Kurt von Schleicher

Reichskanzler (Dezember 1932 – Januar 1933) und General der Infanterie

Vortrag vor dem Militärhistorischen Arbeitskreis Bonn- Rheinbach am 7. Oktober 2010

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Jugend, Erziehung und Krieg

Kapitel 2 Das Kriegsende und der Übergang in den Frieden

Kapitel 3 1919 – 1923 Die ersten Jahre der Weimarer Republik Dienst im Reichswehrministerium

Kapitel 4 1924 – 1930 Die Konsolidierung der und auf dem Weg in die „große“ Politik

Kapitel 5 Januar 1931 – Dezember 1932 Die Zeit der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

Kapitel 6 3. Dezember 1932 – 28.Januar 1933 Reichskanzler von Schleicher

Kapitel 7 Das Versagen der Generalität der Reichswehr /der Wehrmacht im Mordfall Schleicher. Schleichers Bild in der Geschichte

Kapitel 1

Jugend, Erziehung und Krieg

Der Reichskanzler und General der Infanterie Kurt von Schleicher wird von Historikern sehr unterschiedlich beurteilt. Wenige urteilen positiv über ihn und sein Leistungen, manche charakterisieren ihn als eine „schillernde Persönlichkeit“, manche sehen ihn negativ. Meine Absicht ist es, Schleichers Vita bei einer tatsächlich „schillernden“ Quellenlage aufzuzeigen und dann zu urteilen.

Kurt von Schleicher wurde am 7.April 1882 in Brandenburg an der Havel geboren. Dort diente sein Vater, aus einer preußischen Offiziersfamilie stammend, als Oberleutnant in einem Infanterieregiment. Seine Karriere endete als Oberstleutnant und Bataillonskommandeur in dem Städtchen Calau im Spreewald. Plehwe schreibt, dass der Vater „einen begrenzten beruflichen Ehrgeiz gehabt habe und dass ihn der Dienst und das private Leben in der kleinen Garnison zufrieden gestellt habe “1. Der Vater konnte somit für den Sohn nicht das Beispiel für eine durch Einsatz, Ehrgeiz und Erfolg gestaltete Karriere gewesen sein. Die Jahre bis zum Ausbruch des I.Weltkrieges entsprachen der üblichen Entwicklung eines jungen Mannes seiner Herkunft und Berufswahl. Die Jahre von 1914 bis 1933 wichen dagegen von jeder Norm ab. Der Vater starb 1908, erst 53 Jahre alt; zu diesem Zeitpunkt diente der Sohn als Leutnant im 3.Garde Regiment zu Fuß in Berlin. Seine von ihm sehr verehrte Mutter, Tochter eines wohlhabenden Danziger Reeders, soll - verglichen mit dem Vater - einen starken Einfluss auf die Kinder gehabt haben. Schleicher kam 1894 in die Kadettenanstalt Plön/Holstein. Von dort qualifizierte er sich 1896 an die Hauptkadettenanstalt Berlin-Lichterfelde.Schleicher war kein begeisterter Kadett. Die übertriebene Härte der Erziehung schien ihm unnötig, die Formierung des Charakters und des Denkens sehr einseitig. 2 Er kam in die Selekta, die Klasse der „Auserwählten“. Im März 1900 verließ er die Hauptkadettenanstalt als Leutnant und wurde in das 3. Garde Regiment/Berlin versetzt; dort fand er schnell seine militärische Heimat. Den Anforderungen des Dienstes entsprach von Schleicher intellektuell wie körperlich weit überdurchschnittlich. Sein Ehrgeiz wird in der Literatur übereinstimmend als gesund beschrieben. Dünkel sei ihm fremd gewesen. Dafür wird seine ausgeprägte, jederzeitige innere Unabhängigkeit hervorgehoben. Es war für ihn, der sehr kontaktfreudig war und demzufolge schnell Anschluss fand, eine

