CHRISTIAN RITZ

Schreibtischtäter vor Gericht

Wilhelm Harster, Wilhelm Zoepf und Gertrud Slottke (v.re.) im Landgericht München II am ersten Tag der Verhandlung wegen Beteiligung an der Judenverfolgung in den Niederlanden während des Zweiten Weltkriegs. Datierung: 1967

CHRISTIAN RITZ

Schreibtischtäter vor Gericht

Das Verfahren vor dem Münchner Landgericht wegen der Deportation der niederländischen Juden (1959-1967)

Ferdinand Schöningh Paderborn · München · Wien · Zürich Umschlagabbildung: F. Neuwirth / Süddeutsche Zeitung Photo

Der Autor: Christian Ritz, geb. 1964, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg und am ICWC (Forschungs- und Dokumentationszentrum für Kriegsverbrecher- prozesse) an der Universität Marburg und wurde mit vorliegender Arbeit 2011 promoviert.

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E-Book ISBN 978-3-657-77418-0 ISBN der Printausgabe 978-3-506-77418-7

INHALT

INHALT ...... 5

EINLEITUNG ...... 9 Forschungsstand, Fragestellungen und methodische Überlegungen . 10 Aufbau der Untersuchung ...... 14 Quellen ...... 16

I. DIE DEPORTATION DER NIEDERLÄNDISCHEN JUDEN ...... 19

II. DIE TÄTER ...... 33 1. Wilhelm Harster ...... 33 1.1 Harster und der ‚Liberalismus‘ ...... 35 1.2 Elite und Generation – im ‚Dritten Reich‘ ...... 37 1.3 „Ein gefestigter, strebsamer Charakter“ – Harster in der SS ...... 41 2. Wilhelm Zoepf ...... 43 2.1 Nischenbewohner des Regimes ...... 43 2.2 Eichmanns Vertreter vor Ort ...... 45 3. Gertrud Slottke ...... 50 3.1 Selektion vor der Deportation ...... 51

III. HARSTERS PROZESS IN DEN NIEDERLANDEN ...... 57 1. Die ‚Bijzondere Rechtspleging‘ ...... 57 1.1 Die Ahndung der Kollaborateure ...... 58 1.2 Die Ahndung der deutschen Vergehen ...... 60 2. Das Wissen der Angeklagten – Teil 1 ...... 61 3. Urteile im Vergleich ...... 67 4. Drohende Wiederaufnahme des Verfahrens ...... 72

6 INHALT

IV. WILHELM HARSTERS NACHKRIEGSKARRIERE ...... 77 1. Verteidigungsstrategien und Strafnachlass ...... 77 2. Haftentlassung und Repatriierung ...... 84 3. Ehrenerklärungen ...... 88 4. Das Urteil des niederländischen Sondergerichts im Kontext der Wiedereinstellung Harsters in den Staatsdienst ...... 92

V. 12 KS 1/66 DAS VERFAHREN GEGEN ZOEPF U.A. VOR DEM LANDGERICHT MÜNCHEN II ...... 99 1. Rahmenbedingungen der juristischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in den 1950er und 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland ...... 99 2. Die erste Phase der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen (1959 – 1963) ...... 104 2.1 Konzentration: Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes ...... 107 2.2 Stagnation: Fixierung auf ein fernes Beweismittel ...... 111 2.3 Das Münchner Verfahren und der Eichmann Prozess in Jerusalem .. 116 3. Die zweite Phase der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen (1963-1966) ...... 124 3.1 Neubeginn und Dynamisierung ...... 124 3.2 Eine neue Generation: Benedikt Huber und das Verfahren gegen Karl Wolff ...... 132 3.3 Auf neuer Vertrauensgrundlage. Ausgangspositionen einer Kooperation zwischen Strafverfolgungsbehörde und niederländischer Zeitgeschichtsforschung...... 143 3.4 Das Quellenfundament der Anklage ...... 146 3.5 Kooperation ohne Vorbild. Das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation und die Münchner Staatsanwaltschaft ...... 149 4. Das Wissen der Angeklagten – Teil 2 ...... 161 4.1 Verteidigungsstrategien ...... 161 4.2 Eingeständnisse Harsters und Zoepfs ...... 170 5. Die Anklage ...... 178 5.1 Zeitgeschichtliche Forschung als Basis des Verfahrens ...... 178 5.2 Die Anklageschrift ...... 182 6. Die Hauptverhandlung ...... 189 6.1 Die Nebenklage: Personifizierung des Geschehens ...... 190 6.2 Das Plädoyer der Anklage ...... 194 6.3 Verstrickung durch Schicksal und Zufall: Die Verteidigung ...... 194 INHALT 7

6.4 Die Schlussworte der Angeklagten ...... 199 7. Das Urteil ...... 201 7.1 Das Urteil und der historische Kontext der Tatbeiträge ...... 201 7.2 Dokumentenbeweis: Die Tätigkeitsbereiche der Angeklagten ...... 202 7.3 Das Wissen der Angeklagten – Teil III ...... 204 7.4 Gehilfenschaft und Strafmaß ...... 207 7.5 Bedingte Entlassung...... 211 8. Reaktionen auf das Verfahrens ...... 219 8.1 Der Prozess in der Wahrnehmung der bundesdeutschen Presse ...... 219 8.2 Kommentierung im Ausland und der DDR ...... 224 9. Ein singuläres Verfahren – Nachwirkungen ...... 228

EPILOG ...... 235 Verzeichnis der Abkürzungen ...... 238 Quellen ...... 239 Literatur ...... 240 Anhang ...... 247 Danksagung ...... 254 Personenregister ...... 256

EINLEITUNG

Am 24. Februar 1967 verurteilte das Schwurgericht am Landgericht München II1 Wilhelm Harster wegen Beihilfe zum Mord in 82 854 Fällen zu fünfzehn Jahren Haft. Als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdiens- tes (BdS) war er von 1941 bis 1943 Stellvertreter Heydrichs in den besetzten Niederlanden und in dieser Eigenschaft maßgeblich mitverantwortlich für die Deportation eines Großteils der niederländischen Juden2. 1949 verurteilte ihn ein niederländisches Sondergericht zu 12 Jahren Haft. 1955 als persona non grata vorzeitig in die Bundesrepublik entlassen, erlangte er 1956 eine Beam- tenstelle im bayerischen Staatsdienst. 1963 trat er, inzwischen zum Oberregie- rungsrat befördert, unter dem Druck der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungs- ergebnisse in den vorzeitigen Ruhestand. Mitangeklagt waren Wilhelm Zoepf, der Harster ehemals direkt unterstellte Leiter des Den Haager ‚Judenreferates‘ IV B4 und damit Eichmanns Vertreter vor Ort sowie die frühere Polizeiange- stellte Gertrud Slottke. Diese wurden zu neun, beziehungsweise fünf Jahren Haft verurteilt. Das Verfahren, in dem erstmals Vertreter einer mittleren bis höheren Pla- nungs- und Entscheidungsebene im Zusammenhang mit der systematischen Vernichtung der europäischen Juden von einem bundesdeutschen Gericht ver- urteilt wurden3, steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit.

1 Aus Gründen der Vereinfachung wird hinsichtlich des LG II und der diesem zugeordneten Staatsanwaltschaft auf die Nennung der Ordnungszahl II verzichtet 2 Der niederländische Historiker Jacques Presser konstatierte bereits 1965, Harster habe eine zentrale Rolle hinsichtlich des Deportationszusammenhangs gespielt, er habe zu den Haupt- figuren der Tragödie der niederländischen Juden gehört. Jacques Presser, Ashes in the wind. The destruction of the Dutch Jewry, Detroit 1988, S. 342. Niederländische Originalausgabe: Ondergang, ‘s-Gravenhage 1965 3 Ein vor dem Frankfurter Landgericht anhängiges Verfahren wegen der Deportation un- garischer Juden lief parallel zu dem Verfahren vor dem Münchner Landgericht und fand erst 1969 seinen rechtskräftigen Abschluss. Insgesamt wurden zwischen 1947 und 1988 21 ‚Schreibtischtäterprozesse‘ vor bundesdeutschen Gerichten geführt. Die vorliegende Unter- suchung folgt hierbei der Kategorisierung von C.F. Rüter/ D.W. de Mildt, Die westdeutschen Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1997, Amsterdam 1998, S. 293, die die Verfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen gemäß fol- gender Tatkomplexe einteilten: Denunziation, Euthanasie, Justizverbrechen, Kriegsver- brechen, Massenvernichtungsverbrechen durch Einsatzgruppen, Massenvernichtungsverb- rechen in Lagern, andere Massenvernichtungsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen in Haft- stätten, Verbrechen der Endphase, andere NS-Verbrechen und Schreibtischtäterverbrechen. Zu den einzelnen Schreibtischtäterverfahren s. Rüter/de Mildt, S. 295

