Rundbrief 3|4 AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE 2012 30. Januar 1933 – 80 Jahre danach

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EDITORIAL ...... 3 Matthias Höhn, MdL

30 . JANUAR 1933 – 80 JAHRE DANACH

Das deutsche Großkapital, der Keppler-Kreis und die NSDAP. Eine unentbehrliche Vorgeschichte des 30. Januar 1933 ...... 4 Reiner Zilkenat

Die verkannte Niederlage. Das Dilemma des deutschen Kommunismus 1933 ...... 25 Klaus Kinner

Ein Zeitungsartikel vom 26. Januar 1933 – und ein Kommentar 80 Jahre später ...... 32 Karl Sachse

»Vorstoß zum Sozialismus«? Die wirtschafts- und gesellschafts- ­politischen Pläne der SPD im Sommer 1932 ...... 34 Reiner Zilkenat

»Hitler Reichskanzler – Heraus zum Generalstreik!« ...... 41 Günter Wehner

130 Jahre Georgi Dimitroff – Zur Erinnerung an den Reichstagsbrandprozess ...... 44 Ulrich Schneider

In der deutsche Zange! Vor 80 Jahren entstand eine Konzeption für die Unterwerfung der Balkanländer mit wirtschaftlichen Mitteln . . . . 47 Martin Seckendorf

»Lebhafte Heilrufe« – Die Gründung des Reichseinheitsverbandes des Deutschen Bewachungsgewerbes e.V. 1933 ...... 53 Stephan Jagielka

Kapitalisierte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Reflexionen angesichts des Buches »Von Arisierung bis Zwangsarbeit« ...... 59 Siegfried Ransch

Kindheitserfahrungen ...... 66 Horst Helas

April 1933: reichsweiter Boykott und ein gestelltes Foto . . . . . 69 Horst Helas NEUES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS

Der Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Thema Naziterror ...... 71 Gerd Wiegel

Die völkische und extrem nationalistische Rechte Russlands (Teil 1) ...... 75 Karl Heinz Gräfe

Rassismus und Antiziganismus in Bulgarien ...... 83 Sevim Dagdelen MdB

ZUR DISKUSSION

Ein Stein des Anstoßes. Der Gedenkstein in Berlin-Friedrichsfelde ...... 89 Jürgen Hofmann

BERICHTE UND INFORMATIONEN

Praktizierter Verfassungsschutz. Vorschläge zur Auflösung des Inlandsgeheimdienstes ...... 94 Jan Korte MdB

Adam König ist tot ...... 103

»Das Kartell der Verharmloser« ...... 106 Julia Wiedemann

25 Jahre »Topographie des Terrors« ...... 107 Horst Helas

Anschläge auf Wahlkreisbüros nehmen zu ...... 108 Julia Wiedemann

REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN ...... 109

E diTORIAL Erinnern, um zu widerstehen!

Liebe Leserinnen und Leser, am 30 . Januar des kommenden die einen Blick in andere Teile Europas werfen . Sevim Dagde- Jahres jährt sich die Machtübernahme der Nazis zum acht- len berichtet über Rassismus und Antiziganismus in Bulgarien . zigsten Male . Unmittelbar nach dem 30 . Januar 1933 folgten Karl Heinz Gräfe befasst sich mit der völkischen und nationa- die Entdemokratisierung Deutschlands, die Gleichschaltung listischen Rechten in Russland . Zur Situation in Deutschland und die die Verfolgung und Ermordung politischer Gegner . stellt Gerd Wiegel die neuesten Erkenntnisse aus dem NSU- Antisemitismus wurde zur Staatsräson . Untersuchungsausschuss vor, und Jan Korte bespricht das ak- Für den »Rundbrief« ist dieser Jahrestag Anlass, die Zusam- tuelle Buch von Claus Leggewie und Horst Meier, in dem sie für menhänge und Hintergründe von 1933 zu reflektieren und eine Abschaffung des Verfassungsschutzes plädieren . zugleich den heutigen Umgang mit der NS-Vergangenheit in Über die publizistische Arbeit hinaus werden wir mit einer Deutschland kritisch unter die Lupe zu nehmen . Abschlie- Veranstaltung an den Beginn des dunkelsten Kapitels deut- ßend wollen wir einen Bogen zur Gegenwart schlagen . Er scher und europäischer Geschichte erinnern . Am 30 . Januar zeigt, wie wichtig die Erinnerung an das Jahr 1933 ist, um zu 2013 im Kino »Babylon« in Berlin-Mitte wollen wir »Erinnern, verstehen, was Neofaschismus und Rechtsextremismus bis um zu widerstehen« . Wir sagen, dieses Thema gehört in den hin zur Mordserie des NSU für die Gesellschaft bedeuten . Blickpunkt gesellschaftlicher Debatten . Unser Anspruch ist 30 . Januar 1933: Noch am selben Tag rief die KPD Württem- es, gesellschaftlich zu sensibilisieren und Widerstand zu we- berg zum Generalstreik auf: »Massenstreik! Hitler Reichs- cken: gegen Neofaschismus, Antisemitismus und Rassismus, kanzler! Wir sind bereit, Schulter an Schulter im engsten Klas- aber auch gegen unglaubliches Behördenversagen im Zusam- senbündnis den drohenden Schlag des Faschismus durch menhang mit der Mordserie der NSU . den kühnen Gegenschlag mit der Waffe des Massenstreiks zu beantworten!« Auf den Aufruf zum Generalstreik geht Gün- Matthias Höhn, ter Wehner in seinem Beitrag in diesem »Rundbrief« ein . Die Bundesgeschäftsführer der Partei »DIE LINKE« Hoffnung auf den Aufstand erfüllte sich leider nicht . Die Reichstagsbrand-Notverordnung vom 28 . Februar 1933 bil- dete den gesetzlichen Rahmen zur Verfolgung politischer Geg- ner . Ulrich Schneider erinnert in seinem Beitrag an den Reichs- Redaktionelle Anmerkung: tagsbrandprozess und Georgi Dimitroff, dem eine Schlüsselrolle in diesem Prozess zugedacht war . Die Diskussion um diesen Viele der in diesem Heft abgedruckten zeitgenössischen Fo- Prozess, um Täter, Anstifter und Nutznießer hält bis heute an – tos und Flugblätter drucken wir mit der Genehmigung des Karl und ist Beispiel dafür, wie Geschichte gemacht wird . Dietz Verlages ab, wofür wir Dr . Jörn Schütrumpf herzlich dan- Im Beitrag des »Rundbrief«-Redakteurs Reiner Zilkenat zum ken (S .22, 25, 58, 63, 67, 82, 93, 104 f ., 111) . Für das Recht, deutschen Großkapital werden der Keppler-Kreis und seine die beiden Fotos auf den Seiten 68 und 70 publizieren zu dür- Bedeutung für den Aufstieg Hitlers näher beleuchtet . Wilhelm fen, danken wir dem Landesarchiv Berlin (Fotoabteilung, F Keppler, mittelständischer Unternehmer und Mitglied der NS- Rep . 290, II 6939 u . II 6755) . Hinweise auf mehrere der hier DAP, unterstützte Hitler mit Kontakten in die Wirtschaft . Zu wiedergegebenen Zeitungsartikel und Flugschriften (S . 129– den Mitgliedern des Keppler-Kreises zählten einflussreiche 131) erhielten wir von Peter Klaar (Berlin-Neukölln) . Mehrere Repräsentanten der Industrie- und Bankenwelt . Mit deren Hil- Reproduktionen aus amtlichem Schriftgut entstammen dem fe sollten die wirtschaftspolitischen Forderungen der NSDAP damaligen Staatsarchiv Potsdam (S .65, 112, 136 ff .), das vor und des Großkapitals in Einklang gebracht werden . längerer Zeit aufgelöst worden ist . Wir sind außerstande zu Wie sah die Situation der Opposition gegen Hitler 1933 in sagen, wo sich die entsprechenden Akten mittlerweile befin- Deutschland aus? Klaus Kinner betrachtet die Lage der KPD den . Die Kopien wurden bereits 1990/1991 angefertigt . 1933, Reiner Zilkenat geht auf die wirtschafts- und gesell- Aus dem Bundesarchiv Berlin stammen die Schriftstücke schaftspolitischen Pläne der SPD im Sommer 1932 ein . auf den folgenden Seiten: BArch, R 8048/411, Bl . 42 (S . 6); Der Blick in die Vergangenheit und auf die kollektive Verant- BArch, R 72/73, Bl . 56 (S . 15); BArch, R 8051/7, Bl . 30 u . wortung bringt uns zurück zu den aktuellen Auseinanderset- RS (S. 30 f .); BArch, R 8005/48, Bl . 240 (S . 64); BArch, zungen . Unter der Rubrik »Aktuelles« erscheinen zwei Beiträge, R 72/174, Bl .167 f . (S .114 f .); BArch, R 1501/126130, Bl . 31 f

3 30 .J aNUAR 1933 – 80 Jahre danach Das deutsche Großkapital, der Keppler – Kreis und die NSDAP: Eine unentbehrliche Vorgeschichte des 30. Januar 1933

Die Legenden-Bildungen zu den Ursachen der Machtüber- Am Vorabend des 80 . Jahrestages der Machtübergabe an gabe an die NSDAP begannen bereits am 30 . Januar 1933 . die deutschen Faschisten ist es deshalb von immenser po- Die deutschen Faschisten selbst sprachen von »nationaler litischer Relevanz, den Schleier des Geheimnisses zu lüften, Revolution« und »Machtübernahme«; sie proklamierten die der über den 30 . Januar 1933 und seine Vorgeschichte ge- Schaffung einer klassenübergreifenden »Volksgemeinschaft« . stülpt worden ist . Bürgerliche Autoren haben diese terminologischen Verschlei- erungs-Manöver der Nazis übernommen, zu denen auch die Selbstbezeichnung der deutschen Faschisten als »National- Hitler und die NSDAP – Lange Zeit sozialisten« gehört . Sie sind hierzulande Allgemeingut in den kein Thema für das Großkapital? Schulbüchern und den herrschenden Medien sowie in den am meisten verbreiteten Darstellungen zur Geschichte des Schon lange, bevor die NSDAP eine wähler- und mitgliederstar- Faschismus . Allerdings: Zeigen nicht auch linke Autorinnen ke Partei wurde, galten ihr und ihrem selbst ernannten »Füh- und Autoren, einschließlich des Autors dieser Zeilen, gele- rer« das Interesse einflussreicher Herren aus den gentlich manche Unbefangenheit beim Gebrauch von Be- Vorstandsetagen deutscher Monopole .4 Hinter verschlosse- griffen, die von den deutschen Faschisten absichtsvoll zur nen Türen wurde Hitler immer wieder die Gelegenheit geboten, Tarnung ihrer politischen Ziele und zur Irreführung des Publi- seine politischen Ansichten und Ziele unverblümt auszuplau- kums konstruiert worden waren? dern – ohne die lästige Rücksichtnahme auf die ansonsten in Derartige Praktiken dienen seit mittlerweile achtzig Jahren der Öffentlichkeit verkündeten Phrasen über einen angeblich einem einzigen Ziel: Ein genetischer Zusammenhang zwi- angestrebten »nationalen Sozialismus« . Meilensteine derarti- schen der Entstehung und dem Wachstum der Nazi-Bewe- ger Auftritte bildeten seine Rede vor dem renommierten »Ham- gung einerseits und der herrschenden bürgerlich-kapitalis- burger Nationalklub von 1919« am 28 .F ebruar 1926 und meh- tischen Gesellschaftsordnung andererseits sowie die aktive rere Ansprachen vor Großkapitalisten und Managern an Rhein Unterstützung der Faschisten durch einflussreiche Kreise des und Ruhr im gleichen und im darauf folgenden Jahr 5. Großkapitals dürfen um keinen Preis in das Geschichtsbe- Hier bejubelten die anwesenden Herrschaften regelmäßig die wusstsein breiter Bevölkerungskreise eindringen; sie müssen von Hitler artikulierten politischen Auffassungen, bei denen auch im akademischen Betrieb unerwünschte, ja beschwie- es im Kern stets um die Notwendigkeit einer Vernichtung der gene Themen bleiben . Die berühmte Formulierung Max Hork- Organisationen der Arbeiterbewegung, die Zerstörung der heimers: »Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und um die ziel- vom Faschismus schweigen«1, sei durch empirische For- strebige politische, ideologische und materielle Vorbereitung schung gegenstandslos geworden, so heißt es in einer weit eines zweiten »Griffs nach der Weltmacht« durch den deut- verbreiteten »Geschichte des Nationalsozialismus«, gedacht schen Imperialismus ging . für den akademischen Unterricht 2. In einem Brief vom 30 . März 1927 an Walter Hewel, Teil- Die politischen Motive derartiger Geschichtsmanipulationen nehmer des gescheiterten »Hitler-Ludendorff-Putsches« am hat einst der US-amerikanische Historiker Henry A . Turner 9 . November 1923 in München, schildert Rudolf Hess, der mit folgenden Worten definiert: »Entspricht die weit verbrei- Sekretär Hitlers und später sein Stellvertreter innerhalb der tete Ansicht, dass der Faschismus ein Produkt des moder- NSDAP, welche Wirkung der Nazi-»Führer« bei den Zuhörern nen Kapitalismus ist, den Tatsachen, dann ist dieses System im Ruhrgebiet erzielen konnte: »Wie in Hamburg, so war auch kaum zu verteidigen . Ist diese Meinung jedoch falsch, dann hier die Stimmung erst ziemlich kühl, ablehnend, teils saß ist es auch die Voraussetzung, auf der die Einstellung vieler man mit spöttischem Lächeln dem Volkstribunen gegenüber . Menschen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung beruht . Ich hatte große Freude daran, beobachten zu können, wie Die Frage gehört zu denen, über die eine Einigung geboten sich die Herren allmählich umstellten, wobei man ihnen ihr in- ist, wenn die Menschheit zu einem friedlicheren Neben- und nerliches Sträuben anmerkte . Zum Schluss wurde geklatscht, Miteinanderleben kommen soll «. 3 wie diese Herren wohl selten klatschten .«6 Wiederum an He-

4 wel adressiert, heißt es rückblickend in einem Schreiben vom Die von Hitler in seinen Reden propagierten Anschauungen – 8 . Dezember 1928: »Jedes Mal sprach er (Hitler– R .Z .) auch in sie waren weitgehend identisch mit den Grundelementen sei- Essen vor einem geladenen Kreis von Wirtschaftlern, Wissen- ner Ansprache vor dem »Hamburger Nationalklub« – waren schaftlern usw . in einer denen gemäßen Weise . Immer grö- durchaus kompatibel mit nicht wenigen Vorstellungen ein- ßere Säle mussten auch für diese Veranstaltungen genom- flussreicher Exponenten des Monopolkapitals, aber auch mit men werden . Zum Schluss nahmen die Spitzen der Wirtschaft grundsätzlichen Zielstellungen ihrer beiden wichtigsten In- teil … Stets restlose Zustimmung, und ein Beifall, wie man ihn teressenverbände, des Reichsverbandes der Deutschen In- bei diesen Kreisen nicht gewohnt ist .«7 dustrie (RDI) und der Vereinigung der Deutschen Arbeitge- berverbände, die in entsprechenden Denkschriften wie auch in nicht-öffentlichen Erklärungen gegenüber den Reichsre- gierungen8 abgegeben worden waren . Dabei war die im De- Aus Hitlers Rede am 28. Februar 1926 vor zember 1929 vom RDI publizierte programmatische Denk- dem »Hamburger Nationalklub von 1919«: schrift mit dem dramatisch klingenden Titel »Aufstieg oder Niedergang?« von herausragender Bedeutung 9. Die hier vor- »Die Aufgabe meiner Bewegung ist sehr eng umschrie- geschlagenen Maßnahmen eines rigiden Sozialabbaus bei ben: die Zertrümmerung und Vernichtung der marxisti- gleichzeitiger drastischer Senkung der Steuern und Abgaben schen Weltanschauung. Ich muss eins herausgreifen: die für die Unternehmen, wobei die Gewerbesteuer vollständig Zertrümmerung und Vernichtung, das ist etwas wesentlich abgeschafft werden sollte, sowie die mit dem Begriff einer anderes als das, was die bürgerlichen Parteien als Ziel vor »Verwaltungsvereinfachung« propagierten Maßnahmen eines den Augen haben. Den bürgerlichen Parteien schwebt als Ziel nachhaltigen Demokratieabbaus, konnten letztlich nur mit nicht die Vernichtung vor, sondern nur ein Wahlsieg. (…) Das Hilfe eines autoritären Regimes und nach der politischen Aus- wäre anders, wenn man prinzipiell kämpfen sollte. Einer bleibt schaltung der Gewerkschaften und Arbeiterparteien durchge- dann am Boden liegen, entweder der Marxismus rottet setzt werden 10. Derartige Vorschläge bestätigten: uns aus oder wir rotten ihn aus bis zur letzten Spur. Die- Das Verhältnis der deutschen Monopolbourgeoisie zur Wei- se Formel würde naturgemäß eines Tages eine Macht bringen, marer Republik war vornehmlich taktischer Natur . Die in der die allein regiert, so, wie in Italien heute eine Weltanschau- Novemberrevolution und danach von der Arbeiterklasse er- ung, eine Macht regiert, die den anderen rücksichtslos das kämpften politischen und sozialen Errungenschaften wurden Genick zermalmt und zerbricht und kein Hehl daraus macht, von ihnen nur solange anerkannt, wie sie dazu beitrugen, in dass der Kampf erst an dem Tag beendet ist, an dem der der Zeit der revolutionären Nachkriegskrise die kapitalisti- andere restlos erledigt ist … (…) Wenn man begriffen hat, schen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse stabilisieren dass die Schicksalsfrage darin besteht, dass der Marxismus zu helfen . So schnell als möglich wollten sie z . B . den Acht- gebrochen wird, dann muss auch jedes Mittel recht sein, Stunden-Arbeitstag, die Anerkennung der Gewerkschaften das zum Erfolg führen kann. Das ist das erste: eine Be- als gleichberechtigte Tarifpartner, den Rechtsanspruch auf wegung, die das durchführen will, muss sich an die brei- Arbeitslosengeld für Erwerbslose, die Möglichkeiten des te Masse wenden, an die Masse, mit der der Marxismus Staates, als Schlichter in ergebnislos geführte Tarifverhand- selbst kämpft. Eine solche Bewegung kann sich nur an die lungen einzugreifen (»Zwangsschlichtung«), die Ausbreitung Mannesfaust wenden, die weiß, man kann Gift nur durch Ge- des kommunalen Wohnungsbaus, die Etablierung eines öf- gengift brechen . (…)So muss eine Bewegung, … die zum fentlichen Sektors in der Volkswirtschaft und das Betriebs- Kampf ausholen will, sich selbst der Masse bedienen … rätegesetz wieder außer Kraft setzen, mithin das gesamte Diese breite, sture Masse, die vernarrt, verbohrt, für den System der staatlichen Sozialpolitik bis zur Unkenntlichkeit Marxismus kämpft, ist die einzige Waffe für die Bewegung, reduzieren .11 Vor allem: Sollte endlich der Zeitpunkt heran- die den Marxismus brechen will . Mit nichts anderem würden gereift sein, um den im eigenen Kontor praktizierten »Herr- wir dieser Weltpest Herr werden . (…)Wenn eine Bewegung im-Hause«-Standpunkt kompromisslos auf den Staat über- aber an die breite Masse appellieren will, … tritt das tragen zu können, so galt es, zielgerichtet zu handeln . Als große Recht in Erscheinung, dass dann jedes Mittel zu politischer Bündnispartner spielte die faschistische Partei verantworten ist, das zum Ziele führt. (Bravo!) .« mangels Massenanhang dabei zunächst nur eine unterge- ordnete Rolle . Werner Jochmann: Im Kampf um die Macht . Hitlers Rede vor Doch seit dem 14 . September 1930, nachdem bei den Wah- dem Hamburger Nationalklub von 1919, Frankfurt a .M . 1960, len zum Reichstag die zuvor unbedeutende NSDAP zur zweit- S . 102 f ., 104, 106 . Hervorhebungen von mir – R .Z . Auch in: stärksten Partei nach der SPD avanciert war12, und angesichts Hitler . Reden – Schriften – Anordnungen . Februar 1925 bis einer sich verschärfenden ökonomischen und gesellschaftli- Januar 1933, Bd . I, hrsg . und kommentiert v . Clemens Volln- chen Krisis bisher nicht gekannten Ausmaßes, wurde für die hals, München u . a . 1992, S .318 f ., 319 f ., 320, 321 . Vertreter des Großkapitals die Frage akut: »Wie halten wir’s mit der NSDAP«?

5 6 Emil Kirdorf als Protektor der NSDAP beiden Arbeiterparteien möglichst viele Anhänger und Wäh- ler abspenstig zu machen . Die NSDAP im Ruhrgebiet hatte Allerdings ist dabei zu beachten, dass es, »bevor die Natio- durch entsprechende propagandistische Aktivitäten, die Hit- nalsozialisten an die Macht kamen, für die Wirtschaft nicht ler in ihrer zugespitzten Form nicht billigte und die schließ- opportun war, enge Beziehungen zu ihnen in aller Offenheit lich zu einer personellen und organisatorischen Neustruktu- zu pflegen . Nur ein paar Einzelgänger wie Fritz Thyssen und rierung der Parteiarbeit an Rhein und Ruhr geführt hatte21, Emil Kirdorf machten sich nichts daraus, sich öffentlich mit tiefes Misstrauen, ja offene Ablehnung bei den Herren der der NSDAP zu identifizieren .«13 Schwerindustrie verursacht . Vor allem die Publikation von Tatsächlich gehörten die beiden genannten Exponenten der »14 Thesen der Deutschen Revolution« im Juli 1929 sorgte rheinisch-westfälischen Schwerindustrie zu den Nazi-Propa- für großes Aufsehen . Die 8 .These formulierte, man verwerfe gandisten der ersten Stunde .14 »individuelle Wirtschaftssysteme des Kapitalismus, dessen Der 1847 geborene Kirdorf galt als der »große, alte Mann« an Sturz die Voraussetzung zum Gelingen der Deutschen Revo- Rhein und Ruhr .15 Von 1893 bis 1926 amtierte er als Gene- lution ist .«22 raldirektor des größten Bergbau-Unternehmens in Deutsch- Kirdorf und andere Industrielle befürchteten, dass hier eine land, der Gelsenkirchener Bergwerks-AG; bis 1927 gehörte Büchse der Pandora geöffnet wurde . Niemand konnte sich er überdies dem Vorstand der Siemens-und-Halske-Werke an . dafür verbürgen, dass diese lauthals postulierten Ziele eines Bereits in der wilhelminischen Ära unterstützte er mit großem Kampfes gegen »den« Kapitalismus sich nicht nur gegen das finanziellem Aufwand verschiedene reaktionäre Organisatio- »raffende jüdische Kapital« und die »Plutokraten«, sondern nen und Publikationsorgane, vor allem den Alldeutschen Ver- am Ende gegen sie selbst, das »schaffende deutsche Kapi- band .16 Dessen »Bamberger Erklärung« vom Januar 1919, in tal«, wie es in der faschistischen Terminologie hieß, richten der die Verantwortung Kaiser Wilhelms II ,. der militärischen, könnten . politischen und wirtschaftlichen Eliten des Deutschen Rei- Kirdorf blieb der NSDAP allerdings eng verbunden, auch ches an der Entfesselung des Ersten Weltkrieges sowie an wenn er jetzt innerhalb der vom Medien-Mogul Alfred Hugen- der erlittenen Niederlage vehement geleugnet und eine of- berg geführten Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) agier- fene Kampfansage an die in der Novemberrevolution wirken- te . So war er u .a . Gast auf dem Parteitag der NSDAP im Au- den sozialistischen und anderen demokratischen Kräfte for- gust 1929 in Nürnberg, wo Hitler ihn persönlich bat, auf der muliert worden war, hatte er als Mitglied der fünfköpfigen Ehrentribüne Platz zu nehmen, spendierte den Nazis weiter- Hauptleitung des Verbandes mit unterzeichnet .17 hin bedeutende Summen aus eigener Tasche, vermittelte Hit- ler streng vertrauliche Treffen mit anderen Großindustriellen Auch in den Jahren seines Ruhestandes genoss Kirdorf große von Rhein und Ruhr und wurde folgerichtig im »Dritten Reich« Autorität und behielt beträchtlichen Einfluss unter den Mono- der Faschisten mit dem Goldenen Parteiabzeichen sowie der polherren der Schwerindustrie . Im Juli 1927 schloss er sich Anwesenheit von Hitler und Goebbels bei den Feierlichkeiten im Ergebnis eines viereinhalbstündigen Gesprächs mit Hitler zu seinem 90 . Geburtstag im April 1937 geehrt . der NSDAP an (Mitglieds-Nummer 71032)18 und spendierte der faschistischen Partei als »Eintrittsgebühr« 100 .000 Mark . Noch im gleichen Monat organisierte Kirdorf in seinem Haus Fritz Thyssen – »Der gewaltigste unter den Macht­ ein exklusives Treffen Hitlers mit anderen führenden Indus- habern des Ruhrgebietes« als Finanzier der NSDAP triellen . Bereits ein Jahr später verließ er jedoch wieder die NSDAP . Für bürgerliche Historiker wird dies stets als Beleg für Fritz Thyssen zählte wie Kirdorf zu den mächtigsten Exponen- seine schnell vollzogene »Entfremdung« von der Nazipartei ten der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr . Er sei »als Vorsit- angeführt, geradezu paradigmatisch für das Verhältnis Groß- zender des Aufsichtsrates der Vereinigten Stahlwerke AG mit industrieller zur NSDAP .19 Die Fakten vermitteln jedoch ein einem Aktienkapital von 800 Millionen Mark der gewaltigste anderes Bild, denn die Motive für seinen Parteiaustritt waren und auch der schärfste unter den Machthabern des Ruhrge- keineswegs grundsätzlicher Natur . bietes«23, urteilte der sozialdemokratische »Vorwärts« . Alles sprach für die Richtigkeit dieser Annahme . In einer persönlichen Stellungnahme über seine Beziehun- Seit der Bildung der Vereinigten Stahlwerke AG im Jahre gen zur Nazipartei formulierte er, dass die NSDAP »im Revier 1926, des größten schwerindustriellen Konzerns in Europa eine Richtung einschlug, gegen die ich mich wenden muss- und des zweitgrößten weltweit, amtierte er als Vorsitzender te« . Für Hitler empfinde er jedoch weiterhin »warme Freund- des Aufsichtsrates . Daneben war er stellvertretender Auf- schaft und Hochschätzung«20 . Warum ist es wichtig, an die- sichtsratsvorsitzender der zum Flick-Konzern gehörenden se Episode zu erinnern? Zum einen bezog sich das, was hier Mitteldeutschen Stahlwerke AG . Weitere Aufsichtsratsman- als die »Richtung« der NSDAP »im Revier« umschrieben wird, date nahm er z .B . bei der Gelsenkirchener Bergwerks AG, auf die in der Parteipropaganda stark akzentuierte antikapi- den Siemens-Schuckert-Werken, bei den Rheinisch-West- talistische Phraseologie, die besonders dem Ziel diente, den fälischen Elektrizitätswerken (RWE), bei der Bremer Vulcan

7 Schiffbau- und Maschinenfabrik und bei der UfA wahr . Außer- um die Teilhabe des Parlamentes, der Parteien und Gewerk- dem war er Mitglied des Zentralausschusses der Deutschen schaften am politischen Entscheidungsprozess entschei- Reichsbank sowie des Präsidiums des RDI und der »Ruhrla- dend zurückzudrängen und den Weg in ein autoritäres Re- de« . Dabei handelte es sich um einen im Januar 1928 gegrün- gime zu öffnen . deten, im Verborgenen wirkenden Kreis von wenigen Groß- industriellen des Ruhrgebietes, die für bürgerliche Parteien, einschließlich der NSDAP, finanzielle Mittel für die Organisie- Wirtschaftspolitische Dissonanzen rung von Wahlkämpfen, aber auch für die Herausgabe von »industrie-freundlichen« Zeitungen, darunter die renommier- Die Zeit arbeitete jedoch für die NSDAP . Denn der Wahlerfolg te »Deutsche Allgemeine Zeitung«, bereit stellten .24 Offenbar der Faschisten bei den Reichstagswahlen am 14 . September wurden hier auch die Vorgehensweisen bei Tarifauseinander- 1930 blieb keine Ausnahme . Im Gegenteil: Die Nazis erziel- setzungen in der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie ko- ten bei den Landtags- und Kommunalwahlen seit 1929/1930 ordiniert .25 herausragende Ergebnisse, so dass sie mittlerweile in Thürin- Thyssen hatte bereits 1923, im Jahr des Hitler-Ludendorff- gen (Januar 1930 bis April 1931) und Braunschweig (Septem- Putsches in München, die Bekanntschaft Hitlers gemacht ber 1931 bis Januar 1933) Regierungsverantwortung trugen . und ihm im Mai 1930 100 .000 Mark zur Verfügung gestellt . Zugleich wurde die NSDAP zu einer mitgliederstarken Mas- Damit wurde der Ankauf einer repräsentativen Immobilie in senpartei . Ihre paramilitärischen »Sturmabteilungen« (SA) München ermöglicht, um hier das »Braune Haus« als Par- wuchsen zu einer wahren Bürgerkriegsarmee heran, die vor teizentrale der Nazipartei einzurichten . Nach den Tagebuch- allem die Arbeiterorganisationen mit gewaltsamen Aktionen Aufzeichnungen von Otto Wagener, einem Wirtschaftsbe- provozierte . In den proletarischen Quartieren der Großstädte, rater und engem Vertrauten Hitlers, war Thyssen überdies nicht zuletzt in Berlin, wo Gauleiter Goebbels öffentlich das »der Hauptfinanzier Görings« .26 Die entsprechenden finan- Ziel proklamiert hatte, »der Reichshauptstadt den Charakter ziellen Transaktionen spielten sich offensichtlich recht un- einer roten Metropole zu nehmen«31, entfachten sie den blu- spektakulär ab . Einmal erhielt Göring von Thyssen Bargeld tig betriebenen »Kampf um die Straße« .32 Anders gesagt: Die im Restaurant eines seiner Hüttenwerke ausgehändigt, ein SA demonstrierte mit ihren gewalttätigen, vor Morden nicht anderes Mal entnahm der spätere »Reichsmarschall« mit zurückschreckenden Aktionen, dass Hitler es durchaus ernst Hilfe eines Zweitschlüssels eine größere Summe aus ei- gemeint hatte, als er in seiner oben zitierten Rede im »Ham- nem Bankschließfach des Ruhrmagnaten .27 Thyssen pfleg- burger Nationalklub« davon gesprochen hatte, »den Marxis- te »forsch« aufzutreten und aus seinen extrem reaktionären mus bis zur letzten Spur auszurotten« . Überzeugungen kein Geheimnis zu machen 28. Großes Aufse- Spätestens seit den Reichstagswahlen vom 14 . September hen erregte Thyssen, als er am 27 . November 1930 bei ei- 1930 und den sich daran anschließenden weiteren Wahl- ner Tagung des Hauptausschusses des RDI den anwesenden erfolgen sowie dem sich steigerndem Zustrom zu den un- Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) frontal angriff . Der terschiedlichen Gliederungen der Nazi-Bewegung wurde sensationelle Wahlerfolg der NSDAP lag erst zwei Monate unübersehbar, dass es sich bei der NSDAP und ihren »Vorfeld- zurück: »Die politische Führung, die wir bisher hatten, war organisationen« nicht um kurzlebige Phänomene handelte . keine glückliche . Man kann sich nicht wundern, wenn ange- Die Haltung großindustrieller Kreise zur faschistischen Partei sichts dieser Tatsache eine Bewegung im Reiche entsteht, bedurfte somit – wie schon gesagt – dringend einer Klärung . wie sie sich bei den letzten Wahlen gezeigt hat . Ich möchte Dabei existierten vornehmlich drei bedeutsame Probleme . nur wünschen, Herr Reichskanzler, dass es Ihnen gelingt, die Bewegung aller nationalen Kreise hinter sich zu ziehen; denn ich glaube, dass erst dann Sie vollen Erfolg mit Ihren Absich- »Die Sozialisten verlassen die NSDAP!« (Otto Strasser) ten haben werden .«29 Erstes Problem: Für Irritationen sorgte die bereits oben an- Neben ablehnendem »Zischen« vermerkt das Protokoll auch gesprochene antikapitalistische Propaganda der faschisti- Beifall für diese Ausführungen Thyssens, die eine unverzüg- schen Partei . Innerhalb der NSDAP wurden relevante Teile liche Regierungsbeteiligung der NSDAP beinhalteten . Doch der SA, vor allem aber die Gebrüder Otto und Gregor Stras- die Zeit schien dafür noch nicht reif zu sein . Denn der RDI ser, als Exponenten derartiger Stimmungen, als Anführer und viele Großindustrielle unterstützten zu jener Zeit noch eines so genannten linken Flügels der Partei identifiziert .33 Heinrich Brüning, der mit Hilfe von Notverordnungen des Otto Strasser hatte allerdings bereits im Juli 1930 mit der Pa- Reichspräsidenten gemäß Artikel 48 der Weimarer Reichs- role »Die Sozialisten verlassen die NSDAP« der Partei den Rü- verfassung regierte und insgeheim anstrebte, die Monarchie cken gekehrt34 und die »Kampfgemeinschaft Revolutionärer mit einem der Enkel Wilhelms II . als neuem »Deutschen Kai- Nationalsozialisten« gegründet, die aber keinerlei relevanten ser« wieder einzuführen .30 Er schien in der Phase der sich zu- politischen Einfluss gewinnen konnte .35 Sein Bruder Gregor, spitzenden ökonomischen Krise der geeignete Mann zu sein, der für das vom Reichswehrminister bzw . Reichskanzler Kurt

8 von Schleicher Ende 1932 avisierte »Querfront«-Bündnis36, Aus der Entgegnung von Rudolf Hilferding (SPD) bestehend aus der , den Führungen des Allge- am 11. Mai 1932: meinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und der Christlichen Gewerkschaften sowie dem »linken Flügel« der »Meine Herren Nationalsozialisten, ich habe die Empfindung: NSDAP, vielleicht angereichert durch das katholische Zent- wenn Sie so sehr gegen den Liberalismus losziehen, so han- rum und die fast zur Bedeutungslosigkeit herabgesunkene delt es sich bei Ihnen nicht um das, worum es sich bei uns Deutsche Volkspartei, große Sympathien entwickelt hatte, handelt .Wir sind Feinde des ökonomischen Liberalis- blieb jedoch Mitglied der faschistischen Partei . Als »Reichs- mus, wir wollen dieses System der kapitalistischen Kon- organisationsleiter« der NSDAP und wirtschaftspolitischer kurrenzwirtschaft beseitigen; aber wir sind keine Feinde Sprecher im Reichstag war er einer ihrer einflussreichsten dessen, was seinerzeit der Liberalismus in der Glanzzeit Funktionäre . Mehrfach trat er öffentlich für groß angeleg- des Bürgertums geistig geschaffen hat. (Sehr wahr! bei te, vom Staat finanzierte Arbeitsbeschaffungs-Programme den Sozialdemokraten.) Ich fürchte, wenn Sie gegen den zur Überwindung der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise ›Liberalismus‹ sprechen, dann sprechen Sie zugleich gegen ein 37. Die Nähe zu zeitgleich entwickelten Vorstellungen des die persönliche Freiheit und die persönliche Selbstbestim- ADGB war unübersehbar und von Strasser bewusst thema- mung, dann sprechen Sie gegen die Gewissensfreiheit . Wenn tisiert worden .38 Sie gegen den ökonomischen Liberalismus sprechen, dann glauben Sie, zugleich wieder alles das vernichten zu können, was an den geistigen Errungenschaften der Menschheit in den letzten zwei Jahrhunderten wertvoll ist . (…) Aus der Rede von Gregor Strasser (NSDAP) Ich möchte doch einmal fragen, ob die Rede, die Herr im Reichstag am 10. Mai 1932: Strasser hier in der Öffentlichkeit vor dem deutschen Volke gehalten hat, im Wortlaut oder wenigstens im Sinn »Wenn der Verteilungsapparat des weltwirtschaftlichen Sys- mit der übereinstimmt, die Herr Hitler im Industrieklub in tems von heute es nicht versteht, den Ertragsreichtum der Düsseldorf (am 26 . Januar 1932 – R .Z gehalten.) hat . (Sehr Natur richtig zu verteilen, dann ist dieses System falsch gut! bei den Sozialdemokraten .) Ich weiß nicht, was Herr Hit- und muss geändert werden um des Volkes wegen . Das ler dort gesagt hat . Aber eines wissen wir . Als Herr Hitler ge- Volk protestiert gegen eine Wirtschaftsordnung, die nur in schlossen hatte, erhob sich Herr Fritz Thyssen, der Sohn ei- Geld, Profit, Dividende denkt, und die vergessen hat, in nes bedeutenden Vaters und der Erbe eines bedeutenden Arbeit und Leistung zu denken. Interessant und wert- Vermögens, der Mann, der sich nach den Zuständen vor dem voll an dieser Entwicklung ist die große antikapitalisti- Kriege, die uns von Deutschnationalen so gepriesen werden, sche Sehnsucht …, die durch unser Volk geht, die heu- zurücksehnt, wo die Gewerkschaften nicht verhandlungsfä- te vielleicht schon 95 Prozent bewusst und unbewusst hig waren, wo jeder Großindustrielle an Ruhr und Rhein Herr erfasst hat. Diese antikapitalistische Sehnsucht ist nicht im eigenen Hause war, Herr Thyssen, der in Amerika Reden im Geringsten eine Ablehnung des aus Arbeit und Sparsinn hält, dass das ganze deutsche Unglück von der Sozialpolitik, entstandenen sittlich berechtigten Eigentums .Sie hat ins- von der Arbeitslosenversicherung, von den Sozialbeiträgen besondere nichts zu tun mit den sinnlosen und destruk- kommt – das war der Mann, der nach der Rede ›Heil Hit- tiven Tendenzen der Internationale. Sie ist vielmehr der ler‹ gerufen hat (Hört! Hört! bei den Sozialdemokraten .) Protest des Volkes gegen eine entartete Wirtschaft, und Deswegen glaube ich: Zwischen dem, was Herr Strasser sie verlangt vom Staat, dass er, um das eigene Lebensrecht öffentlich sagt, und dem, was Herr Hitler im Geheimen zu sichern, mit den Dämonen Gold, Weltwirtschaft, Materi- den Industriellen sagt, wird der Unterschied ebenso alismus, mit dem Denken in Ausfuhrstatistik … bricht und groß sein, wie der Unterschied zwischen einem Lohnar- ehrliches Auskommen für ehrlich geleistete Arbeit wieder- beiter und Herrn Thyssen, dem Aufsichtsratsvorsitzen- herzustellen in der Lage ist . (Lebhafte Zustimmung bei den den des größten deutschen Montanunternehmens. Nationalsozialisten .) (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten .)«

Diese große antikapitalistische Sehnsucht ist ein Beweis Verhandlungen des Reichstags, Bd . 446, 63 . Sitzung, dafür, dass wir vor einer ganz großen, vor einer grandio- 11 . Mai 1931, S . 2634 f . und 2637 f. sen Zeitenwende stehen: die Überwindung des Liberalis- mus und das Aufkommen eines neuen Denkens und ei- ner neuen Einstellung zum Staat. (…)« Nach Schleichers Vorstellungen, dessen wirtschafts- und ar- Verhandlungen des Reichstags, Band 446, 62 . Sitzung, beitsmarktpolitische Pläne mit denen Strassers im Wesent- 10 . Mai 1932, S . 2 511 . lichen kompatibel waren, hätte dieser, nicht Hitler, als Vize- kanzler in ein von ihm geführtes Kabinett eintreten können,

9 dem zugleich prominente Exponenten der Gewerkschaf- tigsten Standort der Metall- und Elektroindustrie in Europa, ten angehören sollten . Alles das ließ das Misstrauen vieler kaufte sich die International Telephone and Telegraph Co . (ITT) Großindustrieller in die politische Verlässlichkeit der faschis­ bei der Telefonfabrik Berliner AG ein41, einem renommierten tischen Partei nicht ruhen . Hersteller von automatisierten Telefonanlagen . Bei der Stan- Zwar hatten Adolf Hitler, Hermann Göring, Heinrich Himm- dard-Elektrizitäts-Gesellschaft konnte ITT siebzig Prozent des ler und andere maßgebliche NS-Führer stets glaubhaft ver- Aktienkapitals von der niederländischen Philipps-Gruppe er- sichert, dass sie nicht daran dächten, die kapitalistische Ge- werben .42 Es kam hinzu, dass für den Siemens-Konzern das sellschaftsordnung anzutasten und wirtschaftspolitische Bankhaus Dillon, Read and Co . eine 14-Millionen-Dollar-Anlei- Experimente gemeinsam mit General von Schleicher, der Ge- he an der New Yorker Börse mit einer Laufzeit von eintausend werkschaftsführung oder anderen politischen Kräften anzu- (in Worten: eintausend) Jahren auflegte, die eine Verzinsung streben . Die pseudo-sozialistische Demagogie sollte nur da- von mindestens sechs Prozent per anno vorsah . Größter Ab- zu dienen, »Eroberungen« innerhalb der Arbeiterklasse und nehmer dieser Anleihe war interessanter Weise die General in den verelendeten Kreisen des Mittelstandes zu realisie- Electric Company, der weltweit größte Konkurrent des Hau- ren . Doch wie sicher konnte man sein, dass sie weiterhin die ses Siemens, an deren Spitze Owen D . Young wirkte . Bei ihm Richtlinien der Politik innerhalb der NSDAP bestimmen wür- handelte es sich um den ehemaligen Vorsitzenden des Komi- den? Wer konnte garantieren, dass der bei Partei- und SA- tees zur Neuregelung deutscher Reparationen, das den nach Mitgliedern, aber auch bei manchen führenden Kadern der ihm benannten »Young-Plan« ausgearbeitet hatte . Insgesamt faschistischen Bewegung subjektiv empfundene Antikapita- wurden mit dieser Anleihe, deren für festverzinsliche Wert- lismus – so diffus er sich auch immer zu artikulieren pfleg- papiere vollkommen ungewöhnlicher Ausgabekurs bei fast te – innerhalb der faschistischen Bewegung nicht eines Tages 250 Prozent lag, dem Siemens-Konzern ca . 150 Millionen dominant werden könnte? Reichsmark neues Kapital zur Verfügung gestellt .43 Auch bei der AEG war General Electric aktiv . Hier erfolgte 1930 die Übernahme von Stammaktien zu einem Kurswert Exportorientierung, ausländische Kapitalinvestitionen von etwa 30 Millionen Reichsmark, nachdem General Electric und die Haltung deutscher Konzerne zur NSDAP bereits im Vorjahr ein bedeutendes Aktienpaket der AEG für 200 Millionen Reichsmark erworben und dafür fünf Aufsichts- Zweitens Problem: Es galt für die Führung der NSDAP, un- ratssitze eingeräumt bekommen hatte . Einer der Aufsichts­ terschiedliche ökonomische Interessen unter den deutschen räte war übrigens Owen D . Young .44 Großindustriellen ins Kalkül zu ziehen, die sich auf ihre Ab- Angesichts derartiger Aktivitäten des US-amerikanischen Ka- hängigkeit vom Export bezogen, die vor allem bei den Me- pitals war es verständlich, dass die Wahlerfolge der NSDAP tall- und Elektrokonzernen stark ausgeprägt war . In diesem und die dadurch immer instabiler werdende innenpolitische Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass einige große Lage in Deutschland, zeitweilig zu großen Irritationen bei den Konzerne aus diesen Branchen noch in der ersten Phase der führenden Repräsentanten der Industrie und der Banken in kapitalistischen Weltwirtschaftskrise bedeutende Exporter- den Vereinigten Staaten, aber auch in Großbritannien und löse und Auftragseingänge aus dem Ausland zu realisieren Frankreich führten . So verlor die Reichsbank nach dem erd- vermochten und dadurch ihre betriebswirtschaftliche Lage rutschartigen Wahlsieg der Nazis vom 14 . September 1930 zeitweilig stabilisieren konnten . Exemplarisch seien folgende innerhalb weniger Tage Devisen und Gold in der Größenord- Sachverhalte genannt: nung mehrerer Hundert Millionen Reichsmark .45 Auch da- Im gesamten Maschinenbau stieg bei gleichzeitigem Rück- nach war die Verunsicherung vor allem US-amerikanischer gang der wertmäßigen Ausfuhr von 1928 bis 1933 (1,12 zu Investoren, angesichts der scheinbar unaufhaltsamen Erfol- 0,53 Mrd . Reichsmark) der Anteil des Exports von 30,2 auf ge der Nazis, mit Händen zu greifen . Dies galt um so mehr, 34,6 Prozent . Speziell bei Werkzeugmaschinen wurden 1933 als an der Wall Street seit Mitte der zwanziger Jahre zahl- 75,9 Prozent der produzierten Erzeugnisse exportiert, bei reiche Anleihen für deutsche Unternehmen und öffentliche Textilmaschinen 54,2 und bei Druckmaschinen 47,9 Pro- Körperschaften verkauft worden waren46, auf deren Rückzah- zent 39. Die Bergmann-Elektrizitätswerke sowie Orenstein und lung und die anfallenden Zinszahlungen die vornehmlich US- Koppel, nach Siemens, AEG und Borsig die größten Werke der amerikanischen Investoren selbstverständlich größten Wert Metall- und Elektroindustrie in Berlin, vermeldeten im Früh- legten . Eine Reichsregierung mit der Beteiligung der NSDAP jahr 1930 eine »Belebung des Auslandsgeschäftes« bzw . ei- schien ihnen jedoch ein großes Risiko für die Zuverlässigkeit ne Erhöhung des Anteils exportierter Erzeugnisse auf 60 Pro- des Kapitaldienstes darzustellen . zent 40. Der Delegierte der Aufsichtsräte der Siemens-Schuckert- und Ferner vollzogen sich ausgerechnet im Jahre 1930, dem Jahr der Siemens-und-Halske-Werke47, Carl-Friedrich von Siemens, des großen Wahlerfolges der NSDAP, noch engere Verflech- zugleich Präsidiums- bzw . Senatsmitglied des RDI, hatte sich tungen zwischen großen deutschen Elektrokonzernen und deshalb bemüht, am 27 . Oktober 1931 in New York, anläss- US-amerikanischen Investoren . In Berlin, dem damals wich- lich eines ihm zu Ehren gegebenen Essens, beruhigend auf

10 seine US-amerikanischen Gastgeber von der General Electric in den beiden wichtigsten Ländern Preußen und Bayern seit Company einzuwirken . Er hob hervor, dass die Nazis ihr »Ziel den Landtagswahlen vom 24 . April des gleichen Jahres je- durch gesetzliche Maßnahmen, d .h . durch den Stimmzettel weils mehr Mandate erringen konnte als die beiden Arbei- verwirklichen« wollten . Er bescheinigte ihnen ferner »Selbst- terparteien zusammen genommen54, den Posten des Reichs- losigkeit«, und dass bei ihnen »hohe nationale Ideale« anzu- kanzlers für Adolf Hitler beanspruchte 55. Schon im Vorfeld der treffen seien . Die »Wurzel der Hitlerschen Bewegung«, so fuhr Reichstagswahlen vom September 1930 hatte Goebbels hier- von Siemens fort, »ist der Kampf gegen den Sozialismus, d . h . zu selbstbewusst im »Angriff« formuliert: »Wir gehören zu je- gegen den Marxismus« . Am Ende seiner Ausführungen formu- ner Sorte von Menschen, die, wenn man ihnen den kleinen lierte er dann in dankenswerter Offenheit: »Eines möchte ich Finger gibt, bald die ganze Hand haben .«56 Als »Juniorpart- noch betonen: wenn die große Mehrzahl nicht nur der deut- ner« in ein Kabinett einzutreten und mit dem Amt eines Vi- schen Geschäftsleute, sondern auch der Angehörigen aller zekanzlers abgefunden zu werden, war für die NSDAP und gebildeten Klassen, viele von Hitlers Methoden verurteilen, die meisten ihrer Mitglieder und Anhänger zwei Jahre später so betrachten sie doch das Hitlertum als das kleinere Übel erst recht undenkbar, auch wenn diese Regierungskonstella- gegenüber dem Kommunismus .«48 tion von einigen Vertretern großer Konzerne favorisiert wurde . Eine bemerkenswerte Stimme, angesichts des allgegenwärti- Aber Hitler war keine Marionette in den Händen der Herren gen Terrors der SA, in wachsendem Maße auch gegenüber Ju- Kirdorf, Thyssen und Co ,. sondern stellte angesichts des rapi- den49 angesichts der von den Faschisten offen angedrohten de wachsenden Massenanhangs seiner faschistischen Partei Willkürmaßnahmen in einem zu errichtenden »Dritten Reich« 50. selbstbewusst Bedingungen für den Eintritt in eine von ihm Die Nazipartei bemühte sich ihrerseits nach Kräften, auslän- geführte Reichsregierung . Dabei schreckten er vor verbalen dischen Unternehmen zu versichern, dass ihre Investitionen und die SA auch vor physischen Angriffen gegen potenzielle in einem von ihnen geführten »Dritten Reich« absolut sicher Bündnispartner wie die Deutschnationale Volkspartei und den wären . So berichtete der US-amerikanische Journalist Hubert »Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten« keineswegs zurück 57. R . Knickerbocker in seinem viel gelesen Buch »Kommt Europa Was war in dieser Situation zu tun? Um die wirtschaftspo- wieder hoch?« Beruhigendes von seiner im Sommer 1932 ge- litischen Forderungen der Partei mit den Vorstellungen des führten Unterhaltung mit – ausgerechnet! – Gregor Strasser: Großkapitals in Einklang zu bringen sowie Hitler und die fa- »Wir erkennen das Privateigentum an . Wir erkennen die pri- schistische Partei für den Einzug in die Reichskanzlei vorzu- vate Initiative an … Wir sind gegen die Verstaatlichung der In- bereiten, wurde schließlich ein Kreis prominenter Industriel- dustrie . Wir sind gegen die Verstaatlichung des Handels .« So ler und Bankiers aus der Taufe gehoben, die Hitler in diesen der Originalton des mit antikapitalistischen Tiraden ansons- Fragen kompetent »beraten« sollten . ten nicht geizenden Strasser . Knickerbocker folgerte durch- aus zutreffend, »dass der Kapitalismus von den Nationalso- zialisten nichts zu fürchten hat .« Nach seinem Gespräch mit Strasser sei »von der offiziellen Version (des Programms der Joseph Goebbels: Goldene Worte für einen Diktator NSDAP – R .Z .) nicht viel übrig geblieben . Der nationalsozia- und für solche, die es werden wollen listische Radikalismus hat in direktem Verhältnis zur Annähe- rung der Partei an die Möglichkeit einer Verantwortungsüber- 1 . Zu einer Diktatur gehört dreierlei: ein Mann, eine Idee nahme abgenommen .«51 und eine Gefolgschaft, die bereit ist, für Mann und Idee Doch ungeachtet solcher Aussagen galt: Solange Hitler nicht zu leben und, wenn nötig, zu sterben . Fehlt der Mann, die Dissonanzen in den wirtschaftpolitischen Aussagen sei- dann ist es schlimm, fehlt die Idee, dann ist es unmög- ner Partei zweifelsfrei und endgültig ausräumen konnte, blieb lich, fehlt aber die Gefolgschaft, dann ist die Diktatur die Skepsis vor allem exportorientierter deutscher Unterneh- nur ein schlechter Witz . men sowie ausländischer Geschäftspartner und Investoren 2 . Eine Diktatur kann zur Not zwar gegen das Parlament, weiter bestehen . Sie wurde durch das immer wieder in der aber niemals gegen das Volk regieren . Parteipresse und durch Parlamentsredner proklamierte Ziel 3 . Auf Bajonetten lässt sich schlecht sitzen . einer faschistischen Wirtschaftspolitik, weitgehende wirt- 4 . Erste Aufgabe des Diktators ist: das, was er will, populär schaftliche Autarkie realisieren zu wollen, noch gesteigert .52 zu machen und den Willen der Nation mit seinem eigenem Willen in Übereinstimmung zu bringen . 5 . Höchste Pflicht des Diktators ist die soziale Gerechtig- Regierungsbeteiligung nur mit Hitler als Reichskanzler keit . Hat das Volk das Gefühl, dass die Diktatur nur die Repräsentanz einer dünnen Oberschicht ist, die mit Drittes Problem: Für alle anderen politischen Kräfte war in ihm eigentlich gar nichts zu tun hat, dann wird es den Rechnung zu stellen, dass die faschistische Partei, die seit Diktator als feindlich und hassenswert empfinden und den Reichstagswahlen vom 31 . Juli 1932 die mit Abstand ihn über kurzem zum Sturz bringen . stärkste parlamentarische Kraft im Reich darstellte53, sowie

11 6 . Diktaturen werden dann ein Volk retten, wenn sie bes- te sich Hitler in einem vertraulichen Schreiben vom 12 . April sere Wege weisen als die von ihnen bekämpften Re- 1932 erfolgreich angedient, unter seiner Leitung eine »Ar- gierungsformen, und wenn ihre Macht in breiten Volks- beitsstelle« einzurichten, da sich »bei gemeinsamer Arbeit schichten so verankert ist, dass sie sich niemals auf die eine völlige Übereinstimmung zwischen den Grundanschau- bewaffnete Gewalt zu stützen brauchen, sondern ihren ungen des Nationalsozialismus und der Möglichkeit priva- Schutz vielmehr immer in ihren Gefolgschaften finden . ter Wirtschaft erzielen lässt .«60 Schachts Arbeitsstelle, für 7 . Es wird nicht vom Diktator verlangt, dass er sich dem Wil- deren Finanzierung bereits Gelder von potenten Herren der len der Mehrheit füge . Aber er muss die Fähigkeit besit- Großindustrie eingesammelt worden waren61, und Kepp- zen, sich den Willen des Volkes gefügig zu machen … (…) lers Industriellen-Kreis beendeten nach Hitlers Intervention 9 . Diktaturen müssen aus eigenem geistigen Vorrat leben rasch ihr Konkurrenzverhältnis, so dass am Ende offenbar können … (…)« der Keppler-Kreis der maßgebliche Ort darstellte, an dem das wirtschaftspolitische Handeln der NSDAP koordiniert Der Angriff, Nr . 173, 1 . September 1932 wurde . Wer konnte zur Mitarbeit gewonnen werden? Genannt sei Au- gust Rosterg, Generaldirektor des Deutschen Kalisyndika- tes und der Wintershall AG, die bei Merkers in Thüringen das Wilhelm Keppler betritt die politische Bühne größte Kalibergwerk der Welt bewirtschaftete . Wes Geistes Kind dieser Großindustrielle war, demonstrierte er in einem Im Mai 1927 wird ein mittelständischer Industrieller Mit- Beitrag für die »Deutsche Bergwerks-Zeitung«, als er seiner glied der NSDAP: Wilhelm Keppler . Fünf Jahre zuvor hatte Meinung Ausdruck gab, »die Hälfte aller Kranken sind Simu- er in Eberbach am Neckar gemeinsam mit dem weltweit lanten«62, so dass drastische Kürzungen der Ausgaben für die agierenden US-amerikanischen Eastman Kodak-Konzern die Sozialversicherungen gerechtfertigt seien . Chemischen Werke Odin GmbH gegründet, die sich auf die Ein weiteres Mitglied des »Keppler-Kreises« war Ewald He- Herstellung von Fotogelatine spezialisierten . Keppler pfleg- cker, Sohn des Geschäftsinhabers der Großbank Disconto- te freundschaftliche Beziehungen zu Robert Ley, Gauleiter Gesellschaft .63 Dieser außerordentlich umtriebige Indust- der faschistischen Partei in Rheinland-Süd, dem späteren rielle, ein Duzfreund Franz von Papens, hatte ursprünglich »Führer« der »Deutschen Arbeitsfront«, sowie intensiven ge- Karriere als Zivilbeamter in der kaiserlichen Kolonialverwal- schäftlichen Umgang mit dem Kölner Privatbankier Kurt Frei- tung im Fernen Osten und als Generalstabsoffizier gemacht . herr von Schröder . Von 1914 bis 1916 war er so genannter Delegierter des Keppler und Adolf Hitler hatten seit ihrem ersten Zusammen- Deutschen Roten Kreuzes in den USA, anschließend Stabs- treffen kurz nach dem Parteieintritt des Chemieindustriellen offizier im Range eines Majors in der Armee des Osmani- immer wieder miteinander kommuniziert . Als im Dezember schen Reiches . Seit 1923 amtierte er zunächst als Mitglied 1931 die Frage zu beantworten war, wer künftig als offizieller des Vorstandes, dann als Vorsitzender und Delegierter des Wirtschaftsberater Hitlers fungieren solle, fiel die Wahl auf Aufsichtsrates der Ilseder Hütte AG in Niedersachsen 64. Zu- Wilhelm Keppler . gleich war er als Präsident der Industrie- und Handelskam- Hitler übertrug ihm vor allem die Aufgabe, möglichst rasch mer zu Hannover tätig und gehörte als stellvertretender Vor- mit der Konstituierung eines aus prominenten Wirtschafts- sitzender dem Aufsichtsrat der Commerzbank an . A propos führern bestehenden Gremiums zu beginnen, das für die Commerzbank . Mit Friedrich Reinhart, Vorstandsmitglied NSDAP und deren »Führer« nicht nur wirtschaftspolitische dieses Kreditinstituts, und Franz Heinrich Witthoefft, Vorsit- Expertisen ausarbeiten, sondern auch innerhalb der Großin- zender des Aufsichtsrates, war diese Großbank höchst pro- dustrie für die Machtübergabe an die Nazipartei Stimmung minent im »Keppler-Kreis« repräsentiert . Dass Witthoefft machen sollte .58 Bemerkenswerter Weise gab Hitler Wilhelm darüber hinaus Senator der Freien und Hansestadt Ham- Keppler den Ratschlag mit auf den Weg, dass er sich um die burg (von 1928–1931), Vizepräsident des Deutschen Indus- Theorien des »Braunen Hauses« nicht zu kümmern brauche, trie- und Handelstages, Vorsitzender seines Außenhandels- er mithin freie Hand bei seiner Tätigkeit als Leiter des nach ausschusses, Mitglied der Aufsichtsräte bei der Deutschen ihm benannten Kreises von Industriellen und Bankiers so- Werft in Hamburg und der C . Lorenz AG in Berlin (später: wie als sein Wirtschaftsberater habe 59. Außerdem galt es, die SEL – Standard Electric Lorenz) sowie Inhaber der weltweit wirtschaftspolitischen Kompetenzen innerhalb der NSDAP engagierten Hamburger Übersee-Handelsfirma Arnold Otto neu zu ordnen . Keppler schaffte es, die Vorgaben Hitlers zu Meyer war, die in China, Südafrika und Lateinamerika insge- erfüllen . Allerdings musste er sich zunächst eines »Konkur- samt sechzehn Dependancen des insolventen Stinnes-Kon- renzunternehmens« erwehren . zerns übernommen hatte, diente als weitere Empfehlung für Hjalmar Schacht, von 1923 bis 1930 Präsident der Deut- die Zugehörigkeit zum Keppler-Kreis . Friedrich Reinhart von schen Reichsbank, zuvor Vorstandsmitglied der »Darmstäd- der Commerzbank zeichnete sich vor allem darin aus, dass ter und Nationalbank« und Reichswährungskommissar, hat- er von Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) als »Sach-

12 verständiger« der Reichsregierung während der Bankenkri- Am Rande bemerkt: Herbert Quandt war in der Bundesrepu- se im Sommer 1931 berufen worden war . In dieser Eigen- blik einer der wirtschaftlich und politisch einflussreichsten schaft hatte er auch an Kabinettssitzungen und vertraulichen Industriellen . Seine Erben, die etwa die Hälfte des Aktienka- Gesprächsrunden teilgenommen . Er galt deshalb als intimer pitals der Bayerischen Motorenwerke und weitere bedeuten- Kenner wirtschafts-, finanz- und außenpolitischer Planungen de Industriebeteilungen halten (u. a . Altana, Varta), sind es der Reichsregierungen .65 Zudem war er seit 1925 Mitglied bis zum heutigen Tag . des »Engeren Beirates« der Deutschen Reichsbank und In- haber zahlreicher Aufsichtsrats-Mandate . In seinen Memoi- Doch zurück zum »Keppler-Kreis« . ren behauptet Heinrich Brüning, dass Friedrich Reinhart Mit von der Partie waren außerdem die schon erwähnten »Einfluss im Hause des Reichspräsidenten«66 ausgeübt ha- Bankiers Hjalmar Schacht und Kurt Freiherr von Schröder, be . Damit umschreibt er die damals beliebte Methode, über Mitinhaber des Bankhauses J . H . Stein, der als einer der eif- Paul von Hindenburgs Sohn, den Oberst der Reichswehr Os- rigsten Freunde und Förderer Hitlers und der faschistischen kar von Hindenburg, dessen Vater für die eigenen politischen Bewegung galt . Schröder hatte übrigens, wie auch die spä- Anschauungen und Projekte zu gewinnen . teren Reichskanzler und Kurt von Schlei- Aber auch die beiden anderen Großbanken waren mit von cher, während des Ersten Weltkrieges zeitweilig als Offizier der Partie . Für die Dresdner Bank arbeitete Emil Meyer, Syn- im Großen Generalstab gedient . Seine geschäftliche und ge- dikus der Genossenschaftsabteilung, im »Keppler-Kreis« mit . sellschaftliche Reputation beruhte nicht zuletzt darauf, ver- Die Deutsche Bank bevorzugte den direkten Zugang zu Adolf schwägert mit Kurt von Schnitzler zu sein, einem illegitimen Hitler, anstatt einen Beauftragten in dieses Gemium zu ent- Sohn des 99 Tage-Kaisers Friedrichs III . (9 .Mär z bis 15 .Juni senden . 1888) aus dem Hause Hohenzollern und Vorstandsmitglied Emil Georg von Stauß, Vorstandsvorsitzender in Deutsch- der IG Farben, des damals größten Chemiekonzerns welt- lands wichtigstem Finanzinstitut und Vorsitzender der Auf- weit . Zu den weiteren Mitgliedern des Keppler-Kreises zähl- sichtsräte bei Daimler-Benz und BMW, bei der Deutschen te Rudolf Bingel, Vorstandsmitglied der Siemens-Schuckert- Lufthansa und den Bergmann-Elektrizitätswerken, viele Jah- Werke AG . Auch Emil Helfferich, Aufsichtsratsvorsitzender re lang Koordinator der von der Deutschen Bank weltweit der größten deutschen Reederei, der Hamburg-Amerika-Pa- praktizierten Geschäfte mit dem Erdöl, Mitglied des Zent- ketfahrt AG (HAPAG) sowie der Deutsch-Amerikanischen Pet- ralausschusses der Deutschen Reichsbank, ging in Hitlers roleum Gesellschaft (Esso), und Otto Steinbrinck, Vorstands- Berliner Domizil, dem mitten im Regierungsviertel gelegenen mitglied der zum Flick-Konzern gehörenden Mitteldeutschen Hotel »Kaiserhof«, ein und aus . Aus den Tagebüchern von Jo- Stahlwerke AG, in den zwanziger Jahren als Leiter seines Bü- seph Goebbels und von Hitlers langjährigem Wirtschaftsbe- ros »die rechte Hand« Flicks, und Mitglied des Verwaltungs- rater Otto Wagener erfahren wir, dass neben Gesprächen in rates der Deutschen Reichsbahn, wurden für die Mitarbeit Hitlers Suite im zweiten Stockwerk des Berliner Nobelhotels gewonnen . Zu guter letzt durften Fritz Thyssen und Albert immer wieder verschwiegene Bootsfahrten auf dem Wann- Vögler, Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwer- see mit der Motoryacht des Deutschbankers stattfanden .67 ke AG, Präsidiumsmitglied des RDI, Mitglied des Hauptvor- Auch der Vorstandsvorsitzende des Allianz-Versicherungs- standes des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller konzerns, Dr . Kurt Schmitt, zugleich Vorstandsmitglied des und der Ruhrlade, Aufsichtsratsvorsitzender der Rheinisch- RDI, schätzte Gespräche mit Hitler unter vier Augen im Hotel Westfälischen Elektrizitätswerke, der Gelsenkirchener Berg- »Kaiserhof«, das der damaligen Zentralverwaltung der Allianz werks AG sowie der Ruhrgas AG, Aufsichtsratsmitglied u .a . gegenüber lag . Als bekennender Antisemit68 verstand er sich der Siemens-und-Halske- und der Siemens-Schuckert-Wer- offenbar prächtig mit dem »Führer« der faschistischen Partei, ke, der HAPAG, der Bayerischen Vereinsbank und der Nord- der ihn später, am 29 . Juni 1933, zum Reichswirtschaftsmi- stern Lebensversicherungs AG, in dieser Runde nicht feh- nister ernannte . Die Industriellen-Familie Quandt, Großaktio- len . Vögler hatte bereits am 26 . März 1926, also in der Zeit näre bei Daimler-Benz, den Mauserwerken AG und bei Varta, der relativen Stabilisierung des Kapitalismus in der Weima- war geradezu ein unentbehrlicher Bestandteil von Hitlers En- rer Republik, in einer Aufsehen erregenden Rede, die er in tourage im »Kaiserhof« . Häufig gab es Gespräche, Ausflüge Berlin während der Tagung des Reichsverbandes der Deut- und gemeinsame Essen .69 Das freundschaftliche Verhältnis schen Industrie hielt, einen rhetorischen Generalangriff ge- zwischen den Quandts und Adolf Hitler wurde noch dadurch gen das »Weimarer System« geführt . Er trug u. a . vor: »Es enger geknüpft, dass Joseph Goebbels am 19 . Dezember geht zurzeit eine wirtschaftsfeindliche Welle über die Lande . 1931 Magda Quandt ehelichte .70 Jetzt zählte diese Großin- (…) Die Staatsmänner und Regierungen sollen nicht den fal- dustriellen-Familie gewissermaßen zur »Verwandtschaft« schen Ehrgeiz haben, wirtschaftliche Aufgaben zu lösen . Sie des faschistischen »Führers« . Eines Tages meldete sich Ha- sollten sich begnügen, das zu erledigen, was ihnen obliegt, rald Quandt, gerade zehn Jahre alt, in Uniform und mit um- die Autorität im Lande aufrecht zu erhalten . Für Zucht und geschnalltem Dolch bei Hitler mit den Worten: »Der jüngste Ordnung sorgen, Leib und Leben und Eigentum schützen und Hitler-Junge Deutschlands meldet sich bei seinem Führer!«71 sichern . (…) Wir hoffen, dass jene Periode sozialistisch infi-

13 zierter Wirtschafts- und Staatspolitik (in der Zeit der Novem- tig schien, die Führung der NSDAP ermahnte, den antika- berrevolution und danach – R Z. .) endgültig vorbei ist . (…) Der pitalistischen Phrasen nur eine propagandistische Funktion Staat muss alles daran setzen, die private Wirtschaftsform zuzuweisen .78 Wie Manfred Asendorf schreibt, wurde Funk zu schützen und zu fördern . Er muss sie wieder zum ehernen »von der Ruhrindustrie in die Umgebung Hitlers geschleust, Bestand seiner Wirtschaftspolitik machen .«72 Ganze sieben um dem Parteiführer gleichsam die schwerindustriellen Kor- Jahre musste sich Vögler gedulden, bis diese Wünsche aus- settstangen einzuziehen« .79 Otto Wagener attestierte Funk nahmslos Realität werden konnten . interessanter Weise, er sei »kein Nationalsozialist«, sondern Schließlich stieß auch Gottfried Graf von Bismarck zum Kepp- ebenso wie Keppler, »von Natur aus Wirtschaftsliberalist .«80 ler-Kreis, ein Enkel des »eisernen Kanzlers« . Bismarck bewirt- In seiner Vernehmung während des Nürnberger Kriegsver- schaftete Ländereien in der Uckermark, hatte aber in den brecherprozesses antwortete Walther Funk im Übrigen auf zwanziger Jahren leitende Funktionen bei der HAPAG und in eine entsprechende Frage des US-amerikanischen Anklägers der Geschäftsstelle des RDI in Berlin bekleidet . wahrheitsgemäß, der »Verbindungsmann zwischen der Nazi- Partei und den großen Geschäftsleuten in Deutschland ge- wesen zu sein .«81 Wirtschaftspolitische Neuausrichtung der NSDAP

Der Keppler-Kreis kam am 20 .Juni 1932 im Hotel »Kaiserhof« Die »Industriellen-Eingabe« an Hindenburg zu einem Treffen mit Adolf Hitler zusammen . Einmal mehr vom November 1932 redete der »Führer« der NSDAP in kleinem Kreis Klartext . Er wolle im vom ihm angestrebten »Dritten Reich« die Organisa- Im November 1932 schlug dann die Sternstunde des Kepp- tionen der Arbeiterbewegung endgültig zerschlagen, die bür- ler-Kreises . Seine Mitglieder sowie weitere führende Reprä- gerlichen Parteien verbieten und mit groß angelegten Rüs- sentanten der deutschen Industrie- und Bankenwelt, einige tungen beginnen . Wie sich Keppler im September 1946 in mittelständische Unternehmer sowie Exponenten der nach einer eidesstattlichen Erklärung für das Nürnberger Kriegs- wie vor gesellschaftlich und politisch einflussreichen Groß- verbrechertribunal erinnerte, erhob niemand aus dem »Kepp- grundbesitzer unterzeichneten eine Eingabe an den Reichs- ler-Kreis« irgendwelche Einwände gegen diese Zielvorstellun- präsidenten von Hindenburg, in der die Übergabe der Re- gen . Im Gegenteil . Man drückte die »Besorgnis aus, dass es gierungsmacht an die faschistische Partei gefordert wurde . ihm nicht gelingen werde, diese hervorragenden Ideen in die Verabschiedet wurde die endgültige Fassung der Petition in Tat umzusetzen .«73 den Räumen des Direktionsgebäudes der Commerzbank in Der »Keppler-Kreis« erreichte vor allem, dass wichtige wirt- der Behrenstraße 46 in Berlin-Mitte am Nachmittag des 8. No- schaftspolitische Erklärungen vorab Hitler vorgelegt werden vember 1932 . Diese Zusammenkunft fand kurz nach der Nie- mussten und damit letztlich der Kontrolle Wilhelm Kepplers derlage der Nazis bei den Reichstagswahlen am 6 .N ovember unterlagen . Die Parteizentrale in München wurde nach und statt, als die faschistische Partei mehr als vier Prozentpunkte nach derart umorganisiert, dass leitende Mitarbeiter, deren (33,1 zu 37,3 Prozent) und etwas mehr als 2 Millionen Wäh- wirtschaftspolitische Ansichten nicht vollständig den Vorstel- lerstimmen (11,74 zu 13,75 Millionen) sowie 34 Mandate im lungen der Großindustriellen entsprachen, kalt gestellt wur- Vergleich zu den Reichstagswahlen vom Juli 1932 eingebüßt den 74. Das betraf vor allem Gregor Strasser, der endgültig im hatte (196 zu 230) . Es schien jetzt Eile geboten, die NSDAP Dezember 1932 seinen politischen Einfluss verlor, aber auch an die Schalthebel der politischen Macht gelangen zu lassen, Gottfried Feder, den Autor des Parteiprogramms von 192075 da der Gipfelpunkt ihrer Entwicklung überschritten zu sein sowie Hitlers langjährigen Wirtschaftsberater Otto Wage- schien . Auch die ökonomische Krisis hatte inzwischen wohl ner, der eine Neuorganisation des Staates und der Volkswirt- ihren Scheitelpunkt erreicht . Vor allem sorgte die Haltung schaft nach ständischen Modellen favorisierte .76 der Berliner Gauleitung der NSDAP und der gerade in Berlin Seit Dezember 1932 führte Walther Funk, der ehemalige überaus aktiven »Nationalsozialistischen Betriebszellenorga- Chefredakteur der »Berliner Börsen-Zeitung«, hier die Ge- nisation« (NSBO) beim am 3 .N ovember begonnenen Berliner schäfte eines Leiters der Kommission für Wirtschaftspolitik, Verkehrsarbeiterstreik für erneut aufflammendes Misstrauen nachdem er von Hitler bereits im Juni des gleichen Jahres bei den nazi-freundlichen Industriellen und Bankiers . Denn »für das Gesamtgebiet der Wirtschaft dem Reichsorgani- Gauleiter Joseph Goebbels hatte im »Angriff« einen Streikauf- sationsleiter«, also Gregor Strasser, »als Berater zur Sei- ruf für die Mitglieder und Anhänger der NSDAP publiziert; te gestellt«77 worden war . Funk hatte sich bei den Herren zwar streikten Kommunisten bzw . Sozialdemokraten und Na- der Großindustrie und der Banken mit seinen »schwungvoll« zis nicht gemeinsam, aber parallel im weltweit größten kom- formulierten Leitartikeln einen Namen gemacht, in denen munalen Betrieb, der Berliner Verkehrs-Gesellschaft (BVG) .82 er gleichermaßen einen nachhaltigen Demokratie- wie den Auch Reichspräsident von Hindenburg war irritiert und be- massiven Sozialabbau propagierte, aber auch, wenn es nö- fragte Adolf Hitler bei einem Gespräch im Reichspräsidenten-