1 von Plehwe, Friedrich-Karl: Reichskanzler Kurt von Schleicher, Weimars letzte Chance gegen Hitler, Esslingen 1983, S. 14. 2 ebd. S.15 unbeschwerte Zeit. Seine im Regiment geschlossenen Kameradschaften hielten lebenslang. Mit drei später bekannten Persönlichkeiten war er im Regiment besonders eng verbunden:  mit Lt. von Hammerstein-Equord, dem späteren Generaloberst und Chef der Heeresleitung (12.1930 – 01.1934),  mit Lt. Oscar von Hindenburg, Sohn des späteren Generalfeldmarschalls und Reichs- präsidenten von Hindenburg, und  mit Lt. Erich von Manstein, dem späteren Generalfeldmarschall. 3 1909 wurde Schleicher zum Oberleutnant befördert und Adjutant des Füsilierbataillons des 3.Garde Regiments. Diese Verwendung hatte er nur ein Jahr. 1910 wurde er für drei Jahre an die Kriegsakademie versetzt. Viel mehr ist der Literatur zu den rund 30 ersten Lebensjahren Schleichers nicht zu entnehmen. Die Gründe hierfür sind, dass er von seinem Naturell her nicht dazu neigte, nach rückwärts zu blicken. Schleicher führte, im Gegensatz zu zahlreichen seiner Zeitgenossen, kein Tagebuch. Seine persönlichen Unterlagen wurden bei seinem gewaltsamen Tod 1934 von den Nationalsozialisten gleich mit vernichtet.

Vom Großen Generalstab in den I.Weltkrieg. Im Herbst 1913 endete Schleichers Generalstabsausbildung. Er wurde als so genannter „überzähliger Hauptmann“ in die Eisenbahnabteilung des Großen Generalstabs kommandiert. Am 1.August 1914, dem Tag des Kriegsausbruchs, folgte die reguläre Versetzung. Leiter der Eisenbahnabteilung war Oberstleutnant i.G. Groener, der Planer und Organisator des rei- bungslosen Aufmarschs 1914, der Voraussetzung für die anfangs erfolgreichen Operationen. Groener und Schleicher verstanden sich von Anfang an sehr gut. Es entwickelte sich eine Freundschaft, die lebenslang hielt, von einer kurzen Phase 1932, auf die ich eingehen werde, abgesehen. Groener nannte Schleicher verschiedentlich seinen „Wahlsohn“ und machte seinen Einfluss geltend, dass Schleicher bald in den Stab des Generalquartiermeisters versetzt wurde und damit eine kontinuierlich gute Verbindung zwischen der Eisenbahnabteilung und dem Stab des Generalquartiermeisters bestand. Schleichers offizieller Titel „Bürooffizier“ 4 war weder zutreffend, noch (nach unserem Verständnis) schmeichelhaft. Die Möglichkeiten für den jungen Generalstabsoffizier Einblick in den Stab zu erhalten und auch an Entscheidungen mitzuwirken, waren außerordentlich groß. Seine Aufgaben lagen in der Logistik, deren weitreichende Verbindung in Politik und Wirt- schaft, die Steuerung der Rüstung und die Abstimmung der Bedürfnisse der Truppe mit denen

3 Vgl. hierzu Hürter, Johannes: Hitlers Heerführer, 2.Aufl. München 2007, S. 48f 4 Nach heutigem Verständnis die STAN-Bezeichnung der Heimat. Hinzu kamen die Verwaltung der besetzten Gebiete und die Zusammenarbeit mit den Verbündeten, soweit es nicht die Operationsführung und Strategie betraf. Was Schleicher schon in der Truppe und in der Generalsstabsausbildung ausgezeichnet hatte, seine schnelle Auffassungsgabe und seine ungezwungenen Umgangsformen, öffneten ihm Türen und ließ ihn rasch auf Verständnis und Interesse stoßen. Er war über alle Zusammen- hänge der Kriegsentwicklung informiert. Sein Wissen nutzte er zur Verbesserung des Informationsflusses im Stab. Die Operationsabteilung und der Stab des Generalquartier- meisters profitierten nachweislich von Schleicher . Als Groener am 1.November 1916 Leiter des neu geschaffenen „Kriegsamtes“ wurde, dem die gesamte Rüstung, einschließlich Arbeitseinsatz, Versorgung und Ernährung oblag, nahm er Schleicher mit. Groener wie Schleicher erkannten, dass gerade soziale Fragen eine zunehmende Bedeutung, insbesondere für die Innen- und Wirtschaftspolitik hatten. Groener ging aus Überzeugung gegen überhöhte Unternehmergewinne und mangelhafte Löhne vor, führte in Uniform (!) Verhandlungen mit sozialdemokratischen und anderen Kreisen und ver- einbarte Tarifverträge. Streiks und Demonstrationen konnten abgewendet werden. Beiden Offizieren sollten diese Erfahrungen in späteren politischen Verwendungen von großem Nutzen sein und einer einseitigen Betrachtungsweise vorbeugen. Es blieb andererseits nicht aus, dass von Seiten der Unternehmer bald Misstrauen aufkam und Klage gegen beide Offiziere - vornehmlich gegenüber Ludendorff - geführt wurde. Im Winter 1916/1917 verdichtete sich bei Groener und Schleicher der Eindruck, dass sich die militärische Lage zunehmend zuungunsten des Reiches entwickeln würde, dass ein Sieg immer unwahrscheinlicher werden würde und dies nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung im Reich. Was Groener wie Schleicher im letzten Kriegsjahr als günstigste Möglichkeit für das Reich ansahen, war ein Verhandlungsfrieden; ein Sieg schien außer Reichweite.