Forschungsstand, Fragestellungen und methodische Überlegungen

Die grundlegenden politischen und legislativen Weichenstellungen der ersten Jahre nach dem Zusammenbruch, die zu weitreichender personeller Kontinui- tät im Beamtenapparat über die Zäsur von 1945 hinaus führten, sind umfas- send untersucht, die Problematik der Integration eines Millionenheeres mehr oder minder belasteter Funktionsträger des ‚Dritten Reichs‘ in die Institutio- nen der jungen Bundesrepublik deutlich herausgearbeitet. Personelle Konti- nuitätslinien wirkten nachgerade in Exekutive und Judikative fort1 und zeigen sich zunächst als Rahmenbedingung der Wiedereinstellung Harsters in den Staatsdienst 1956. In diesem Zusammenhang tritt zumindest auf politischer Ebenen klar ein in den frühen 50er Jahren parteiübergreifend2 getragener Kon- sens hervor, das Vergangene ruhen zu lassen, einen ‚Schlußstrich‘ zu ziehen und ein Ende alliierter Entnazifizierung herbeizuführen. Ein entsprechender, vor allem legislative Initiativen fokussierender Ansatz Norbert Freis, der vor allem amnestie- und reintegrationspolitische Initiativen bei gleichzeitiger normativer Abgrenzung gegen den Nationalsozialismus ins Blickfeld nahm3,

1 Zentrale entsprechende Weichenstellungen vor Gründung der Bundesrepublik untersuchte bereits Martin Broszat, Siegerjustiz oder strafrechtliche „Selbstreinigung“. Aspekte der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Justiz während der Besatzungszeit 1945-1949, in: VfZ 4/1981, S.477ff 2 Diese Entwicklungslinien hat nachgezeichnet von Marc von Miquel, Ahnden oder Amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004. Die These, diese Kontinuitätslinien seien in nicht geringem Maße im Kon- text einer fortexistierenden ‚Volksgemeinschaft‘ in Form einer über die Zäsur von 1945 hinausreichenden „Erfahrungsgemeinschaft“ zu interpretieren, will indes nicht überzeugen. Auf den Fortbestand und die Stabilität der verschiedenen Sozialmilieus über das ‚Dritte Reich‘ hinweg hat bereits hingewiesen M. Rainer Lepsius, Sozialstruktur und soziale Schichtung in der Bundesrepublik, in: Richard Löwenthal, Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland - eine Bilanz, Stuttgart 1977, S. 263- 288 3 Die nach wie vor grundlegende Studie: Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, setzte einen entsprechenden Konsens in weiten Teilen der Gesellschaft der frühen 1950er Jahre voraus. Zur Kritik an Frei s. Petra Bock/Edgar Wolfrum (Hrsg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschlechtsbilder, Erin- nerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999; kritisiert wird vor allem die inflationäre Verwendung des Begriffs ‚Vergangenheitspolitik‘ und dessen zuweilen unscharfe Abgrenzung gegen Begriffe wie ‚Geschichts- und Erinnerungspolitik‘ Vgl. hierzu zusammenfassend auch Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949-1969, Paderborn 2002, S. 13 sowie S. 358, Anm. 15. Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutsch-land. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Politik und Justiz, München 2007 (überarb. Aufl. der Erstausgabe von 2001), S. 9, postuliert zu einer umfassenden Analyse des Umgangs mit der NS-Vergangenheit die Untersuchung von vier Handlungsfeldern: eine Ebene der politisch-justitiellen Auseinandersetzung, zweitens: die „Geschichte der öffent-lichen Erin- nerungs- oder Memorialkultur“, drittens: „die Geschichte der ästhetischen Kultur“, viertens

FORSCHUNGSSTAND, FRAGESTELLUNGEN UND METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 11 ist inzwischen erweitert worden. So liegen mittlerweile Untersuchungen zur selektiven Ahndung von NS-Verbrechen, zur teilweisen Exkulpation bestimm- ter Tätergruppen, zum Einfluss des Systemkonflikts zwischen den beiden deutschen Teilstaaten auf den justitiellen Umgang mit der nationalsozialisti- schen Vergangenheit und zum rechtspolitischen Umgang nicht zuletzt im Zu- ge der Verjährungsdebatten vor.4 Es ist herausgearbeitet‚ dass diese Kontinuitätslinien weit in die 1960er Jah- re hineinreichten. Sie sind als eine Determinante des Komplexes der justiziel- len Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und somit auch des Münchner Verfahrens ins Blickfeld zu nehmen. Ging man Mitte der 1950er Jahre mehrheitlich davon aus, dass die gesell- schaftliche und justizielle Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit weitgehend abgeschlossen sei, ist andererseits die Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung in Ludwigsburg 1958, zentrale Vorermitt- lungs- und Koordinationsinstanz im Zuge einer nun einsetzenden Verfahrens- welle5, nicht zuletzt auf gesellschaftliche und politische Veränderungsprozesse zurückzuführen, die ebenso als Rahmenbedingung der NS-Verfahren der 60er und 70er Jahre zu betrachten sind. In einem vielschichtigen Spannungsver-

„die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalso-zialismus“. Insgesamt ist von einem differenzierterem Bild der Auseinandersetzung mit der NS- Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik auszugehen. Hierzu Peter Steinbach, Die Vergegenwärtigung von Vergangenem. Zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Erinnerung und öffentlichem Gedenken, in: APuZG B3-4/97, S. 3 ff. 4 Zu den beiden erstgenannten Zusammenhängen Weinke, Verfolgung sowie Dies. ‚Alliierter Angriff auf die nationale Souveränität‘? Die Strafverfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich, in: Norbert Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 37-93; zu letztgenanntem Komplex Michael Greve, Der rechtspolitische und justitielle Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt/M. u.a. 2001; ebenso Miquel, Ahnden oder Amnestieren?. 5 Bereits 1959 stieg die Zahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren von 442 (1958) auf 1018 an, stieg im Jahre 1960 auf 1078, um geringfügig auf 934 Ermittlungsverfahren im Jahr 1961 abzusinken, einen vorläufigen Tiefstand 1964 (810) und wiederum einen Höchststand 1965 (1240) zu erreichen. Die Zahlen wiederum bei Rückerl, Strafverfolgung, S. 125. So wurden zwischen 1945 und Ende 1977, dem Zeitraum, in dem in zwei Wellen die meisten Verfahren vor bundesdeutschen Gerichten stattfanden, 6432 Personen wegen nationalsozialistischer Delikte rechtskräftig verurteilt; s. Statistik des Bundesministeriums der Justiz aufgrund der Meldungen der Landesjustizverwaltungen, zit. n. Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945-1978. Eine Dokumentation, Karlsruhe 1979, S. 125. Bis Ende 1997 wurde hinsichtlich nationalsozialistischer Tötungsdelikte in 150 Fällen auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt, vor Inkrafttreten des Grundgesetzes wurden 14 Todesurteile verhängt. Lediglich 110 Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen von mehr als 10 Jahren. Die Zahlen: C.F. Rüter/ D.W. de Mildt, Die westdeutschen Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1997, Amsterdam 1998, S. 316 ff. Auf die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg und ihrer Bedeutung im Kontext der NS- Verfahren ab Ende der 1950er Jahre ist noch zurückzukommen; jetzt Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst, Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958-2008, Darmstadt 2008. 12 EINLEITUNG hältnis zwischen Kontinuität und Veränderung6 ist auch die Tendenz zu sehen, Beteiligte am nationalsozialistischen Völkermord nicht wegen Täterschaft, sondern lediglich wegen Beihilfe zum Mord anzuklagen und zu verurteilen.7 Auf die Grundlagen dieser Rechtsprechungstendenz, in deren Tradition auch das Urteil gegen Harster, Zoepf und Slottke vor dem Münchner Landgericht steht, wird im Zuge der vorliegenden Untersuchung noch detailliert zurückzu- kommen sein. Diese versteht den Gesamtzusammenhang der Ahndung von NS- Verbrechen als integralen Bestandteil einer übergeordneten gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Die NS-Verfahren sollen sowohl als Bestandteil, als auch als Impulsgeber eines auf vielerlei Ebenen ablaufenden gesellschaftli- chen Wandlungsprozesses nach dem Übergang von Diktatur zu Demokratie