14 15 Palais über die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Mo- Springorum war seit 1920 Vorstandsvorsitzender der Hoesch tive: »Auf eine Frage des Herrn Reichspräsidenten, warum die AG . Zugleich gehörte er dem Hauptvorstand des Vereins nationalsozialistische Bewegung sich bei dem Berliner Ver- Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, der Ruhrlade sowie kehrsstreik beteiligt hat, erwiderte Adolf Hitler: »Die Leute dem Vorstand des RDI an . sind sehr erbittert. Wenn ich meine Leute von der Beteili- gung abgehalten hätte, hätte der Streik doch stattgefun- Besonders wichtig für den Eindruck, den die Eingabe auf Hin- den, aber ich hätte meine Anhänger in der Arbeiterschaft denburg hinterlassen sollte, waren die Unterschriften promi- verloren; das wäre auch kein Vorteil für Deutschland.«83 nenter Großagrarier . Hier finden wir den schlesischen Ma- Eine derartige Aussage, die wahrheitsgemäß Zeugnis von gnaten Eberhard Graf von Kalckreuth, den Präsidenten des der Doppelbödigkeit der antikapitalistischen und sozialen Reichslandbundes (RLB), der einflussreichen Interessenor- Propaganda der faschistischen Partei ablegt, konnte na- ganisation der Großagrarier, denen sich der Reichspräsident türlich nicht öffentlich, sondern nur hinter fest verschlos- verbunden fühlte und für deren Anliegen er stets ein offe- senen Türen formuliert werden . Sie dokumentiert im Übri- nes Ohr hatte . Kalckreuth war zudem Mitglied des Zentral- gen das Dilemma der NSDAP-Führung, einerseits von Zeit ausschusses der Deutschen Reichsbank und Aufsichtratsvor- zu Zeit den Stimmungen ihrer Massenbasis nachzugeben, sitzender der Deutschen Landwirtschaftsbank AG . Joachim aber andererseits ihre großindustriellen Protektoren nicht zu von Oppen-Dannenwalde, Sohn eines Generalleutnants, war verprellen, wenn z .B . die Beteiligung von Nazi-Arbeitern an Großgrundbesitzer in der Ostprignitz und seit 1921 Präsident Arbeitskämpfen außer Kontrolle geraten sollte . Dieser Fall der Landwirtschaftskammer Brandenburg sowie Mitglied wäre eingetreten, wenn gemeinsame Streikleitungen und des Deutschen Landwirtschaftsrates . Beide Adligen hatten Aktionen mit sozialdemokratischen oder kommunistischen zudem in preußischen Garderegimentern gedient; für den Kollegen, gegen den erklärten Willen der Gauleitung, durch greisen Generalfeldmarschall a . D . von Hindenburg stets ein die streikenden Nazis praktiziert worden wären . Konnte ei- gutes Argument, um die Ansichten derartiger Herrschaften ne solche Entwicklung angesichts der nicht im Voraus zu ernst zu nehmen . Weiterhin hatte Robert Graf von Keyser- kalkulierenden Dynamik, die groß dimensionierten Arbeits- lingk die Eingabe unterzeichnet, ein Jurist mit langer Karri- kämpfen stets immanent ist, und angesichts der kommu- ere im preußischen Staatsdienst . Unter anderem war er als nistischen Streiktaktik, durch einheitliche Kampfaktionen Referent im Landwirtschaftsministerium tätig gewesen und die der NSBO angehörenden Arbeiter dem politischen und avancierte schließlich zum Regierungspräsidenten von Kö- ideologischen Einfluss der Naziführung zu entreißen, ausge- nigsberg . Im Weltkrieg hatte er zeitweilig Hindenburgs Stabs- schlossen werden? chef, den General Erich Ludendorff, bei der Lösung volks- und Ohnehin konnten zugespitzte Auseinandersetzungen inner- agrarwirtschaftlicher Fragen beraten . In der Weimarer Repu- halb der faschistischen Bewegung zu keiner Zeit wieder auf- blik zählte Graf Keyserlingk zu den Mitbegründern der DNVP, flammen, wie z .B . die »Stennes-Revolte« der Berliner SA in wurde Mitglied des Preußischen Staatsrates und 1921 zum den Jahren 1930/1931 bewiesen hatten .84 Mitglied des Vorstandes landwirtschaftlicher Arbeitgeberver- Der Handlungsbedarf für die Herren des Keppler-Kreises bände gewählt . 1927 gehörte er der deutschen Delegation war jedenfalls zu Beginn des Novembers 1932 größer denn auf der Genfer Weltwirtschaftskonferenz an . Schließlich hat- je . Erarbeitet wurde der Text der Industriellen-Eingabe von te der preußische von Rohr-Manze die Eingabe an Hin- Hjalmar Schacht . Unterschrieben hatten diese Petition bzw . denburg unterschrieben, der Vorsitzende des Schlesischen sich schriftlich mit ihrem Anliegen einverstanden erklärt, oh- Landbundes . ne selbst zu unterzeichnen, die bereits genannten Mitglieder des Keppler-Kreises . Hinzu kamen mit Paul Reusch und Fritz Für den Reichspräsidenten war ebenfalls wichtig, dass einige Springorum zwei weitere führende Repräsentanten der rhei- der Unterzeichner dem »Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten« nisch-westfälischen Schwerindustrie . verbunden waren, dem von Hindenburg als Ehrenmitglied an- Reusch gehörte seit 1905 dem Vorstand der Gutehoffnungs- gehörte . Mit Graf v . Kalckreuth, Fritz Springorum, Otto Stein- hütte an, den er inzwischen als Vorsitzender leitete . Außer- brinck und Dr . Lübbert, einem mittelständischen Unterneh- dem amtierte er als Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen mer der Baubranche, gehörten vier Persönlichkeiten, die Werft AG und als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Industriellen-Eingabe ihre Zustimmung gegeben hatten, der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN) . Weitere Auf- dem Wirtschaftsrat des »Stahlhelms« an .85 Ohnehin wurden sichtsratsmandate nahm er u .a . bei der Deutschen Bank, der mit größter Selbstverständlichkeit führende Industrielle und AEG, der Bayerischen Vereinsbank und bei der Philipp Holz- Großgrundbesitzer, deren größte Sympathien am Ende der mann AG wahr . Die herausragende Bedeutung dieses Indus- Weimarer Republik Hitler und der faschistischen Bewegung triellen wird noch durch seine Mitgliedschaft im Präsidium galten, wie z .B . Fritz Thyssen, Albert Vögler, von Rohr-Manze, des RDI, in der Ruhrlade und durch seine Funktion als Vize- Fritz Springorum, Emil Kirdorf, Hjalmar Schacht und Emil Ge- präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages unter- org v . Stauß, seit jeher als Ehrengäste zu Großveranstaltun- strichen . gen des »Stahlhelms« eingeladen .86

16 Eingabe von Industriellen und Großagrariern an Reichs- zes die unerlässliche Grundlage für einen Wiederaufstieg präsident vom 19. November 1932, der deutschen Wirtschaft erst schafft. Wir wissen, dass überreicht von Friedrich Reinhart, Vorstandsmitglied der dieser Aufstieg noch viele Opfer erfordert. Wir glauben, Commerzbank, an den Staatssekretär im Reichspräsidial- dass diese Opfer nur dann willig gebracht werden kön- amt nen, wenn die größte Gruppe dieser nationalen Bewegung führend an der Regierung beteiligt wird. Die Übertragung »Hochzuverehrender Herr Reichspräsident! der verantwortlichen Leitung des mit den besten sachli- Gleich Eurer Exzellenz durchdrungen von heißer Liebe zum chen und persönlichen Kräften ausgestatteten Präsidial- deutschen Volk und Vaterland, haben die Unterzeichneten die kabinetts an den Führer der größten nationalen Gruppe grundsätzliche Wandlung, die Eure Exzellenz in der Führung wird die Schwächen und Fehler, die jeder Massenbewe- der Staatsgeschäfte angebahnt haben, mit Hoffnung begrüßt. gung notgedrungen anhaften, ausmerzen und Millionen Mit Eurer Exzellenz bejahen wir die Notwendigkeit einer vom Menschen, die heute noch abseits stehen, zu bejahender parlamentarischen Parteiwesen unabhängigen Regierung, wie Kraft mitreißen. sie in den von Eurer Exzellenz Gedanken eines Präsidialkabi- netts zum Ausdruck kommt. Der Ausgang der Reichstagswahl In vollem Vertrauen zu Eurer Exzellenz Weisheit und Eurer vom 6. November d. J. hat gezeigt, dass das derzeitige Kabi- Exzellenz Gefühl der Volksverbundenheit begrüßen wir Eure nett, dessen aufrechten Willen niemand im deutschen Volk be- Exzellenz mit größter Ehrerbietung. zweifelt, für den von ihm eingeschlagenen Weg keine ausrei- chende Stütze im deutschen Volk gefunden hat, dass aber das Dr. Hjalmar Schacht, Berlin; Kurt Freiherr von Schröder, Köln; von Eurer Exzellenz gezeigte Ziel eine volle Mehrheit im deut- Fritz Thyssen, Mühlheim; Eberhard Graf von Kalckreuth, Ber- schen Volk besitzt, wenn man – wie es geschehen muss – von lin; Friedrich Reinhart, Berlin; Kurt Woermann, Hamburg; Fritz der staatsverneinenden Kommunistischen Partei absieht. Beindorff, Hamburg; Kurt von Eichborn, Breslau; Emil Helffe- rich, Hamburg; Ewald Hecker, Hannover; Carl Vincent Krog- Gegen das bisherige parlamentarische Parteiregime sind nicht mann, Hamburg; Dr. Erwin Lübbert, Berlin; Erwin Merck, Ham- nur die Deutschnationale Volkspartei und die ihr nahestehen- burg; Joachim von Oppen, Dannenwalde; Rudolf Ventzky, den kleinen Gruppen, sondern auch die Nationalsozialistische Esslingen; Franz Heinrich Witthoefft, Hamburg; August Ros- Deutsche Arbeiterpartei grundsätzlich eingestellt und haben terg, Berlin; Robert Graf von Keyserlingk, Cammerau von Rohr- und haben damit das Ziel Eurer Exzellenz bejaht. Wir halten Manze; Engelbert Beckmann, Hengstey« dieses Ergebnis für außerordentlich erfreulich und können uns nicht vorstellen, dass die Verwirklichung dieses Zieles nun- BArch, NS 20/76, Bl . 28 f . Auch zitiert in: Eberhard Czichon: mehr an der Beibehaltung einer unwirksamen Methode schei- Wer verhalf Hitler zur Macht? Zum Anteil der deutschen In- tern sollte. dustrie an der Zerstörung der Weimarer Republik, 2 . Aufl ., Köln 1971, S . 69ff . Hervorhebungen von mir – R .Z . Es ist klar, dass eine des öfteren wiederhole Reichstagsauflö- sung mit sich häufenden, den Parteikampf immer mehr zuspit- zenden Neuwahlen nicht nur einer politischen, sondern auch jeder wirtschaftlichen Beruhigung und Festigung entgegenwir- Aus dem Schreiben Friedrich Reinharts an Otto Meissner ken muss. Es ist aber auch klar, dass jede Verfassungsände- vom 21. November 1932 rung, die nicht von breitester Volksströmung getragen ist, noch schlimmere wirtschaftliche, politische und seelische Wirkun- »(…) Ich habe den Auftrag, Ihnen, Herr Staatssekretär, namens gen auslösen wird. der Herren Dr. Albert Vögler, Dortmund, Kommerzienrat Dr. Paul Reusch, Oberhausen, Dr. Fritz Springorum, Dortmund, Wir erachten es deshalb für unsere Gewissenspflicht, Eure Ex- zur Weitergabe an den Herrn Reichspräsidenten mitzuteilen, zellenz ehrerbietigst zu bitten, dass zur Erreichung des von dass diese Herren grundsätzlich voll und ganz auf dem Boden uns allen unterstützten Zieles Eurer Exzellenz die Umgestal- der Eingabe stehen, aber nicht zu unterzeichnen wünschen, da tung des Reichskabinetts in einer Weise erfolgen möge, die die sie politisch nicht hervortreten wollen. Das Originalschreiben größtmögliche Volkskraft hinter das Kabinett bringt. des Herrn Vögler mit entsprechendem Inhalt werde ich morgen vorlegen können. Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung Wir bekennen uns frei von jeder engen parteipolitischen Ein- bin ich Ihr ergebenster Friedrich Reinhart.« stellung. Wir erkennen in der nationalen Bewegung, die durch unser Volk geht, den verheißungsvollen Beginn ei- Zitiert nach: Eberhard Czichon: Wer verhalf Hitler zur Macht? ner Zeit, die durch Überwindung des Klassengegensat- S . 71 f .

17 Noch zwei Monate sollte es dauern, bis das mit der »Indus- Quandts hinzu, ist dieser Aussage von Dirk Stegmann unein- triellen-Eingabe« verfolgte Ziel, die Berufung Hitlers zum geschränkt zuzustimmen . Reichskanzler durch Paul von Hindenburg, schließlich reali- siert werden konnte . Zweitens Bei dem fintenreichen Intrigenspiel, in dessen Ergebnis der Die Bedeutung der Mitglieder des »Keppler-Kreises« ergab lange widerstrebende Reichspräsident schließlich Hitler am sich nicht allein wegen ihrer jeweils geschäftsführenden 30 . Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, waren die Funktion in großen Konzernen . Sie waren auch anderweitig Hauptrollen vor allem Kurt von Schröder, Friedrich Reinhart, in leitenden Stellungen tätig – in Aufsichtsräten anderer Un- Ewald Hecker, Oskar von Hindenburg, dem eingeheirateten ternehmen, häufig als deren Vorsitzende; in leitenden Positi- Inhaber der Henkell-Sektkellerei und späteren Reichsaußen- onen der wichtigsten industriellen Interessenverbände, aber minister sowie in besonderer Weise auch in öffentlichen Körperschaften . In schwierigen wirt- dem ehemaligen Reichskanzler Franz v . Papen zugewiesen schafts- und finanzpolitischen Situationen, nicht zuletzt wäh- worden . Im Hintergrund wirkten die Mächtigen der rheinisch- rend der Bankenkrise im Sommer 1931, wurden z .B . Vögler, westfälischen Schwerindustrie . In der Kölner Villa von Schrö- Reinhart und Springorum von Reichskanzler Heinrich Brüning ders und im Hause Ribbentrops in der Lentzeallee in Ber- als Ratgeber in Anspruch genommen . Einige von ihnen galten lin-Dahlem wurden streng vertrauliche Verhandlungen und als ministrabel . Es handelte sich bei ihnen um großindustri- Gespräche zur Installierung Hitlers als Reichskanzler geführt . elle Multifunktionäre, die maßgeblich an der Erarbeitung und In ihrem Ergebnis wurde das Einverständnis erzielt, Franz v . Umsetzung der unternehmerischen Strategie gegenüber der Papen den Posten des Vizekanzlers zu übertragen, den DN- Reichsregierung, den Parteien und dem Reichstag sowie der VP-Vorsitzenden Alfred Hugenberg als Reichswirtschafts- Öffentlichkeit und anderen Verbänden, nicht zuletzt den Ge- und Ernährungsminister und Paul Freiherr v . Eltz-Rübenach werkschaften, beteiligt waren . Sie waren es gewohnt, erfolg- als Reichsverkehrsminister zu berufen . Der »Stahlhelm«-Vor- reich an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Politik zu sitzende Franz Seldte wurde Reichsarbeitsminister . Die par- handeln . Offenbar kreuzten sich bei nicht wenigen von ihnen teilosen Konservativen Lutz Graf Schwerin v . Krosigk und im Verlaufe ihrer Karrieren immer wieder die Wege, existier- Konstantin Freiherr von Neurath verblieben in ihren Ämtern ten auch verwandtschaftliche Beziehungen, Mitgliedschaften als Reichsfinanz- bzw . Reichsaußenminister . Das Amt des in exklusiven Zirkeln (u .a . »Deutscher Herrenklub« in Berlin89, Reichswehrministers übertrug Hindenburg dem General von »Ruhrlade«) sowie parallel verlaufende militärische Karrieren . Blomberg, einem glühenden Anhänger Hitlers und seiner fa- Um diese Netzwerke unterschiedlichster Art auszuleuchten, schistischen Partei . Neben Hitler war mit Hermann Göring sollten zukünftig eingehende Forschungsarbeiten unternom- lediglich ein weiteres Mitglied der NSDAP in das Kabinett be- men werden . rufen worden – ohne Portefeuille, aber zugleich mit dem Amt des Preußischen Innenministers versehen . Drittens Über den genauen Hergang der Gespräche, an denen zeit- Die wichtigste Trennlinie zwischen den Industriellen und Ban- weilig auch Otto Meißner teilnahm, der Staatssekretär Hin- kiers, die auf die Konstituierung eines faschistischen Regi- denburgs, existieren leider nur lückenhafte Aufzeichnungen mes in Deutschland orientierten, bildete die Frage, ob die- und Dokumente 87. Am Ende waren es wohl vor allem Franz v . ser Faschismus »von unten« oder »von oben«, d .h . mit oder Papen und Oskar v . Hindenburg, die beim Reichspräsidenten ohne Massenbewegungen, installiert werden sollte . Während grünes Licht für die Übertragung der Regierungsmacht an ein des Jahres 1932 existierten diese unterschiedlichen Konzep- von Hitler geführtes Kabinett bewirkten . tionen längere Zeit als »Modell Papen« und »Modell Hitler« . Die Nazis hatten jetzt, frei nach Goebbels, »den kleinen Fin- Das »Modell Schleicher«, das mit dem weiter oben skizzier- ger« bekommen, bald hatten sie »die ganze Hand« ergriffen . ten »Querfront«-Konzept auf eine faktische Spaltung sowohl der faschistischen Bewegung als auch der Sozialdemokratie90 ausgerichtet war, stellte letztlich ein mixtum compositium der Zusammenfassung beiden Grundmuster dar . Im Geschäftsführenden Ausschuss des Alldeutschen Verban- Erstens des kam es am 9 .Sept ember 1932 zu einer hitzigen Debatte, Der »Keppler-Kreis« stellte einen »halbwegs repräsentativen in deren Verlauf die entsprechenden Argumente in aller Deut- Querschnitt durch Großindustrie, Handel und Bankwelt«88 lichkeit und in paradigmatischer Weise ausgetauscht wurden . dar . Erweitert man den Blick auf die nicht zu diesem Gremi- Der Vorsitzende Heinrich Claß erklärte unmissverständlich: um gehörenden Industriellen, Bankiers und Großagrarier, die »Man muss sich darüber klar sein, dass auch eine nationa- aber ihre Unterschrift unter die Industriellen-Eingabe an Hin- le Massenpartei ›Masse‹ ist . Die Geschichte aber lehrt, dass denburg vom 19 . November 1932 gesetzt oder sich mit ihr ein Volk nur glücklich sein kann, wenn es von wenigen zu sei- einverstanden erklärt hatten, nimmt man auch die bei Hitler nem Glück gezwungen wird .«91 Demgegenüber erklärte Hitlers antichambrierenden Herren Schmitz und v . Stauß sowie die langjähriger Mitstreiter, der Verleger Julius Lehmann aus Mün-

18 chen: »Was treibt Hitler zu seiner ganzen Politik? Der Grund- grund der Enttäuschung über die etablierten Parteien, … Hit- gedanke ist, aus dem deutschen Volk ein einiges Volk von ler vorübergehend ihre Stimme gaben, für die Entwicklung zur Brüdern zu machen, er will die Arbeiterschaft wieder zu natio- faschistischen Diktatur verantwortlich zu machen . Die NS- nalem Denken erziehen . Er tut etwas, was wir seit vierzig Jah- DAP hat bei Wahlen vor der Machtergreifung niemals mehr ren erstrebt haben, was uns aber nie gelungen ist. (…) Dass Wähler hinter sich zu bringen vermocht als die beiden Links- Hitler es fertig gebracht hat, 13 Millionen hinter sich zu brin- parteien zusammen . (…) Die politische Verantwortung für gen, ist eine Leistung, auf die ich mit Bewunderung blicke .«92 die nationalsozialistische Machtergreifung liegt primär bei den traditionalen Eliten …«96 Viertens Die Vorstellung, Hitler und die Seinen seien bloße Marionet- Henry A . Turner, einer der professionellen Weißwäscher des ten in der Hand mächtiger Großindustrieller gewesen, ist an- deutschen Großkapitals, schrieb einst: »Die launenhafte For- gesichts der anhaltenden und widersprüchlichen, von vielen tuna stand eindeutig auf Hitlers Seite .«97 Müsste es nicht ernsten Vorbehalten geprägten Debatten innerhalb der deut- stattdessen heißen: »Besonders reaktionäre Kreise der deut- schen Großbourgeoisie über ihr Verhältnis zur NSDAP nicht schen Industrie- und Bankenwelt und des Großgrundbesitzes realistisch . Es gilt nach unserer Auffassung vielmehr die diffe- bedienten sich Hitlers und der NSDAP, um ihre ökonomischen renzierende Aussage von Wolfgang Ruge: »Das Großkapital ist und politischen Interessen endlich kompromisslos in die Tat nicht in der Lage, sich einfach Regierungschefs … zu kaufen, umsetzen zu können .« die die rechtlichen Grundlagen für die profitabelsten Ausbeu- Es scheint an der Zeit zu sein, wenige Monate vor dem 80 .Jah - tungsbedingungen schaffen, sondern muss … bestrebt sein, restag der Machtübergabe an die deutschen Faschisten, an die solche Politiker an die Exekutivgewalt heranzuführen, die die Verantwortung derjenigen zu erinnern, ohne die Hitler und sei- Profitschöpfung und den Expansionsdrang auch ideologisch, ne Partei in Deutschland nie die Macht hätten erringen und die massenpolitisch und organisatorisch abzusichern vermögen, Welt in den furchtbarsten aller Kriege hätten stürzen können . das heißt, imstande sind, mit hunderterlei, zum Teil auch ris- kanten oder imperialistische Teilinteressen beeinträchtigen- Reiner Zilkenat den Mitteln beträchtliche Teile der Werktätigen zur aktiven Unterstützung ihrer Herrschaft zu bewegen «. 93 Ein gewissen »Restrisiko« für die Herren des großen Kapitals blieb auch nach dem 30 . Januar 1933 bestehen, dass erst 1 Max Horkheimer: Die Juden und Europa, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd . VIII, 1939, H . 1–2, Reprint München 1970, S . 115 f . mit den Ereignissen des so genannten Röhm-Putsches auf 2 Siehe Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, blutige Weise im Juni 1934 aus der Welt geschafft werden S .9 . Ebenda werden die zu dieser Thematik publizierten Ergebnisse der DDR- 94 Geschichtswissenschaft ebenso unterschiedslos wie ignorant als »in der Tat konnte . Dennoch: Ohne das aktive Eingreifen des Keppler- wissenschaftlich nicht viel wert« disqualifiziert . Einige dieser »wertlosen« Pu- Kreises und seines Umfeldes hätte es zu Beginn des Jahres blikationen werden wir in den Anmerkungen dieses Beitrages aufführen . 1933 wohl kaum die Errichtung einer faschistischen Diktatur 3 Henry A . Turner: Faschismus und Kapitalismus in Deutschland . Studien zum Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaft, Göttingen 1972, S. 7 . in Deutschland gegeben . 4 Siehe Kurt Gossweiler: Kapital, Reichswehr und NSDAP 1919–1924, 2 ., durch- gesehene Aufl ,. Berlin 1984, S . 339 ff . und 558 ff; Helmuth Auerbach: Hitlers politische Lehrjahre und die Münchner Gesellschaft 1919–1923 . Versuch ei- Fünftens ner Bilanz anhand der neueren Forschung, in: Vierteljahreshefte für Zeitge- Bei alledem bleibt festzuhalten, dass die Bankiers, Industriel- schichte, 25 . Jg ,. 1977, H . 1, S . 1 ff ., bes . S .31 f . len und Großgrundbesitzer, die für die Übertragung der Regie- 5 Siehe Kurt Gossweiler: Hitler und das Kapital 1925–1928, in: derselbe: Auf- sätze zum Faschismus . Mit einem Vorwort von Rolf Richter, 2 ,. durchgesehene rungsmacht an die deutschen Faschisten plädierten, offenbar Aufl ,. Berlin 1988, S . 486 ff . keine ernsthaften Probleme mit dem beispiellosen Terror der 6 Zitiert nach ebenda, S . 500 . 7 Zitiert nach ebenda . SA und anderer Gliederungen der NSDAP hatten, der gegen 8 Siehe für die Zeit der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise das aussagekräf- die Arbeiterbewegung und in wachsendem Maße auch gegen- tige Material in: Politik und Wirtschaft in der Krise 1930–1932 . Quellen zur über Juden ausgeübt wurde . Unterstützen sie nicht gerade Ära Brüning, bearb . v . Ilse Maurer und Udo Wengst unter Mitwirkung v . Jürgen Heideking, Düsseldorf 1980, 2 Teile . deshalb die Nazis, weil und nicht obwohl dieser Terror prakti- 9 Siehe Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform ziert wurde und er Rückschlüsse auf noch radikalere, von ih- 1929 . Eine Denkschrift des Präsidiums des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Berlin 1929 (Veröffentlichungen des RDI, Nr . 49) . Ähnlich: Die Re- nen nicht unerwünschte Verfahrensweisen in einem »Dritten form der Sozialversicherung – eine Schicksalsfrage des deutschen Volkes . Reich« unter der Kanzlerschaft Hitlers zuließ?95 Vorschläge der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin 1930 Wie auch immer: Letztlich belegen die Verhaltensweisen der sowie: Abänderungsvorschläge der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeber- verbände zur Schlichtungsordnung, Berlin, im April 1929 (Exemplar in: Bun- Eliten in den Großkonzernen und bürgerlichen Parteien, in der desarchiv Berlin – im Folgenden: BArch – R 8034 II/4208, Bl . 178 ff .) . Zur protestantischen Kirche, an Hochschulen und Universitäten, Vorbereitung und Bedeutung der Denkschrift des RDI sowie zur bereits an der Jahreswende 1928/1929 begonnenen Kapitaloffensive siehe Reiner Zilkenat: in der Verwaltung und in der Justiz, in der Reichswehr und in »Der Feind steht links!« Kapitaloffensive gegen Demokratie und Arbeiterbewe- vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie zutreffend gung 1929, in: Rundbrief, H . 3–4/2009, S . 26 ff . die Aussage von Hans Mommsen ist: »Es wäre verfehlt, den 10 U nverständlich ist, dass Reinhard Neebe behauptet, die in dieser Denkschrift vorgeschlagenen Maßnahmen, seien »durchaus innerhalb des politischen Sys- Millionen, die aus Verzweiflung über ihre materielle Lage, auf- tems von Weimar durchzusetzen« gewesen . Reinhard Neebe: Konflikt und Ko-

19 Vorwärts, Nr . 376, 11 .8 .1932, S .2

20 operation 1930–1933: Anmerkungen zum Verhältnis von Kapital und Arbeit in 20 Berliner Lokal-Anzeiger, Nr . 397, 23 . August 1930: »Eine Erklärung Kirdorfs« . der Weltwirtschaftskrise, in: Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat . Zum Der spätere Nazi-Journalist August Heinrichsbauer, der über exzellente Verbin- Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft, hrsg . dungen zu den Mächtigen an Rhein und Ruhr verfügte und in deren Auftrag v . Werner Abelshauser, Stuttgart 1987, S . 229 . Hervorhebung v . Verf . Dies ist einen Pressedienst (»Rheinisch-Westfälische Wirtschaftskorrespondenz«) he- um so weniger zutreffend, als die Kommentierungen dieser Denkschrift wäh- rausgab und redigierte sowie regelmäßig als Autor in der von der Vereinigung rend der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie im Dezember der Deutschen Arbeitgeberverbände herausgegebenen Zeitschrift »Der Arbeit- 1929 in Berlin durch führende Industrielle und in der »unternehmerfreundli- geber« hervortrat, würdigte auf der Titelseite der »Berliner Börsen-Zeitung« Kir- chen« Presse (u .a . Deutsche Allgemeine Zeitung, Berliner Börsen-Zeitung) an dorfs »Verdienste« anlässlich seines 80 . Geburtstages: »Einem Großen zu Eh- Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig ließen . Ähnlich wie Neebe wird auch in ren! Emil Kirdorf zum 80 . Geburtstag«, in: Berliner Börsen-Zeitung, Nr . 165, der ausführlichen Analyse von »Aufstieg oder Niedergang« bei Michael Grüb- 8 . April 1927 . Hier hieß es u .a . in unfreiwilliger Komik: »Weder geldlicher Ge- ler: Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning . Vom winn noch Hang zum Beherrschen sind für das Lebenswerk Kirdorfs ausschlag- Ende der Großen Koalition 1929/1930 bis zum Vorabend der Bankenkrise gebend gewesen, sondern die reineren Tugenden der pflichtbewussten Tat, des 1931 . Eine Quellenstudie, Düsseldorf 1982, S . 55 ., die Sprengkraft der hier freudigen Schaffens an der Wirtschaft … Sozial-reaktionär ist Kirdorf nie gewe- niedergelegten Forderungen für das politische und soziale System der Weima- sen .« Er sei vielmehr der »Repräsentant des vollendetsten Arbeitertypus .« rer Republik und die ihnen immanente Perspektive eines autoritären Regimes 21 Siehe Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker: Geschichte der NSDAP 1920– verkannt . Siehe zur RDI-Tagung im September 1929 in Düsseldorf, auf der die 1945, Köln 1981, S .88 ff . Publikation einer grundlegenden Denkschrift zur Wirtschafts- und Finanzpo- 22 Zitiert nach dem Quellenanhang bei Reinhard Kühnl: Die nationalsozialistische litik beschlossen und mit geharnischten Reden führender Industrieller vor- Linke, Meisenheim am Glan 1966, S . 289 . bereitet wurde: Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen 23 V orwärts, Nr .537, 13 .November 1928 . Industrie vom 20 . und 21 . September 1929 in Düsseldorf, Berlin 1929 (Veröf- 24 Siehe Henry A . Turner: Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, S .Siehe fentlichungen des RDI, Nr . 48) . Siehe auch: Vorwärts, Nr . 440, 22 . Septem- auch Wolfgang Ruge: Die »Deutsche Allgemeine Zeitung« und die Brüning-Re- ber 1929: »Abgesteckte Kampfziele . Zur Unternehmertagung in Düsseldorf«; gierung . Zur Rolle der Großbourgeoisie bei der Vorbereitung des Faschismus, ebenda, Nr . 455, 28 . September 1929: »Vor schweren Kämpfen . Das Groß- in: ZfG, 16 . Jg ., 1968, H . 1, S . 19 ff . kapital rüstet zum Angriff« . Zur Dezember-Tagung des RDI, auf der die Denk- 25z Siehe .B . Bundesarchiv – Zwischenarchiv Hoppegarten – R 13 I/403, Bl . 44: schrift präsentiert wurde, siehe Vorwärts, Nr . 583, 23 . Dezember 1929: »Die Aufzeichnung des Geschäftsführers des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlin- Tagung der Unternehmer« . dustrieller und Reichstagsabgeordneten der DNVP, Dr . Jakob W . Reichert, vom 11 Siehe hierzu Michael Schneider: Unternehmer und Demokratie . Die freien Ge- 3 . Dezember 1930 (Handschriftlicher Vermerk Reicherts: »Nicht für die Pres- werkschaften in der unternehmerischen Ideologie der Jahre 1918 bis 1933, se«), wo es um die in der »Ruhrlade« abgesprochene Strategie der Industriellen Bonn und Bad Godesberg 1975 . Siehe auch die folgenden Studien von Jürgen anlässlich des Ruhrbergarbeiterstreiks an der Jahreswende 1930/1931 ging . John: Verbandspolitik und Rechtsentwicklung 1922–1926 . Zur politischen Rol- 26 Hitler aus nächster Nähe . Aufzeichnungen eines Vertrauten (Otto Wagener) le der Spitzenverbände des deutschen Monopolkapitals in der Weimarer Re- 1929–1932, hrsg . v . Henry A . Turner, Frankfurt a . M . u .a . 1978, S .44 1 . Eben- publik, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd . 24, 1981, S . 127 ff .; Die Faschismus- da, S .390, vermerkt Wagener, dass Göring »von der Ruhrindustrie« monatlich »Kritik« in der Zeitschrift »Der Arbeitgeber« . Zur Politik der Spitzenverbände 3 .000 Reichsmark zur Verfügung gestellt worden seien . der deutschen Monopolbourgeoisie 1923/1924–1932, in: Zeitschrift für Ge- 27 Siehe Thomas Trumpp: Zur Finanzierung der NSDAP, S . 229 . schichtswissenschaft (im Folgenden: ZfG), 30 . Jg ., 1982, H . 12, S . 1072 ff .; 28 Goebbels notierte über Thyssen am 18 . Januar 1932 in sein Tagebuch: »Er ist Industrieverbände und Politik . Entwicklungstendenzen im kapitalistischen der Schneidigste . Und er hat mich sehr gerne . Hat einen klaren Kopf .« Die Tage- Deutschland bis 1933, in: ZfG, 34 . Jg ., 1986, H . 11, S . 976 ff .; Ernst v . Borsigs bücher von Joseph Goebbels . Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hrsg . v . »Betrachtungen« zur Sozialpolitik 1927, in: ZfG, 37 .Jg ., 1989, H .1 2, S .1 083 ff . Elke Fröhlich, Teil I, Bd .II/2, bearb . v . Angela Hermann, München 2004, S .1 98 . 12 Siehe Reiner Zilkenat: »Eine schwarze Stunde für Deutschland!« Die NS- 29 Zitiert nach: Reinhard Neebe: Großindustrie, Staat und NSDAP 1930–1933 . DAP und die Reichstagswahlen vom 14 . September 1930, in: Rundbrief, Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise Heft 3–4/2010, S . 60 ff . der Weimarer Republik, Göttingen 1981, S . 86 . Zur zeitgenössischen Bericht- 13 Gerald D . Feldmann: Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft erstattung über diesen Vorfall siehe: Der Tag, Nr . 284, 28 . November 1930 1933–1945, München 2001, S . 78 . sowie Berliner Lokal-Anzeiger, Nr .56 1, 28 .N ovember 1930 . Bei dieser Tagung 14 Die in diesem Beitrag angeführten Funktionen von Großindustriellen, Mana- war auch Hans Luther zugegen, der Präsident der Deutschen Reichsbank . gern und Bankiers, die den Faschismus unterstützten, habe ich folgenden 30 Siehe Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934 (Taschenbuchausgabe), Mün- zeitgenössischen Veröffentlichungen entnommen: Handbuch der deutschen chen 1972, Bd . 2, u .a . S . 442, 479 f ., 542 f . und 551 . Wirtschaft 1927, hrsg . v . Alfons Nobel, Berlin und Leipzig 1927; Deutscher 31 Der Angriff, Nr .1, 2 . Januar 1932: »Die zweite Angriffswelle« . Wirtschaftsführer . Lebensgänge deutscher Wirtschafts-Persönlichkeiten, be- 32 Siehe hierzu Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde . Gewalt und Gemein- arb . v . Georg Wenzel, Hamburg u .a . 1929; Handbuch der deutschen Gesell- schaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln u .a . 2002; schaft . Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild, Berlin 1931, 2 Oliver Reschke: Der Kampf der Nationalsozialisten um den roten Friedrichs- Bde .; Degeners Wer ist’s?, verschiedene Jahrgänge . Außerdem: Neue Deut- hain (1925–1933), Berlin 2004; derselbe: Der Kampf um die Macht in einem sche Biografie, diverse Bände; Hermann Weiß, Hrsg .: Biographisches Lexikon Berliner Arbeiterbezirk . Nationalsozialisten am Prenzlauer Berg 1925–1933, zum Dritten Reich, Frankfurt a . M . 2002 . Herangezogen wurden auch zeitge- Berlin 2008; Reiner Zilkenat: Die SA – Bürgerkriegsarmee und Massenorga- nössische Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sowie Protokolle von Verbands- nisation des deutschen Faschismus, in: Rundbrief, H . 4/2004, S . 29 ff . Zum tagungen . Angaben aus der Sekundärliteratur wurden in der Regel nicht über- Gesamtzusammenhang politisch motivierter Gewalt in der Spätphase der nommen; bei sich widersprechenden Angaben, die nicht zweifelsfrei überprüft Weimarer Republik siehe Dirk Blasius: Weimars Ende . Bürgerkrieg und Politik werden konnten, werden die angeblich ausgeübten Funktionen nicht genannt . 1930–1933, Göttingen 2005 u ö. . 15 Siehe Henry A . Turner: Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, S .60 ff ,. 33 Siehe Reinhard Kühnl: Die nationalsozialistische Linke, S . 248 ff . und 292 ff der allerdings die bedeutsame Rolle Kirdorfs, Adolf Hitler und seine Partei in sowie Markus März: Nationale Sozialisten in der NSDAP . Strukturen, Ideolo- den Kreisen der Mächtigen von Rhein und Ruhr »gesellschaftsfähig« zu ma- gie, Publizistik und Biographien des national-sozialistischen Strasser-Kreises chen, sehr stark relativiert . Dagegen wird die große Autorität und der Einfluss von der AG Nordwest bis zum Kampf-Verlag 1925–1930, Graz 2010, S .332 ff . Kirdorfs unter den Großindustriellen im rheinisch-westfälischen Industriege- 34 Siehe Der Nationale Sozialist, Folge 110, 3 . Juli 1930: Otto Strasser: »Die So- biet angemessen bewertet bei Kurt Gossweiler, Hitler und das Kapital 1925– zialisten verlassen die NSDAP« . 1928, S . 479 f ., 483 f ., 486 ff ., bes . 492 ff . 35 Siehe Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker: Adolf Hitler . Eine politische Bio- 16 Siehe Johannes Leicht: Heinrich Claß 1868–1953 . Die politische Biographie graphie, Leipzig 1999, S .1 63 ff ;. Kurt Gossweiler: Die Strasser-Legende . Aus- eines Alldeutschen, Paderborn 2012, S . 116 f ., 173 f ., 212 f ., 216 f ., 230 f ., und einandersetzung mit einem Kapitel des deutschen Faschismus, Berlin 1994, 248 f . bes . S . 18 ff . Siehe auch die Materialien zu den »Revolutionären Nationalso- 17 Siehe BArch, R 8048/256, Bl . 71 ff . zialisten« um Otto Strasser in: BArch, R 8034 II/8692 und R 1501/126071a, 18 Siehe Rheinisch-Westfälische Zeitung, Nr . 377, 28 . Juli 1935: »Begegnung mit darunter auch seine Schrift »Ministersessel oder Revolution? Eine wahrheits- Adolf Hitler . Eine Unterredung mit Emil Kirdorf« und Thomas Trumpp: Zur Finan- gemäße Darstellung meiner Trennung von der NSDAP«, Berlin o J. . (1930) . zierung der NSDAP durch die deutsche Großindustrie . Versuch einer Bilanz, in: 36 Siehe Axel Schildt: Militärdiktatur mit Massenbasis? Die Querfrontkonzeption Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 32 .Jg ., 1981, H .4, S .226 . Das Ge- der Reichswehrführung am Ende der Weimarer Republik, Frankfurt a .M . und spräch Hitlers mit Kirdorf fand am 4 . Juli 1927 in der Villa von Elsa Bruckmann New York 1981; Hans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von statt, der Ehefrau des wohlhabenden Münchner Verlegers Hugo Bruckmann . Weimar, 2 .Ausgabe, München 2001, S .593 ff . 19 Siehe Henry A . Turner: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 37 Siehe Verhandlungen des Reichstags, Bd . 446, 62 . Sitzung, 10 . Mai1932, 1985, S . 416 . S . 2510 ff ., wo er zum Entsetzen der industriellen Helfershelfer der NSDAP

21 »die große antikapitalistische Sehnsucht« be- schwor, »die heute vielleicht schon 95 Prozent unseres Volkes bewusst und unbewusst erfasst hat« (S . 2511), ferner die Führung des ADGB für ihre Arbeitsbeschaffungsvorschläge aus- drücklich lobte, ja ihnen sogar ein kaum verhüll- tes Angebot zur Zusammenarbeit unterbreite- te (S . 2512) sowie für eine staatliche Kontrolle des Lebensmittelmarktes plädierte (S . 2517) . Darüber hinaus steigerte er sich zu der Aussa- ge, dass man bei »Arbeitsbeschaffungsplänen einen Begriff ganz und gar außer Kraft setzen muss, den Begriff der kapitalistischen Rentabili- tätsberechnungen . Es darf nicht danach gefragt werden, wie viel von dieser Arbeit dem Geldge- ber an Zinsen wieder in die Kasse zurückfließt« (S . 2519) . Auszüge aus Strassers Rede und aus der Replik Rudolf Hilferdings (SPD) finden sich im obigen »Zitatkasten« . Siehe auch Strassers bei Industriellen umstrittene Rede vom 20 . Ok- tober 1932, die wiederum Vorschläge für staat- liche Initiativen und Kontrollmöglichkeiten bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise enthielt: Das wirtschaftliche Aufbauprogramm der NS- DAP . Eine Rede Gregor Strassers . Gehalten vor 15 .000 nationalsozialistischen Betriebszellen- mitgliedern am 20 . Oktober 1932 im Berliner Sportpalast, Berlin 1932 (Exemplar in: BArch, R 1501/126133) . 38 Siehe Michael Schneider: Das Arbeitsbeschaf- fungsprogramm des ADGB . Zur gewerkschaftli- chen Politik in der Endphase der Weimarer Repu- blik, Bonn und Bad Godesberg 1975; derselbe; Arbeitsbeschaffung . Die Vorstellung von Freien Gewerkschaften und SPD zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise, in: Sozialdemokratische Ar- beiterbewegung und Weimarer Republik . Mate- rialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927– 1933, hrsg . v . Wolfgang Luthardt, Frankfurt a . M . 1978, 1 . Bd ., S . 220ff . 39 Siehe Bundesarchiv – Zwischenarchiv Hoppegar- ten – R 13/III 14, unfol . 40 Siehe Vorwärts, Nr . 163, 6 . April 1930: »Berg- mann-Abschluss«; ebenda, Nr . 179, 16 . April 1930: »Konjunktur bei Bergmann . Das Auslands- geschäft belebt sich wieder .«; ebenda, Nr . 220, 13 . Mai 1930: »Orenstein hamstert Reserven« . 41 Siehe Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr . 68, 10 . Februar 1930: »Amerikaner übernehmen Te- lephon Berliner« . 42 Siehe Vorwärts, Nr . 212, 8 . Mai 1930: »Lorenz AG deutsch-amerikanisch«; ebenda, Nr . 284, 22 . Ju- ni 1930: »Großes Geschäft bei Lorenz«; »Neue Elektroindustrie – Konzentrationsvorgänge«, in: Wochenbeilage für die Mitglieder der Verwal- Die von Ernst Thälmann im November 1931 ausgerufene »Rote Einheitsfront« sollte eine tungsstelle Berlin des Deutschen Metallarbei- »Einheitsfront von unten« sein – ohne und gegen die Führung der SPD . ter-Verbandes, in: Metallarbeiter-Zeitung, Nr . 24, 14 . Juni 1930, S. 1 f .; ebenda, Nr . 30, 26 . Juli 1930, S . 1 f .: »Der Aufbau der International Tele- phone and Telegraph Company« . 43 Siehe zu den überaus komplizierten Charakteristika dieser Anleihe den mehr- 46 Siehe Robert Kuczynski: Wallstreet und die deutschen Anleihen . Bankierpro- seitigen Verkaufsprospekt der Siemens-und-Halske-AG, in: Berliner Börsen- fite und Publikumsverluste, Berlin 1933, wo auf den S . 12 ff . eine Auflistung Zeitung, Nr . 436, 18 . September 1930 . Siehe auch Wochenbeilage für die Mit- aller deutschen Anleihen, die an der New Yorker Börse gehandelt wurden, ein- glieder der Verwaltungsstelle Berlin des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, schließlich Höhe des aufgenommenen Kapitals, Name der konsortialführen- in: Metallarbeiter-Zeitung, Nr . 8, 22 . Februar 1930, S . 1: »Siemens, General den Bank, Laufzeit und Höhe des Zinssatzes, erfolgt . Electric und die Folgen« und Berliner Tageblatt, Nr . 517, 1 . November 1930: 47 Die damalige Funktion des Delegierten eines Aufsichtsrates ist nach heutigem »Siemens-Debentures und die Dividendenfrage« . Aktienrecht nicht zulässig . Sie bedeutete, dass diese Person nicht nur den 44 Siehe Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr . 33, 21 . Januar 1930; »AEG 9 Prozent« Vorstand zu kontrollieren, sondern selbst geschäftsführende Kompetenzen sowie Kurt Gossweiler: Großbanken-Industriemonopole-Staat . Ökonomie und zuerkannt bekommen hatte . Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914–1932, 48 Carl F . v . Siemens: Die gegenwärtige Lage Deutschlands . Rede, gehalten auf Berlin 1971, S . 330 f . dem Essen der General Electric Company am 27 . Oktober 1931 in New York 45 Siehe BArch, R 3101/631, Bl . 328 ff .: Wochenübersichten der Deutschen o .O .u .J . (ein hektographiertes Exemplar fand sich in: Zentrales Staatsarchiv Reichsbank für das Reichswirtschaftsministerium, die Aktiva und Passiva der der DDR Potsdam, Büro des Reichspräsidenten, Nr . 296 . Zitate: S . 5 und 7 f . Reichsbank betreffend . Zwischen dem 1 . Juli und dem 15 . Oktober 1930 redu- Hervorhebung von mir – R .Z . Die Rede ist auszugsweise abgedruckt in: Do- zierte sich der Bestand an Gold und Devisen wertmäßig von 2,62 auf 2,18 Mil- kumente zur deutschen Geschichte 1929–1933, hrsg . v . Wolfgang Ruge und liarden bzw . von 459 auf 174 Millionen Reichsmark . Wolfgang Schumann, Berlin 1975, S . 44 f .

22 49 Siehe Dirk Walter: Antisemitische Kriminalität und Gewalt . Judenfeindschaft 64 Zu den wichtigsten Kunden, die mit Erzen der Ilseder Hütte beliefert wurden, in der Weimarer Republik, Bonn 1999, S .200 ff .; Cornelia Hecht: Deutsche Ju- zählten im rheinisch-westfälischen Industrierevier u .a . die Gelsenkirchener den und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003, S .1 87 ff ;. Rei- Bergwerks AG, die Gutehoffnungshütte, die Hoesch AG und die Kruppwerke . ner Zilkenat: Der »Kurfürstendamm-Krawall« am 12 . September 1931 . Vorge- Siehe Bundesarchiv – Zwischenarchiv Hoppegarten – R 13 I/284, Bl . 168 f . schichte, Ablauf und Folgen einer antisemitischen Gewaltaktion, in: Rundbrief, Die der Ilseder Hütte gehörenden Gruben bargen nach dem Ende des Ersten H . 2/2011, S . 42 ff . Weltkrieges etwa 300 Millionen Tonnen Eisenerze . Siehe ebenda, Bl . 20 . 50 Siehe z. B . Goebbels’ Aussage während einer Massenversammlung im Novem- 65 Siehe Akten der Reichskanzlei . Die Kabinett Brüning I und II, bearb . v . Tilman ber 1930 im Berliner Sportpalast: »Es ist gefragt worden: Werden Köpfe rol- Koops, Boppard am Rhein 1982, Bd .2, u .a . S .1 329, 1331, 1333, 1342, 1480 len? Und unsere Antwort lautet: Jawohl . Sie werden einmal ganz verfassungs- (Anm . 7), 1555, 1585, 1606 und 1619; Bd .3, S .1 841 ff . Reinhart trat hier u .a . mäßig und legal rollen . (…) Die Abrechnung wird durch einen ganz legalen gegen die Verordnung von »Bankfeiertagen«, die Konstituierung einer eigen- Staatsgerichtshof erfolgen .« Der Angriff, Nr . 100, 22 . November 1930: »Frei- ständigen Bankenaufsicht und die Neuorganisation des deutschen Bankenwe- heitssturm im Sportpalast .« Der von Januar 1930 bis April 1931 in Thüringen sens auf . regierende Nazi-Innenminister Wilhelm Frick erklärte auf einer Kundgebung in 66 Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934, Bd .1 ,. S .4 11 . Ebenda, Bd .2, S .483, Wuppertal am 29 .Sept ember 1931: »Wir Nationalsozialisten werden, falls wir teilt Brüning seine zutreffende Beobachtung mit, dass Reinhart dem DNVP- die Macht haben, innerhalb 24 Stunden mit dem roten Mordgesindel aufräu- Vorsitzenden »Hugenberg und den Nazis persönlich sehr nahestand« . Ebenda, men .« Völkischer Beobachter, Nr .275, 2 . Oktober 1931 . S . 670, nennt er ihn sogar einen »Bewunderer von Hitler« . 51 H . R . Knickerbocker: Kommt Europa wieder hoch? Berlin 1932, S . 205 und 67 Siehe Hitler aus nächster Nähe, S . 455 ff . sowie Die Tagebücher des Joseph 214 . Goebbels . Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hrsg . v . Elke Fröhlich, 52 Kritisch befasste sich immer wieder Reichsbankpräsident Hans Luther, ganz im Teil I, Bd .2/II, Juli 1931 – September 1932, bearb . v . Angela Hermann, Berlin Sinne der exportorientierten Industrie, mit den Autarkie-Forderungen der Na- 2004, z .B . S .246 (20 .Mär z 1932); S .342 (16 .A ugust 1932); S .343 (18 .A u- zipartei, die übrigens von seinem Amtsvorgänger Hjalmar Schacht weitgehend gust 1932); S . 345 (22 . August 1932); S .363 (13 . September 1932) . geteilt wurden . Am 5 . Oktober 1932 führte er vor dem Hauptausschuss des 68 Siehe hierzu Gerald D . Feldman: Die Allianz und die deutsche Versicherungs- Deutschen Industrie- und Handelstages aus: »Wir können nur bestehen, wenn wirtschaft 1933–1945, S .87 f . wir wieder einen relativ freien Warenverkehr haben . Wir können als deutsches 69 Siehe Hitler aus nächster Nähe, u .a . S . 373, 375 ff . und 392 ff . Volk ohne einen starken Export einfach nicht existieren (Zurufe: Sehr richtig!)« 70 Siehe ebenda, S .395 f . In dieser Rede trat Luther folgerichtig auch für den Abbau der Zölle und ge- 71 Ebenda, S .374 . gen Kontingentierungen im internationalen Handelsverkehr ein . Er hob hervor, 72 Tagung der Deutschen Industrie in Berlin am 26 . und 27 .Mä rz 1924 (V . ordent- dass nach seiner Auffassung gerade die gegenseitige Abschottung der Volks- liche Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie wirtschaften eine der Krisenursachen sei . Siehe BArch, R 2501/7028, Bl . 2 und der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände), Berlin 1924, S .33, und 4 . Gegen Luthers Anschauungen polemisierte der »Völkische Beobachter« 35, 36 und 38 . in mehreren Leitartikeln . Siehe u .a . Völkischer Beobachter, Nr . 233, 20 . Au- 73 Zitier t nach: Ulrike Hörster-Philipps: Wer war Hitler wirklich? Großkapital und gust 1932: Dr . Herbert Albrecht: »Nationalsozialismus und Autarkie« und eben- Faschismus 1918–1945 . Dokumente, Köln 1978, S . 137 . da, Nr .264, 20 .Sept ember 1932: Dr . Rudolf Albert: »Nationale Wirtschaft oder 74 Siehe hierzu u .a die folgenden, besonders informativen Presseartikel: Ber- Weltwirtschaft?« . liner Tageblatt, Nr . 583, 9 . Dezember 1932: »Konflikt Hitler-Strasser«; Vor- 53 Die NSDAP erreichte bei den Wahlen zum Reichstag 37,4 Prozent der Stimmen wärts, Nr .579, 9 .Dezember 1932: »Krach in der Hitler-Partei«; Berliner Tage- und stellte mit 230 Abgeordneten die mit Abstand stärkste Fraktion . Auf die SPD blatt, Nr .584, 9 .Dezember 1932: »Die Führerkrise in der NSDAP«; Frankfurter entfielen 21,6, auf die KPD 14,5 Prozent der Stimmen und 133 bzw . 89 Mandate . Zeitung, Nr . 921, 10 . Dezember 1932: »Der Konflikt in der NSDAP«; Berliner 54 Bei den Wahlen zum Preußischen Landtag erreichte die NSDAP 162 Mandate, Tageblatt, Nr . 585, 10 . Dezember 1932: »Die Palastrevolution gegen Hitler«; die SPD und die KPD entsandten 94 bzw . 57 Abgeordnete . Bei den am glei- ebenda, Nr .588, 12 .Dezember 1932: »Mann über Bord« und ebenda, Nr .596, chen Tag in Bayern durchgeführten Landtagswahlen gewannen die NSDAP 43, 16 . Dezember 1932: »Hitlers Hausmacht« . die SPD 20 und die KPD 8 Sitze . 75 Siehe Gottfried Feder: Das Programm der N .S D. A. .P . und seine weltanschau- 55 Siehe Hitler aus nächster Nähe, S . 474 ff .; lichen Grundgedanken, 41 –50. . Aufl ., München 1931, bes . S . 28 ff . (zur »Bre- 56 Der Angriff, Nr .50, 22 .Juni 1930: Joseph Goebbels: »Regierungsbeteiligung« . chung der Zinsknechtschaft«), S . 35 f . (wirtschafts-, finanz- und sozialpo- 57 Siehe die Rede von Goebbels während der Versammlung des Landesverban- litische Grundsätze); 45 ff . (ausführliche Erläuterungen zu den wirtschafts-, des Potsdam II der DNVP am 19 .Okt ober 1932, wo er u .a . ausführte, dass die finanz- und sozialpolitischen Zielen der Nazipartei) . An mehreren Stellen die- NSDAP als »Weltanschauungspartei« einen »Anspruch auf Totalität« erhebe ses vor antisemitischen Tiraden nur so strotzenden Textes ist unterschiedslos und dass es das »Verdienst Hitlers« sei, »Menschen in der NSDAP organisiert z .B . von »dem« Bankkapital (S . 45 ff ). und »den« Warenhäusern (S . 47 f .) die zu haben, die nie zu einer bürgerlichen Partei gegangen« wären, »weil eine Rede . bürgerliche Partei in ihrem Auftreten, ihrem ganzen Stil dem inneren Empfin- 76 Siehe Hitler aus nächster Nähe, S . 217 und zu seiner Abberufung, die er als den dieser Menschen diametral entgegengesetzt ist .« Der Monarchismus der Bitte um seine Entlassung schildert, ebenda, S . 475 ff . Deutschnationalen könne »nicht ernst genommen werden« . Als Goebbels von 77 Der Angriff, Nr . 125, 16 . Juni 1932: »Anordnungen der Reichsleitung der NS- der Versammlungsleitung das Wort entzogen bekommt, endet die Veranstal- DAP« . Zur Entmachtung von Gregor Strasser und Gottfried Feder siehe die tung in der Neuköllner »Neuen Welt« im Chaos! BArch, R 8005/60, Bl . 98, ausführliche Darstellung bei Joachim Petzold: Die Demagogie des Hitlerfa- 102 f . und 100 . Zu den oft gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der schismus . Die politische Funktion der Naziideologie auf dem Wege zur fa- NSDAP/SA und dem Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten siehe die Materialien schistischen Diktatur, Berlin 1982, S .364 ff . Siehe auch Dirk Stegmann: Zum in: BArch, R 1501/126059, 126065, 126183, Bl . 32 ff . Verhältnis von Großindustrie und Nationalsozialismus 1930–1933, S .429 ff . 58 Nach der Meinung Otto Wageners konnten die Auffassungen Kepplers »eher 78 Einige seiner wichtigsten Leitartikel waren: »Deutschlands wirtschaftliche als wirtschaftsreaktionär als den sozialistischen Notwendigkeiten entgegen- und soziale Erneuerung«, in: Berliner Börsen-Zeitung, Nr . 207, 5 . Mai 1929, kommend oder sie überhaupt erkennend bezeichnet werden« . Hitler aus wo es u .a . hieß: »Der neuzeitliche, sozial gebundene Kapitalismus will auch nächster Nähe, S . 442 . nur verdienen, um der Allgemeinheit zu dienen .(…) Der Gesunde zahlt heute 59 Siehe Dirk Stegmann: Zum Verhältnis von Großindustrie und Nationalsozialis- für den Kranken, der Starke für den Schwachen, der Fleißige für den Faulen … mus 1930–1933 . Ein Beitrag zur Vorgeschichte der sog . Machtergreifung, in: So entsteht geradezu eine Rentenhysterie im deutschen Volk .« – »Heraus aus Archiv für Sozialgeschichte, Bd . XIII, 1973, S . 426 f . dem Wirtschaftselend!«, in: ebenda, Nr .5 11, 1 .N ovember 1929, wo Funk u .a . 60 Zitiert nach ebenda, S . 450 . ausführte: »Die Stunde des deutschen Bürgertums ist gekommen . Wird der 61 Siehe ebenda, S .425 f . Zu den Finanziers der »Arbeitsstelle Schacht«, die ihre Zeitpunkt für ein entschiedenes Handeln verpasst, so wird er vielleicht nicht Räumlichkeiten am Schöneberger Ufer 39 in Berlin bezog, gehörten Schacht, wiederkehren, denn starke, antibürgerliche Strömungen sind in Deutschland Thyssen und Vögler sowie Paul Reusch, Vorstandsvorsitzender der Gutehoff- lebendig . (…) Deutschland hat sich kapitalistisch schwer versündigt, und das nungshütte in Oberhausen und Präsidiumsmitglied des RDI sowie Fritz Sprin- Vertrauen des Kapitals wird erst wieder einkehren, wenn es die Sicherheit gorum, Vorstandsvorsitzender der Hoesch AG . Insgesamt waren 27 .000 RM hat, dass es in Deutschland Schutz findet und dass es in der deutschen Wirt- zur Verfügung gestellt worden . schaft rentabel arbeiten kann . (…) Wer die Gesundung der deutschen Wirt- 62 Deutsche Bergwerks-Zeitung, Nr . 105, 5 . Mai 1929: »Drehpunkte der deut- schaft, wer heraus aus dem Wirtschaftselend will, muss hinein in die bürger- schen Wirtschaftspolitik« . liche, in die kapitalistische Einheitsfront .« – »Der Weg zur wirtschaftlichen 63 Siehe die biographische Skizze von Arnim Plett: Ein Mann (in) seiner Zeit – und finanziellen Gesundung und Befreiung in Deutschland und in der Welt- Ewald Hecker, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Ilseder Hütte (1929– wirtschaft«, in: ebenda, Nr. 95, 26. Februar 1930 . Hier rechtfertigte er die 1945), in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd . 86, 2005, Kapitalflucht aus Deutschland gegenüber daran laut gewordener Kritik mit S . 109 ff . folgenden Formulierungen: »Und wenn heute das deutsche Kapital ins Aus-

23 land flüchtet und dort bei 4 Prozentiger Verzinsung Anlage sucht, während in tur . Ausstellungskatalog, (West-) Berlin 1983, S . 165 ff .; derselbe: Hamburger Deutschland 8-, 10- und mehrprozentige Verzinsungsmöglichkeiten vorhan- Nationalklub, Keppler-Kreis, Arbeitsstelle Schacht und der Aufstieg Hitlers, den sind, so muss man diesen Leuten immer wieder sagen, dass auch sie ei- S . 134 ff . nem Trugschluss zum Opfer fallen, denn wenn unsere erstklassigen Anlagen 88 Dirk Stegmann: Das Verhältnis von Großindustrie und Nationalsozialismus in Deutschland nicht mehr sicher sind, dann ist auch das Leben in Deutsch- 1930–1933, S . 428 . land nicht mehr sicher!« – »Wirtschaft und Politik . Was die Wirtschaft von der 89 Siehe Joachim Petzold: Konservative Theoretiker des deutschen Faschismus . neuen Regierung verlangen muss«, in: ebenda, Nr . 153, 1 . April 1930 . Hier Jungkonservive Ideologen in der Weimarer Republik als geistige Wegbereiter wirbt Funk offen für die Einführung diktatorischer Verhältnisse: »Die wirt- der faschistischen Diktatur, 2 ., überarbeitete und ergänzte Aufl ., Berlin 1982, schaftlichen Probleme in Deutschland sind so schwierig, und von so schick- S . 129 ff . und Yuji Ishida: Jungkonservative in der Weimarer Republik . Der salhafter Bedeutung, dass sie nur von einer starken, durch Parteirücksichten Ring-Kreis 1928–1933, Frankfurt a .M . u . a . 1988 . nicht gehemmten Regierungsgewalt und nur ganz systematisch und rigoros 90 Siehe Frank Deppe und Wittich Roßmann: Wirtschaftskrise, Gewerkschaften, von einer zentralen Macht- und Kraftstelle aus gelöst werden können .«– »Der Faschismus, S . 237ff .; Heinrich August Winkler: Der Weg in die Katastrophe . Kampf um Deutschlands wirtschaftliche und soziale Erneuerung«, in: eben- Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Berlin und Bonn da, Nr . 555, 28 . November 1930 . Funk ergreift in diesem Leitartikel – wenn 1987, S . 810 ff ., bes . 817 ff . auch verklausuliert – die Partei Hitlers und der NSDAP . Er schreibt u . a .: »Wir 91 BArch, R 8048/171, Bl . 12 denken und handeln in Deutschland heute im allgemeinen nur noch in Gremi- 92 Ebenda, Bl . 13 . en, Kollegien, Organisationen und Parteien . Es darf aber in Deutschland nur 93 Ehrenpromotion Wolfgang Ruge, Friedrich-Schiller-Universität Jena 1988, S . 7 . eine Organisation geben, nämlich den sozialen Staat mit frei schaffenden, 94 Siehe hierzu Kurt Gossweiler: Die Röhm-Affäre . Hintergründe-Zusammenhän- sich selbst und der Gesamtheit voll verantwortlichen Volksgenossen, und es ge-Auswirkungen, Köln 1983; derselbe: Aufsätze zum Faschismus, S . 131ff, darf nur eine Partei in Deutschland geben, nämlich die Partei der nationalen 95 Siehe zum Antisemitismus bei den Nazis und vorhandenen Übereinstimmun- Freiheit und Würde . (…) Dem Manne, der das Ziel der deutschen Befreiung gen mit ihren konservativen Bündnispartnern Reinhard Rürup: Das Ende der klar aufzeigt und unnachsichtig verfolgt, und der mit dem Willen zur Tat auch Emanzipation: Die antijüdische Politik in Deutschland von der »Machtergrei- den Willen zur Macht verbindet, wird das Volk über die Parteien hinweg Ge- fung« bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Juden im Nationalsozialistischen folgschaft leisten . Möge dem deutschen Volke dieser Führer erstehen, ehe Deutschland, hrsg . v . Arnold Paucker, Tübingen 1986, S . 100 f .: »Man darf … es zu spät ist .« Die Inhalte dieser und vieler anderer, ähnlich argumentieren- nicht übersehen, dass die Aufhebung der Rechtsgleichheit und die Bekämp- der Leitartikel qualifizierten Funk zum Leiter aller Wirtschaftsabteilungen der fung eines angeblich zu großen und schädlichen ›jüdischen Einflusses‹ auf National-»sozialistischen« Deutschen »Arbeiter«partei! die deutsche Gesellschaft von einem breiten antisemitischen Konsens der 79 Manfred Asendorf: Hamburger Nationalklub, Keppler-Kreis, Arbeitsstelle politischen Rechten in Deutschland getragen wurde . Nicht nur die Natio- Schacht und der Aufstieg Hitlers, in: 1999 . Zeitschrift für Sozialgeschichte nalsozialisten, sondern auch die Deutschnationalen und der Stahlhelm so- des 20 . und 21 . Jahrhunderts, 2 . Jg ., 1987, H . 3, S.128 . wie große Teile des national-konservativen Beamtentums und der Kirchen wa- 80 Hitler aus nächster Nähe, S . 479 . ren von der Existenz einer – antisemitisch definierten – ›Judenfrage‹ und der 81 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Mili- Notwendigkeit einer ›Lösung‹ dieser Frage überzeugt . Die Selbstverständ- tärgerichtshof in Nürnberg 14 . November 1945 – 1 . Oktober 1946, Bd . XIII, lichkeit, mit der die Entrechtung und soziale Ausgrenzung der Juden im S . 161 f . Lager der nicht-nationalsozialistischen Rechten nicht nur hingenommen, 82 Siehe Frank Deppe und Wittich Roßmann: Wirtschaftskrise, Gewerkschaften, sondern unterstützt und vorangetrieben wurde, ist angesichts der Dis- Faschismus . Dokumente zur Gewerkschaftspolitik 1929–1933, Köln 1981, tanzierung von gewalttätigen ›Exzessen‹ gegen die Juden und des späte- S .201 ff ;. Henryk Skrzypczak: »Revolutionäre« Gewerkschaftspolitik in der Welt- ren Entsetzens über den Völkermord bis heute allzu wenig beachtet wor- wirtschaftskrise – Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik 1932, in: Gewerkschaft- den. (…) Man kann natürlich daran zweifeln, ob die nicht-nationalsozialistische liche Monatshefte, Heft 4–5/1983, S . 264ff . Demnächst: derselbe: Der Berli- Rechte genauso radikal vorgegangen wäre wie die Nationalsozialisten, doch ner Verkehrsarbeiterstreik im November 1932 . Legenden und Realitäten . Mit gab es in der Grundsatzentscheidung hinsichtlich des Endes der Emanzi- einer Einleitung von Reiner Zilkenat, Berlin 2012 (Beiheft der »Mitteilungen« des pation keinen ernsthaften Dissens.« Hervorhebungen von mir – R .Z . Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung 96 Hans Mommsen: Von Weimar nach Auschwitz . Zur Geschichte Deutschlands in e . V .) . der Weltkriegsepoche, München 2001, S . 164 . Hervorhebungen von mir – R .Z . 83 Zitiert nach: Kurt Goßweiler: Aufsätze zum Faschismus, S . 68 (Zitat aus den 97 Henry A . Turner: Hitlers Weg zur Macht . Der Januar 1933, München 1996, Akten des Büros des Reichspräsidenten) . Hervorhebungen von mir R .Z . S . 222 . 84 Siehe Reiner Zilkenat: Die SA – Bürger- kriegsarmee und Massenorganisation des deutschen Faschismus, S . 30 f . 85 Siehe BArch, R 72/308, Bl . 19 ff . und 219 . 86 Siehe ebenda, R72/157, Bl . 96 ff . Die ge- nannten Personen gehörten zu den Ehren- gästen des 12 . Reichsfrontsoldatentages des Stahlhelms in Breslau Ende Mai/Anfang Juni 1931 . 87 Siehe z .B . BArch, NS 20/76; Eberhard Czi- chon: Wer verhalf Hitler zur Macht? S . 41 ff . und 64 ff .; Axel Kuhn: Die Unterredung zwi- schen Hitler und Papen im Haus des Ba- rons von Schröder, in: Geschichte in Wis- senschaft und Unterricht, 24 . Jg ., 1973, H . 12, S . 709 ff .; Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker: Geschichte der NSDAP 1920– 1945, S . 197 ff .; Joachim Petzold: Die De- magogie des Hitlerfaschismus, S . 385 ff .; derselbe: Großbürgerliche Initiativen für die Berufung Hitlers zum Reichskanzler . Zur No- vemberpetition von 1932 des Keppler-Krei- ses deutscher Bankiers, Großindustrieller, Überseekaufleute und Großgrundbesitzer, in: ZfG, 31 . Jg ., 1983, H .1, S . 38ff . (hier do- kumentiert der Autor einige der im BArch, NS 20/76 aufbewahrten, sehr aussage- kräftigen Dokumente zu unserer Thematik); Manfred Asendorf: Nationalsozialismus und Kapitalstrategien, in: 1933 – Wege zur Dikta-

24 Die verkannte Niederlage. Das Dilemma des deutschen Kommunismus 1933

Die Arbeiterbewegung hatte mit dem Machtantritt der NSDAP hatten Sozialdemokraten wie Kommunisten seit Jahren gegen am 30 . Januar 1933 die schwerste Niederlage seit ihrer Ent- die faschistische Gefahr angekämpft, hatten auch vor den Ge- stehung hinnehmen müssen . In einem widerspruchsvollen und fahren einer faschistischen Machtübernahme gewarnt, die schmerzlichen Lernprozess musste sie sich die Einsicht in die- Dynamik und Brutalität der Nazis an der Macht überraschte se Niederlage erarbeiten . Aus dem historischen Abstand von sie dennoch . Angesichts der Neuartigkeit des sich etablieren- fast achtzig Jahren und mit dem Wissen um das Ende der tradi- den Herrschaftstyps, der auch durch die Erfahrungen der be- tionellen Arbeiterbewegung und um das Scheitern des etatis- reits existierenden faschistischen Regimes nicht vorherseh- tischen Sozialismusversuchs in Europa ist die Analyse dieses bar war, kann das nicht überraschen . Lernprozesses der Arbeiter- und insbesondere der kommunis- Gravierender war jedoch, dass beide Flügel der deutschen Ar- tischen Bewegung nicht nur von historischem Interesse . beiterbewegung an ihren überholten Konzepten festhielten . Die Arbeiterbewegung in ihren unterschiedlichen Richtungen Die Sozialdemokratie an ihrem Glauben an die Legalität um hatte die Bedeutung der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichs- jeden Preis und die Kommunisten an ihrem weltrevolutionä- kanzler nicht sofort in ihrer ganzen Tragweite erkannt . Wohl ren Konzept . Angesichts der verhärteten Fronten zwischen

Einheitsfrontdemonstration auf dem Messplatz in Leipzig, Januar 1933 .

25 den Arbeiterparteien waren Einheitsfrontangebote und Gene- se . Seine Schilderung des Machtantritts der Hitler-Regierung ralstreikaufforderungen der KPD-Führung nur ein lautes Pfei- unterschied sich nur graduell von früheren Berichten über Re- fen im dunklen Walde . Die positive Antwort wurde nicht wirk- gierungsumbildungen . Wohl wurden die Gefahren gesehen, lich erwartet, zumal solche Aufrufe einhergingen mit einer die von den aktuellen Entwicklungen in Deutschland gerade Doppelstrategie: die »Einheitsfront mit den sozialdemokra- für die Arbeiterbewegung ausgingen, aber unter Bezug auf tischen und gewerkschaftlichen Mitgliedern« zu verstärken den Aufruf der KPD zum Generalstreik von 30 .Januar heißt es und gleichzeitig »über den schändlichen Verrat (der sozialde- bei Heckert . »dass das offene faschistische Terrorregime an mokratischen Führung) Klarheit zu schaffen« 1. die Stelle des Regimes des verdeckten Faschismus mit sozi- Die beiden großen Parteien der deutschen Arbeiterbewe- aler Demagogie … getreten ist …«3 Ein faschistisches Regime gung hatten sich in einen Zustand der Selbstblockade und wurde also durch ein anderes abgelöst . Die damit verbun- Lähmung manövriert, in dem der Hitlerfaschismus ohne nen- dene enorme Zuspitzung der Situation wurde jedoch gleich- nenswerten Widerstand an die Macht gelangen konnte . sam positiv gewendet: Durch sie sei »die mächtige Belebung Die Möglichkeiten der KPD zur »Mobilisierung der Massen« der Arbeitermassen geschaffen worden«, die »Deutschland waren zudem objektiv begrenzt . Verfügte sie doch kaum noch unmittelbar in eine revolutionäre Situation« bringe . Dem Hit- über Einfluss in den Betrieben . Nur etwa 11 Prozent ihrer ler-Regime wurde keine lange Existenz zugetraut, so dass die Mitglieder waren beschäftigte Industriearbeiter . Die Auffor- Revolution erneut zur unmittelbaren Aufgabe avancierte . Die derung der KPD vom 30 . Januar zum Generalstreik und zur Tatsache, dass es der KPD nicht gelang, nennenswerten Wi- Stilllegung der Betriebe musste sich so zwangsläufig in ers- derstand gegen die Hitlerregierung zu mobilisieren, focht de- ter Linie an die nichtkommunistischen Arbeiter richten . Es ren Führung und die der Kommunistischen Internationale zu- kam wohl zu gemeinsamen Demonstrationen sozialdemokra- nächst nicht an . tischer und kommunistischer Hitlergegner . Sie blieben aber Zu den Legenden der SED-Geschichtsschreibung gehörte die eher insgesamt marginal . Die KPD hatte noch in den letzten von der strategischen Neuorientierung der KPD auf dem We- Wochen vor dem 30 .Januar 1933 auf ihrem falschen Kurs be- ge zum VII . Weltkongress der KI und zur »Brüsseler« Partei- harrt und so nicht das ihr Mögliche getan, um Hitler den Weg konferenz der KPD 1935 bereits auf der Tagung des Zentral- an die Macht zu versperren . Anstatt alle Kräfte auf die Ab- komitees der KPD in Ziegenhals am 7 . Februar 1933 durch wehr der faschistischen Gefahr zu konzentrieren, betrieb die Ernst Thälmann . Da sich diese Legende in bestimmten Krei- KPD-Führung in den letzten Wochen der Weimarer Republik sen als wirklichkeitsresistent bis in die Gegenwart erweist, eine Kampagne zur Auswertung des XII . Plenums der Exekuti- sei darauf eingegangen . ve der Kommunistischen Internationale . Sie propagierte des- Am 3. Februar 1933 beschloss das Polbüro der KPD die sen katastrophalen Kurs des strategischen Hauptstoßes ge- Durchführung einer »Konferenz der Polsekretäre, ZK .-Instruk- gen die Sozialdemokratie, der Einheitsfront nur von unten . Sie teure und Abt-Leiter« .4 Behandelt wurde das Referat Ernst wähnte sich in einer Phase des revolutionären Aufschwungs Thälmanns »Politische Lage und Aufgaben« . In der Thälmann- gegen die faschistische Diktatur, von der sie meinte, sie sei Hagiographie der SED avancierte diese Konferenz zu einer schon seit dem Anfang der dreißiger Jahre errichtet . Tagung des Zentralkomitees . Als erster und für längere Zeit Ernst Thälmann bewertete in einem Brief an Fritz Heckert, einziger Beratung der Parteiführung nach dem Regierungsan- dem Vertreter der KPD beim EKKI, am 27 . Januar 1933 nach tritt Adolf Hitlers und letzter Beratung der Partei im Lande, Moskau den Stand der Durchführung der Beschlüsse des XII . erlangte sie zu Recht eine nicht geringe Bedeutung in der Par- Plenums und verwies dabei auf bestimmte Schwächen bei teigeschichte . Immerhin legte Thälmann hier letztmalig vor der Bewertung des Charakters »der faschistischen Diktatur in einem größeren Kreis führender Funktionäre der Partei in ei- Deutschland« und der »Rolle der Sozialdemokratie, ihrer ›lin- nem (nicht vollständig überlieferten) Referat die Sicht und ken‹ Betrugsmanöver, ihrer »besonderen Methode in der jet- Bewertung der gravierenden Veränderungen seit der Macht- zigen Situation« . Weiter analysierte er die Verschärfung der ergreifung der Nationalsozialisten vor, die er und die KPD- Krisenerscheinungen und den »steigenden revolutionären Führung in den seitdem vergangenen acht Tagen gewonnen Aufschwung« .2 Wie hier und in vielen anderen Dokumenten hatten . Es kann davon ausgegangen werden, dass Werner dieser Zeit deutlich wird, erwuchs die Verkennung des quali- Hirsch, der persönliche Mitarbeiter Ernst Thälmanns, an der tativen Umbruchs der bürgerlichen Herrschaftsform mit dem Ausarbeitung dieses Referates wesentlich beteiligt war . Diese Machtantritt Hitlers nicht in erster Linie aus der mangelnden Beratung erbrachte jedoch mitnichten eine Neuorientierung zeitlichen Distanz zu den sich vollziehenden Prozessen und der Partei im Kampf gegen den Faschismus . Nicht die Schaf- der Schwierigkeit, sie analytisch zu erfassen, sondern aus der fung einer breitestmöglichen antifaschistischen Front unter grundsätzlich falschen Bewertung dieser Vorgänge auf der Hintanstellung anderer Ziele als der Überwindung der Hitler- Grundlage der Kapitalismusanalyse und des weltrevolutionä- diktatur war das erklärte Ziel, sondern die »Entfaltung aller ren Konzepts von KPD und Kommunistischer Internationale . Formen des Massenwiderstandes und des Massenkampfes Ein Bericht Fritz Heckerts vor dem Präsidium des EKKI am gegen die faschistische Diktatur«5 unter den Bedingungen 31 .Januar 1933 verdeutlicht diesen Befund in frappanter Wei- des »Heranreifens der revolutionären Krise« 6.