Im Mai 1917 verließ Schleicher (35) den Stab des Generalquartiermeisters und wurde Ia der in Galizien kämpfenden 237. Infanteriedivision. Dieses Frontkommando kam spät aber das war nicht Schleichers Schuld; es dauerte auch nur drei Monate bis August 1917. In dieser Zeit erlebte er den Stellungskrieg gegen die Russen an der Beresina mit heftigen Kämpfen, den Durchbruch der deutsch-österreichischen Truppen im Juli und die Verfolgung der Russen bis an den Sereth, wo die Deutschen zur Verteidigung übergingen. Schleichers Divisions- kommandeur, Generalleutnant von Jacobi, attestierte ihm, sich mit guten Nerven, persön- licher Tapferkeit und stetem Humor in jeder Situation bewährt zu haben. 5

5 vgl. Strenge, Irene: Kurt von Schleicher, Berlin 2006, S. 12

Mit Wirkung vom 11. April 1917 wurde Schleicher wieder in den „Generalstab des General- quartiermeisters im Großen Hauptquartier“ versetzt. Seine Aufgaben waren, wenn auch mit einem erweitertem Verantwortungsbereich, nahezu dieselben wie zweieinhalb Jahre zuvor. Fast gleichzeitig wurde Groeners „Kriegsamt“ wegen Unstimmigkeiten zwischen ihm und Ludendorff aufgelöst. Groener erhielt eine Division. Schleichers neuer Vorgesetzter, Oberst i.G. von Thaer, schreibt in seinen Erinnerungen, „dass Schleicher sich gerade in allen Problemen mit politischem Einschlag bestens zurecht gefun- den und bei allen Beratungen hierüber sich äußerst wendig erwiesen habe. “6 Schleicher habe gegenüber der sich deutlich verschlechternden Kriegslage „ Galgenhumor gemischt mit Gleichmut “ gezeigt. Am 15.Juli 1918 wurde Schleicher (36) zum Major befördert. Zwei Wochen vor Kriegsende führte das Schicksal Groener und Schleicher erneut zusammen. Am 26.10. 1918 war Ludendorff entlassen und Groener zu seinem Nachfolger ernannt wor- den. Er holte Schleicher sofort als Leiter einer in der Obersten Heeresleitung neu aufge- stellten Abteilung für politische Angelegenheiten.

6 ebd. S.20

Kapitel 2 Das Kriegsende und der Übergang in den Frieden

Am 9.11.1918 rief Staatssekretär Scheidemann (SPD) in Berlin die Republik aus. Am Morgen des 11.11. ging Kaiser Wilhelm II. („wenig ruhmvoll“) von seinem Hauptquartier Spa / Ostbelgien in das niederländische Exil. Am gleichen Tag, noch vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandes durch Erzberger in Compiègne, nahm Groener Verbindung zu Ebert auf. Ihm hatte Reichskanzler Max von Baden am 9.11. die Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers übertragen. Seine Worte „Herr Ebert, ich lege Ihnen das Deutsche Reich ans Herz!“ erwiderte Ebert würdevoll und kurz mit „ Ich habe zwei Söhne für dieses Reich verloren“ .7 Ebert und Groener verstanden sich unter dem Eindruck der Not des Deutschen Reiches sehr schnell auf die Notwen- digkeit engster Zusammenarbeit.