6 Dieser Veränderungsprozess ist auch auf einer Werteebene nachweisbar. So zeigt sich auf der Basis von Umfragedaten eine deutliche Verschiebung der vorherrschenden Wertvorstellungen von Werten der ‚Unterordnung‘ und ‚Disziplin‘ Ende der 1950er Jahre hin zu Werten der ‚Selbstentfaltung‘ und ‚Individualität‘ bis Mitte der 70er Jahre. Hierzu Helmut Klages, Verlaufsanalyse eines Traditionsbruchs. Untersuchungen zum Einsetzen des Wertewandels in der Bundesrepublik Deutschland in den 60er Jahren, in: Karl-Dietrich Bracher, u.a, (Hrsg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin1992, S. 517- 544 mit einer Zusammenfassung der damaligen und immer noch grundlegenden Wertewandelsforschung. 7 Hierzu Greve, Täter oder Gehilfen? Zum strafrechtlichen Umgang mit NS-Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Weckel, Ulrike, Wolfrum, Edgar (Hrsg), Bestien und Befehlsempfänger. Frauen und Männer in NS-Prozessen, Göttingen 2003, S. 194-221, Ders., Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt/M. u.a. 2001, vor allem S. 145 ff., Kerstin Freudiger, Die blockierte Auf- arbeitung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik, in: Joachim Perels/Rolf Pohl (Hrsg.), NS-Täter in der deutschen Gesellschaft, Hannover 2002, S. 119-136 bilanziert: bei Massen- vernichtungsverbrechen in Lagern insgesamt stehen einer Verurteilung wegen Mordes vier wegen Beihilfe gegenüber, bei Schreibtischverbrechen zeigt sich ein Verhältnis von eins zu fünf, bei Verbrechen durch Einsatzgruppen von eins zu zehn (S. 125); Stefan Wittke, Teilexkulpation von NS-Verbrechen? in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Die juristische Aufarbeitung, S. 547 ff., hat hinsichtlich der sechs großen Vernichtungslagerprozesse (Auschwitz,Chelmno, Belzec, Treblinka, Sobibor, Majdanek) der 60er- und 70er Jahre, ein Verhältnis von 1:3 herausgearbeitet (S.575); Vgl. zur Tendenz zur Gehilfenjudikatur auch Joachim Perels, Amnestien für NS-Täter in der Bundesrepublik, in: Redaktion Kritische Justiz, Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, S. 677-687, S. 685 f; zur zeit- genössischen Kritik an dieser Rechtsprechungstendenz Vgl. Barbara Just-Dahlmann/Helmut Just, Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945, Frankfurt am Main 1988, Reinhard Henkys (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Stuttgart 1964. Ebenso war meist unter der Fragestellung nach der Urteilspraxis die strafrechtliche Verfolgung einzelner Tätergruppen, so auch der Konzentrationslager-SS, Gegenstand zeitgeschichtlicher Untersuchungen. So etwa Karin Orth, SS-Täter vor Gericht. Die straf- rechtliche Verfolgung der Konzentrationslager-SS nach Kriegsende, in: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.), ‚Gerichtstag halten über uns selbst‘. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Jahrbuch 2001 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt/Main, 2001, S. 43-60. Falko Kruse, Zweierlei Maß für NS-Täter? Über die Tendenz schichtenspezifischer Privilegierung in Urteilen gegen nationalsozialistische Gewaltver- brecher, in: Kritische Justiz 3/1978, S. 236 ff., Bettina Nehmer, Täter als Gehilfen? Zur Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen, in: ebd., 635 ff. FORSCHUNGSSTAND, FRAGESTELLUNGEN UND METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 13 gesehen werden. Die Verfahren spiegeln gesellschaftliche Spannungsfelder, vorherrschende Deutungsmuster, außerwissenschaftliche Vergangenheitsin- terpretationen sowie zeitgeschichtliche Analyseansätze wider; sie trugen aber auch über die in (und wegen) ihnen geführten Auseinandersetzungen zum Wandel dieser Deutungsmuster bei. Die Prozesse wegen nationalsozialisti- scher Verbrechen erscheinen als Impulsgeber und zugleich als Ergebnis eines umfassenden gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungsprozes- ses. Das Verfahren vor dem Münchner Landgericht wird im Kontext dieser Wechselwirkungen hinsichtlich seiner Bedeutung für die bundesdeutsche Auseinandersetzungsgeschichte untersucht. Vor diesem Hintergrund kann die Historisierung des vergangenheitspoliti- schen Umgangs und der justitiellen Auseinandersetzung in der Bundesrepub- lik mit dem Nationalsozialismus nicht strafrechtliche Dimension begrenzt bleiben. Ansätze, die hinsichtlich der Bedeutung der justitiellen Aufarbeitung von NS-Verbrechen allein auf Ahndungsbilanz, vergleichende Urteilsauswer- tung, die Analyse ihrer vorherrschenden Rechtsprechungspraxis und ihrer rechtstheoretischen und legislativen Grundlagen fokussieren, fassen lediglich einen Teilausschnitt. Gegenüberstellungen von Schuld und Strafmaß mit Blick auf fraglos gegebene Versäumnisse und Ahndungsdefizite8, lediglich quantifi- zierende Interpretationsansätze greifen zu kurz.9 In der Untersuchung des Verfahrens gegen Harster u.a. ist die außenpoliti- sche Dimension ebenso relevant wie die gesellschaftlichen Implikationen und Wechselwirkungen mit der Zeitgeschichtsforschung. Letzteres ist vor allem deshalb von Bedeutung, da in dem zu untersuchenden Verfahren der Nachweis zu erbringen war, dass die Angeklagten das Schicksal der unter ihrer Mitver- antwortung deportierten Juden kannten. Diese Problematik stand im Zentrum des nahezu sieben Jahre dauernden Ermittlungsverfahrens und einer beispiel- losen Kooperation zwischen Strafverfolgungsbehörde und Geschichtswissen- schaft. Überdies wird zu untersuchen sein, wie sich dieses erste bundesdeut- sche ‚Schreibtischtäterverfahren‘ gegen Vertreter einer mittleren bis höheren Funktionärsgruppe auf weitere vergleichbare Prozesse auswirkte. Schließlich ist das Verfahren im Gesamtzusammenhang der Geschichte des justiziellen Umgangs mit der NS-Vergangenheit zu verorten. Der Zusammenhang mit ei- ner gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit der NS- Vergangenheit wird hierbei im Blickfeld gehalten.

8 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik, S. 100, spricht von „schwersten Unterlassungsschäden“ „auf dem Gebiet der justitiellen Verfolgung von NS-Straftaten“ also Folge der umfassenden Wiedereingliederung ehemaliger Funktionsträger des ‚Dritten Reichs‘. 9 Hierauf hat bereits hingewiesen Weinke, Alliierter Angriff