26 Nicht selbstkritische Analyse der verfehlten Generallinie der nisation als Schulungsmaterial 15. Die Einsicht in die Niederla- KPD im Kampf gegen den »Hauptfeind« Sozialdemokratie, ge lag noch in weiter Ferne . Gestützt auf ausführliche Zitate sondern Kritik daran, dass man das Haupthindernis auf dem aus der Rede Thälmanns in Ziegenhals, die übrigens nicht alle Weg zur proletarischen Revolution, »den Einfluss der SPD- in der überlieferten Redefassung zu finden sind, zeigte sich und ADGB-Führer … nicht in dem erforderlichen Maße zu li- noch im Sommer 1933 in einer für Schulungszwecke zusam- quidieren«7 vermochte . Aus diesem Grund sei die bisherige mengestellten Rededisposition das ganze Ausmaß sektiereri- Taktik der Einheitsfront fehlgeschlagen . Thälmann orientier- scher Verkrustung . Es finden sich hier Thesen wie: »Der Sieg te auf den »revolutionären Sturz«8 der Hitlerregierung als des Faschismus die Schuld der SPD« oder »Die SPD bleibt die »unmittelbare(r) Aufgabe .9 soziale Hauptstütze der Bourgeoisie« und schließlich die Auf- Auch wenn er erkannte, dass der Sturz der Hitlerregierung fassung, der starke Einfluss unter der Arbeiterklasse ermögli- nicht »unter allen Umständen zu 100 Prozent … mit einem che der SPD »mit der ›Märtyrer‹-Krone des Verbots ihre Rolle Sieg der proletarischen Revolution direkt verbunden«10 sei, ihre Rolle als soziale Hauptstütze weiterzuspielen .«16 Und in bedurfte es schon einiger Rabulistik, diese Fehleinschätzung einem Brief des ZK der KPD aus derselben Zeit wird die ab- des Kräfteverhältnisses zur vorweggenommenen Wende in surde These aufgestellt, dass auch das Verbot der SPD nichts der Politik der KPD zu stilisieren . Die KPD-Führung dachte im- an ihrer Rolle als Hauptstütze der Bourgeoisie ändere . Die So- merhin über Aktionslosungen nach, die in einem Kampfpro- zialdemokratie unterstütze jetzt mit illegalen Methoden den gramm gebündelt werden sollten . War die Ablehnung eines Hitlerfaschismus . Die Beschwörung des »revolutionären Auf- gesonderten Aktionsprogrammes mit Übergangsforderungen schwungs« erschwerte die Umstellung der Parteiorganisati- in der Periode der relativen Stabilisierung – so Thälmann – in onen auf die neuen Bedingungen und kostete die KPD eine Auseinandersetzung mit den Rechten und Versöhnlern rich- große Zahl vermeidbarer Opfer . tig, da sie lediglich »der Nährboden für opportunistische Illu- Diese Orientierung verstellte den Blick auf die Notwendigkeit sionen« gewesen wären, so verändere sich »in dem Maße, wie einer radikalen Wende in der Politik der von KPD und Kom- wir mit dem steigenden revolutionären Aufschwung stärker munistischer Internationale . In einem »Arbeitsprogramm der an die revolutionäre Krise herankommen … die Lage für uns KPD für die nächsten Monate«, unterschrieben mit »ZK der bezüglich der Aufstellung von Übergangslosungen «. 11 KPD«, in einer Zeit, in der die Organisationsstrukturen der Die »Fristen des revolutionären Aufschwungs und für die Partei fast völlig zerschlagen wurden, orientierte die Partei- volle Entfaltung der revolutionären Krise« seien »heute viel führung auf antifaschistischen Massenangriff in den Betrie- kürzer als in den bisherigen Abschnitten des proletarischen ben, auf die Weiterführung und Gewinnung der am 10 . Mai Klassenkampfes«12, meinte Thälmann im gleichen Atemzuge . 1933 zerschlagenen Gewerkschaften und auf die Weiterfüh- Damit bekräftigte er erneut die dogmatische und sektiereri- rung der kommunistischen Massenorganisationen als illegale sche Linie des XII . Plenums der Exekutive der Kommunisti- Organisationen .17 schen Internationale vom Herbst 1932 . Und es war zweifel- In einem weiteren als Brief des ZK firmierten Brief vom 6 .Juli los in seinem Sinne, dass das Präsidium der Exekutive der 1933 an alle Leitungen der Betriebszellen, Fünfergruppen und KI am 1 . April 1933 erklärte, die Arbeiterklasse habe sich Gewerkschaftsfraktionen proklamierte die Parteiführung die lediglich zurückgezogen und der revolutionäre Aufschwung »Sozialistische Freiheitsaktion« . Sie schätzte ein, »dass der in Deutschland werde unvermeidlich ansteigen . Der faschis- Höhepunkt der mit dem 30 .Januar entfachten faschistischen tischen Diktatur wurde der Effekt abgewonnen, dass sie »al- Welle überschritten ist, dass in der Arbeiterklasse die Samm- le demokratischen Illusionen in den Massen zunichte macht lung der Kräfte zum Widerstand gegen die faschistische Dik- und (sie) aus dem Einfluss der Sozialdemokratie befreit . Die tatur und zum Kampf für ihren Sturz sichtbare Fortschritte Kommunisten hatten recht, als sie die Sozialdemokratie als macht … Der Hauptstoß unserer Politik geht auf die Gewin- Sozialfaschisten bezeichneten .« nung der Massen der sozialdemokratischen Arbeiter …« Es Das Präsidium der Exekutive der KI stellte sich uneinge- gelte, »die Arbeiter von den zum Faschismus übergelaufenen schränkt hinter die Politik der KPD-Führung . Aufgrund des Führern (der Sozialdemokratie) loszulösen und die Sozialde- Verrats der Sozialdemokratie »erwies sich das Proletariat in mokratie zu zerstören … Wir proklamieren den Sturz von Hit- einer Lage, in der es nicht imstande war und tatsächlich auch ler, … wir wollen … den Sieg der proletarischen Diktatur .«18 nicht vermochte, die sofortige und entschlossene Abwehr Der Tiefpunkt der fehlorientierten Politik von KPD und Kom- gegen den Staatsapparat zu organisieren «. Der »Sieg Hitlers munistischer Internationale war aber noch nicht erreicht . Die und die Aufrichtung der Macht der ›Nationalsozialisten‹« wur- »Generallinie« blieb das gesamte Jahr 1933 vorherrschend . de zwar konzediert, die Arbeiterklasse hätte sich aber nur Auf der XIII . Tagung des EKKI im November/Dezember feier- zurückgezogen .13 Selbst diese unzureichende Kennzeichnung te sie ein letztes Mal Triumphe . Sie blieb jedoch auch inner- der tatsächlichen Situation stieß in der Beratung des Präsidi- halb des deutschen Kommunismus nicht unangefochten . Die ums auf heftigen Widerstand 14. Die Resolution gelangte über Praxis des antifaschistischen Kampfes drängte immer zwin- die verschiedensten Wege nach Deutschland . So kursierte gender auf Veränderungen . Besonders in Deutschland selbst sie als hektographiertes Material in der Thüringer Parteiorga- stießen die Widerstandsgruppen, die zunehmend nicht mehr

27 nach der formalen Parteizugehörigkeit zusammengesetzt wa- reale Kräfteverhältnis mitschwangen, sei hier dahingestellt . ren, immer schmerzlicher auf die Grenzen der Beschlüsse In ihren Haltungen zu den »großen« Fragen der Weltpolitik, und ignorierten oder sprengten sie . So beklagte der Komin- insbesondere zur Sowjetunion, blieben die Vertreter dieser ternfunktionär G . B . Smoljanski noch 1934 in der Beratung Richtung traditionell orthodox kommunistisch . Eine grund- des Mitteleuropäischen Ländersekretariats am 19 . März ei- sätzliche Stalinismuskritik blieb außerhalb ihres Horizontes ne Unterschätzung des Kampfes gegen die Sozialdemokra- oder wurde in Konfrontation mit dem Trotzkismus ausgeblen- tie und schilderte als Beispiel einen Fall aus Berlin-Moabit, det . Die Solidarität mit Sowjetrussland, die Verteidigung des »wo die Genossen aus der Bezirksleitung der RGO aus den Landes der siegreichen proletarischen Revolution, blieb un- Resolutionen des XIII . Plenums und der Parteizentrale dieje- angetastetes Refugium kommunistischer Religion . nigen Stellen herausgeschnitten haben, wo stand, dass die Die weitestgehenden Schlussfolgerungen aus dem Machtan- Sozialdemokratie … die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie tritt des Hitlerregimes zogen die Analytiker der KPD (Opposi- (war und bleibt), und sie haben die Resolutionen ohne diese tion) . Gestützt auf die faschismustheoretischen Erkenntnisse, Stellen verbreitet «. 19 Sieht man von den marginalen Gruppie- die vor allem August Thalheimer seit dem Anfang der zwanzi- rungen der Reste der Neumann-Remmele-Fraktion und der ger Jahre erarbeitet hatte und die zum Besten gehören, was Trotzkisten in der KPD ab, so verdienen die Positionen der so auf diesem Gebiet internationale in der marxistischen The- genannten Versöhnler und der KPD (Opposition) Beachtung . orie geleistet wurde, erkannten sie sofort die neue Qualität Beide Gruppierungen vertraten orthodox kommunistische der Herrschaftsform des Hitlerfaschismus . Sie erfassten die Standpunkte, die sich dennoch erheblich von denen der KPD- Schwere der Niederlage der Arbeiterbewegung22 und warn- Führung unterschieden . Ein Positionspapier der »Versöhnler« ten vor Illusionen, das faschistische Regime werde infolge der aus dem Sommer 1933, das im Berliner Raum in größerer wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder der Konflikte innerhalb Zahl kursierte, unterschied sich schon im Ansatz vom Heran- der herrschenden Eliten zerbrechen . Ohne den geschlosse- gehen der KPD-Führung . Während diese in einem Dokument nen Gegenangriff der Arbeiterklasse – so mahnte die KPD Ende 1933 »mit Genugtuung auf die Feststellung des EKKI (O) – »werden diese Gegensätze auf ihre Kosten überwun- hin(weist), dass die Politik der KPD unter der Führung des den« .23 Scharf und bitter bilanzierte sie die Politik von KPD Genossen Ernst Thälmann bis zum 30 .Januar richtig war und und Kommunistischer Internationale: »Geschlagen ist nicht dass das EKKI alle Maßnahmen der Partei seit dem 30 .Janu - der Kommunismus, aber geschlagen ist die ultralinke Tak- ar als Fortsetzung der Generallinie«20 billige, so verweist das tik, geschlagen ist das bürokratische Regiment, geschlagen angesichts der Schwere der Niederlage auf eine gravierenden ist die bisherige Methode der ›Führung‹ der KPD und in der Realitätsverlust . Anders das »Versöhnler«-Papier .21 Hier wird Kommunistischen Internationale .« Und weiter heißt es sar- von dem Eingeständnis der Niederlage ausgegangen und als kastisch: »Sie (die KPD – K .K .) hetzte das blöde und falsche größter Fehler benannt, dass die KPD, »nicht den Mut und die Schlagwort vom ›Sozialfaschismus‹ zu Tode, dem die Vorstel- Kraft gehabt … (hat, sich) selbst und der Arbeiterklasse die lung zu Grund lag, als ob die Sozialdemokratie die Partei der Wahrheit einzugestehen .« In der Abwehr von Haltungen, die faschistischen Diktatur sei . Sie schnitt sich so den Weg zur eine »Fehlerdiskussion« als schädlich und rückwärtsgewandt Sammlung der sozialdemokratischen und kommunistischen denunzierte, wurde betont, dass »alles, aber auch alles davon Arbeiter gegen den wirklichen Faschismus ab . Sie erklärte abhängt, ob die revolutionäre Partei sich selbst richtig ein- nacheinander die Regierungen Severing-Braun, Brüning, Pa- schätzt .« In einer differenzierten Analyse gehen die Autoren pen, Schleicher für faschistische Regierungen .«24 der heute noch unter Linken umstrittenen Frage nach: »Hätte Die scharfsinnige Analyse des Faschismus und der Politik man kämpfen sollen?« Sie erteilen den Antworten der KPD- von KPD und Kommunistischer Internationale folgte jedoch Führung – es war richtig, dem Kampf auszuweichen, da die kein ebenso stringentes Konzept für die Überwindung des Voraussetzungen für den bewaffneten Aufstand, also für die Faschismus . Auch in der KPD (Opposition) konnte man als Eroberung der Macht, nicht gegeben waren – ebenso eine Ab- Alternative zum Faschismus nur die proletarische Diktatur, sage wie der Neumann/Remmele-Gruppe – man hätte kämp- die Rätemacht vorstellen . »Das Ziel des Kampfes zum Sturz fen müssen, koste es, was es wolle . Die Partei hätte – so die der faschistischen Diktatur kann nicht die Wiederherstellung Antwort der Verfasser – kämpfen müssen »in der Zeit zwi- der bürgerlichen Demokratie sein «. 25 Es lag in der Logik die- schen Mitte und Ende Januar 1933, wo jeder Tag die Schick- ses Ansatzes, dass man meinte, »Teillosungen können daher salsschwere der vergangenen Jahre in sich barg .« Gegen die nicht bürgerlich-demokratischer Art sein «. 26 Argumentation der KPD-Führung, der Kampf wäre wegen der Während KPD und Kommunistische Internationale sich in Verweigerung der SPD nicht möglich gewesen, wurde geltend den folgenden Jahren sich in einem schwierigen und wider- gemacht, dass die KPD in den entscheidenden Wochen den spruchsvollen Prozess einen strategischen Ansatz erarbeite- kampfbereiten SPD-Mitgliedern und Sympathisanten keine ten, der in der antifaschistischen Volksfrontpolitik gerade das Angebote machte, in ihren Organisationen gemeinsam mit Ringen um die Wiedergewinnung bürgerlich-demokratischer den Kommunisten den Faschismus zu bekämpfen . Ob und Rechte und Freiheiten in den Mittelpunkt ihrer Politik rückte, inwieweit auch in diesen Einschätzungen Illusionen über das beharrte die KPD (Opposition) auf ihren Positionen .

28 Das Dilemma des deutschen Kommunismus bestand 1933 da- 1 Arne Andersen: Die KPD und die nationalsozialistische Machtübernahme . Ein rin, dass die kommunistische Großorganisation, die KPD, nicht Rundschreiben der KPD vom 2 . Februar 1933, in: Internationale wissenschaft- liche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 22 . Jg ., zur Einsicht in ihre und der Niederlage der Arbeiterbewegung 1986, H . 3, S . 3 61 . gelangte und damit nicht in der Lage war, einen strategischen 2 Ernst Thälmann an Fritz Heckert, Berlin, 27 . Januar 1933, in: Stiftung der Par- teien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde Neuansatz im Kampf gegen den Faschismus zu gewinnen . Die (SAPMO), RY 5/I/6/3/69, Bl . 1 . Kräfte in der KPD, die weiterreichende Ansichten gewannen, 3 Informationsbericht des Genossen Heckert über die Ereignisse in Deutsch- blieben letztlich ohne Einfluss . Die KPD (Opposition) vermoch- land auf der Sitzung des Präsidiums (der Exekutive der Kommunistischen In- ternationale) vom 31 . Jan(uar) 1933, in: SAPMO, RY 5/I/6/3/69, Bl . 13 . te ebenfalls das Ghetto der Splitterpartei nicht zu verlassen . 4 Politbüro-Protokoll vom 2 . Februar 1933, in: SAPMO, RY 1/12/3/13, Bl . 4 . Es bedurfte noch vieler Erfahrungen und Opfer im antifaschis- 5 Die illegale Tagung des Zentralkomitees der KPD am 7 . Februar 1933 in Zie- genhals bei Berlin, Berlin 1981, S . 31 . tischen Widerstand und der Fähigkeit der internationalen Ar- 6 Ebenda, S . 24 . beiterbewegung wie der antifaschistisch gesonnenen Volks- 7 Ebenda, S . 29 . massen aus der Niederlage der deutschen Antifaschisten zu 8 Ebenda, S . 25 . 9 Ebenda, S . 27 . lernen, es bedurfte antifaschistischer Abwehrkämpfe in Öster- 10 Ebenda, S . 28 . reich 1934, der Volksfrontpolitik in Frankreich und Spanien, 11 Ebenda, S . 39 . 12 Ebenda, S . 28 . bis es im Sommer 1935 mit dem VII . Weltkongress der Kom- 13 Resolution des Präsidiums des EKKI zum Referat des genossen Heckert über munistischen Internationale und für die KPD mit ihrer »Brüs- die Lage inj Deutschland (angenommen am 1 . April 1933), in: SAPMO, RY seler« Parteikonferenz gelang, die Verkrustungen der linksfun- 5/16/10/26, Bl . 104 . 14 Siehe Protokoll des EKKI am 1 . April 1933, in: ebenda, Bl .73 . damentalistischen Politik wenigstens zum Teil aufzubrechen . 15 Siehe Resolution …, in: SAPMO, St .3/805 . Ganz abzustreifen vermochten sie diese Krusten nicht . Dazu 16 Rededisposition über die Lage und die Aufgabe der KPD, 4 . Juli 1933, in: SAP- MO, St . 3/805, Bl . 7 . hätte es eines Bruchs mit dem Stalinismus bedurft . Diesen 17 Siehe Aus dem Arbeitsprogramm der KPD für die nächsten Monate, ZK der Bruch vermochte die kommunistische Weltbewegung bis in KPD, Juni 1933, in: SAPMO, RY 1/12/3/14, Bll . 117 . die jüngste Vergangenheit nicht bis zur letzten Konsequenz zu 18 Brief des ZK der KPD, 6 . Juli 1933, in: SAPMO, St . 3/805, Bl .13 . 19 Protokoll der Sitzung des (Mitteleuropäischen) Ländersekretariats des EKKI vollziehen . Darin liegen auch Gründe ihres Scheiterns . am 19 . März 1934, in: SAPMO, RY 5/16/3/411, Bl .15 . Das Ringen der deutschen Kommunisten um die Verarbei- 20 Entschließung des ZK der KPD zur Lage und zu den nächsten Aufgaben, Mai 1933, in: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung, Jg . 2, tung ihrer schweren Niederlage im Januar 1933, das furcht- 1933, Nr . 17, S . 5 41 . bar schmerzhafte Suchen nach den eigenen Fehlern, das zö- 21 Siehe (Rundschreiben der »Versöhnler«-Fraktion,Sommer 1933) Was soll man gerliche und inkonsequente Reden von der eigenen Schande tun?, in: SAPMO, RY 1/12/3/72, Bl . 1–11 (20 Ms .S .) . 22 Siehe Faschistische Diktatur über Deutschland, in: Gegen den Strom . Organ und nicht von der der anderen, das Mühen, sich den so be- der KPD (Opposition), Berlin, 6 . Jg ., 1933, Nr . 3, 11 . Februar, S . 25 f. quemen Verratsvorwürfen zu verweigern, alles das hat para- 23 Die politische Lage, in: ebenda, Nr . 4, 25 . Februar 1933, S . 34 . 24 Die Niederlage und Wiedererhebung der deutschen Arbeiterklasse im Kampf digmatische Bedeutung, auch in seinem Scheitern . gegen die faschistische Diktatur (Thesen), in: ebenda, Nr .5, Mai 1933, S . 6 . 25 Ebenda, S . 7 . Klaus Kinner 26 Ebenda .

29 30 31 Ein Zeitungsartikel vom 26. Januar 1933 – und ein Kommentar 80 Jahre später

Der Artikel: schen Partei organisiert sind und die am nächsten Sonntag den Lustgarten füllen werden . Wieder Bülowplatz. Allerdings hat mir auch diese kommunistische Kundgebung Bemerkungen zu einer kommunistischen Demonstratio­n einen Eindruck verstärkt, den ich auch schon bei früheren Von Friedrich Stampfer Demonstrationen erhalten habe . Vergleicht man die Massen der KPD und die unseren, so bemerkt man die Anfänge einer Mein Beruf als Journalist hat mich gestern abend auf den Bü- neuen sozialen Differenzierung . lowplatz geführt . Ich gestehe, daß ich das dort Gesehene als Mögen die Kommunisten auch zahlreiche qualifizierte Ar- ein Erlebnis1 empfunden habe . beiter in ihren Reihen zählen und haben wir auch in Berlin Auch das schärfste Urteil über die Politik der kommunisti- Zehntausende, im Reich Hunderttausende eingeschriebene schen Führung kann nichts ändern an der Hochachtung, die Mitglieder, die um nichts besser gestellt sind als die Mas- diese Massen verdienen . Durch klingenden Frost und schnei- se der kommunistischen Arbeiter und Erwerbslosen, so zeigt denden Wind zogen in abgeschabten Mänteln, in dünnen Ja- sich doch im Durchschnitt bei den relativ besser gestellten cken, in zerrissenen Schuhen stundenlang Zehntausende Schichten mehr Verständnis für die Politik der Sozialdemo- blasser Gesichter, aus denen die Not sprach, aus denen aber kratie, bei den schlechter gestellten mehr Neigung zur kom- auch der Opfermut sprach für die Sache, die sie für die richti- munistischen Gefühlspolitik . ge halten . Aus ihren rauhen Stimmen klang der Haß der tau- Hier, scheint mir, beginnen sich Gräben innerhalb der Ar- sendmalberechtigte Haß gegen eine Gesellschaftsordnung, beiterklasse zu bilden, die gefährlich sind und die ausgefüllt die sie zu Not und Elend verdammt, der Protest, der tausend- werden müssen . Denn wenn der ausgesprochene Elendspro- mal berechtigte Protest gegen den grotesken Wahnsinn, die letarier sich nicht mehr als Klassengenosse des qualifizier- schreiende Ungerechtigkeit unserer sozialen Zustände . Der ten Arbeiters fühlt, dann wird die Parteispaltung sozial unter- wäre kein Sozialist, der diesen Haß, diesen Protest nicht mit- baut – sie und die Schwächung der Arbeiterklasse könnten empfände! auf solche Weise verewigt werden . Aufs schärfste müssen wir Man merkte, daß sie hier zuhause waren, Menschen der Not Sozialdemokraten darum uns zu der Auffassung bekennen, in den Quartieren der Not . Am letzten Sonntag war es die daß das ganze arbeitende Volk vom bestbezahlten Arbeiter Invasion einer feindlichen Macht, die von zehntausend Be- bis zum letzten Elendsproletarier klassenmäßig zusammen- waffneten geschützt war . Gestern war es ein Bild eines freien gehört . Volkslebens . Bei fast völliger Abwesenheit von Schutzpolizei Auf einer Tribüne vor dem Karl-Liebknecht-Haus standen die herrschte mustergültige Ordnung und Disziplin . Es verdient Führer und genossen das Schauspiel der vorbeiflutenden erwähnt zu werden, daß sich auch die Schutzpolizei zu aller- Massen, der im eisigen Winde flatternden Fahnen . Wahrlich, meist tadellos und keinesfalls feindselig benahm . Die Schule sie verdienen diese Gefolgschaft nicht! Ich halte jedes Wort Severings und Grzesinskis scheint da doch noch etwas nach- der Kritik an jenen Führern für berechtigt – aber mich dünkt zuwirken . Wenn die Beamten den Willen zur Unparteilichkeit auch die Frage des Nachdenkens wert, wieso es dieser geis- haben und wenn sie auch ein wenig darauf Rücksicht neh- tig und moralisch nicht gerade hochstehenden Führerschaft men, daß die Nerven schlecht ernährter Menschen beson- gelingen konnte, zwischen diesen Massen und uns Sozialde- ders empfindlich sind, dann wird mancher kleine Zwischenfall mokraten einen Abgrund zu legen … leicht beigelegt, der sonst gefährliche Dimensionen annimmt . Daß trotzdem diese Massen und wir in unserem Bewußtsein Im großen Berlin laufen ein paar tausend Messerstecher her- zusammengehören und daß wir dazu da sind, für sie zu arbei- um, die jeder Partei, der sie sich anschließen, zur Unehre ge- ten und zu kämpfen, auch wenn sie uns mißverstehen und reichen . Der größte Teil dieser wenig respektablen Sorte läuft unsere Absichten mißdeuten, darin liegt die tiefste Rechtferti- heute mit den Nazis, während ein kleinerer sich den Kom- gung des Kampfes, den wir gegen den Kommunismus führen . munisten zugesellt . Aber die Zehntausende, die gestern über Wir würden unrecht tun, wenn wir auch nur den kleinsten Teil den Bülowplatz marschierten, waren bestimmt keine »Unter- des Hasses, mit dem wir den kommunistischen Führern ihren menschen« und keine »rote Mordbestie« – es waren Arbeiter, Haß gegen uns vergelten, auf diese Massen übertragen woll- genau ebenso wie die Arbeiter, die in der Sozialdemokrati- ten . Wir kämpfen nicht gegen sie, sondern für sie .

32 Und wenn sie auch noch nicht uns verstehen, so sind wir An Stampfers Zeitungsbeitrag besticht manches . Da ist zu- doch verpflichte, sie zu verstehen . Sie marschierten im eisi- nächst die Bekundung uneingeschränkter Solidarität mit je- gen Winterwind, schlecht genährt und gekleidet, durch die nen Menschen, die ihre Erfahrungen und Empfindungen über Straßen einer Stadt, in der Technik und Arbeit alles aufge- schreiende gesellschaftliche Missstände der bestehenden häuft haben, was die Menschen zu einem behaglichen Leben kapitalistischen Ordnung auch mit Massenprotesten zum brauchen . Hunger bei übervollen Scheunen, zitternder Frost Ausdruck bringen . Die bestehenden Verhältnisse rechtfertig- bei unendlichen Kohlenvorräten, keine Wäsche, keine Kleider ten diesen Potest . für die Kinder, während Textilien unverkäuflich sind, Maschi- Für Stampfer ist die kommunistische Straßenmanifestation nen rosten, Menschen unnütz lungern – sollen sie diese Zu- auch ein erneuter Appell, dass sich die beiden Arbeiterpartei- stände nicht hassen? Solange sie glauben, dass der Kommu- en über Trennendes hinweg zum Kampf gegen den gemeinsa- nismus der wirksamste Ausdruck dieses Hasses ist, werden men Feind, den Nationalsozialismus, finden müssen . Stampfer sie ihm anhängen . Und erst wenn sie bemerken werden, daß äußert seine Sympathie mit den Anhängern der Kommunisten ihre Führer zum Kampf gegen den Kapitalismus nur das Ge- fast einschränkungslos, auch wenn er die prinzipiellen ideologi- schrei liefern, während wir die Arbeit leisten, erst dann wer- schen Unterschiede zwischen SPD und KPD nicht verschweigt . den sie den Weg zu uns finden . Der »tiefe Graben« zwischen ihnen wird klar benannt . So manche, die ich gestern vorbeimarschieren sah, sind In der Logik der Parteizugehörigkeit werden die Anhänger der Söhne jener sozialdemokratischen Arbeiter, mit denen wir Sozialdemokraten für den 29 .Januar 1933 zu einer separaten vor 25 Jahren für das gleiche Wahlrecht auf die Straße gin- Kundgebung in den Lustgarten aufgerufen . In diesem Aufruf gen . Von den Alten sind sicher viele damals mit uns gewe- heißt es: »Wir demonstrieren am nächsten Sonntag für die sen . Gestern erfreuten sie sich, hungrig und durchfroren, ei- Einigkeit der Arbeiterklasse im Kampf gegen die Reaktion . nes Restes der von der Sozialdemokratie erkämpften und Klassenkampf! Nicht Bruderkampf! Proletarier Deutschlands verteidigten demokratischen Freiheit, ohne zu ahnen, daß vereinigt euch! ihre Führer drauf und dran sind, auch ihn zu verspielen! So Was nach dem Januar 1933 in Deutschland passierte, ist be- liegt die Last des Kampfes für die Freiheit, ohne die es kei- kannt . Sozialdemokraten und Kommunisten fanden sich hin- nen Sozialismus gibt, ganz auf unseren Schultern . Wir führen ter Zuchthausmauern und Stacheldraht oder im Exil wieder . ihn für die ganze Arbeiterklasse, auch für jene Massen, die Ansätze, um eine antifaschistische Einheitsfront zu schaffen, sich heute noch zu unseren Gegnern scharen, und wenn wir an denen Friedrich Stampfer exponiert beteiligt war, führten am nächsten Sonntag marschieren, marschieren wir auch letztlich nicht zum Erfolg . für sie!

Vorwärts, 26 . Januar 1933, Morgenausgabe, S . 1, 2 Literaturhinweis:

Ronald Friedmann: Die Zentrale . Geschichte des Die Anmerkungen 80 Jahre später Berliner Karl-Liebknecht-Hauses, Berlin 2011 Friedrich Stampfer (1874–1957) war 1933 In diesem Leitartikel des Zentralorgans der SPD »Vorwärts« Chefredakteur des Zentralorgans der SPD schildert der langjährige Chefredakteur Friedrich Stampfer Carl Severing (1875–1952) war von 1920 bis 1926 Eindrücke von selbst Erlebtem . Diese Manifestation auf der und von 1930 bis 1932 Preußischer Innenminister . Straße, vor dem Karl-Lebknecht-Haus, dem Sitz der Parteifüh- Albert Grzesinski (1879–1947) war von 1926 bis 1930 rung der KPD, war die Antwort auf eine Provokation der NS- Preußischer Innenminister, von 1930 bis 1932 Polizei­ DAP, die wenige Tage zuvor stattgefunden hatte . Am Sonntag präsident von Berlin . den 22 . Januar 1933 waren SA-Leute und andere Anhänger aus Berlin und Umgebung zusammengetrommelt worden, ge- Karl Sachse schützt von einem massiven Polizeiaufgebot, um »den Kom- munisten« zu zeigen, wer am Bülowplatz wie in ganz Berlin Herr der Straße war . 1 Alle Unterstreichungen im Original des Artikel gesperrt gedruckt .

33 »Vorstoß zum Sozialismus«? Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Pläne der SPD im Sommer 19321

Wir schreiben den 14 . August 1932: Die Leserinnen und Le- den zu begrenzen . Die Arbeitgeber würden verpflichtet, ser der sozialdemokratischen Tageszeitung »Vorwärts« reiben »entsprechend der Verkürzung der Arbeitszeit neue Arbeits- sich ungläubig ihre Augen . Werden sie das Opfer einer plum- kräfte einzustellen« . pen Fälschung? Die Finanzierung all dessen müsse durch die Kreditschöpfung des Reiches, Umschichtungen im Haushalt, besonders aber Die Reichstagsfraktion der SPD, so kann man auf der Titel- durch Zwangsanleihen und »Notabgaben« auf hohe Einkom- seite lesen, hat für die nächste Sitzung des Parlamentes am men und Vermögen realisiert werden . Ihren Beitrag hätten 30 .A ugust eine Reihe von Anträgen vorbereitet, die eine Ver- auch die ehemals regierenden Fürstenhäuser zu leisten: Ihre staatlichung des Großgrundbesitzes, der Montan-, Chemie- Schlösser, Liegenschaften, Kunstsammlungen und anderen und Zementindustrie, der Versicherungen, der Elektrizitäts- Besitztümer müssten unverzüglich enteignet und zugunsten versorgung und – namentlich genannt – der Dresdner Bank, der Not leidenden Kriegsopfer verwendet werden . Sollten sie der Commerzbank, der Berliner Handels-Gesellschaft und der im Rahmen der »Fürstenabfindungen« staatliche Zuwendun- Deutschen Bank beinhalten 2. Eine Entschädigung ist lediglich gen erhalten, so ist deren sofortige Beendigung zu verfügen .4 auf der Basis der momentan niedrigen Aktienkurse vorgese- Dieses sozialrevolutionär klingende Programm ist von nie- hen . Zugleich würden Forderungen ausgearbeitet, die das Los mandem erwartet worden . Am wenigsten von den Mitglie- der Arbeitslosen spürbar lindern, neue Arbeitsmöglichkeiten dern der SPD selbst . Es stellt sich die Frage: Warum hier und schaffen und das Preisniveau für Lebensmittel, Mieten und jetzt die Propagierung dieser Forderungen? Brennstoffe erheblich absenken sollen . Am 20 . und 21. Au- gust veröffentlicht der »Vorwärts« den genauen Wortlaut der in Aussicht gestellten Anträge .3 Sozialdemokratie in der Defensive

Folgende konkreten Vorschläge liegen jetzt der Öffent- Am 20 .Juli 1932 hatte das reaktionäre »Kabinett der Barone« lichkeit in Form von Gesetzesentwürfen vor: Die planmä- unter Reichskanzler Franz von Papen die sozialdemokratische ßige Organisation der Volkswirtschaft durch eine eigens Regierung in Preußen unter der Führung des Ministerpräsi- zu schaffende »Planstelle« sei vonnöten . Ihre Aufgabe be- denten Otto Braun mit Hilfe einer Notverordnung des Reichs- stünde auch darin, unverzüglich die Verstaatlichung weite- präsidenten aus dem Amt gejagt .5 Es bedurfte hierzu lediglich rer als der schon genannten Wirtschaftszweige und Unter- eines Leutnants mit zehn Mann . Ein »Widerstand« dagegen nehmen vorzubereiten . Bei der Führung der verstaatlichten war nur in Form einer Klage vor dem Staatsgerichtshof orga- Wirtschaftszweige müssten die Vertreter der Arbeitnehmer, nisiert worden . Weder die Preußische Polizei noch die sozial- also die Gewerkschaften, »angemessen beteiligt« werden . demokratische Wehrorganisation »Reichsbanner« wurden zur Die Arbeitsbeschaffung durch staatliche Kreditaufnahme Abwehr dieses Staatsstreiches eingesetzt .6 in Höhe einer Milliarde Reichsmark, die kostenlose Abga- be von Kartoffeln, Fleisch und Kohle an die immer zahlrei- Zeitgleich steigerten sich die gewalttätigen Aktionen der cher werdende Schicht verelendeter Existenzen werde im SA auch gegenüber der Sozialdemokratie . Nicht zuletzt das Rahmen einer »Winterhilfe« angestrebt . Für Zucker müsse »Reichsbanner« war Adressat blutiger Anschläge, darunter At- staatlicherseits ein Höchstpreis festgesetzt, die Preise für tentate mit Pistolen und Handgranaten .7 Mehl und Brot, Fette, Schmalz und Margarine dürften nicht Keine zwei Wochen nach dem »Preußenschlag« musste die erhöht, sondern gegebenenfalls gesenkt werden . Der ent- SPD bei den Reichstagswahlen am 31 .Juli eine schwerwiegen- eignete Großgrundbesitz sei an Kleinbauern, Landarbeiter de Niederlage einstecken . Sie verlor im Vergleich zu den vo- und genossenschaftlich arbeitende Landwirte aufzuteilen . rangegangenen Wahlen im September 1930 knapp 620 .000 Im Übrigen seien die Neubaumieten zu senken, Mietbeihil- Stimmen und büßte 10 Mandate ein, während die NSDAP zur fen für Rentner und Arbeitslose müssten zur Verfügung ge- stärksten Partei avancierte, die jetzt über mehr Mandate ver- stellt werden . 50 Millionen Reichsmark seien zugunsten der fügte als die SPD und die KPD zusammen (230:133:89) . In- Weiterbildung jugendlicher Arbeitsloser aufzuwenden . Die nerhalb der Arbeiterbewegung verschoben sich die Gewich- regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit sei auf vierzig Stun- te immer stärker zugunsten der Kommunisten . Sie konnten

34 in der Reichshauptstadt Berlin bei den Reichstagswahlen die Fritz Tarnow propagiert den Sozialismus meisten Stimmen aller Parteien erzielen . Insgesamt gewan- nen sie 700 .000 Stimmen und 12 Mandate im Vergleich zu Tarnow hebt in seinem »Vorwärts«-Artikel hervor, dass es sich den Wahlen im September 1930 hinzu und stellten die dritt- bei der Kaskade sozialdemokratischer Anträge im Reichstag stärkste Fraktion im Reichstag . Der wachsende Einfluss der nicht »um die Befriedigung eines bloßen Agitationsbedürfnis- Kommunisten, der seinen beredten Ausdruck bei den Er- ses oder nur um ein politisches Manöver zur Entlarvung des gebnissen zu den Reichstags-, Landtags- und Kommunal- Nationalsozialismus« handele . Vor allem: »Die Anträge dürfen wahlen fand, bildete ein starkes Motiv für die Propagierung auch keineswegs als die Plakatierung von Fernzielen angese- des »Umbau«-Planes . Der Chefredakteur des »Vorwärts« und hen werden .« Scheinbar wird der Übergang zum Sozialismus Reichstagsabgeordnete Friedrich Stampfer schrieb hierzu in als Tagesaufgabe deklariert: »Die heute vorhandene ökonomi- seinen Memoiren: »Er (der Plan zum »Umbau« der Wirtschaft- sche Situation wird als reif für sozialistische Wirtschaftsum- R .Z .) sollte der Sozialdemokratie gegenüber der Kommunis- gestaltung in breiter Front angesehen .« tischen Partei die Führung in der politischen Arbeiterbewe- In gleicher Weise argumentieren der Parteivorsitzende Otto gung sichern . Gelang es, die Massen für den Plan ins Feuer Wels, der Reichstagspräsident Paul Löbe sowie diverse Leit- zu bringen, dann blieb der KPD nur die Rolle des Mitläufers artikler des »Vorwärts« .11 Sie suggerieren, dass es an der Zeit oder die des unfruchtbaren Kritikasters .«8 sei, »den grundsätzlichen Umbau von der kapitalistischen Mittlerweile versuchte das Kabinett Papen, das ohne jede par- Anarchie zur Planwirtschaft vorwärts« zu treiben . Es ginge lamentarische Erdung den Demokratie- und Sozialabbau, den um nicht weniger als den »sozialistischen Aufbau«, so lesen Prozess der Faschisierung immer weiter vorantrieb, die NS- wir es in großen Lettern auf der Titelseite des »Vorwärts« am DAP auf irgendeine Weise an der Regierungsmacht zu betei- 20 . August 1932 .12 ligen . Vielleicht mit Hitler oder einem anderen faschistischen Bei allen Autoren, die sich zum »Umbau der Wirtschaft« zu Wort Parteiführer als Vizekanzler? Vielleicht als die Regierungspoli- melden, fällt auf, dass sie zur Verwirklichung ihrer Forderungen tik tolerierende Fraktion im Reichstag? Ferner gingen Reichs- ausschließlich parlamentarische Mittel – und etwas später – kanzler von Papen und die nach dem Staatsstreich in Preu- die Durchführung eines Volksentscheides einsetzen wollen 13. ßen eingesetzte kommissarische Regierung in zunehmendem Konkrete Maßnahmen des außerparlamentarischen Kampfes, Maße auch offen repressiv gegen die Sozialdemokratie vor . z .B . politische Streiks, Betriebsbesetzungen, organisierter In diesen Zusammenhang gehörte das Verbot des »Vorwärts« Widerstand gegen die immer zahlreicheren Exmittierungen, vom 30 . August bis zum 2 . September 1932 durch den Berli- Massendemonstrationen, die politische Aktivierung der nach ner Polizeipräsidenten Kurt Melcher . Die Begründung dieser Millionen zählenden Erwerbslosen und der Not leidenden Klein- willkürlichen Vorgehensweise ließ bereits den Geist des be- bauern und Kleingewerbetreibenden, sind nicht vorgesehen . vorstehenden »Dritten Reiches« aufscheinen . Da das Regie- Deshalb titelt der »Vorwärts« auch am 7 .Sept ember nicht »So- rungsprogramm Papens in der sozialdemokratischen Tages- zialdemokratie, greif an!« oder »Arbeiter, greift an!«, sondern zeitung als »Programm des Verfassungsbruchs« bezeichnet »Reichstag, greif an! Die sozialdemokratische Reichstagsfrak- worden sei, liege »eine grobe Beschimpfung und böswillige tion ruft zur Offensive gegen Lohnraub!« Wohlgemerkt: Nicht Verächtlichmachung des Herrn Reichskanzlers« vor 9. der Parteivorstand, sondern die Reichstagsfraktion wird kon- Insgesamt schienen für die Sozialdemokratie die Zeiten wach- sequenter Weise das Aktionszentrum der beabsichtigten, sender politischer Einflusslosigkeit und immer größer werden- auf das Parlament reduzierten Aktivitäten . Es stellt sich al- der Entfremdung von ihrer Basis angebrochen zu sein . Vor al- lerdings, selbst für diejenigen, die einen solchen parlamen- lem das peinliche Zurückweichen am 20 . Juli, ungeachtet der tarischen Kampf befürworten, die Frage: Welche Glaubwür- Kampfbereitschaft ihrer Mitglieder und Anhängerschaft, hatte digkeit können derartige Konzepte beanspruchen, angesichts die Autorität der sozialdemokratischen Parteiführung arg be- der jahrelangen »Tolerierung« Brünings im Reichstag durch schädigt . Nachdem bereits die »Tolerierung« der reaktionären die sozialdemokratische Fraktion? Und hatte nicht das Zu- Brüning-Kabinette (März 1930 bis Mai 1932) die SPD zum Teil- rückweichen am 20 . Juli 1932 und die strikte Weigerung, ge- haber eines sich immer rasanter vollziehenden Demokratie- meinsam mit der KPD gegen die Faschisten und ihre Steigbü- und Sozialabbaus gemacht hatte, war im Sommer 1932 ein gelhalter im »Kabinett der Barone« vorzugehen, hatte nicht Punkt erreicht worden, an dem ein »Befreiungsschlag« drin- das Beharren auf einem so genannten Legalitätskurs die In- gend vonnöten war, um aus der politischen Defensive heraus- suffizienz des vornehmlich parlamentarischen Kampfes nach- zukommen . Es galt, wieder die Autorität in der Arbeiterschaft gewiesen? Dies galt umso mehr, als der Reichstag inzwischen zurückzugewinnen und die eigenen Mitglieder, Anhänger und kaum noch einberufen und statt mit Gesetzen in der Regel Wähler neu zu motivieren . Es ging um die Wiedergewinnung mit Notverordnungen des Reichspräsidenten Paul von Hin- der politischen Glaubwürdigkeit . Die Rezepturen hierzu laute- denburg regiert wurde . Die Orientierung auf den Reichstag ten »Umbau der Wirtschaft« und: »Vorstoß zum Sozialismus«, als dem vermeintlich wichtigsten Akteur bei der Realisierung wie es der Vorsitzende der Holzarbeitergewerkschaft Fritz Tar- des »Umbau«-Programms rief von Anfang an ernste Zweifel now am 21 .August 1932 im »Vorwärts« formulierte 10. an dessen Seriosität hervor .

35 Vorwärts, Sonderausgabe, 4 ./5 .9 .1932, S .1

Übrigens: Die naheliegende Frage, weshalb die SPD nicht mus hoffnungslos ungünstig waren« . Im Gegensatz dazu sei schon während der Revolution von 1918/1919 die Sozialisie- »die heute vorhandene ökonomische Situation reif für sozia- rung des Großgrundbesitzes, der Banken und der Schwerin- listische Wirtschaftsgestaltung in breiter Front« . »Viele An- dustrie durchgeführt hatte, beantwortete Fritz Tarnow wahr- zeichen«, so Tarnow, »sprechen dafür, dass der Zeitpunkt heitswidrig damit, dass damals der Arbeiterbewegung die gekommen ist, an dem der Übergang zur sozialistischen Wirt- politische Macht in einem Augenblick zugefallen sei, »als die schaftsform eine entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit ökonomischen Bedingungen für den Übergang zum Sozialis- geworden ist .«14

36 Die Haltung des ADGB und seine Kontakte zur NSDAP faschistischen Partei, diversen »Wehrverbänden«, wie dem »Stahlhelm« und dem »Reichsbanner«, sowie der Reichswehr- Problematisch ist die Haltung von führenden Funktionären des führung an . Diese Konzeption impliziert die Spaltung der sozi- Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes zum »Umbau«- aldemokratischen Arbeiterbewegung und der faschistischen Programm der SPD . Denn ohne die Mobilisierung und aktive Partei . Letztlich soll dieses Bündnis die fragile Basis eines Teilhabe der Gewerkschaften und ihrer Millionen parteiloser Reichskabinetts unter General von Schleicher bilden .18 Wie Mitglieder ist die Realisierung derartiger Konzepte – sollten sich herausstellt, handelt es sich hier um ein realitätsfer- sie ernst gemeint sein – von vornherein chancenlos . nes Konstrukt, da die Orientierung bedeutender Exponenten Der ADGB hatte seinerseits auf einem »Krisenkongress« im des deutschen Monopolkapitals und anderer gesellschaftli- April 1932 ein Programm verabschiedet, dass nach seinen cher Eliten auf die Machtübertragung an die NSDAP und ih- geistigen Urhebern Wladimir Woytinski, Fritz Tarnow und ren »Führer« Adolf Hitler nicht in erforderlichem Maße in Be- Fritz Baade »WTB-Plan« genannt wird 15. Im Gegensatz zum tracht gezogen wird .19 »Umbau«-Programm der SPD wird hier von der Reichsregie- Wie auch immer: Streng vertraulich kommt es im Sommer rung im Wesentlichen die Realisierung einer antizyklischen 1932 zu ersten Gesprächen zwischen Repräsentanten des Wirtschaftspolitik gefordert . Sie soll mit Hilfe von kreditfi- ADGB und der faschistischen Partei . nanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, nämlich einer Am 26 .A ugust empfängt der ADGB-Vorsitzende Theodor Lei- »volkstümlichen Arbeitsbeschaffungsanleihe, die so auszuge- part Hermann Cordemann, der das Berliner Büro der Wirt- stalten ist, dass sie die von der Bevölkerung gehorteten Gel- schaftspolitischen Abteilung der NSDAP leitet und zuvor der anzieht«16, durch einen Freiwilligen Arbeitsdienst, Infra- kaufmännischer Mitarbeiter der Siemens-Schuckert-Werke strukturmodernisierungen, Wohnungs- und Kleinsiedlungsbau war, zu einem langen Gespräch .20 Cordemann unterstreicht sowie Meliorationen zu einer Belebung der Konjunktur, einem im Rahmen seiner höchst widersprüchlichen Ausführungen, deutlichen Abbau der Massenarbeitslosigkeit und zu einer He- dass die faschistische Partei zwar »auf dem Boden des Pri- bung der daniederliegenden Massenkaufkraft führen . vateigentums« stehe, aber die Unternehmer dürften »dieses Diese Konzepte sind jedoch weitgehend systemimmanent Eigentum nur zum Wohle der Gesamtheit verwalten« . Aus ei- und bieten im Gegensatz zum »Umbau«-Programm der SPD gener beruflicher Erfahrung wisse er, »dass die schlimmste keinerlei sozialistische Perspektive an . Heinrich Schliestedt, Ausbeutung beim Industriekapital liege« . Und weiter: »Das, Sekretär des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, bringt in was wir wirtschaftspolitisch wirklich wollen, haben wir noch einer Sitzung des Bundesausschusses des ADGB am 16 .F eb- gar nicht publiziert . (…) Ich versichere Ihnen aber, dass es ruar 1932 die Kritik an der Unzulänglichkeit solcher Program- antikapitalistisch sein wird .« Am Ende gibt Leipart dem Ab- me mit folgenden Worten auf den Begriff: gesandten der Nazis die Zusicherung, dass er durchaus be- »Was bis jetzt an Plänen erörtert wird, basiert auf der kapi- reit wäre, mit Gregor Strasser zu reden, dem Reichsorganisa- talistischen Ordnung; wir hätten die Pflicht zu zeigen, ob es tionsleiter der faschistischen Partei . Strasser hatte in einer von der anderen, der sozialistischen Ebene einen Weg gibt . vielbeachteten Reichstagsrede am 10 . Mai 1932 davon ge- Wir dürfen uns aber nicht im Negativen erschöpfen . (…) Die sprochen, dass 95 Prozent aller Deutschen von einer »gro- Enteignung erfordert politische Macht – aber ohne solche ßen antikapitalistischen Sehnsucht« erfüllt seien und zugleich Forderung bekommen wir die politische Macht nicht . Solche das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB in den höchs- konkreten Forderungen müssen wir zu einem Gegenwarts- ten Tönen gelobt 21. Er gilt als innerparteilicher Konkurrent Hit- programm zusammenstellen, und dafür können wir die Mas- lers und wird Monate später als Anwärter auf den Posten des sen mobilisieren .«17 Schliestedt erfährt mit seiner Auffassung Vizekanzlers in einem »Querfront«-Kabinett Kurt von Schlei- über den Charakter eines gewerkschaftlichen Wirtschafts- chers gehandelt . programms fast keinerlei Unterstützung . Das Einschwenken Erich Lübbert, Generaldirektor einer mittelständischen Tief- des ADGB auf das viel weitergehende »Umbau«-Programm baufirma, Mitglied des Arbeitsausschusses Deutschnationa- der Sozialdemokratie kann nur durch Halbherzigkeit gekenn- ler Industrieller und des Wirtschaftsbeirates des reaktionären zeichnet sein . Es fehlt die innere Überzeugung von der Not- »Stahlhelms-Bund der Frontsoldaten«, hatte zwei Tage zuvor wendigkeit der hier vorgeschlagenen Maßnahmen . mit den Sekretären des Bundesvorstandes Wilhelm Eggert Ohnehin scheinen einige führende Gewerkschaftsfunktionä- und Hermann Schlimme sowie mit Lothar Erdmann22 konfe- re auf Distanz zur SPD zu gehen . Sie sind in wachsendem riert, dem Redakteur der theoretischen Zeitschrift der Ge- Maße bereit, die »nationale Karte« zu spielen und den Dia- werkschaften, »Die Arbeit« 23. Der Gast ist bestens eingeführt, log mit »antikapitalistischen« Kräften in der NSDAP um den denn er verweist auf eine Empfehlung von Albert Gebhardt, Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser und dem als »ro- der das Berliner Büro des »Reichsbanners« leitet und zu- ten General« apostrophierten Reichswehrminister Kurt von gleich Mitarbeiter des Reichskommissars für Arbeitbeschaf- Schleicher zu führen . Dieser strebt ein »Querfront«-Bündnis fung ist .24 Lübbert bemüht sich, die angeblichen Gemein- zwischen den Führungen des ADGB, der Christlichen Gewerk- samkeiten zwischen den Gewerkschaften und der NSDAP schaften, Strasser und seinen Sympathisanten innerhalb der herauszuarbeiten, die er als »die positiven politischen Kräf-

37 te« in Deutschland bezeichnet . Es ginge darum, dass »bei- würdigkeit des »Umbau«-Programms zu untermauern . Die der Bestrebungen der gemeinsamen Idee der Nation unterzu- Partei zeigte sich jedoch außerstande, über ihren Schatten ordnen« seien . Wichtig sei vor allem, die Arbeitsdienstpflicht zu springen .28 einzuführen und dadurch die jungen Leute bis zur Vollendung So blieb die Konzeption vom »Umbau der Wirtschaft« nicht ihres 22 . Lebensjahres vom Arbeitsmarkt fern zu halten . mehr als eine interessante Episode in der Theorie und Praxis Am Rande bemerkt: Lübbert unterzeichnet im November des hilflosen Antifaschismus der Sozialdemokratie am Ende 1932 die Industrielleneingabe an Paul von Hindenburg, die der Weimarer Republik . den Reichspräsidenten auffordern wird, Hitler zum Reichs- Ungeachtet dessen bot sie potenzielle Anknüpfungspunkte kanzler zu berufen . Zu Beginn der 1960er Jahre zählt er für ein gemeinsames Handeln der Arbeiterorganisationen . dann – von seinem Wohnsitz in Südwestafrika aus – zu den Sowohl die tagespolitischen als auch die weiterreichenden Finanziers der neofaschistischen Deutschen Reichs-Partei .25 Forderungen, die ohne Zweifel auf die Überwindung des kapi- Zwar widersprechen die gewerkschaftlichen Gesprächspart- talistischen Wirtschaftssystems zielten, hätten eine diskussi- ner recht energisch den Auffassungen der Herren Corde- onswürdige programmatische Grundlage für ein einheitliches mann und Lübbert; aber allein die Tatsache, dass diese Ge- Handeln von SPD, ADGB und KPD darstellen können . Man spräche überhaupt und in einem Augenblick stattfinden, in hätte die sozialdemokratische Führung beim Wort nehmen dem die sozialdemokratische Partei mit publizistischer Unter- müssen . Dass diese Potenziale des »Umbau-Programms« stützung von leitenden ADGB-Funktionären wie Fritz Tarnow vom Sommer 1932 ungenutzt blieben, dafür trugen jedoch einen sozialistisch anmutenden »Umbau der Wirtschaft« for- nicht allein die SPD und die Freien Gewerkschaften die Ver- dert sowie die SPD und ihre »Vorfeldorganisationen« immer antwortung . Auch die Führung der KPD hätte hierzu über häufiger terroristischen Anschlägen der SA ausgesetzt sind, ihren Schatten springen und die ständige Diffamierung der ist skandalös und lässt ernsteste Zweifel am Willen zur Re- SPD als »sozialfaschistisch« und den gegen sie gerichteten alisierung des »Umbau«-Programms entstehen . Im Übrigen: Kampf beenden müssen .29 Doch erst auf dem VII . Kongress Weshalb die Geheimniskrämerei, um diese Gespräche gegen- der Kommunistischen Internationale und während der Brüs- über der Öffentlichkeit, vor allem den eigenen Mitgliedern, zu seler Konferenz der KPD sollte sich drei Jahre später – zu verheimlichen? spät! – diese Erkenntnis Bahn brechen .30

»Umbau«-Programm bleibt Episode Reiner Zilkenat Insgesamt waren die Voraussetzungen für die Realisie- rung des »Umbaus der Wirtschaft« alles andere als günstig . Erstens konnten Tendenzen einer Distanzierung der Ge- werkschaften, aber auch des »Reichsbanners«26, von der SPD und ihr Einschwenken auf nationalistische Stimmungen (z .B . »Wehrhaftigkeit«, Arbeitsdienst- pflicht, »national« definierter Sozialismus, Antimar- xismus) nicht übersehen werden . Ohne die aktive Unterstützung des ADGB und aller sozialdemokra- tischen »Vorfeldorganisationen« war der Plan eines »Umbaus« der Wirtschaft im Sinne der Anträge der SPD-Reichstagsfraktion von vornherein zum Schei- tern verurteilt . Zweitens existierte kein überzeu- gendes Konzept für die Umsetzung des »Umbau«- Programms . Besonders von der Notwendigkeit außerparlamentarischer Kämpfe war nirgendwo die Rede . Deshalb fehlte drittens konsequenter Weise fast jeder ausdrückliche Hinweis, dass die Rea- lisierung der unterbreiteten Vorschläge letztlich die Frage der Erringung der po- litischen Macht auf die Tagesordnung setzte .27 Viertens wäre spätestens nach der kampflosen Preisgabe der sozialdemokratischen »Bastion« Preu- ßen am 20 . Juli 1932 eine vollständige Änderung der politischen Strategie der SPD vonnöten gewesen, um die Glaub- Vorwärts, Nr . 423, 8 .9 .1932, S .1

38 16 Aus der Entschließung des ADGB-»Krisenkongresses« vom 13 . April 1932; zi- 1 Stark erweiterte und überarbeitete Fassung eines Beitrages, der zuerst am tiert nach: Frank Deppe und Wittich Rossmann: Wirtschaftskrise, Gewerk- 18 . August 2012 in der »Jungen Welt« erschienen ist . schaften, Faschismus . Dokumente zur Gewerkschaftspolitik 1929–1933, Köln 2 Speziell zur Forderung nach einer Verstaatlichung der Montanindustrie sie- 1981, S .159 . he Vorwärts, Nr . 393, 21 . August 1932, 2 . Beilage, S . 1: »Verstaatlichung der 17 Siehe Die Gewerkschaften in der Endphase der Republik 1930–1933 . Bear- Montanindustrie . Wir fordern sie – Die Volkswirtschaft braucht sie – Die Wis- beitet von Peter Jahn unter Mitarbeit von Detlev Brunner, Köln 1988 (Quellen senschaft rechtfertigt sie« . zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, im 20 . Jahrhundert, 3 Siehe Vorwärts, Nr . 381, 14 . August 1932, S . 1: »Umbau der Wirtschaft! Sozi- Bd . 4), Dokument 76, S . 510 . aldemokratie zeigt den Weg«; Nr . 391, 20 . August 1932, S . 1: »Sozialistischer 18 Siehe hierzu Axel Schildt: Militärdiktatur auf Massenbasis? Die Querfrontkon- Aufbau . Unsere Forderungen im Reichstag«; Nr . 292, 21 . August 1932, S . 4: zeption der Reichsregierung um General von Schleicher am Ende der Wei- »Hilfe für die Arbeitslosen! Die Anträge unserer Reichstagsfraktion«; Nr . 393, marer Republik, Frankfurt a .M . und New York 1981; derselbe: Sozialdemo- 21 .A ugust 1932, S .3: »Milderung der Wirtschaftsnot . Weitere Anträge der so- kratische Arbeiterbewegung und Reichswehr – Zur Militärpolitik der SPD in zialdemokratischen Reichstagsfraktion« . den letzten Jahren der Weimarer Republik, in: Deutsche Arbeiterbewegung vor 4 Siehe hierzu Hans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von Wei- dem Faschismus . Mit Beiträgen von Hildegard Caspar u .a ,. Berlin 1981 (Argu- mar 1918–1933, 2 . Ausgabe, München 2001, S . 296 ff . ment-Sonderband 74), S . 109 ff .; derselbe: Militärische Ratio und Integration 5 Siehe zur Politik Papens die Arbeit von Ulrike Hörster-Philipps: Konservative der Gewerkschaften . Zur Querfrontkonzeption der Reichswehrführung am En- Politik in der Endphase der Weimarer Republik . Die Regierung Franz von Pa- de der Weimarer Republik, in: Solidargemeinschaft und Klassenkampf . Politi- pen, Köln 1982 . Neue Aufschlüsse zur Person und Politik Papens finden sich sche Konzeptionen der Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen . Hrsg . von in der Studie von Karl Heinz Roth: Franz von Papen und der Faschismus, in: Richard Saage, Frankfurt a M. . 1986, S .346 ff . Schildt spricht hier (S .354) von Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51 .Jg ., 2003, H .7, S . 589 ff . einer »Mischung von Nationalismus und aktiver Konjunkturpolitik«, die den po- 6 Siehe Hans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar litischen Vorstellungen der ADGB-Führung im Jahre 1932 in immer stärkeren 1918–1933, S . 537 ff .; Eberhard Heupel: Reformismus und Krise . Zur Theorie Maße zugrunde gelegen habe . und Praxis von SPD, ADGB und AfA-Bund in der Weltwirtschaftskrise 1929– 19 Siehe hierzu meinen Beitrag zum Verhältnis von Großindustrie und NSDAP in 1932/1933, Frankfurt a .M . und New York 1981, S . 164 ff . Der Bochumer His- diesem Heft . toriker schreibt ebenda, S .1 75, »dass in den Ereignissen des 20 .Juli 1932 das 20 Siehe Die Gewerkschaften in der Endphase der Republik 1930–1933, Doku- Scheitern des reformistischen Antifaschismus offenbar wurde« . Siehe auch ment 122, S . 657 ff . Daraus auch die folgenden Zitate . Albrecht Grzesinski: Im Kampf um die deutsche Republik . Erinnerungen ei- 21 Siehe Verhandlungen des Reichstags, Bd . 446, 62 . Sitzung, 10 . Mai 1932, nes Sozialdemokraten . Herausgegeben von Eberhard Kolb, München 2001, S . 2511 . S . 257 ff . 22 Erdmann galt als einer der Protagonisten für eine politische Hinwendung des 7 Siehe hierzu die ausführliche Berichterstattung des »Vorwärts«, der auch die ADGB zu General von Schleicher und seinem »Querfront«-Konzept . Zugleich milden Strafen für die Nazi-Täter beklagte . Bilanzierend: Vorwärts, Nr . 461, plädierte er dafür, das historisch gewachsene Bündnis der Freien Gewerk- 30 . September 1932, S . 1 f .: »100 Tote in sechs Wochen!« schaften mit der SPD aufzukündigen und schlug dabei immer stärker »natio- 8 Friedrich Stampfer: Erfahrungen und Erkenntnisse . Aufzeichnungen aus mei- nale« und antimarxistische Töne an . Die Nazis ermordeten ihn im September nem Leben, Köln 1957, S . 326 . Stampfer gehörte auch zeitweilig dem Par- 1939 im KZ Buchenwald . teivorstand an und war bestrebt, nicht alle Brücken zur KPD abzubrechen, 23 Siehe Die Gewerkschaften in der Endphase der Republik 1930–1933, Doku- sondern die Polemik der SPD gegenüber den Kommunisten zumindest abzu- ment 120, S . 652 ff . Daraus auch die folgenden Zitate . mildern . 24 Gebhardt wird 1933 Mitglied der NSDAP . 9 Siehe Vorwärts, Nr . 409, 31 . August 1932, S . 1: »Vorwärts verboten!« 25 Siehe Der Spiegel, Nr .45, 1 .Januar 1961, S .40 f .: »Hilfe aus Afrika« . 10 Siehe Vorwärts, Nr .393, 21 .A ugust 1932, S .1 , Fritz Tarnow: »Vorstoß zum So- 26 Siehe hierzu Hans Mommsen: Aufstieg und Niedergang der Republik von Wei- zialismus« . Daraus auch die folgenden Zitate . mar 1918–1933, S . 289 f ., 599 ff . und 608 ff . Insgesamt zur Geschichte des 11 Siehe Vorwärts, Nr . 403, 27 . August 1932, S . 1, Paul Löbe: »Der Weg zur Ret- Reichsbanners siehe Karl Rohe: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold . Ein Bei- tung! Sozialistische Aktion!«; Nr . 437, 16 . September 1932, S . 3 f .: »Löbe ant- trag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der wortet Papen!«; Nr. 445, 21 . September 1932, S. 1 f .: »Wir greifen an! Wels Weimarer Republik, Düsseldorf 1966; Helga Gottschlich: Zwischen Kampf und Löbe rufen zum Freiheitskampf«; Nr .459, 29 .Sept ember 1932, S .1 , Paul und Kapitulation . Zur Geschichte des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Ber- Löbe: »Warum erst jetzt? Eine Antwort an unsere Gegner«; lin 1987 . 12 Ebenda, Nr . 391, 20 . August 1932, S . 1 . 27 In diesem Zusammenhang schiebt Fritz Tarnow in seinem programmatischen 13 Siehe Vorwärts, Nr . 431, 13 . September 1932, S . 2: »Unser Volksentscheid!« Artikel »Vorstoß zum Sozialismus« auch die Frage schnell beiseite, wie es um und Nr .435, 15 .Sept ember 1932, S .1 , Siegfried Aufhäuser: »Unser Volksbe- das Verhältnis evolutionärer und revolutionärer Elemente bei der Realisierung gehren . Unser Weg .« Aufhäuser war Vorsitzender des Allgemeinen freien An- des »Umbau«-Programms bestellt sei: »In der Geschichte der sozialistischen gestelltenbundes (»AfA-Bund«) und Mitglied des Reichstages . Arbeiterbewegung hat die Frage, ob der Weg zum Sozialismus ein ›revoluti- 14 Siehe Vorwärts, Nr . 393, 21 . August 1932, S . 1, Fritz Tarnow: »Vorstoß zum onärer‹ oder ein ›evolutionärer‹ sein soll, mehr als einmal heiße Debatten Sozialismus . Unsere Anträge im Reichstag .« Siehe auch Vorwärts, Nr . 459, ausgelöst . Die Gegensätzlichkeit zwischen diesen beiden Begriffen ist in der 29 .Sept ember 1932, S .1 , Paul Löbe: »Warum erst jetzt? Eine Antwort an un- Praxis aber gar nicht so groß … In Wirklichkeit handelt es sich auch nur da- sere Gegner .« rum, in welchem Tempo der Systemwechsel abgewickelt werden kann, und 15 Siehe Michael Schneider: Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB . Zur das ist eine Angelegenheit, die nicht allein von der politischen Willensbildung, gewerkschaftlichen Politik in der Endphase der Weimarer Republik, Bonn-Bad sondern in viel höherem Maße auch von ökonomischen Voraussetzungen ab- Godesberg 1975 . Auf S . 96 ff . stellt der Autor das »Problem der Einbindung hängt .« Vorwärts, Nr .393, 21 . August 1932, S . 1, Fritz Tarnow: »Vorstoß zum des Arbeitsbeschaffungsplans in die Programmatik zum ›Umbau der Wirt- Sozialismus« . schaft‹« und das sich »abkühlende« Verhältnis von ADGB und SPD in der Zeit 28 Aller dings gab es innerhalb der Sozialdemokratie, auch bei einigen führenden der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise ausführlich dar . Siehe auch dersel- Genossen, durchaus die Bereitschaft, auf die KPD zuzugehen . Sie bildeten al- be: Arbeitsbeschaffung . Die Vorstellungen von Freien Gewerkschaften und lerdings eine kleine Minderheit . Siehe Reiner Tostorff: »Einheitsfront« und/ SPD zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise, in: Sozialdemokratische Arbei- oder »Nichtangriffspakt« mit der SPD, in: Sozialdemokratische Arbeiterbewe- terbewegung und Weimarer Republik . Materialien zur gesellschaftlichen Ent- gung und Weimarer Republik, S . 206 ff . wicklung 1927–1933 . Hrsg . von Wolfgang Luthardt, 1. Bd ., Frankfurt a .M . 29 Siehe hierzu den Beitrag von Klaus Kinner in diesem Heft . 1978, S . 221 ff . 30 Siehe hierzu

39 Vorwärts, Nr . 455, 27 .9 .1932, Beilage, S .1

40 Hitler Reichskanzler – heraus zum Generalstreik!

»Heraus zum Generalstreik!« So lautete die unmissverständ- lungsteilnehmern . Er verwies auf die Gefahr, die nicht nur liche Aufforderung, die bereits am Abend des 30 . Januars den Werktätigen, sondern dem ganzen deutschen Volk droh- 1933 in einem Extraflugblatt der KPD nicht nur an die Ber- te, wenn nunmehr der an der Macht befindliche Faschismus liner Bevölkerung gerichtet war, sondern zugleich im ganzen sich festigte . Er benannte die Möglichkeiten zur Abwehr der Land verbreitet wurde . Für die Kommunisten und alle demo- drohenden Gefahr . Die Versammelten nahmen einstimmig ei- kratischen Kräfte war klar: Es muss alles unternommen wer- nen Aufruf an, in dem vorgeschlagen wurde, am 31 .Januar in den, um die von Reichspräsident Paul von Hindenburg an die allen Berliner Betrieben Versammlungen durchzuführen, um Macht gebrachte Regierung unter Adolf Hitler zu beseitigen . einen Massenstreik zu beschließen . Es ging darum, das Lügengespinst von der »nationalen Revo- Zur Umsetzung der vorgeschlagenen Aktion wurde ein Fünf- lution« der »Erhebung gegen Chaos, Arbeitslosigkeit und Not« zehnerausschuss gewählt . Ihm gehörten fünf Sozialdemokra- aufzudecken und die wahren Ziele der braunen Machthaber ten an . offenzulegen . In mehreren Berliner Stadtbezirken kam es am Nachmittag und Noch am gleichen Tag unterbreitete das Zentralkomitee der am Abend des 31 . Januar 1933 zu Arbeiterdemonstrationen . KPD dem Parteivorstand der SPD ein konkretes Angebot zum Die Unterbezirksleitung der KPD von Berlin-Prenzlauer Berg gemeinsamen Generalstreik, um die noch verbliebenen de- mobilisierte eine Kurzdemonstration an der sich neben Kom- mokratischen Rechte und Freiheiten der Weimarer Republik munisten und Sozialdemokraten auch Sympathisanten aus zu erhalten und die Festigung des NS-Regimes zu verhindern . Sport- und antifaschistischen Wehrorganisationen beteiligten . Allerdings mangelte es diesem Angebot an Glaubwürdigkeit, Auf dem Bülowplatz vor dem Karl-Liebknecht-Haus fanden denn die KPD hatte bislang kaum eine Gelegenheit verstrei- sich Arbeiter unter der Losung »Sturz dem Faschismus!« chen lassen, die SPD des »Klassenverrats« zu bezichtigen, zusammen . In Berlin-Charlottenburg wehrten sich Arbeiter sie als »sozialfaschistisch« zu denunzieren und vor allem die gegen NS-Schläger, die jetzt der Überzeugung waren, ih- linken Kräfte innerhalb der SPD als besonders »gefährlich« ren Terror ungestraft mit dem Rückhalt der neu errichteten zu bezeichnen, würden sie doch angeblich »Illusionen« inner- Staatsmacht ausüben zu können . An Mauern, Zäunen und halb der Arbeiterklasse über den Charakter der Sozialdemo- Brücken der Stadt tauchten zahlreiche antifaschistische In- kratie verbreiten . schriften auf . Dank einer vollständigen Fehleinschätzung der politischen Im Stadtbezirk Friedrichshain zogen viele Werktätige mit Lage und bedingt durch antikommunistische Vorbehalte lehn- Spruchbändern gegen die brauen Machthaber durch die Stra- te die sozialdemokratische Führung ihrerseits erwartungsge- ßen und bekundeten so ihre Kampfbereitschaft gegen die NS- mäß ein Zusammengehen mit der KPD nebst der Organisie- Regierung . Etwa 1 .000 Köpenicker Arbeiter beteiligten sich rung eines Generalstreiks ab und verwies ihre Mitglieder und am 31 . Januar an einer Protestkundgebung der KPD, die den Anhänger auf die kommenden Reichstagswahlen . Sturz der Faschisten forderte 1. Am 1 . Februar 1933 verhin- Entgegen der abwartenden Haltung des SPD-Vorstandes er- derten Kommunisten und Sozialdemokraten einen geplan- kannten viele Funktionäre und Mitglieder der SPD in den ten Aufmarsch der SA auf dem Helmholtz-Platz, dem »Roten Großstädten und Industriezentren des Landes ihre Verant- Platz« der Arbeiter vom Prenzlauer Berg . Dort sollte der Ho- wortung angesichts der Installierung des Hitler-Papen-Kabi- henzollernsprößling Prinz Wilhelm-August von Preußen (»Au- netts und setzen sich gemeinsam mit Kommunisten für die wi«) sprechen – seit Jahren Mitglied der SA und umjubelter Auslösung eines Generalstreiks ein . »Gast« von Nazi-Kundgebungen und -Aufmärschen . Tausen- So kam es noch am 30 .Januar 1933 zu einer Betriebsrätevoll- de Gegendemonstranten verhinderten den Redeauftritt und versammlung in Berlin . Auf Initiative der Revolutionären Ge- sangen kraftvoll die »Internationale«: die Nazis zogen unter werkschaftsopposition (RGO) versammelten sich ca . 2 .000 Polizeischutz ab . freigewerkschaftliche und rote Betriebsvertrauensleute so- Auch in anderen Industriezentren im Land fanden unmittelbar wie Mitglieder der Erwerbslosenausschüsse der Reichshaupt- nach dem 30. Januar 1933 antifaschistische Aktionen statt, stadt . Wilhelm Florin, Mitglied des ZK der KPD und zugleich so zum Beispiel in Breslau, Chemnitz, Dresden, Düsseldorf, der damalige Politische Sekretär des Bezirks Berlin-Branden- Essen, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, Mannheim und burg-Lausitz-Grenzmark der KPD, sprach zu den Versamm- Wuppertal .