Am 14.11.verlegte die OHL, deren vorrangige Aufgabe jetzt die Rückführung des Heeres von der Westfront in die Heimat war, von Spa nach Kassel. Die Kontakte Groeners mit Ebert wurden eng; wenn Groener verhindert war, vertrat ihn Schleicher (Hinweis auf Ebenen!). Die Sicherheits- und Versorgungslage im Reich wurde in nahezu allen Regionen durch die zunehmenden Aufstände linker Gruppierungen immer kritischer. Schleichers Fähigkeit, sich schnell in politische Überlegungen hineinzudenken und zu pragmatischen Lösungen im Sinne und zum Wohle von Reichsregierung und OHL zu kommen, war für Groener eine große Hilfe. „ Groener war von dem Verhandlungsgeschick Schleichers so beeindruckt, dass er es fast zur Regel werden ließ, unbequeme Aussprachen ihm zu überlassen.“ 8 Natürlich fielen die Entscheidungen der OHL durch Hindenburg oder Groener, doch war das Bündnis Eberts mit der OHL Schleichers Werk. Groener hätte es nie ohne den Rat Schleichers abgeschlossen. „Dieses Bündnis wurde von beiden Seiten ehrlich eingehalten.“ 9 Reichsminister a.D. von Braun stellt fest: “Historisch bleiben Schleichers Verdienste um die Rettung der Republik vor Spartakus […] 1918.“ Schleicher war, wie alle Offiziere des kaiserlichen Heeres, monarchisch gesinnt. Die Nieder- lage des Reiches und das Ende der Monarchie berührten somit auch ihn. Doch der unverändert geforderte Dienst am nunmehr republikanischen Vaterland verpflichtete, diesem, unter Einsatz aller Kraft, weiter zu dienen.

7 Prinz Max von Baden: Erinnerungen und Dokumente, Berlin – Leipzig 1927, S. 643 8 Plehwe a.a.O. S. 24. 9 so Gen.a.D von dem Bussche-Ippenburg, vgl. hierzu Plehwe a.a.O., S. 25. Die OHL konnte das abgekämpfte Heer in den folgenden Monaten geordnet in die Heimat zurückführen. Doch in dem Maße wie die Soldaten entlassen wurden, wuchs die Gefahr, dass die Männer durch linke, bewaffnete Gruppierungen, in lokale Bürgerkriege gezogen wurden. Das Reich musste in der Lage sein, der linken Gewalt mit militärischen Mitteln entgegen treten zu können. Hierfür kamen nur die nicht vom Revolutionsbazillus angenagten Truppen in Frage; sie mussten bereit sein, dem nunmehr republikanischen Deutschland treu zu dienen, wenn nötig auch in einem Bürgerkrieg. Die OHL beschloss deshalb, nach entsprechenden Überlegungen mit Ebert, noch im Dezem- ber 1918 die Aufstellung von Freiwilligenverbänden. Schleicher bemühte sich sehr um deren schnelle Aufstellung. Ebert stellte sich voll hinter die Freiwilligenverbände; er begrüßte sie mit den Worten: „ Kein Feind hat Euch überwunden !“. (Aus diesen Worten Eberts soll in der Folge die Dolchstoßlegende entstanden sein.) Im Chaos des zu Ende gehenden Jahres 1918 stellte sich der Erfolg nicht so schnell wie erhofft ein. Der erste größere Einsatz dieser Verbände in Berlin, wo die noch provisorische Regierung Ebert höchst gefährdet war, brachte nicht den erwarteten Erfolg. Die ca. 10 um Berlin stationierten Divisionen (General Léquis) lösten sich teilweise auf oder verbrüderten sich mit den Linksgruppierungen. Sie hatten nach mehr als vier Jahren Krieg nur eins im Sinn: nach Hause! In den letzten Tagen des Jahres ebbten die Unruhen in Berlin und im Reich ab. Die Truppen hatten eine völlig neue Erfahrung machen müssen, die sie vor große Probleme stellte. Die Kommunisten setzten Frauen und Kinder ein, die sie zwischen die Konfliktparteien drängten.

Schleicher war in den Monaten November und Dezember mehrfach in Berlin, dabei hatte er auch mit dem Reichspräsidenten zu sprechen. Am 17.12. gelang es ihm, von Hindenburg und Groener beauftragt, von Ebert Zustimmung zu mehr Härte im Kampf gegen die linken Gruppierungen zu erhalten. Insbesondere ging es darum, strenge Strafandrohungen gegen den illegalen Waffenbesitz durch Zivilisten durchzusetzen. Ebert und Schleicher gewannen Ver- trauen zueinander. Schleicher hatte Hochachtung vor Eberts politischer Umsicht und seinem aufrechten Charakter und dieser schätzte seinen Rat. Zwischen Beiden soll sich „eine nahezu freundschaftliche Beziehung entwickelt haben“.10 Plewhe erwähnt die Lagebesprechungen vom 16. und 20.12.1918, auf denen Schleicher mit Ausführungen zur Überwindung der politischen Ratlosigkeit und der Inaktivität besonders stark hervorgetreten sei. Er appellierte an die Politik, als erste Voraussetzung für die Überwindung der Not im Staat, die Regierungsgewalt wiederherzustellen. Dabei stieß Schleicher mit GenMaj von Seeckt zusammen. Der war von seiner Verwendung in der Türkei