Aufbau der Untersuchung

Soweit es die Zusammenhänge erlauben, folgt die vorliegende Studie einer chronologischen Darstellung. Ein erster Teil der Untersuchung strebt keine Biographie der Angeklagten an, es gilt vielmehr, zunächst die Person des Ju- risten Harsters exemplarisch in ihrem Generationenzusammenhang1 und schließlich die drei angeklagten Vertreter einer mittleren bis höheren sicher- heitspolizeilichen Funktionärsgruppe im Gefüge der deutschen Besatzungs- verwaltung in den Niederlanden vor der Folie aktuellen Forschungsstandes zu verorten. Zu untersuchen sind hierbei Befehlswege, Kompetenzen und Zu- ständigkeitsabgrenzungen und –überlagerungen sowohl in den besetzten Nie- derlanden als auch innerhalb des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) sowie der SS. Zu berücksichtigen sind hierbei auch Machtverschiebungen im natio- nalsozialistischen Herrschaftsgefüge im Zuge einer Radikalisierungsdynamik im Verlauf des Krieges. Auf diese Grundlage kann ein späteres Kapitel zu- rückgreifen und das zeitgeschichtliche Fundament der Anklage von 1966, das in singulärer Kooperation zwischen Münchner Staatsanwaltschaft und nieder- ländischen Historikern erarbeitet worden war, mit dem aktuellen Forschungs- stand abgleichen. Zu fragen ist im Kontext einer übergeordneten Auseinander- setzungsgeschichte nach den Wechselwirkungen zwischen dem Münchner Verfahren und (zunächst vor allem niederländischer) Zeitgeschichtsforschung hinsichtlich des Deportationszusammenhangs und der Strukturen der Besat- zungsverwaltung. Zunächst jedoch wird ein zweites Kapitel die Hintergründe der Wiederein- stellung Harsters in den Bayerischen Staatsdienst beleuchten. Auf die ein- gangs skizzierten reintegrationspolitischen Weichenstellungen wird eingegan- gen und Harsters Nachkriegskarriere in ihren vergangenheitspolitischen Zu- sammenhang gesetzt. Die Verurteilung des ehemaligen BdS durch ein nieder- ländisches Sondergericht war dem bayerischen Innenministerium bekannt, als man 1956 entschied, ihn als Regierungsrat einzustellen, die Urteilbegründung lag vor. Ihre Interpretation im Zuge des Wiedereinstellungsprozesses Harsters wird vor dem Hintergrund einer weitverbreiteten tendenziellen Ablehnung der Urteile einer so genannten ‚Siegerjustiz‘ in den 50er Jahren zu untersuchen sein. Aufschlussreich sind auch die zahlreichen ‚Ehrenerklärungen‘, die Hars- ter im Vorfeld seiner erneuten Verbeamtung ausgestellt worden waren und ihn

1 Zu einem kategorisierenden Zugriff über das Instrument eines Generationenbegriffs im Zuge der jüngeren Tätergruppenforschung Wildt, Generation des Unbedingten, Herbert, Best. S. a. Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissen- schafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt/M. 2008 AUFBAU DER UNTERSUCHUNG 15 gleichsam als korrekten Beamten in einem unkorrekten System erscheinen lie- ßen.2 Eine Darstellung der Vor- und Rahmenbedingungen des Münchner Verfah- rens leitet das zentrale Kapitel dieser Untersuchung ein. Die grundlegende Fragestellung hinsichtlich der knapp sieben Jahre dauernden staatsanwalt- schaftlichen Ermittlungen zielt auf die Positionierung der Münchner Staats- anwaltschaft gegenüber dem Verfahrensgegenstand und auf ihre Bereitschaft, den komplexen Zusammenhang der systematischen Vernichtung in das Ver- fahren einzubeziehen. Zu fragen ist auch, wie sich vorgesetzte Institutionen, die bayerische Landes- und schließlich die Bundespolitik gegenüber dem Ver- fahren auch angesichts der außenpolitischen Dimension positionierte. Um eine Anklage wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord auf stabiler Grundlage erstellen zu können, war der Nachweis erforderlich, dass die Be- schuldigten das Schicksal der unter ihrer Mitverantwortung deportierten Juden kannten. Die Problematik, entsprechendes Wissen zweifelfrei nachzuweisen, stand im Zentrum des Ermittlungsverfahrens. Angesichts der in zahlreichen Verfahren der 60er und 70er Jahre vorgebrachten Verteidigungsformel, erst nach dem Untergang des ‚Dritten Reichs‘ Kenntnis von der Vernichtung der Juden erhalten zu haben sowie der gesellschaftlichen Dimension, die mit der Frage nach vergleichbarem Wissen auf breiterer Basis berührt ist, nehmen die Bemühungen, einen entsprechenden Nachweis zu erbringen, in der vorliegen- den Untersuchung breiten Raum ein. In diesem Kontext steht auch die Koope- ration zwischen der Staatsanwaltschaft und niederländischen Historikern. So fußten Anklage und Urteil auf einem soliden Quellenfundament, das die Her- anziehung von Zeugen unnötig machte. Das geschichtswissenschaftliche Fun- dament des Prozesses wird untersucht und gewürdigt. Im Blickfeld stehen hierbei auch Wechselwirkungen zwischen dem Ermittlungsverfahren und his- torischer Forschung in der Auseinandersetzung mit dieser Frage. Untersucht wird in diesem Zusammenhang auch, wie sich der Forschungsstand und die Interpretationsmuster der jungen Disziplin der Zeitgeschichtsforschung in der Argumentation der Anklage und des Urteils widerspiegelten, aber auch, wie das Verfahren und damit die justizielle Auseinandersetzung mit dem Deporta- tionskontext und der genannten zentralen Frage um das Wissen um die ‚End- lösung‘ auf eine wissenschaftliche sowie eine gesellschaftliche Ebene zu- rückwirkte.

2 In diesem Zusammenhang verspricht ein diskursanalytischer Ansatz zusätzlichen Erkenntnis- gewinn. Eine Einführung: Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt/M. u.a., 2008

Quellen

Wichtigste Quellensammlung der vorliegenden Untersuchung ist die 52 Bände umfassende Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft am Landgericht München II. Aus der umfangreichen Sammlung von Aktenvermerken und der zahlrei- chen Korrespondenz mit übergeordneten Instanzen erschließt sich der Verlauf des Ermittlungsverfahrens, die unterschiedliche Behandlung des Tatkomple- xes durch verschiedene staatsanwaltschaftliche Sachbearbeiter sowie die je- weilige Perspektive auf seinen historischen Zusammenhang. Zudem werden die Handlungsspielräume der Staatsanwaltschaft sowie die Positionierung der bayerischen Judikative zu diesem Verfahren und damit zum Gesamtzusam- menhang der justiziellen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit re- konstruierbar. Überdies werden der Rechtshilfeverkehr mit Israel sowie die Vernetzung mit anderen Ermittlungsbehörden, vor allem mit der Staatsanwalt- schaft Frankfurt im Kontext des ersten dortigen Auschwitz-Prozesses greifbar. Die Kooperation zwischen niederländischen Historikern des Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie (RvO, Reichsinstitut für Kriegsdokumentation) und Münchner Staatsanwaltschaft wird en detail über die in den Ermittlungsakten erhaltene Korrespondenz mit den wissen-schaftlichen Mitarbeitern des Insti- tuts sichtbar. Weitere ergänzende, diese Zusammenarbeit dokumentierende Unterlagen finden sich im Archiv der Amsterdamer Forschungseinrichtung. Ebenso sind dort die zentralen Quellen zur Erforschung der Besatzungsstruk- tur in den besetzten Niederlanden und des Deportationszusammenhangs der niederländischen Juden erhalten. Diese standen im Zuge der genannten Ko- operation auch der Münchner Staats-anwaltschaft zur Verfügung und sind in den Quellenbänden der Ermittlungs-akte zusammengefasst.1 Darunter befin- den sich unter anderem Dokumente des Informationsbüros des niederländi- schen Roten Kreuzes, die es ermöglichten, Opferzahlen zu bestimmen und einzelne Transporte in die Vernichtungslager einem Datum und damit der Amtszeit und der Verantwortung der Angeklagten zuzuordnen.2 Die politi-

1 Bedauerlicherweise wurden sie neben Akten des Berlin Document Center (BDC) ohne Hinweis auf ihre Ursprungssignatur abgelegt. 2 Die Zahlen des Roten Kreuzes basierten zum einen auf einer Kartei, die von Insassen des La- gers Westerbork angefertigt wurde. Von dort gingen die Transporte in die Vernichtungslager aus. In der Verwaltung des Lagers tätige Juden hatten diese Kartei vergraben, die nach der nach der Besatzung unversehrt gefunden wurde. Ein Blatt listet ca. 50 Namen Deportierter auf, die Kartei umfasst etwa 2000 Blätter. Die Sammlung des Roten Kreuzes, die vom RvO ausgewertet wurde, beinhaltet zudem das Buch der statistischen Abteilung des Lagers. Zwischen beiden Dokumenten finden sich geringfügige Abweichungen, die das RvO damit erklärte, dass kurz vor einem Transport noch Personen in diesen überführt oder von diesem zurückgestellt worden waren. Polnische Unterlagen, insbesondere Dokumente des Staatlichen Museums Auschwitz, bestätigten diese Zahlen. Vgl. die Angaben des wissenschaftlichen Mitarbeiters des Amsterdamer Instituts in der Hauptverhandlung vor dem Münchner Schwurgericht am 8.2.1967, in: Staatsarchiv München (StAM), Staatsanwaltschaften

QUELLEN 17 schen Implikationen in den Niederlanden im Zuge der Verurteilung Harsters durch das Den Haager Sondergericht lassen sich über weitere Unterlagen des RvO detailliert erschließen, die bundespolitische und zwischenstaatliche Di- mension des Verfahrens vor dem Münchner Landgericht über weiteres Mate- rial des Nationaal Archief in Den Haag, über das Politische Archiv des Aus- wärtigen Amtes (PAAA) in Berlin sowie einige Aktenbestände des Bundesar- chivs (BA) in Koblenz. Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv liegen zudem Do- kumente, die das Material des Staatsarchivs München ergänzen und helfen, den Umgang der bayerischen Judikative mit der NS-Vergangenheit zu rekon- struieren. Hinsichtlich Harsters Wiedereinstellung als Regierungsrat 1956 ist zudem seine Personalakte des bayerischen Innenministeriums von Relevanz, die im Zuge dieses Projektes an das Bayerische Hauptstaatsarchiv abgegeben worden war.