41 Im Industrieort Hennigsdorf bei Berlin und in den Nachbar- In Vorbereitung auf diese Wahlen beschloss das Politbüro der orten Velten, Bötzow und Marwitz kam es Anfang Februar zu KPD auf Initiative Ernst Thälmanns eine Reichskonferenz der mehreren antifaschistischen Aktionen, organisiert von Kom- Politischen Bezirkssekretäre, ZK-Instrukteure und Abteilungs- munisten und Sozialdemokraten . So befanden sich an allen leiter einzuberufen 2. markanten Punkten in Hennigsdorf antifaschistische Losun- Ferner versuchte die KPD in den ersten Februarwochen des gen . In schnell hergestellten Flugblättern der Orts- und Be- Jahres 1933 wiederholt, die gesamte Arbeiterschaft gegen triebszeitungen der Großbetriebe aus der Industriegemein- die NS-Regierung zu mobilisieren . Das Bemühen der Kom- de wiesen die Widerständler auf die Gefahren hin, die von munisten eine Einheitsfront aller NS-Gegner zu schaffen, er- der faschistischen Diktatur für das deutsche Volk heraufbe- folgte zu diesem Zeitpunkt schon unter dem Kundgebungs- schworen wurden . Es wurden gut organisierte Demonstrati- und Demonstrationsverbot vom 1 . Februar 1933 sowie dem onen durchgeführt, die zeitgleich in verschiedenen Straßen Versammlungs- und Presseverbot durch die Reichsregierung . abliefen, so dass die Polizei diese Kampfaktionen nicht ver- Mit der Besetzung und Durchsuchung des Karl-Liebknecht- hindern konnte . Haus am Bülowplatz in Berlin, dem Sitz des Zentralkomitees Entgegen der politischen Initiative der KPD wurde der Gene- der KPD, der Berliner Bezirksleitung der KPD und des KJVD, ralstreik von der SPD-Führung abgelehnt und die vorhandene sollten die Widerstehenden eingeschüchtert werden . Trotz Abwehrbereitschaft Tausender Kommunisten, Sozialdemokra- des massiven NS-Terrors gelang es den Berliner Kommunis- ten und Gewerkschafter gegen das NS-Regime nicht genutzt . ten, im Februar neun Massenkundgebungen zu organisie- Es erwies sich in dieser Situation, dass zwischen Kommunis- ren . Z .B . in den überfüllten traditionellen Versammlungsor- ten und Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren zuviel ten in Berlin-Friedrichshain, in der Hasenheide, im Moabiter Porzellan zerschlagen worden war, um jetzt zu aktionseinheit- Gesellschaftshaus und im Charlottenburger Edenpalast und lichen Aktionen schreiten zu können . Eine bittere Erkenntnis . anderen Stadtbezirken versammelten sich viele Arbeiter und Unmittelbar nach der Machtübergabe an Hitler und deren Angestellte und bekundeten ihre Bereitschaft zu antifaschis- deutschnationale Partner in der Regierung, organisierten die tischen Aktionen, einschließlich des Sturzes der Regierung . Nazis eine groß angelegte politische Mordhetze gegen ih- In den Berliner Gaswerken verlangten die Arbeiter in einer re politischen Gegner . Es kam zu zahlreichen SA-Überfällen Vollversammlung die Aufhebung des Verbots der »Roten Fah- auf Arbeiterlokale, Arbeitersportstätten und Laubenkolonien; ne« . In den Siemenswerken verständigten sich SPD-und Ge- Funktionäre der KPD, der SPD und der Gewerkschaften wur- werkschaftsführer, einen Streik zu organisieren . Anknüpfend den zum Teil aus ihren Wohnungen verschleppt und in den an gemeinsame Kampferfahrungen in den Monaten der An- schnell eingerichteten »Folterhöhlen« in SA-Heimen und –Lo- tifaschistischen Aktion vor 1933 verstärkten Mitglieder der kalen gedemütigt und schwer misshandelt . kommunistischen und sozialdemokratischen Organisationen Mit dem 30 . Januar 1933 begann für Kommunisten, Sozial- in den Stadtbezirken die Selbstschutzstaffeln zur Abwehr demokraten und Gewerkschafter sowie für die Angehöri- von SA-Überfällen . Gemeinsam schützten Sozialdemokra- gen aller anderen Organisationen der Arbeiterbewegung die ten, Kommunisten und parteilose Antifaschisten die Büros schwerste und opferreichste Kampfperiode ihres Bestehens . der Arbeiterparteien der Gewerkschaften und Jugendorgani- Bereits am 2 . Februar des Jahres analysierte das Sekretari- sationen .3 at des Zentralkomitees der KPD die entstandene Lage der- Am 7 . Februar 1933 trafen sich ca . 40 Mitglieder des ZK und art, dass täglich mit den brutalsten Verbotsmaßnahmen, mit andere leitende Funktionäre der KPD zu einer illegalen Bera- ständigen Zeitungsverboten sowie mit Inhaftnahme führen- tung in Ziegenhals bei Niederlehme . In seinem Vortrag cha- der Funktionäre und mit der Besetzung der Parteihäuser zu rakterisierte Ernst Thälmann die faschistische Regierung rechnen sei . treffend als ein terroristisches Regime des deutschen Finanz- Einen Tag später beriet Ernst Thälmann im Politbüro der KPD kapitals . Er verwies eindringlich auf die friedensbedrohende die Situation und referierte über die gegenwärtigen Aufga- Außenpolitik der Hitlerregierung . Unmissverständlich warn- ben der KPD . te er vor jeglichen legalistischen Illusionen . Er hob in seinem Es wurde darüber gesprochen, wie trotz ablehnender Hal- Referat hervor, dass der Sturz der NS-Regierung unumgäng- tung der SPD- und Gewerkschaftsführung noch ein Massen- lich sei, um wieder demokratische Verhältnisse in Deutsch- streik gegen die faschistische Regierung organisiert und eine land zu schaffen . Einheitsfront mit den Sozialdemokraten zustande kommen Zu den letzten legalen Demonstrationen der Berliner Werktä- könnten . Ferner beriet die Parteiführung über Maßnahmen tigen gegen die braune Diktatur gehörte die Großkundgebung zur Sicherung der Parteikader und die nun notwendige kons- im Lustgarten am 7 . Februar, zu der die sozialdemokratische pirative Arbeit der KPD . Die Partei stand außerdem nach der Eiserne Front aufgerufen hatte . Über 200 .000 Werktätige wa- erfolgten Auflösung des Reichstages und des Preußischen ren dem Aufruf zur Kundgebung gefolgt . Sie bekundeten ihren Landtages vor der schwierigen Aufgabe, unter der neuen poli- Willen, der NS-Regierung entgegenzutreten . Der SPD-Vorsit- tischen Lage den Wahlkampf für die anstehenden Reichstags- zende Otto Wels gab jedoch in seiner Ansprache nicht das Si- wahlen am 5 . März 1933 vorzubereiten und durchzuführen . gnal zu außerparlamentarischem Handeln .4

42 Am 23 . Februar 1933 sprach Wilhelm Pieck als Kandidat der AEG-Betrieb verweigerte die Annahme der NS-Propagandat- Kommunisten für die Reichstagswahlen am 5 . März auf der raktate und behinderte die Wahl der Vertrauensleute durch letzten Massenkundgebung der KPD im Berliner Sportpalast . einen Kurzstreik . Johannes R . Becher schilderte später die damalige Situation: Bereits im Oktober 1932 entschlossen sich sozialdemokra- »Wir hatten diesmal den Sportpalast nicht ganz voll bekom- tische Intellektuelle, eine Widerstandsgruppe gegen die im- men . Wir hatten für unsere ›letzte Versammlung‹ keine rich- mer stärker aufkommenden NS-Horden zu bilden . Unter dem tige Propaganda machen können . Noch am Vorabend hieß Namen »Roter Stoßtrupp« organisierten Rudolf Küstermei- es, sie sei verboten, dann wurde sie plötzlich doch gestat- er, Kurt Blei und Franz Hering eine sich rasch entwickelndes tet, aber wir konnten sie nicht mehr in der Presse anzeigen, Sammelbecken für links orientierte Studenten, Jungarbeiter die Propaganda blieb den einzelnen Berliner Bezirken über- sowie Arbeitslose . Wenige Tage nach dem 30 . Januar 1933 lassen . Es gab Lücken, … als aber die Kapelle mit unseren war der »Rote Stoßtrupp in der Lage, illegale Schriften nicht Kampfmärschen einsetzte, zitterte der Raum vor Begeiste- nur in Berlin, sondern in mehren Orten Deutschlands zu ver- rung und die Lücken schlossen sich «. 5 breiten . Die Widerständler arbeiteten von Anfang an konspi- Rund 15 000 Berliner waren gekommen, um den kommunis- rativ . Sie waren nach dem Prinzip von Fünfergruppen aufge- tischen Reichstagskandidaten Wilhelm Pieck zu hören . Er rief teilt . Es bestand ein breites illegales Netz, das bis zur SPD, die Anwesenden auf, unverzüglich die Einheitsfront im Ringen der SAP reichte, nebst Kontakten zu Trotzkisten, der Schwar- gegen das NS-Regime zu schaffen . zen Front unter Otto Strasser sowie zu katholischen und pro- Ein formelles Verbot der KPD nach der Bildung der NS-Regie- testantischen oppositionellen Kreisen . Über die Familien Me- rung erfolgte nicht, dennoch erwog sie in ihrer ersten Kabi- gelin und Kurt Düttchen gab es Kontakte zu Antifaschisten nettssitzung eine solche Maßnahme . Aus Sorge vor innenpo- um Wilhelm Leuschner und dem Jungkommunisten Heinz Ka- litischen Kämpfen wurde das geplante Verbot vertagt . pelle 6. In der Nacht des Reichstagsbrandes vom 27 ./28 . Februar Ende 1933 gelang der Gestapo, per Zufall ein Einbruch in die 1933 erfolgte in Berlin schlagartig die Festnahme von 1 .500 illegale Organisation . Trotz einer umfangreichen Verhaftungs- Antifaschisten . Einen Tag später erließ Reichspräsident von welle gelang es den faschistischen Repressivorganen nicht, Hindenburg die Notverordnung »Zum Schutze von Volk und den »Roten Stoßtrupp« zu zerschlagen . Staat«, mit der die Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt Die umfangreiche illegale Propagandatätigkeit gegen das NS- wurde . Regime wird u .a . durch die Feststellung des Oberreichsan- Aufs schärfste verfolgt, musste die KPD sich auf die Reichs- waltes Karl Werner in seiner Anklageschrift gegen Karl Zinn tagswahl vorbereiten . Trotz der massiven Wahlbehinderung u .a . sichtbar der den Angeklagten vorwarf, dass von April bis gegen die Arbeiterparteien erzielte die NS-Regierung nicht November 1933 alle sieben bis zehn Tage Ausgaben des »Ro- die erwartete absolute Stimmenmehrheit für die NSDAP bei ten Stoßtrupp in einer Gesamtauflage von 30 000. bis 40 .000 den letzen Wahlen am 5 . März 1933 . Mehr als 12 Millionen Exemplaren erschienen 7. Bürger gaben den Arbeiterparteien ihr Vertrauen, dies war ein Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass an Hand mutiges Bekenntnis gegen die faschistische Diktatur . der dargelegten Beispiele des Widerstehens sich bereits un- Die folgenden Monate des Jahres 1933 waren durch immer mittelbar nach Errichtung der NS-Diktatur in allen Provinzen wieder aufflammenden Widerstand gegen die neuen Macht- des Landes der antifaschistische Widerstand regte – unge- haber in Deutschland gekennzeichnet . So leuchteten am achtet des Terrors, den die Organisationen der Arbeiterbewe- 1 . Mai den Fußgängern im Spreetunnel in Berlin-Friedrichs- gung ausgesetzt waren . hagen rote Fahnen und antifaschistische Losungen entgegen . In den verschiedensten Stadtbezirken trafen sich Werktätige Günter Wehner zum Mai-Spaziergang . Der Widerstand gegen das NS-Regime blieb nicht nur auf die Großstädte wie Berlin, Hamburg, München u .a . beschränkt, sondern entwickelte sich auch an ihren Randgebieten . So rie- 1 Siehe Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 2 von 1917 bis 1945, Berlin 1987, 356 ff . fen Sozialdemokraten und Kommunisten im Industrieort Hen- 2 Siehe Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde RY 5/1/I 2/5/4 Bl .1 32 ff . und I 2/3, nigsdorf auf, am 12 ./13 . April nicht die Kandidaten des neu Bl . 4 . 3 Siehe Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 2 von zu wählenden faschistischen Vertrauensräte in den dortigen 1917 bis 1945, Berlin 1987, S . 359 . Großbetrieben zu wählen . Sie wurden dazu aufgerufen, auf 4 Vgl . Ebenda, S . 361 f . . die Wahlzettel Forderungen von Lohnverbesserungen zu sch- 5 Johannes R . Becher: Der verwandelte Platz . Erzählungen und Gedichte . Mos- kau/Leningrad 1934, S . 15 . reiben und eigene illegale Vertrauensleute zu schaffen . Ille- 6 Vgl . Dennis Egginger: Der Rote Stoßtrupp . In: Geschichte des Kommunismus gale Flugschriften, die dazu aufriefen, die Wahlen zu boykot- und Linkssozialismus . Der vergessene Widerstand der Arbeiter . Hrsg . von Hans Coppi und Stefan Heinz, Berlin 2012, S . 91 ff . . tieren, kursierten in den Betrieben und im Ort . Die Mehrzahl 7 Vgl . Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, NJ 5315, Bl .1 ff . . der Betriebsangehörigen im Stahl- und Walzwerk und in dem

43 130 Jahre Georgi Dimitroff – Zur Erinnerung an den Reichstagsbrandprozess

Am 18 . Juli 2012 war der 130 . Geburtstag des bulgarischen 1933 in Berlin ergriffen . Nun glaubten die Nazis eine Füh- Kommunisten und Antifaschisten Georgi Dimitroff . Mit seiner rungsfigur gefunden zu haben, der man eine Schlüsselrolle in Person verbunden ist die Erinnerung an den jahrzehntelangen einem geplanten Schauprozess vor dem Reichsgericht in Leip- Kampf der bulgarischen Kommunisten gegen ein reaktionä- zig zuweisen konnte: Ein »kommunistisches Fanal« gesteuert res Regime im eigenen Land und seine Rolle in der Kommu- durch einen Funktionär der Kommunistischen Internationale . nistischen Internationale . Nicht zuletzt ist mit seinem Namen Doch bevor es zu diesem Prozess kam, suchten die faschis- untrennbar die wohl berühmteste Definition dessen, was Fa- tischen Ermittler mehrere Monate vergeblich nach Dokumen- schismus an der Macht bedeutet, verbunden . Dass diese Defi- ten und Materialien, die eine solche Verbindung belegen soll- nition – besonders von seinen Gegnern, leider manchmal auch ten . Fragwürdige Zeugen meldeten sich, die für ein Handgeld von Befürwortern – zumeist verkürzt rezipiert wird, sollte auch die verschiedenen Angeklagten »belasteten«, die selbst Ma- heute Anlass für eine intensivere Auseinandersetzung mit den rinus van der Lubbe lange vor seinem Eintreffen in Berlin mit Aussagen des VII .Weltkongresses der Kommunistischen Inter- den anderen Angeklagten gemeinsam gesehen haben wollten . nationale zu Faschismus und antifaschistischer Strategie sein . In dieser Zeit waren Georgi Dimitroff und seine Mitangeklag- Doch im Fokus dieses Beitrags steht ein anderer Aspekt von ten harten Haftbedingungen unterworfen . Fünf Monate lang Dimitroffs antifaschistischer Arbeit . Heute an Georgi Dimitroff verschärfte Einzelhaft, was für Dimitroff u .a . bedeutete, dass zu erinnern, bedeutet auch dessen mutiges Auftreten 1933 er Handschellen tragen musste . Selbst Briefe an das Gericht vor dem Reichsgericht in Leipzig lebendig zu halten, als es und seinen Anwalt durfte er nur in Handschellen schreiben . ihm gelang, das faschistische System und die faschistischen Dennoch ließ er sich durch diese Schikanen nicht entmutigen . Verbrecher, die ihn verurteilen wollten, selber auf die Ankla- Zu einem ersten Kräftemessen gestaltete sich die Bestellung gebank zu setzen . eines Verteidigers . Georgi Dimitroff versuchte, in den Mona- Es ist an diese Stelle nicht der Raum, die umfangreiche De- ten der Vorbereitung auf den Prozess einen Anwalt seines batte und Publizistik zum Reichstagsbrand nachzuzeichnen . Vertrauens zu erhalten . Mehrere international renommierte Bis heute gibt es immer wieder Versuche, eine mögliche Al- Strafverteidiger, unter ihnen der Amerikaner Leo Gallagher, leintäterschaft von Marinus van der Lubbe zu belegen, nicht der Franzose Torres oder der Engländer Sir Stafford Cripps um ihn als Verbrecher zu denunzieren, sondern um die Rolle hatten sich um das Mandat bemüht . Das war jedoch schwie- der NSDAP bzw . der SA leugnen zu können . Aber die jüngste riger als erwartet . Zuerst forderte das Gericht, dass den aus- Veröffentlichung von Alexander Bahar und Wilfried Kugel, »Der ländischen Strafverteidigern deutsche Rechtsanwälte zur Sei- Reichstagsbrand, Wie Geschichte gemacht wird«, erschienen te gestellt werden müssten . Als diese auf diese Forderung in Berlin 2001, konnte – ausgehend von zahlreichen bislang eingingen, machte das Reichsgericht jedoch einen Rückzie- nicht erschlossenen Quellen – überzeugend alle relativieren- her und lehnte alle vorgeschlagenen Anwälte ab . Schließlich den und apologetischen Geschichtslegenden zurückweisen . setzte das Gericht als Pflichtanwalt einen Dr . Paul Teichert Es können hier auch nicht die Fülle der Maßnahmen rekapitu- ein, der jedoch keine bedeutende Rolle im Prozess spielen liert werden, mit denen die deutsche faschistische Regierung sollte . Ähnlich ging es den anderen Angeklagten . Ende Februar 1933 den Brand im Berliner Reichstagsgebäu- So blieb Dimitroff nichts anderes übrig, als seine Verteidi- de dazu nutzte, tausende politische Gegner im ganzen Deut- gung selbst in die Hand zu nehmen, was jedoch sehr kompli- schen Reich zu verhaften, Presse- und Meinungsfreiheit fast ziert war, wie er im Nachhinein beschrieb: vollständig einzuschränken sowie öffentliche Versammlungen »Meine Genossen und ich waren völlig isoliert, sozusagen zu verbieten . Bekanntlich bezeichneten die Nazis den Brand als hermetisch abgeschlossen . Ein großer Teil an uns gerichte- »kommunistisches Fanal«, obwohl sie selber das Feuer gelegt ter Briefe wurden uns nicht ausgehändigt . Wir durften ledig- hatten . Und Hermann Göring nutzte diesen Brand zu einer groß lich faschistische Zeitungen lesen . So mussten wir uns aus- angelegten propagandistischen Aktion gegen die Kommunisti- schließlich auf unseren politischen Spürsinn verlassen . Für sche Partei, die mit diesem Brand ein »Fanal« zu einem »kom- mich war stets Maßstab: Wie reagiert die feindliche Presse munistischen Aufstand« in Deutschland habe geben wollen . auf mein Verhalten .« (Braunbuch II – Dimitroff contra Göring . Georgi Dimitroff, der sich zu diesem Zeitpunkt im Auftrag der Enthüllungen über die wahren Brandstifter, Edition du Carre- Kommunistischen Internationale illegal in Deutschland auf- four, Paris 1934, Reprint Berlin/DDR 1981 . Alle Zitate sind hielt, wurde im Zuge der Massenverhaftungen am 9 . März diesem Band entommen) .

44 Am 25 . Januar 1933 fand im »Keglerheim«, Friedrichstraße 12, in Dresden eine Veranstaltung des »Kampfbund gegen den Faschismus« statt, bei deren erzwungener Auflösung die Polizei neun Antifaschisten erschoss . Das Bild zeigt Mitglieder des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold bei einer Demonstration anlässlich der Beisetzung der Antifaschisten, 31 . Januar 1933 .

Dimitroffs Verteidigungsstrategie lag auf zwei Ebenen . Ers- gendären Streitgespräch zwischen Nazi-Minister Hermann Gö- tens versuchte er Zeugen für den Prozess zu berufen, die für ring, der eigentlich als Vertreter der Anklage auftrat, und Di- die öffentliche Auseinandersetzung wirksam wären . So stell- mitroff, der ihn gleichsam in ein Kreuzverhör nahm, sichtbar . te er den – natürlich abgelehnten – Antrag, den Vorsitzenden Dimitroff brachte Göring mit seinen Fragen so in Bedrängnis, der KPD Ernst Thälmann, der sich auch in Nazihaft befand, dass dieser – statt zu antworten – mit Zornesausbrüchen re- in den Zeugenstand zu laden, um mit dessen Aussage nach- agierte . Auch achtzig Jahre später lesen sich die Protokolle zuweisen, dass eine Brandstiftung als »kommunistisches Fa- dieser Verhandlung spannender als jeder Kriminalroman . nal« nichts mit der Strategie und Taktik der KPD zu tun haben Als Göring sich in seinem Auftreten zu der Aussage steigerte, konnte . Gleichzeitig beantragte er, weiter Minister der Reichs- dass der Kommunismus eine »verbrecherische Weltanschau- regierung als »Zeugen« zu bestellen, um die Politik der faschis- ung« sei, antwortete Dimitroff mit einer Frage: »Ist dem Herrn tischen Regierung zu entlarven . Ministerpräsidenten bekannt, dass diese verbrecherische Da das Reichsgericht ihm diese Möglichkeiten versagte, blieb Weltanschauung den sechsten Teil der Erde regiert, nämlich Dimitroff nichts anderes übrig, als selber mehrfach mit Zwi- die Sowjetunion?« schenfragen und Kommentaren in den Prozessverlauf einzu- Diese abgeklärte Reaktion ärgerte Göring so sehr, dass er in greifen, obwohl er damit in der Gefahr stand, von den Ver- einem Wutanfall schrie: »Ich will Ihnen sagen, was im deut- handlungen ausgeschlossen zu werden . Da das Gericht innere schen Volk bekannt ist . Bekannt ist dem deutschen Volk, Widersprüche in Zeugenaussagen und andere Ungereimthei- dass Sie sich hier unverschämt benehmen, dass Sie hierher ten unhinterfragt hinnahm, sah Dimitroff hier die Möglichkeit, gelaufen sind, um den Reichstag anzustecken . Sie sind in die Parteilichkeit der Vorermittlung zu entlarven . Zudem nahm meinen Augen ein Gauner, der direkt an den Galgen gehört .« er immer wieder die Möglichkeiten, die die Strafprozessord- Auch der Vorsitzende Richter Bünger kritisierte Dimitroff: »Ich nung bot, wahr, Zeugen der Anklage selber zu befragen . Dabei untersage Ihnen diese Propaganda auf das strengste . Sie ha- ging es ihm nicht um spitzfindige Klärung von Details, sondern ben rein sachliche Fragen zu stellen .« darum, diese Zeugen der Anklage unglaubwürdig zu machen Für Dimitroff war in dieser Situation vollkommen klar, dass kei- und ihre Funktion in diesem Schauprozess zu entlarven . Und ne längere Debatte mehr stattfinden würde, daher mussten wie erfolgreich er das machte, wurde nicht zuletzt in dem le- die folgenden Sätze genau sitzen . Seine Reaktion: »Ich bin sehr

45 zufrieden mit der Antwort des Herrn Ministerpräsidenten .« Und da er sich im Land der Deutschen Klassik befand, zitier- Und bevor ihm endgültig das Wort entzogen wurde, setzte er te er in seinem Schlussplädoyer den Dichter Johann Wolfgang den berühmten Satz hinzu: »Sie haben wohl Angst vor meinen von Goethe: Fragen, Herr Ministerpräsident?« »Lerne zeitig klüger sein . Görings Antwort war entlarvender als alle antifaschistische Auf des Glückes großer Waage Aufklärungsflugblätter: »Sie werden Angst haben, wenn ich Steht die Zunge selten ein; Sie erwische, wenn Sie hier aus dem Gericht raus sind, Sie Du musst steigen oder sinken, Gauner Sie!«, brüllte er . Natürlich wurde Dimitroff anschlie- Du musst herrschen und gewinnen ßend des Saals verwiesen, aber er war der politische Sieger . Oder dienen und verlieren, (Braunbuch II, S .252–254) Leiden oder triumphieren, Selbst die Vertreter der internationalen bürgerlichen Presse Amboss oder Hammer sein .« waren von diesem Auftritt Görings überrascht . »Die Zeugen- Und er endete: »Ja, wer nicht Amboss sein will, der muss aussage Görings war nichts anderes als eine leidenschaftliche Hammer sein!« – und das war seine Verpflichtung auch für Agitationsrede, ein Plädoyer, in dem das ganze zweifelhafte den antifaschistischen Kampf . Material an Vorwürfen ohne Sichtung wiederholt wurde . Da- bei trat eine Feindseligkeit und Neigung zu persönlicher Ver- Die offenkundigen Schwächen der Anklage, der fehlende unglimpfung des politischen Gegners zutage, wie sie sonst Nachweis jeglicher Beteiligung, aber insbesondere die inter- keinem Zeugen durchgelassen werden würde«, schrieb die nationale Öffentlichkeit dieses Prozesses führte schließlich »Basler Nationalzeitung« am 6 . November 1933 . Dimitroff dazu, dass das Gericht Georgi Dimitroff, seine beiden bulga- schaffte es also mit dieser gezielten Provokation, die monate- rischen Mitangeklagten Vasil Taneff und Blagej Popow sowie langen Bemühungen der faschistischen Auslandspropaganda, den KPD – Funktionäre Ernst Torgler »aus Mangel an Bewei- Einfluss auf die internationale Berichterstattung zu nehmen, sen« freisprechen musste . zu konterkarieren . Doch noch schwebte über Dimitroff und seine Mitangeklag- Zehn Jahre später fasste Bert Brecht diese Auseinanderset- ten die Drohung Görings und trotz Freispruch konnten die An- zung in den Worten zusammen: »Die Angeklagten des Pro- geklagten den Gerichtssaal nicht als freie Männer verlassen . zesses verwandelten sich in Ankläger, und der große Kämp- Das internationale Aufsehen, das das mutige Auftreten Dimit- fer Dimitroff wurde zum Sprecher des deutschen Volkes, das roffs erregt hatte, verhinderte jedoch, dass die Faschisten ihn seiner Sprache beraubt worden war .” (Bertolt Brecht, Der einfach in ein Konzentrationslager verschleppen und dort oh- Reichstagsbrandprozess (1943), in: Schriften zu Politik und ne Aufsehen ermorden konnten . So sprach beispielsweise der Gesellschaft, Gesammelte Werke Bd .20, S . 292) »Manchester Guardian« am 18 . Januar 1934 von großer Be- Dimitroff war sich zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass der ge- sorgnis, »weil die Vier seit nahezu einem Monat, der seit dem samte Prozess durch den deutschen Reichsrundfunk übertra- Urteil verstrichen ist, im Gefängnis gehalten werden und weil gen wurde . Trotz aller Einschränkungen und Zurechtweisungen wir uns an General Görings brutale, wahnwitzige Drohungen durch das Gericht hatte er damit eine Möglichkeit, viele Men- erinnern, was er Dimitroff antun werde, sobald er ihn ausser- schen im Lande zu erreichen, die nicht allein die Propaganda- halb des Gerichts zu fassen bekäme .« (Braunbuch II, S . 291) berichte der gleichgeschalteten Inlandspresse lesen wollten . Und es war ein wichtiges Zeichen der internationalen Solidari- Wenn man bedenkt, dass den Angeklagten keine freien In- tät, als die Regierung der UdSSR am 15 .F ebruar 1934 den bul- formationen zur Verfügung standen und sie die Erkenntnis- garischen Kommunisten die sowjetische Staatsbürgerschaft se des »Braunbuchs« und des Londoner Gegenprozesses nur verlieh . So konnten sie – gegen die Widerstände von Göring – aus indirekten Aussagen der Anklage entnehmen konnten, als Sowjetbürger Ende Februar 1934 nach Moskau ausreisen . war es ein Meisterleistung, in welcher Form Dimitroff in sei- Göring hatte noch am 17 .F ebruar 1934 in einem Interview ge- ner Verteidigung die Widersprüche in der Vorermittlung, in genüber dem Berliner Korrespondenten der englischen »Dai- den Dokumenten der Anklage, fehlende konkrete Tatvorwür- ly Mail« erklärt: »Ein solcher Mann ist zu gefährlich, als dass fe und andere offensichtliche Lücken des Verfahren aufzei- man ihn auf die Gesellschaft loslassen könnte .« (Braunbuch gen konnte . Aber ihm war auch klar, dass es dem Reichsge- II, S . 293) richt überhaupt nicht um einen Schuldbeweis für die Tat ging, Dimitroffs mutiger Kampf vor den Schranken des faschisti- sondern dass mit diesem Verfahren die kommunistische Or- schen Gerichtes war, ist und bleibt ein Symbol antifaschisti- ganisation, die kommunistische Überzeugung insgesamt an- scher Standhaftigkeit auch für heutige Generationen . Die in- geklagt war . Und so formulierte er in seinem Schlusswort: ternationale antifaschistische Bewegung wird immer wieder an »Ich verteidige meine eigene Person als angeklagter Kom- diese und andere heroische Taten von Antifaschisten erinnern, munist . Ich verteidige meine eigene kommunistische, revo- um zu zeigen, dass antifaschistisches Handeln selbst unter den lutionäre Ehre . Ich verteidige meine Ideen, meine kommu- Bedingungen von Terror und Verfolgung möglich war und ist . nistische Gesinnung . Ich verteidige den Sinn und den Inhalt meines Lebens .« Ulrich Schneider

46 In der deutschen Zange: Vor 80 Jahren entstand in konzertierter Aktion von Finanzkapital, Politik und Ministerialbürokratie eine Konzeption für die Unterwerfung der Balkanländer mit wirtschaftlichen Mitteln.1

In der gegenwärtigen »Griechenland-Krise« zeigt sich exemp- nicht vorhanden waren oder ihre Anwendung nicht opportun larisch, wie imperialistische Mächte wirtschaftliche und mo- schien . Vor einer solchen Situation stand der deutsche Impe- netäre Maßnahmen einsetzen, um andere Staaten gefügig zu rialismus am Ende der Weimarer Republik . machen . Griechenland steht praktisch unter Zwangsverwal- tung der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds, der sogenannten Frontalangriff gescheitert Troika . Diese diktieren den Hellenen ein »Sparprogramm«, das vor allem die von Bank- und Versicherungskonzernen Am 21. März 1931 teilten die österreichische und die deutsche gehaltenen griechischen Staatsanleihen und die Profite der Regierung der erstaunten Öffentlichkeit mit, dass sie sich auf Rüstungsindustrie sichern soll . Das Diktat greift tief in die eine Zollunion geeinigt hätten .4 Diese galt als entscheidender Souveränität des griechischen Staates, ja selbst in die Ar- Schritt zu einem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich beitsabläufe der griechischen öffentlichen Verwaltung ein und zur Schaffung eines unter deutscher Führung stehenden und wird durch einen drastischen Abbau der Demokratie re- mitteleuropäischen Staatenblocks . Aus der »österreichischen alisiert . Die verordneten Kürzungen der Löhne und Renten Schlüsselstellung heraus«, so der Deutsche Schutzbund, ein sowie der Staats- und Sozialausgaben (außer im »Verteidi- Dachverband der politisch weit rechts stehenden Deutsch- gungsetat«) und die starke Erhöhung der besonders die ein- tumsvereine, könnte der Südosten Europas infiltriert und von kommensschwache Bevölkerung treffenden Verbrauchs- Deutschland abhängig gemacht werden .5 Südosteuropa galt steuern zeitigen schon jetzt schweren wirtschaftlichen als »eines der größten und wichtigsten Rohstoffgebiete der Niedergang sowie Massenarbeitslosigkeit und absolute Ver- alten Welt« .6 Die Vorkommen an Erdöl, Chrom, Kupfer, Blei, elendung breiter Bevölkerungsschichten . Ein Blick auf Grie- Zink, Mangan sowie dem Aluminiumvorstoff Bauxit konnten chenland zeigt eine »Gesellschaft am Abgrund«, schreibt Karl den deutschen Bedarf zu großen Teilen, in einigen Fällen voll- Heinz Roth in der Flugschrift »Griechenland: Was tun?« . Er ständig decken . In beträchtlichem Umfang wurden Nahrungs- vermutet, dass Hellas für das Finanzkapital und die meisten und Futtermittel sowie Holz und Textilpflanzen produziert . Das konservativen Politiker in »Kerneuropa« ein Experimentierfeld relativ unerschlossene Gebiet mit dichter Besiedlung (und bil- ist, um zu klären, »wie weit das System der Arbeitsarmut (…) ligen Arbeitskräften) galt den deutschen Eliten als klassischer vorangetrieben und verstetigt werden kann« .2 Kapitalanlageplatz und entwicklungsfähiger Absatzmarkt . Von Maßgebende Kräfte in Deutschland benutzen die »Griechen- besonderem Gewicht war, dass die Rohstoffvorkommen und land-« und die Euro-Krise in vielen Ländern aber auch, um das Absatzmärkte in geographischer Nähe zu Deutschland lagen Projekt »Vereinigte Staaten von Europa« unter deutscher Füh- und auch zu Kriegszeiten auf dem Landweg erreichbar wa- rung zu beschleunigen . Davor warnen selbst bürgerliche Po- ren – abseits der von Großbritannien kontrollierten Seewege .7 litiker . Am 24 . Juni stellte der Europaabgeordnete und Expar- Südosteuropa war für die deutsche Wirtschaft ein idealer »Er- teichef der »Grünen« Reinhard Bütikofer fest: »Merkel kämpft gänzungsraum« . Die Konzepte sahen vor, die volkswirtschaftli- nicht für ein europäisches Deutschland, sondern für ein deut- chen Strukturen der Balkanländer hinsichtlich Produktion, Ab- sches Europa «. � Der im griechischen Wahlbündnis SYRIZA für satz und Lohn-Preis-Niveau vollständig an die Bedürfnisse der Wirtschaftspolitik zuständige Parlamentsabgeordnete Ya- deutschen Wirtschaft anzupassen . Dazu zählte auch die weit- nis Dragasakis nannte in der »Berliner Zeitung« vom 15 . Juni gehende Deindustrialisierung der Südostländer: Der Aufbau 2012 die Politik der Troika ein System von »Drohungen und einer nennenswerten Fertigwarenproduktion war zu verhin- Erpressungen« . Trotz der verheerenden Folgen drängt Mer- dern; bestehende Anlagen wurden als »Industriezüchtungsex- kel weiterhin auf einen harten Kurs gegen Hellas . Die Em- perimente« diskreditiert und sollten eingestellt werden . Bür- pörung über die »eiserne Kanzlerin« ist nicht nur in Grie- gerliche Wirtschaftshistoriker wie Wilhelm Treue gingen davon chenland groß . Doch der Einsatz wirtschaftlicher Mittel zur aus, dass alle deutsche Südosteuropapolitik bis 1945 darauf Unterwerfung fremder Staaten hat besonders in Deutschland hinauslief, unter dem Stichwort »Ergänzungswirtschaft« den Tradition, zumal in Zeiten, in denen militärische Machtmittel Staaten dieser Region einen kolonialen Status aufzudrücken .8

47 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aber war der be- Südostecke aus aufgerollt« werden . Letztlich komme es je- gehrte »Südostraum« unter französischen Einfluss geraten . doch darauf an, dass »ein geschlossener Wirtschaftsblock Die wichtigsten Staaten – Rumänien und Jugoslawien – wa- von Bordeaux bis Odessa« geschaffen werde .10 Am 15 . April ren Eckpfeiler eines Bündnissystems, das Paris gegen den 1931 ging der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Bernhard deutschen »Drang nach Südost« und zur Garantierung der Wilhelm von Bülow, in einem Brief an die deutsche Botschaft von Frankreich dominierten Versailler Nachkriegsordnung in- in Prag auf die Planungen ein . Selbst mit Veränderungen der stalliert hatte . Dass jeder deutsche Vorstoß in das Gebiet, Nachkriegsgrenze gegenüber Polen wurde gerechnet . »Der auch wenn er mit scheinbar unverdächtigen wirtschaftlichen Druck wirtschaftlicher Notwendigkeiten«, so von Bülow, wer- Mitteln erfolgte, nur der Logik des ökonomischen Sachver- de den Beitritt weiterer Staaten zu »unserem Wirtschafts- standes gehorche, wie die deutsche Propaganda behauptete, block« bald »erzwingen« . Gelänge es, auch mit den baltischen musste zu schweren internationalen Konflikten führen . Staaten ähnliche »nähere wirtschaftliche Beziehungen« zu Mit dem Zollunionsprojekt hatte der deutsche Imperialismus schaffen, »dann ist Polen mit seinem wenig gefestigten Wirt- einen solchen Vorstoß unternommen . schaftskörper eingekreist und allerhand Gefährdungen aus- In Paris wurden schwerwiegende Folgen für Frankreichs gesetzt: Wir haben es in der Zange .«11 Stellung in Südosteuropa und für die gesamte Nachkriegs- Die Reaktion Frankreichs und anderer Mächte fiel entspre- ordnung befürchtet . Der deutsche Botschafter in Paris, Leo- chend aus . Politischer Druck, diplomatische Isolierung und pold von Hoesch, telegrafierte am 23 . März 1931 nach Berlin, wirtschaftliche Sanktionen bewirkten, dass von der Zolluni- Frankreich fühle sich überrumpelt und erpresst . Man glau- on Abstand genommen wurde . Der deutsche Imperialismus be, die Zollunion sei der erste Schritt auf dem Weg zu einem hatte eine herbe Niederlage erlitten, die von den maßgeben- »deutschen Mitteleuropa« 9. den Kräften als traumatisches Ereignis empfunden wurde . Die Befürchtungen waren berechtigt . So forderte am 24 . März Die »Deutschen Führerbriefe«, ein vertrauliches Informati- 1931 der allgewaltige IG-Farben-Chef (Vorsitzender des Auf- onsorgan insbesondere jener Kräfte des Finanzkapitals, die sichtsrates) und Vorsitzende des Reichsverbandes der Deut- den Coup vom 21 . März 1931 betrieben hatten, bezeichneten schen Industrie, Carl Duisberg, die Zollunion schnell auszu- die Niederlage als die schwerste Schlappe nach dem Ersten dehnen . Dadurch könne »das europäische Problem von der Weltkrieg .12

48 Zentrale des Konzeptionsbildung für einen Griff nach Mit- Seit 1931 wurde der Verein von den wichtigsten deutschen tel-und Südosteuropa: Präsidium des Mitteleuropäischen Industrie- und Bankkonzernen, den großen Unternehmeror- Wirtschaftstages, hier bei einer Tagung 1940 in Wien . Am ganisationen, den Wirtschaftskammern, Großagrariern, Ver- Rednerpult der Präsident des MWT, Tilo von Wilmowsky tretern der Reichsregierung und hohen Ministerialbeamten (1878–1966) . getragen . Der MWT koordinierte die Interessen der verschie- denen Fraktionen der herrschenden Klasse in Richtung Süd- osteuropa und wirkte zunehmend auch als Stichwort- und Alte Ziele … Ideengeber . Auf einer Sitzung Ende Oktober 1931 gab der von rheinisch- Nach Überwindung einer Schockphase machten sich füh- westfälischen Unternehmerverbänden als Geschäftsführer rende Vertreter der deutschen Macht- und Einflusseliten da- in den MWT entsandte Max Hahn die Grundlinien der kon- ran, neue Konzepte für die Wiederaufnahme einer Expansion zeptionellen Neuorientierung vor . Wichtig sei, dass man an nach Südosteuropa zu erarbeiten .13 Das Gebiet war für die dem Grundsatz festhalte, die Schaffung eines stark auf Süd- deutsche Wirtschaft und als Hebel zur grundlegenden Ver- osteuropa gerichteten »Mitteleuropa« unter deutschem Pa- änderung der Nachkriegsordnung zu wichtig, um es anderen tronat bleibe das »Ziel deutscher Politik« . Er definierte, das Mächten zu überlassen . von Deutschland durch »Um- und Neugestaltung« zu beherr- schende Gebiet umfasse »den gesamten Raum zwischen Ost- Zentrale Stelle in dem konzeptionsbildenden Prozess war der see und Schwarzem Meer«, jene Region, die »zu unserer un- 1925 gegründete Mitteleuropäische Wirtschaftstag (MWT) .14 mittelbaren Einfluss-Sphäre gehört .« Die Notwendigkeit, den Schwerpunkt der wirtschaftlichen und politischen Expansion in dieses Gebiet zu legen, ergebe sich nach Hahn aus dem zu engen Lebensraum des deutschen Volkes . Er machte aber auch deutlich, dass »Mitteleuropa« nur ein Etappenziel auf dem Weg zur deutschen Vorherrschaft auf dem Kontinent sei . Deutschland müsse eines Tages zum Entscheidungskampf gegen die »hegemonialen Ansprüche Frankreichs oder gar des bolschewistischen Russland« antreten . Der Ausgang die- ser Auseinandersetzung werde »im wesentlichen davon ab- hängen, wie fest wir uns in unserem natürlichen Lebensraum verankert haben« .15 Der für die Außenhandelspolitik zuständige Ministerialdirek- tor im Reichswirtschaftsministerium, Hans Posse, präzisier- te vor dem MWT-Präsidium: Nur im »Osten und Südosten« lägen für die deutsche Wirtschaft noch Entwicklungsmög- lichkeiten . In der praktischen Politik müsse man davon ausgehen, dass der »Lebensraum nicht nur wirtschaftlich durchdrungen, sondern auch machtpolitisch beherrscht« werde . Die »Erweiterung unseres Wirtschaftsraumes« kön- ne Deutschland nur erreichen, »wenn es sich auch politisch die Beeinflussung des mitteleuropäischen Raumes zum Ziel setzt« . Aber das sollte unbedingt geheim bleiben . »Wir müs- sen unsere letzten politischen Ziele tarnen«, verlangte er .16 In der Öffentlichkeit müssten alle Maßnahmen so dargestellt werden, als ob man nur der wirtschaftlichen Vernunft folge und Hilfe für die unter der Agrarkrise leidenden Donaulän- der leiste .

… neue Methoden

Der deutsche Imperialismus verfügte 1931/1932 über keine militärischen Möglichkeiten und wegen der Weltwirtschafts- krise auch über keine größeren Finanzmittel zur Erreichung der ausufernden Ziele . Als einziges Mittel blieb der syste-

49 nach Deutschland erleichtert werden . Im Gegenzug hätten die Agrarstaa- ten für den gleichen Wert Industriegü- ter aus Deutschland abzunehmen . Au- ßerdem wollte man die Südoststaaten veranlassen, ihre Produktion auf die deutschen Importwünsche umzustel- len . Die Länder sollten nicht nur ver- mehrt mineralische Rohstoffe liefern, sondern auch Soja, Hanf und Flachs anbauen und nach Deutschland expor- tieren . Diese Produkte waren in Süd- osteuropa kaum angebaut worden . Deutschland hatte sie bisher in Über- see eingekauft .

Das gesamte Verfahren hatte große ökonomische Vorteile für die deutsche Wirtschaft . Im Außenhandel brauchte man keine der knappen Devisen ein- zusetzen . Deutschland wurde für die Südostländer ein lebenswichtiger Ab- satzmarkt . Die enorme Bindungskraft des deutschen Marktes für Agrarliefe- rungen wurde durch die erzwungene Umstellung der Produktion in den Bal- kanstaaten auf die deutschen Bedürf- nisse erheblich verstärkt . Kein ande- rer Staat kaufte beispielsweise die auf Wunsch Deutschlands produzierten Öl- und Faserpflanzen . Diese mussten anfangs zwar zu einem höheren Preis von Deutschland eingekauft werden . Andererseits konnte die deutsche In- dustrie in diesen Ländern für ihre Wa- ren jeden, auch überhöhten Preis for- dern . Die Agrarstaaten konnten wegen des devisenlosen Abrechnungssystems nur über den Bezug deutscher Produk- te zu ihrem Geld für die Agrarlieferun- matische Einsatz handelspolitischer Maßnahmen . Ansatz- gen nach Deutschland kommen konnten . Preisgünstigere In- punkt für die deutschen Überlegungen war die tiefe Agrar- dustrieprodukte anderer Länder hätten mit Devisen bezahlt krise, die in den landwirtschaftlich geprägten Südostländern werden müssen, der Kauf unterblieb meistens . Etwas spä- verheerende Auswirkungen hatte . Für die Agrarstaaten war ter wies Carl Clodius vom Auswärtigen Amt auf die großen der Absatz ihrer Produkte überlebensnotwendig . Deutsch- Vorteile, die auch durch das devisenlose Abrechnungsverfah- land bot mit über 60 Millionen Einwohnern dafür den größ- ren, den Clearing-Verkehr, für die deutsche Wirtschaft in den ten Markt in Europa . Die Herrschenden in den Agrarstaaten Südostländern entstanden waren . Er sagte vor dem Präsidi- und in Deutschland fürchteten zudem die politischen Aus- um des MWT, das Clearingverfahren fördere nicht nur die er- wirkungen der Krise . Immer wieder wurde die Möglichkeit ei- gänzungswirtschaftliche Umstellung der Produktion in den ner »Bolschewisierung« der Bevölkerung beschworen .17 Der Balkanstaaten auf die deutschen Bedürfnisse . Die Länder in deutsche Plan: Der Schwerpunkt des deutschen Außenhan- Südosteuropa könnten nicht mehr da einkaufen, wo sie woll- dels müsse von Übersee nach Südosteuropa verlegt werden . ten .18 Die deutsche Wirtschaft hatte in den Beziehungen zu Wichtigen Donauländern sollte durch Gewährung von Vor- den Südoststaaten damit nicht nur ein Absatz-, sondern auch zugszöllen der Export ihrer landwirtschaftlichen Produkte ein Lieferungsmonopol erreicht .

50 Die Verlagerung des Schwerpunktes des deutschen Außen- »bedarf es eines Zustandes Deutschlands, der es endlich er- handels von Übersee nach Südosteuropa entsprach zudem laubt, dass die Köpfe und Temperamente, die in Deutschland einem seit 1918 von den deutschen Eliten ins Auge gefassten von morgen zur Führung berufen sind, auch zur Führung zu- Plan . Im Ersten Weltkrieg hatte die Seeblockade der Entente gelassen werden .«23 die deutschen Einfuhren an Lebensmitteln und Rohstoffen, Im Leitartikel des MWT-Organs Volk und Reich vom April die fast zu 45 Prozent aus Übersee kamen, erfolgreich ge- 1932 heißt es wenig später, dass die großen »außen- wie in- stört und mit zur Revolutionierung der Massen geführt . Das nenpolitischen Aufgaben am sichersten durch eine in irgend- Blockadetrauma saß tief . Die Herrschenden wollten alles welcher Form diktatorische Regierung gelöst« werden kön- unternehmen, damit in dem geplanten Revanchekrieg die nen .24 Es ist von erheblicher historischer Bedeutung, dass »Heimatfront« nicht noch einmal durch eine Revolution ins die maßgebenden Kräfte der deutschen Wirtschaft, die sich Wanken geriet . Eine weitgehende Verlagerung des lebens- um den MWT versammelt hatten, seit Herbst 1931 auch als wichtigen Imports in ein blockadesicheres, auf dem Land- Voraussetzung für eine erfolgreiche Expansionspolitik immer weg zu erreichendes Gebiet sollte ein solches »Debakel« ver- drängender die Errichtung eines faschistischen Systems in hindern .19 Deutschland forderten . Ministerialdirektor Posse fasste auf der Tagung des MWT im Im Sommer 1932 lag ein hochkomplexes Konzept für einen Mai 1932 die wirtschaftlichen und politischen Vorteile des neuen Griff nach Mitteleuropa-Südosteuropa vor, das der deutschen Plans zusammen . Er sei zur »Erweiterung unseres deutschen Delegation auf der Weltwirtschaftskonferenz im Wirtschaftsraumes« geeignet, könne das französische Bünd- September 1932 in Stresa als Handlungsanweisung diente . nissystem in Südosteuropa auflösen und die Balkanländer zu Die Agonie, in die die deutsche Politik im Herbst 1932 gefal- einer engen politischen »Zusammenarbeit mit Deutschland« len war, bewirkte jedoch, dass nur Einzelmaßnahmen, wie ei- veranlassen .20 Staatssekretär von Bülow meinte 1933 in ei- nige Kompensationsgeschäfte, in Angriff genommen wurden . ner Denkschrift für die Reichsregierung, das neue Außenwirt- schaftskonzept werde dazu führen, dass sich selbst die engs- ten Verbündeten Frankreichs in Südosteuropa, Jugoslawien Beginn der Wirtschaftsoffensive und Rumänien, außenpolitisch sehr schnell Deutschland zu- wenden 21. Mit der Übertragung der Staatsmacht an die NSDAP am 30 . Januar 1933 war jener innerhalb des bürgerlichen Staa- tes erfolgte Systemwechsel vollzogen, den die um den MWT Faschismus gefordert gruppierten Kräfte des Finanzkapitals als Voraussetzung für eine erfolgreiche Expansion gefordert hatten . Zur »Machter- Die Konzeption enthielt auch Vorschläge für eine gravierende greifung« schrieb der interne Informationsdienst des MWT, Veränderung des innenpolitischen Systems Deutschlands . die »Deutschen Führerbriefe«, nun seien »zum ersten Ma- Die von den Eliten ohnehin verachtete, ja gehasste Weimarer le die inneren Voraussetzungen erfüllt, damit Deutschland Republik mit ihrem Parlamentarismus, den Errungenschaf- sich außenpolitisch für eine künftige Konstante entscheiden ten der Novemberrevolution und den seit Beginn der Wirt- kann« 25. schaftskrise ausgebrochenen schweren sozialen Konflikten Die Hitler-Regierung übernahm die 1931/1932 erarbeitete und Klassenkämpfen sei, so die Meinung der im MWT ver- Konzeption .26 Noch 1933 begann eine handelspolitische Of- sammelten Mächtigen aus Wirtschaft und Politik, für eine fensive gegen Südosteuropa . Es kam zu einer beispiellosen erfolgreiche Expansion ungeeignet . Man habe, eine Periode politischen Instrumentalisierung der außenwirtschaftlichen »tiefster Schwäche des deutschen Staats- und Wirtschafts- Waren- und Zahlungsbeziehungen . Kombiniert wurde die körpers« erreicht, meinte Hahn auf einer Präsidiumstagung Hauptwaffe Wirtschaftspolitik mit auswärtiger Kulturpolitik, des MWT im Oktober 1931 . Deutschland sei an einem Wen- intensiver Auslandspropaganda und verstärktem Missbrauch depunkt angelangt . Für einen neuen Griff nach Mittel- und der gerade im Südosten starken deutschen Minderheiten zu Südosteuropa gelte es, die Klassenkämpfe zwischen »Un- einem komplexen System »friedlicher Durchdringung«, der ternehmern und Arbeitern« durch geeignete »Formen einer pénétration pacifique . Gemeinschaftsarbeit« auszuschalten . Dann müsse alles un- Binnen weniger Jahre hatte die wirtschaftliche Abhängigkeit ternommen werden, um »in zäher Aufbauarbeit unsere Wirt- der Südoststaaten kaum erwartete Größenordnungen er- schaft und unseren Staat wieder hochzubringen« und »ein reicht . Das Auswärtige Amt stellte 1937 fest, es gelinge im- Regime rücksichtslosester nationaler Selbstbesinnung und mer besser, »jedes der Südostländer einzeln wirtschaftlich Disziplin« zu etablieren .22 Die Deutschen Führerbriefe, ein an uns zu fesseln« .27 Auch die erhofften politischen Folgen vertrauliches Informationsorgan des MWT für Vertreter der traten bald ein . Im August 1937 resümierte das Auswärtige Großwirtschaft forderten unverhohlen die Übertragung der Amt, durch die Wirtschaftsoffensive sei eine »weitgehende Staatsmacht an die Nazis . Am 4 .Sept ember 1931 schrieben Lösung Jugoslawiens von Frankreich« erreicht worden . Das sie, Zur Verwirklichung des deutschgeführten Mitteleuropa Land stehe »in ausgesprochen freundschaftlichen Beziehun-

51 gen« zu Nazideutschland .28 Diese Einschätzung traf für al- 10 Carl Duisberg: Abhandlungen, Vorträge und Reden aus den Jahren 1922– le südosteuropäischen Länder zu . Um 1937 galt die Region 1933, Berlin 1933, S .172 f . 11 Zit . n . Peter Krüger: Das europäische Staatensystem und die deutsche Politik 29 als deutsches »informal Empire«, als ein informelles Herr- gegenüber der Tschechoslowakei in den 30er Jahren, in: Gleichgewicht-Revi- schaftsgebiet Hitlerdeutschlands . Das von Frankreich ge- sion-Restauration, hrsg . v . Karl Bosl, München, Wien 1976, S .244 . 12 Deutsche Führerbriefe, Nr . 69, 4 . September 1931 und Nr . 70, 8 . September gen den deutschen »Drang nach Südost« errichtete Bünd- 1931 . nis, die Kleine Entente, war wie besonders der »Anschluss« 13 Ausführlich zum konzeptionellen Neuansatz: Wolfgang Schumann und Martin Österreichs im März 1938 verdeutlichte, zerfallen . Die deut- Seckendorf: Richtung Südost-Politik und Wirtschaft in Vorbereitung der ers- ten deutschen Aggressionen: Österreich/Tschechoslowakei 1938–1939 (eine sche Industrie konnte in den Balkanländern ohne Konkurrenz Fallstudie), in: Ludwig Nestler, Hrsg .: Der Weg deutscher Eliten in den Zweiten agieren . Die im Zuge der beschleunigten Kriegsvorbereitung Weltkrieg, Berlin 1990, S . 248 ff . 14 Dazu Rundschreiben des RDI v . 4 . April 1932, zitiert bei: Martin Secken- immer wichtiger werdenden Rohstoffe und Agrarprodukte dorf: Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag-Zentralstelle der Großwirtschaft dieser Länder standen dem deutschen Imperialismus fast zur Durchdringung Südosteuropas, in: Werner Röhr, Brigitte Berlekamp und uneingeschränkt und devisenlos zur Verfügung . Karl Heinz Roth, Hrsg .: Der Krieg vor dem Krieg . Ökonomie und Politik der »friedlichen« Aggressionen Deutschlands 1938/1939, Hamburg 2001, S .1 18 . Rückblickend kam die Südosteuropagesellschaft 1942 in ei- Zum MWT insgesamt: Derselbe: Entwicklungshilfeorganisation oder Gene- ner Analyse der deutschen Südostexpansion der 30er Jah- ralstab des deutschen Kapitals? Bedeutung und Grenzen des Mitteleuropäi- schen Wirtschaftstages, in: 1999 . Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20 . und re zu dem Ergebnis, die Abhängigkeit der Balkanländer von 21 .Jahrhunderts, 8 .Jg ., 1993, H . 3, S .10–33 . Deutschland sei so groß gewesen, dass sie nicht mehr aus 15 Max Hahn: Mitteleuropa als Ziel deutscher Politik (Vortrag gehalten im Präsi- dem »informal Empire« ausbrechen konnten . Man habe sie dium des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages), in: Volk und Reich . Politische Monatshefte, H . 10/11/1931, ab S . 563 . 30 »immer ›in der Zange‹« gehabt . 16 Protokoll der Präsidial- und Vorstandssitzung des MWT am 19 . Mai 1932, in: BAB, Deutsche Bank 21838, Bl .125–132 . 17 Max Hahn: Mitteleuropa als Ziel deutscher Politik, S . 571 . Martin Seckendorf 18 Bericht über die Präsidialsitzung des MWT am 28 . November 1935, in: BAB, Deutsche Bank 21839, Bl . 72 f . 19 Zur Konzeption, Praxis und den Ergebnissen der Verlagerung des deutschen Außenhandels nach Südosteuropa siehe Martin Seckendorf: Südosteuropa: Zielgebiet deutscher Expansion, in: Kurt Pätzold und Erika Schwarz, Hrg .: Eu- 1 Überarbeitete Fassung eines Beitrags, der zuerst in der »Jungen Welt« am ropa vor dem Abgrund . Das Jahr 1935, Köln 2005, S . 132 und 139 . 4 ./5 . August 2012 erschien . 20 Protokoll der Präsidial- und Vorstandssitzung des MWT am 19 . Mai 1932, in: 2 Karl Heinz Roth: Griechenland: Was tun? Hamburg 2012, S .71 . BAB, Deutsche Bank 21838, Bl .125–132 . 3 Berliner Zeitung, 25 . Juni 2012 . 21 »Die außenpolitische Lage Deutschlands . März 1933« in: BAB, AA, 60966, hier 4 Die offiziellen Dokumente zur Zollunion in: Johannes Hohlfeld, Hrsg: Deut- Bl . 22 . sche Reichsgeschichte in Dokumenten, Bd .III (1926–1931), Gröitzsch 1934, 22 Max Hahn: Mitteleuropa als Ziel deutscher Politik, bes . S .564, 571, 572 . S .3 14–319 . Siehe auch Martin Seckendorf: Die Annexion Österreichs im März 23 Deutsche Führerbriefe, Nr .694, 9 .1931 . 1938 – ein lange und zäh verfolgtes deutsches Expansionsziel,in: Rundbrief, 24 Volk und Reich . Politische Monatshefte, H .4/1932, S . 200 . Heft 1–2, 2008, S . 5 ff . 25 Deutsche Führerbriefe, Nr .38 v . 16 . Mai 1933 . 5 »Aufzeichnung über Möglichkeiten deutscher Ostpolitik« v . 27 . März 1930, 26 Rundschreiben des MWT v 10. .April 1933, in: BAB, Deutsche Bank 21838 . S . 25 in: Bundesarchiv Berlin (im Folgenden: BAB), Film 16189 . 27 Runderlass des AA v . 30 . April 1937, in: BAB, Film 15289 . 6 Her rmann Gross: Die Wirtschaftskräfte Südosteuropas und Deutschland, in: 28 Ebenda . Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa, H .4/1937, S . 30 . 29 Hans-Jürgen Schröder: Südosteuropa als »Informal Empire« Deutschlands 7 K arl Helfferich: Georg von Siemens . Ein Lebensbild aus Deutschlands großer 1933–1939 . Das Beispiel Jugoslawien, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuro- Zeit, Bd . 3, Berlin 1923, S 16 . pas, 23 .Bd ., 1975, S . 61–83 . 8 W ilhelm Treue: Das Dritte Reich und die Westmächte auf dem Balkan . Zur 30 »Die industriewirtschaftlichen Folgen des Rückgangs(und Zuwachses) des Struktur der Außenhandelspolitik Deutschlands, Großbritanniens und Frank- deutschen politischen Einflusses auf Südosteuropa seit 1938«, in: BAB, Film reichs 1933–1939, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, H .1/1953, S .54 . 5625 . 9 B AB, Film 16194 .

52 »Lebhafte Heilrufe« – Die Gründung des Reichseinheitsverbandes des Deutschen Bewachungsgewerbes e. V. 1933

Ein aktuelles Sonderheft des Bundesverbandes Deutscher werbe bedeutete, dass brauche er nicht weiter zu erläutern . Wach- und Sicherheitsunternehmen e .V ., BDSW, weiß zur »Wir Mitglieder des Reichsverbandes waren immer national eigenen Geschichte im Kontext der Machtübergabe an die eingestellt «. »Wir« stehen »jedenfalls …geschlossen und treu deutschen Faschisten zu berichten, dass es nach dem 30 . Ja - hinter« Hitler 4. nuar 1933 zu »einer (unfreiwilligen) Neustrukturierung al- Rechtsanwalt Hanel, der die Verhandlungen von Seiten des ler Unternehmerverbände in Deutschland« kam . Zu diesem Kasseler Reichsverbandes über die Monopolisierung führte, Zeitpunkt hatten sich mit dem Kölner Verband e .V . und dem stellte fest, dass nach dem Willen der neuen Regierung nur Kasseler Reichsverband des Bewachungsgewerbes e .V . zwar noch »eine Organisation in jedem Gewerbe vorhanden sein schon zwei Verbände auf dem deutschen Markt des Sicher- soll« . Staatskommissar Protze meinte später in diesem Zu- heitsgewerbes gegründet . Sie waren sich jedoch spinne- sammenhang, dass der »Verband … höher stehen muss«, als feind .1 Ziel der Faschisten und der mit ihnen verbandelten der schädliche »Konkurrenzkampf irgendwelcher einzelnen Wirtschaftsführer war auch in dieser Branche ein Monopol- Kapitalisten«, dass dieses »Unrecht … nunmehr mit Hilfe und verband . Das hatte aus politischer wie ökonomischer Sicht mit Unterstützung des Staates beseitigt werden« wird . In ei- Vorteile für die allgemeine Mobilisierung Deutschlands für ner Sitzung am 11 . Mai wurde daher von den »maßgebenden den geplanten Krieg . So frohlockte das Bewachungsgewerbe Herren des Kölner-Verbandes und des Reichsverbandes »un- einige Jahre später, im März 1938, dass im Zuge der »Schaf- ter der Leitung ebendieses Protzes beschlossen, »die beiden fung unserer neuen Wehrmacht« durch »Wehrmachtsaufträ- Verbände … zu dem »Reichseinheitsverband des deutschen ge« und der Bewachung von Betrieben die »im Interesse der Bewachungsgewerbes« »zu verschmelzen« . Er solle zu einer Landesverteidigung arbeiten« das Gewerbe »eine erfreuliche »Zwangsorganisation« werden .5 Aufwärtsentwicklung genommen habe .«1 Der Geschäftsführer der Kasseler, Arthur Karmrodt, ging auf Am 12 . Mai 1933 fanden laut BDSW die »ersten Gleichschal- das wirtschaftliche Umfeld des Bewachungsgewerbes des tungsverhandlungen unter der Leitung des neu eingesetz- Jahres 1932 ein . So war die Umsatzsteuererhöhung trotz Ge- ten Staatskommissars für das Bewachungsgewerbe« statt . währung von Steuergutscheinen, die Erhöhung von Verzugs- Am 2 . Oktober wurde der Kölner Verband aufgelöst . Alle zinsen sowie anfallende Prozesskosten im Zuge der Ausei- 77 inländischen Mitglieder, die 120 Mitglieder des Kasseler nandersetzungen beider Verbände, der Branche schlecht Reichsverbandes und »die bislang nichtorganisierten privaten bekommen . Positiv wurde von ihm die Bildung von »Schwar- Sicherheitsdienste wurden« demnach in den Reichseinheits- zen Husaren« begrüßt, als einer Unterabteilung der Betriebe . verband des Deutschen Bewachungsgewerbes e .V »zwangs- Diese dem Wachdienst dienende Struktur, verzeichnete »zu- weise eingegliedert .«3 Der wirkliche Ablauf von 1933 steht friedenstellende Einnahmen« . »Erfreulich« sei zu verbuchen, »etwas« im Widerspruch zu der offiziellen und sehr spärlichen das durch diese »Neueinrichtung« ca . 1 .000 Personen vom Darstellung des heutigen Monopolverbandes . Der BDSW, der Arbeitsmarkt genommen werden konnten . »Dass ein großer immerhin 3 .700 Unternehmen mit 170 .000 Mitarbeitern und Teil dieser Personen aus politischen Organisationen, der SA 4,6 Mrd . Euro Jahresumsatz vertritt, hat auch allen Grund, die und SS« kam, war »besonders erfreulich« . Man sieht, dass wahre Geschichte zu klittern und zu verschweigen . schon 1932 in dem Gewerbe keine Berührungsängste zu den Im Protokoll der Generalversammlung des Reichsverbandes Terrorbanden der Reaktion bestanden . Ökonomische Interes- vom 12 .Mai 1933, sind die Ereignisse von 1933 dagegen aus- sen und faschistische Weltanschauung gingen offensichtlich führlich geschildert . So konstatierte ein gewisser Herr Krüger Hand in Hand .6 in seiner Eröffnungsrede, dass seit der letzten Zusammen- Dann ergriff der »Kommandeur Kaupisch« das Wort . Er war kunft »sich Ereignisse in unserem geliebten Vaterlande voll- zum »Kommissar der nationalen Regierung« berufen und in zogen« hätten, »an die wir damals gar nicht denken konnten« . dieser Funktion durch den faschistischen Staat als Vertreter »Der 30 .Januar» sei ein »Wendepunkt« . Adolf Hitler war es in des widerspenstigen Kölner Verbandes eingesetzt worden . »jahrelanger zäher Arbeit« gelungen, »das Regime von 1918 Seine Hausmacht war allerdings bescheiden . Er verwies auf niederzuringen« . Was dieses Regime für das Bewachungsge- den bisherigen negativen »Konkurrenzkampf«, der sich zwi-

53 schen den beiden bisherigen Verbänden in Berlin vollzogen mandeur der Berliner Schutzpolizei, Oberst a .D . Kaupisch . habe . Im Sinne der faschistischen Parole »Gemeinnutz geht Die Wahl fiel u. a . auf ihn, da er in den zwanziger Jahren für vor Eigennutz« reiche er »offen« Hanel für einen Zusammen- einige Zeit »Geschäftsführer einer dieser Gesellschaften«, schluss die Hand »im Interesse der vielen tausenden Arbeit- dann jedoch im Streit gegangen war . Er hatte sich nach sei- nehmer … und im Interesse des Vaterlandes .« Anschließend nem Ausscheiden aus dem Polizeidienst mehr und mehr fa- peitschte Staatskommissar Protze noch einmal die Anwe- schistischen Positionen genähert . 1931 wurde er Mitglied der senden durch eine Huldigung des deutschen Faschismus NSDAP und hatte beste Verbindungen zu den neuen Macht- und Adolf Hitlers auf . Die folgende Wahl des »zweigliedrigen habern . Er schrieb am 17. März 1933 dem Fraktionsvorsit- Präsidiums« mit Hanel und Kaupisch an der Spitze wurde zenden der NSDAP im Preußischen Landtag, Wilhelm Kube, von »lebhaften Heilrufen« begleitet .7 In den Vorstand rück- um eine »Wiederverwendung im Staatsdienst« zu erwirken 10. ten neben den beiden Präsidenten, die Herren Körner, Arthur Kube leitete Kaupischs Bitte an den »Kommissar z .b .V . » beim Karmrodt, Robert von Jagow, Krüger, Richard Haars, Wilhelm preußischen Innenministerium, Kurt Daluege weiter . Dieser Dorow und Göbel . Die Wahl erfolgte einstimmig . Nach der war »gern bereit, dieser Anregung nachzukommen« und ihn schwülstigen Rede des Generalsekretärs des Bundes für Han- zu einem Besuch in Berlin zu empfangen . Am 1 . April 1933 del und Gewerbe, Dr . Vierath, über »Deutschlands Erwachen ernannte der Polizeipräsident von Berlin Kaupisch zum »Kom- als Nation«, schloss die »eindrucksvolle Kundgebung mit dem missar für die A .G . für Eigentumsschutz« . Er hatte in dieser Deutschlandlied und dem Horst-Wessel-Lied« .8 Funktion die Kölner in die »Zwangsorganisation« zu führen . In der folgenden Aussprache der Mitglieder ging es um die Er war zufrieden mit seiner Tätigkeit, bedauerte aber dass sie zentrale Durchorganisierung des Verbandes . Einheitliche nur »vorübergehend« war . Lohn für seine Bemühungen war Richtlinien waren bereits in Vorbereitung . Der Verband soll- seine Beförderung zum General a .D 11. te sich in Zukunft in seiner Arbeit auf regionale Unterglie- Trotz der propagandistischen Veranstaltung am 12 . Mai gab derungen, die Landesgruppen, stützen können, die Konzes- es im immer noch existenten Kölner Verband Kräfte, die sich sionsvergabe müsste zentral durch die Handelskammern nicht unbedingt gegen die zentrale Organisierung wandten, organisiert werden . Einen »sehr breiten Raum« nahm das aber sie in ihrem Interesse wandeln wollten . Das zeigte sich Problem der Einrichtung der »Schwarzen Husaren« ein . Zu- schon in der Aussage Protzes, dass beide Seiten die »Gleich- dem wurde die Absicherung von Ausstellungen, Radrennen schaltungs-Verhandlung« wie ein »Schlachtfeld« betraten, um und anderer Veranstaltungen durch herangezogene SA-Män- sich »möglichst mit schärfsten Messern zu bekämpfen« . Zu- ner kritisiert . Sie stellten eine Konkurrenz dar, die die Bewa- dem gelang es den Kölnern in den folgenden Wochen, Kau- chungsunternehmer preislich nicht unterbieten konnten . Da pisch auszubooten, und ihm die Schriftleitung der Verbands- die verlumpten SA-Männer auf diesen Nebenverdienst jedoch zeitung zu entreißen . Das Vorstandmitglied Karmrodt nutzte angewiesen seien, wollte man eine Regelung finden, die »un- daher in einem Leitartikel im Organ des Reichseinheitsver- ter Verwendung der SA-Formationen« der Entwicklung eine bandes im Juli 1933 den zur Staatsdoktrin erhobenen Antise- Richtung gab, die dem »steuerzahlenden Unternehmertum« mitismus, um seine Widersacher zu attackieren und zu dis- zu Gute kam 9. kreditieren . So hätten die Kölner »30 Jahre lang nur jüdische Der Konzentration und Zentralisation des Bewachungsgewer- Geldsack-Politik« betrieben . Die »arischen Bewachungsun- bes in Deutschland unter dem lenkenden Einfluss des Staates ternehmer« sollten nicht glauben, dass nach der »angeblich wurden mit der Hitler-Regierung neue Impulse gegeben . Der erfolgten »Umstellung gewisser Bewachungsbetriebe« sich Generalversammlung vom 12 . Oktober war daher hinter den deren »Geist« gewandelt hätte . Nach wie vor gäbe es in Pub- Kulissen ein reger Betrieb voraus gegangen . Dabei prägten die likationen des »Kölner Verbandes Behauptungen … die jüdi- Vorgänge neben Personen, die sich mit ihrer verbrecherischen schen Bewachungsunternehmer seien die ›Pioniere‹ des Ge- Politik im Faschismus besonders exponierten, Personen die werbes, sie hätten … namhaften Anteil an der Entwicklung .« schon in der Weimarer Republik eine gewisse Rolle spielten . Karmrodt fragte niederträchtig, »wo das ›warme Herz‹ dieser Herren« gewesen sei, als sie angeblich »rücksichtslos jede Während der Kassler Verband, der vorwiegend für die klei- Konkurrenz mit den schmutzigsten Mitteln bekämpften, Exis- neren und mittleren Betriebe stand, durch diese Politik Vor- tenzen ruinierten und Bewachungsunternehmer in den Tod teile erwartete, brauchte der Kölner Verband eine lenkende trieben .« Besonders wurde Dr . Stupp, der Eigentümer der Hand die ihn in das staatsmonopolistische Fahrwasser leite- Dresdner Wach- und Schließgesellschaft, an den Pranger ge- te . In ihm dominierte die »A .G . für Eigentumsschutz und die stellt . Sein Stellvertreter sei dazu »noch eine Jude« .12 Karm- zugehörigen Großberliner Wachgesellschaften«, die zudem in rodt gab seinen Verbandskollegen den Rat »dass Sie soviel jüdischen Besitz war . Die »A .G «. hatte den Kasslern so man- Energie und Tatkraft aufbringen« sollten, um »diesem jüdi- che Niederlage in den letzten Jahren bereitet . Im Zuge der schen-jesuitischen Geplärre dieser ›Auchkollegen‹ … entge- »Gleichschaltung« unter antisemitischen Vorzeichen sahen genzutreten« . Dies habe so zu geschehen, »dass diesen Geld- die Kassler daher die Chance, ihren Gegner auszuschalten . sackprotzen die Lust vergeht, das Ansehen des deutschen Der passende Mann für diese Politik war der ehemalige Kom- Wachgewerbes zu schädigen und das nun endlich Wahrheit,

54 Sauberkeit, Aufrichtigkeit und kameradschaftliche Volks­ sem Zusammenhang in »das Geheime Staatspolizeiamt beru- gemeinschaft auch in unserem Gewerbe einziehen .«13 fen«, aus dem er jedoch, nach seiner Aussage »nicht im Zu- sammenhang mit den Ereignissen des 30 .Juni 1934 freiwillig Lange musste »Volksgenosse« Karmrodt darauf nicht mehr ausschied« . Seine Position im Verband konnte er jedoch zu- warten . Im Herbst 1933 fand diese Auseinandersetzung ein nächst behalten .17 Ende . Der Kölner Verband wurde am 2 . Oktober aufgelöst . Im Zuge der »wirtschaftlichen Neuordnung« von 1934 wurde Die von Staatskommissar Protze geforderte und »von uns als das Bewachungsgewerbe im faschistischen Staat endgültig notwendig erkannte Form der Zwangsorganisation« war fak- umgestaltet . »Die Gliederung der deutschen Wirtschaft« er- tisch »Tatsache« geworden . Fünf Monate später wurde die folgte nun in der fachlichen Aufteilung nach sechs Reichsgrup- »Zwangsorganisation« per Anordnung des Reichswirtschafts- pen, die in Wirtschaftsgruppen und diese wiederum in Fach- ministers auch offiziell zum Gesetz .14 gruppen, gegebenenfalls Fachuntergruppen, unterteilt waren . Personell gelang nun ein Mann für mehr als drei Jahre an Die Untergliederungen der Reichsgruppen bestimmte der die Spitze des Verbandes, den der BDSW geflissentlich ver- Reichswirtschaftsminister . Durch eine Anordnung vom 2 . No- schweigt . In der Generalversammlung des Reichseinheitsver- vember 1934 hatte er den »Reichseinheitsverband des Deut- bandes vom 6 .Okt ober 1933 wurde einstimmig der SA- Stan- schen Bewachungsgewerbes e .V . als die Fachgruppe Bewa- dartenführer Werner Schulze-Wechsungen zum Präsidenten chungsgewerbe in der »Reichsgruppe Handel« anerkannt . Der gewählt . »Mit dem Einverständnis« seiner »vorgesetzten Leiter hatte die Fachgruppe »im Sinne des nationalsozialisti- Dienststellen« und dem »Vertrauen der organisierten Bewa- schen Staates zu führen und die Angelegenheiten der Gruppe chungsunternehmer« und dem »Bewusstsein«, dass seine und ihrer Mitglieder unter Rücksichtnahme auf die Gesamtin- »neuen Aufgaben sich grundsätzlich« seinen »alten Arbeisge- teressen der gewerblichen Wirtschaft und unter Wahrung der bieten eingliedern«, hatte Schulze-Wechsungen das Präsidi- Staatsinteressen zu fördern .« »Die örtliche Gliederung« der um allein übernommen . Er als Präsident, wurde von einem Fachgruppe erfolgte »nach Wirtschaftsbezirken entsprechend dreiköpfigen geschäftsführenden Vorstand unterstützt . Regi- der wirtschaftlichen Bedürfnisse« also » im Rahmen » der bis- onal agierten durch die Zentrale angeleitet die Landesgrup- herigen Landesgruppen .18 Im September 1935 resümierte pen mit ihren Vorständen . Die Landesvorsitzenden waren zu- Schulze-Wechsungen in einer Festrede, dass man »versichert dem im Hauptvorstand vertreten .15 sein« könne, »dass das deutsche Bewachungsgewerbe unter SA-Standartenführer Schulze-Wechsungen war ein beson- rein nationalsozialistischen Gesichtspunkten ausgebaut wird« ders übles Exemplar der Spezies deutscher Faschisten . Die und das eine »Selbstreinigung größtes Ausmaßes« durchge- SA, in der das lumpenproletarische Element eine nicht gerin- führt wurde .19 ge Rolle spielte, galt für manch einen Auswurf und Aushub Nur führte Schulze-Wechsungen den Verband bis 1937 un- der bürgerlichen Klasse als Aufstiegsmöglichkeit . So auch für verhohlen unter maßgeblicher Intention des persönlichen Schulze-Wechsungen . Er war in der Weimarer Republik zu- Vorteils, indem er seine staatliche Funktion mit geschäftli- nächst im Frontbann organisiert und ging später zur SA über . chen Interessen verband . Das trug ihm in der Fachgruppe 1932 führte er in Berlin zwei SA-Standarten und wurde »nach eine Menge Feinde ein .20 Diesen Umstand nutzten SS, RWM der Machtergreifung Leiter des Konzentrationslagers in Ora- und eine aus dem »traditionellen« Bewachungsgewerbe stam- nienburg .«16 Er hatte beste Beziehungen zur SS und Gesta- mende Figur, »Pg .« und Vorstandsmitglied Richard Haars, um po, was ihm am 30 . Juni wohl auch das Leben rettete . So ihn aus dem Amt zu drängen . Nachdem SS bzw . Gestapo und berichtete er als Leiter des KZ Oranienburg an die Gestapo . die Wehrmacht sich in der Röhm-Affäre gegenüber der SA In einer gegen ihn durch SA und RWM geführten Untersu- im faschistischen Staat durchgesetzt hatten, übernahm die chung, gab er zu verstehen, dass es zwischen SA, SS und Geheime Staatspolizei endgültig die Federführung in der fa- Gestapo Absprachen über die geheimpolizeiliche Lenkung schistischen Ausrichtung des Bewachungsgewerbes .21 Da- des Bewachungsgewerbes gab: Genau das verstand er wohl bei störte das SA-Mitglied Schulze-Wechsungen in jeder Be- in seiner Antrittsrede als Präsident unter dem »Einverständ- ziehung . Zur Jahreswende 1935/1936 hoffte er noch, dass nis« der »vorgesetzten Dienststellen« . Da sie »als SA-Männer aus »vergangenen Fehlern und Eigensüchtigkeiten, Misstrau- schon« vor 1933, »getarnten Wachdienst getan« hätten, bat en und jeder egoistischen Politik« gelernt werden könne und ihn »General Daluege, in dem neuen Aufbau des Bewachungs- in Zukunft die Stellung des Gewerbes »leichter zu meistern« gewerbes führend tätig zu sein «. Schulze- Wechsungen wur- sein werde . »Erst wenn … alle gemeinsam Schritt miteinan- de demnach von Daluege 1933 »als Sonderbeauftragter für der halten, werde« man »zum gewünschten Ziel« kommen . Im das Bewachungsgewerbe« im Preußischen Innenministerium Februar 1937 trat Schulze-Wechsungen aber zurück, offiziell »in die Abteilung Politische Polizei berufen«, wo er ein hal- um einer Interessenvermengung durch den Antritt einer neu- bes Jahr unter dem »MR Jahnisch« gearbeitet hatte . In die- en Funktion entgegenzutreten . Intern wurde ihm durch das ser Zeit wurde er zum Präsidenten des Verbandes gewählt . RWM jedoch klar gemacht, dass er nicht mehr »tragbar ist« .22 Es bestand zunächst der Plan das »Bewachungsgewerbe mit Zum Nachfolger ernannte der Leiter der Reichsgruppe Han- der SS zu verbinden« . Schulze- Wechsungen wurde in die- del, Lüer, Richard Haars . Noch 1940 hieß es in einer Würdi-

