Weiler, Albert H. CDU/CSU 24458 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020

(A) – Gesetz zu dem Protokoll vom 10. Oktober 2018 zur (C) Abgeordnete(r) Änderung des Übereinkommens vom 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen bei der automati- Weingarten, Dr. Joe SPD schen Verarbeitung personenbezogener Daten Witt, Uwe AfD – Ausführungsgesetz zum Übereinkommen vom 9. September 1996 über die Sammlung, Abgabe Zdebel, Hubertus DIE LINKE und Annahme von Abfällen in der Rhein- und Bin- nenschifffahrt (Binnenschifffahrt-Abfallüberein- Zimmermann, Pia DIE LINKE kommen-Ausführungsgesetz – BinSchAbfÜbkAG) Der Bundesrat hat in seiner 996. Sitzung am * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes 18. November 2020 beschlossen, dem nachstehenden Ge- setz zuzustimmen: – Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei Anlage 2 einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Die Fraktion der AfD hat mitgeteilt, dass sie den An- trag „Restitution von Sammlungsgut aus kolonialem Der Bundesrat hat in seiner 995. Sitzung am 6. Novem- Kontext stoppen“ auf Drucksache 19/24394 zurück- ber 2020 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- zieht. stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von – Drittes Gesetz zur Änderung des Direktzahlungen- einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Durchführungsgesetzes absehen: – Drittes Gesetz zur Änderung agrarmarktrechtli- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare cher Bestimmungen Sicherheit – … Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes – Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten des Sachverständigenrates für – … Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes Umweltfragen – Gesetz zur aktuellen Anpassung des Freizügig- Fluglärm reduzieren: Reformbedarf bei der Pla- (B) keitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften an nung von Flughäfen und Flugrouten (D) das Unionsrecht Drucksache 18/1375 – … Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die – Unterrichtung durch die Bundesregierung internationale Rechtshilfe in Strafsachen Erster Bericht der Bundesregierung zur Evaluie- – ... Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – rung des Gesetzes zum Schutz gegen Fluglärm Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe sowie Erweiterung der Strafbarkeit nach Drucksachen 19/7220, 19/7503 Nr. 1.8 den §§ 86, 86a, 111 und 130 des Strafgesetzbuches Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolge- bei Handlungen im Ausland nabschätzung – Gesetz zur Fortentwicklung des Rechts des Pfän- – Unterrichtung durch die Bundesregierung dungsschutzkontos und zur Änderung von Vor- Bericht der Bundesregierung über die Fortschritte schriften des Pfändungsschutzes (Pfändungs- der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und schutzkonto-Fortentwicklungsgesetz – PKoFoG) Grundbildung 2016 bis 2026 – Gesetz über Änderungen im Berufskraftfahrer- Drucksachen 19/14880, 19/15241 Nr. 1 qualifikationsgesetz Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben – Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- von Ingenieur- und Architektenleistungen und onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer anderer Gesetze Beratung abgesehen hat. – Gesetz zur Änderung des Energiewirtschaftsgeset- Ausschuss für Inneres und Heimat Drucksache 19/19077 Nr. A.3 zes zur marktgestützten Beschaffung von System- Ratsdokument 6971/20 dienstleistungen Finanzausschuss – Gesetz zur Revision der Europäischen Sozialchar- Drucksache 19/22367 Nr. A.18 EP P9_TA-PROV(2020)0165 ta vom 3. Mai 1996 Drucksache 19/23079 Nr. A.1 Ratsdokument 10678/20 – Gesetz zu dem Mehrseitigen Übereinkommen vom Drucksache 19/23855 Nr. A.3 Ratsdokument 11048/20 24. November 2016 zur Umsetzung steuerabkom- Drucksache 19/23855 Nr. A.4 Ratsdokument 11050/20 mensbezogener Maßnahmen zur Verhinderung Drucksache 19/23855 Nr. A.5 der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung Ratsdokument 11064/20 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. November 2020 24459

(A) Drucksache 19/23855 Nr. A.6 Ausschuss für Wirtschaft und Energie (C) Ratsdokument 11231/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.39 Ratsdokument 8980/20 Haushaltsausschuss Drucksache 19/22367 Nr. A.48 Drucksache 19/23079 Nr. A.2 Ratsdokument 10122/20 Ratsdokument 10199/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.49 Drucksache 19/23079 Nr. A.3 Ratsdokument 10125/20 Ratsdokument 10200/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.50 Drucksache 19/23079 Nr. A.4 Ratsdokument 10128/20 Ratsdokument 10201/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.51 Drucksache 19/23079 Nr. A.5 Ratsdokument 10131/20 Ratsdokument 10202/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.52 Drucksache 19/23079 Nr. A.6 Ratsdokument 10134/20 Ratsdokument 10204/20 Drucksache 19/23855 Nr. A.7 Drucksache 19/23079 Nr. A.7 Ratsdokument 10443/20 Ratsdokument 10205/20 Drucksache 19/23079 Nr. A.8 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ratsdokument 10206/20 Drucksache 19/19658 Nr. A.12 Drucksache 19/23079 Nr. A.9 Ratsdokument 7576/20 Ratsdokument 10207/20 Drucksache 19/23079 Nr. A.10 Ratsdokument 10208/20 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Drucksache 19/23079 Nr. A.11 Drucksache 19/22367 Nr. A.65 Ratsdokument 10209/20 Ratsdokument 10152/20 Drucksache 19/23079 Nr. A.12 Ratsdokument 10212/20 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 19/23079 Nr. A.13 Drucksache 19/3318 Nr. A.14 Ratsdokument 10213/20 Ratsdokument 9868/18 Drucksache 19/23079 Nr. A.14 Drucksache 19/7820 Nr. A.5 Ratsdokument 10215/20 EP P8_TA-PROV(2019)0011 Drucksache 19/23079 Nr. A.15 Ratsdokument 10216/20 Drucksache 19/10072 Nr. A.22 Drucksache 19/23079 Nr. A.16 Ratsdokument 7966/19 Ratsdokument 10217/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.70 Drucksache 19/23079 Nr. A.17 Ratsdokument 9346/20 Ratsdokument 10225/20

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333