34879/8, Bll. 1805 ff. Die entsprechend bereinigte Auflistung findet sich im Anhang dieser Studie.

I. DIE DEPORTATION DER NIEDERLÄNDISCHEN JUDEN

„…daß der Zugriff so gut war, rein tech- nisch.“ Rahmenbedingungen und Hand- lungsspielräume Am Vorabend der deutschen Invasion lebten etwa 140 000 Juden in den Nie- derlanden.1 Knapp 73 Prozent von ihnen wurden in die Vernichtungslager des Ostens deportiert, während im Gegensatz dazu annähernd 60 Prozent der min- destens 90 0002 jüdischen Einwohner Belgiens sowie etwa 77 Prozent der knapp 300 0003 in Frankreich lebenden Juden den Transporten entgehen konn- ten. Unter den ehedem besetzten Ländern des Westens haben lediglich die Niederlande eine den Ostgebieten vergleichbare „Effizienz“ der Vernich-tung zu verzeichnen. Traditionell wird in diesem Zusammenhang auf die wesentlich günstigeren Fluchtmöglichkeiten verwiesen, die belgische und französische Juden unmit- telbar nach der Invasion vorfanden. In der Tat setzte unmittelbar nach dem Einfall der deutschen Truppen eine Massenflucht belgischer Juden in den un- besetzten Teil Frankreichs ein, auch die Pariser Militärverwaltung schob vor dem Deportationsbeschluss zahlreiche Juden dorthin ab, welche nach der Be- setzung Südfrankreichs durch Italien deutschem Zugriff entzogen waren.4 Nur

1 Die niederländische Zentrale der Einwohnermeldeämter (Rijksinspectie van de Bevolkings- register) ermittelte im Januar 1941 auf Aufforderung der Besatzungsmacht 140 245 in den Niederlanden lebende Juden, darunter 118 455 Juden niederländischer Staatsangehörigkeit, 14 493 deutsche Juden sowie 7297 Juden anderer Nationalität. Die Zahlen: Statistiek de bevolking van Joodschen bloede in Nederland, samen gesteld door de Rijksinspectie van de Bevolkingsregister, Den Haag 1942, zit n. Gerhard Hirschfeld, Niederlande, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des National- sozialismus, München² 1996 (Erstausgabe 1991), S. 137-165, S. 137. Diese Zahlen basieren zwangsläufig auf nationalsozialistischer Kategorisierung des Begriffs, wer denn Jude sei. 2 Diese Zahl beruht ebenso auf einer Schätzung der Encyclopaedia Judaica vol. 4, S. 420; dort ist eine Spanne von 90 000 bis 110 000 angegeben. Zit n. ebd. 3 Auch diese Zahl beruht auf einer Schätzung, offizielle Erhebungen über die jüdische Bevölkerung am Vorabend der Invasion fehlen, zumal Flüchtlingsbewegung im Vorfeld sind überdies nicht verzeichnet. Die Schätzung der Encyclopaedia Judaica vol. 7, S. 32, zit. n. Wetzel, Frankreich und Belgien, S. 109 4 Auf die unterschiedlichen Fluchtmöglichkeiten, die nicht zuletzt durch geographische Fak- toren bedingt waren, wies bereits 1950 Herzberg hin und betonte in diesem Zusammen-hang auch, dass ein Großteil der niederländischen Juden unteren sozialen Schichten angehörte und somit weder über finanzielle Mittel noch über notwendige Verbindungen für Flucht oder Emigration verfügte. A. Herzberg, Kroniek der Jodenvervolging 1940-1945, Amsterdam ²1985 (Erstausgabe 1950), S. 318 ff. Den Faktor der geringeren Fluchtmöglichkeiten für die niederländischen Juden gewichtet auch Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, Yale Univ. Press 2003 (überarbeitete Ausgabe, Erstausg. 1961), hier: Hilberg, Die Ver- nichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt/Main 91999, S. 598, sah auf Grund der „natürlichen Gegebenheiten – die Grenze zum „Reich“ im Osten, die geschlossene Grenze zu

20 I. DIE DEPORTATION DER NIEDERLÄNDISCHEN JUDEN wenigen niederländischen Juden gelang indes die Flucht nach England. Neue- re, die Rahmenbedingungen der Deportationen aus den besetzten Westgebie- ten vergleichende Arbeiten beziehen Täter- und Opferstrukturen sowie das je- weilige soziale und geographische Umfeld der Verfolgten zusätzlich in ihre Analysen ein.5 Nicht geringe Bedeutung ist auf Grund dieser neueren, über- zeugenden Untersuchungen einer relativ lang anhaltenden Kooperationsbereit- schaft weiter Kreise der nicht-jüdischen Bevölkerung, der niederländischen Bürokratie, aber auch jüdischer Organisationen selbst beizumessen. Unzu- reichende Hilfestellung nicht zuletzt vor dem Hintergrund drakonischer Straf- androhungen verringerten die Möglichkeiten, unterzutauchen.6 Zudem kooperierte die niederländische Verwaltung auf Richtungsvorgabe der Exilregierung weitgehend mit der Besatzungsmacht7 „Um Schlimmeres zu verhindern“ sollte die Verwaltungsarbeit fortgesetzt werden, nur wenn diese dem Feind mehr nütze als der eigenen Bevölkerung, sollte die Kooperation eingestellt werden.8 Bemerkenswert ist hierbei, dass die deutschen Besatzer bei der Erstellung der Deportationslisten auf ein von niederländischer Seite zur Verfügung gestelltes umfangreiches Melderegister zurückgreifen konnten, dessen „Perfektion und fast hundertprozentige Vollständigkeit“9 einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu Ausmaß und Tempo der Deportationen leistete. Belgischen Juden gelang es in weit höherem Maße, sich dem Zugriff der Verfolger zu entziehen, etwa 30.000 von ihnen legten den Stern ab und konn- ten so in der nicht-jüdischen Bevölkerung aufgehen, während sich die über- wiegende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden auf Anra- ten eines bereits 1941 per Anordnung der Besatzungsmacht eingerichteten Ju- denrates freiwillig registrieren ließ.

dem besetzten Belgien, im Norden und Westen die offene See - die „holländischen Juden […] in einer Falle“ und wies in diesem Zusammenhang auch auf die Konzentration der niederländischen Juden in den großen Städten (Amsterdam: 80.000) hin. ebd., S. 598 5 Ron Zeller, Pim Griffioen, Judenverfolgung in den Niederlanden und in Belgien während des Zweiten Weltkrieg, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, H. 3/1096 u. 1/1997 6 So exemplarisch J.C.H. Blom, The persecution of the Jews in the : a comparative western European perspective, in: European History Quaterly 19, 1989, S. 333-351. 7 Peter Romijn, Burgemeesters in oorlogstijd. Besturen onder Duitse bezetting, Amsterdam 2006, S.116 spricht von einem „verwaltungsmäßigen Arrangement“, das die Mehrheit der niederländischen Verwaltungsbeamten mit den Besatzungsautoritäten einging. Vgl. auch Friso Wielenga, Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008, S. 182: „In der Hoffnung, dabei ein erhebliches Maß an eigenem Spielraum zu be- halten […] waren die Generalsekretäre bereit, sich den neuen Machtverhältnissen zu fügen.“ 8 Peter Romijn, „Um Schlimmeres zu verhindern…“. Die niederländische Verwaltung unter deutscher Verwaltung 1940-1945, in: Friso Wielenga u.a. (Hrsg.), Jahrbuch Zentrum für Niederlande-Studien (17) 2006, S.119-132; s. auch Wielenga, Niederlande, S. 181 9 Christoph Kreutzmüller, Die Erfassung der Juden im Reichskommissariat der besetzten nie- derländischen Gebiete, in: Johannes Hürter, Jürgen Zarusky (Hrsg.), Besatzung, Kollabo- ration, Holocaust. Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München 2008, S. 21-44 arbeitet die außerordentliche Bedeutung des Registers für die Er- stellung der Deportationslisten überzeugend heraus. I. DIE DEPORTATION DER NIEDERLÄNDISCHEN JUDEN 21