55 gung von Haars, das alle Mitglieder wüssten, »unter welchen von »Groß- und Mittelbetrieben« gestellt . Vor allem sie pro- Auspizien er damals die Führung übernahm« .23 Haars gelang fitierten von der »Bereinigung« des Marktes und der durch es »trotzdem in wenigen Jahren« die Fachgruppe zu einem die Aufrüstung anfallenden Aufträge . So fehlte es bis an das »beachtlichen Faktor zu machen« .24 Ende des faschistischen Deutschlands nicht an Vorwürfen Den vorläufigen staatsmonopolistischen Abschluss fand die- an die Führung das »… wieder einmal die Großen Firmen be- se Entwicklung mit der »sicherheitspolizeilichen Aufsicht« rücksichtigt werden und die kleinen Firmen ins Hintertreffen über das Bewachungsgewerbe . Diese vollzog sich nicht zu- geraten« . Das dies ein generelles Problem war, zeigte eine letzt im Zusammenhang mit ökonomischen Interessen .25 Im Äußerung des Reichswirtschaftsministers, für den »eine der Reichsgesetzblatt Nr .1 39 vom 21 .Dezember 1937 wurde die Hauptschwierigkeiten in der Organisation der gewerblichen neue »Verordnung über den Wachdienst« veröffentlicht . Dem- Wirtschaft gerade darin« bestand, »dass die Leiter der Grup- nach unterlag nun »jede nichtstaatliche Einrichtung, bei der pen gleichzeitig oft Konkurrenten der von ihnen betreuten Personen ständig mit der Abwehr rechtswidriger Angriffe ge- Mitglieder« waren 30. gen Menschen oder Sachen betraut« waren, »der sicherheits- Nur der 2 . Weltkrieg verhinderte, dass diese inneren Konflik- polizeilichen Aufsicht« . Der »Reichsführer SS und Chef der te nicht zu größeren Verwerfungen führten . Mit Ausbruch des Deutschen Polizei«, Heinrich Himmler, übte die sicherheits- Krieges stiegen die Erwartungen aller Mitglieder, sofern sie polizeiliche Aufsicht aus und erließ »die hierzu erforderlichen nicht durch einen Kriegseinsatz ihr Gewerbe aufgeben muss- Anordnungen« . Diese Aufsicht Himmlers erstreckte sich »ins- ten, auf neue »Reviere« und damit auf mehr Einnahmen . Im besondere« auf die »Genehmigung und Einstellung von Ange- August 1942 wurde bekannt gegeben, dass seit einigen Mo- hörigen des Wachdienstes«, die »Überprüfung der Beschäftig- naten das Bewachungsgewerbe in Absprache mit der Ge- ten des Wachdienstes« und gegebenenfalls ihre Entlassung, stapo »im verstärkten Maße zur Bewachung« von Zwangsar- die »Ausbildung und Ausrüstung der Angehörigen des Wach- beitern herangezogen wurde . »Herr Direktor Koch« aus dem dienstes« und »Überwachung« ihrer Tätigkeit . Dieses Gesetz Bezirk Hessen wusste in diesem Kontext nach einer Sitzung war eine Stärkung des Einflusses des faschistischen Staates, bei »der Geheimen Staatspolizei in Frankfurt a . M «. von »be- insbesondere der Geheimpolizei, auf das Bewachungsgewer- sonders beachtlichen Dingen« zu berichten . Im September be, ohne die faktisch keine unternehmerische Tätigkeit mehr 1942 sollten »alle Firmen die …Aufträge in den besetzten Ge- in diesem Bereich vollzogen werden konnte . Das vor allem bieten im Westen und Osten, Generalgouvernement, Protek- kleinkapitalistische Bewachungsgewerbe erhoffte sich aus torat oder im Ausland erhalten« hatten, es »umgehend der dieser Regelung zudem eine Stärkung gegenüber den Betrie- Fachgruppe« melden . Neben den bisherigen Bezirksgruppen ben, vor allem »der Großindustrie« die »bisher einen eigenen wurde die »Bezirksgruppe für die Ostgebiete« gegründet . Es Bewachungsdienst organisiert hatten «. Das war jedoch letzt- wurde festgestellt »dass die Ostgebiete ein Zukunftsgebiet endlich nicht der Fall, da von staatlicher Seite seit 1933 eine unseres Reiches sind und nur jene Bewachungs-Unterneh- zentrale Organisierung des Werkschutzes in den Betrieben men sich behaupten« könnten, »die gute fachmännische und in Angriff genommen wurde . Dem Bewachungsgewerbe ver- harte Arbeit leisten« .31 Diese Hoffnungen auf einen »Siegfrie- blieb in diesem Bereich nur eine Ergänzungsfunktion 26. den« zerschlug jedoch die Rote Armee . Insgesamt führte die Monopolisierung zu einer »Bereinigung« des Marktes . Dazu zählte auch die Verdrängung der »jüdi- Stephan Jagielka schen« Konkurrenz . Am 5 . August 1938 akklamierte das Or- gan der Fachgruppe, dass nun das »Bewachungsgewerbe für Juden gesetzlich verboten« war . Demnach war »Juden und jü- dischen Unternehmungen« dessen Betrieb untersagt 27. Im Rückblick stellte Haars 1940 fest, dass der »Hauptpunkt« 1 Protokoll der Generalversammlung des Reichsverbandes des Bewachungsge- werbes vom 13 .Mai 1933 in Berlin, Lehrer-Vereinshaus, in: Reichseinheitsver- seiner Aufgabe, dass »Gewerbe grundlegend zu bereinigen band des Deutschen Bewachungsgewerbes, 1933 . Nr . 1, S .2 . und alle nicht dem berufsmäßigen Bewachungsgewerbe an- 2 Werkschutz, in: Der deutsche Wachdienst, 1938 Nr . 3, S . 41–42 . Stephan Je- gehörenden Formationen auszuschalten«, erfüllt worden war, gielka: Der faschistische Werkschutz, Berlin 2012 . 3 Maik Lange: 100 Jahre BDWS 1904–2004, in: Bundesverband der Sicherheits- 28 und zu einem »bedeutenden Aufschwung« geführt hatte . wirtschaft: Sonderheft Vom BDWS zum BDSW, Bad Homburg 2011, S . 11–12 . 1937 waren im Verband laut Angabe der Mitglieder 415 Be- Günther Pfanneberg: Entwicklung, Organisation und Bedeutung des Bewa- chungsgewerbes, Leipzig 1934, S . 36 . »Gleichschaltung« und »Machtergrei- triebe mit ca . 13 000. Mitarbeitern organisiert . Bis Kriegsan- fung« sind Termini, die schon die Faschisten für ihre Politik verwandten . Siehe fang »vervierfachte« sich die Mitarbeiterzahl . Die DAF ging in auch bei Schulze-Wechsungen, BA Lichterfelde, BDC SA, Werner Schulze- dieser Zeit von »65 .000 Gefolgschaftsmitgliedern im Wach- Wechsungen, Über die Besprechung im RWM 16 . November 1936 . 4 Protokoll, Reichseinheitsverband, S .1 . 29 gewerbe« aus . 5 Protokoll, Reichseinheitsverband, S .2, S . 5 . Die Widersprüche des Kapitalismus blieben trotz aller An- 6 Protokoll, Reichseinheitsverband, S .2–3 . 7 Pr otokoll, Reichseinheitsverband, S . 4 . BA Lichterfelde, BDC PK, Hugo Kau- strengungen der Protagonisten dem Verband nicht erspart . pisch, Schreiben Wilhelm Schönherr an Hermann Göring, 27 . April 1933 . Die Führung der Fachgruppe, Leiter und Geschäftsführer, zu- 8 Protokoll, Reichseinheitsverband, S . 6–8 . Robert von Jagow war der Begrün- züglich des Beirates, wurden ausnahmslos durch die Eigner der der heutigen Firma DWS-Sicherheit . Noch heute wird sein Agieren in der Zeit von 1933 gelobt . So expandierte das Unternehmen durch seine »profes-

56 sionelle Arbeitsmethode und sein ausgezeichnetes Koordinationsgeschick … 24 Dabei spielte die Ideologie eine wichtige Rolle . 1938 würdigte er in preisen- im Jahre 1933« http://www dws-sicherheit. de/index. php?id=71. Stand 28 .Ju - den Worten einen zehntägigen Schulungskurs der DAF für das Bewachungs- ni 2012 . gewerbe in der Reichsschulungsburg der NSDAP Hirschberg . Jeder aus der 9 Der Reichseinheitsverband stand zudem mit Gründung dem »Kampfbund des Fachgruppe der »diese Schulung hinter sich hat, kehrt gefestigt und gestärkt gewerblichen Mittelstandes« entgegen . Protokoll, Reichseinheitsverband, im nationalsozialistischen Glauben an seinen Arbeitsplatz zurück .« Haars war S .8–1 0 . Unsere Organisation und Entwicklung, in: Reichseinheitsverband des davon überzeugt, das, was Burgkommandant Holweger ihnen »auf den Weg Deutschen Bewachungsgewerbes, 1933, Nr . 7, S . 60–61 . gegeben« hat, nie »im Leben zu vergessen« . Richard Haars: Schulungskurs 10 BA Lichterfelde, PK Hugo Kaupisch, Schreiben an Kube 17 .Mär z 1933 . Schon in Hirschberg, in: Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewa- am 29 .Januar 1933 hatte sich Kaupisch bei Ernst Röhm über seine »mißliche chungsgewerbe e .V ., 1938, Nr . 12, S . 1 . Lage« beklagt . Hsi-Huey Liang: Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik, 25 Auf der 2 . Reichstagung des Deutschen Bewachungsgewerbes, vom 19 . bis Berlin 1977 S . 74 . 21 . Juni 1939 hielt SS-Sturmbannführer und Regierungsrat im Reichsminis- 11 BA Lichterfelde, PK Hugo Kaupisch, Schreiben Kube an Daluege, 18 . März terium des Innern, Dr . Heinz Ehaus, aus dem Hauptamt Sicherheitspolizei, 1933; Schreiben Daluege an Kaupisch 23 . März 1933; Schreiben Kaupisch ein Referat über »Die Wachdienstverordung« . Tagungsfolge, in: Der deutsche an Kube 8 . April 1933; Schreiben Kube an Daluege 10 . April 1933, Schreiben Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ., 1939 Nr . 6 Daluege an Kube 10 . April 1933; Schreiben Wilhelm Schönherr an Hermann 1939, S .1 02 . In einer Nachbetrachtung von »Stuttgart!« bedankte sich Haars Göring, 27 . April 1933 . bei Ehaus an erster Stelle . Richard Haars: Stuttgart!, in: Der deutsche Wach- 12 Was Dr . Stupp nicht davon abhielt, später als Landesgruppenführer Sachsen dienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ., 1939, Nr . 7, S . 120 . eine führende Rolle im Verband zu spielen . Von den Landesgruppen, in: Der 26 Sicherheitspolzeiliche Aufsicht auch über Privatwächter, in: Der deutsche deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V, 1935 Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ., 1938, Nr . 1, Nr .1 0, S .1 17 . Protokoll, Reichseinheitsverband, S .6–8 . Arthur Karmrodt: »Die S . 2 . großen Meister der Lüge«, in: Reichseinheitsverband des Deutschen Bewa- 27 Die Gewerbeordnung war am 8 . Juli 1938 geändert worden . Bewachungsge- chungsgewerbes, 1933, Nr .2 . S . 13–14 . werbe für Juden gesetzlich verboten, in: Der deutsche Wachdienst, Organ der 13 Karmrodt, Meister, S . 13–14 . Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ,. 1938, Nr ,. S .141–142 . 14 Rückblick-Ausblick, in: Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Be- 28 Richard Haars trat aus gesundheitlichen Gründen 1940 zurück . Nachfolger wachungsgewerbe e .V , 1936, Nr . 5, S . 46 . wurde NSDAP-Mitglied und Reichsfachreferent für das Bewachungsgewerbe 15 An alle Bewachungsunternehmer Deutschlands, in: Reichseinheitsverband der DAF, Wilhelm Dorow, dem die Firma Wachbereitschaft Groß-Berlin ge- des Deutschen Bewachungsgewerbes, 1933 Nr .5, S .1 . BA Lichterfelde, BDC hörte . Sein Stellvertreter Heinrich Soost, SS-Sturmführer, und Besitzer des SA, Werner Schulze-Wechsungen, Über die Besprechung im RWM 16 .N ovem- Magdeburger Wach- und Schließ-Institutes, war zu dieser Zeit für längere ber 1936 . Zeit abkömmlich, da er seinen »SS-Dienst im Osten« versah . Der Beirat tagte, 16 BA Lichterfelde, BDC SA ,Werner Schulze-Wechsungen, Über die Besprechung Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ., im RWM 16 . November 1936 . 1940, Nr . 8, S . 89–90 . 17 BA Lichterfelde, BDC SA ,Werner Schulze-Wechsungen, Über die Besprechung 29 Richard Haars: An die Mitglieder unserer Fachgruppe, Der deutsche Wach- im RWM 16 . November 1936 . dienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ., 1940, Nr . 8, S . 81– 18 Erwin Zimmermann: Die Stellung des Bewachungsgewerbes in der wirtschaft- 82 . R . Es hatten bisher nicht alle Unternehmen dieser Branche relevante An- lichen Neuordnung, in: Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Be- gaben zur Fachgruppe gemeldet, was die Erstellung von endgültigen Zahlen wachungsgewerbe e .V ,. 1935, Nr . 3, S . 1–2 . erschwerte . Dieses Problem zog sich bis zum Ende des Krieges, was letztend- 19 Rede des Leiters der Fachgruppe »Bewachungsgewerbe« gelegentlich des lich die dem Staat gegenüber feindliche Haltung des Kleinbürgertums cha- Festaktes zum Schluss der Werbewoche am 28 . September 1935, in: Der rakterisierte, weil er sie im Sinne des Finanzkapitals ebenso unterdrückte deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ., wie die Arbeiterklasse . Um den Druck zu erhöhen, verschärfte der faschisti- 1935, Nr . 11, S . 123–124 . sche Staat das Ordnungsstrafrecht für die Wirtschaftsgruppenleiter . Der Lei- 20 Der Führer der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg kam zu dem Schluss dass es ter der Fachgruppe Bewachungsgewerbe konnte nun eine Ordnungsstrafe in sich bei den „Angriffen gegen Sch .-W… im wesentlichen auch um einen wirt- Höhe von 10 .000 RM, bisher 1 .000 RM, bei einmaligen »vorsätzlichen oder schaftlichen Machtkampf“ handelte . BA Lichterfelde, BDC SA, Werner Schul- leichtfertigen Verstoß gegen eine Weisung« erlassen . Thilo Höhne: Mitteilun- ze-Wechsungen, Der Führer der Gruppe Berlin-Brandenburg an die Oberste gen der Geschäftsstelle, in: Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgrup- SA .-Führung Gerichts- und Rechtsamt 29 . April 1937 . pe Bewachungsgewerbe e .V ,. 1941, Nr . 6, S . 62–63 . Ordnungsstrafrecht der 21 Emil Finnberg: Vorschläge für eine neue reichsrechtliche Regelung des Wach- Wirtschaftsgruppenleiter erweitert, in: Der deutsche Wachdienst, Organ der gewerbes, in: Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungs- Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ., 1942 Nr . 11, S . 59–60 . BA Lichterfel- gewerbe e .V ., 1938 Nr . 3, S . 45–47 . Emil Finnberg war Schriftführer der de, RWI R3 101/9262 . Landesgruppe Hamburg-Normark . Eintritt in die SS 1933 . Später SS-Sturm- 30 Richard Haars hatte zum Beispiel die Braunschweiger Wach- und Schließge- bannführer, Referent im RSHA Amt II, im Stab der Einsatzgruppe A und dann sellschaft 1918 gekauft . 1940 hatte sie 250 Mitarbeiter und zählte zu den grö- Stellvertretender Leiter der SD-Stelle Breslau . 1983 wurde zum Ehrenmitglied ßeren und wachsenden Firmen . Geschäftsbericht und Statistik, in: Der deut- des Gesamtvorstandes des BDWS ernannt . BA Lichterfelde BDC SSO Emil sche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ., 1938, Finnberg . Pressemitteilung des BDWS Nr . 6–2005, URL:http://www .bdsw . Nr . 9, S . 164 . Thilo Höhne: Zum Abschied unseres Fachgruppenleiters, in: de/cms/index .php?option=com_content&task=view&id=208&Itemid=51, Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ,. Stand 27 .Juni 2012 . 1940, Nr . 2, S . 14 . BA Lichterfelde, BDC SA, Werner Schulze-Wechsungen, 22 Er war seit Januar 1937 im geschäftsführenden Vorstand der »Arbeitsgemein- Der Reichswirtschaftsminister an die Oberste SA-Führung, 16 . Dezember schaft der Fahrzeug-Bewachungsbetriebe Deutschland« tätig . Jahreswende!, 1936 . in: Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe 31 Bezirksgruppentagung der Bezirksgruppe für die Ostgebiete, in: Der deutsche e .V ,. 1936, Nr . 1, S . 1 . An alle Mitglieder der Fachgruppe Bewachungsgewer- Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ., 1942, Nr . 6, be, in: Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe S .34 . Protokoll über die Bezirksgruppenversammlung der Bezirksgruppe Hes- e. V:, 1937, Nr. 3 . S .4 0 . BA Lichterfelde, BDC SA ,Werner Schulze-Wechsungen, sen, in: Der deutsche Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewer- Der Reichswirtschaftsminister an die Oberste SA-Führung 16 .Dezember 1936 . be e .V ., 1942, Nr .6, S .34 . Mitteilungen der Geschäftsstelle, in: Der deutsche 23 Höhne, Thilo: Zum Abschied unseres Fachgruppenleiters, Der deutsche Wach- Wachdienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V . 1942 Nr . 8, dienst, Organ der Fachgruppe Bewachungsgewerbe e .V ,. 1940, Nr .2, S .1 3–14 . S . 43 .

57 Reaktion der KPD auf die »Reichstagsbrandprovokation« vom 27 ./28 . Februar 1933 .

58 Kapitalisierte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Reflexionen angesichts des Buches »Von Arisierung bis Zwangsarbeit«

Es war Ende 2007, Anfang 2008, als die nordrhein-westfäli- wandelter Satz von Arnold Schönberg gelten . Der Komponist sche »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der und Lehrer für Komposition leitet seine »Harmonielehre« mit Antifaschistinnen und Antifaschisten« (VVN-BdA) eine Rallye dem Satz ein: »Dieses Buch lernte ich von meinen Schülern .« »Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr Sander lernte das Buch von antifaschistischen Aktionen in 1933 bis 1945« auf den Weg brachte . Der gewählte Zeitpunkt Nordrhein-Westfalen . des Starts der Rallye war der mahnenden Erinnerung an die Bis zum Herbst 2011 beteiligten sich Gruppen in 25 Städ- 75 Jahre zuvor erfolgte Machtübertragung an Hitler und die ten des Bundeslandes an der »Rallye« . Die Darstellungen NSDAP geschuldet . Inhalt und Ziel der langfristig angelegten von Leistungen der beteiligten Menschen beeindruckt stark: Aktion: Vor Ort geschichtsbewusst leben, in Verpflichtung ge- Die Mühen von Laien, sich Erkenntnisse der Geschichtswis- genüber den Opfern an die aus Industrie und Banken mächti- senschaft anzueignen, um so die eigenen Recherchen und gen Täter der Verbrechen erinnern, die Spur der Täter durch Aktionen zu fundieren; ihr Mut, in der Heimatgemeinde die Inschriften sichtbar machen, zum Nachdenken über die Wur- Wahrheit über die mächtigen Täter zu verbreiten; ihre Beharr- zeln von Nazismus und imperialistischem Krieg anregen, für lichkeit, die Spur der Täter sichtbar zu machen; ihr Engage- Demokratie und Frieden eintreten . Heute, und das verlau- ment gegen Kriegsrüstung und Krieg, gegen faschistische ten die VVN-BdA-Aktivisten bei neuen Aktionen der Rallye, Gruppen und für Demokratie und Frieden . kommt noch – angesichts der Krise seit 2008 – das Problem hinzu: Welche Krisenauswege wählte das Kapital damals und Neben der »Vorbemerkung des Herausgebers« und einer Ein- heute? leitung »Von »Verbrechen der Wehrmacht« zu »Verbrechen der Antifa- und Jugendgruppen, Schülerinnen und Schüler wur- Wirtschaft« . Eine notwendige Erweiterung der Perspektive in den aufgerufen, vor Ort Informationen über Täter und ihre der Geschichtspolitik« (Ulrich Schneider) ist das Buch in 21 Spuren zu sammeln und mit Hilfe von VVN-BdA zu veröffent- Kapitel gegliedert, die von insgesamt elf Autoren stammen . lichen . Allein 14 Kapitel haben Ulrich Sander und den unvergessenen Die erste Aktion fand am 4 . Januar 2008 in Köln am Stadt- Manfred Demmer zum Autor bzw . Rechercheur . Von Wissen- waldgürtel 35 statt . Dort hatten sich vor 75 Jahren Banker, schaftlern, d .h . Gastautoren, stammen drei Kapitel: Manfred Konservative und Nazis unter Führung Adolf Hitlers getroffen, Weißbecker »Die große Koalition der Rechten: Die Harzburger um die Machtübertragung an Hitler vorzubereiten . Ein Schild Front«; Thomas Kuczynski »Rückschau auf die Zwangsarbei- erinnert an Täter und Tatort: »Hier, im Haus des Privatbanki- terentschädigung – Kein Schlussstrich! Wirtschaftswunder ers Kurt Freiherr von Schröder, trafen sich am 4 .Januar 1933 als Resultat der Kriegswirtschaft«; Kurt Pätzold »Faschismus Adolf Hitler und Franz von Papen, um über eine Regierungs- an der Macht und Kapitalismus« . bildung zwischen Nationalsozialisten und Rechtskonservati- Das Buch schließt an Stelle eines Nachwortes mit einem ven zu beraten . In einem Gespräch wurden die Weichen für »Brief an Thomas Gottschalk . Nach dem Urteil von Den Haag Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30 .Januar 1933 ge- zur Verweigerung jeder Entschädigung für NS-Opfer in Grie- stellt und die Voraussetzungen für die menschenverachtende chenland und Italien .« (Ulrich Sander) Diktatur der Nationalsozialisten geschaffen . Kurt von Schrö- der unterstützte bereits vor 1933 die Ziele des Nationalsozia- Die Rallye »Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft an lismus und organisierte nach 1933 finanzielle Leistungen der Rhein und Ruhr 1933 bis 1945« findet in einer gegenüber deutschen Wirtschaft an die SS .« dem Zeitraum von 1945 bis 1992 grundlegend veränderten Vier Jahre nach Beginn dieser »Rallye« der nordrhein-west- welthistorischen und innenpolitischen Situation statt . Die fälischen VVN-BdA, im Frühjahr 2012, erschien im PapyRos- heutige Auseinandersetzung mit den Verbrechen des deut- sa Verlag ein Buch zur Aktion, »Von Arisierung bis Zwangsar- schen Kapitals, insbesondere des Konzernkapitals aus Ban- beit . Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933 bis ken, Kohle, Stahl, Chemie und Staatskapital eingeschlossen, 1945«, herausgegeben von Ulrich Sander . bezieht ihre Berechtigung aus den Schulden gegenüber den Für Herausgeber und Autor Ulrich Sander könnte ein abge- Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen, aus den von Hitler über-

59 nommenen und nie bezahlten Staatsschulden gegenüber so 1986 das Buch »… und heute die ganze Welt . Die Ge- Griechenland, aus fälligen Entschädigungen für Opfer und schichte der I G. . Farben und ihrer Väter« . Von einem Nachfol- deren Hinterbliebene des Naziterrors, etwa in Italien und gekonzern beauftragt, legte Gottfried Plumpe 1990 das Werk Griechenland; sie bezieht ihre Berechtigung aus der Not- »Die I G. . Farbenindustrie AG – Wirtschaft, Technik und Politik wendigkeit, alle noch vorhandenen Quellen zu erschließen, 1904–1945« im Jahre 1990 vor . damit eine möglichst umfassende Darstellung der Geschich- Schneider hebt die fundamentale Bedeutung der Ausstel- te des deutschen Faschismus zwischen 1933 und 1945 ge- lung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 geben werden kann; sie bezieht ihre Berechtigung aus der bis 1944« für die zeitgeschichtlichen Debatten der 90er Jah- Notwendigkeit, insbesondere jungen Menschen Basiswis- re hervor . Der Mythos von der »sauberen« Wehrmacht war sen für demokratische und also auch antifaschistische Hal- öffentlich widerlegt . Die heftigen Auseinandersetzungen tungen zu vermitteln, in einem Land, in dem faschistische sind in Erinnerung geblieben . Und auch hier ging es um die Banden serienweise morden (»Nationalsozialistischer Unter- Vergangenheit im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung grund – NSU«) und aktive Demokraten systematisch terrori- Deutschlands . siert werden, die faschistoide NPD durch Organe des so ge- Schneider konstatiert einen Aufschwung kritischer Unter- nannten Verfassungsschutzes staatlich gefördert wird . Und nehmensgeschichtsschreibung ab Mitte der 90er Jahre . Hier- die Erinnerung an die Verbrechen der Wirtschaftsmächtigen zu gehören Hans Mommsen, Manfred Grieger: »Das Volks- 1933 bis 1945 ist unerlässlich, weil Deutschland wieder an wagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich«, Düsseldorf Kriegen beteiligt ist, weil deutsche Rüstungsindustrie wie- 1996; Rolf Surmann, Dieter Schröder (Hg .): »Der lange Schat- der Kriegsindustrie ist, weil imperialistische Kriege unwei- ten der NS-Diktatur, Texte zur Debatte um Raubgold und Ent- gerlich Kriegsverbrechen hervorbringen – all das verlangt schädigung«, Hamburg/Münster 1999; Ulrike Winkler (Hg .): Widerstand . »Stiften gehen, NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsde- batte«, Köln 2000; Klaus-Dietmar Henke (Hg .): »Die Dresd- Ulrich Schneider zeigt einige Momente des Wandels histori- ner Bank im Dritten Reich«, in vier Teilbänden von Johannes scher Auseinandersetzungen mit dem faschistisch verfilzten Bähr; Dieter Ziegler, Harald Wixforth und Klaus-Dieter Hen- deutschen Monopolkapital . Er erinnert an die umfangreichen ke«, München 2008 . Untersuchungsberichte des »Office of Military for Germany Die von Schneider genannten Entwicklungen in der Ge- (U .S .)«, kurz OMGUS, aus dem Jahre 1947: »Ermittlungen ge- schichtsschreibung gehören zu den Voraussetzungen der Ak- gen die Deutsche Bank«, »Ermittlungen gegen die Dresdner tionen »Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933 Bank« und »Ermittlungen gegen I .G . Farbenindustrie AG«, so- bis 1945« . Die VVN-BdA stützt sich vorurteilslos auf alle we- wie an die im selben Jahr begonnenen Nürnberger Prozes- sentlichen Ergebnisse der Geschichtsforschung in beiden se gegen führende Wirtschaftsvertreter: Flick-Prozess (Fall deutschen Staaten sowie ausländischer Forscher, soweit sie V), I .G .-Farben-Prozess (Fall VI) und Krupp-Prozess (Fall X) . in deutscher Übersetzung vorliegen . Eingebettet zunächst allein in die Geschichte Westdeutsch- lands – von der gescheiterten grundlegenden Abrechnung Meisterhaft die historische Miniatur von Manfred Weißbecker mit den ökonomischen Wurzeln von Welteroberungskrieg »Die große Koalition der Rechten: Die Harzburger Front« . Es und Faschismus, über Restaurierung und Neuentwicklung ist Sommer 1931, eine Welle von Bankrotterklärungen gro- deutscher Konzerne während des »Kalten Krieges«, bis hin ßer Banken rollt . Von Hugenberg (Deutschnationale Volks- für die Zeit des neuen deutschen Staates – hebt Schneider partei) bis Hitler sind sich alle Rechten einig, Hindenburg in Veröffentlichungen zur Rolle der deutschen Wirtschaft her- Richtung eines autoritären politisch Systems zu drängen, den vor, so das 1974 veröffentlichte Werk von George W .F . Hall- Kompromiss mit SPD und Gewerkschaften zu beenden, die garten und Joachim Radkau: »Deutsche Industrie und Politik Weimarer Verfassung aufzugeben und Reichskanzler Heinrich Von Bismarck bis heute« . Die »Deutsche Bank« heulte auf Brüning abzulösen . Weißbecker zitiert aus einem Brief einer und setzte durch, dass einige Seiten geschwärzt wurden . Gruppe prominenter Industrieller an Brüning: »Man muss der Auch in der »Anti-Festschrift« von F C. . Delius zum 125jähri- Wirtschaft die Fesseln abnehmen und ihr das Wirtschaften gen Jubiläum des Siemens-Konzerns mussten nach langem nach den ewig gültigen ökonomischen Gesetzen wieder frei- Rechtsstreit Stellen geschwärzt werden . Ulrich Schneider wi- geben, damit sie ihre Kräfte entfalten kann «. Und in der Ent- derfuhr, dass ein I .G .-Farben Nachfolger, die Behringwerke schließung der »Harzburger Front« heißt es: »Nur der star- AG Marburg, juristische Konsequenzen androhte, als er Do- ke nationale Staat kann das Leistungsprinzip in jeder Form kumente über deren Beteiligung an verbrecherischen Men- verwirklichen und die zur Herbeiführung einer wahren Volks- schenversuchen im KZ Buchenwald veröffentlichte . In den gemeinschaft notwendigen sozialen Maßnahmen durchfüh- 80er Jahren habe es eine immer größere Zahl von Veröffent- ren … Wir verlangen von den Volksgenossen Pflichterfüllung lichungen kritischer Historiker über die Rolle von Unterneh- und Opfer «. men und Unternehmern im Faschismus gegeben . Insbeson- Man liest es und denkt sich seinen Teil angesichts der jüngs- dere Otto Köhler trat mit zahlreichen Publikationen hervor, ten Entwicklungen .

60 In den Kapiteln, die direkt den Aktionen der Gruppen in Städ- len auf der Kriegsverbrecherliste eines Sonderausschusses ten und Gemeinden gewidmet sind, erscheinen geschichtsbe- des US-Senats . Doch 1947 wurden Hugo und Jost Henkel dingt häufig dieselben Banken und Konzerne, immer wieder »entnazifiziert« . Der Konzern stieg zu seiner heutigen Größe Namen wie Fritz Thyssen (Duisburg, Mühlheim, Gelsenkir- als international operierendes Unternehmen auf . Wie viele chen), Fritz Springorum (Hoesch AG, Dortmund u .a .), Paul der deutschen Bürger, die heute Produkte von Henkel kau- Reusch (Gutehoffnungshütte), H .J . Abs (Deutsche Bank), Al- fen, werden von der Rolle der Henkel-Werke im Nazireich et- bert Vögler (Vereinigte Stahlwerke – Vestag), Friedrich Flick was wissen und daran denken können? Wir wissen es nicht, (verurteilter Kriegsverbrecher), Emil Kirdorf (Dortmund, Gel- aber es werden beschämend Wenige sein . senkirchen) usw . So gibt es unvermeidlich Überschneidungen Der Mannesmann-Konzern, von der Deutschen Bank be- und Wiederholungen, die durch die Systematik des Buches herrscht . Die nahtlosen Stahlrohre der Mannesmann-Röh- noch verstärkt werden . Der Leserin und dem Leser wird eini- renwerke wurden für Pipelines und bei Rheinmetall für Artil- ge Geduld abverlangt . Andererseits erhalten sie durch diese leriegeschosse verwendet . Wilhelm Zangen (1891–1971) war Art von Systematik des Buches einen originären Einblick in ab 1935 alleiniger Vorstandsvorsitzender und Generaldirek- die Selbstdarstellungen der Gruppen . tor . Gemeinsam mit der Deutschen Bank wurden alle jüdi- Einige der Darstellungen seien herausgehoben . schen Vorstandsmitglieder vertrieben . Viele Fabriken, die jü- Es war ein Vorschlag von Jupp Angenfort, am »Industrie-Club« dische Eigentümer hatten, wurden geraubt und dem Konzern in Düsseldorf eine Mahntafel anzubringen . Hitler sprach dort einverleibt . Zangen wurde Wehrwirtschaftsführer und Vor- im Januar 1932 vor etwa 500 Industriellen . Eingeladen hat- sitzender der »Reichsgruppe Industrie«, ein »Organisations- te der Präsident des Industrie-Clubs, der Chemie-Industrielle zentrum für die Kriegsplanung der deutschen Großindustrie« Jost Henkel . Henkel und Fritz Thyssen begrüßten Hitler . An- (Daniela Kahn) . 1942 berief der Reichsminister für Bewaff- wesend war auch der Düsseldorfer OB, Dr . Lehr, später bei nung und Munition, Albert Speer, Zangen in den »Rüstungs- Adenauer Innenminister . Hitler legte sein volles Programm rat« . Mannesmann lieferte die Stahlflaschen für das tödliche dar, von »Ausrottung des Marxismus« bis »Eroberung von Le- Kohlenmonoxydgas der I .G . Farben, das u .a . in der Mord- bensraum im Osten« . Die Industriellen spendeten Beifall . An- stätte Grafeneck innerhalb der T4-Aktion (»Euthanasie«) zum genfort meinte, die Mahntafel am Ort (jetzt Seitenflügel eines Einsatz kam . Mannesmann expandierte: Niederlassungen in Steigenberger Hotels) sollte den Text tragen: »1932 – Hier be- Frankreich, in Prag, Bulgarien, Serbien, Rumänien, Polen und kam Hitler von der Industrie Beifall und Geld . Hier wurden die in der Sowjetunion (Taganrog) . Bis Ende 1944 waren über Weichen zum Krieg gestellt «. 8 000. Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene bei Mannesmann Das 14 . Kapitel, von Gisela Blomberg (VVN-BdA Düsseldorf) eingesetzt . Auch Zangen gelang die »Entnazifizierung« . Von verfasst, trägt die Überschrift: »Henkel immer dabei – und mit 1948 bis 1957 (!) gehörte er zum Aufsichtsrat bei Mannes- ihm die Wehrwirtschaftsführer von Düsseldorf .« Antifaschis- mann . 1958 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universi- ten führten immer wieder Mahngänge zu Düsseldorfer Stät- tät Münster, 1965 bekam er das Bundesverdienstkreuz mit ten von Hitlers Wirtschaftsführern durch . Das Carsch-Haus Stern verliehen . (Heinrich-Heine-Allee 49), den jüdischen Eigentümern wur- Zangen log eiskalt in seinen Erinnerungen: er habe keiner Par- de das Eigentum abgepresst . Heute gehört das Nachfolge- tei angehört und traute den Nazis nicht . »Ich … blieb unpo- Kaufhaus zur Kaufhof AG . Zu ihr gehört auch die ehemalige litisch bei meiner Arbeit .« (W . Zangen, Aus meinem Leben, Kaufhaus Tietz AG . Das jüdische Eigentum wurde geraubt, die Düsseldorf 1968) In Wahrheit war Zangen bereits 1927 Mit- Familie Tietz vertrieben . Als die Kaufhof AG 2009 ihr 100jäh- glied der NSDAP und der SS . Der britische Historiker Adam riges Jubiläum feierte, hieß es im Magazin der Industrie- und Tooze (Ökonomie der Zerstörung, München 2007) nennt Zan- Handelskammer Düsseldorf lapidar: »Die Nationalsozialisten gen »einen der habgierigsten Profiteure des nationalsozialis- enteigneten, die Familie Tietz emigrierte ins Ausland und wur- tischen Regimes« . de später entschädigt .« Insgesamt waren in Düsseldorf über 35 .000 Zwangsarbeiter Der Henkel-Konzern, Düsseldorf-Holthausen . Hugo Henkel und Tausende Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge beschäftigt, wurde 1933 Mitglied der NSDAP, sein Werk NS-Musterbe- insbesondere in der Rüstungsindustrie, darunter bei Rhein- trieb . Er stellte in Düsseldorf und Genthin auf Kriegsproduk- metall . 1944 waren in Düsseldorf 27 Prozent aller Erwerbstä- tion um und machte sprunghaft Profite . Hugo Henkels Sohn tigen Zwangsarbeiter . Jost, seit 1938 Geschäftsführer, wurde zum Wehrwirtschafts- führer ernannt . Von 1940 bis 1945 beutete Henkel in Düs- Im Zusammenhang mit Rheinmetall, Düsseldorf, Ulmen- seldorf ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene straße 125, erinnert Ulrich Sander an die lange Geschich- aus . Mindestens drei Menschen haben die Zwangsarbeit bei te dieser Rüstungsfirma: Eine der größten Waffenhersteller Henkel nicht überlebt . Ein sowjetischer Zwangsarbeiter wur- im Kaiserreich; im Nazireich produzierte Rheinmetall-Borsig de von der Wachmannschaft erschossen und zwei Zwangsar- Maschinengewehre, Panzerabwehrgeschütze, Minenwerfer, beiter starben am Verzehr von Chemikalien . Der Name »Hugo Feld- und Flugabwehrkanonen, Eisenbahngeschütze . Das Un- Henkel« stand neben den Namen von 41 weiteren Industriel- ternehmen ging in das staatliche Unternehmen Reichswerke

61 Hermann Göring ein . Rheinmetall liegt gegenwärtig mit fast Im Frühjahr 2011 lehnte der Stadtrat von Essen den Antrag drei Milliarden US-Dollar Jahresumsatz etwa an 30 . Stelle in der VVN-BdA ab . Doch diese ließ nicht locker . Es wurden viele der Weltrangliste der Rüstungsproduzenten . Die Waffenpro- Dokumente beigebracht – auch mit Unterstützung von Bea- duktion von Rheinmetall, darunter die Panzer vom Typ »Leo- te und Serge Klarsfeld – die die Schuld von Ernst Achenbach pard«, trägt massiv dazu bei, dass Deutschland mittlerweile bewiesen . Antifaschisten veranstalten weiterhin Mahnkund- zum weltweit drittgrößten Waffenexporteur aufgestiegen ist . gebungen vor der FDP-Geschäftsstelle in Essen . Der Autor fügt hier ein, dass zur Zeit Kriegsgegner Protes- te unter der Losung »War starts here« gegen das Gefechts- Thomas Kuczynski fasst in seiner »Rückschau auf die Zwangs- übungszentrum Heer (amtliche Abkürzung: GefÜbZH) in arbeiterentschädigung – Kein Schlussstrich! Wirtschaftswun- der Colbitz-Letzlinger Heide, das Bestandteil des Gefechts- der als Resultat der Kriegswirtschaft« einige Ergebnisse sei- übungszentrums (GÜZ) auf dem Truppenübungsplatz Altmark nes im Zusammenhang mit der Debatte um die Entschädigung ist, vortragen wollen . Gemeinden, Bundeswehr und Polizei der Zwangsarbeiter vorgelegten Gutachtens zusammen . Es sei haben nun weiträumig einen Bann über das Gebiet gelegt, inzwischen weitgehend anerkannt, dass die Zahl der während um die Proteste zu verhindern . Nach den Ereignissen von Hei- des Krieges im »Großdeutschen Reich« zur Zwangsarbeit ver- ligendamm ein weitere eklatanter Fall von Zivil-Militärischer- pflichteten Menschen etwa 15 Millionen betrug . Die Gesamt- Zusammenarbeit . Das Gefechtsübungszentrum wird von der entschädigung – nur vorbehaltener Lohn – hätte 180 Milliar- Rheinmetall Dienstleistungszentrum Altmark GmbH (RDA) den D-Mark betragen . Gezahlt wurden lediglich etwas mehr gemeinsam mit der Bundeswehr betrieben . Jetzt soll für 100 als 8 Milliarden . Die Firma Daimler-Benz, der alle Daten be- Millionen Euro eine große Übungsstadt fürs Militär entstehen . kannt waren, hätte 1999 für eine reguläre Entschädigung knapp 16 000 D-Mark pro Zwangsarbeitskraft zahlen müssen, Wenn von Kriegsproduktion im Stahlbereich die Rede ist, wird insgesamt über 1,2 Milliarden D-Mark . Kuczynski kritisiert der Rezensent an ein Foto-Epigramm aus der »Kriegsfibel« völlig zu Recht, dass die außerhalb der Industrie eingesetz- von Bertolt Brecht erinnert . Auf dem Foto sind zwei Stapel ten Zwangsarbeitskräfte nur in Ausnahmefällen entschädigt Stahlplatten, Seile und Ketten eines Transportkrans sowie werden . 1938 waren knapp 70 .000 Polen in der deutschen vier Arbeiter zu sehen . Das Epigramm: Wirtschaft tätig, Ende September 1940 waren allein in der deutschen Landwirtschaft rund 470 .000 »Zivilpolen aus dem »Was macht ihr, Brüder?« – »Einen Eisenwagen «. Generalgouvernement und den neuen Ostgebieten« einge- »Und was aus diesen Platten dicht daneben?« setzt . Später stieg die Zahl auf etwa 1,2 Millionen an . »Geschosse, die durch Eisenwände schlagen «. Als Kommentar zu den tatsächlich gezahlten Entschädigun- »Und warum all das, Brüder?« – »Um zu leben «. gen zitiert der Autor einen Überlebenden: Es sei das »Letzte an Beleidigung« gewesen . Für künftige Ausstellungen zur Aktion der VVN-BdA könnte Als letzte Begründung (von insgesamt sechs dargelegten) für im Zusammenhang mit dem Fall Thyssen (im Buch: S . 150 ff) die viel zu geringen Entschädigungen heißt es bei Thomas Ku- auch dieses Fotoepigramm erhellend sein . Ein Bild vom In- czynski: »… das ist ein besonders bedrückendes Kapitel in die- dustriewerk in Katowice, ein deutscher Offizier und ein Sol- ser Geschichte – das Verhalten der Masse der deutschen Be- dat mit Karabiner: völkerung . Die deutschen Konzerne und ihre Regierung hätten niemals mit einer solchen Unverfrorenheit vorgehen können, »Zehn Völker hab ich unterm Stiefel und wenn eine Bevölkerungsmehrheit dieses Landes erklärt hätte: Dabei mein eigenes . Die blutige Spur Schluss jetzt mit würdelosen Gezerre auf Kosten der Opfer, die Von diesem Stiefel färbt zerstampften Grund verdammte Industrie soll endlich zahlen . Aber es war nur eine Von Kirkenaes bis Mühlheim an der Ruhr «. verschwindende Minderheit, die so dachte und es auch sagte «. Zum Schluss sei auf Überlegungen von Kurt Pätzold zum Be- Die VVN-BdA beantragte Mitte 2010 in einem Brief an den Rat griff »Faschismus« – mehr als ein Definitionsstreit – hingewie- der Stadt Essen, an der Geschäftsstelle der FDP in Essen eine sen . Wenn heute das Wort »Faschismus« und somit auch keine Mahntafel anzubringen . Ein Dr . Ernst Achenbach (1909–1991) Definition des Begriffes »Faschismus« mit Bezug auf Deutsch- war Geschäftsführer der »Adolf-Hitler-Spende der deutschen land in geschichtlichen Unterweisungen an Schulen und Hoch- Wirtschaft« – was die Hinterbliebenen abstreiten – und ganz schulen kaum benutzt wird, so werde eine jahrzehntelange gewiss Mitwirkender an den Deportationen französischer Ju- wissenschaftliche und publizistische Denkweise verschwie- den in Mordstätten des deutschen Faschismus . Nach 1945 gen . Keine Definition des Faschismus habe eine weitere Ver- hatte er führende Funktionen in der FDP, war Landtags- und breitung und zugleich vielstimmigen Widerspruch erfahren wie Bundestagsabgeordneter . Mit den SS-Tätern aus Himmlers die während der XIII . Tagung des Exekutivkomitees der Kom- Reichssicherheitshauptamt baute Achenbach nach 1945 in munistischen Internationale im November/Dezember 1933 Essen einen Filz auf, um Verbrechern gegen die Menschlich- vorgelegte . Der Verfasser ist unbekannt . Da Dimitroff diesen keit der Bestrafung zu entziehen . Begriff vom »Faschismus« 1935 im Bericht an den VII . Komin-

62 Razzia der Polizei in einer Laubenkolonie, »Klein-Moskau« genannt, in Reinickendorf, März 1933 .

tern-Weltkongress (August 1935) verwandte, wurde später irr- Überprüfung und Ergänzung dieser Definition erfordert hät- tümlich oft von einer »Dimitroff-Formel gesprochen . ten, insbesondere hinsichtlich der Massengefolgschaft, der Einige Einwände gegen den genannten Begriff beruhten auf Rolle der Ideologie (besonders Rassismus und Antisemitis- falschen Ansichten über Begriffsbildungen (Bestimmung we- mus), hinsichtlich der Genozide an Juden, an Sinti und Roma sentlicher Eigenschaften) . Pätzold besteht darauf, den For- und der Massenmorde an anderen riesigen Menschengrup- schungsprozess vom Einzelnen zum Besonderen und zum pen während des Krieges . Als materialistische, empirische Allgemeinen und von da wieder zurück bis zum Einzelnen . Forscher waren die Fachhistoriker der DDR selbstverständ- Inhaltliche Einwände gründen darauf, dass das Wort »Fa- lich über diese Definition hinausgegangen, wovon viele ihrer schismus« für verschiedene Aspekte des Faschismus ver- Publikationen zeugen . Dass dennoch keine weiterführende wendet wird, etwa für Ideologie oder für die politische Bewe- Definition des Faschismus entwickelt wurde, sei auch der gung oder für eine Staatsform . kritischen Bewahrung dessen, was 1933 geleistet worden Die Komintern-Definition war dazu bestimmt, eine verständ- ist, abträglich gewesen . liche und politisch mobilisierende, falsche Frontstellungen vermeidende Orientierung zu geben . Die äußerste Verkür- Noch ein Hinweis: zung barg das Risiko von Missverständnissen . Besonders Die Aktion der nordrhein-westfälischen VVN-BdA hat auch ei- wichtig: Die Erfahrungen mit dem Faschismus waren 1933 ne Internetadresse: www .verbrechen-der-wirtschaft .de minimal, im Vergleich mit denen von 1945 und später . Pät- Ihre Nutzung sei ausdrücklich empfohlen . Dort sind Texte, zold verweist zwar auf den auch später begründbaren Kern Arbeitshilfen, Planung von Projekten, Literaturquellen, Listen der Definition, die auch eine Differenzierung innerhalb des der Unternehmen, die der Stiftungsinitiative der deutschen Finanzkapitals enthält . Und er erklärt weiter, was die Bestim- Wirtschaft beitraten und von Unternehmen, die das nicht ta- mungen »der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meis- ten, aktuelle Termine und Links zu weiteren Internetadressen . ten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« konkret bedeutet hat . So kommt er zu dem Ergebnis, dass ein »be- Ulrich Sander (Hg .), Von Arisierung bis Zwangsarbeit . Verbre- trächtliches Quantum an Vorurteilen dazu gehöre«, der De- chen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933 bis 1945, Papy- finition von 1933 Erkenntnis- und Wahrheitswert abzuspre- Rossa Verlags GmbH & C .KG, Köln (2012), 347 Seiten . chen . Und zugleich stellt er fest, dass die Erfahrungen bis 1945 zwar keinen »Widerruf« der Definition, wohl aber eine Siegfried Ransch

63 64 65 Kindheitserfahrungen

In vielen Gesprächen mit Holocaust-Überlebenden, die ein- Erfahrungen . Auf dem Bülow-Platz (heute Rosa-Luxemburg- mal in Berlin-Mitte zu Hause waren1, hörte ich von einer Er- Platz) vor der Volksbühne wurde Fußball gespielt . Die Mann- fahrung, wie sie Erna Putermanns beschrieben hat: Von ei- schaften: Juden (aus der Grenadierstraße und ihren Nach- nem Tag zum anderen war ich nicht mehr Kind, sondern in barstraßen) gegen Polizisten (Jungs von Polizisten, die in der der Klasse »die Jüdin« . Gute Leistungen in der Schule zählten nahe gelegenen Kaserne der Schutzpolizei wohnten) . Fehl- nicht mehr, Mitschülerinnen hänselten sie ungestraft und das te in einer der beiden Mannschaften ein Mitspieler, spielte Horst-Wessel-Lied, mit dem jeder Schultag eingeleitet wurde, ein Judenjunge oder ein Polizistensohn eben in der anderen durfte sie auch nicht mitsingen, was sie als zusätzliche Strafe Mannschaft . Niemand fand etwas dabei . empfand . »Bis gestern war ich eine von 30 . Heute bin ich in meiner Klasse die einzige .« Der 1 . April 1933 sollte für Max ein besonderer Tag werden, er Für Erna Putermann wurde im Januar 1933 alles anders . hatte seine Bar Mitzwa, den Tag der feierlichen Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen . Auf der Straße wurden der Junge, Vater Nach dem reichsweiten Boykott gegen jüdische Einrichtun- und Großvater von einer Gruppe von SA-Leuten überfallen, der gen – Ladengeschäfte, Arztpraxen und Rechtsanwaltsbüros – Großvater am Bart gezerrt, getreten und geschlagen . Über 60 am 1 .April 1933 beruhigte sich auch für Juden in Deutschland Jahre später nach seinen Träumen in der Jugend gefragt, laute- vorerst das Alltagesleben . Es würde schon nicht so schlimm te die Antwort: »Es gibt für uns keine Zukunft in Deutschland «. 3 kommen, so die verbreitete Meinung . Wie traumatisch für Juden, die in Deutschland lebten, diese Kinder und Jugendliche hatten ganz andere Erfahrungen . und andere Erlebnisse waren, kann ein Außenstehender nur Oft hörte ich in Gesprächen von plötzlichen, schmerzhaften ahnen . Und er sollte sich bemühen,ensibel damit umzuge- Ausgrenzungserlebnissen . Oder auch Erzählungen, dass ein hen . Später, 1938, wurde ein deutsches Wort in den engli- Schuldirektor Eltern empfahl, ihr Kind von der Schule zu neh- schen Sprachschatz aufgenommen: »Kindertransporte« . Vie- men und in eine jüdische Schule zu geben . Er meinte es gut, le der nach dem Novemberpogrom 1938 und vor Beginn des »im Interesse des Kindes« . 2 . Weltkrieges ins Ausland entkommenden Kinder, sahen ih- re Angehörigen nie wieder . Sie fragen sich bis heute: Warum? Martin Sand, der in Raufereien unter Jungen vor seinem Und warum habe ausgerechnet ich überlebt? Wohnhaus in der Prenzlauer Allee oft die Oberhand behielt, wurde plötzlich von Erwachsenen beschimpft . »Dieser Juden- Ich lernte Max Drimmer 1995 kennen, und nach anfänglichem bengel erlaubt sich so was gegen einen deutschen Jungen!« Misstrauen erzählte er bereitwillig aus seinem Leben . Und da Die raufenden Kinder hatten noch nichts Besonderes in ihrem kamen im Gespräch so unvermittelte Sätze wie: »Auschwitz gewohnten Tun entdecken können . war für mich im Vergleich zu Sachsenhausen ein Erholungsort «.

Rose Winterfeldt wurde im September 1933 der weitere Besuch Max wurde im September 1939 als staatenloser Jude in Berlin des Kindergartens verweigert . »Im Dezember 1933 mußten mei- verhaftet und überlebte im KZ Sachsenhausen mehrwöchige ne Eltern die Luxuswohnung in Lankwitz aufgeben, da mein Va- Dunkelhaft in der Baracke 38 . Später arbeitete er im Klinker- ter sofort nach der Machtergreifung einen Teil seiner Stellung werk, um Baumaterial für Albert Speers ehrgeizigen Plan des verlor . Wir zogen in ein kleines Reihenhäuschen in einer katho- Umbaus der Reichshauptstadt Berlin verwirklichen zu helfen . lischen Siedlung in Marienfelde . Im April 1934 wurde ich einge- Im Kommando Klinkerwerk ging alles nur im Laufschritt, be- schult und ging vier Jahre in die Volksschule Marienfelde . Dort gleitet von Schlägen und Geschrei der Bewacher . Mit einem war es fürchterlich . Ich war in der Schule das einzige jüdische großen Transport jüdischer Häftlinge kam Max im Oktober Kind . Keiner hat mit mir gesprochen . Man hat mich getreten und 1942 nach Auschwitz und arbeitete dann in Buna-Monowitz geschlagen . Die Lehrer haben mich schrecklich behandelt «. 2 für den IG-Farbenkonzern . Gemeinsam mit seinem Freund Herman Shine gelang ihm die Flucht aus Auschwitz . Ein Pole Auch Max Drimmer, geboren am 25 . März 1920 in Magde- hatte dies organisiert . Beide blieben unentdeckt . burg, der in der (heute nicht mehr existierenden) Prenzlauer Straße wohnte, hatte bis zu diesem Januar vor allem positive Max Drimmer traf ich ab 1995 bei vielen Gelegenheiten . Im-

66 mer ging er auf Jugendliche zu und er- munterte sie, zu fragen . Sein Lebens- bericht hemmte die Schüler zusätzlich, was soll man jemanden fragen, der das alles erlebt hat . Bei einer Veranstal- tung zur Verlegung von »Stolperstei- nen« vor dem Erich-Fried-Gymnasium in Friedrichshain fragte ein Mädchen schließlich: »Warum haben Sie die gro- ße Tätowierung am Arm nicht wegma- chen lassen?« Seine Antwort: »Auf die- se Häftlingsnummer bin ich stolz, sie ist ehrlich erworben .«

Zwei Erlebnisse mit Max sind mir in be- sonderer Erinnerung . Im September 2008 wurde am ehemaligen Firmensitz von IG-Farben, jetzt Teil der Universität Frankfurt am Main, das Norbert Woll- heim Memorial eingeweiht . Max Drim- mer, Siegmund Freund, Adam König, Jürgen Löwenstein, Fritz Sperling und andere ehemalige jüdische Zwangsar- beiter waren eingeladen, in der Installa- tion des Memorials sind ihre Stimmen zu hören und ihre Porträtfotos zu be- sichtigen .

Im August 2004 verwirklichte Max den lange gehegten Plan, mit seinen Kin- dern, deren Ehepartnern und den En- keln nach Krakow zu fahren – und nach Auschwitz . Silvia und Helmut Nickel und auch ich durften sie beleiten . Es war für mich ein sehr bewegendes, blei- bendes Erlebnis, Geschichte erhielt ei- ne ganz persönliche Note .

Max Drimmer ist im Juli 2012 in Kalifor- nien gestorben . Erinnern an die NS-Zeit und den Umgang mit ihr braucht neue Sichtweisen . Und dabei müssen wir nun ohne ihn auskommen .

Horst Helas

1 Grundlage für diese Beobachtungen sind Recher- chen für das Buch: Horst Helas: Juden in Berlin- Mitte . Biografien Orte Begegnungen, 2 . Auflage Berlin 2001 . 2 Siehe ebenda, S . 235 . 3 Siehe ebenda, S . 200 . Razzia der Polizei in der KPD-Zentrale, dem Karl-Liebknecht-Haus .

67 68 April 1933: reichsweiter Boykott und ein gestelltes Foto

Die NSDAP an der Macht demonstrierte ihre neugewonne- 1933 waren die neuen Machthaber noch unsicher und sehr ne Kraft am 1 . April 1933 auch durch einen Boykott jüdi- auf die Reaktionen des Auslandes bedacht . Banken sollten scher Einzelhandelsgeschäfte, Arztpraxen und Rechtsan- mit der Boykottaktion nicht behelligt werden . Schließlich waltskanzleien . war Deutschland an Devisen interessiert . Eigens dazu wurde am Sitz der Partei in München ein »Zen- tralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykott- Nach einem Tag wurde der Boykott beendet, verbunden mit hetze« gegründet, das von Julius Streicher geleitet wurde . der Drohung, dieser sei lediglich als Generalprobe für eine Aktion größeren Ausmaßes anzusehen . Täglich fanden sich nun im Zentralorgan der Partei, dem »Völkischen Beobachter«, genaue Anweisungen, wie überall Für das Berliner Scheunenviertel gab es eine Ausnahme . Am in Deutschland diese Aktion vorbereitet werden sollte . 4 . April 1933 fand hier eine Sonderrazzia mit Hausdurchsu- chungen, Verhören auf offener Straße und vielen Verhaftun- Da die Zeitung auch in Schaukästen ausgehängt wurde, lässt gen statt .1 Ein ausführlicher Bericht in der Berliner Ausgabe sich leicht widerlegen, dass der »einfache Bürger« nichts von des »Völkischen Beobachters« ist überschrieben: Die Zeit dieser Parteiaktion gewusst hat: Jeder konnte es lesen . Je- des Ghetto hat sich erfüllt . Weitere Überschriften folgen: der war aufgefordert, mitzumachen – durch Angaben jüdi- Groß-Razzia im Scheunenviertel . Unzählige Waffenfunde – scher Geschäfte für die Vervollständigung der vorzuberei- Beschlagnahme hochverräterischen Zersetzungsmaterials . tenden Listen sowie durch Denunziation jener Mitbürger, die Zahlreiche Festnahmen ostgalizischer »Einwanderer« . immer noch »beim Juden« einkauften . Dem Bericht nach waren 20 Kriminalbeamte und drei Bereit- Lokale Fotos von der Durchführung des Boykotts in einzel- schaften, die Kraftradstaffel sowie »11 Mann SS-Hilfspoli- nen Orten Deutschlands sind schwer zu finden, aber es gibt zei« im Einsatz, eine fahrbare Funkstation diente der tech- sie . Und dann gibt es jene Fotos, die ziemlich gestellt wir- nischen Unterstützung der Aktion . Sehr plastisch schildert ken, offensichtlich für Propagandazwecke gedacht . Zwei SA- der Journalist den Einsatz und zitiert angeblich wörtlich aus Leute studieren an einer Litfasssäule eine Losung – in deut- dem Protokoll des Einsatzes: (…) scher und englischer Sprache! Bei der Durchsuchung des Hauses Grenadierstraße, Eigen- Es kann daran gezweifelt werden, dass die Abgebildeten tümer Herschel Süß2, geboren in Lodz, naturalisiert 1919, Fremdsprachen beherrschten . Die Boykottaktion diente wurde der Polizei zuerst heftiger Widerstand entgegenge- nicht nur der Disziplinierung des deutschen Volkes . Es soll- setzt, obwohl man bemüht war, in allerhöflichster Form eine te auch das Ausland gewarnt werden, sich in die Angelegen- Überprüfung der Räumlichkeiten vorzunehmen . In einem un- heiten des neuen Regimes von außen einzumischen . Übri- beschreiblichen, ekelerregenden, stinkenden Haufen Lum- gens wurde auch diesmal ein bewährter Trick angewendet . pen im Kellergeschoß fand man u .a . eine Reihe hochpoliti- Andere waren Schuld, wenn sich die NSDAP in Vollzug eines scher landesverräterischer kommunistischer Hetzschriften, nicht näher definierten »Volkswillens« zu drakonischen Maß- darunter Originalbriefe kommunistischer Gewährsmänner . nahmen gezwungen glaubte . Es fanden sich weiter unter einem Berg von Lumpen ver- steckt ein gut erhaltener Vervielfältigungsapparat, der zur In einer der Anordnungen werden auch Losungen empfoh- Herstellung verbotener Zeitschriften gedient haben mag . len, die an Hauswänden und LKWs angebracht werden soll- ten . Eine lautete: : »Die Juden sind unser Unglück!« Diese Der Apparat war in seine Bestandteile zerlegt . Im Hause des Behauptung war 1933 nicht neu . Schon 1879 war sie von Handelsmannes Süß, der neben seinem Kaufmannsladen ei- dem Historiker Heinrich von Treitschke als im Kaiserreich nen Hotelbetrieb verwaltet, stellte man zehn polnische Staats- angeblich politisch vorherrschende Auffassung interpretiert angehörige fest, die sich zum Teil seit mehreren Jahren unan- worden . gemeldet in Berlin aufhielten . Die Personen wurden sistiert . (…) .3

69 Das Berliner Scheunenviertel war nach dem April 1933 noch 1 Siehe Horst Helas: Die Razzia am 4 . April 1933 . In: Das Scheunenviertel, mehrmals Ziel massiver Polizeiaktionen, in denen es angeb- Spuren eines verlorenen Berlins, Berlin 1994, S . 134–136 . 2 Die genaue Hausnummer wird nicht genannt; im Adressbuch findet sich für lich nur um die Verfolgung von Kriminellen ging . »Die Kom- 1933 kein einziger Eigentümer der Häuser in der Grenadierstraße mit dem munisten« und »die Juden« wurden zu ihnen gerechnet – und Namen Süß . kaum jemand äußerte zu dieser Zuordnung Zweifel . 3 Siehe: Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe 5 . April 1933 .

Horst Helas

70 N eUES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Thema Naziterror Wie kam der Ausschuss zustande?

Nachdem im November 2011 die Mord- und Verbrechensse- Schwerpunkte des NSU in Thüringen und Sachsen, bzw ., be- rie des sich selbst Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zogen auf die Mordserie, in Bayern . Parallel zur Einsetzung nennenden Trios Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate des PUA wurde von Friedrich auch die BLK berufen, der der Zschäpe publik wurde war schnell klar, dass es sich um ei- frühere Berliner Innensenator Erhart Körting (SPD), der ehe- nen der spektakulärsten Kriminalfälle in der Geschichte der malige CDU-Innensenator aus Hamburg, Heino Vahldieck, Bundesrepublik handelt: Eine Naziterrorzelle lebte mehr als der Münchner Anwalt Eckart Müller auf Vorschlag der FDP 13 Jahre unerkannt im Untergrund und verübte in dieser Zeit und Bruno Jost, Ex-Bundesanwalt am Bundesgerichtshof, auf 9 rassistisch motivierte Morde, einen Mord an einer Polizis- Wunsch der Grünen, angehören . tin und einen Mordversuch an ihrem Kollegen, zwei Bomben- Möglicherweise auch mit Blick auf die eigene politische Ver- anschläge auf Geschäfte und Straßen mit migrantischer Be- antwortung zur Zeit der Mordserie wurde von Teilen der SPD völkerung und ca . 14 Banküberfälle . Eine verheerende Bilanz zunächst die BLK bevorzugt . Im Gegensatz zum PUA hat sie der Sicherheitskräfte des Landes wurde deutlich . Nicht nur jedoch keine gesetzliche Kompetenz gegenüber Regierung hatte man nach eigenem Bekunden keinerlei Kenntnis einer und Behörden und ist voll und ganz auf den guten Willen der solchen Terrorzelle, die Mordserie des NSU wurde über Jah- Regierung angewiesen . Bis Anfang Januar 2012 hatte sich re völlig falsch eingeschätzt, die Opfer und ihre Angehörigen dann aber auch die SPD zu einem Untersuchungsausschuss zu Hauptverdächtigen erklärt . Institutioneller Rassismus und durchgerungen, der schließlich mit den Stimmen aller Frakti- die völlige Verkennung der tödlichen Gefahr von rechts wa- onen eingerichtet wurde . Schnell zeichnete sich ab, dass kei- ren Vorwürfe, die gegen Polizei und Verfassungsschutz erho- ne Fraktion als »Bremser« dastehen wollte, sondern alle ein ben wurden . demonstratives Interesse an einer umfassenden Aufklärung Der öffentliche Druck für eine umfassende Aufklärung war verkündeten . So wurde ein Untersuchungsauftrag formulie- durch die große mediale Berichterstattung von Anfang an vor- ret, der die Chance auf eine weitgehende Aufklärung des Ge- handen . Nachdem die Spitzen der Sicherheitsbehörden das schehens bietet, wenngleich diese durch die nur einjährige Parlament in Form des Innenausschusses und des PKGr im Untersuchungsdauer beschränkt wird . Der Gegenstand um- November 2011 über erste Erkenntnisse zum NSU unterrich- fasst die Zeit von 1992 bis zur Festnahme Beate Zschäpes am teten, glaubte der Innenminister dem Bedürfnis nach Auf- 8 .N ovember 2011 und soll unter anderem folgende Fragen in klärung mit einem Vorschlag nach Gutsherrenart begegnen den Blick nehmen: Welche Fehler und Versäumnisse der Si- zu können . Friedrich setzte ein von ihm benanntes Gremi- cherheitsbehörden könne festgestellt werden? Welches Netz- um zur Untersuchung der Geschehnisse ein . Dem Gremium werk umgab den NSU? Welche internationalen Verbindungen gehören der frühere Präsident von Bundesverfassungsschutz bestanden? Welche Rolle spielten die V-Leute der Dienste im und Bundesnachrichtendienst, Hansjörg Geiger, der ehema- Umfeld des NSU? Welche Schlussfolgerungen ergeben sich ligen Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Ulrich Kers- für die Aufstellung der Sicherheitsbehörden, welche für die ten, und der frühere CSU-Innenexperte Wolfgang Zeitlmann Prävention zum Thema extreme Rechte und welche Folgerun- an . Allein die Idee, ehemalige Böcke zu Gärtnern zu machen gen werden aus dem Umgang mit den Hinterbliebenen der zeigte, dass Friedrich die Dimension des Geschehens nicht Opfer gezogen? erkannt hatte . Bis heute hat man von diesem Gremium nichts mehr gehört und auch das Innenministerium breitet den Man- tel des Schweigens darüber . Von LINKEN und Grünen wur- Was kann der Ausschuss leisten? de schnell die Forderung nach einem Parlamentarischen Un- tersuchungsausschuss (PUA) laut, dem sich jedoch die SPD Seit Februar 2012 tagt der PUA in jeder Sitzungswoche des nicht sogleich anschließen wollte . Hier und bei Union und Bundestages und hat bisher knapp 300 Beweisanträge im FDP setzte man zunächst auf eine Bund-Länder-Kommissi- Konsens aller Fraktionen gestellt . Priorität hat die Herbeizie- on (BLK) zur Aufklärung, da es sich, so die Ansicht, vor allem hung der Akten von Bundes- und Landesbehörden, die mit um ein Problem der Länder handeln würde, lagen doch die dem Fall befasst waren und sind . Der Ausschuss hat sich zu

71 Beginn seiner Arbeit vier Untersuchungskomplexe vorgenom- die teilweise parallele Lektüre von Akten und das gerade ge- men: die Phase 1992 bis 1997 als ideologischer Hintergrund steigerte mediale Interesse machen es Exekutive und Sicher- und Herausbildung des NSU, die Jahre 1997 bis 2000 als Zeit heitsbehörden schwerer, Zusammenhänge zu verdunkeln . des Abtauchens des Trios, die Jahre 2000 bis 2007, in de- Die Erkenntnisse über die »Operation Rennsteig« und die da- nen die Morde und Anschläge stattfanden und schließlich den mit verbundene Schredderaktion des BfV bzw . die Weigerung Zeitraum 2007 bis 2011 nach dem Ende der Mordserie . Nach der LfVs Thüringen und Sachsen, entsprechende Dokumen- drei Anhörungen zu den Themen »Situation der Opfer und te den Parlamentariern vorzulegen, haben schließlich zu den Hinterbliebenen/Opferperspektive«, »«Die extreme Rechte vier Rücktritten bzw . Entlassungen geführt . seit den 90er Jahre« und »Sicherheitsarchitektur beim Thema Bei aller Freude über das mediale Desaster der Dienste bleibt Rechtsextremismus« haben die Zeugenvernehmungen Ende es jedoch mehr als fraglich, ob daraus auch tatsächliche Kon- April 2012 begonnen . Nach der Vernehmung von bisher ca . sequenzen jenseits des Austauschens von Köpfen gezogen 40 Zeugen in öffentlichen Sitzungen muss das anfängliche werden . Zwar wird inzwischen über eine völlige Neustruktu- Bild der Ausschussarbeit revidiert werden . Gab es zunächst rierung des Verfassungsschutzes gesprochen, seine Abschaf- eine große Skepsis, welchen inhaltlichen Beitrag der PUA zur fung wird aber weiterhin nur von der LINKEN gefordert . Am Aufklärung des Geschehens leisten kann, so muss man heute Ende könnte das Bundesamt als großer Gewinner aus dieser konstatieren, dass sich die bisherigen Ergebnisse sehen las- Neustrukturierung hervorgehen und zur Belohnung für sein sen können . Nicht zuletzt vier Rücktritte der Behördenchefs Versagen mit einem Kompetenzzuwachs ausgestattet wer- des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Landesäm- den . Und auch das BKA macht sich Hoffnungen, dass sei- ter in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt zeigen, dass ne Kompetenzen auf Kosten der Länder ausgeweitet werden . die Arbeit (nicht nur des PUA) Wirkung zeigt . Mit Hilfe eines Die inhaltliche Rolle des BKA beim NSU-Fall ist nicht dazu intensiven Studiums der Akten konnte in den Zeugenbefra- angetan, darin irgendeinen Fortschritt zu sehen . Schließlich gungen zumindest herausgearbeitet werden, dass Polizei und bleibt es fraglich, welche Konsequenzen aus dem strukturel- Verfassungsschutz alle Hinweise in Richtung Rechtsextremis- len Rassismus erwachsen, den der Umgang mit der Mordse- mus mehr oder weniger ignoriert haben und sehr strikt an rie offenbart hat . Hierzu hat der PUA bisher nur Frau John als der einmal formulierten These, es müsse sich um eine Serie Vertreterin der Hinterbliebenen und Opfer gehört . Forderun- aus dem Bereich Organisierte Kriminalität handeln, festhiel- gen aus der Zivilgesellschaft an die Parlamentarier sind hier ten . Weiter konnte der Ausschuss das von Inkompetenz, Fahr- von besonderer Bedeutung, sonst wird dieser Punkt weiterhin lässigkeit bis hin zur Kumpanei reichende Verhältnis der Ver- randständig bleiben . fassungsschutzämter zu extremen Rechten verdeutlichen (für beides Beispiele weiter unten) . Das Kompetenzgerangel der polizeilichen Ermittlungen zwischen Bund und Ländern wur- Wie sind die Informationszugänge? de ebenso deutlich, wie das Konkurrenzverhältnis zwischen den unterschiedlichen Ämtern des Sicherheitsapparates . Ei- Nach den Erfahrungen anderer Untersuchungsausschüsse ne ganz besondere Rolle nimmt dabei der Komplex V-Leute/ war die Befürchtung groß, dass die geforderten Akten aus Quellen der Dienste ein . Was sich dem Ausschuss hier of- Bund und Ländern nur zögerlich kommen, bzw . gerichtlich er- fenbarte forderte nach drastischen politischen Konsequen- stritten werden müssen . Dies hat sich nur zum Teil bewahr- zen (Beispiele unten) . heitet, bzw . teilweise ins Gegenteil verkehrt . Seit April 2012 Bisher hat der PUA ausschließlich den Komplex der Mordse- ergießt sich eine wahre Aktenflut über den Angehörigen des rie bzw . der Sprengstoffanschläge des NSU behandelt . Er- PUA, die von Abgeordneten und Mitarbeitern und Mitarbeite- mittler, Staatsanwälte und Verfassungsschützer aus allen Tat- rinnen kaum zu bewältigen ist . Mehrere hunderttausend Sei- ortländern der rassistischen Mordserie wurden vernommen . ten an Akten dürften dem PUA inzwischen zugegangen sein . Nach der Sommerpause gab es Sitzungen zum Mord an der Ein Großteil der Akten ist offen bzw . mit der niedrigsten Ein- Polizistin in Heilbronn und weitere Befragungen von Ermitt- stufung versehen, so dass Vorhalte in öffentlicher Sitzung ge- lern, Verfassungsschützern und politisch verantwortlichen . macht werden können . Fast schon prinzipiell schicken die Angesichts des engen Zeitrahmens bis zur nächsten Bun- Geheimdienste ihre Akten höher eingestuft, aber auch hier destagswahl ist es fraglich, ob der Ausschuss alle Untersu- gelang in mehreren Fällen die Herunterstufung . Den Höhe- chungskomplexe umfassend abarbeiten kann . Immerhin wird punkt bildete sicherlich die umfassende Lieferung von Verfas- die Arbeit dadurch erleichtert, dass es in Thüringen, Sach- sungsschutzakten aus Thüringen, die zu wüsten Beschimp- sen und Bayern eigene Untersuchungsausschüsse gibt . So fungen des Bundeslandes seitens der anderen Länder und hat der Schäferbericht die Phase des Abtauchens des Trios des Bundes führte . Aufklärung wird hier nach wie vor als Si- sehr genau beschrieben und auch die Fehler der Behörden cherheitsrisiko gesehen und offenbar gab es Überlegungen, herausgearbeitet . Überhaupt bietet die Konstellation von pa- die Thüringer Akten vor Erreichen des Ausschusses abzufan- rallelen Ausschüssen in Ländern und im Bund sehr viel größe- gen . Ein Stück aus dem Tollhaus, nicht aus einem demokra- re Möglichkeiten . Der Austausch zwischen den Ausschüssen, tischen Staat .