10 Ebd. S. 29. zurück gekommen und noch ohne Verwendung in der Reichswehr. Seeckt plädierte dafür, dass das Reich vorrangig wieder militärisch erstarken müsste. Schleicher, Realist, reformbe- reit und der neuen innenpolitischen Lage gegenüber aufgeschlossen, hatte dagegen erkannt, dass vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Friedensvertragsbedingungen der Alliierten, eine derartige Abfolge der Prioritäten keine Chance auf Verwirklichung hatte. Dem wirtschaftlichen Aufschwung müsse Vorrang eingeräumt werden und selbst wenn sich der abzeichne, müssten militärische Gesichtspunkte noch lange zurückstehen. Ein Mann, der hier erwähnt werden muss, ist der SPD Reichstagsabgeordnete Gustav Noske. Er war von Ebert mit der politischen Leitung des Einsatzes der regierungstreuen Truppen in der bürgerkriegsähnlichen Lage in und um Berlin und in der Folge dann in Bremen, Braunschweig, Münster und dem rheinischen Industriegebiet beauftragt worden (06.01.1919). Schleicher schätzte Noske und dieser wiederum anerkannte in seinen Memoiren Schleichers „Aufgeschlossenheit für die Belange und Rechte der Arbeiterschaft.“ 11 In der ersten Februarhälfte 1919 wurde die OHL von Kassel nach Kolberg verlegt. Die Lage im Westen und in der Mitte des Reiches hatte sich beruhigt. Jetzt wurde die Lage im Osten des Reiches zunehmend kritischer. Polnische Insurgenten hatten die Macht in der Provinz Posen ergriffen. Aber auch in Schlesien, in den Randgebieten zu Böhmen und im Baltikum kam es vermehrt zu Übergriffen auf dort lebende Deutsche. Groener und Schleicher waren nun in Operationsführung gefordert, hinzu kam die Zurückführung größerer Truppenteile, die noch im Baltikum, Weißrussland und in der Ukraine standen. Am 18.01.1919 begann die sogenannte „Versailler Friedenskonferenz“; vier Monate später, am 07.05. wurde das Ergebnis der deutschen Delegation unter Außenminister von Brock- dorff-Rantzau (höchster militärischer Berater: GenMaj von Seeckt) überreicht. Ein Sturm der Entrüstung ging durch das Reich. Die OHL wurde zu Stellungnahmen aufgefordert und – zusammen mit Noske - kamen Groener und Schleicher zu der deprimierenden aber sachge- rechten Erkenntnis, dass eine Ablehnung der alliierten Bedingungen und damit die Wieder- aufnahme der Kämpfe keine Lösung darstellen konnte. Alle Voraussetzungen hierzu fehlten: einsatzbereite Truppen, eine einigermaßen leistungsfähige Logistik und vor allem, Deutsch- land war kriegsmüde. Groener trat einer kleinen Gruppe von Offizieren und einflussreichen Zivilisten, die für die Wiederaufnahme von Kämpfen votierte, mit dem Entschluss entgegen, „ es sei besser den

11 Ebd. S. 32, ferner Noske, Gustav: Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie, Offenbach/Main 1947, S. 310 f. Noskes Durchgreifen hatte Erfolg. ( Nota bene : Weder Ebert noch Noske mischten sich in die Durchführung des Auftrags ein!) Am 19.01.1919 konnten die Wahlen zur Nationalver-sammlung abgehalten werden. Am 06.02. trat diese dann in Weimar zusammen und am 11.02 wurde unter dem Schutz von rd. 7000 Soldaten Ebert zum Reichspräsidenten gewählt.