Ein ausgeklügeltes System vorläufiger Rückstellung von den Deportatio- nen, das Untergruppen unterschiedlicher Privilegierung schuf und die ohnehin heterogene Gruppe der niederländischen Juden weiter aufspaltete, hielt viele davon ab, unterzutauchen, ließ sie vielmehr in Gruppen drängen, die größeren Schutz versprachen. Diese geringere Homogenität der Gruppe der niederländi- schen Juden im Vergleich zu der belgischen jüdischen Gemeinschaft ist auf mehrerlei Faktoren zurückzuführen.10 Weitgehende Toleranz erfuhren die Ju- den in beiden Ländern. Die Mehrheit der zu Beginn der Besatzung in Belgien lebenden Juden kam indes aus dem Ausland und lebte erst seit kurzem im Land. Lediglich knapp 7,5 Prozent der etwa 66.000 Juden im Lande besaßen die belgische Staatsbürgerschaft, circa 61.000 von ihnen waren Flüchtlinge aus Deutschland und Osteuropa, die in nur geringem Maße in die belgische Gesellschaft integriert waren. Anders in den Niederlanden. Die überwiegende Mehrheit der niederländischen Juden war über Generationen im Land verwur- zelt, etwa 85 Prozent besaßen einen niederländischen Pass. Sie waren gesell- schaftlich und kulturell weitgehend integriert, sie waren „Teil ihrer Umge- bung.“ Ungeachtet mannigfacher sprachlicher und kultureller Unterschiede zeigt sich bei den in Belgien lebenden jüdischen Flüchtlingen eine wesentlich stärkere Identifikation mit den eigenen Organisationen, während sich die in der niederländischen Gesellschaft integrierten jüdischen Mitbürger vor allem als Niederländer verstanden, keine Einheit bildeten und sich in den ver- schiedensten Organisationen mit oftmals großen Gegensätzen fanden. Die nie- derländischen Juden bildeten keine fest organisierte Gemeinschaft, ein jüdi- scher Gesamtverband existierte nicht. Die Mehrheit der belgischen Juden war in wesentlich geringerem Maße in ihre Umgebung integriert, ihre Organisatio- nen bildeten in weitaus höherem Umfang eine Einheit nach außen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sollte der Amsterdamer Judenrat auf tragische Weise instrumentalisiert werden.11 Der Joodsche Raad voor Amster- dam sollte sich im Kontext der Deportationen, so auch angesichts seiner maß- geblichen Mitbestimmung bei der Festlegung der Reihenfolge der Abzutrans- portierenden, als effizientes Instrument in der Hand der Sicherheitspolizei er- weisen, während die Association des Juifs en Belgique (AJB) der Militärver- waltung unterstand und im Zuge der Transporte kaum eine Rolle spielte.12 Als Wendepunkt hinsichtlich der niederländischen Kooperation mit den deutschen Institutionen wird im Allgemeinen der große Streik im April/Mai 1943 gesehen, auf den die Besatzungsmacht mit äußerster Brutalität reagierte. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sich in der Folge immer deutlicher ab-

10 Diese sind überzeugend herausgearbeitet in der vergleichend angelegten Analyse von Ron Zeller, Pim Griffioen, Judenverfolgung, Teil II, S. 36 ff. Die folgende Gegenüberstellung folgt dieser Darstellung. Die Zahlen ebd. Dort auch weiterführende Literatur. 11 Hierauf wird im Zusammenhang mit Gertrud Slottke, der für das Funktionieren dieses Systems zuständigen Sachbearbeiterin in Harsters BdS-Behörde und Mitangeklagten im Münchner Prozess noch zurückzukommen sein. 12 Zeller, Griffioen, Judenverfolgung, Teil II, S. 48 22 I. DIE DEPORTATION DER NIEDERLÄNDISCHEN JUDEN zeichnenden deutschen Niederlage koordinierten sich die bislang gespaltenen Widerstandsbewegungen, die Möglichkeiten des Untertauchens verbesserten sich.13 1943 waren aber bereits etwa 57 Prozent der jüdischen Einwohner der Niederlande in die Vernichtungslager deportiert worden. Die bis dahin Über- lebenden waren in Amsterdam konzentriert und saßen in der Falle.14 Entscheidendes Gewicht ist in diesem Zusammenhang der Besonderheit der niederländischen Besatzungsverwaltung beizumessen. Hitlers Entscheidung, in den besetzten niederländischen Gebieten unter Reichskommissar Seyss- Inquart, ähnlich wie in Norwegen eine Zivilverwaltung einzurichten, während in Dänemark, Belgien und Nordfrankreich Militärbefehlshaber die Aufsichts- verwaltung15 führten, fiel entgegen bisheriger Absprachen mit der Wehrmacht- führung.16 Die jeweiligen Verwaltungsstrukturen blieben hierbei im Wesentli- chen intakt. Nachdem Königin und Kabinett ins Londoner Exil gegangen wa- ren, verblieben Generalsekretäre als höchste Beamte in den niederländischen Ministerien, welche deutschen Generalkommissaren unterstellt wurden. Hanns Albin Rauter, Österreicher wie Seyss-Inquart und als Höherer SS- und Poli-