72 Hilfreich für dieses »Entgegenkommen« der Regierung ist si- Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern haben bis- cherlich die bis heute anhaltende Kooperation der Mitglieder her ein erbärmliches Bild geboten . des Ausschusses . Parteipolitische Mätzchen spielen für die Ausschussarbeit eine untergeordnete Rolle, was sich äußerst produktiv auf die Arbeit auswirkt . Trotz unterschiedlicher po- (1.) Spuren in Richtung Rechtsextremismus litischer Standpunkte gibt es doch ein bei allen vorhandenes Interesse, eine möglichst weitgehende Aufklärung darüber Nach sechs Jahren Ermittlungen in die falsche Richtung, zu erreichen, warum eine Naziterrorzelle über 13 Jahre uner- wurde in Bayern, wo die Ermittlungen aufgrund von fünf kannt im Lande morden konnte . Hinzu kommt der große me- Morden der Serie schwerpunktmäßig geführt wurden, im diale und moralische Druck angesichts des Themas Rechts- Jahr 2006 eine neue Fallanalyse in Auftrag gegeben . Nach extremismus, der die Regierung zu einer gewissen Offenheit den Morden acht und neun gab es keinerlei ernstzuneh- zwingt . Die Offenlegung der Klarnamen von V-Leuten des BfV mende Spur mehr, die in Richtung Organisierte Kriminalität im Zusammenhang mit der Schredderaktion beim BfV war in- wies . Die bayerischen Fallanalytiker kamen zu der Einschät- sofern ein außerordentlicher Vorgang und eben diesem Druck zung, es könne sich um einen Einzeltäter (im Gegensatz zu geschuldet . einer Organisation, d .h . auch zwei Personen können Einzel- Trotz dieser grundsätzlich positiven Informationslage gibt es täter sein) handeln, der aus Hass auf Türken morde und der zahlreiche Behinderungen der Arbeit des Ausschusses . Im- evtl . Anhänger der extremen Rechten sein könnte . Damit mer wieder wird in Befragungen deutlich, dass die Akten kamen sie den Tätern so nahe wie niemand zuvor . Doch die nicht vollständig sind, was zu Nachforderungen führt . Aus ei- Umsetzung dieser Theorie in konkrete Ermittlungen stellte nigen Bundesländern treffen die Akten – trotz langfristiger sich als schwierig für die BAO Bosporus dar . Anfragen zur Beweisbeschlüsse – so spät ein, dass eine seriöse Zeugen- rechtsextremen Szene in Bayern wurden vom dortigen Lan- vernehmung nicht möglich war . So liefert Hamburg letzte Ak- desamt mit Verweis auf Quellenschutz erst gar nicht und ten weniger als zwölf Stunden vor Beginn der Zeugenverneh- dann mit einer Verzögerung von sieben Monaten (!) beant- mung aus Hamburg . Aus Hessen trudelten die Akten trotz wortet . Schließlich bekamen die Ermittler eine Liste mit Na- mehrfacher Mahnung durch den Ausschuss so spät ein, dass men von Nazis aus zwei Postleitzahlbezirken im Raum Nürn- der ehemalige Präsident des Landesamtes für Verfassungs- berg, weil man davon ausging, der oder die Täter müssten schutz abgeladen und auf später verschoben wurde, weil ei- dort einen Ankerpunkt haben . Bundesweit haben sich die ne Vorbereitung seiner Vernehmung unmöglich war . 48 Stun- Bayern nie um Informationen über die Naziszene bemüht, den vor der Vernehmung der Ermittler aus Hessen kamen eine dilettantische Mail ans BfV wurde rein formal beant- ca . 2 .500 Seiten Akten, die Ordner des LfV mit noch einmal wortet, danach wurde der Ansatz nicht weiter verfolgt . Ein 1 .000 Seiten wurden den Fraktionen am Nachmittag des Vor- Grund, warum aus dieser Spur unter dem Namen 195 nicht tages der Vernehmung übergeben . mehr wurde, war die vehemente Ablehnung auf die dieser neue Ermittlungsansatz bei den Ermittlern in den anderen Bundesländern und vor allem beim BKA stieß . Hier hielt man Was kommt raus? eisern an der Theorie fest, die Opfer seien in dunkle Ge- schäfte verwickelt gewesen und hier liege der Grund für die Die Frage nach den Ergebnissen des Ausschusses lässt sich Mordserie . So verlief die einzig richtige Spur nach wenigen bis heute nur eingeschränkt beantworten, hat der PUA doch Monaten im Nichts und die Täter konnten weitere vier Jahre erst einen Untersuchungskomplex genauer in den Blick ge- unerkannt bleiben . nommen . Für diesen lassen sich an drei Themen einige Er- Aber auch früher schon gab es Hinweise und Spuren in Rich- gebnisse festhalten . (1 .) Die zahlreichen Spuren in Richtung tung Rechtsextremismus . Den Bombenanschlag in der Keu- Rechtextremismus wurden von den Ermittlern nicht ernsthaft pstraße in Köln 2004 hatte selbst das BfV mit rassistischen verfolgt bzw . schnell wieder fallengelassen . Hier zeigt sich ei- Anschlägen von Combat 18 verglichen, hierzu sogar ein Dos- ne sträfliche und systematische Unterschätzung des Gewalt- sier angefertigt, das jedoch niemals von der Ermittlern aus potenzials der extremen Rechten . Hinzu kommt eine Fixie- NRW zur Kenntnis genommen wurde . Die mit einer Überwa- rung auf das Umfeld der Opfer, die sicherlich mit – nicht nur chungskamera gefilmten Täter in Köln wurden von der Zeu- auf die Sicherheitsbehörden beschränktem – institutionel- gin eines Mordes in Nürnberg als mögliche Radfahrer am Tat- lem Rassismus im Zusammenhang steht . (2 ). Der Kompetenz- ort in Nürnberg identifiziert . Die Hinweise auf Radfahrer gab streit der Sicherheitsbehörden untereinander und zwischen es an zahlreichen Tatorten, dennoch unterblieb ein systema- Bundes- und Landesebene hat zumindest nicht zu einer Op- tischer Vergleich des Bombenanschlags mit der Mordserie . timierung der Ermittlungen geführt . Hier werden vor allem Fast nie kam es den Ermittlern in den Sinn, dass die Herkunft CDU und SPD ansetzen wollen . Schließlich hat sich (3 .) das der Opfer das entscheidende Motiv für die Täter sein könn- Thema Verfassungsschutz und V-Leute als eine immer wie- te – ein Ergebnis der Tabuisierung des Themas Rassismus in derkehrende Behinderung der Ermittlungen dargestellt . Die der deutschen Gesellschaft .

73 (2.) Kompetenzstreit (3.) Versagen des Verfassungsschutzes

Im Rahmen der Befragungen zur Mordserie spielt immer Vier Rücktritte beim Verfassungsschutz, diese Bilanz kann sich wieder das Thema der zentralen Ermittlungsführung eine sehen lassen und ist angemessen für die Dimension des Ver- große Rolle . Schnell wurde aufgrund der immer gleichen sagens der Dienste . Der Verfassungsschutz hat sich, so muss Ceska-Waffe klar, dass es sich um eine bundesweite Mord- man es formulieren, als Schutz der Täter erwiesen . Zentral da- serie handelte, womit die Frage der zentralen Ermittlung im zu beigetragen hat das V-Leute System und der mit ihm verbun- Raum stand . Fünf von neun rassistischen Morden fanden dene Quellenschutz . Immer wieder wurde bei den Vernehmun- in Bayern statt, somit lag die Führung der Ermittlungen in gen im Ausschuss deutlich, wie die Verfassungsschutzämter Bayern . Dennoch einigte man sich nicht auf eine zentrale wenig bis nichts dazu beigetragen haben, die spärlichen Er- Ermittlungsführung mit der ein klares Weisungsrecht ver- mittlungen in Richtung Rechtsextremismus zu unterstützen . In bunden gewesen wäre . Für die Ermittlungen hatte das fata- vielen Fällen haben die Ämter die Ermittlungen direkt behin- le Konsequenzen, denn so blieb jede Tatortermittlungsstelle dert . So ist bekannt, dass das LfV Thüringen Erkenntnisse über im Großen und Ganzen ihrem jeweiligen Ermittlungsansatz das abgetauchte Trio 1998 und später dem LKA vorenthalten treu . Während die Zeugen im Ausschuss behaupten, die Er- hat und so die Ermittlungen sabotierte . Ein Grund hierfür war mittlungen seien in alle Richtungen geführt worden, spre- der Schutz von Quellen des LfV . Mit eben dieser Begründung chen die Akten eine andere Sprache . Wirkliche Anstren- wollte das LfV Brandenburg den Hinweis eines V-Mannes, das gungen wurden nur in Richtung Organisierte Kriminalität Trio sei dabei sich Waffen zu besorgen, nicht an die Polizei unternommen, das Thema Rechtsextremismus/Rassismus weitergeben . In Bayern weigerte sich das LfV mit Hinweis auf war, wenn überhaupt, randständig . Besonders deutlich wur- den Quellenschutz, der BAO Bosporus umfassende Informati- de das zu dem Zeitpunkt, als in Bayern 2006 eine neue Fall- onen zur extremen Rechten in Bayern zu liefern . Für die Beant- analyse einen »Einzeltäter« (im Gegensatz zur Organisati- wortung einer zurechtgestutzten Anfrage der Ermittler nahm on) aus dem rechten Bereich nahelegte . Dieser Ansatz stieß sich das Landesamt sieben Monate Zeit! Aktuelle Erkenntnis- bei den anderen Ermittlungsgruppen auf starke Ablehnung se zu militanten rechten Strukturen lieferte man nicht und be- und wurde kaum ernsthaft verfolgt . Die bayerische BAO hat- schränkte sich auf einen Dienst nach Vorschrift . te keine Möglichkeit, die Ermittlungen in diese Richtung zu Die Vernehmung des Hessischen Ermittlers zum Mord an Ha- lenken . lit Yozgat in Kassel im Jahr 2006 sorgte selbst im Ausschuss Politisch wurde im PUA vor allem um die Frage der Über- für Fassungslosigkeit . Wie allgemein bekannt war bei diesem nahme des Falls durch das BKA gestritten . 2006, nach den Mord ein Beamter des Landesamtes für Verfassungsschutz Morden acht und neun, wollte das BKA den Fall überneh- in Hessen im Internetcafé und hatte sich als einziger Zeuge men und intervenierte in diesem Sinne beim Innenministeri- nicht bei der Polizei gemeldet . Für die Polizei galt er über Wo- um . Doch der Widerstand aus den Ländern, namentlich aus chen als einer der Hauptverdächtigen, zumal er selbst einen Bayern verhinderte diese Übernahme . Während der ehema- V-Mann aus der Naziszene führte und mit diesem direkt vor lige BKA-Vizepräsident Falk die organisatorische Aufstel- und nach dem Mord telefonierte . Verständlich, dass die Po- lung der Ermittlungen in seiner Vernehmung »kriminalfach- lizei dringend auch diesen V-Mann vernehmen wollte . Doch, lich stümperhaft« nannte, widersprach ihm BKA-Präsident so musste es der Ausschuss lernen, Quellenschutz geht beim Ziercke zwei Wochen später vehement und nannte die Er- Verfassungsschutz vor der Aufklärung einer Mordserie . Das mittlungen erfolgreich (da ja die Morde nach 2007 aufgehört LfV Hessen verweigerte der Polizei die Vernehmung und der hätten) . Eine Meinung mit der er bis heute allein steht . Wie damalige Innenminister Bouffier unterstützte das LfV bei die- immer man die Frage der zentralen Ermittlungen bewertet, ser Behinderung der Ermittlungsarbeit . Es handele sich doch fest steht, dass von Seiten des BKA der Ermittlungsansatz in ›nur um ein Tötungsdelikt‹, dafür könne man nicht seine Quel- Richtung Rechtsextremismus mit aller Kraft zurückgedrängt len preisgeben, so las es sich in den Mails des LfV, die in den wurde . Während Ziercke im Ausschuss behauptete, in der Akten zu finden waren . Nachrichtendienstlichen Lage im Kanzleramt sei im Zusam- Fraglich bleibt, ob aus diesem Versagen der Verfassungs- menhang der Mordserie vom BKA selbstverständlich auch schutzbehörden die richtigen Folgerungen gezogen werden über einen möglichen rechtsextremen Hintergrund gespro- und es nicht letztlich zu einer Stärkung des Bundesamtes chen worden, konnte sich BfV Präsident Fromm an solche kommt . Um dies zu verhindern ist weiterhin eine kritische Diskussionen nicht erinnern . In den Akten und Sprechzet- Begleitung und Kommentierung der Ausschussarbeit wichtig . teln des BKA zur ND-Lage findet sich nicht einmal das Wort Rechtsextremismus . Gerd Wiegel

74 Die völkische und extrem nationalistische Rechte Russlands (Teil 1)

»So was hätt’ einmal fast die Welt regiert/ als wichtige Richtung der Staatspolitik der Russischen Föde- Die Völker wurden seiner Herr, jedoch,/ ration . Verboten ist jede Form der Verwendung und Verbrei- Dass keiner uns zu früh da triumphiert,/ tung faschistischer Symbole aller Art wie auch jeder faschis- Der Schoß ist fruchtbar noch, tischer politischer Tätigkeit . Präsident Wladimir Putin erließ Aus dem das kroch «. am 25 . Juli 2002 die Föderationsgesetze Nr .114-F3 über den B. Brecht »Widerstand gegen extremistische Tätigkeit« und Nr . 112-F3 »Über gesellschaftliche Vereinigungen« die u .a . auch faschis- tische (einschließlich neonazistische) und andere extrem na- Das Thema mag manchem Leser paradox und unwirklich er- tionalistische Organisationen und Tätigkeiten verbieten und scheinen . Das Aufkommen des Faschismus in diesem Land verfolgen . Doch trotz dieser eindeutigen gesetzlichen Rege- ist schwer zu begreifen . War es doch die UdSSR, das territo- lungen begann erst seit der Präsidentschaft Putins entschie- rial größte Land der Erde, das im Bund mit den USA, Groß- dener der Kampf gegen rechtsextreme Nationalisten und britannien und in einer weltweiten antifaschistischen Koaliti- Neofaschisten . Dabei zeigte sich allerdings auch, dass Ver- on vor sieben Jahrzehnten den bisher größten Anschlag auf bote faschistischer Ideologien und Bewegungen allein nicht die Weltzivilisation abwehrte, den die völkisch-faschistischen, ausreichen, um den Faschismus zu überwinden . militaristisch-expansionistischen Regime Deutschlands, Itali- ens und Japans samt ihrer Vasallen und Kollaborateure seit den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts organisiert hatten . Der neue russische Faschismus – Dieses bis dahin größte Menschheitsverbrechen brachte 60 ein Phönix aus der Asche? Millionen Menschen den Tod, enormes Leid für die Überle- benden und kaum vorstellbarere Zerstörungen wirtschaftli- Leningrad, wo durch den Hungerterror der nazideutsche cher und kultureller Werte in damals geschätzter Höhe von Wehrmachtsblockade 1941–1944 eine Dreiviertelmillion etwa 260 Mrd . US-Dollars . Von der Tragödie am stärksten Menschen starben, diese Stadt, die heute St . Petersburg betroffen waren die Völker der Sowjetunion – 27 Millionen heißt, richtete im Sommer 2001(!) das Festival »Botschaft Tote und 126 Milliarden US-Dollars materieller Schäden . Der an die Völker« aus . Ehrengast war die 99-jährige Leni Rie- Schoß, aus dem das faschistische Verbrechersystem kroch, fenstahl, die ihre Filme »Triumph des Willens« und »Fest der ist ungeachtet dieser historischen Erfahrungen heute noch Völker« (Olympiade) vorstellte . Russische Medien waren des immer vielerorts fruchtbar – nicht nur in Deutschland und Lobes voll: Man lebe in Russland nun endlich in einer frei- Westeuropa, sondern seit mehr als zwei Jahrzehnten wieder en und toleranten Gesellschaft, die Freiheit müsse man auch in Osteuropa1, auch in Russland und den anderen Nachfolge- den russischen Neofaschisten einräumen . Ein Vierteljahr spä- staaten der UdSSR . Die zwanzigjährige Geschichte Russlands ter wurde in Jekatarinburg (Swerdlowsk), wo Jelzin von 1975 belegt die Existenz einer realen faschistischen Bewegung, sie bis zu seinem Aufrücken in die Kremlführung KPdSU-Gebiet- belegt die Verbreitung faschistischer Ideologie und Gewalt- sparteichef war, der Film über den NSDAP-Parteitag 1934 auf verbrechen . In dem sowjetischen Hauptnachfolgestaat Russ- einem »faschistischen Abend« im Klubhaus der Stadt gezeigt . land, wo bereits in der ersten Hälfte der 90er Jahre unter Mädchen in SS-Uniformen überreichten den Besuchern eine Präsident Boris Jelzin eine starke neofaschistische Ideologie Armbinde mit Hakenkreuz . Anschließend wurden Exemplare und politische Bewegung in Gestalt von Dutzenden Organisa- von »Mein Kampf« und NSDAP-Parteiabzeichen versteigert . tionen und Parteien entstand und staatlich geduldet wurde, Die russische Journalistin Svetlana Dobrynina rechtfertigte gibt es grundsätzliche gesetzlich Regelungen, die die Verbrei- diese politischen Skandale in der Presse: »Wird doch der ›Tri- tung der Ideologie und die Tätigkeit faschistischer Organisa- umph des Willens‹ einhellig als dokumentarisches Meister- tionen – ähnlich wie in der 1991 untergegangenen UdSSR – werk betrachtet, welches die starke charismatische Persön- nicht zulassen, sondern unter Strafe stellen: Das Gesetz lichkeit Hitlers, der eine ganze Nation zu führen vermochte, Nr . 80-F-3 vom 19 . Mai 1995 »Über die Verewigung des Sie- mittels Filmkamera erschlossen 2. ges der sowjetischen Völker im Großen Vaterländischen Krieg Seit dem Systemwechsel vom Staatssozialismus sowjeti- 1941–1945« . Es bestimmt den Kampf gegen den Faschismus schen Typs zum neoliberalen Kapitalismus seit zwanzig Jah-

75 ren können sich auch in Russland und anderen Nachfolge- wohner), vor über einem Jahrhundert ihren Anfang nahm . In- staaten der UdSSR Faschisten organisieren und ihre Ideen mitten der bürgerlich-demokratischen Revolution 1905–1907 verbreiten . Bereits seit Ende der 80er Jahre formierten sich entstanden in St . Petersburg völkisch-klerikal-monarchistische legal extrem-nationalistische und völkisch-faschistische poli- Bewegung, Verbänden und Parteien mit insgesamt 410 .000 tische Strömungen vor allem in Russland, aber auch in fast al- Mitgliedern . Die einflussreichste dieser konterrevolutionären len anderen Nachfolgestaaten der UdSSR von den baltischen rechtsextremen Terrororganisationen war der Bund des Rus- Staaten3 über die Ukraine bis nach Kasachstan . Nach Schät- sischen Volkes SRN (Sojuz Russkogo Naroda) . Er zählte 1908 zungen des Moskauer Analyse- und Informationszentrums bereits 350 000. Personen und verfügte über eine militärische SOWA (EULE) sind in dem territorial größten Land der Erde, Organisation, die sog . Schwarzhundertschaften (Cˇornye sot- in Russland (142 Mio Einwohner), in Dutzenden neofaschis- ny) . Der SRN verübte 1905–1917 zahlreiche gewalttätige Akti- tischen und extrem nationalistischen Gruppen, Bewegun- onen gegen Juden, Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten und gen und Parteien über 70 .000 Mitglieder organisiert . Auch in Liberale . Die politisch gut organisierte extrem nationalistische- den Jahren der Präsidentschaft Vladimir Putins (2000–2007) völkische Organisationen, die das Zarenregime Nikolaus II . fi- und Dimitrij Medvedjevs (2007–2012) hat sich wenig an die- nanzierte und tolerierte, wurde mit der Revolution 1917 und sem Zustand geändert . Auch die noch unvollständige Regist- der Errichtung der Sowjetmacht verboten und verfolgt 6. rierung faschistischer Verbrechen durch das Innenministeri- ums und Organisationen der Zivilgesellschaft (vor allem die Rechtsextreme und völkische faschistische Organisationen 2003 gegründete Institution SOWA) weisen das aus: Von Ja- und Bewegungen restaurierten seit den 20er Jahren unter nuar 2004 bis April 2009 töteten extrem nationalistische und den 1,6 Millionen Flüchtlingen und Emigranten (davon ein neofaschistische Gewalttäter 588 Menschen, über 2 .000 Op- Viertel Militärs der Weißen Armeen) aus dem Russischen fer wurden schwer verletzt . Allein im Gebiet Moskau sind in Reich in Europa, Asien und Amerika .7 Deutschland war an- diesem Zeitraum 193 ermordet worden; in den Gebieten St . fangs Zentrum des weltweiten Russländischen Auslands (Ros- Petersburg und Sverdlovsk 48 bzw . 14 Opfer neofaschisti- sijskoe Zarubezˇ’e) . In der Weimarer Republik fanden 1919– scher Gewalt sind allen 89 Föderationsobjekten registriert 1921 250 .000 russische Flüchtlinge Aufnahme . Ihre Zahl stieg worden .4 Sieht man von den wenig differenzierten Darstellun- 1923 auf 560 .000 Personen, von denen 360 .000 in Berlin leb- gen über die bereits unter Regie des KGB 1989 gegründeten ten . Es folgte die russische Diaspora in Frankreich (400 .000), rechtspopulistischen Liberaldemokratischen Partei Russlands China (1922 – 155 .000 in der Mandschurei, davon 55 .000 in LDPD Russlands (Liberal‘no-Demokraticˇeskaja Partia) und Charbin; Shanghai: 19 .000), Bulgarien (36 .000), in der Tsche- dem sog . Zˇirinovskij-Effekt ab5 – kann festgestellt werden, choslowakei (30 .000) und in Jugoslawien (22 .000) .8 Mit der dass die völkische-faschistische und extrem nationalistische großen Wirtschaftskrise 1929–1932 setzte die Massenab- Rechte Russlands in Deutschland ein wenig beachtetes und wanderung aus Deutschland ein; im Frühjahr 1933 gab es in erforschtes Thema ist . Daher informiert der Aufsatz über die Nazideutschland nur noch 50 .000 russische Emigranten (da- Entstehung und die Ausbreitung dieser ideologischen Strö- von 10 .000 in Berlin) . Zu den einflussreichsten faschistischen mung und weitgehend außerhalb des Parlaments wirkende Organisationen In den 15 größten dieser faschistischen Emi- politisch Bewegung vor allem während der Jelzin-Ära . Eine grantenparteien waren allerdings 40 .000 Personen organi- Weiterführung über die aktuellen Entwicklungen des letzten siert .9 Die wichtigsten faschistischen Bewegungen und Par- Jahrzehnts ist vorgesehen . teien im russländischen Auslands wirkten in den folgenden Ländern . Wie erklärt sich dieses Phänomen? Sicher ist das Aufkom- –SA: U 1933 Allrussische Faschistische Organisation VFO men des Neofaschismus eng verbunden mit der Tatsache, (Vors. Anastasij Vonsjackij, 2 000. Mitglieder) . dass sich im größten sowjetischen Nachfolgestaat Russland – Chinesische Mandschurei (1931–1945 japanischer Satte- an der Wende von den 80er zu den 90er Jahren des vorigen litenstaat): 1926 Russländische Faschistische Organisati- Jahrhunderts – ähnlich wie in Osteuropa oder im Baltikum, in on RFO, 1931 umbenannt in Russländische Faschistische der Ukraine oder Georgien – der Übergang vom Staatssozialis- Partei RFP, die sich 1934 mit der in der USA-Emigration mus sowjetischen Typs zu einer bürgerlich-parlamentarischen entstandenen Allrussischen Faschistischen Organisation Demokratie und zum neoliberalen Kapitalismus vollzog . Da- VFO zur Allrussischen Faschistischen Partei VFP fusionier- durch entstanden soziale wie politische Voraussetzungen für te (Vors. Konstantin Rodzaevskij, 20 .000 Mitglieder) . das Aufkommen einer organisierten extrem rechtsnationalisti- – Deutschland: 1933 Russländische Völkische Bewegung . schen und völkisch-faschistischen Bewegung, wie sie auch im Russische National-Sozialistische Bewegung der Werktäti- übrigen Europa schon seit längerem besteht und in der gegen- gen ROND/RNSD wärtigen Krise ein Einfluss gewinnt . Zum anderen aber steht – Frankreich: 1936 Russische Nationale Bund der Kriegsteil- die russische neofaschistische Bewegung auch in einer eige- nehmer RNSUV (Vors .: General A .V . Turkul, seit 1939 in Ber- nen historischen Traditionslinie, die im zaristischen Russland, lin); 1925 Bund der Jungen Rußländer SM (Vors .: Alexander dem territorial größten Land der Erde (1913: 159 Millionen Ein- Kazem-Bek)

76 – Jugoslawien 1931 Nationaler Bund der Jungen Generati- sich auch um eine antikommunistischen Sammelbewegung: on NSNP (1936 umbenannt in Bund der Nationalen Arbei- Valerij Dimitrij Vassiljev, Alexander Barkasˇov, Viktor Jakusˇev, te der Jungen Generation NTSNP, Vors .: V .M Bajdalakov, Alexander Dugin, Alexander Kulakov, Nikolaj Lyssenko, Kon- 3 .000 Mitglieder) stantin Kasimovskij, Konstantin Smirnov-Ostasˇwili12, Igor S i cˇ e v 13 und Valerij Jemeljanov14 . Deshalb kam es seit 1987 Der russische Faschismus, der mit den Diktaturregimen Spa- zu organisatorischen Abspaltungen von der Gesamtorganisa- niens, Italiens, Deutschlands und Japans liiert war und eine tion (Pamjat‘ 1, 2 und 3), aus denen wiederum einige neofa- der Kollaborationskräfte vor allem Nazideutschlands und Ja- schistische Parteien entstanden . Die zwei einflussreichsten pan bildete, überlebte den Zweiten Weltkrieg in der westli- Gruppen um D . Vassiljev und I . Sicˇev veränderten 1990 ihre chen Emigration . Zu den historischen und geistigen Quellen politische Strategie . Sie orientierte sich nunmehr völlig an die einer Richtung des gegenwärtigen russischen Neofaschismus reaktionären Traditionen der Schwarzhunderte 1905–1917 (seit 1992 in Gestalt der Nationalbolschewistischen Partei und forderte die Wiederrichtung der Macht der Monarchie Russlands NBR (Nacional-Bol’sˇevistskaja Partija) zählt nicht und der Russischen orthodoxen Kirche . Diese völkisch-mo- zuletzt auch der sog . historische Nationalbolschewismus in narchistisch-klerikale Bewegung besitzt seit 1990 eine neue der Weimarer Republik und in der russischen Emigration (Ni- Zeitung unter dem Titel »Gott, Zar, Nation« und seit 1991 ei- kolaj Ustrjalov) .10 nen eigenen Sender . Schon auf dem Kongress der Pravos- lavischen (orthodoxen) Volksbewegung am 6 . Juni 1990, auf dem Hitler kritisiert wurde, dass er die »jüdische Frage nicht Der Schoss aus dem das kroch – Pamjat‹ (Gedächtnis) endgültig gelöst« habe, erklärte Alexander Kulakov, Führer ei- ner ›Pamjat‹-Splittergruppe: »Wir sind die direkten geistigen Bereits während der Herrschaft Brezˇnevs (1964–1982) und in Nachfolger der ›Union des Russischen Volkes‹, der ›Union des der Perestroika-Periode Michael Gorbacˇovs (1985–1991) for- Erzengels Michael‹ und der ›Schwarzen Hundertschaft‹ . Wir mierte sich allmählich eine anwachsende extrem-nationalisti- ersuchen die die Sowjetregierung, die Ausreise von Juden sche und völkisch-faschistische geistig-politische Strömung . der UdSSR bis zu endgültigen Untersuchung ihrer kollektiven Sie hatte ihren historischen Ausgangspunkt und ihre Träger Schuld (am russischen Volk) und bis zur Urteilsverkündung nicht nur in einem Teil der Emigranten in den USA, Westeuro- durch ein Volkstribunal einzustellen .«15 pa und Japan bzw . der Dissidenten im eigenen Lande, sondern Die Sammelbewegung ›Pamjat‹, die während der Präsident- auch in einer ideologischen Strömung der Partei- und Staats- schaft Jelzins (1990–1999) ihre dominante Rolle im rechtsex- nomenklatura, der sog . Russischen Fraktion innerhalb des ZK tremen Spektrum verlor, war seit 1990 »Mutterorganisation« der KPdSU und des Komsomol; sie reichte bis in die staatli- für einige neofaschistischer Parteien16: chen kulturelle Einrichtungen .11 Ende der 70er Jahre entstan- den in der UdSSR russisch-patriotische Gruppen, die sich um – National-Republikanische Partei Russlands die Restauration historischer Baudenkmale und Kirchen vor al- NRPR/Nacional-Republikanskaja Partija Rossii lem im Moskauer Raum kümmerten . Sie vereinten sich auch in (11 .500 Mitglieder in 36 regionalen Regionen und literarische Zirkel, auf denen nationalistisch gesinnte Schrift- Gebieten, Vorsitzender: N . Lyssenko, Jugendorganisation steller wie S . Ju . Kunajev (*1932), F . I . Cˇujev (1941–2000) I . seit 1991: Nationale Pfadfinderlegion, Zeitungen: M . Sˇevcˇov, V . V . Sorokin (*1936), D . A . Zˇukov (*1927), V . A . Unsere Zeit/Nasˇe vremja und Stimme Russlands/Golos Cˇivilichin (1928–1984) u .a . auftraten . Sie organisierten Ver- Rossii mit einer Gesamtauflage von 45 .000 Exemplaren, anstaltungen zu historischen Ereignissen (Schlachten auf dem seit 2001 unter Führung von Juri Beljajev umbenannt in Schnepfenfeld/Kuligovo pole 1380, an der Newa/Alexander Partei der Freiheit PS (Partija Svobody) . Nevskij 1240, bei Borodino 1812) oder zu Ehren des Sängers Fjodor Sˇalapin und des Wissenschaftlers Ziolkowski . – National-Sozialer Bund NSS/Nacional-socioal’ny Sojuz Schon 1982 gaben sich diese kulturellen Interessengruppen (9 . November 1990, Vorsitzender: V . Jakusˇev)17 . den Namen »Pamjat« (Gedächtnis)«, nach dem Titel des Ro- mans von Cˇivilichin . Ihr Leiter wurde 1985 der Fotograf D . – Russisc her Nationaler Bund RNS/Russkij nacional’nyj D . Vassilev (*1945) . Unter den veränderten Bedingungen des sojuz (1993, Vorsitzender: K . Kasimovskij18, Zeitungen: Machtantritts von Gorbacˇov erhielt die 1986 in Patriotischen Der Stürmer/Sˇturmovik, Der Völkischer Beobachter/ Vereinigung Pamjat‘ (Erinnerung) POP (Patrioticˇeskoe ob- Narodnyj Nabludatel‘, Nation), dem sich 1998 die Par- edinie namjat‘) umbenannte kulturelle Organisation eine tei der Nationalen Front PNF/Partija »National‘nyj Front« ausgesprochen antisemitische und großrussisch-nationalisti- (Vorsitzender: Il‘ja Lazarenko) anschloss, danach umbe- sche Ausrichtung . Die einflussreichen und untereinander zer- nannt in Russische Nationalsozialstische Partei PNSP/ strittenen Pamjat‹-Führer gruppierten um sich verschiedene Russkaja nacional-socialisticˇeskaja Partija (1999) und Fraktionen, die um Machteinfluss in dieser extrem nationa- Bewegung Russische Aktion DRD/Dvizˇene Russkoe listischen und völkischen kämpften, vornehmlich handelte es dejstvie (2000) .

77 – Russische Nationale Einheit RNE/Russkoje Moskau, St . Petersburg, Volgograd, Nizˇnij Novgorod, Jaroslavl, Nacional’noe Edinstvo (20 000. Mitglieder, Vorsitzender: , Voronezˇ, Tula, Kasan, Orenburg, Pskov, Irkutsk, A . Barkasˇov) die sich 2000 in mehrere neofaschistische Samara, Izˇevsk, Krasnojarsk, Tjumen, Cˇeljabinsk) gruppieren Gruppen aufspaltete . um die meisten neofaschistischen Parteien, die sie für ihre po- litische Zecke finanzieren und nutzten .26 Betrachten wir im fol- – RNE-1 Gvardija Barkasˇova, seit 2006 Bewegung gendem zunächst die Entstehung, die ideologische-politische (Dvizˇenie) Alexander Barksˇovs und kriminelle Tätigkeit eine der ältesten und einflussreichs- – RNE-2 (Evgenij und Michail Lalocˇkin) ten neofaschistischen Organisationen, die erst 2008 verboten wurde, aber im Untergrund noch weiter arbeitet . – Russische Wiedergeburt RV/Russkoe Vozrozˇdenie (Oleg Kassin, Juri Vasin) Russische Nationale Einheit RNE – Slawischer Bund SS/Slavjanskij Sojuz (Dimitrij Djomusˇkin) . Der Elektroschlosser und Karatekämpfer Alexander Petrovicˇ Barkasˇov27, der Stellvertretende Vorsitzende und Verantwort- Unabhängig von der Sammelbewegung ›Pamjat‹ entstanden liche für die militärische Ausbildung der National-Patriotischen Anfang der 90er Jahre noch weitere neofaschistische Partei- Front »Pamjat« unter Dimitrij Vasilijev, verließ im August 1990 en mit größerem Einfluss in der Öffentlichkeit: die völkisch-nationalistische Sammelbewegung und gründete mit 40 Gleichgesinnten am 10 . Oktober 1990 die erste straff – Völkische Nationalpartei NNP/Narodnajaj nacional’naja organisierte neofaschistische Kampfpartei Russische Nationale Partija (1991, Vorsitzende: Alexander Einheit RNE (Russkoje Nacional’noe Edinstvo) . Sie erhielt erst Ivanov-Sucharevski und Semjon V . Tokmakov19, 12 000. im Juli 1993 von der Jelzin-Regierung ihre Registrierung . Auf Mitglieder in 30 Regionen und Gebieten, Zeitung Ich ihrem ersten Pateikongress im Februar 1997, an dem 1 .075 bin ein Russe, seit 1998 Skinhead- Jugendorganisation Delegierte aus 350 Städten von 57 der 89 Föderationsobjekte Russisches Ziel RC/Russkij Cel‘: S . V . Tokmakov, teilnahmen, gab sich die neofaschistische Partei den Namen seit 2001 Andrej Kajl . Allrussische gesellschaftlich-patriotische Bewegun. Russische Nationale Einheit OOPD RNE (Obsˇcˇerossijskoe obsˇcˇestvennoe – Nationalbolschewistische Partei 19NBP/Nacional- Dvizˇenie Russkoe Nacional’noe Edinstvo) . Sie gehörten in bolsˇevistkaja Partija (1992, 7 .000–15 000. Mitglieder in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts zur größten neofa- 51 Gebieten und Regionen Russlands sowie in der Ukra- schistischen Organisation Russlands (1994 20 000. und 2000: ine, Lettland, Belorussland und Kirgisien, Vorsitzender: 15 .000 Mitglieder) . Sie besaß 1998 bereits 1 .000 regionale Eduard V . Limonov20 (Savenko) und Alexander Dugin21 bis Abteilungen in 64 der 89 Gebiete, Republiken und Region der 1998, nach der Verteilung Limonovs wegen illegalen Waf- Russischen Föderation Russlands 29. Zur Heranziehung jugend- fenbesitz wurde der Führer der Moskauer Filale Anatoli S . licher für eine militärische Parteiformation gründete die Par- Tisˇ chin Parteivorsitzender, 2005 verboten) . teiführung sog . militärisch-patriotische Klubs, u .a . in Moskau (Varjagi/Varäger) und Stavropol‘ (Vitjazi/Ritter) . Barkasˇov ist – Russisc he Partei RP/Russkaja Partija (1990, Vorsitzen- Parteivorsitzender, sein Stellvertreter Aleksej Vedenikin be- der Viktor Korcˇ agin, seit 1993 V . Miloserdov und Niko- zeichnet sich als »SS-Brigadeführer« . B . kandidierte 1995 er- lai N . Bondarik22, 1993 Militärformation Russische Garde folglos bei der Duma-Nachwahl für den Wahlkreis Kolomno . Die RG/Ruskaja Gvardija: Vladimir Miloserdov, Zeitung Rede/ RNE hatte ihre größten Parteiformationen in Moskau (Oleg Kas- Recˇ 23. sin, Juri Vasin, Konstantin Nikitenko, Sergej Rogozˇin), Stavro- pol (Andrej Dudinov), Volgograd (Aleksandr Kildisˇov), Vladimir – Liberaldemokratische Partei Russlands LDPR/ (Vladimir Malysˇev), Perm (Vladimir Noskov), Belgorod (Alexan- Liberal’no-demokraticˇeskaja Partija Rossii (1990, 185 000. der Tavolzˇsanskij), Primorskyj Kraj (Alexandr Sˇestoplav), Cha- Mitglieder, Vorsitzender: Vladimir V . Zˇirinovskij�, Frakti- barovsk (Gennadij Fadejev) Kostroma (Andrej Timofeev), Sa- onsvoristzender Igor Lebedev rechtspopulistische par- ratov (Grigori Mosˇkov), Omsk (Aleksej D . Nikolajev), Voronezˇ lamentarische Partei mit einem Wählerklientel zwischen (Evegnij Lalocˇkin) . Darüberhinaus bestehen Filialen der RNE in 23 Prozent/1993 und 12 Prozent/2011) 25. der Ukraine, Belorussland, Estland und Lettland .30 A . Barkasˇov unterzeichnet mit dem Vorsitzenden der Konföderation der frei- – Nationale Reichspartei Russlands NDPR en Gewerkschaften Russlands (120 000. Mitglieder in 110 regio- (Nacional’naja derzˇavnaja Partija Rossii) . nalen Organisationen), Alexander Aleksejev, am 24 .Mär z 1994 ein Kooperationsabkommen, um den politischen Einfluss zu er- Die in den 90er Jahren sich ausbreitenden Skinhead-Bewegung weitern .30 Das ideologische Sprachrohr der Neofaschisten ist (mit mindestens 10 .000 Mitgliedern, vor allem in den Städten die von Vladimir Jakunin herausgegebene Zeitung Russische

78 Ordnung (Russkij porjadok) . Nachdem dieses Hetzblatt im April den des russischen Volkes ausgerichtet 37. Da heute wieder das 1999 verboten worden war, erreichte die RNE-Filiale in der be- russische Volk am Rande seiner Rand Existenz als nationaler nachbarten Republik Belorussland 2000 die Neuregistrierung Gemeinschaft stünde, sei es notwendig » einen Mechanismus unter dem Redakteur Sergej Polubojarov . Juden, Roma, Aus- national kollektiven Denkens einzuschalten , der die autoritä- länder, Angehöriger kaukasischer und türkischer Völker Russ- re Regierung eines Führers als einzige Möglichkeit des Überle- lands haben keinen Zutritt zu dieser Partei . Das Parteizeichen bens voraussetzt «. 38 ist ein Hakenkreuz in einem achteckigen Stern im weißen Kreis Im parlamentarischen System spielt die RNE keine Rol- auf rotem Untergrund (Kolowrat) . Die Parteimitglieder grüßen le . Das Moskauer Antifaschistische Zentrum hat die propa- sich mit dem rechten erhobenen Arm (Ruhm Russland!) und gandistischen und terroristischen Aktionen der neofaschis- das Horst-Wessel-Lied ist die Parteihymne . Den Kern der neo- tischen Partei gegen Ausländer, jüdische Gemeinschaften faschistischen Partei RNE bilden die fest organisierten Mitglie- und Angehörige der nichtrussischen Völker dokumentiert . der, die sog . Kampfgefährten (Soratniki), sie besitzen braungrü- Die Barkasˇ ov-Schläger konnten zwar in einigen Fällen für ih- ne Kampfuniformen mit Hakenkreuz am rechten Ärmel . Einen re Mordtaten bestraft werden, aber ihre Anführer wurden zu- weiteren aktiven Bestandteil dieser Partei bildeten die sog . Mit- meist nicht belangt . Nach zeitweiligem Verboten gründeten streiter, die den Status eines Kandidaten der Partei besitzen . sich die regionalen Organisationen erneut (Moskau, Orlov, Darüberhinaus verfügt die Partei über lose Verbindungen zu Vladivostok, Krymsk, Krasnodar, Volgograd) und in benach- Menschen, die mit der Organisation sympathisieren (Anhän- barten Republiken Belorussland und Lettland . In einigen Or- ger) . Sie »bilden den potentiellen Teil der Bewegung und de- ten benutzte die Staatsmacht die Schlägerbanden der RNE ren zahlenmäßig größten Anteil . Anhänger können nicht in der als »Ordnungshüter« (Kostroma, Saltykovka, Chabarovsk) . Lage sein, alle Aufträge systematisch auszuführen . Dennoch Diese verübten unter dieser Tarnung Banküberfälle und Re- ist diese Kategorie der Teilnehmer die zahlreichste und soll re- pressionen gegenüber der Bevölkerung . gelmäßig zur Teilnahme an gemeinsamen Veranstaltungen he- Es gibt Belege dafür, dass die neofaschistische Partei vom rangezogen werden . Dazu sollen sie tägliche Propaganda und russischen Geheimdienst infiltriert ist und für bestimmte Zie- Agitation für die Ideen der Bewegung treiben . Und potentiel- le instrumentalisiert wurde . Offenbar waren Führer der RNE le Wähler um sich scharen «. 32 Parteiführer Barkasˇov sieht das schon 1993 als Provokateure für das Jelzin-Regime aktiv . Als Ziel seiner Partei in der Wiedergeburt der russischen Nation die Abgeordneten des ersten freigewählten russischen Par- als Rückgrat eines neuen russischen Imperiums .« In seinem laments sich dem Dekret vom 21. September 1993 zur Auf- Kampf um dieses Ziel macht er seinen Hauptgegner aus: »Der lösung des Volksdeputierten-Kongresses verweigerten, ließ Weltzionismus strebt durch seine Marionette – die USA und Präsident Jelzin am 3 ./4 . Oktober 1993 das Weiße Haus die anderen westlichen Länder – danach, Russland als einheit- beschießen und erstürmen . An diesen Tagen tauchte auch liche Kraft, die der weltweiten jüdischen Hegemonie im Wege Barkasˇ ov mit einer Gruppe von 15 Bewaffneten als »Retter steht, in Stück zu reißen und zu vernichten und zu einem roh- der Demokratie« auf, zwei seiner Mitkämpfer (A . M . Surskij stoffliefernden Anhängsel des Westens zu machen . Die Kampf- und D . V . Marcˇenko) gehören zu über 900 Toten dieser militä- ausbildung und psychologische Konditionierung der Mitglieder rischen Auseinandersetzungen zwischen Präsident Jelzin und der Organisation ist ganz auf die Tätigkeit unter den extremen dem Volksdeputiertenkongress Russlands . Zweifelsohne wa- Bedingungen von Anarchie und Massenunruhen eingerichtet . ren die Aktionen der Neofaschisten eine vom Geheimdienst Wir werden – außer der Armee natürlich – die einzige Kraft organisierte Provokation . Für den »Demokraten« Jelzin war sein, die in der Lage ist, auf diesem Territorium die Ordnung das ein Anlass, die Verteidiger des demokratisch gewählten aufrechtzuerhalten «. 33 Barksˇov legte in seiner Schrift Das ABC Parlaments generell als Faschisten zu denunzieren und den des Russischen Nationalisten34 das Parteiprogramm umfas- undemokratischen Gewaltakt zu rechtfertigen .39 send dar . Als Ziel seiner Bewegung erklärt, alles daran zuset- zen, dass das russische Volk seiner Pflicht nachkommt einen In den 90er Jahren konnten die Neofaschisten der Russischen mächtigen Russländischen Staat zu schaffen, der ein »Garant Nationalen Einheit ungehindert agieren, ihre menschenfeind- für Gerechtigkeit in der Welt ist «. 35 Die Vernichtung des russi- liche Ideologie verbreiten und Gewalttätigkeiten gegenüber schen Volkes von 1917–1937, so behauptet der Neofaschist, Ausländern und den nichtrussischen nationalen Minderheiten dass sei nicht das Ergebnis der Kommunistischen Partei ge- meist straflos organisieren . Der erste erfolgreiche Prozess ge- wesen, wie man heute verbreite, sondern der obersten staatli- gen diese kriminelle Terrororganisation erfolgte erst im Jah- chen Organe, die aus »Personen jüdischer Nationalität bestan- re 2002 auf der Grundlage der Veränderungen der föderalen den« hätten . Das wäre kein innenpolitischer Kampf, sondern Gesetzgebung Russlands, die einen effektiven Kampf gegen ein »national-rassistischer Kampf« zwischen Juden und Russen rechtsextreme Organisationen nun auch juristisch möglich gewesen 36. In der Perestroika hätten diese »jüdischen Kräfte« macht . Das Gebietsgericht von Omsk entschied am 10 .Okt o- unter der Tarnung einer »demokratischen Bewegung« erneut ber 2002 im Ergebnis eines Musterprozesses über das Verbot antirussische und antipatriotische Stimmung geschürt und ihre der Omsker regionalen Abteilung der Russischen Nationalen Politik auf die westlichen Zentren, vor allem der USA zum Scha- Einheit RNE. Detailliert wurde nachgewiesen, das diese neo-

79 faschistische Organisation unter Leitung Alexander D . Niko- nesis der ideologischen und organisatorischen Bewegung des patriotischen lajev gegen die gültige Verfassung und Rechtsordnung Russ- wie extremen russischen Nationalismus auch nach Stalins Tod 1953 siehe die grundlegenden Forschungen von J . B . Dunlop: The Faces of Contemporary lands verstieß sowohl durch ihr Programm, ihre faschistische Russian Nationalism . Survey, Summer 1979, ders: New Russian Nationalism, Symbolik und Rhetorik, ihr öffentlichen Auftreten im Hetzblatt Princeton 1983; Walter Laqueur: Der Schoss ist fruchtbar noch . Der militante Nationalismus der russischen Rechten, München 1993; A . Yanov: The Russi- Russische Ordnung als auch durch ihre rassistische, antisemi- an New Right, Berkley 1978; ders: The Russian Challenge and the Year 2000, tische Propaganda und terroristisch-kriminellen Aktionen ge- Oxford 1986; M . Voslenskij: Nomenklatura, Moskva 1991; Nikolaj Mitrochin: gen Andersdenkende, Andersaussehende, Anderslebende 40. Russkaja Partija . Dvizˇenie russkich nacionalstov 1953–1985, Moskva 2003 . 12 Konstantin Smirnov-Ostasˇvilli, Vorarbeiter in einem Moskauer Betrieb, verließ schon Ende 1989 Pamjat‹ und gründete mit seinen Anhängern die ›Union der Karl-Heinz Gräfe Proportionalität Pamjat‹ . Diese neofaschistische Partei fordert, dass in jedem Beruf der Anteil der Juden nur 0,69 Prozent betragen dürfe und propagierte deren generelle Abschiebung aus der UdSSR . Am 18 .Januar 1990 drang eine militärische Formation seiner Gruppe in das Zentrale Haus der sowjetischen Schriftsteller in Moskau ein und bedrohte die liberalen Schriftstellerverein Ap- 1 Zur Entwicklung in Polen und Ungarn siehe Karl-Heinz Gräfe: Die extreme ril . Trotz einer Strafanzeige kam er erst im Juli 1990 vor Gericht und wurde am und populistische Rechte Polens an der Macht, in: Rundbrief, H . 1–2, Berlin 12 .Okt ober 1990 zu zwei Jahren Haft in einem Straflager verurteilt . Siehe Wal- 2007, S .4 1–46; ders .: Populistische und neofaschistische Rechte Ungarns im ter Laqueur: Der Schoss, S .195 f ., 226 und 268 ff . Vormarsch, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur 13 Der Künstler Igor Sicˇev gehörte seit 1987 zu den größten Gegner des ›Pamjat‹- und Politik, Dinklage 2011, Heft 1 und 2, S .176–191; ders .: Die Wiedergeburt Vorsitzenden D . Vassilev . Er profilierte sich vor allem bei der Vorbereitung von rechtsextremer Ideologien, Bewegungen und Parteien in Osteuropa, in Arbei- historischen Gedenkfeiern zum Jahrestag auf dem Schnepfenfeld (Kulikovo po- terbewegung und Rechtsextremismus . 42 . Linzer Konferenz 2006 – ITH-Ta- le) unter Dimitrij Donskoj, die zum der entscheidende Wendepunkt für die Be- gungsbericht . Herausgegeben von Jürgen Hofmann und Michael Schneider, freiung vom Tatarenjoch verklärt wurde . Er organisierte zu Ehren des Heiligen Wien 2007, S . 251–268 Sergej von Radonezˇ (1314–1392) sowie zu den legendären Nationalhelden 2 Svetlana Dobrynina: Fasˇistskij vecˇer, in: Novye Izvestija, 11 .Oktober 2001 . des 17. Jh ., Kuzˇma Minin und Dimirij Pozˇarski, öffentliche Veranstaltungen . 3 Siehe Karl-Heinz Gräfe: Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz . Die baltischen Staa- Sicˇev gründete 1987 in Moskau Gruppe ›Pamjat‹-2 ten zwischen Diktatur und Okkupation, Edition Organ, Berlin 2010; ders: Rechts- 14 Valerij Jemeljanov (1929–1999) schloss 1952 an der Orient-Abteilung der His- extremismus und Nationalismus in den baltischen Staaten Estland, Lettland und torischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität sein Studium ab und war Litauen . Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne, Dresden/Brüssel 2011 . danach Lehrer am Moskauer Fremdspracheninstitut »M . Thorez« . Das Partei- 4 Vgl . http://www .politruarticle/2009/04/28/winter09, Statistika rasistskich mitglied gehörte zu der Gruppe von Wissenschaftlern und Ideologen, die sich napadenij za 2004 – 20 . April 2009 gg . (razbivkoj po gorodjam) . Für die Zeit mit der Kritik des Zionismus befassten . Er lehrte und publizierte zu diesem von 1990 bis 2003 liegen keine gesicherten, alle Gebiete der Russischen Fö- Thema (u .a . »Zionismus im Dienste des Antikommunismus« in der Reihe »Ge- deration umfassende Statistiken zu den Gewaltverbrechen der extrem natio- genwärtiger Antikommunismus«, die die Allunionsgesellschaft Znanie (Wissen) nalistischen und neofaschistischen Gewalt vor . herausgab . Eines seiner Bücher, »Dezionisacija«, erschien allerdings 1979 im 5 Die von dem Juristen und Turkologen Wladimir Zˇirinovskij 1990 gegründete Samizdat in Paris . Er verteilte diese antisemitische Schrift allen Mitgliedern des Liberaldemokratische Partei Russlands wurde und wird noch immer von Poli- Politbüros . Auf dessen Politbüro-Sitzung am 26 .Mär z 1980 weigerte er sich die tikern, aber auch Politologen, als die einflussreiche faschistische Partei Russ- Namen derer anzugeben, die ihm bei der Drucklegung bei SAMIZDAT im Aus- land eingestuft . Zu dieser Sicht auf das ˇZirinovskij-Phänomen siehe Wolfgang land halfen . Jemeljanov wurde daraufhin aus der Partei ausgeschlossen und am Eichweide (Hrsg .): Der Shirinowskij-Effekt . Wohin treibt Russland, Hamburg 10 . April 1980 verhaftet . Im Dezember 1980 verurteilte ihn Moskauer Gericht 1994; Viktor Timtschenko: Ich erwecke Russland mit Blut – Wladimir Wol- wegen der Ermordung seiner Ehefrau zu sechs Jahren Haft, die er in der Lenin- fowitsch Shirinowski, Berlin 1994; Wladimir Schirinowskij: Der hässlich Rus- grader Spezialklinik für Psychiatrie absaß . Kurz nach seiner Entlassung trat er se und das postkommunistische Osteuropa, Köln/Weimar/Wien 1995; Pe- 1987 der ›Patriotischen Vereinigung Pamjat‹ bei, gründete aber 1991 mit eini- ter Conradi: Schirinowski und der neue russische Nationalismus, Düsseldorf gen Dutzend ›Pamjat‹-Anhängern einen rechtsextremen Wehrsportclub . Siehe 1995; Wolg Oschlies: »Panslawe« Zˇirinovski . Osteuropa und der russische Ext- Nikolaj Mitrochin: Russkaja Partija, S . 198, 289, 406, 412 ff ., 423 ff ., 529, 555 remistenführer, in: Berichte des Bundesinstitutes für ostwissenschaftliche und 15 Moskovskie novosti Nr . 24 vom 17 .Juni 1990 internationale Studien, Heft 51 und 53, Köln 1994; Eberhard Schneider: Schi- 16 Zu den Anfängen des extrem nationalistischen und völkischen Faschismus rinovskij und seine Partei, in: ebenda Heft 35, Köln 1994 . in Russland siehe vor allem: Valerij D . Solovej/I . A . E . Jerunov: Russkoe de- 6 V gl . Sojuz russkogo naroda . Po materialam Cˇesv . sledstvennoj Komissi Vre- lo segodnja . Kniga I: ›Pamjat‹, Moskva 1991; Vladimir Pribylovskij: Nacional- menogo Pravitel’stva 1917, Moskva/Leningrad 1929; S . A . Stepanov: Cˇornaja patrioticˇeskie ob-edinie . Cast‘ I »Pamjat‘«, Moskva 1991; ders: Russkie sotna v Rossii (1905–1914), Moskva 1992; Pravye v 1915–1917, in : Minuvsˇee, nacionalisticˇkie i pravoradikal’nye organisacii 1989–1995 .Dokumenty i tek- t . 14, Moskva 1993 . sti, 2 Bd ., Moskva 1995; ders .: Vozˇdi . Sbornik biografii rossijskich dejatelej 7 Siehe V . A . Ioncev/N . M . Lebedev /M . V . Nazarov/A . V . Okorokov: E˙migracija i nacionalisticˇeskoj i impersko-patrioticˇeskoj orientaccii, Moskva 1995; Aleksan- repatriacija v Rossii, Moskva 2001, S .43 . Nach den Unterlagen des SFB Russ- dr Verchovskij/Vladimir Pribylovski: Nacional-patrioticˇeskie organisaciii v Ros- lands verließen bis Anfang der 20er Jahre 2 Mio . Menschen Sowjetrussland, siii . Istorija, ideologija, ekstremistskie tendencii, Moskva 1996; dies .: Nacional- darunter 200 .000 Militärs, die Hälfte davon Angehörige der Vrangel-Armee . patrioticˇeskie organisacii . Kratkie spravki . Dokumenty i teksty, Moskva 1997; Vgl . Russkaja voennaja e˙migraciaja 20-40-x gg . Dokumenty i materialy, tom 3, A . Verchovskij/V . Pribylovski/E . Michaiklovskaja: Politicˇeskaja Ksenofobija . Moskva 2002, S . 196; O . K . Antropov: Rossijskaja e˙migracija v poiskach poli- Radikal’nye gruppy . Predstavlenija liderov . Rol‘ cerkv‘u, Moskva 1999; Vjacˇeslav ticeskogog ob_jedinienija (1921–1939), Moskva 2008, S . 24–27 . Lichacˇov: Nacizm v Rossii, Moskva 2002; Gerd Koenen/Karla Hielscher: Die 8 Siehe M . V . Nazarov: Missija russkoj emigracii, Stavropol 1992, S . 32 . Sergej schwarze Front: Der neue Antisemitismus in der Sowjetunion, Reinbek bei Ham- Soldatov: O vostanovlenii celostnosti rossijskoj kul’tury, in: Literaturnaja Ros- burg 1991; Vajcˇeslav Lichacˇov: Nacizm v Rossii, Moskva 2002 . 17 Zum Programm siehe Galina Luchterhandt: Die politischen Parteien im neuen sija, Nr . 11 (1415), S . 18; S . Dzˇon: Russkij fasˇizm . Tragedija i fars v e˙migracii . Russland . Dokumente und Kommentare, Bremen 1993, S .235 ff 1925–1945 . Moskva 1992, S . 58; Karl Schlögel: Der große Exodus . Die russi- 18 K onstantin Rodionovicˇ Kasimovskij wurde in einer Moskauer Intellektuellen- sche Emigration und ihre Zentren, München 1994; Politicˇeskaja istorija russ- familie 1974 geboren und trat 1989 der Nationalpatriotischen Front ›Pamjat‹ koj e˙migracii 1920–1940 . Dokumenty i materialy . Pod red . A . F . Kiseleva, bei . Gemeinsam mit Alexej Vdovin verließ er 1993 die Sammelbewegung und Moskva 1999; O . K . Antropov: Rossijskaja, S . 25–27 und S . 279–283 . gründete mit ihm 1993 den Russischen nationalen Bund . Er übernahm die 9 F asˇizm i russkaja emigracija (1920–1945gg .), Moskva 2002, S . 27 . Chefredaktion des »Stürmer« (1994) und der »Nation« (1995 .1999) und war 10 Siehe Louis Dupeux: Nationalbolschewismus in Deutschland 1919–1993, im Apparat der rechtspopulistischen LDPR und Berater der Parlamentszeitung München 1985; Uwe Sauermann (Hrsg .): Ernst Niekisch: Widerstand . Ausge- der Staatsduma . Der schon mehrfach wegen rassistischer Tätigkeit angezeig- wählte Aufsätze, Krefeld 1982; Sergej M . Sergejev (Hrsg .): Nikolaj Ustrjalov . te Parteichef wurde im Oktober 1999 zu zwei Jahren Haft mit Bewährung ver- Nacionalbol‘sˇevizm, Moskva 2003 . urteilt und das Stürmer-Hetzblatt verboten . Daraufhin benannte er 2000 sei- 11 Schon Lenin verwies in der Auseinandersetzung mit Stalin 1922 auf den mit ne Neonazi-Organisation in Bewegung Russische Aktion um und gab eine neue dem Sozialismus nicht zu vereinbarenden großrussischen Nationalismus, der Zeitung (»Russischer Widerstand«) heraus . Siehe Vajcˇeslav Lichacˇov: Nacizm sich schließlich im Stalinismus seit den 1930er Jahren ausbreitete . Zur Ge- v Rossii, S .150 ff .

80 19 Semjon Valer’evicˇ Tokmakov (*1975) organisierte nach dem Studium an der 26 Diese rechtspopulistische Partei, die zwischen 23 Prozent (1993) und 8 Pro- Moskauer Forst-Universität 1998 die Skinhead-Gruppe »Russisches Ziel«. zent (2011) der Wähler erreichte, spielte angesichts des Untergangs der so- Nach seiner Haft wegen Gewaltverbrechen und gleichzeitigen Amnestie 1999 wjetischen Großmacht und der mit der sozialen und nationalen Folgen des wechselte er mit seiner jugendlichen Neonazi-Gruppe zur Völkischen National- Übergangs zum Kapitalismus in Russland – so der der Russlandexperte Alex- partei . 2001 stieg er zum Parteivize auf . Siehe Vajcˇeslav Lichacˇov: Nacizm v ander Rahr – »die Rolle eines Blitzableiters . Sie tritt zwar bei den Wahlen mit Rossii, S . 1333 . nationalistischen Parolen an, steht aber in entscheidenden politischen Fragen 20 Die neofaschistische Partei orientiert sich sowohl am Faschismus als auch auf der Seite des Kremls . Putin, der im Westen als Antidemokrat verschrien an sozialen Seiten des Bolschewismus und des stalinistischen Terrors . Pro- ist, trägt in Wirklichkeit das ein großes Verdienst daran, das es bislang gelun- grammziele 1994: »Nach dem Machtantritt baut die NBP einen totalen gen ist, Nationalisten von der Macht abzuhalten .« (Alexander Rahr: Der kalte Staat auf, die Menschenrechte stehen dann hinter den Rechten der Nati- Freund . Warum wir Russland brauchen: Die Insider-Analyse, München 2011, on zurück . Innerhalb des Landes wird eine eiserne russische Ordnung aus S . 262) . Disziplin, Kämpfertum und Fleiß errichtet .« 2004 wurde ein weiteres stra- 27 Zum Aufbau und den Gewaltaktionen dieser Szene vor allem innerhalb der tegisches Orientierung verkündet: »Zweifellos schleppt die NBP noch die neofaschistischen Organisationen Russische Partei, Nationalbolschewistische ›linke‹ russische Bewegung mit sich, jedenfalls solange dies vor dem Hin- Partei, Russische Partei und Völkische Nationalpartei siehe Vajcˇeslav Lichacˇov: tergrund sozialer Unzufriedenheit zweckmäßig ist . Allerdings besteht un- Nacizm v Rossii, S . 109–155 . sere Hauptzielsetzung in der kompletten Auswechselung der politischen 28 Der 1953 in einer Moskauer Arbeiterfamilie geborene Aleksandr Petrovicˇ Klasse, was wesentlich wichtiger ist als alle ›linken‹ Komponenten im Na- Barkasˇov erlernte nach Abschluss der Mittelschule den Beruf des Elektro- tionalbolschewismus . Die NBP schleppt auch die ›rechte‹ Bewegung mit schlossers, diente 1972–1974 in den sowjetischen Streitkräften und leitete sich .« (Zitiert nach Ute Weimann: Unter dem Deckmantel der Avantgarde . danach in seinem Betrieb eine Karate-Gruppe . 1985 wurde er Leibwächter Die russische Nationalbolschewistische Partei auf dem Weg zur Macht . In: des Vorsitzenden der Patriotischen Vereinigungen »Pamjat«, Dimitrij Vassiljev, Sozialistische Positionen . Loccumer Initiative kritischer WissenschaftlerIn- und gehörte 1986–1988 zur obersten Führung (Rat) dieser Organisation . Nach nen . Beiträge zur Politik, Kultur und Gesellschaft, http://www .spos .org ./ deren Umbau in die »Nationalpatriotische Front Pamjat« stieg er zum stellver- aufsaetze/42d0e34d14e10/1 .phtml) tretenden Parteiführer und Stabschef auf . 21 Der 1943 geborene Eduard Veniaminovicˇ Savenko (Pseudonym Limonov) ar- 29 SieheNezavisimaja gazeta vom 17 . März 1998, Moskau 1998 . beitete nach Abschluss die 8-Klassenschule als Hilfsarbeiter, seit 1968 als 30 Siehe Vjaceslav Lichacˇov: Nacizm v Rossii, S .10 f ., Izvestija vom 24 . Septem- Journalist und Schriftsteller . 1973 erhielt er eine Ausreisegenehmigung aus ber 1994, Moskva 1994 . der UdSSR und lebte in Österreich, Italien und in den USA, wo er in trotzkis- 31 Siehe Kto est‘ kto: Politicˇeskaja Moskva 1994, Bd . 2: Profsojuznye Ob-edinija tischen wie faschistischen Kreisen verkehrte . Sei erster Buch »Das bin ich – i centry, Moskva 1994, S . 42ff . Edicˇka« (1976) wurde in 15 Sprachen verlegt . Er wurde 1987 französischer 32 Zitiert in deutscher Sprache nach: Empfehlungen zur Bildung einer regiona- Staatsbürger . Seit 1989 konnte er seine zahlreichen Romane und Novellen len Organisation der Russischen Nationalen Bewegung (Flugschrift), in: Galina auch in der UdSSR publizieren . Er schrieb seit 1990 für die Zeitungen›Sovets- Luchterhandt: Die politischen Parteien Russlands . Dokumente und Kommen- kaja Rossija‹ und ›Den‹. Limonov war zunächst der Liberaldemokratischen Par- tare, Bremen 1993, S . 230–233, hier S . 231 . tei verbunden und organisierte das Treffen ˇZirinovskis mit der rechtsextremen 33 Zitiert nach ebenda, S . 234, Dok . 13 . Februar Partei Le Pens . 1992 gründete er gemeinsam mit Alexander Dugin die Natio- 34 Siehe A . P . Barkazˇov: Azbuka Russkogo Nacionalista, Moskva 1994– nalbolschewistische Partei. 35 Ebenda, S . 27 . 22 Alexander Gel’evicˇ Dugin (*1862) arbeitete nach einem abgebrochenen Stu- 36 Ebenda, S . 28 f . dium am Moskauer Luftfahrtinstitut als privater Sprachlehrer . 1989 wurde er 37 Ebenda S . 32 . Mitglied der zentralen Leitung der Patriotischen Front ›Pamjat‹ und gründete 38 Ebenda, S . 39 . die Historisch- religiöse Vereinigung »Arktogeja«, die von der Neuen Rechten 39 Zur Rolle des russischen Geheimdienstes in den neofaschistischen und ext- wieder entdeckter Autoren herausgibt wie Julius Evola, René Guénon . Nach rem rechten Organisationen siehe Vajcˇeslav Lichacˇov: Nacizm v Rossii, S . 40– seinem Austritt aus der NBP gründete er 2001 die Bewegung Eurasien (Eura- 50, S . 58–62 . zija) . Seit 1998 leitet er das Zentrum für geopolitische Expertisen und des Ex- 40 Sudebnoe resˇenie o likvidacii Omskogog Oteleniija RNE/Okt…, in http:// perten und Konsultativrates bei Vorsitzenden der Staatsduma . 2001 gründete www .sova-center .ru/racismxenophobia/doc/2002/10d890/ er die Allrussische politisch-gesellschaftlich Bewegung Eurasien/Evrazija. 23 Der 1965 in Leningrad geborene Nikolaj Nikolajevic Bondarik arbeitet nach dem Studium am Polytechnischen Institut als Korrespondent der Zeitung »Wiedergeburt« und trat 1991 dem heidnisch-nazistischen Bund der Veden Russlands bei . 1993 gründete er die Russische Garde RG, eine militärischen Organisation der Russischen Partei und wurde zugleich Vorsitzender der St . Petersburger Parteifiliale. Wegen Gewaltverbrechen mit Todesfolgen wur- de der Skinhead-Führer im Dezember 1993 verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt . In den Duma-Wahlen 1999 erhielt er als Direktmandat des Wahl- kreises 206 nur 2,5 Prozent der Stimmen . Siehe Vajcˇeslav Lichacˇov: Nacizm v Rossii, S . 153 24 Im Februar 1992 bildete diese neofaschistische Partei ein Schattenkabinett, das die Jelzin-Regierung ersetzen sollte . Vorgesehen war u .a . ein »Ministeri- um zum Schutze des Genbestandes« . Dessen Aufgab sollte u . a . darin beste- hen, zu verhindern, dass es im » Interesse der Reinheit der russischen Nati- on« zu keinerlei Eheschließungen zwischen Russen und anderen Völkern des Landes kommt . Der damalige Stellvertreter der Russischen Partei und Füh- rer der St . Peterburger Filiale, Vladimir Cykarev, erklärte am 15 .März 1992, dass keine Juden in die Partei aufgenommen werden . Siehe Ju . M . Leman: Na patrioticˇeskom fronte Sankt Peterburga, in: Antifasˇistskij zˇurnal, Nr .1, St . Pe- terburg 1992 . 25 Vladimir Vol‘fovicˇ Zˇirinovski wurde 1946 in Alma Ata geboren . Sein Vater, Wolf Isaakovicˇ Ejdelschtejn, arbeitete als Jurist in der Verwaltung der Turkesta- nisch-sibirischen Eisenbahn . Als er mit 18 Jahren zum Studium nach Moskau kam, nahm er erst den Familiennamen des ersten Mannes seiner Mutter an, des im August 1944 verstorbenen Oberst der Roten Armee Andrej Vassijevicˇ ˇZirinovskij . Nach seinem Turkologie-Studium am Asien-und-Afrika-Institut der Moskauer Staatlichen Lomonossov-Universität (1964–1970) absolvierte der parteilose Zˇ . ein Jura-Fernstudium . Ab 1972 arbeitete er im Sektor Westeuro- pa der internationalen Abteilung des Sowjetischen Komitees für die Verteidi- gung des Friedens, an der Wirtschaftsfakultät der Gewerkschaftshochschule und Kollegiums des Justizministeriums der UdSSR .

81 Am 22 . Februar 1933 ordnet der preußische Innenminister Göring die Bildung einer »Hilfspolizei« aus SA, SS und »Stahlhelm« an .

Anfang April 1933 führt die von Hermann Göring aufgestellte Polizeiabteilung z . b . V . (»zur besonderen Verwendung«) eine Großrazzia im Berliner Scheunen- viertel durch . Das Bild, das aus einer nationalsozialistischen Propagandapublikation von 1938 stammt, zeigt in einem Hof zusammen getriebene jüdische Männer, die einer Ausweiskontrolle sowie Visitation unterzogen werden sollen .

82 Rassismus und Antiziganismus in Bulgarien Bundesregierung sieht keinen Rassismus, nur Vorurteile

Der 25-jährige Australier Jock Palfreeman sitzt seit 2007 in im September 2011 in Katounitsa bei Plowdiw/Südbulgari- Bulgarien im Gefängnis . Er wurde wegen versuchten Mordes en gerade deshalb, weil es kein Problem mit dem Rassismus und wegen Mordes zu 20 Jahren Haft verurteilt, nachdem er in Bulgarien geben soll »auch bereits nach wenigen Tagen sich im Dezember 2007 in Sofia in einen rassistisch moti- [beendet worden sein] und sind seitdem nicht wieder aufge- vierten Übergriff von 16 Männern auf zwei jugendliche Ro- flammt« . Welch ein Euphemismus! Da wird als Erfolg gewer- ma mutig eingemischt hatte . Nachdem er den von Rassis- tet, dass die pogromartigen Übergriffe »nur« ein paar Tage ten angegriffenen Roma zur Hilfe geeilt war, konnten diese andauerten . Doch die Tatsache, dass sie überhaupt stattfan- zwar flüchten, Jock Palfreeman wurde nun aber seinerseits den und nicht sofort von den verantwortlichen Behörden un- von den Rassisten angegriffen . Im Laufe der Auseinanderset- terbunden wurden, ist der eigentliche Skandal . Dies versucht zung wurde einer der Angreifer verletzt, ein anderer durch ei- die Bundesregierung schönzureden . nen Messerstich getötet . Trotz diverser Zeugenaussagen vor Gericht, dass Jock Palfreeman in Notwehr gehandelt hat, um Die bulgarischen Behörden sind im besten Fall unfähig, im sich vor den Fußtritten, Schlägen, und Steinattacken der Viel- schlimmsten Fall gezielt untätig . Orhan Tahir, selbst Roma zahl an Angreifern zu schützen, wurde er ohne Strafmilderung und ein in Sofia lebender Jurist, beschrieb das (Nicht)Agie- im Sinne der Anklage verurteilt . Zweifel an der Rechtsstaat- ren der staatlichen Behörden so: »Das ganze Land hat in den lichkeit des Urteils sind nicht zuletzt deshalb aufgekommen, Nachrichten gesehen, wie die Polizei tatenlos herumsteht, weil der Vater des getöteten Rassisten eine sehr einflussrei- während Roma-Dörfer niedergebrannt werden . Die Nazis ha- che Persönlichkeit in Bulgarien ist, sondern auch deshalb, ben freie Bahn . Wir sind praktisch vogelfrei .«1 Doch die Bun- weil rassistische Übergriffe, vor allem auf Roma, in Bulgarien desregierung kann keinen weitverbreiteten Rassismus und keine Seltenheit sind und scheinbar eher als Kavaliersdelik- Antiziganismus erkennen und spricht lieber von weitverbrei- te seitens der Strafverfolgungsbehörden behandelt werden . teten Vorbehalten gegen Roma .