13 Vgl Nanda van der Zee, Om erger te voorkomen. De voorbereiding en uitvoering van de vernietiging van het Nederlandse jodendom tijdens de Tweede Wereldoorlog, Amsterdam 1997; Deutsche Ausgabe: „Um Schlimmeres zu verhindern…“ Die Ermordung der niederländischen Juden: Kollaboration und Widerstand, München, Wien 1999, S. 296 14 Marnix Croes, Gentiles and the survival Chances of Jews in the Netherlands, 1940-1945. A closer Look, in: Beate Kosmala, Feliks Tych (Hrsg.), Facing the Nazi Genocide: Non-Jews an Jews in Europe, S. 41-72, S. 59 15 SD-Verwaltungsexperte Werner Best charakterisierte diese Verwaltungsform, die darauf abzielte, bestehende Strukturen des besetzten Gebietes reichsdeutschen strategischen und politisch-weltanschaulichen Zielen so effizient wie möglich dienstbar zu machen: „Der Führungsstaat beschränkt sich darauf, […] eine Aufsichtsverwaltung einzusetzen, die za- hlenmäßig möglichst klein zu halten ist. Sie hat die Aufgabe, die gesamte Staatsverwaltung dieses Staates in geeigneter Weise zu überwachen und die Durchführung der Verwal- tungsmaßnahmen zu kontrollieren. […] Im Übrigen wird die Staatsverwaltung unverändert durch den Verwaltungsapparat des geführten Staates durchgeführt.“ Werner Best, Die deutschen Aufsichtsverwaltungen, 1941, zit. n. Konrad Kwiet, Reichskommissariat Nieder- lande. Versuch und Scheitern nationalsozialistischer Neuordnung, Stuttgart 1968, S. 70 16 Vgl. hierzu immer noch Kwiet, Reichskommissariat, der in der Entscheidung, ein Reichs- kommissariat zu etablieren, eine unmittelbare Reaktion Hitlers auf die Flucht der nieder- ländischen Königin sieht, „geleitet von dem Instinkt, daß auf diese Weise, noch ehe die Militärverwaltung richtig Fuß gefasst hatte, die Weichen für eine politische Neuordnung gestellt werden könnten.“ (S.50); offensichtlich beabsichtigte Hitler, über das ursprüngliche, rein militärstrategische Ziel der Besetzung hinauszugehen und das politische Machtvakuum, das durch die Flucht der Monarchin entstanden war, mit einem politischen Kommissar zu füllen und so zu einer politischen Neuordnung der Niederlande zu gelangen. (Ebd., S.52). S. auch Nanno in’t Veld, Höhere SS-und Polizeiführer und Volkstumspolitik: Ein Vergleich zwischen Belgien und den Niederlanden, in: Wolfgang Benz u.a. (Hrsg.), Die Bürokratie der Okkupation. Strukturen der Herrschaft und Verwaltung im besetzten Europa, S. 121-151. Kwiet, Reichskommissariat, S. 62, hat bereits darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung „Reichskommissar“ ausdrückte, „dass das von ihm kontrollierte Gebiet in eine engere Bin- dung zum „Reich“ gebracht werden sollte und dass es sich nur um eine vorläufige („kom- missarische“) Regelung der politischen und Hoheitsverhältnisse handele.“ Gerhard Hirsch- feld, Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940- 1945, Stuttgart 1984, folgt dieser Interpretation. I. DIE DEPORTATION DER NIEDERLÄNDISCHEN JUDEN 23 zeiführer (HSSPF) in die besetzten Niederlande entsandt, unterstand in seiner Eigenschaft als Generalkommissar für das Sicherheitswesen zwar dem Reichskommissar und war somit bis zu einem gewissen Grad in den „normen- staatlichen“ Bereich der Besatzungsverwaltung eingebunden. Er war aller- dings zugleich Himmlers regionaler Vertreter vor Ort, verfolgte dessen Herr- schaftsanspruch, verkörperte die Sphäre der SS vor Ort17, war „Generalbe- vollmächtigter“18 des Reichsführers SS und in diesen sich überlagernden Funktionen Harsters unmittelbarer Vorgesetzter. Der maßgeblichen Instanz der belgischen Militärverwaltung, Eggert Ree- der, keineswegs der Sphäre der SS zuzuordnen, gelang es indes, die Einset- zung eines HSSPF in Belgien bis Juli 1944 zu verhindern und die Exekutivor- gane Sicherheitspolizei und SD unter der Kontrolle der Militärverwaltung zu halten, wenngleich auch festzuhalten ist, dass es dem RSHA wohl nicht ge- lungen wäre, ohne Reeders Kooperation auch nur einen Zug nach Polen abfah- ren zu lassen.19 Die zentrale Domäne der SS – Polizei, aber auch Volkstums- politik – war in Belgien in stärkerem Maße Gegenstand von Kompetenzausei- nandersetzungen als in den besetzten Niederlanden20, während diese wesentli- chen Belange in Holland in der Person Rauters, Himmlers Stellvertreter vor Ort, zunehmend Zentralisierung fanden. Konnte sich Seyss-Inquart zunächst den Bestrebungen Heydrichs erfolgreich widersetzen21, eine beispielgebende Auswanderungszentrale nach Wiener- und Prager Vorbild mit weitreichenden Kompetenzen in den Niederlanden unter SS-Ägide zu etablieren22, verlor er bald Terrain. Im Gegensatz zu Reichskommissar Terboven in Norwegen ver- fügte Seyss-Inquart über keine Hausmacht in der „Bewegung“, er konnte al- lenfalls sein Immediatsverhältnis zu Hitler in die Waagschale werfen, wel- chem allerdings angesichts der bekannten mangelnden Bereitschaft Hitlers, Konflikte unter seinen Paladinen zu schlichten und Entscheidungen zu fällen, freilich nicht zu viel Gewicht beizumessen ist. Als schließlich Generalkom- missar Schmidt zur besonderen Verwendung, Abgesandter der NSDAP in den

17 Vgl. in’t Veld, Höhere SS-und Polizeiführer, passim 18 Vgl. Hirschfeld, Fremdherrschaft, S. 20 19 Hierzu jetzt Insa Meinen, Die Shoa in Belgien, Darmstadt 2009 20 Hierzu zusammenfassend: In t‘Veld, Höhere SS-und Polizeiführer, S. 122 f. auf der Grundlage v. Albert de Jonghe, De strijd Himmler-Reeder om de benoeming van en HSSPF te Brussel (Die Auseinandersetzung Himmler-Reeder um die Ernennung eines HSSPF in Brüssel), in: Ders., (Hrsg.), Bijdragen tot de geschiedenis van de tweede wereldoorlog, 1974- 1980 21 Seyss-Inquart strebte eine Kompetenzverteilung hinsichtlich der „Judenfrage“ an, an der verschiedene Abteilungen des Reichskommissariats beteiligt waren. Hierzu Johannes Hou- wink Ten Cate, Der Befehlshaber der Sipo und des SD in den besetzten niederländischen Ge- bieten und die Deportation der Juden 1942-1943, in: Wolfgang Benz u.a. (Hrsg.), Die Büro- kratie der Okkupation. Strukturen der Herrschaft und Verwaltung im besetzten Europa, Berlin 1998, S. 197-222, S. 206 22 Zu den ursprünglich weitgefassten Zuständigkeitsplänen s. Louis de Jong, Het Koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldorlog, Bd. 5, Den Haag 1974, S. 970 ff., Vgl. auch Ten Cate, Befehlshaber, ebd. 24 I. DIE DEPORTATION DER NIEDERLÄNDISCHEN JUDEN besetzten niederländischen Gebieten, das Vertrauen des Leiters der Reichs- kanzlei Bormann verlor, wurde die SS endgültig zum wesentlichen politischen Bestimmungsfaktor.23 Im Vorhandensein eines HSSPF in den Niederlanden, überdies in Person eines Mannes wie Rauter, der aus Sicht Himmlers wohl den Idealtypus eines SS-Führers verkörperte24 und die Linie der SS gegenüber ei- nem schwachen Reichskommissar wirkmächtig durchzusetzen vermochte, liegt ein ganz wesentlicher Unterschied zu den strukturellen Determinanten der Besatzungsverwaltung in Belgien und Nordfrankreich. Wenngleich die Vorbereitungsmaßnahmen in Belgien mühsamer und schleppender verliefen als in den Niederlanden25, so war das Deportationssystem im Juli 1942 in bei- den Ländern im Wesentlichen einsatzbereit. Nicht zuletzt auf Grund der im Vergleich zur Den Haager BdS-Behörde geringeren Initiative der Militärver- waltung in Belgien waren Aushebungen und Razzien zur Füllung der Deporta- tionszüge weniger erfolgreich als in den Niederlanden. Zudem wird man auf Grund neuerer Forschungen die Kooperationsbereitschaft der belgischen Exe- kutive und die Auswirkungen behördlicher Kollaboration auf die Deportatio- nen geringer zu veranschlagen haben als bislang angenommen.26 Die unterschiedlichen Verwaltungsformen folgen überdies nebulösen Vor- stellungen einer rassisch-weltanschaulich geprägten Nachkriegsordnung in Europa, in der Luxemburg, Norwegen und die Niederlande dauerhaft in eine engere Bindung an das ‚Reich‘ treten oder ganz in diesem aufgehen27, Belgien und Frankreich hingegen einen Deutschland untergeordneten, aber weitgehend autarken Status erhalten sollten. Die Rückwirkungen dieser unterschiedlichen strukturellen Gegebenheiten auf die jeweilige Umsetzung der vom RSHA in Berlin zentral gesteuerten De-

23 zum stetig wachsenden Einfluss der SS und des Judenreferates Eichmanns im RSHA s. auch Ben A. Sijes, Studies over Jodenvervolging, Assen 1974, vor allem S. 76, S. 108, 112 ff. Hierzu auch Zeller, Grirffioen, Judenverfolgung, Teil II, S. 30 ff, und S. 47f. Zur SS als wesentlichem Bestimmungsfaktor in den besetzten Niederlanden auch Hirschfeld, Fremd- herrschaft, S. 20. 24 hierzu immer noch In’t Veld, De SS en Nederland, Amsterdam 1987 (Erstausgabe ‚s-Gra- venhage 1976), S. 98 ff. Vgl. auch In t‘Veld, Höhere SS-und Polizeiführer 25 Zeller, Griffioen, Judenverfolgung, Teil II., S. 48 26 In der belgischen Historiographie der letzten Jahre stand die Partizipation der Behörden des Landes am Deportationsgeschehen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses; dieser Par- tizipation keinen geringen Stellenwert einräumend der im Auftrag des belgischen Senats erarbeitete Forschungsbericht, niederl. Fassung: Rudi v. Doorslaer (u.a), Gewillig België. Overheid en Jodenvervolging tijdens de Tweede Wereldoorlog, Antwerpen 2007; die Be- deutung der belgischen Exekutivorgane im Deportationszusammenhang relativierend jetzt Meinen, Shoah, S. 179 ff. mit weiterführender Literatur 27 Letzteres gilt für Luxemburg. Das Herzogtum wurde gleichsam in den benachbarten Gau Koblenz-Trier unter Gauleiter Gustav Simon als „Chef der Zivilverwaltung“ eingegliedert. Von den etwa 3500 luxemburgischen Juden flohen die meisten zu Beginn der Invasion, im Juli 1941 befanden sich nur noch 796 Juden im Großherzogtum. ( Die Zahlen: American Joint Distribution Commitee, Report for 1939, S. 30 sowie Einsatzkommando Luxemburg/SD- Führer an SD-Abschnitt Koblenz, 15 Juli 1941, EAP 173-g-12-14/7, beides zit.n. Hilberg, Vernichtung, S. 630, Anm. 755 u. 756. I. DIE DEPORTATION DER NIEDERLÄNDISCHEN JUDEN 25 portationspolitik sind nicht gering zu veranschlagen. Das höhere Gewicht der SS in den besetzten Niederlanden hatte eine Intensivierung der antijüdischen Maßnahmen und eine Dynamisierung der Deportationen zur Folge. Den ande- ren Prioritätensetzungen der belgischen Militärverwaltung ist eine vergleichs- weise Retardierung bei der Umsetzung der vom RSHA gesteuerten Judenpoli- tik beizumessen.28 Auftakt der ‚Endlösung‘ im unbesetzten Teil Frankreichs war der Beschluss des Vichy-Regimes, diejenigen Juden abzuschieben, die in der Zwischen- kriegszeit nach Frankreich eingewandert waren.29 Wenngleich dies durchaus als Versuch zu werten ist, deutschen Druck von Juden französischer Staatsan- gehörigkeit auf Neuankömmlinge und Flüchtlinge zu lenken und dieser Stra- tegie auch einiger Erfolg beschieden war, ging die Vichy-Regierung zuweilen schärfer gegen die in ihrem Herrschaftsbereich lebenden Juden vor als die deutsche Seite dies hätte erzwingen können. Die Militärverwaltung im besetz- ten Teil trat aus eigener Initiative bereits im Oktober 1941 mit der Frage nach Deportationsmöglichkeiten an das Ministerium für die besetzten Ostgebiete heran. Ein Aufschub bedingt durch ‚Transportengpässe‘ ließ die Pariser Mili- tärverwaltung als treibende Kraft schließlich direkt an Eichmanns Referat IV B4 herantreten: Die Deportation der Juden sei „dringend erforderlich“, da die französischen Stellen eine Verzögerung als „deutsche Schwäche“ ansehen würden.30 Anläßlich eines Besuchs Heydrichs in Paris trat Bousquet, Chef der franzö- sischen Polizei mit der Frage hervor, ob nicht die in der unbesetzten Zone in- ternierten staatenlosen Juden abtransportiert werden könnten.31 Auch von die- ser Seite war also kaum Widerstand zu erwarten, als das RSHA ab 1942 den Druck drastisch erhöhte. Ab Sommer 1940 hatten der Befehlshaber der Si- cherheitspolizei, Helmut Knochen, und Eichmanns Vertreter vor Ort, Theodor Dannecker, die „Judenfrage“ zunehmend in ihren Bereich gezogen; spätestens ab Mai 1942 wurde sie von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst weitge- hend beherrscht.32 Als Knochen den französischen Regierungschef Lavalle da- von in Kenntnis setzte, dass nunmehr die Entscheidung zum Abtransport aller

28 Bereits Léon Poliakov, Bréviaire de la baine. Le IIIème Reich et les juifs, Paris 1951 misst der Form der Besatzungsverwaltung und dem großen Einfluss der SS hinsichtlich Tempo und Intensität der Judenverfolgung in den Niederlanden wesentliches Gewicht bei (S. 54 ff., S. 64 ff., S. 193 ff; auch Hilberg, Vernichtung, S. 598 unterstreicht die Bedeutung der Zivilver- waltung: „Als katastrophal für die Juden stellte sich auch die Effizienz der deutschen Verwaltung in den Niederlanden heraus.“ Vgl hierzu auch Zeller, Griffioen, Judenverfolgung, Teil I, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 11. Jg. (1996) H. 3, S. 30 –54, vor allem S. 46 f. 29 Hilberg, Vernichtung, S. 660; die Darstellung der folgenden Einzelheiten ebd. 30 Sturmbannführer Lischka an RSHA IV B 4 v. 26.02.1942, zit. n. Hilberg S. 668; zu Lischka, der in der Bundesrepublik in einem späten Verfahren vor Gericht stehen sollte, s. u. S. 231 31 hierzu Hilberg, Vernichtung, Bd. 2, S. 669 f. 32 Vgl. hierzu Juliane Wetzel, Frankreich und Belgien, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, S. 105-135, S. 112 26 I. DIE DEPORTATION DER NIEDERLÄNDISCHEN JUDEN in Frankreich lebenden Juden ungeachtet ihrer Nationalität gefallen sei, sah sich die Besatzungsmacht genötigt, einen Kompromiss einzugehen: Ange- sichts geringer eigener Polizeipräsenz war man auf die Kollaboration französi- scher Ordnungspolizei angewiesen. Diese erklärte sich zur Kooperation bereit, falls Juden mit französischer Staatsbürgerschaft vorerst von den Deportationen zurückgestellt würden;33 für Juden niederländischer Nationalität gab es im Reichskommissariat vergleichbaren Schutz zu keinem Zeitpunkt. Die nieder- ländische Ordnungspolizei konnte bis 1943 ohne vergleichbare Einschränkun- gen herangezogen werden. Harster selbst interpretierte seine Aufgabe als BdS klar. Ausgehend von ei- nem Primat des Krieges34 könne gemäß seiner theoretischen Darlegungen die Verwaltung eines besetzten Raumes zwangsläufig nur eine „dem Kriegführen untergeordnete Funktion“ einnehmen. Hauptinteresse der Besatzungsmacht sei hierbei stets die „Aufrechterhaltung der Ruhe, Ordnung und Sicherheit bei möglichst gleichbleibendem Funktionieren des Wirtschaftsapparates […].“35 Ziel einer Besatzung sei immer „die Sicherheit der kämpfenden Truppe, […] Ruhe und Ordnung im besetzten Raum und die reibungslose Wirtschaftstätig- keit, die möglichst zur Stärkung des eigenen Kriegspotentials führen“ solle. Wurde der niederländischen Polizei hier im Rahmen des Konzepts der „Auf- sichtsverwaltung“36 die „Verfolgung der gewöhnlichen kriminellen Strafta- ten“37 überlassen, fielen „Delikte, deren Ausführung die Besatzungsmacht di- rekt betraf – vor allem Spionage und Sabotage – [in] eine ausschließliche Ei- genzuständigkeit der deutschen Sicherheitspolizei […], der die niederländi- sche Polizei meldepflichtig war.“38 Somit ergab sich für die unter Harsters Führung straffer als zuvor und danach an die Haager Zentrale gebundenen Außenstellen des BdS gemäß seiner Definition zum einen die Aufgabe der „kriminalpolizeilichen Verhinderung, Verfolgung und Aufklärung der strafba- ren Handlungen, die sich gegen die Besatzungsmacht richteten“ Zum anderen kam der „nachrichtendienstliche[n] Erforschung der gesamten Lebensgebiete, d.h. [der] Beobachtung des Verhaltens der niederländischen Bevölkerung im Hinblick auf das Kriegsgeschehen […] und auf Anordnungen und Maßnah- men der Besatzungsmacht“39 zentrale Bedeutung bei. Die sicherheitspolizeilichen Verbindung zur „Judenfrage“ versuchte Hars- ter in einer weiteren schriftlichen Stellungnahme für das niederländische

33 Hilberg, Vernichtung, S. 674 34 Schriftliche Darlegung Harsters für das RvO v. 18.08.1952, in Archiv NIOD, DOC I, 639/E, Bl.2: „In Kriegszeiten hat nun einmal der Krieg das Primat über alles andere und alle Regeln und Vereinbarungen betreffen nur die Einschränkung der Auswirkungen dieses anerkannten Primats auf andere Lebensgebiete.“ 35 Ebd. 36 zu den auf Werner Best zurückzuführenden Verwaltungskonzeptionen s. Herbert, Best, vor allem S. 251 ff. 37 Schriftliche Darlegung Harsters für das RvO v. 18.08.1952, Bl. 8 38 Ebd. Bl. 9 39 Ebd. Bl. 11