Nach Auffassung der Bundesregierung ist »der pauschalisie- rende Vorwurf einer weiten Verbreitung von Rassismus in der Rassismus als Folge sozialökonomischer Konflikte bulgarischen Gesellschaft und bei bulgarischen Behörden un- zutreffend .« Dies ergab die Antwort auf meine Kleine Anfrage Bemerkenswert ist, dass die Bundesregierung, die pogrom- »Erkenntnisse der Bundesregierung über rassistische und an- artigen Angriffe auf Roma in Katounitsa in 2011 »zunächst tiziganistische Gruppen in Bulgarien und deren Kontakte zur mehr mit sozialen Spannungen als mit rassistisch motivier- neonazistischen Szene in Deutschland« (Bundestagsdruck- ten Angriffen« in Zusammenhang bringt, der erst später »zu sache 17/10633) . Auf die Frage, ob denn »auch der weit- ethnisch gefärbten Auseinandersetzungen« mutiert sei . Be- verbreitete Rassismus und Antiziganismus nicht nur in der merkenswert deshalb, weil sie sonst in Deutschland sozia- bulgarischen Gesellschaft allgemein, sondern auch bei staat- le Konflikte üblicherweise ethnisiert bzw . kulturalisiert . Wäh- lichen Behörden wie der Polizei im Besonderen« eine Haupt- rend also die soziale Frage in Deutschland beständig durch ursache für pogromartige Überfälle und Gewalt vor allem auf »Ethnisierung« bzw . »Kulturalisierung« rassistisch verschleiert Roma, aber auch verstärkt auf Muslime ist und nicht ausrei- wird, versucht die Bundesregierung bei ihren europäischen chend Versuche unternommen werden, diese zu verhindern, strategischen Partnern im umgekehrten Sinne den gesell- antwortete die Bundesregierung: »Der pauschalisierende Vor- schaftlich verankerten Rassismus mit »sozialen Spannungen« wurf einer weiten Verbreitung von Rassismus und Antiziganis- zu verharmlosen . So kann der kausale Zusammenhang zwi- mus bei bulgarischen Behörden oder bei der Polizei [sei] nicht schen sozialen Konflikten und Rassismus verleugnet werden . zutreffend« . Dabei kritisierte auch Amnesty International in Mal auf die eine und mal auf die andere Weise . Denn auch ihrem jüngsten Jahresbericht zu Bulgarien die weitgehende wenn Rassismus soziale Ungleichheit (re)produziert, dient er Untätigkeit der zuständigen bulgarischen Behörden (https:// zugleich als Legitimationsmechanismus für diese soziale Un- www .amnesty de/jahresbericht/2012/bulgarien). . Diese Re- gleichheit . Das galt in gewissem Maße auch für das sozialisti- alität versucht die Bundesregierung jedoch auf absurde Wei- sche Bulgarien . So problematisch und rassistisch das Agieren se umzuinterpretieren . So sollen die Auseinandersetzungen von Politik, Justiz und Verwaltung gegenüber Roma sowie Bul-

83 garinnen und Bulgaren mit Migrationshintergrund (türkische fenen die Diskriminierung nicht an . Die Untersuchung in al- Minderheit) zu sozialistischen Zeiten gewesen ist – etwa die len Mitgliedsstaaten der Union zeigt, dass unter Betroffenen Aus- und Umsiedlung von bulgarischen Türkinnen und Türken weitgehend Resignation herrscht und kein Vertrauen in die 1950/1951 oder die »Bulgarisierung« türkischer Namen – die staatlichen Behörden vorhanden ist . auf die Bekämpfung von allzu großen Ungleichheiten ausge- richteten Wirtschafts- und Sozialpolitik wirkte sich sozioöko- Inzwischen bestreitet niemand, dass im postsozialistischen nomisch positiv auch auf die Lebenssituation der türkischen Bulgarien die sozialökonomische Situation besonders katas- Minderheit und der Roma aus . Dem hohen Analphabetismus trophal ist . Bereits Mitte der 90er Jahre hatte Bulgarien laut bei Roma wurde durch den Bau von Schulen begegnet . Die damaliger offizieller Statistik »erstmals in seiner 1300-jähri- Alphabetisierungsrate stieg entsprechend »seit dem Ende der gen Geschichte« Getreide und Gemüse einführen müssen . 1940er Jahre von weniger als fünf auf über 90 Prozent Ende Zudem war das Land mehr und mehr deindustrialisiert wor- der 1980er Jahre . In den 1960er Jahren war aber für Roma- den . Bis heute haben ihm rund 1,4 Millionen (von fast neun Schulen ein besonderes Curriculum eingeführt worden, das Millionen Einwohnern 1990) den Rücken gekehrt .3 2009, also auf Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben ausgerichtet noch zu Beginn der Krise, wurden nach Angaben des statis- war und ansonsten die Entwicklung von beruflichen Fähigkei- tischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) 16,3 Pro- ten in den Vordergrund stellte: Roma sollten ins sozialistische zent der Bevölkerung der EU als armutsgefährdet eingestuft . Proletariat integriert werden . In der Industrie ebenso wie in Bulgarien lag mit 21,8 Prozent weit über diesen Durchschnitt . der kollektivierten Landwirtschaft gab es einen hohen Bedarf Auch die Armutsgefährdungsschwelle, ausgedrückt in sog . an Arbeitern, und eine Arbeitsplatzgarantie bestand unabhän- Kaufkraftstandards (KKS), liegt in Bulgarien mit 3 .452 KKS gig von der Qualifizierung – bei oft relativ hohen Löhnen in weit unter dem der Länder Schweden, Österreich, die Nie- der Schwerindustrie oder im Bergbau «. 2 derlande und Zypern mit 11 000. bis 12 000. KKS 4. Die Arbeits- losenquote betrug offiziell im Jahr 2010 ca . 10 Prozent . Bei Die Sozialpolitik stand dabei im Konflikt mit der wirtschaft- den bei den 15- bis 24-Jährigen sogar 23,2 Prozent . Insbe- lichen Effektivität, der zugunsten der Sozialpolitik entschie- sondere Geringqualifizierte, unter ihnen viele Roma, sind be- den wurde . Heute funktioniert die bulgarische Gesellschaft troffen . Sie bilden fast 70 Prozent der Arbeitslosen . Bei den gemäß den Profitmechanismen des Kapitalismus . Nicht allein Langzeitarbeitslosen ist Bulgarien mit 46 Prozent weit über die Sozialpolitik – im Weiteren wie im engeren Sinne – muss den Durchschnitt der EU mit 40 Prozent . Zudem hat Bulga- sich nun »rechnen«, sondern auch der Mensch . Die Eintei- rien den höchsten Anteil an jungen Menschen, die weder in lung nach ökonomischer »Nützlichkeit« soll eine Politik der Ausbildung noch beschäftigt sind (19,5 Prozent der 15- bis effizienten und reibungslosen Verwertung »nützlicher« Men- 24-Jährigen) .5 schen und die Ausgrenzung der »anderen« legitimieren . Was zählt, ist – ganz im Sinne kapitalistischer Logik – Leistung Das Nachrichtenmagazin »Monitor« schilderte in seiner Sen- und das Prinzip der Verwertbarkeit . Letztlich geht es immer dung vom 29. März 2012 »Importierte Armut . Deutschland darum, zu vermitteln, dass die sozioökonomische Statuspo- nach dem EU-Beitritt Bulgariens« exemplarisch, wer über- sition vermeintlich durch gute oder schlechte, in jedem Fal- durchschnittlich Leidtragender der sozioökonomischen Ver- le aber individuell zurechenbare Leistung zustande gekom- hältnisse ist: Roma . »50 .000 Menschen leben in Stolipino- men ist . Thesen von einer genetisch- bzw . kulturbedingten vo . Während des Kommunismus hatten die Roma Arbeit . Mit sozialen Schichtung der Bevölkerung werden gerne als Erklä- der Privatisierung hat sich alles verändert . Die Roma wur- rung angenommen . Und bezüglich der Situation in Bulgari- den zuerst entlassen . So liegt die Arbeitslosenquote heute en ist festzuhalten, dass hier auf historisch gewachsene und bei 90 Prozent . Die Sozialhilfe beträgt im Schnitt 75 Euro- auch in der sozialistischen Periode des Landes nie tatsäch- pro Familie im Monat . Zu wenig zum Leben . Der bulgarische lich mit den Wurzeln beseitigte antiziganistische und rassis- Staat hat sich in weiten Teilen aus den Vierteln zurückgezo- tische Ressentiments angeknüpft werden kann . In einer re- gen . Die Roma sind sich völlig selbst überlassen . Die Verelen- präsentativen Bevölkerungsumfrage 2006 gaben 51 Prozent dung nimmt ständig zu . Wir fragen die bulgarische Regierung, der Befragten an, dass sie Roma nicht als Nachbarn möch- warum sie die Roma so ausgrenzt . Sie lässt uns wissen, auch ten . Laut einer Studie der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) sie sei um ›die Lage der Roma sehr besorgt‹ . Aber man sei auf in Wien aus dem Jahr 2009 erfahren die rund zwölf Millionen dem richtigen Weg .«6 In Bulgarien leben Schätzungen zufol- Roma die schlimmste Diskriminierung in Europa . 37 Prozent ge ca . 10 Prozent Roma 7. Offiziell werden mit Stand von 2011 gaben an, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten per- in der Statistik 5 Prozent angegeben .8 Ihre Lebenssituation sönlich diskriminiert wurden . Zwölf Prozent waren Opfer ras- hat sich auch nach Auffassung der Bundesregierung »durch sistischer Straftaten . Allerdings zeigten dies nur 20 Prozent den Transformationsprozess der 1990er Jahre verstärkt« der- der Betroffenen gegenüber der Polizei an . Unter den Roma, gestalt verschlechtert, dass ihre »Lebensumstände oft von die vorwiegend in den neuen EU-Mitgliedsstaaten Mittel- oder großer Armut, einem zumeist niedrigen Ausbildungs- und Er- Südosteuropas leben, zeigten bis zu 92 Prozent der Betrof- werbsniveau sowie sozialer Stigmatisierung geprägt sind« .

84 Sieht man nun, dass die Einkommen der 20 Prozent der Be- gefährliche Rasse …« veröffentlichte .12 Bei den Europawah- völkerung mit dem höchsten verfügbaren Äquivalenzeinkom- len holten sie fast 12 Prozent der Stimmen .13 Siderov kandi- men 5,9 mal so hoch ist wie die Einkommen der 20 Prozent dierte 2010 bei den Präsidentschaftswahlen und kam immer- der Bevölkerung mit dem niedrigsten verfügbaren Äquiva- hin auf fast 25 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang .14 lenzeinkommen (EU-Durchschnitt: 4,9)9, wundert es kaum, Dabei bedienten sich die Partei und Siderov, der auch Autor dass gemäß einer 2010 veröffentlichten Meinungsumfrage zweier antisemitischer Bücher ist, rassistischer und antiziga- von Eurobarometer, die Menschen in Bulgarien mit -1,9 Pro- nistischer Hetze . Roma wurden als »diebische, gewaltberei- zent am unzufriedensten mit ihrem Leben im Allgemeinen te und die bulgarische Mehrheitsbevölkerung terrorisieren- sind (durchschnittlich +3,2 Punkte auf einer Skala von ‑10 de” Minderheit, die angesichts ihrer »überproportionalen bis +10) . Und es wundert auch kaum, dass diese soziale Un- Vermehrung” eine Gefahr für den Fortbestand der bulgari- gleichheit und Ungerechtigkeit den Boden für Ungleichwertig- schen Nation sind, dargestellt . Auch wurde gegen sie Stim- keitsideologien, Ausgrenzung und Sozialchauvinismus berei- mung mit dem Vorwurf einer vermeintlichen »Privilegierung« tet bzw . rassistische Vorurteile reproduziert . durch westliche Institutionen gemacht, die angeblich die Ro- ma »großzügig versorgen« würden .

Rassistische und antiziganistische Parteien und Gruppen Ähnlich der aus Deutschland bekannten Propaganda gegen- über vor allem muslimischen Migrantinnen und Migranten wird Solidarität oder eine Repräsentation der Interessen der Ro- in Bulgarien die soziale Situation den Roma selbst angelastet ma im politischen System Bulgariens ist aufgrund des rassis- und ihnen nicht nur die »Integrationswilligkeit«, sondern auch tischen und antiziganistischen Konsenses in einem großen »-fähigkeit« abgesprochen 15. Wenn auch derzeit die Zustim- Teil der bulgarischen Gesellschaft kaum zu finden . So sind mung für die Partei in der Bevölkerung sinkt und sie bei Parla- es neben den Roma, die ca . 9 Prozent Türkinnen und Türken, mentswahlen derzeit um ihren Wiedereinzug in die Bulgarische die in Bulgarien oft schutzlos rassistischer und neofaschisti- Nationalversammlung bangen müsste, heißt dies längst nicht scher Hetze und Angriffe ausgesetzt sind . Bei den politischen Entwarnung . Zum Einen waren und sind Wahlergebnisse, wenn Parteien sind es in der ansonsten zersplitterten extrem rech- überhaupt, nur Ausdruck der Spitze des Eisberges . Analog zu ten und rassistischen Parteienlandschaft z .B . die Parteien den sog . rechtspopulistischen Parteien in Deutschland geht »VMRO-BND« (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisa- die maßgebliche Gefahr bei »Ataka« für den gesellschaftlichen tion – Bulgarische Nationale Bewegung), »Ataka« (Attacke) Frieden im Lande vor allem von der mit ihrer Politik einherge- und der »Bulgarische Nationalbund« (BNS), die nationalisti- henden schleichenden Akzeptanz gegenüber extrem rechten sche und rassistische bis hin zu neofaschistischen Positio- und rassistischen Positionen und Personen und einer nicht nur nen offensiv vertreten . Letztere hatte 2010 eine Unterschrif- verbalen Radikalisierung aus . Dass es nicht nur bei verbalem tensammlung für ein Referendum gegen den EU-Beitritt der Rassismus bleibt, zeigen die gewalttätigen Auseinandersetzun- Türkei unter dem Motto »7 Millionen Bulgaren in der EU gegen gen von Anhänger von »Ataka« am 20 .Mai 2011 mit Besucher/ 70 Millionen Türken« organisiert und dank ihrer nationalisti- innen der Banja-Baschi-Moschee in Sofia, bei denen fünf Men- schen und rassistischen Hetze 320 .000 Unterschriften zu- schen, darunter zwei Mitglieder der Partei, verhaftet wurden . sammengebracht .10 Dabei ging es nicht allein um die Moschee, sondern um die Symbolhaftigkeit, die mit dem Ort verbunden ist: die Moschee »Ataka«, die von der Bundesregierung in ihrer Antwort als befindet sich im sog . »Dreieck der Toleranz« im direkten Stadt- »rechtsextreme Partei« eingestuft wird, fällt ebenfalls vor al- zentrum, nur wenige Meter neben der St . Nedelja Kirche und lem durch eine antitürkische und antiziganistische Haltung der Synagoge . Aufgrund dieser und anderer Ereignisse sprach auf . »Ataka«, eine von dem früheren Journalisten Volen Si- die Menschenrechtsorganisation Helsinki-Komitee Bulgarien derov geführte Partei, war 2007 neben der »Front National« von einer »beunruhigenden Eskalation der Fremdenfeindlich- (FN), der »Partidul România Mare« (PRM), dem »Vlaams Be- keit und des religiösen Hasses« und forderte ein Verbot der lang« (VB) und der »Freiheitlichen Partei Österreichs« (FPÖ) Partei 16. Hauptplattform für die Propaganda von »Ataka« ist der sowie zwei italienischen und einem britischen Abgeordneten Fernsehsender SKAT und ihre gleichnamige Parteizeitung . Die an der Gründung der extrem rechten und neofaschistischen Zeitung, die seit 2006 herausgegeben wurde, knüpfte an die Fraktion »Identität, Tradition, Souveränität« (ITS) im Europa- Tradition der Zeitung »Ataka« an, die bereits zwischen 1932 parlament beteiligt . Bei den Parlamentswahlen 2005 mehr und 1934 erschien und nach der deutschen Nazi-Zeitung »An- als 8 Prozent der Stimmen, stieg das Ergebnis bei den letz- griff« entsprechend der bulgarischen Übersetzung »Ataka« be- ten Wahlen aber auf über 9 Prozent 11. Anteil am Erfolg dürfte nannt wurde . Seit 2012 wird sie nun aus finanziellen Gründen auch die antisemitische Ausrichtung von »Ataka« haben, die offensichtlich nicht mehr verlegt, wie die Bundesregierung mit- nach der Parlamentswahl 2005 auf ihrer Homepage eine Lis- teilt . Die hatte aber immerhin eine Auflage von etwa 16 .000 te mit 1 500. Namen bekannter bulgarischer Juden unter der Stück und hatte damit die fünftstärkste Auflage der landesweit Überschrift: »Die Juden sind eine von der Pest verseuchte, erscheinenden Zeitungen 17.

85 Kontakte zu rassistischen und neonazistischen gezeigt worden sein . Schaub, der bis zum Verbot 2008 Vor- Gruppen in Deutschland sitzender des »Vereins zur Rehabilitierung der wegen Bestrei- tens des Holocaust Verfolgten« (VRBH), hielt die Festrede auf Eine Partei, die nicht nur in Bulgarien aktiv ist, sondern auch dem »Europa-Fest der EA auf dem Odilienberg« im Elsass . Es mit anderen neofaschistischen und rassistischen Parteien verwundert als kaum, dass Rassate in seiner Rede auf dem und Organisation in Europa vernetzt ist, ist der 2001 gegrün- Treffen der EA am 10 . September 2011 seine Solidarität mit dete »Bulgarische Nationalbund« (BNS) . Das liegt nicht zu- Holocaustleugner/innen ausdrückte: »Es wird weiterhin Auf- letzt auch daran, dass der 1971 geborene Anführer des BNS, klärungsarbeit geleistet und lebhaft über die Gerichtsfälle der Bojan Rassate (eigentlich Bojan Bojanov Stankov), im Alter europäischen Märtyrer der Meinungsfreiheit wie Horst Mah- von vier Jahren zusammen mit seinen Eltern nach Stuttgart ler, Ernst Zündel, Sylvia Stolz, Pedro Varela, Wolfgang Fröh- kam und später in Waiblingen zur Schule ging, bevor er 1980 lich, Gerd Honsig usw . diskutiert .«21 Zu diesem wie auch dem mit seiner Mutter wieder nach Bulgarien ging . Der BNS ver- diesjährigen Treffen waren Gäste aus europäischen Naziorga- breitet eine antiziganistische, antisemitische und antitürki- nisationen wie der NPD oder der britische BNP eingeladen . sche Hetze . So polemisierte er 2011: »An Stelle des ersehn- Auch Rassate war angekündigt . ten Wohlstands nach dem EU-Beitritt, breitet sich im Lande Korruption und die staatlich geduldete organisierte Krimina- Personell bestehen auch sonst gute Kontakte zu den brau- lität aus . Parallel damit nimmt das Verbrechertum der Zigeu- nen Kameraden in Deutschland . Die Integration der Faschis- ner-Minderheit erschreckende Ausmaße an, so dass wir bis ten des »Bulgarischen Nationalbundes« (BNS) und der ru- zum heutigen Datum feststellen können, dass keine bulgari- mänischen Faschisten der »Noua Dreaptă« in die Strukturen sche Familie davor unbeschadet geblieben ist . Die Diebstäh- der »Europäischen Nationalen Front« (ENF), in der ansons- le, Vergewaltigungen, Betrügereien und die Morde sind an ten Parteien wie die deutsche Nationaldemokratische Par- Tagesordnung, was der anständige und arbeitsame Bulgare tei Deutschlands (NPD), die italienische »Forza Nuova« und seit Jahren erdulden muss . Mit alledem und gepaart mit der die spanische »La Falange« tonangebend sind und der auch Untätigkeit der staatlichen Organe und der sich nähernden die neofaschistische griechische Partei Chrysi Avgi (Goldene demographischen Katastrophe, stehen wir vor dem drohen Morgendämmerung) angehört, die zuletzt bei den Wahlen in kulturellen und demographischen Untergang unseren Vol- Griechenland im Juni 2012 knapp 7 Prozent erreichten, zeigt, kes – das eines der ältesten Völker Europas ist .« In einem In- dass gemeinsame ideologische Wurzeln und historische Ko- terview betonte Rassate, »dass wir im Gegensatz zu anderen operationen heute im Sinne einer europaweiten Kooperation patriotischen Organisationen die Zigeuner nicht als Teil des und Vernetzung der Neofaschisten genutzt werden . So neh- bulgarischen Volkes betrachten . Von fremder Kultur rede ich men immer wieder auch Vertreter/innen neofaschistischer bewusst nicht, weil sie keine Kultur haben . (…) Wir können und rassistischer Gruppierungen und Parteien aus Bulgarien heute nicht daran denken, die Zigeuner einfach umzubringen . am »Fest der Völker« in Jena, an Veranstaltungen zum »Anti- Die Zeiten sind andere . Aber derzeit werden die Zigeuner ge- kriegstag« in Dortmund oder auch den Naziaufmärschen in genüber den Bulgaren bevorzugt . Das Gesetz gilt nicht für al- Dresden anlässlich der Bombardierungen der Stadt im Zwei- le . (…) Für eine Zigeunerfamilie bedeuten mehr Kinder: mehr ten Weltkrieg teil . Ausdruck dieser Vernetzung sind entspre- Sozialhilfe und mehr Arbeitskräfte, als Bettler, Diebe, Pros- chende »Gegenbesuche« von Mitgliedern und Beobachtern tituierte . Die Einnahmen fließen in die Haushaltskasse .« Da der ENF-Parteien bei sog . jährlich stattfindenden »Gedenk- passt es auch ins Bild, dass er die Einführung eines »Arier- feiern« bzw . »-märschen«, wie die zu Ehren von Ion Mota und nachweises« forderte .18 Vasile Marin im Januar in Madrid, anlässlich des Imia‐Zwi- schenfalls im Januar in Athen, anlässlich der Bombardierung Rassate steht nicht nur in Kontakt mit der NPD und der ru- Dresdens im Februar in Dresden oder auch zu Ehren des mänischen extrem rechten »Nua Dreapta«, sondern firmiert Faschistenführers Corneliu Codreanu im November in Bu- auch als »Landesleiter«19 und »Vertreter« Bulgariens in der karest . Ein weiteres Beispiel ist der jährlich seit 2004 im Fe- 2010 zunächst unter der Bezeichnung Bund Freies Europa bruar zu Ehren des faschistischen Generals Hristo Nikolov (BFE) gegründeten Europäischen Aktion (EA), einem neu- Lukov22 stattfindende sog . Lukov-Marsch in Sofia, an dem en Organisationsversuch von Schweizer Faschist/innen un- sich neben »Blood and Honour« Angehörige des »Nationa- ter der Führung des bekannten Holocaustleugner Bernhard len Widerstandes« (»Nazionalna Saprotiva«), des »Bulgari- Schaub . Da »Deutschland und ganz Europa der Holocaust- schen Nationalbundes«, Nazi-Skinheads und Mitglieder der Religion frönen« sei eine »unwürdige Kriecherei Europas vor sog . Ultras von Levski Sofia auch Mitglieder extrem rechter der amerikanisch-zionistischen Politik« zu beklagen, weshalb Gruppen aus mehreren europäischen Ländern beteiligen . Im eine »freie Holocaustforschung« unterstützt werden müsse, Zusammenhang mit dem Lukov-Marsch traten auch die Na- um »den dritten Weltkrieg zu verhindern« 20. 2011 soll nach zi-Bands »Libertin« aus Dortmund und »Civil Disorder« aus Information der Bundesregierung als Aktion der EA an der Magdeburg auf . Sofioter Universität ein aufgezeichneter Vortrag von Schaub

86 Insgesamt bestehen nicht nur seit Jahren sporadische Kon- äquat beantwortet . Antifaschismus und Antirassismus muss takte zwischen Angehörigen deutscher und bulgarischer von vielen linken Organisationen erst noch entdeckt werden . neofaschistischer und rassistischer Organisationen . Es muss Die soziale Frage stellt dabei sicher einen Anknüpfungspunkt sehr wohl davon ausgegangen werden, dass Bulgarien durch- in der Zusammenarbeit von linken Organisationen und an- aus entsprechende Strukturen anbietet, die es nicht abwe- tifaschistischen und antirassistischen Gruppen dar, um sie gig erscheinen ließen, dass das BKA »im Zusammenhang mit in kausalen Zusammenhang, mit Antirassismus und Antifa- dem vom Amtsgericht Jena Ende 1998 ausgestellten Haftbe- schismus zu bringen . Das Hauptproblem scheint mit aller ge- fehl gegen die seit November 2011 als NSU-Trio bekannten botenen Vorsicht einer Außenbetrachtung zu sein, dass es Personen wegen Vorbereitung eines Explosions- und Strah- einerseits nicht allein darum gehen kann, den Nazis sowie lungsverbrechen gemäß § 310 StGB und Verwenden von Rassistinnen und Rassisten alltäglich entgegenzutreten, son- Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § dern einen eigenen Beitrag für eine solidarische und nicht 86a StGB … im Rahmen seiner Zentralstellenfunktion für den rassistische Gesellschaft zu entwickeln . Die antifaschisti- internationalen polizeilichen Dienstverkehr mit Schreiben schen Kräfte in Bulgarien sollten unter Berücksichtigung von vom 7 .A ugust 1998 die bulgarischen Polizeibehörden über In- internen organisatorisch-strukturellen und inhaltlichen Fra- terpol um Fahndung nach den genannten Personen mit dem gen einen Ausweg aus der Marginalisierung zum Zwecke von Ziel der Festnahme und Auslieferung gebeten [hat], falls diese Bündnissen finden . in Bulgarien angetroffen werden sollten . Hintergrund dieses Dabei geht es gerade nicht um Bündnisse als Selbstzweck . Es Ersuchens waren im Rahmen des Ermittlungsverfahrens der geht darum Anschlussmöglichkeiten für und Anschlussfähig- Staatsanwaltschaft Gera aufgekommene Hinweise, wonach keiten zu eigene(n) Positionen auszuloten bzw . herzustellen . sich die gesuchten Personen seinerzeit in Bulgarien aufhal- Gleiches gilt übrigens auch für die linken Parteien und Or- ten bzw . von dort per Flugzeug nach Südafrika weiterreisen ganisationen . Hier werden offensichtlich zu oft Unterschiede sollten . Im Ergebnis konnten die gesuchten Personen in Bul- in den Biografien, den politischen Ansichten und Aktionsfor- garien nicht festgestellt werden «. So antwortete die Bundes- men, den gemeinsamen verbindenden sozialen Grundgedan- regierung auf eine Frage von mir im Rahmen meiner Kleinen ken einer antikapitalistischen Perspektive der Vorzug gege- Anfrage . ben . Die staatliche Kriminalisierung und Repression gegen junge Antifaschistinnen und Antifaschisten wird nicht nur teilweise toleriert, sondern häufig sogar mitgetragen . Not- Was dagegen tun? wendig ist in jedem Fall eine klare inhaltliche und personelle Abgrenzung von rassistischen und neofaschistischen Grup- Das Problem hinsichtlich der Bedrohung durch Neofaschistin- pen und Parteien . Eine irgendwie geartete Zusammenarbeit nen und Neofaschisten ist, dass diesem selbst in der Linken mit ihnen und ihren Vertreterinnen und Vertretern ist auszu- Bulgariens wenig Platz eingeräumt wird . Das Thema Rassis- schließen, denn es wertet diese einschließlich ihrer rassis- mus, das dort noch weniger als in Deutschland als ein sehr tischen und neofaschistischen Propaganda und Aktivitäten wohl mit dem Neofaschismus zusammenhängendes aber auf . Sie werden faktisch als »normale« politische Akteure ein- eben nicht gleichzusetzendes Problem gesehen wird, ist fak- geführt, obwohl ihre politische Ausgrenzung notwendig wäre . tisch gar kein Thema in der öffentlichen Debatte . Beides sind Ein negatives Beispiel ist hier die Bulgarische Sozialistische Themen, die weinigen, aber dafür um so engagierteren Men- Partei (BSP) . Die BSP, deren Vorsitzender vor kurzen zum Vor- schen aus der antifaschistischen und antirassistischen Szene sitzenden der PES (Partei der Europäischen Sozialisten) ge- beackert werden . Dass sie aufgrund der geringen Wahrneh- wählt wurde, arbeitet seit geraumer Zeit eng mit den Ras- mung des Problems auch kaum gesellschaftlichen Rückhalt sisten und neofaschistischen Kräften der VMRO zusammen, haben, zeigen die zahlreichen An- und Übergriffe auf sie wie die aktiv den alljährlichen Lukov-Marsch unterstützt . So ha- zuletzt am 21 .September dieses Jahres in Sofia .23 ben sie z .B . gemeinsam die Unterschriftenkampagne für die Durchführung eines Referendums für den Bau des Atomkraft- Rassistische Gewalt in Sofia aber auch anderen Städten Bul- werkes in der erdbebengefährdeten Stadt Belene organisiert gariens ist faktisch ein Normalzustand . Da den Opfern zu- und durchgeführt . Doch auch darüber hinaus soll die Koope- meist selbst die Schuld daran gegeben wird, dass sie – ent- ration ausgebaut werden . Gut ist, dass sich sofort auch Pro- weder wegen ihrer vermeintlich (kulturell oder biologisch) test gegen diese Zusammenarbeit regte . Die sozialdemokra- »selbstverschuldeten« sozialen Situation oder ihres politi- tische Organisation »Solidarisches Bulgarien« und die Partei schen Engagements – zu Zielen von Anfeindungen, An- und »Bulgarische Linke« riefen den Vorstand der PES in einem Of- Übergriffen werden, findet sich unabhängig vom bestehen- fenen Brief auf, diese Zusammenarbeit einzustellen 24. den rassistischen Konsens bei einem großen Teil der bulga- rischen Gesellschaft weder bei der Polizei noch in der Politik Ohne politische Klarheit kann es kein politisches Gegenge- eine Lobby . An- und Übergriffe bleiben daher öffentlich weit- wicht geben . Und ohne politisches Gegengewicht können gehend unkommentiert, und schon gar nicht werden sie ad- rechte Gruppen und Organisationen soziale Konflikte rassis-

87 tisch aufladen und den Neofaschistinnen und Neofaschisten 20 zit . nach http://www .bnr .de/node/12152 den geistigen Nährboden für ihre verbrecherische Gesinnung 21 http://www .europaeische-aktion .org/Artikel/de/Ansprache-von-Prof-Petar- Ivanov-und-Bojan-Rassate_18 .html . bereiten . So ist es in Deutschland über Jahre gelungen, z .B . 22 Lukov war bis zu seinem Tod 1943 ein leidenschaftlicher Anhänger des Na- gemeinsame Bündnisse gegen den Naziaufmarsch in Dresden tionalsozialismus und Führer der ehemaligen »Bulgarischen Nationalen Le- gionen« . 1935 wurde er zum Kriegsminister ernannt, unterstützte die Ach- zu schmieden; nicht allein mit linken Kräften . Hier gäbe es hin- senmächte und knüpfte enge Kontakte zum Oberbefehlshaber der deutschen sichtlich des Lukov-Marsches sowohl in der Bündnisarbeit in Luftwaffe Hermann Göring als auch zu anderen führenden Nazi-Politikern . Auf Bulgarien als auch darüber hinaus hinreichend Potential . Ge- der bulgarischen Nationalkonferenz im November 1942 wurde beschlossen, Generalfeldmarschall Erwin Rommel und seine »Deutschen Afrikakoprs« in fragt sind gegenseitige Unterstützungen . Diese kann personell, Nordafrika zu unterstützen . Dank des erfolgreichen Attentats kommunisti- materiell und/ oder finanziell sein und an bestimmte Gruppen scher Partisanen auf General Hristo Lukov im Februar 1943, konnte dieser Einsatz verhindert werden . und politische Projekte gerichtet sein . Aber auch ein kontinu- 23 http://stopnazi-bg .org/declarations/99-poredno-neonacistko-napadenie . ierlicher Erfahrungsaustausch ist wichtig . Das Übersetzen von 24 http://solidbul .eu/?p=408 . Informationen und Texten spielt dabei eine wichtige und notwendige Rolle, um eine Debatte zu ermöglichen . So kön- nen auch Konzepten und Erfahrungen zur Organisation oder zum Aufbau von Gruppen, genau so wie technische Mög- lichkeiten der sicheren Vernetzung und inhaltliche Diskussionen stattfinden .

Sevim Dagdelen

1 http://diepresse .com/home/meinung/gast- kommentar/702404/Machen-wir-Seife-aus-Zi- geunern . 2 http://www .bpb .de/apuz/33279/roma-und- minderheitenrechte-in-der-eu-anspruch-und- wirklichkeit?p=all . 3 http://www .ag-friedensforschung .de/regio- nen/Bulgarien/1990 .html . 4 http://epp .eurostat .ec .europa .eu/statistics_ explained/index .php/Income_distribution_sta- tistics/de . 5 http://ec .europa .eu/esf/main .jsp?catId =- 372&langId=de . 6 http://www .wdr .de/tv/monitor//sendun- gen/2012/0329/armut .php5 . 7 http://eur-lex .europa .eu/LexUriServ/LexUri- Serv .do?uri=COM:2011:0173:FIN:DE:PDF, S . 17 . 8 http://www .auswaertiges-amt .de/DE/Aussen- politik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Ue- bersichtsseiten/Bulgarien_node .html . 9 http://epp .eurostat .ec .europa .eu/statistics_ explained/index .php/Income_distribution_sta- tistics/de . 10 http://bulgaria .indymedia .org/article/37014 . 11 für 2007 hier: http://pi2005 .cik .bg/results/; für 2009 hier: http://pi2009 .cik .bg/results/ proportional/rik_00 .html . 12 http://www .politikberatung .or .at/typo3/filead- min/02_Studien/6_europa/Rechte_Parteien pdf. . 13 http://ep2009 .cik .bg/results/ 14 http://pvr2006 .cik .bg/results_2/index .html . 15 http://anti-ziganismus de/artikel/von-faulen-zi. - geunern-und-diskriminierten-roma/ 16 http://www .tagesschau .sf .tv/Nachrichten/Ar- chiv/2011/05/21/International/Sofia-Rechts- extreme-greifen-Muslime-an 17 http://www .politikberatung .or .at/typo3/filead- min/02_Studien/6_europa/Rechte_Parteien pdf. 18 zit . nach: http://www .tabularasa-jena .de/arti- kel/artikel_3717/ 19 http://www .woz .ch/die-europaeische-aktion/ kommt-in-volkstreuen-kleidern

88 ZrD u iSKUSSION Ein Stein des Anstoßes. Der Gedenkstein in Berlin-Friedrichsfelde

Die Forderung, der Opfer stalinistischer Repressalien zu er- haft und Zuchthaus in der DDR . Ob die Bauherren und die innern, wird schon seit vielen Jahren, genau genommen seit alte Garde der DDR- und SED-Führung die Inschrift »Die To- Jahrzehnten, erhoben . Ebenso lange wird um die geeigne- ten mahnen uns« auch auf die Opfer der Repressalien in der te Form dieser Erinnerung debattiert . Sicherlich wird dieses Sowjetunion bezogen wissen wollte, muss Spekulation blei- Thema auch in nächster Zeit strittig bleiben . Unstrittig sollte ben, auch wenn der eine oder andere sicher das Andenken jedoch das Anliegen selbst sein . Den Frauen und Männern, seiner ehemaligen Kampfgefährten im Hinterkopf verwahr- die unter konstruierten Beschuldigungen in die Maschinerie te . Den nachwachsenden Generationen musste solch ein stalinistischer Verfolgung gerieten und dies mit langen Haft- Geheimcode angesichts des verordneten Schweigens ver- strafen und oft mit dem Leben bezahlten, gebührt ein fes- schlossen bleiben . Die Verankerung von Erinnerung in der ter Platz in unserer Erinnerungskultur . Wie schwierig es ist, Gesellschaft erfordert aber die Weitergabe und Tradierung dem Anliegen gerecht zu werden, zeigte sich, als am 11 . De- von Erinnerung . zember 2006 in der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin- Friedrichsfelde ein Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus Um den Gedenkstein war unter den Mitgliedern des Förder- eingeweiht wurde . Der Gedenkstein wurde zum »Stein des kreises und seines Vorstandes intensiv und vereinzelt kont- Anstoßes« und löste heftige und kontroverse Debatten aus 1. rovers diskutiert worden . Dabei ging es vor allem darum, wie Während Vertreter von antikommunistischen Opferverbän- weit oder wie eng die Inschrift zu fassen sei . Die realisierte den ihren Alleinvertretungsanspruch für Opfer des Stalinis- Fassung war Ausdruck eines Kompromisses . Ob sich die Wid- mus gefährdet sahen, vermuteten einzelne Stimmen aus dem mung undifferenziert auf alle Opfer des Stalinismus bezieht linken Lager eine antikommunistische Provokation . oder auf die Mitglieder und Funktionäre der verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung wird je nach politischer Initiator des Gedenksteines war der sechs Jahre zuvor ge- Verortung und biografischem Hintergrund unterschiedlich in- gründete überparteiliche Förderkreis Erinnerungsstätte der terpretiert werden . Dem Besucher der Anlage wird eine eige- deutschen Arbeiterbewegung Berlin-Friedrichsfelde e .V ., ne Positionsbestimmung nicht abgenommen . Der Standort dem neben Einzelpersönlichkeiten auch die Landes- und des Gedenksteines allerdings legt den Bezug zur Arbeiterbe- Bundesvorstände der SPD und der LINKEN angehören . Die- wegung und ihren verschiedenen Strömungen von vorn her- ser Förderkreis hatte Lottomittel des Landes Berlin einge- ein nahe . So erklärt sich auch der Einwand von Verfolgtenver- worben und mit Unterstützung des Landesdenkmalamtes bänden, eine Erinnerung an die Opfer des Stalinismus gehöre sowie des Bezirkes Lichtenberg in den Jahren 2004 und nicht an den »Ort der Täter« . 2005 die von der baupolizeilichen Sperrung bedrohte Ge- denkstätte der Sozialisten grundlegend und denkmalgerecht Die teilweise heftige Debatte um das Für und Wider des Ge- sanieren lassen . Über 500 .000 Euro flossen in die Wieder- denksteines in Friedrichsfelde – vor allem zahlreiche Ver- herstellung der Anlage . Neben einer ständigen Ausstellung dächtigungen – ließen oft mangelnde Kenntnis der Sachlage zur Vorgeschichte und Geschichte der Gedenkstätte und und der Geschichte der Anlage erkennen . Deshalb sei an die- zu den Biografien der dort beigesetzten Personen sollte ser Stelle noch einmal an einige Fakten erinnert:2 auch an die Opfergruppe erinnert werden, die seit Mitte der Der 1881 als Städtischer Gemeindefriedhof eröffnete Zent- 1930er Jahre bis in die 1950er Jahre hinein den verschiede- ralfriedhof Friedrichsfelde befand sich von Beginn an im Ei- nen Wellen stalinistischer Verfolgung ausgesetzt war . Die- gentum der Stadt Berlin und in der Verwaltung seiner Ma- se Opfergruppe war in der Gedenkstätte der Sozialisten zu- gistratsbehörden . Nach der Bildung von Groß-Berlin übertrug vor ausgeblendet geblieben, obwohl nicht wenige der dort die Stadt 1921 die Verwaltung des Friedhofs an den Verwal- Bestatteten bzw . deren Angehörige als Betroffene zu gelten tungsbezirk Lichtenberg . Seitdem verblieb die Zuständigkeit haben . Hinter zahlreichen Namen auf den Grabsteinen des für den Friedhof bei diesem Bezirk . Pergolenweges und der Anlage für die Verfolgten des Nazi- Seinen Charakter als »Sozialistenfriedhof« erhielt die Anla- regimes verbergen sich ebenfalls bedrückende Geschichten ge in Friedrichsfelde nachdem Wilhelm Liebknecht im Au- von Verdächtigungen, Ausgrenzungen und Lagerhaft in der gust 1900 dort zur letzten Ruhe gebettet wurde . Etliche sei- Sowjetunion sowie Funktionsenthebungen, Untersuchungs- ner Mitstreiter und weitere Funktionäre der Sozialdemokratie

89 ließen sich in den Folgejahren in seiner Nähe beisetzen . So der Gedenkstätte beeinträchtigt hätten, waren auszuschlie- entstand über die Jahrzehnte in der Nähe des Eingangsbe- ßen . Lediglich ein Gedenkstein in der Nähe der Anlage wur- reichs des Friedhofs ein »Feldherrnhügel« der Sozialdemo- de als mögliche Option angesehen . Der Gedenkstein erlangt kraten . Auf eben diesem Areal steht seit 1951 die Gedenk- dadurch nicht den Status eines eingetragenen Denkmals . stätte der Sozialisten . Das Massengrab für Rosa Luxemburg, Die denkmalrechtliche Prüfung bezog sich lediglich auf die Karl Liebknecht und die Opfer der Januarkämpfe von 1919, Zulässigkeit seiner Aufstellung in der Nähe des eingetrage- für das Ludwig Mies van der Rohe sein legendäres Revoluti- nen Denkmals . onsdenkmal schuf, befand sich am entgegen gesetzten Ende des Friedhofs . Das Bezirksamt Lichtenberg verwies den Antrag des Förder- Mit dem Bau der Gedenkstätte der Sozialisten war dieser Teil kreises an den für Fragen der Erinnerungskultur zuständigen des Friedhofes nicht aus der städtischen Zuständigkeit ent- Ausschuss Kultur der Bezirksverordnetenversammlung . Dort lassen . Die Anlage blieb ebenso wie der Pergolenweg Teil stand er am 21 .Sept ember 2006 auf der Tagesordnung der öf- des Zentralfriedhofs . Daran ändert auch nicht die Tatsache, fentlichen 55 . Sitzung und wurde vom Vorsitzenden des För- dass sich das Politbüro bzw . Sekretariat des ZK der SED die derkreises begründet . Bei einer Stimmenthaltung bestätigte Entscheidung über die Beisetzungen in diesen Ehrenanlagen der Ausschuss den Antrag . Kritiker der Entscheidung mut- vorbehielt . Nachfolgeparteien der SED haben zwar eine be- maßten später, der Ausschuss wäre zu dieser Entscheidung sondere moralische und historische Verantwortung für die- nicht mehr befugt gewesen, da wenige Tage zuvor das Abge- se einzigartige Gedenkstätte, sie können aber keine Rechts- ordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlungen in nachfolge oder gar einen Rechtsanspruch reklamieren . Berlin neu gewählt worden waren . Das trifft aber nicht zu, da Die Initiative zum Bau der Gedenkstätte der Sozialisten sollte die Zuständigkeit der alten Bezirksverordnetenversammlung eine gemeinsame Erinnerung an die verstorbenen und ermor- erst mit der Konstituierung der neuen erlischt und nicht am deten Sozialdemokraten und Kommunisten ermöglichen . Die Wahltag . Sonst könnten manche dringenden Anliegen für vie- Widmung für alle Strömungen der Arbeiterbewegung, hatte le Wochen nicht behandelt und entschieden werden . ihre Grundlage in den bitteren Erfahrungen der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts, vor allem in denen des gerade über- Obwohl die Organisatoren des Stillen Gedenkens und der De- wundenen Faschismus . Eine Erinnerung an die Opfer stali- monstration im Januar nach Friedrichsfelde zur Besonnenheit nistischer Verfolgungen muss also dieser Widmungsidee ent- aufgerufen hatten, demonstrierten Einzelpersonen während sprechen und kann sich nicht auf Vertreter einer einzelnen des Luxemburg-Liebknecht-Gedenkens 2007 ihre Ableh- Strömung beziehen . Daraus ergeben sich unter Umständen nung des Gedenksteines, indem sie ihn beschmutzten, abge- Schwierigkeiten, wenn eine Auswahl von Personen getroffen legte Kränze und Blumen verwüsteten sowie Ordnungskräf- werden soll . Diese hatten sich nicht selten zu Lebzeiten er- te tätlich angriffen . Diese Formen der Protest(un)kultur sind bittert bekämpft . seitdem tendenziell rückläufig, treten aber vereinzelt immer Die Gedenkstätte der Sozialisten ist sowohl Erinnerungsstät- wieder auf . Dem stehen Initiativen aus dem Berliner Landes- te wie Grabanlage . Dieser Doppelcharakter ist bei allen Über- verband der Linkspartei entgegen, mit gewidmeten Blumen, legungen zu berücksichtigen . Dazu kommt der Status eines den Opfern des Stalinismus an dieser Stelle einen Namen zu eingetragenen Denkmals, der auf Empfehlung einer vom Se- geben . Ob sich diese Form durchsetzt, ist noch offen . Es wä- nat eingesetzten Kommission 1993 erneuert und bekräftigt re aber eine Möglichkeit, den zu gedenkenden Personenkreis wurde .3 Damit waren und bleiben auch der Erinnerung an die selbst mitzubestimmen . Opfer stalinistischer Repressalien an diesem Ort enge Gren- zen gesetzt . Das gilt für alle beabsichtigten Veränderungen Die heftigen Kontroversen um die Erinnerung an die Opfer und Eingriffe in das Erscheinungsbild der denkmalgeschütz- stalinistischer Repressionen bestimmten auch in erhebli- ten Anlage . chem Umfang die 5 . Tagung des 10 . Landesparteitages der Berliner Linkspartei .PDS im März 2007 . Dem Landesvor- Um eine Erinnerung an die Opfer stalinistischer Repressi- stand wurde von einigen Delegierten »Würdelosigkeit« im onen in der Gedenkstätte der Sozialisten zu ermöglichen, Umgang mit Geschichte, »Kotau vor der veröffentlichten Mei- wandte sich der Vorstand des Förderkreises Erinnerungs- nung« und »Mitwirkung an Geschichtsklitterung« vorgewor- stätte der deutschen Arbeiterbewegung Berlin-Friedrichs- fen .4 Die Mehrheit der Delegierten folgte diesen Anwürfen felde e .V . nach Abschluss der Sanierungsarbeiten an die nicht . Der unterschwellige Appell, die kritische Rückschau Friedhofsverwaltung und die Untere Denkmalbehörde des auf die Geschichte des Sozialismus zugunsten einer Beto- Bezirks Lichtenberg von Berlin . In den vorbereitenden Ge- nung sozialistischer Errungenschaften einzudämmen, zielte sprächen wurde geklärt, dass eine Tafel an der Ringmauer auf eine Neuausrichtung der Geschichtsdebatte . Solche Be- bzw . an den Ergänzungsmauern der Gedenkstätte mit den strebungen waren bereits Mitte der 1990er Jahre sichtbar ge- Auflagen des Denkmalschutzes nicht vereinbar ist . Auch worden . Michael Nelken hatte auf der Geschichtskonferenz größere Installationen, die das überlieferte Erscheinungsbild der PDS 1995 feststellen müssen: »Die Analyse des repressi-

90 ven, zentralistischen, antidemokratischen Gesellschaftssys- politischen Unterdrückung in der UdSSR« errichten . Ein Jahr tems wurde im PDS-Diskurs verdrängt durch die Verteidigung später erhob der Oberste Sowjet der Russischen Föderati- der ›Legitimität des Versuchs‹, die Würdigung der positiven on den 30 . Oktober offiziell zum »Tag des Gedenkens an die ›Errungenschaften und Erfahrungen‹, des ›selbstlosen Ein- Opfer der politischen Repression« .12 Memorial war 1988 als satzes von Millionen‹ DDR-Bürgern für die Errichtung einer erste regierungsunabhängige Organisation in der Sowjetuni- ›sozialistischen Alternative‹ usw . usf .«5 Darüber hinaus wa- on unter dem Vorsitz des Atomphysikers und Friedensnobel- ren Stimmen aufgetaucht, die die Stalinismuskritik als Op- preisträgers Andrei Dimitrijewitsch Sacharow gegründet wor- portunismus bzw . Revisionismus diskreditierten 6. Alle damals den . Ihr ursprüngliches Anliegen, ein Denkmal für die Opfer zusammengetragenen Argumente und Gegenargumente der des Stalinismus zu errichten, hat sich inzwischen auf die his- Stalinismusdiskussion leben bis heute fort .7 torische Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, die Un- terstützung von Überlebenden des GULag-Systems und den DIE LINKE steht in der Nachfolge ihrer Quellparteien . Sie wird Schutz der Menschenrechte ausgedehnt . Memorial (Russ- sich deshalb auch weiterhin der Verpflichtungen annehmen land) erhielt 2004 den alternativen Nobelpreis (Right Live- müssen, die sich daraus ergeben . Dazu gehören zweifelsoh- lihood Award) . ne auch die Versprechen, die gegenüber der Gesellschaft ab- gegeben wurden . Deshalb bleibt für unser Thema der Bezug In der Stalinismus-Diskussion unter Linken wird oft einge- zum Außerordentlichen Parteitag der SED/PDS aktuell . Da- wandt, Stalinismus sei ein ideologischer Kampfbegriff, und mals am 16 . Dezember 1989 schlug Michael Schumann dem solle deshalb keine Verwendung finden . Wenn Linke aber ih- Parteitag im Namen des vorbereitenden Arbeitsausschusses rem marxistischen Denkansatz nicht untreu werden, sind es vor, »dass den Opfern stalinistischer Verbrechen ein bleiben- doch die realen Verbrechen und Deformationen im Namen des Gedenken in unserer Gesellschaft bewahrt wird . Dem des Sozialismus, die den Rückblick auf den Realsozialismus sollten sowohl das bereits von anderen vorgeschlagene wür- und die Vision eines neuen Anlaufs belasten . Das Problem ist dige Mahnmal als auch Zeugnisse der Erinnerung und Be- folglich nicht der Begriff . Es sind vielmehr die Tatsachen und wahrung der bestehenden Museen und Gedenkstätten … die- die historischen Erfahrungen, die sich hinter ihm verbergen . nen .«8 Dieser Vorschlag war Bestandteil des Referats »Zur Krise in der Gesellschaft und zu ihren Ursachen sowie zur Verantwortung der SED« . Es wurde noch am gleichen Tag von den Parteitagsdelegierten mit absoluter Mehrheit, oh- ne Gegenstimme, bei einer Enthaltung als Arbeitsgrundlage bestätigt .9

Die Gedenkstätte der Sozialisten um eine Tafel für die »Opfer des Stalinschen Terrors« zu ergänzen, hatte Anfang Dezem- ber 1989 der damalige Direktor des Zentralen Parteiarchivs der SED angeregt . Im Januar 1990 bekräftigte er noch einmal seine Ansicht, dass die Gedenkstätte der Sozialisten »der ge- eignete Ort« wäre, »um auch der namentlich bekannten so- wie der noch unbekannten Opfer des Stalinschen Terrors zu gedenken« 10. Diese Vorgeschichte wurde später von all denen ausgeblendet, für die ein solcher Gedenkstein ausschließlich Ausfluss antikommunistischer »Stalinismus-Demagogie« sein konnte . Dabei war die Idee, den Opfern stalinistischer Willkür ein Denkmal zu widmen, nicht völlig neu . Bereits in seinem Schlusswort auf dem XXII . Parteitag der KPdSU am 27 . Okto- ber 1961 hatte Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ein sol- ches Vorhaben angeregt und sich auf Briefe und Vorschläge alter Bolschewiki berufen . Allerdings bezog sich das beab- sichtigte ewige Gedenken zunächst nur auf die namhaften Partei- und Staatsfunktionäre . Mit der Realisierung sollte das neu zu wählende Zentralkomitee beauftragt werden 11. Wenige Jahre später unter Leonid Iljitsch Beshnew verschwand die- ses Denkmalprojekt von der politischen Agenda . Erst im Ok- tober 1990 konnte die Gesellschaft Memorial auf dem Lub- janka-Platz in Moskau einen »Gedenkstein für die Opfer der

91 Zugespitzt hat das Hartmut Krauss 1994 auf einer Konferenz 1 Siehe dazu u .a .: Heinz Karl, Ein Stein der Provokation und der Verdrängung, in: des Arbeitskreises kritischer Marxistinnen und Marxisten fol- Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Linkspartei .PDS . Februar 2007 (Wortmeldungen auch im Heft 1/2007) .– Jürgen Hofmann, Respekt vor den Op- gendermaßen formuliert: »Anstatt nämlich die Stalinismus- fern gebietet würdige Ehrung, in: Neues Deutschland, 5 . Januar 2007, S . 14 . kritik als verdeckten Antikommunismus zu denunzieren, gilt 2 Zur Geschichte des Zentralfriedhofs und seiner Gedenkstätte der Sozialisten siehe u .a . Joachim Hoffmann, Berlin-Friedrichsfelde . Ein deutscher National- es vielmehr den Stalinismus als effektivste Form des Anti- friedhof, Berlin 2001; Jürgen Hofmann, Zentralfriedhof Friedrichsfelde (Die kommunismus zu begreifen …«13 . Dennoch bleibt in jüngs- Neuen Architekturführer Nr .9 1), Berlin 2006; ders ., Das Grab der Rosa Luxem- ten Wortmeldungen für einige Autoren Stalinismus ein an- burg . Eine Spurensuche auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde, in: Annelies Laschitza und Klaus Gietinger (Hrsg .), Rosa Luxemburgs Tod . Dokumente und tikommunistischer Kampfbegriff, auch »wenn er unter dem Kommentare (Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte 7), Leipzig 2010, S .7 4–90 . Vorwand demokratischer Erneuerung … gebraucht wird« . 3 Siehe Abgeordnetenhaus von Berlin; 12 .W ahlperiode, Drucksache 12/2743 vom 20 . April 1993: Mitteilung zur Kenntnisnahme über die Einrichtung einer Fach- Die Kritik am Stalinismus sei eine »Entlastungsstrategie« . kommission zum Umgang mit den Denkmälern im ehemaligen Ost-Berlin, S . 9 . Die Stalin-Zeit bleibe »die Zeit ungeheurer Erfolge beim Auf- 4 Siehe DIE LINKE .PDS, 10 .Landespar teitag, 5 .T agung, 10 .Mär z 2007, Arbeits- bau des Sozialismus«, die zunächst herausgearbeitet werden material, S .14 . 5 Michael Nelken, Schwierigkeiten einer Emanzipation . Zur Stalinismusdebatte müssten, »bevor wir zur Feststellung von Unrechtshandlun- in der PDS, in: Lothar Bisky/Jochen Czerny/Herbert Mayer/Michael Schu- gen, Verbrechen und Fehlentwicklungen und zur Erforschung mann (Hrsg ),. Die PDS – Herkunft und Selbstverständnis, Berlin 1996, S .66– 14 86 (hier S .7 1) . Siehe auch im gleichen Band die Berichte von Horst Helas zur ihrer Ursachen übergehen« . Stalinismusdebatte in der PDS und von Wladislaw Hedeler zur Stalinismusfor- schung in Russland . Selbstverständlich ist nicht zu leugnen, dass das Stalinismus- 6 Siehe u .a . Kurt Gossweiler, Der »moderne Revisionismus« und die Niederlage des Sozialismus – Eine Thesenreihe, in: Weißenseer Blätter, Berlin 1992, H .4 . etikett gern zur pauschalen Diskriminierung kommunistischer 7 Siehe dazu Jürgen Hofmann, Bruch mit dem Stalinismus . Rückblick auf eine und sozialistischer Parteien und Bewegungen in Vergangen- notwendige Debatte, in: Klaus Kinner (Hrsg ),. Linke zwischen den Orthodoxi- 15 en, Berlin 2011, S . 48–62 . heit und Gegenwart missbraucht wird . Deshalb auf die Aus- 8 Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS . Materialien, S . 55 . einandersetzung mit dem Stalinismus und ein eigenes kri- 9 Siehe Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS . Protokoll der Beratungen am tisches Verständnis der damit verbundenen Erscheinungen 8 /9. . und 16 /17. .Dezember 1990 in Berlin . Hrsg . von Lothar Hornbogen/Det- lef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan, Berlin 1999, S .222 . und Probleme zu verzichten, führt zurück zu Zeiten, in denen 10 Siehe Für eine allen Sozialisten geweihte Gedenkstätte . ND-Interview mit Prof . Themen nicht benannt wurden, weil sie »dem Gegner nutzen« Dr . Heinz Voßke, in: Neues Deutschland vom 2 /3. . Dezember 1989 . – Heinz Voßke, Unsere Blumen auf den Gräbern, in: Ebenda vom 6 ./7 . Januar 1990, konnten . Das wäre faktisch eine Rückkehr zu einem stalinisti- S .9 . Siehe auch Herbert Wolfgram, Münzenberg und Kreikemeyer demnächst schen Selbstverständnis . in Friedrichsfelde? In: Junge Welt vom 5 ./6 .Dezember 1998 . 11 Siehe Schlusswort und Schlussansprache N . S . Chruschtschows auf dem XXII . Parteitag der KPdSU . Resolution des XXII . Parteitages zum Rechenschaftsbe- Initiativen, die eine Würdigung der zu Unrecht Diskriminier- richt des Zentralkomitees der KPdSU . Oktober 1961, Berlin 1961, S . 31 . Die ten und Verfolgten zum Ziel haben, werden auch künftig den SED-Führung sah keinen Anlass für ähnliche Schlussfolgerungen, da unter ih- ren Bedingungen »kein Personenkult entstehen« konnte und angeblich »einzel- Diskussionen um den Stalinismus-Begriff und seine histori- ne Überspitzungen … rechtzeitig und im Vorwärtsschreiten korrigiert« wurden . sche Verortung nicht ausweichen können . Der Verweis auf Siehe Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd . VIII, eine fehlende allgemein anerkannte Definition hilft da nicht Berlin 1962, S .500 . 12 Siehe Stefan Creuzberger, Stalinismus und Erinnerungskultur, in: Aus Politik weiter, zumal es zahlreiche Angebote zur Begriffsbestim- und Zeitgeschichte, 61 .Jg ,. Nr .46–50/2011, S . 44 f . mung gibt . Darunter sind auch viele Autoren, die der mar- 13 Hartmut Krauss, Stalinismusdiskussion ohne Begriff? Oder Verweigerung ei- ner begreifenden Analyse des Stalinismus, in: Glasnost-Archiv (zitiert nach: xistischen Denktradition und den Sympathisanten linker Be- www glasnost. .de/autoren/krauss/stalin1 html. . Ausdruck vom 5 .Mai 2008) . wegungen und Organisationen zuzuordnen sind .16 Etliche 14 Hans Heinz Holz, Erklären, nicht verharmlosen, in: Junge Welt vom 14 . März scheinbar theoretische Erörterungen haben für die Erinne- 2011, S . 10 . Es handelt sich dabei um einen Vorabdruck aus seinem Buch Theorie als Materielle Gewalt . Die Klassiker der III . Internationale, Berlin 2011 rungs- und Gedenkkultur unmittelbar praktische Relevanz . (Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie; 2) . So entscheidet die Frage, ob mit Stalinismus nur die Schau- 15 Einen Überblick über bisher vorhandene Erinnerungsorte und ihre teilweise zwiespältigen Widmungen in der Bundesrepublik Deutschland bietet Anne Ka- prozesse und Repressionswellen unter Stalin in der So- minsky (Hrsg ). , Orte des Erinnerns . Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Muse- wjetunion gefasst werden sollen oder ob darunter ein die en zur Diktatur in SBZ und DDR, Bonn 2007 . Gesellschaft prägendes System mit nachhaltigen Langzeit- 16 Siehe aus den letzten Jahrzehnten u .a . Heinz Kühnrich, Stalinismus . Der Autor im Gespräch mit Jürgen Weidlich, Berlin 1990; Wladislaw Hedeler/Horst He- wirkungen zu verstehen ist, darüber, welche Zeiträume, Er- las/Dietmar Wulff, Stalins Erbe . Der Stalinismus und die deutsche Arbeiter­ eignisse und Personen Gegenstand unserer Erinnerung sein bewegung, Berlin 1990; Schauprozesse unter Stalin 1932–1952 . Zustande- kommen, Hintergründe, Opfer . Mit einem Vorwort von Horst Schützler, Berlin müssen oder besser sein sollten . 1990; Wolfgang Ruge, Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Ge- schichte, Berlin 1991; Heinz Niemann, Vorlesungen zur Geschichte des Stali- Jürgen Hofmann nismus, Berlin 1991; Gerhard Lozek,: Stalinismus – Ideologie, Gesellschafts- konzept oder was? Klartext . H. 4, hrsg . von Helle Panke e. V ., Berlin 1993; Wolfgang Gehrke (Hrsg .), Stalinismus . Analyse und Kritik . Beiträge zu einer Debatte, Bonn 1994; Zur Stalinismus-Debatte . 50 Jahre nach dem XX . Partei- tag der KPdSU . Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der Linkspartei .PDS vom Febr . 2006 (http://archiv2007 .sozialisten .de/par- tei/geschichte); Karl-Heinz Gräfe, Es kommt auf die Definition an, in: Neues Deutschland vom 4 . August 2006; Thomas Marxhausen, Stalin, Stalinismus, Stalinismen . Ein Beitrag zur Sozialismusdebatte, hrsg . von »Helle Panke« Ro- sa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Berlin 2009 (Philosophische Gespräche . H .1 3) .

92 Mit der »Reichstagsbrandverordnung« wurden mit einem Schlag die Grundrechte suspendiert .

93 BERICHTE UND INFORMATIONEN

94 95 96 97 98 99 100 101 102 Adam König ist tot

Wenige Wochen vor seinem 90 . Geburtstag ist das älteste breit gefächert . Adam König sollte erklären, wie ein Mensch Mitglied unserer Bundes-Arbeitsgemeinschaft Rechtsextre- solche Torturen überhaupt ertragen konnte . Und es war sein mismus/Antifaschismus verstorben . Standpunkt gefragt, warum ihn aktuelle rechtsextremistische Adam König hat an den Beratungen unseres Verbundes ak- Vorfälle nicht schreckten und was dagegen zu tun sei . tiv teilgenommen und seine Meinung dort kundgetan . Dabei schöpfte er aus den Erfahrungen seines reichen, konfliktrei- Von Adam König konnte man lernen, über Geschehnisse und chen Lebens . Und immer konnte er sich dabei auf ganz aktu- Personen keine vorschnellen Urteile zu fällen . Oft hat er im elle Begegnungen mit jungen Menschen berufen, die ihm be- Konzentrationslager Solidarität von Menschen erfahren, die sonders am Herzen lagen . von den Nationalsozialisten willkürlich in andere Häftlings- kategorien eingeteilt worden waren als ihn, den jüdischen Der ehemalige jüdische Häftling des Konzentrationslagers politischen Häftling . Er hatte zugleich differenzierte Ansich- Sachsenhausen hat auch die Zwangsarbeit in Auschwitz für ten über den Erfolg der Anstrengungen im gegenwärtigen den Chemiekonzern IG Farben überlebt . Begegnungen mit Deutschland, mit den Verbrechen an den europäischen Ju- anderen ehemaligen Zwangsarbeitern des Lagers Buna-Mo- den umzugehen . Diese Fähigkeit unterschied ihm von Mode- nowitz waren für ihn Quelle des Erinnerns an tote Leidens- trends des Umgangs mit Geschichte – aber auch von einsei- gefährten wie des Gedankenaustauschs mit anderen Davon- tigen Urteilen von Menschen seiner Generation . gekommenen . Nicht nachzulassen in den Anstrengungen im Kampf gegen Unermüdlich hat Adam König in der Gedenkstätte Sachsen- Rechtsextremismus – das ist wohl ganz im Sinne von Adam hausen und anderswo aus seinem Leben erzählt . Geduldig, König . stets ruhig und freundlich hat er jede Frage beantwortet . Das Spektrum dessen, was Jüngere von ihm wissen wollten, die re- Sprecherrat der Bundes-Arbeitsgemeinschaft Rechtsextre- spektvoll, sensibel und doch drängend um Auskunft baten, war mismus/Antifaschismus beim Vorstand der Partei DIE LINKE

Angelica Balabanoff Lenin oder: Der Zweck heiligt die Mittel Hrsg. von Jörn Schütrumpf 192 Seiten, Klappenbroschur, 22,00 Euro ISBN 978-3-320-02288-4

Den Emigranten Lenin lernte Angelica Balabanoff 1906 in Zürich kennen. Es war die Zeit, als der spätere Faschistenführer Benito Mussolini noch zum Freundes-

kreis der in Russland geborenen Führerin der italienischen Sozialisten gehörte. dietz berlin Angelica Balabanoff geriet mit Lenin nicht zuletzt als Organisatorin der Zimmer- walder Konferenzen gegen den Ersten Weltkrieg immer wieder aneinander: Sie wollte die Sozialistische Internationale, in deren Büro sie bis 1914 neben Rosa Luxemburg, August Bebel, Jean Jaures und Lenin mitgearbeitet hatte, erneuern, Lenin wollte die Internationale spalten … Im revolutionären Russland arbeiteten Lenin und Angelica Balabanoff nach 1917 zusammen, bis sie 1921 freiwillig ausreiste. Doch erst die Niederschlagung der ungarischen Revolution im November 1956 überzeugte Angelica Balabanoff, dass das Sowjetsystem auch auf längere Sicht keinen Sozialismus freisetzen könne. Das bewog sie, ihr Schweigen über Lenin zu brechen.

103 Am 25 . Juni 1933 überfällt die SA den sozialdemokratischen »Vorwärts« in Berlin . Das Bild zeigt SA und Polizei nach dem Überfall .

Schutzpolizei nach der Erstürmung des Karl-Liebknecht-Hauses .

104 Terror gegen Nazigegner in Chemnitz, März 1933 .

Appell in dem frühen Konzentrationslager Oranienburg, Frühjahr 1933 .

105 »Das Kartell der Verharmloser« – Wie deutsche Behörden systematisch rechtsextremen Alltagsterror bagatellisieren

»In vielen Städten existiert eine Kultur des Wegschauens: Die denfeindlicher und neonazistischer Angriffe bis zu rassisti- Opfer werden in ihrer Notsituation allein gelassen, die Täter schen Äußerungen seitens der herbeigerufenen Polizisten hingegen erfahren Solidarisierung und können dadurch im- und gar Täter-Opfer-Umkehr . Auch Bürgerinnen und Bürger, mer mehr gesellschaftlichen Raum besetzen . Wer das Nazi- die sich gegen Neonazis engagieren, fühlen sich oft im Stich Problem offen anspricht, trifft dagegen auf Abwehr, wird gar gelassen . Die 30seitige Broschüre beschreibt das Problem in als ›Nestbeschmutzer‹ diffamiert«, konstatiert die Politolo- mehreren Beispielen und kann auf der Webseite der Stiftung gin Marion Kraske im Einstieg in der Broschüre, die jüngst als pdf-Datei heruntergeladen werden: von der Amadeo-Antonio-Stiftung herausgegeben wurde . In acht Bundesländern recherchierte die Autorin wie Polizei und http://www amadeu-antonio-stiftung. de/aktuelles/das-kar. - Politik mit Rassismus, Antisemitismus und anderen Diskri- tell-der-verharmloser/ minierungsformen umgehen . Das Bild, was sich ihr bot, ist erschreckend . Die Spanne reicht von Verharmlosung frem- Julia Wiedemann

Vorwärts, Nr . 423, 8 .9 .1932, S .1

106 Eine gelungene Symbiose. 25 Jahre »Topographie des Terrors«

Vor nunmehr 25 Jahren rückte im Zentrum Berlins, in unmit- te entstand, der heute weltweit bekannt ist . Aktivisten des telbarer Mauernähe, ein geschichtsträchtiger Ort (wieder stär- Vereins Aktives Museum Widerstand kommen zu Wort . Die ker) in das Blickfeld der Öffentlichkeit . In den Dienstgebäuden vielfältigen Konflikte um die bauliche Umsetzung des inhaltli- von Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt war seit Ja- chen Konzepts für das Zentrum, die zeitweilig gar zur Gefähr- nuar 1933 der Mord an den europäischen Juden geplant und dung des ganzen Projekts führten, werden nachgezeichnet . organisiert worden . Von hier wurden die Instruktionen erteilt, jeglichen Widerstand gegen das Regime des Nationalsozialis- Die Dokumentation zeigt auch: Alle Beteiligten waren auch mus mit beispielloser Gewalt zu unterdrücken – zuerst das deshalb zum Erfolg verpflichtet, weil die internationale Bla- Aufbegehren von Deutschen verschiedenster Weltanschau- mage, dass man sich in Deutschland und Berlin mit der Erin- ung oder politischen Engagements, schließlich von Menschen nerung an die nationalsozialistischen Haupttäter immer noch in allen Ländern, die im 2 .W eltkrieg besetzt wurden . Das Bild so schwer tat, augenfällig geworden wäre . von der Spinne, das von diesem Ort aus ihr todbringendes Netz über Europa ausbreitete, ist stimmig . Das Dokumentationszentrum Topgraphie des Terrors ist heu- te ein Besuchermagnet für Berliner und Berlin-Besucher . Zum Geleit dieser Schrift erinnern Andreas Nachama, der Ge- Wechselnde Ausstellungen und zahlreiche Veranstaltungen schäftsführende Direktor der Stiftung Topographie des Ter- prägen das Bild von einem lebendigen Lern-Ort . rors und Christine Fischer-Defoy als Vorsitzende des Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin e .V . an par- Der Ratschlag diesmal: unbedingt kaufen, lesen und weiter alleles und schließlich gemeinsames Handeln . 25 Jahre bür- empfehlen . Ein besseres Souvenir kann man von hier nicht gerliches Engagement – oft mit ungewöhnlichen Mitteln prak- mit nach Hause nehmen . Und: Man hat ein Hilfsmittel für ste- tiziert – sowie die Beharrlichkeit von Wissenschaftlern und tes Erinnern . Politikern führten schließlich zum Erfolg . Horst Helas Matthias Haß zeichnet chronologisch den Weg bis zur Eröff- nung des Dokumentationszentrums Topographie des Terrors Mathias Haß: Das Aktive Museum und die Topographie im Mai 2010 nach . Dem Text beigegebene Fotos belegen, wie des Terrors, Bd .4 der Notizen der Stiftung Topographie aus einer baulichen Brache schrittweise ein Erinnerungsstät- des Terrors, Hentrich & Hentrich Berlin 2012

107 Jetzt erst recht Anschläge auf Wahlkreisbüros nehmen weiter zu – aber einschüchtern lassen wir uns nicht

In der Nacht vom 11 . zum 12 .Juni wurde auf das Büro der Par- zuschüchtern . Mittlerweile werden häufiger auch auf Büros tei DIE LINKE in Gera ein Anschlag mit Sprengmitteln verübt . demokratischer Parteien, vor allem der Partei DIE LINKE, der An den Scheiben des Büros waren Böller oder sprengstoff- SPD und der GRÜNEN Anschläge verübt . Farbbeutel, rechts- haltige Patronen mit Klebeband befestigt und angezündet extreme Schmierereien, Buttersäure, eingeschlagene Fens- worden . Das Glas der Eingangstür sowie ein weiteres Fenster terscheiben . wurden dabei zerstört . Das Wahlkreisbüro der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke In der Nacht zum 22 . August wurde ein Anschlag auf das (DIE LINKE) wurde bereits sechs mal attackiert . Ebenso war Wohnhaus des LINKE-Bezirkspolitikers Hans Erxleben in Trep- das Wahlkreisbüro der LINKEN von Wulf Gallert und Eva von tow-Köpenick verübt . Unbekannte sprengten den Briefkasten Angern in Magdeburg bereits zum sechsten Mal in diesem mit Böllern und warfen mit Steinen die Fensterscheiben ein . Jahr Ziel eines Anschlags . Für 2011 zählt der Verfassungs- Erxleben ist seit vielen Jahren in seinem Bezirk engagiert ge- schutz in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt 46 Übergif- gen Rechtsextremismus und in zahlreichen Bündnissen aktiv . fe mit Sachbeschädigung auf Wahlkreisbüros der im Landtag In derselben Nacht war das Büro der SPD-Jusos in Oberschö- vertretenen Parteien . neweide angegriffen worden . Nicht nur die Zahl der Anschläge steigt, auch die Aggressivi- tät scheint zu zunehmen . Schon mehrfach kam in diesem Jahr In der Nacht vom 26 . auf den 27 . August werden erneut auf auch Sprengmaterial zum Einsatz . Die Täter sind oft schwer zwei Büros der SPD . Scheiben wurden eingeschlagen, eine zu ermitteln . teerartige Flüssigkeit verteilt und die Worte »Rache für Dort- mund« an die Fassade gesprayt . Wenige Tage zuvor waren Diese Anschläge sind weit mehr als Sachbeschädigung . Sie durch den SPD-Innenminister in Nordrhein-Westfalen Ralf Jä- sind gezielte Einschüchterungsversuche und ein Angriff auf ger die »Kameradschaft Aachener Land«, der »Nationale Wi- die Demokratie . Doch Fakt ist: mit dieser Taktik erreichen derstand Dortmund« und die »Kameradschaft Hamm« verbo- die Neonazis nur das Gegenteil: Die Solidarisierung mit den ten worden . Betroffenen und die Schärfung der Wahrnehmung des Prob- lemfelds Rechtsextremismus . Wir machen weiter, jetzt erst Anschläge wie diese sind keine Einzelfälle mehr . Seit Jah- recht und sowieso! ren versuchen Neonazis mit Angriffen auf zivilgesellschaft- liche Projekte und Initiativen gegen Rechts ihre Gegner ein- Julia Wiedemann

108 R eZENSIONEN und Annotationen Basisdemokratie und Arbeiterbewegung Eine Veröffentlichung zu einer bislang vernachlässigten Problematik Basisdemokratie und Arbeiterbewegung. Günter Benser zum 80. Geburtstag Hrsg. von Rainer Holze und Siegfried Prokop. Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2012, ISBN 978-3-320-02272-3, 288 Seiten, Broschur, 19,90 Euro.

Im Januar 2011 haben die »Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin ten kann naturgemäß nur ein recht grober Überblick über die und Brandenburg« gemeinsam mit dem »Förderkreis Archi- Thematik gegeben werden, zahlreiche sehr wichtige und in- ve und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung« teressante Problematiken können – wenn überhaupt – nur anlässlich des 80 . Geburtstages des weit über die Grenzen ganz kurz angerissen werden . Aber auch wenn Benser viele Deutschlands und der Kenner seines Fachgebietes bekann- Problematiken nur kurz anreißt, so ist schon alleine diese ihre ten Historikers Günter Benser in Berlin ein wissenschaftliches Benennung wichtig – und sie macht deutlich, wie viele wei- Kolloquium durchgeführt . Vor den etwa 120 TeilnehmerInnen tere Forschungsaufgaben nicht lediglich für HistorikerInnen haben dort HistorikerInnen aus der BRD und aus Polen Vor- hier immer noch vorhanden sind . Nachdem Benser auf die träge zu dem Thema »Basisdemokratie und Arbeiterbewe- Bedeutung der Thematik Basisdemokratie hinsichtlich sei- gung – Erfahrungen und Vermächtnis« gehalten . ner eigenen wissenschaftlichen Biographie eingegangen ist In dem Band »Basisdemokratie und Arbeiterbewegung« sind (S . 24 ff .) weist er darauf hin, dass das Spannungsverhält- jetzt sowohl die Beiträge des Kolloquiums als auch einige wei- nis zwischen sozialer Gerechtigkeit und politischer Demokra- tere zu der Thematik veröffentlicht worden . Zu Recht weisen tie, zwischen repräsentativer und direkter Demokratie sowie in ihrem Vorwort (S .9 ff .) die beiden Herausgeber Rainer Hol- zwischen spontanem Handeln und institutionellen Hierarchi- ze und Siegfried Prokop eingangs darauf hin, dass dem Span- en sehr weit in die Geschichte zurückreiche . Es sei eigent- nungsverhältnis von Basisdemokratie und ArbeiterInnenbe- lich schon so alt wie der in der Antike entstandene Begriff wegung nicht nur eine hohe Aktualität innewohnt, sondern der Demokratie (S .27) . Die entscheidende Frage lautet nach dass diese Problematik zugleich auch viel mit der wissen- Ansicht Bensers generell stets: »Wie und wo können in ei- schaftlichen Biographie von Günter Benser zu tun hat (S . 9), nem Gemeinwesen gravierende Entscheidungen sachkompe- worauf dieser später auch selber explizit hinweist (S . 25 ff ). . tent, im Allgemeininteresse bei Respektierung der Belange Günter Benser ist der erste und zugleich auch der letzte Di- von Minderheiten mit hoher Transparenz am zweckmäßigsten rektor des Berliner »Instituts für Geschichte der Arbeiterbe- getroffen werden .« (S . 27 f .) . Als ein in der materialistischen wegung« gewesen . Dieses ist im Dezember 1989 aus dem Tradition stehender Wissenschaftler geht Benser auch dar- »Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der auf ein, dass Herrschaftsverhältnisse und somit die Demo- SED« (IML) hervorgegangen . In diesem IML hat Benser über kratieproblematik aufs engste mit der Entfaltung der Produk- dreißig Jahre geforscht und dort zuletzt als stellvertretender tivkräfte, der Gestaltung der sozialen Verhältnisse und der Leiter der Abteilung Geschichte der deutschen Arbeiterbewe- demographischen Entwicklung verbunden sind (S . 28 .) . Sei- gung von 1945 bis zur Gegenwart gearbeitet . In seiner Lau- nen eigentlichen analytischen historischen Überblick beginnt datio (S . 11 ff ). skizziert Siegfried Prokop zunächst knapp die er anschließend dann mit einer Untersuchung der Situation in wichtigsten Etappen des wissenschaftlichen und politischen Athen zu Zeiten Perikles vor zweieinhalbtausend Jahren und Lebenswegs des Jubilars . Die anschließend folgenden nicht führt ihn beispielhaft anhand mehrerer bedeutender histori- nur lobenden, sondern durchaus auch kritischen Erinnerun- scher Ereignisse bis zur Gegenwart fort (S .28 ff .) . Dabei kriti- gen des Kasseler Historikers Dietrich Staritz an einige Begeg- siert Benser zugleich gängige Geschichtsbilder . nungen mit Benser seit 1964 (S. 17 ff ). sind eine sinnvolle und Im Anschluss an den historischen Überblick von Günter Ben- interessante Ergänzung zu dem Beitrag von Prokop – nicht ser wird die Thematik des Spannungsfeldes zwischen Arbei- zuletzt weil sie am Beispiel Günter Bensers einige Einblicke terbewegung und Basisdemokratie in vier thematisch-chro- in die oftmals komplizierte Arbeits-Situation von Historikerin- nologischen Bereichen durch einzelne Fallstudien vertieft nen in der damaligen DDR geben . behandelt . Walter Schmidt beleuchtet im ersten Komplex, der Den Hauptvortrag auf dem Kolloquium »Basisdemokratie ges- sich mit Problem- und Konfliktlagen in der deutschen Arbei- tern, heute und morgen« hat Günter Benser selber gehalten terbewegung bis zum Beginn des 20 . Jahrhunderts beschäf- (S .24 ff .) . Auch in dem Sammelband ist der Beitrag von Ben- tigt, zunächst basisdemokratische Elemente der Revolution ser zwar der umfangreichste, aber auf nicht einmal 30 Sei- während der Jahre 1848/1849 in Deutschland (S . 53 ff .) . Im

109 Anschluss skizziert Ralf Hoffrogge anschaulich und kritisch jeweiligen Basis von KPD und SPD zunächst breite Resonan- die sich wandelnden Sozialismuskonzeptionen innerhalb der zen gefunden haben . Zugleich behinderten die US-amerikani- deutschen ArbeiterInnenbewegung während der Jahre 1848 schen Autoritäten z .T . massiv die Vorbereitungen einer Her- bis 1920 (S .63 ff .) . Manfred Neuhaus zeigt unter Verweis auf stellung der Einheitspartei durch Schikanen und Verbote . den MEGA2-Band 22/I sehr kurz auf, welche Bedeutung die Fünf anschließend folgende Studien zum Komplex des Um- Schrift von Karl Marx »Der Bürgerkrieg in Frankreich« für die bruchsjahrs 1989/1990 finden sicherlich ein besonderes In- ArbeiterInnenbewegung gehabt hat, und unter welchen Be- teresse der LeserInnen . Stefan Bollinger geht hier in seinem dingungen sie entstanden ist (S . 81 ff .) . In seinem Beitrag Beitrag (S . 167 ff .) der Frage nach, welche geschichtlichen über das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Demokratie Erfahrungen aus dem Ende der DDR für Basisdemokratie und und zum Deutschen Kaiserreich unterscheidet Hartmut He- die Verteidigung der Rechte von abhängig Beschäftigten ge- nicke (S . 84 ff .) nach einer Darstellung der Demokratieprob- zogen werden können . Kurt Schneider rekonstruiert dann kri- lematik innerhalb der ArbeiterInnenbewegung zwischen den tisch die Programmatik, den Aufstieg und den schließlichen Konzeptionen einer reformsozialistischen auf der einen so- Niedergang der basisdemokratischen Emanzipationsbewe- wie einer linkssozialistischen Strömung auf der anderen Seite gung während der Jahre 1989/1990 in der DDR (S . 180 ff .) . bezüglich deren divergierenden Epochenverständnisse . An- Nach Ansicht Schneiders habe diese Emanzipationsbewe- schließend untersucht er die sozialdemokratische Realpolitik gung einen freiheitlichen Sozialismus angestrebt . Genau- im Machtkampf zwischen Parlament und Oberster Heereslei- so aufschlussreich wie dieser Beitrag ist auch der von Jörg tung . Die Ausführungen Henickes werden durch die Beiträ- Roesler über die Chancen für eine Wirtschaftsdemokratie ge von Gerhard Engel zu dem Demokratiekonzept der Bre- am Ende der DDR (S . 196 ff .) . Außerhalb eines äußerst klei- mer Linksradikalen (S . 98 ff .) sowie von Annelies Laschitza nen Personenkreises ist bis dato sicherlich völlig unbekannt zusammen mit Eckhard Müller als Koautor über das Denken gewesen, was Günther Glaser über einen systemkritischen Rosa Luxemburgs hinsichtlich einer bewussten freien Selbst- Mentalitätswandel und über Aufbegehren an der Basis der bestimmung der Volksmassen (S . 107 ff .) sinnvoll und we- Nationalen Volksarmee zum Ende des DDR zu berichten weiß sentlich ergänzt . Leider bricht die Behandlung des Themas (S . 206 ff .) . Zum Schluss dieses Komplexes schildert Feliks dann jedoch für die durchaus interessante Zeit der Weimarer Tych sehr kritisch den Aufstieg, den folgenden Niedergang Republik abrupt ab . Dabei gibt es gerade auch in der Weima- sowie die gegenwärtige schließliche weitgehende politische rer Republik zahlreiche Elemente und Beispiele von Basisde- Marginalisierung der polnischen Gewerkschaft Solidarnos´c´ mokratie, wie z .B . die Betriebsrätebewegung zu Beginn der (S . 217 ff .) . Dieser Beitrag ist nicht zuletzt deshalb bedeut- Republik – aber auch mehrere »Arbeiterkartelle« ab 1930 im sam, weil er einer der wenigen Beiträge ist, die einen Blick Kampf gegen den immer stärker werdenden Faschismus in über den deutschen Tellerrand bieten . Außerdem kommt der Deutschland in Form der Nationalsozialisten . Über die politi- Autor bei aller Kritik an der Gewerkschaft Solidarnos´c´ zu dem sche Bedeutung und Wirkungen dieser »Arbeiterkartelle« hat bemerkenswerten Resultat, dass sie heute von einer Mehr- am Beispiel des Kartells in Hechingen der Linkssozialist Wolf- heit der erwachsenen Bevölkerung Polens als jene soziale Be- gang Abendroth, der selber in diesem Kartell sehr aktiv mit- wegung gewürdigt werde, die dazu beigetragen habe, dass gewirkt hat, in seinen Erinnerungen »Ein Leben in der Arbei- ihr Heimatland endlich wieder unabhängig und weitaus de- terbewegung« berichtet . mokratischer als in der Zeit zwischen den beiden Weltkrie- Im Zentrum des zweiten Themenkomplexes steht nach dem gen geworden sei . Ende des Zweiten Weltkrieges das Jahr 1945 . Peter Brandt Im letzten vierten thematischen Komplex wird analysiert, wel- präsentiert eine prägnante Darstellung der Antifa-Bewegung che Vorstellungen und Konzepte innerhalb der ArbeiterInnen- in Deutschland im Frühjahr des Jahres 1945 (S . 125 ff ). . Da- bewegung vom 20 . Jahrhundert bis hin in die Gegenwart be- bei geht Brandt auch auf Kontinuitäten hinsichtlich der Zeit züglich der Thematik Basisdemokratie vorhanden sind . Ulla der Weimarer Republik ein . Da dieser Zeitraum jedoch vor- Plener präsentiert hier vier sehr anregende, aber sicherlich her nicht in eigenen Beiträgen thematisiert worden ist, blei- auch diskussionswürdige Thesen zum Thema »Basisdemokra- ben Kontinuitäten und Brüche letztlich etwas im luftlehren tie und Arbeiterbewegung – Erfahrungen und Vermächtnis« Raum hängen . Es folgen Untersuchungen von Rolf Badstüb- (S . 224 ff .) . Gisela Notz stellt anschließend basisdemokrati- ner über die Freiräume für Basisaktionen unter der alliierten sche Wirtschaftsmodelle, darunter die Kommune Niederkau- Besatzungsherrschaft (S .1 33 ff ),. von Heinz Niemann zur Fra- fungen, vor . Der in der Traditionslinie der »Kommunistischen gestellung, warum es weder zu einer sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Opposition)«, der von der damaligen noch zu einer radikaldemokratisch-sozialistischen basisde- KPD als vermeintlich »rechts« verschrienen KPD(O) stehende mokratischen Neugründung einer Einheitspartei gekommen Veteran der ArbeiterInnenbewegung Theodor Bergmann geht ist . Mit der letztgenannten Thematik beschäftigt sich auch auf das oftmals ambivalente Verhältnis der kommunistischen Reiner Zilkenat . Er kann in seinem Beitrag (S .1 50 ff .) am Bei- Bewegung zur bürgerlichen Demokratie und zum Faschismus spiel des Berliner Stadtbezirks Neukölln aufzeigen, dass Be- ein (S .248 ff .) . Mit Wolfgang Abendroth (S .258 ff ). und Erich strebungen zur Konstituierung einer Einheitspartei an der Gerlach (S . 269 ff .) werden im Anschluss daran durch den

110 Autor dieser Rezension sowie durch Gregor Kritidis zwei der wohl bedeu- tendsten Vordenker und Protagonisten von direkter Demokratie und Mitbe- stimmung vorgestellt . Den gewiss aktu- ellsten Beitrag unter dem Titel »Weltre- volution via World Wide Web . Was den tunesischen Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit dem deutschen Erfinder Konrad Zuse verbindet« steuert Karlen Vesper-Gräske zu dem Tagungsband bei (S .274 ff .) . Nach Ansicht der Autorin ha- ben die Mikroelektronik und das World Wide Web nicht nur ein qualitativ neues Stadium der internationalen Geschäfts- tätigkeit und der globalen Kommuni- kation bewirkt, sondern auch bislang völlig ungeahnte Perspektiven für Par- tizipation und Mitbestimmung eröffnet . Und seit dem »Arabischen Frühling« sei die demokratische Online-Community eine Macht . Auch wenn die Einschät- zungen der Autorin über die politischen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem »Arabischen Frühling« angesichts der aktuellen Entwicklungen etwas zu optimistisch erscheinen, so ist die von ihr wieder thematisierte Vision eines »Computer Sozialismus« hochaktuell . Der Sammelband ist eine verdienstvol- le und weitere Forschungen zu der Pro- blematik anregende Veröffentlichung der beiden Herausgeber, die durch de- ren sehr sorgfältige Editionsarbeit zu- sätzlich noch gewinnt . Beeindruckend ist die umfangreiche, einige hundert Ti- tel umfassende Auswahlbibliographie des wissenschaftlichen Wirkens von Günter Benser . Kritisch kann allenfalls angemerkt werden, dass in dem Band bedauerlicherweise ein Personen- und Sachverzeichnis fehlt . Dadurch wäre die Arbeit mit dem Band noch effekti- ver gewesen .

Andreas Diers

Gelöbnis der »Antifaschistischen Aktion«, 1932 .

111 112 Berliner Verkehrsarbeiterstreik, 3.–7. November 1932 Sonderheft der Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin 2012, 36 Seiten

Im Mittelpunkt des Sonderheftes erinnern zwei Texte von aus seinem »Vorlass« und liest sich wie ein zeitgenössischer Henryk Skrzypczak an den Berliner Verkehrsarbeiterstreik vor Text . Er beeindruckt, weil er den Akteuren »ein Gesicht« gibt . 80 Jahren . Die Texte beruhen auf Quellen basierten Forschun- Der Leser fühlt sich zunächst unmittelbar in Berlins Haver- gen des sachkundigen und leidenschaftlichen Zeithistorikers, land Festsäle versetzt und als Teilnehmer der hitzigen De- der alle Akteure in den Blick nimmt . Dem Herausgeber Reiner batten in Vorbereitung des Streiks . Ebenso nimmt er an der Zilkenat erscheint die erneute Edition von Skrzypczaks Text Kabinettssitzung in der Reichskanzlei teil, die Herr von Papen »›Revolutionäre‹ Gewerkschaftspolitik in der Weltwirtschafts- konsterniert mit dem Hinweis auf den »Ernst der Lage« in Ber- krise . Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik 1932« nach dreißig lin eröffnet . Anschließend findet sich der Leser im Roten Rat- Jahren sinnvoll und gerechtfertigt, weil Henryk Skrzypczaks haus wieder und wird Zeuge der »Verhandlungen« der Herren Behandlung des Themas bis heute aus dem »Rahmen des Ge- der BVG-Direktion und der Gewerkschaft . Auch das »Schein- wohnten« fällt . gefecht« des Tarifunterhändlers wird ihm nicht vorenthal- ten . Ein Einblick in das »Räderwerk der Schlichtungsfabrik« Dem Sonderheft voran stellt Zilkenat eine pointierte Einfüh- schließt sich an, gefolgt von erschütternden Schilderungen rung mit zahlreichen Anmerkungen, die dem Leser eine aus- der nächtlichen Kämpfe auf den Berliner Straßen – Martin- führliche und kundige Quellenübersicht zum Thema darrei- Luther-Straße Ecke Belziger, die Kreuzung Hauptstraße Ecke chen . Zumal in einer Zeit der zugespitzten ökonomischen und Vorbergstraße und Hauptstraße Ecke Eisenacher . Es war der sozialen Krise, in der Reichstagswahlen unmittelbar vor der verdiente Historiker Gerhard Beier, der den Autor ermutigte, Tür standen . Der Arbeitskampf der Berliner Verkehrsarbeiter seine Aktenstudien unbedingt weiter zu führen und auch die- im November 1932 wurde von Beginn an in besonderer Wei- sen besonderen Stil zu pflegen . Die Leser würden es ihm dan- se politisch instrumentalisiert und kam »viel besprochen« als ken . Dem kann ich als Rezensentin nur zustimmen . zeitgenössisches und historisches Ereignis daher – nicht nur in den Medien, sondern auch in den Geschichtsbüchern . Kol- Der zweite Aufsatz von Henryk Skrzypczak erschien zum portiert wurde das »Zusammengehen« von KPD und NSDAP 50 . Jahrestag der Berliner Ereignisse in den damaligen »Ge- in diesem Arbeitskampf als Wasser auf die Mühlen einer Tota- werkschaftlichen Monatsheften« . Zilkenat lobt ihn als ge- litarismusdoktrin, die Faschisten und Kommunisten gleicher- glückten Versuch, die Debatten um den BVG-Streik 1932 in maßen als Feinde der Demokratie brandmarkt . ein »sachliches Fahrwasser« geführt und neuerliche Instru- mentalisierungen der Thematik zurückgedrängt zu haben . Es folgt der tagebuchartig verfasste Text von Henryk Skrzyp- Den Abschluss bilden biografische Notizen zu Henryk Skrzyp- czak »Fragmentarisches zum Berliner Verkehrsarbeiterstreik czak . 1932« . Hier dokumentiert ein Wissenschaftler mit Kopf und Herz den chronologischen Ablauf des Streiks . Der Text stammt Marga Voigt

113 114 115 Der »wiederentdeckte« Arbeiterwiderstand Hans Coppi, Stefan Heinz (Hrsg.): Der vergessene Widerstand der Arbeiter. Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter, Karl Dietz Verlag, Berlin 2012, 384 Seiten, 24.90 Euro.

Zur Geschichte des antifaschistischen Widerstandes scheint amt« vorzusprechen und mit dem Hinweis auf »kriegswich- alles Wesentliche gesagt worden zu sein . Mittlerweile füllen tige« Tätigkeiten seiner Arbeiter, manche von ihnen vor der Monographien zu dieser Thematik ganze Bibliotheken . Doch Deportation zu bewahren . Nahezu unglaublich erscheint sei- ein von Hans Coppi und Stefan Heinz herausgegebener Sam- ne Fahrt nach Auschwitz-Birkenau, um die Verwaltung des La- melband zum »vergessenen Widerstand der Arbeiter« ver- gers davon zu überzeugen, seine inhaftierte Sekretärin Alice deutlicht, dass vornehmlich aus »geschichtspolitischen« Licht aus dem Vernichtungslager zu entlassen . Weitgehend Gründen nach wie vor große Forschungsdesiderate existie- unbekannt dürfte Weidts Verwurzelung im Anarchismus sein . ren . Worum geht es? Wenn er sich auch nach dem Ersten Weltkrieg aus den organi- Der 2011 verstorbene Leipziger Historiker Werner Bramke satorischen Zusammenhängen der Anarchisten gelöst hatte, bringt es in seinem Beitrag »Die öffentliche Erinnerung an so war sein mutiges Handeln in der Nazizeit zugunsten seiner die Verfolgung und an den Widerstand aus der Arbeiterbewe- jüdischen Arbeitskräfte von der Gedankenwelt des Anarchis- gung« auf den Punkt: »Das Hauptinteresse gilt der Förderung mus motiviert: Seine Überzeugung von der Freiheit des In- des Erinnerns an Terror und Widerstand in der DDR, was sich dividuums gegenüber jeglichen staatlichen Autoritäten, sein auch an der materiellen Förderung ablesen lässt «. (S . 300) unerschrockenen Auftreten ihnen gegenüber blieben Kons- Seit 1990 wird von offizieller Seite vieles getan, um in öffent- tanten seines Denkens und Handelns . lich geförderten Gedenkstätten und Publikationen die Dar- Einen erheblichen Neuwert hat die Studie von Dennis Eggin- stellung des Arbeiterwiderstandes zu marginalisieren . Umso ger über den »Roten Stoßtrupp« . Hier kann durch eine umfas- erfreulicher ist es, dass mit dem vorliegenden Band nicht nur sende Auswertung der archivarischen Überlieferungen prä- gegen diesen seit zwei Jahrzehnten dominierenden Trend an- ziser, als es bisher möglich war, die Verbreitung dieser vor geschrieben, sondern Forschungsergebnisse von Historike- allem von oppositionellen Sozialdemokraten gebildeten Or- rinnen und Historikern aus unterschiedlichen Generationen, ganisation sowie die Anzahl und Auflagen der von ihr verbrei- aus »alten« und »neuen« Bundesländern präsentiert werden, teten Schriften nachgezeichnet werden . Der Beitrag von Ste- die den Umfang, aber auch die politisch-weltanschauliche Dif- fan Heinz belegt, dass der Einheitsverband der Metallarbeiter ferenziertheit des Arbeiterwiderstandes verdeutlichen . Dabei Berlins, eine der »revolutionären« Gewerkschaftsgründungen kristallisieren sich viele neue Forschungsergebnisse heraus . der KPD, nach der Machtübertragung an die Nazis weitgefä- So wird z .B . angemessen der Widerstand gewürdigt, der nicht cherte Aktivitäten besonders in den Großbetrieben entfalte- von Mitgliedern der »großen Organisationen« der Arbeiterbe- te, an denen anfangs Hunderte seiner Mitglieder einbezogen wegung, also von der KPD, der SPD und den Freien Gewerk- waren . Wenn auch verständlicherweise in engen Grenzen, so schaften, seinen Ausgang nahm . Mehrere Autoren des Sam- gelingt doch zunächst die Überführung der Organisation in melbandes nehmen Widerstandsgruppen in den Fokus, die die Illegalität und ihre Anpassung an die neuen Kampfbedin- wegen ihres geringen politischen Einflusses in der Weimarer gungen . Interessant ist der Hinweis des Autors, dass sich – Republik oder weil deren Protagonisten in ihren Parteien als entgegen der Anweisungen aus Moskau – der EVMB bis in »Abweichler« galten, bislang nur wenig beachtet worden sind . das Jahr 1935 hinein strikt weigerte, Verbindungen mit sozi- Der Beitrag von Knut Berghauer über Trotzkisten im Wider- aldemokratischen Kollegen aufzunehmen, ja den Zusammen- stand, dargestellt am Beispiel des Ehepaars Walter und Hanna schluss mit ihnen in einer neu aufzubauenden, einheitlichen Herz, demonstriert, dass auch hier überregionale Netzwerke Gewerkschaft anzustreben . Offenkundig waren Sektierertum entstanden und die Verfolgungsapparate des Faschismus gro- und anti-sozialdemokratische Ressentiments in der kommu- ße Mühe hatten, die entsprechenden Aktivitäten aufzudecken . nistischen Arbeiterschaft, »an der Basis«, weit verbreitet und Besonders beeindruckend ist die von Robert Kain verfasste stellten nicht allein das Resultat politischer Kopfgeburten der biographische Skizze über Otto Weidt, der in seiner in Ber- Führungen der KI bzw . der KPD dar . lin-Mitte gelegenen »Blindenwerkstatt« jüdische Arbeitskräf- Den Widerstand der ausländischen Zwangsarbeiter unter- te vor dem Zugriff der Gestapo retten konnte . Dabei scheute sucht Cord Pagenstecher . Etwa 25 Prozent der in der Berliner er nicht davor zurück, mehrfach im »Geheimen Staatspolizei- Kriegswirtschaft tätigen Arbeitskräfte waren ausländischer

116 Herkunft, lebten oft unter elenden Bedingungen, aus denen aber die Studien von Marion Goers über den Widerstand von sie aber immer wieder – im wortwörtlichen Sinne – ausbra- Mitgliedern des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Ber- chen . Viele weigerten sich, in der Öffentlichkeit mit ihren »Ab- lin und von Hans-Rainer Sandvoß über den Widerstand Berli- zeichen« aufzutreten, arbeiteten absichtlich langsam bzw . sa- ner Sozialdemokraten in der damaligen Reichshauptstadt in botierten vereinzelt die Produktion . Organisierten Widerstand der Zeit des Zweiten Weltkrieges, sowie Sven Schneiders Auf- gab es lediglich in geringem Umfang, nur vereinzelt existier- satz über Erich Wollenberg, einen kritischen Kommunisten, ten Kontakte zu deutschen Widerständlern . Obwohl ihre Zahl der als aktiver Widerstandskämpfer in die Mühlen des Stalin- beträchtlich war, funktionierte das System sozialer Kontrolle schen »Großen Terrors« geriet . der Zwangsarbeiter durch die deutschen »Kollegen« in ausrei- In seiner Einleitung schreibt Hans Coppi völlig zutreffend, chendem Maße, so dass eine ernsthafte Gefährdung der NS- dass an Universitäten und Fachhochschulen dieses wichti- Kriegswirtschaft, ganz zu schweigen von einer Gefährdung ge Thema des Arbeiterwiderstandes nicht mehr in Lehre und des faschistischen Machtapparates, nicht entstehen konnte . Forschung verankert sei . Mehr noch: Die Arbeiterbewegung Für den Fall von größeren Aufständen existierten im Übrigen als die größte und bedeutendste Emanzipationsbewegung »Notfallpläne« der Wehrmacht, der Polizei und der Gestapo . des 19 . und 20 . Jahrhunderts ist ein randständiger Untersu- Annette Neumann und Bärbel Schindler-Saefkow untersuchen chungsgegenstand geworden . Auch aus diesen Gründen ist den Widerstand der Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisation von die Publikation der in diesem Sammelband vereinten For- 1942 bis 1945 . Dabei analysieren sie das über viele Regionen schungsergebnisse überaus begrüßenswert und sollte Anlass geknüpfte Netz dieser bedeutenden Widerstandsgruppe, ver- dazu bieten, dass Stiftungen linker Parteien und Organisati- anschaulichen die zu anderen Oppositionellen angebahnten onen, linke Verlage und Zeitschriften, Geschichtswerkstätten Kontakte und kommen zu dem Schluss, dass der Frauenanteil und regionale sowie Schulprojekte zu dieser Thematik (wei- der Organisation bei 25 Prozent gelegen habe . Sie hätten ei- ter)arbeiten und somit den blamablen Zustand der universi- nen eigenständigen Anteil an den Aktivitäten dieser Gruppe ge- tären Geschichtswissenschaft und der vorherrschenden Ge- habt, der sich nicht auf »einfache« Tätigkeiten reduzieren lasse, schichtspolitik bei der Erforschung des Arbeiterwiderstandes um den »eigentlichen« Widerstand der Männer zu unterstützen . wenigstens ein Stück weit kompensieren . Nicht alle Beiträge des Sammelbandes können an dieser Stel- le genannt, geschweige denn referiert werden . Erwähnt seien Reiner Zilkenat

117 Im Dienst für die vermeintliche Heimat Michael Berger – Gideon Römer-Hillebrecht (Hrsg.): Jüdische Soldaten-Jüdischer Widerstand in Deutschland und Frankreich, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, 2012, 572 S.

Im Geleitwort geht Christian Schmidt in seiner Eigenschaft Regime beteiligten . Unter H . Baums Leitung nutzten die Mit- als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminis- streiter jede Möglichkeit als Zwangsarbeiter in der Berliner ter der Verteidigung auf die »grausame Täuschung« der jüdi- Rüstungsindustrie zur Sabotage in der Produktion . Höhepunkt schen Soldaten und Offiziere ein, die aus nationaler Begeiste- ihres Widerstehens war der Brandanschlag auf die NS-Hetz- rung im Ersten Weltkrieg für ihr vermeintliches Vaterland ihr ausstelung im Berliner Lustgarten . In einem aufschlussreichen Leben einsetzten . Ab 1933 wurden sie durch das NS-Regime Biogramm schildert M . Berger, wie Dr . Julius Deutsch über den als »wehrunwürdig« diskriminiert und erbarmungslos ver- Weg als österreichischer Frontoffizier im Ersten Weltkrieg sich folgt . Ch . Schmidt widerspricht in seinem Vorwort der gän- zum General der Interbrigadisten in Spanien entwickelte . gigen Ansicht, dass sich die Juden nicht gewehrt hätten und Unter der Überschrift »Deutsche Juden in der französischen verweist auf die vielfältigen Aktionen gegen die braune Bar- Résistance« geht Peter Fisch der Frage nach, wie deutsche barei, die bis heute ignoriert und unterschätzt werden . Juden zum französischen Widerstand stießen . Er analysiert Der vorliegende Sammelband vereinigt Forschungsbeiträge wie vielfältig und umfangreich er trotz der widrigen Lebens- über den Umgang und die Wertschätzung bzw . über das Ver- verhältnisse der Beteiligten war . Der Autor belegt mit sorgfäl- schweigen der Leistungen jüdischer Soldatinnen und Solda- tig recherchierten Fakten wie es den Antifaschisten gelang, ten in beiden Weltkriegen . Die Aufsätze behandeln die unter- einen bedeutsamen Beitrag gegen das deutsche Besatzungs- schiedlichsten Beiträge jüdischer Bürger, sich als deutsche regime zu leisten . Als Ausgangspunkt bzw . Voraussetzung der Staatsbürger einzubringen . großen Beteiligung deutscher Juden am französischen Wider- Michael Berger schildert das am Beispiel des jüdischen stand sieht P . Fisch in der Tatsache, dass sie als Emigran- Rechtsanwaltes und Abgeordneten Dr . Ludwig Frank aus ten in Frankreich eine neue Heimat gefunden hatten, die sie Mannheim, der als 40jähriger Freiwilliger sich zum Kriegs- nicht kampflos verlieren und nicht in den Vernichtungslagern dienst meldete und fiel . Er belegt in seinem Beitrag, dass die enden wollten . Er belegt und betont, dass von ca . 1000 deut- Kriegsbegeisterung auch alle Bereiche des jüdischen Lebens schen Résistanceangehörigen bis zu 30 Prozent bereits als in Deutschland erfasste . Interbrigadisten in Spanien gekämpft hatten und sich nun er- Gideon Römer-Hillebrecht beleuchtet überzeugend die un- neut an der Seite der französischen Widerstandsbewegung gleiche Emanzipation der Juden in Deutschland und Frank- bewährten . In den »Fallbeispielen zu Norbert Kugler, Leo Kne- reich und geht dabei auf das unterschiedliche Verhalten der ler, Gerhard Leo und Peter Gingold« untersucht P . Fisch die jüdischen Militärangehörigen der beiden Staaten ein . Am ge- unterschiedlichen Beweggründe, die zum Widerstehen ge- meinsamen Widerstand der Juden in den beiden Ländern ge- führt haben . Er erinnert an solche Persönlichkeiten wie Leo gen das NS-Regime untersucht und analysiert der Autor die Kneler, der bereits 1932 als verfolgter Kommunist emigrie- Perspektive als Staatsbürger in Deutschland und Frankreich . ren musste sich in Spanien bewährte und führend an mehre- Er belegt, dass allen jüdischen Organisationen und den deut- ren Attentaten gegen leitende Vertreter der NS-Okkupanten schen Juden seit 1935 bewusst war, dass ihre Emanzipati- in Frankreich beteiligt war . on in Deutschland gescheitert . war . Die jüdischen Bürger in Erstmalig legen die Autoren ein Sachbuch zur Thematik »Jüdi- Frankreich, so der Autor, kämpften angesichts der antise- sche Soldaten – Jüdischer Widerstand« vor, das bisher in der mitischen Gefahr besonders patriotisch gegen die deutsche deutschen Historiografie fehlte . Wehrmacht . M . Berger skizziert eindrucksvoll den Schock der Die vorgestellten Themen und Sachverhalte regen zur wei- Juden in Frankreich, als sie nach der Kapitulation am 22 .Juni teren Erforschung des Anteils jüdischer Militärs und Wider- 1940 ohne Vorgaben und Druck der deutschen Okkupanten ständler im Ringen gegen Faschismus und Krieg an . durch die französische Regierung in Vichy aus dem gesamten Die Publikation ist leserfreundlich in Bezug auf die Fußnoten öffentlichen Leben verdrängt wurden . gestaltet und mit einem umfangreichen Quellen- und Litera- Ferner schildert er an konkreten Beispielen wie der Her- turverzeichnis ausgestattet . bert-Baum-Gruppe, dass jüdische Antifaschisten sich trotz aussichtsloser Position aktiv am Widerstand gegen das NS- Günter Wehner

118 NS-Terrorjustiz as usual1 Wolfgang Fritz, Die Geschichte von Hans und Hedi. Chronik zweier Hinrichtungen, Milena Verlag, Wien 2009, 139 Seiten.

Wolfgang Fritz hat ein erschütterndes und berührendes Buch ihnen zum Verhängnis wurde . Als die Gestapo die Florids- über zwei Menschen verfasst, die völlig unerwartet in die dorfer KommunistInnen Schritt für Schritt verhaftete, fiel bei Mühlen der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz gerieten . den Verhören und Folterungen in der Gestapo-Zentrale in Von den Millionen von Menschen, die während der Herr- Zusammenhang mit dieser Abziehmaschine der Name der schaft des Nationalsozialismus als politische Verfolgte in Schneiders, die postwendend ebenfalls in Haft genommen Konzentrationslagern, Gefängnissen oder bei Pogromen er- wurden . Es kam wie es kommen musste und nach einem mordet wurden, sind uns aufgrund der schieren Masse der- dreiviertel Jahr Haft wurden Hans und Hedi Schneider – ge- artiger Fälle notgedrungen verhältnismäßig wenige individu- meinsam mit den meisten anderen Floridsdorfer Kommunis- elle Schicksale und Leidensgeschichten näher bekannt . Jede tInnen – zum Tode verurteilt und durch Enthauptung hinge- dokumentierte Geschichte ist jedoch ein ungemein wichtiger richtet . Baustein einer essentiellen Erinnerungskultur . Viele Fälle von WiderstandskämpferInnen und politischen DissidentInnen, Wolfgang Fritz rekonstruierte diesen Fall mittels Interviews, die für ihre Überzeugungen ihr Leben riskierten – und die- die er mit Hedis Schwester geführt hat, Originaldokumenten se allzu oft auch verloren – sind spektakulärer Natur . Man- aus diversen Archiven und vor allem mithilfe des regen Brief- che Geschichten kommen jedoch völlig ohne HeldInnen- und verkehrs, der zwischen den Schneiders und Hedis Schwes- MärtyrerInnenpathos aus und sind dennoch bewegend . Die tern zur Zeit ihrer Haft vonstatten ging . Dieser Briefwechsel Geschichte von Hedwig (Hedi) und Johannes (Hans) Schnei- prägt das Buch und schafft bewegende Einblicke in die Ge- der aus Wien ist einer derartige Geschichte, die der Histori- fühls- und Gedankenwelt der beiden Inhaftierten . Besonders ker Wolfgang Fritz aufgearbeitet hat . der Briefwechsel in der Zeitspanne zwischen dem Todesur- teil am 24 . September 1942 und der Hinrichtung am 2 . De- Hans und Hedi Schneider waren keine todesmutigen Wider- zember 1942, den der Autor so gut wie lückenlos – gar bis standskämpferInnen, über die es spektakuläre Geschichten wenige Stunden vor der Hinrichtung – vermochte wiederzu- zu erzählen gäbe . Dennoch ist ihre Geschichte eine, die es geben, ist emotional sehr herausfordernd . Dabei sind die- sich in Erinnerung zu rufen lohnt . Sie waren ein – wie man se Briefe inhaltlich notgedrungen keine politischen Trakta- so schön sagt – »ganz normales« Ehepaar aus der Arbei- te oder Anklagen, was durch die Zensur und Überwachung terInnenklasse mit einer politischen Orientierung, die ins ja überhaupt gar nicht möglich war . Die Briefe zeichnen ein klassisch sozialdemokratische ging . Die politischen Aktivi- Bild zweier Menschen, die versuchen, sich in ihrer Verzweif- täten von Hans beschränkten sich auf das Besuchen von lung an jeden erdenklichen letzten mutbringenden Gedanken sozialistischen Versammlungen und, als es nach den kur- aufzubauen und an der Sorge füreinander (es war ihnen zu- zen Kämpfen des Österreichischen Bürgerkriegs im Februar meist verboten, direkten Kontakt zu halten) fast zerbrechen . 1934 zur Implementierung des Austrofaschismus durch En- Der resignativ wirkende Gedanke, dass »der Krieg [vielleicht] gelbert Dollfuß kam, auf diverse Aktivitäten auf Seiten der doch bald aus« (S .78) sein werde, war wohl eine der letzten (bald verbotenen) sozialistischen Kräfte . Von Hedi ist keine Hoffnungen, die ihnen blieb . Mit seitenlangen Auszügen aus einschlägige politische Tätigkeit überliefert . Was den beiden Briefen der beiden zu Tode Verurteilten, führt Fritz dem/der offenbar viel wichtiger war als Politik, war ihr kleines Haus LeserIn die ganze Monströsität, Unmenschlichkeit und Ab- in Wien-Floridsdorf und ihr Garten, an dem sie sehr gehan- surdität dieses Systems, in dessen Fänge die beiden wie aus gen haben . heiterem Himmel gekommen waren, vor Augen . Nicht, dass Eines Tages kamen sie mit Floridsdorfer Mitgliedern der es einen derartigen Beweis noch bedurft hätte, aber das di- Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) in Kontakt . Ein rekte und unmittelbare Teilnehmen an den Gedanken von Mitglied der KPÖ, der ursprünglich aus Interesse an ihrem Menschen mit einem Schicksal wie jenes der Schneiders, Garten zu Besuch kam, bat sie schließlich um einen Gefal- ist etwas, das schlichten und anonymen Zahlen von Opfern, len: Er wollte eine (kaputte) Abziehmaschine zur Vervielfäl- mit denen man häufig konfrontiert wird, eine ganz anderen tigung von KPÖ-Flugblättern bei ihnen in der Scheune vor- Dimension gibt . übergehend unterstellen . Hans und Hedi willigten ein, was Der Autor hat einen klugen und zugänglichen Erzählstil ge-

119 wählt . Vor allem ein Aspekt ist hier erwähnenswert: Fritz schen hinrichten zu lassen – und wie konsterniert, verzwei- bettet das Schicksal des Ehepaares Schneider in den breite- felt und ungläubig die Betroffenen und Angehörigen ob der- ren historischen Kontext des Österreichischen Bürgerkriegs, artiger Urteile zurückblieben . »Die Geschichte von Hans und des Austrofaschismus, dem wenige Jahre danach erfolgten Hedi« ist ein bedrückendes Buch, das auch stellvertretend »Anschluss« Österreichs durch Nazi-Deutschland und die für die Millionen von Opfern der NS-Unrechtsjustiz steht, die daraufhin etablierte nationalsozialistische Herrschaft ein, heute bereits so gut wie in Vergessenheit geraten sind und sodass das Buch nicht bei einer schlichten Schilderung von nicht das Glück hatten, von einem engagierten Historiker ge- individuellen Schicksalen stehen bleibt, sondern auch das würdigt zu werden . politische Klima, in dem sich diese Geschichte abspielte, auf fundierte und abwechslungsreiche Weise miteinbezieht und Sebastian Kalicha erläutert . Diese »Chronik zweier Hinrichtungen« zeigt dem/der Lese- rIn auf erschreckende Weise auf, welche Trivialitäten diesem Amok laufenden Unrechtssystem bereits genügten, um Men- 1 Die Rezension erschien zuerst bei kritisch-lesen de. (http://kritisch-lesen de/. rezension/ns-terrorjustiz-as-usual) .

120 Nachdenkliches zu Faschismus und Antifaschismus Reiner Zilkenat (Hrsg.): Deutschland im 20. Jahrhundert. Aus dem Nachlass von Rolf Richter (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Manuskripte 93), Karl Dietz Verlag, Berlin 2011, 194 Seiten

Unter den jüngsten Publikationen unseres Vereinsvorsitzen- marer Republik, zur marxistischen, sozialdemokratischen den ist die obige Veröffentlichung hervorzuheben . Es war ihm und bürgerlichen Faschismusanalyse, zur Erschließung des ein wichtiges Anliegen, das Werk seines Lehrers Rolf Richter, antifaschistischen Erbes und zur Entwicklung der protes- der von 1970 bis 1990 am Institut Geschichte der deutschen tantischen und russisch-orthodoxen Kirchen in der DDR Arbeiterbewegung der Akademie für Gesellschaftswissen- sind ein Spiegelbild für die von den DDR-Geschichtswissen- schaften in Ost-Berlin wirkte, zuletzt als ordentlicher Profes- schaftlern erbrachten Leistungen, welche von den meisten sor und Direktor dieser wissenschaftlichen Einrichtung, nicht bundesdeutschen Historikern in Abrede gestellt werden . in Vergessenheit geraten zu lassen . Sie belegen gleichzeitig die auch bei Rolf Richter zum Aus- druck gekommenen Erkenntnisdefizite und Konzessionen in Die von Reiner Zilkenat ausgewählten Veröffentlichungen und seinem historischen Schaffen während der DDR-Zeit – wor- unveröffentlichten Manuskripte Rolf Richters zu den Problem- auf Z . aufmerksam macht . Deutlich wird in der vorliegenden kreisen »Geschichte der Arbeiterbewegung«, »Geschichts- Publikation Richters nachdenkliches und leidenschaftliches schreibung über den Faschismus und den antifaschistischen Eintreten und Werben für eine durchgreifende Erneuerung Widerstand«, »Überlegungen zum Antifaschismus seit 1989« der Historiografie in der DDR (an ihrem Ende) und dann in und »Evangelische Kirchen in der DDR« sind aktuell geblie- der Bundesrepublik (vor allem zur Faschismus- und Anti- ben . Sie vermitteln, wie der Herausgeber in seiner Einleitung faschismusproblematik sowie zur Arbeiterbewegungsge- »Gedanken zum Werk von Rolf Richter« zu Recht hervorhebt, schichte) . wichtige Hinweise und Ratschläge, »wie man in Theorie und Praxis mit den unter immer neuen Parolen und Organisati- Der Band enthält ein Verzeichnis der ursprünglichen Erschei- onsformen auftretenden Rechtsextremen und Neofaschisten nungsorte der abgedruckten Beiträge Rolf Richters sowie ei- umgehen sollte «. ne darüber hinaus gehende Auswahlbibliografie . Die vom Herausgeber vorgestellten Beiträge und Studien Richters zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Wei- Rainer Holze

121 Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) und die Inlandsgeheimdienste1 Markus Bernhardt, Das braune Netz. Naziterror – Hintergründe, Verharmloser, Förderer, Papyrossa Verlag, Köln 2012, 117 Seiten.

Im November 2011 wurde die Existenz der neonazistischen »Es dürfte (…) mitnichten ausgeschlossen sein, dass das Terrorgruppe aufgedeckt, die mehr als 13 Jahre unbehelligt NSU-Netzwerk über gute internationale Kontakte verfügte Morde und Bombenanschläge begehen konnte . Markus Bern- und dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe während ihrer hardt beleuchtet die Hintergründe des Zusammenwirkens der Zeit im Untergrund nicht nur von deutschen, sondern auch Geheimdienste und der NSU . von Faschisten in und aus anderen Ländern unterstützt wor- Im November 2011 kam es zur Aufdeckung der Morde und den sind «. (S . 26) Anschläge des neonazistischen »Nationalsozialistischen Un- Neben einer »Mitverantwortung der Inlandsgeheimdienste für tergrundes« (NSU) . Die mindestens aus den Neonazis Uwe die Morde« (S . 112) macht Bernhardt zu Recht den in weiten Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bestehende Ter- Teilen der Gesellschaft verankerten Rassismus im weitesten rorgruppe ermordete zwischen 2000 und 2006 neun Migran- Sinn für die Terrorakte verantwortlich . Die repräsentative Stu- ten und 2007 eine Polizistin . Außerdem soll neben mehre- die »Die Mitte in der Krise – Rechtsextreme Einstellungen in ren Banküberfällen der NSU für einen Nagelbombenanschlag Deutschland« aus dem Jahre 2010 ergab, dass über ein Vier- in der mehrheitlich von Migranten bewohnten Keupstraße tel der Befragten über ein gefestigtes extrem rechtes Welt- in Köln verantwortlich sein, wobei 22 Menschen zum Teil bild verfügte . Für diese Studie wurden im Frühjahr 2010 mehr schwer verletzt wurden . als 2 .400 Menschen befragt . Daraus ergab sich, dass in der Der Journalist Markus Bernhardt stellt in seinem Buch »Das Bundesrepublik antidemokratische und rassistische Einstel- braune Netz . Naziterror – Hintergründe, Verharmloser, Förde- lungen auf einem sehr hohen Niveau existierten . Der NSU rer« die These auf, dass mehrere Geheimdienste der BRD die konnte sich bei diesen Einstellungsmustern als »Vollstrecker« Aufenthaltsorte der 1998 untergetauchten Mundlos, Böhn- eines vermeintlichen »Volkswillens« sehen . hardt und Zschäpe kannten und deshalb die Morde und An- Bernhardt spricht weiterhin vom Fehlen einer »nötigen Dis- schläge hätten verhindern können: »Ohne die Kumpanei der tanz mancher Ermittler (der Geheimdienste, Anm . M .L .) zur bundesdeutschen Geheimdienste hätte die neofaschistische rechten Szene« (S . 112) . Hierbei nennt er namentlich den Terrorgruppe (…) nicht über dreizehn Jahre hinweg Morde, früheren Präsidenten des thüringischen Verfassungsschut- Bombenanschläge und Bankraube verüben können .« (S . 7) zes, Helmut Roewer, der in dem extrem rechten Ares-Verlag Das Abtauchen des Trios in den Untergrund könne laut Bern- aus Graz publizierte . Die Behauptung Bernhardts, dass Roe- hardt nicht ohne das Wissen führender Mitglieder des neo- wer öffentlich ausgeführt hatte, dass der Nationalsozialismus faschistischen Thüringer Heimatschutzes (THS), dem die drei »gute als auch schlechte Seiten« gehabt habe (S .46), wird lei- angehörten, sowie ohne Kenntnis des thüringischen Verfas- der nicht mit einer Quelle belegt . sungsschutzes erfolgt sein . Für die lückenhafte und schwer- Dann arbeitet Bernhardt die Reaktionen der extrem rechten fällige Aufarbeitung des »größten Geheimdienstskandals der Parteien in der BRD auf die Aufdeckung des Terrornetzwerks bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte« (ebd .) macht Bern- der NSU heraus . In neonazistischen Foren finden sich An- hardt die herrschende politische Elite verantwortlich: »Sind deutungen zu einer Rechtfertigung der Morde und Anschläge . es doch maßgeblich Politiker der Regierungskoalition, die Dagegen verurteilten der antimuslimische Internetblog Politi- sich mit aller Macht gegen eine umfassende öffentliche Auf- cally Incorrect (PI) und die extrem rechte Pro-Bewegung die arbeitung des Geheimdienstskandals stemmen «. (S . 9) Verbrechen des NSU, da beide Gruppen Angst vor staatlichen Bernhardt spricht sich mit Recht gegen die Fortsetzung der Repressalien befürchteten (S . 37) . Die NPD versuchte auch Praxis der sogenannten V-Leute aus: »Vor allem aber wäre im Hinblick auf ein bestehendes Verbotsverfahren den Ein- die militante Neonaziszene nicht so stark, wenn die Löhne, druck zu erwecken, dass es keine Verbindung zwischen der die die Geheimdienste den von ihnen installierten V-Leuten Partei beziehungsweise einzelnen Mitgliedern und dem NSU zahlen, nicht als eine Art staatlicher Transferleistungen in den gab . Ihr Bundesvorsitzender Holger Apfel thematisierte dage- Aufbau der rechten Szenerie flössen .« (S .42) gen die »Verstrickung der Inlandsgeheimdienste in den NSU- Er stellt weiterhin die Frage, ob der NSU Teil eines interna- Terror« und stellte sich als unschuldiges Opfer in der Öffent- tional operierenden neonazistischen Terrornetzwerks war: ­ lichkeit dar (S .38) .

122 Anschließend kritisiert Bernhardt die Extremismustheorie, Insgesamt gesehen bietet das Buch einen guten Einstieg über die in den Veröffentlichungen des Verfassungsschutzes so- den Mordserie des NSU und die Verstrickung der bundes- wohl des Bundes als auch der Länder verwendet wird . Die deutschen Geheimdienste . Leider fehlen die Hinweise auf beiden Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jes- die benutzten Quellen fast durchgängig . Neue sensationelle se sind seit Jahren bemüht, die Extremismustheorie über Enthüllungen werden nicht geliefert, was auch nicht der An- Staatsschutzorgane oder Regierungsapparate hinaus im spruch des Autors ist . Bernhardt stellt die Hintergründe des akademischen Bereich zu etablieren . Der Extremismusbe- Zusammenwirkens der Geheimdienste mit neonazistischen griff gilt als »Sammelbezeichnung für unterschiedliche po- Terroristen dar und fordert darüber hinaus die Abschaffung litische Gesinnungen und Bestrebungen (…), die sich in der aller Inlandsgeheimdienste mitsamt deren extremismusthe- Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und oretischer Ideologie . seiner fundamentalen Werte einig wissen .« (Backes / Jes- Dass diese provokanten Thesen vor allem bei Vertretern des se 1993, S . 40) Bernhardt befürchtet, dass die Debatten Verfassungsschutzes oder der Geheimdienste auf vehemente über die erneute Einleitung eines Verbotsverfahrens gegen Ablehnung stößt, wundert niemanden . In diesem Zusammen- die NPD dazu genutzt werden, um auch über die verstärk- hang ist zum Beispiel auch die Rezension des Buches von Ar- te Überwachung oder gar ein Verbot der Linkspartei nach- min Pfahl-Traughber zu sehen . Pfahl-Traughber war von 1994 zudenken . bis 2004 Mitarbeiter beim Bundesamt für Verfassungsschutz Für die Bekämpfung der extremen Rechten hält Bernhardt und publiziert seit Jahren in dem von Backes und Jesse her- die Extremismustheorie für gänzlich ungeeignet: »Die Extre- ausgegebenen »Jahrbuch für Extremismus und Demokratie« . mismustheorie läuft daher prinzipiell auf die Unterstützung Außerdem gibt er seit 2008 das »Jahrbuch für Extremismus- eines autoritären Staates hinaus, der Abweichungen von der und Terrorismusforschung« heraus und ist Professor an der jeweils neu definierten ›Mitte‹ sanktioniert . Die Virulenz ei- Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in ner sozialen Bewegung der ›extremen Rechten‹ sowie ras- Brühl . Auf dem Internetblog Endstation Rechts wirft er Bern- sistische, nationalistische und antisemitische Stereotype in hardt »verschwörungstheoretische Deutungen« und das Arbei- einem erheblichen Teil der bundesdeutschen Bevölkerung ten mit »Andeutungen und Unterstellungen in seinem Sinne« werden von Extremismusforschern zumindest ignoriert und vor . Pfahl-Traughber geht es dabei nicht um eine inhaltliche bagatellisiert .« (S .72) Auseinandersetzung mit den Thesen des Autors, sondern um Dabei bezieht er sich besonders auf Kritiker_innen der Ext- eine bloße Abwehr von Angriffen von kritischen Einzelperso- remismustheorie aus Wissenschaft und Politik, die auf eine nen oder Gruppen auf die bundesdeutschen Geheimdienste . »Extremismus der Mitte«, das heißt eine Interaktion zwischen extremen Rechten und der »Mitte« der Gesellschaft und des politischen Establishments, verweisen . Zusätzlich verwendete Literatur Die Extremismustheorie stellt für ihn ein ideologisch moti- viertes staatliches Instrument gegen antifaschistische Politik Der Tagesspiegel 13 . Oktober 2010: Ausländerfeindlichkeit und Aktionen dar, das den Widerstand gegen rechte Denk- und Führerfantasien . (Originalquelle: Decker, Oliver et al . muster und Gewalt behindert . Dabei verweist er auf die Kri- (2010): Die Mitte in der Krise . Rechtsextreme Einstellungen minalisierung der Proteste gegen neonazistische Aufmär- in Deutschland . Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stif- sche in Dresden und Dortmund in den vergangenen Jahren . tung, Berlin .) Um rechte Gewalt und das Vordringen rassistischer Denk- Backes, Uwe / Jesse, Eckhard (1993): Politischer Extremis- muster in der Gesellschaft zu bekämpfen, fordert Bernhardt, mus in der Bundesrepublik Deutschland . 3 .A uflage, Bundes- »verstärkt gegen den gesellschaftlich verankerten Rassismus zentrale für politische Bildung, Bonn . vorzugehen, endlich die vollkommene Gleichstellung und Teil- Pfahl-Traughber, Armin 24 .April 2012: Buch zum NSU: »Kum- habe von Migranten sicherzustellen und einen offensiven An- panei« zwischen Rechtsterroristen und dem Staat? Online- tifaschismus nicht wie bisher als Bedrohung der Demokratie, Artikel auf www endstation-rechts. .de sondern vielmehr als zwingende Notwendigkeit zu akzeptie- ren .« (S . 113) Michael Lausberg Weiterhin plädiert er dafür, die Praxis der V-Leute einzustel- len, deren Bezahlung für den Aufbau rechter Strukturen mit- verantwortlich ist, sowie die sofortige Auflösung der bundes- deutschen Inlandsgeheimdienste . 1 Die Rezension erschien zuerst bei kritisch-lesen de. (http://kritisch-lesen de/. rezension/der-nationalsozialistische-untergrund-nsu-und-die-inlandsgeheim- dienste) .

123 124 125 Die extreme Rechte wandelt und radikalisiert sich Toralf Staud / Johannes Radke: Neue Nazis. Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts., Kiepenheuer & Wisch, Köln 2012, 272 Seiten, 9,99 Euro

Für Menschen, die sich gegen Neonazis engagieren ist es kei- Die NPD stand im 2006 von Toralf Staud veröffentlichten ne neue Erkenntnis mehr, dass das Bild des Neonazis mit Buch »Moderne Nazis« noch im Mittelpunkt . Im jüngsten Bomberjacke, Springerstiefel und weißen Schnürsenkeln Werk beschreibt der Autor nur in einem Kapitel . Darin wird überholt ist . Dass die Autoren Toralf Staud und Johannes Rad- vor allem der Konflikt der NPD heute zwischen Anbiederung ke direkt zu Beginn in ihrer Einleitung zum jüngst erschienen und Radikalisierung treffend analysiert . Auch ihre Rolle, die Buch »Neue Nazis« so darauf drängen, man solle sich die- sie in Augen vieler Neonazis hat, als lediglich taktisches In- ses Bild aus dem Kopf schlagen, irritiert zunächst . Spätestens strument, als »Plastiktüte« in der man seine Inhalte verteilt, seit die Autonomen Nationalisten ab 2003/2004 häufiger auf wird zum Ausdruck gebracht . Demonstrationen auftauchten in schwarzen Kapuzenpullis, Auch der Rechtspopulismus in Deutschland hat ein eigenes Turnschuhen und Basecaps, wurde sichtbar, dass die rech- Kapitel, in dem die Autoren die jüngsten Entwicklungen skiz- te Szene sich zumindest äußerlich modernisierte . Doch hat zieren . Trotz der ständigen Versuche der Rechtspopulismus, das Buch deutlich mehr zu bieten, als das Aufräumen mit al- sich gegen die extreme Rechte abzugrenzen, ist ihre Spielart ten Klischees . der Rassismus wohl der größte Beitrag zur Modernisierung der extremen Rechte, so Staud und Radke . Mit einem Rückblick in 90er Jahre in Ost- und Westdeutsch- Besonders aufhorchen lässt die These der Autoren, dass der land skizzieren die Autoren die Entwicklung der rechten Szene Rechtsterrorismus von morgen aus den Reihen der Autono- in Deutschland . Hoyerswerda, Lichtenhagen, die Debatte um men Nationalisten kommt . Hier gibt es das größte Aggres- das Asylrecht und der Wiederaufstieg der NPD . Eine Zeit, die sionspotential, lose Strukturen, die dem Staat oft verborgen auch die Mitglieder der NSU-Terrorzelle geprägt hat, und in verbleiben . Die Zahl der Anschläge auf zivilgesellschaftliche der die Präsenz der extremen Rechten zur Normalität wurde . Einrichtungen, die sich gegen Rechts engagieren und auf Bü- Ein Stichwort, das die jüngeren Entwicklungen in der extre- ros von Parteien hat deutlich zugenommen . Und immer häufi- men Rechten treffend beschreibt, ist »Patchworkidentität« . ger werden bei Razzien der Polizei in der rechten Szene auch Ein Begriff, der vor allem in der Soziologie geläufig ist: Man Sprengsätze gefunden . mischt zusammen, was gefällt . »Sie können an einem Tag Hip- Für Leser, die sich regelmäßig mit der Thematik befassen, Hop hören und Pizza essen, am nächsten beim Aufmarsch für bietet »Neue Nazis« womöglich wenig neue Erkenntnisse, eine »reine Volksgemeinschaft« mitlaufen.« Die rechte Musik- stellt aber eine gute Rundumschau dar, in der verschiede- szene ist breiter geworden ebenso wie die Zahl der Internet- ne Beobachtungen miteinander verknüpft und in Zusammen- versände größer, in denen sich Neonazis mit Musik, Kleidung, hang gebracht werden . Durch die vielen Beispiele ist die Ana- etc . versorgen können . Staud und Radke stellen die neonazis- lyse der Autoren gut nachvollziehbar, der Schreibstil flüssig . tische Popkultur in ihrer Breite vor und veranschaulichen an Die thematischen Kapitel lassen sich auch gut einzeln für sich zahlreichen Beispielen, wie faschistische Ideologie, der Nati- lesen . Fazit: Ein empfehlenswertes Buch für alle, die sich ei- onalismus, Rassismus und Antisemitismus mit einem moder- nen Überblick verschaffen wollen, ebenso für alle, die ihren nen Auftreten verknüpft werden . Kenntnisstand in einzelnen Bereichen auffrischen wollen .

126 F ur eine offene, lebendige Gesellschaft Claus Leggewie / Horst Meier: Nach dem Verfassungsschutz. Pladoyer fur eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik. Archiv der Jugendkulturen, Berlin 2012, 208 Seiten, br., 12 Euro.

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses kleine und dennoch Problem, dass das »kriminelle Verhalten eines Einzelnen« gewaltige Buchlein hat das Zeug, zum Manifest einer neu- der »Partei als organisationsspezifische Eigenart zugerech- en linken und linksliberalen Burgerrechtspolitik zu werden . net werden« musste . Ebenfalls verstoße ein Verbot gegen die Mit leidenschaftlicher Sprache und sachlicher Emporung Verhaltnismaßigkeit und ersetze niemals die tagliche Ausein- rechnen Claus Leggewie und Horst Meier mit einer aus dem andersetzung mit menschenfeindlicher Ideologie . Kalten Krieg stammenden Sicherheitsarchitektur ab . Aus- gangspunkt ihrer Uberlegungen sind die Skandale und Ver- Auch in einem anderen Punkt geben beiden Wissenschaftler tuschungen des Verfassungsschutzes, dieser ganz und gar zu denken: »Dort, wo rechtsradikale Parteien schwach sind, nutzlosen, gefahrlichen und ein unkontrollierbares Eigenle- ist einschlagige Gewalt starker verbreitet: In den neunziger ben fuhrenden Institution . Jahren hatte Deutschland bei schwachen Rechtsparteien die hochste Gewaltrate von rechts; Frankreich dagegen hat- So verheerend aber die Bilanz des Verfassungsschutzes te eine der niedrigsten, obwohl der Front National eine der ausfallt, so positiv beziehen sich die Autoren auf die demo- starksten rechtsradikalen Parteien in Westeuropa ist und kei- kratische Entwicklung der Bundesrepublik . »Der Verfassungs- neswegs gemaßigt auftritt .« schutz bietet keine Losung, er ist nur das symptomatische Problem einer Demokratie, die einst sich selbst nicht traute .« Die Autoren bieten also reichlich Diskussionsstoff und ma- Nunmehr aber gebe es – bei allen Abstrichen, Fehlern und chen Lust auf die Erarbeitung neuer Strategien . Ihr Buch offe- Leerstellen – eine gut entwickelte Demokratie in Deutsch- riert aber nicht nur Analyse, sondern auch konkrete Schritte land, die eine lebendige und offene Gesellschaft braucht, die von der geschlossenen hin zur offenen Gesellschaft . Dreh- von sich aus die »demokratische Republik« verteidigt und sie und Angelpunkt fur die Wissenschaftler ist die Idee des »Re- taglich attraktiver zu machen versucht . publikschutzes«, der im Kern nur eine Grenze kennt: Die der Gewalt . Konkret meint dieser Ansatz, dass der Staat nur und Leggewie und Meier skizzieren pointiert, warum das Bun- ausschließlich bei »krimineller, nicht extremistischer Dissi- desamt und die Landesamter fur Verfassungsschutz denz« eingreifen kann . »Die Gewaltgrenze ist der Dreh- und dringend aufgelost werden mussen: Vom sogenann- Angelpunkt des Republikschutzes . Ein Ausschluss vom politi- ten »Fruhwarnsystem« ist bei dieser Behorde nichts schen Wettbewerb erfolgt – ohne Ansehen einer politischen ubriggeblieben . Eine Nazi-Terror-Gruppe zieht jahrelang mor- Ideologie – erst und ausnahmslos dort, wo Politik die Grenze dend durch das Land und der Verfassungsschutz will nichts zur Gewalt uberschreitet .« Am Ende des Buches werden ei- mitbekommen haben? Vielmehr schafft sich der Verfassungs- ne Reihe von Thesen und Forderungen aufgegriffen und auf- schutz seine Gegner selber, er dient nur sich selbst . Inter- listet: von der sofortigen Streichung der Extremismusklausel essant auch der Verweis, dass es in anderen Demokratien uber die Thematisierung des »Rassismus der Mitte« bis hin keinerlei Entsprechungen dafur gibt, dass ein Inlandsgeheim- zur Aufzahlung der Karikatur: Harm Bengen dienst weit, weit im Vorfeld politische »Extremisten« bespit- Verfassungsschutzskandale in der Geschichte der Bundesre- zeln darf . publik . Mit ihrem Pladoyer fur eine neue Sicherheitsarchitek- Die Autoren machen auch darauf aufmerksam, dass der poli- tur der Berliner Republik haben Claus Leggewie und Horst tische Wettbewerb massiv verzerrt wird: »Wenn sich Geheim- Meier einen großen Wurf gelandet, der brillant und scharf in dienstler fur ›extremistische‹ Parteien interessieren, sind das der Analyse ist und praktische Wege fur ein radikales Mehr an Recht auf Opposition und die Chancengleichheit aller politi- Demokratie aufzeigt . Fur die gesamtdeutsche Linke konnte schen Richtungen bedroht .« Von diesem grundlegenden An- dies Buch ein Meilenstein auf dem Weg zu einer starken, so- satz her analysieren die beiden auch die V-Leute-Praxis und zialistischen Burgerrechtsbewegung sein . Wenn sie denn Lust nahern sich dem kontroversen, zweiten Teil des Buches: Oh- auf die Anstrengungen der offenen Gesellschaft hat . ne Abstriche wenden sich Leggewie und Meier gegen Leu- te . Und ein neues Verfahren steht vor dem kaum losbaren Jan Korte, MdB

127 Linke, Nahostkonflikt, Antisemitismus – Wegweiser durch eine Debatte

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat mit ihrer Broschüre »Linke, litischen Debattenbeiträgen vorgestellt . Wer sich tiefer in diese Nahostkonflikt, Antisemitismus Wegweiser durch eine Debat- komplexe Debatte einarbeiten will, hält mit dieser Broschüre ei- te« eine kommentierte Bibliografie vorgelegt, deren Ziel es ist, nen Ratgeber in der Hand, der einem den Lesestart erleichtert . zu einer Versachlichung der Debatte beizutragen . Der Autor Die Broschüre kann als pdf auf der Webseite der Stiftung Peter Ullrich stellt in der Broschüre im ersten Teil Bücher zur www .rosalux .de herunter geladen werden . Der direkte Link: Geschichte der Arbeiter/innenbewegung vor . Vor allem zu den http://www .rosalux .de/publication/38659/linke-nahost- Schwerpunkten Zionismus und Antisemitismus . Im zweiten Teil konflikt-antisemitismus .html folgen Publikationen, die sich mit der DDR, dem Antisemitis- mus in der DDR und dem Verhältnis der DDR zu Israel befas- Oder in gedruckter Form bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung an- sen . Der dritte Teil umfasst Veröffentlichungen zur (westdeut- gefragt werden: Rosa-Luxemburg-Stiftung: Gesellschaftsanalyse schen) Linken vor allem mit diskursanalytischem Schwerpunkt . und politische Bildung e .V ,. Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin . Im vierten Abschnitt geht es um die Kontexte des Nahostdis- kurses . Abschließend werden Sammelbände mit vor allem po- Julia Wiedemann

128 Die Rote Fahne 30 . August 1931

129 130 131 Rote Fahne, 24 .2 .1931

Diese Dokumentation zeigt, wie bis heute von etlichen Politikern der Bun- desrepublik mit der NS-Vergangenheit umgegangen wird. Die Herausgeber, ein Bundestagsabgeordneter und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, stießen immer wieder auf die üblichen Abwehrtechniken gegen eine kritische Auf- arbeitung der Vergangenheit sowie auf apologetische Positionen, die an der Legende der »sauberen Wehrmacht« und einer angeblich rechtsstaatlichen NS-Militärjustiz festhielten. Bis 2009 wurde im Bundestag einfachen Wehrmachtssoldaten sogar offen das Recht auf Widerstand abgesprochen, besonders jenen, die wegen so- genannten Kriegsverrats zum Tode verurteilt worden waren. Nach wie vor dietz berlin existieren Auffassungen, dass lediglich der Widerstand der »Eliten«, nament- lich der des 20. Juli 1944, legitim gewesen sei. Soldaten hingegen hätten vor allem eines: zu gehorchen. Während der Debatten musste sowohl von Seiten der Wissenschaft als auch aus den Reihen der Politik mit erheblichem Nachdruck deutlich gemacht werden, dass die Wehrmachtsjustiz direkter Teil des national sozialistischen Terror- und Willkürsystems war. Schon deshalb galt es, die mörderischen Kriegsverratsbestimmungen des Militärstrafgesetzbuches in der Fassung von 1934 als das zu kennzeichnen, was sie waren: blutiges NS-Unrecht.

Jan Korte, Dominic Heilig (Hrsg.) Kriegsverrat Vergangenheitspolitik in Deutschland Analysen, Kommentare und Dokumente einer Debatte, 208 S., Broschur, 13 Abb., 14,90 Euro, ISBN 978-3-320-02261-7

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Vorwärts, Nr . 347, 27 .7 .1930

Reihe Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus

Klaus Kinner Klaus Kinner/Elke Reuter Der deutsche Kommunismus Der deutsche Kommunismus Band 1 Band 2 Die Weimarer Zeit Gegen Faschismus und Krieg 240 S., geb., 19,90 Euro (1933–1939) ISBN 978-3-320-01979-2 320 S., geb., 19,90 Euro ISBN 978-3-320-02062-0

Hans Coppi/Stefan Heinz (Hrsg.) Der vergessene Widerstand der Arbeiter Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter 382 S., geb., 18 Abb., 29,90 Euro ISBN 978-3-320-02264-8 Klaus Kinner Günter Benser Band XVI der Reihe Der deutsche Kommunismus Der deutsche Kommunismus Band 3 Band 4 Im Krieg (1939–1945) Neubeginn ohne letzte 424 S., geb., 29,90 Euro Konsequenz (1945/46) ISBN 978-3-320-02149-8 308 S., geb., 24,90 Euro ISBN 978-3-320-02150-4

auf CD-ROM »Brüsseler Konferenz« Rosa Luxemburg LUXEMBURG oder STALIN »Die Wache ist müde« Ralf Hoffrogge der KPD von 1935 Historische und aktuelle Schaltjahr 1928 Neue Sichten auf die Richard Müller Hrsg. von Günther Fuchs/Erwin Dimen sionen ihres Die KPD am Scheideweg russ ische Revolution von 1917 Der Mann hinter der Lewin/Elke Reuter/Stefan Weber theoretischen Werkes Hrsg. von Elke Reuter/ und ihre Wirkungen Novemberrevolution ISBN 978-3-320-02009-5 Hrsg. von Klaus Kinner/ Wladislaw Hedeler/ Hrsg. von Wladislaw Vorwort von Band II der Reihe, wird zusam- Helmut Seidel Horst Helas/Klaus Kinner Hedeler/Klaus Kinner Wolfgang Wippermann men mit Band V ausgeliefert 336 S., geb., 19,90 Euro 304 S., geb., mit Doku - 416 S., geb., 24,90 Euro 240 S., geb., 19,90 Euro ISBN 978-3-320-02031-6 men ten-CD, 19,90 Euro ISBN 978-3-320-02140-5 ISBN 978-3-320-02148-1 Band III der Reihe ISBN 978-3-320-02038-5 Band VI der Reihe Band VII der Reihe Band IV der Reihe

Alexander Vatlin Klaus Kinner (Hrsg.) Wolfgang Schröder Jürgen Mothes Gerhard Engel Die Komintern DIE LINKE – Erbe u. Tradition Leipzig – die Wiege Lateinamerika und Johann Knief – Gründung, Teil 1: Kommunistische der deutschen Arbeiter­ der »Generalstab der ein unvollendetes Leben Programmmatik, und sozialdemokr. Wurzeln bewegung Welt revolution« 464 S., geb., 25 Abb. Akteure ISBN 978-3-320-02212-9 Wurzeln und Werden des Zur Lateinamerika-Politik 29,90 Euro 368 S., geb., 29,90 Euro Teil 2: Wurzeln des Arbeiterbildungsvereins der Komintern ISBN 978-3-320-02249-5 ISBN 978-3-320-02172-6 Linkssozialismus 1848/49 bis 1878/81 Hrsg. Klaus Meschkat Band XV der Reihe Band X der Reihe ISBN 978-3-320-02213-6 480 S., geb., 29,90 Euro 264 S., geb., 24,90 Euro 320 S., geb., 24,90 Euro ISBN 978-3-320-02214-3 ISBN 978-3-320-02235-8 Band XI und XII der Reihe Band XIII der Reihe Band XIV der Reihe dietz berlin

CALL FOR Rundbrief PAPERS AG Rechtsextremismus/Anti faschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE

Der Rundbrief erscheint bei Bedarf, in der Regel einmal den »Fremden« breit . Mit der ‚Wende’ verloren Tausende je Quartal, und wird herausgegeben von der AG Rechts- Vertragsarbeiter_innen ihre Arbeit; in der Bundesrepublik extremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Par- wurden sie nicht mehr gebraucht; sie mussten als »Sün- tei DIE LINKE . denböcke« für die sozialen und wirtschaftliche Probleme in den Neuen Bundesländern herhalten und wurden Opfer Gegenstand der Rundbriefe sind Analysen, Erfahrungen, von rassistischer Gewalt und Asylpolitik . Nachrichten, Rezensionen und Untersuchungen zum Thema Der »Rundbrief« möchte mit diesem Schwerpunkt einen Rechtsextremismus und rechter Zeitgeist . Damit soll die an- Beitrag zur DDR-Migrationsgeschichte leisten und hofft auf tifaschistische Arbeit demokratischer Organisationen und in- spannende und facettenreiche Einblicke in die Thematik . teressierter Personen unterstützt werden .

Die Herausgeberinnen und Herausgeber laden zur Einsen- dung von Beiträgen und Rezensionen zu den Themen Rechts- Alle Interessierten sind aufgerufen, ein maximal 500 Zeichen extremismus, Antifaschismus, Geschichte des deutschen und (inklusive Leerzeichen) umfassendes Abstract zuzusenden . internationalen Faschismus sowie der Arbeiterbewegung ein . Außerdem sollen thematische Schwerpunkte die antifaschis- Abgabetermin für Abstracts: 15. Januar 2013 tische Debatte befördern helfen und neue Forschungsfelder Die Beiträge sollen die Länge von 30 .000 Zeichen (inklusi- erschließen . Schwerpunkt des Heftes 1/2013 ist: ve Leerzeichen) nach Möglichkeit nicht überschreiten . Bitte beachten Sie auch die Hinweise für Autorinnen und Autoren bezüglich . der Zitierweise, die Ihnen auf Nach frage gerne zu- Vertragsarbeit in der DDR gesandt werden . (Rundbrief, Heft 1/2013) Abgabetermin für Beiträge: 29. Februar 2013 Sie kamen aus Mocambique, Angola, Vietnam, der Mon- Außerdem bitten wir um Rezensionen zu diesem oder ver- golei, China, Nordkorea, Algerien, Kuba, Ungarn und Po- wandten Themen . Die Rezensionen sollen die Länge von len – die ausländischen Vertragsarbeitnehmer_innen in 7 .000 Zeichen (inklusive Leerzeichen) nach Möglichkeit nicht der DDR . Noch 1989 arbeiteten etwa 95 .000 von ihnen in überschreiten . Auch hier beachten sie bitte unsere Hinweise den Volkseigenen Betrieben . Ihre Entsendung in die DDR für Autorinnen und Autoren . war ein Zeichen internationaler Solidarität . Viele erhielten Ausbildungsplätze und damit die Chance auf ein besseres Abgabetermin für Rezensionen: 29. Februar 2013 Leben . Gleichzeitig sollten die Vertragsarbeiter_innen ei- Abstracts, Beiträge sowie Rezensionen sind bitte als .doc nen Beitrag zur Kompensation des Arbeitskräftemangels per E-Mail an die Redaktion zu senden . in der DDR leisten . E-Mail: r .zilkenat@gmx .net Doch wie war das Leben der Vertragsarbeiter_innen? Wie wirkten sich die in den Abkommen zwischen der DDR und dem jeweiligen Entsendeland ausgehandelten Richtlinien und Restriktionen auf die Wohn- und Arbeitsverhältnisse, auf Gehaltszahlungen und Lebensbedingungen aus? Wie gestaltete sich der Kontakt zur DDR-Bevölkerung? Neben V .i .S .d .P . Dr . Reiner Zilkenat Empathie und gelebter Solidarität für die Menschen aus Kleine Alexanderstraße 28 · 10178 Berlin den »Bruderländern«, machten sich im Laufe der 1980er Telefon 030 24009-236 · Telefax 030 24009-215 Jahre zunehmend Vorurteile und Missgunst gegenüber Layout und Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Rundbrief ISSN 1864-3833 Der Rundbrief erscheint bei Bedarf, in der Re- gel einmal je Quartal, und wird herausgegeben von der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE . V .i .S .d .P . Dr . Reiner Zilkenat

Adresse: Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin Telefon: 030 24009-236 Telefax: 030 24009-215 E-Mail: r .zilkenat@gmx .net

Gegenstand der Rundbriefe sind Analysen, Erfah- rungen, Nachrichten, Rezensionen und Untersu- chungen zum Thema Rechtsextremismus und rechter Zeitgeist . Damit soll die antifaschistische Arbeit demokratischer Organisationen und interessierter Personen unterstützt werden . Der Rundbrief ist über die AG zu beziehen . Zuschriften und Beiträge sind willkommen . Layout und Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation

Vorwärts, Nr. 376, 11.8.1932, S. 2