Vertrag anzunehmen, als dem Feind die Möglichkeit zu lassen, die Grundmauern unserer Existenz zu vernichten. “12 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, Schleicher, wie sein Vorgesetzter Groener, waren über das Versailler Diktat, die dortige Feststellung der Alleinschuld Deutschlands am I. Weltkrieg und die daraus abgeleiteten, nicht erfüllbaren Bedingungen, genauso entsetzt wie alle, nur beugten sie sich den Realitäten. Die Aussichts- und Sinnlosigkeit der Wiederaufnahme des Kampfes sahen Groener und Schleicher im Lichte einer drohenden Zerstückelung Deutschlands. Am 28.06.1919 wurde in Versailles unterschrieben. Schleicher hat – hierin stimmt die Literatur überein – Groener in der OHL in Kassel und Kol- berg nachweislich gut beraten. Seine Urteile und Entschlüsse orientierten sich grundsätzlich an den politischen Fakten, die die militärischen Möglichkeiten des Reiches stets berücksich- tigten. Zahlreiche Noten und Befehle der OHL dieser Zeit wurden von Schleicher feder- führend verfasst, seine Beiträge liegen im Original vor. Mit Sicherheit eine „Arabeske“: Er verfasste auch das Schreiben Hindenburgs an Marschall Foch, in dem sich Hindenburg zur Auslieferung an die Alliierten anstelle Wilhelms II. anbot. Im Herbst 1919 trennten sich Schleichers und Groeners Wege. Groener wurde pensioniert, Schleicher wurde in das neu geschaffene Reichswehrministerium versetzt.

12 von Plehwe a.a.O. S. 35. Kapitel 3 Die ersten Jahre der Weimarer Republik Dienst im Reichswehrministerium (1919 – 1923)

Schleichers neuer, aus der Zusammenarbeit seit Januar 1919 ihm bekannter und geschätzter Minister wurde Noske, Chef der Heeresleitung General Reinhardt, bis dahin preußischer Kriegsminister. Das in das Ministerium eingegliederte Truppenamt, als „getarnter“ Ersatz für den verbotenen Generalstab, führte Gen. von Seeckt. In dessen Abteilung I, Obstlt. von Hasse, wuchs nun eine bis dahin in deutschen militärischen Dienststellen unbekannte Teileinheit auf: die Gruppe III „ Innen- und außenpolitische Angelegenheiten “, Leiter, Major von Schleicher. Ihm waren sieben Hauptleute und Oberleutnante(!) unterstellt. 13 Es war ein Glücksgriff des Personalamtes, einen derartig qualifizierten Offizier mit diesem neuen, diffizilen Metier zu betrauen. Wie vermutlich kein anderer hatte Schleicher in der OHL im Kriege und danach, in Kassel und Kolberg, an der Schnittstelle von Politik und Militär gearbeitet und Erfahrungen sammeln können. Schleicher wurde das Scharnier zwischen Reichswehrministerium und Parlament. Er musste versuchen, für die Armee der jungen Demokratie ein Maximum herauszuholen. Dabei konnte er davon ausgehen, dass viele Parlamentarier der Reichswehr gegenüber skeptisch, wenn nicht sogar ablehnend eingestellt waren. Im Herbst 1919 standen noch etwa 420.000 Mann, einschließlich der Freikorps, unter Waffen. Diese Zahl musste in weniger als zwei Jahren (01.01.1921) auf 115.000 reduziert werden. Zugleich mussten zahlreiche Auflagen der Siegermächte hinsichtlich Ausrüstung und Aus- bildung beachtet werden und das alles unter den Bedingungen einer katastrophalen Finanz- lage des Staates. Die neu aufzustellende Armee musste in den Staat eingepasst werden. Das bedeutete für Schleicher, mit allen Fraktionen und den relevanten Ausschüssen des Reichs- tages - mit Ausnahme der Kommunisten - ein auskömmliches, nach Möglichkeit gutes Verhältnis anzustreben. Das war insofern besonders schwierig, als dass die Oppositionspartei von heute, morgen in der Regierung sein konnte. Dieses Kunststück gelang Schleicher mit Bravour, so (wiederum) die einhellige Auffassung in der Literatur. Schleichers Auffassung zum Verhältnis Reichs- wehr - Politik stimmte weitgehend mit Seeckts Diktum der politischen Neutralität überein. Doch Seeckts Einstellung, dass „das Heer [nur] im Erfassen des Staatsgedankens politisch

13 Hptlt. von Vietinghoff gen. Scheel, Winzer, Marcks und die Oblt. Planck, Crüwell, von Lützow und Müller: viele haben nachfolgend in der Militärgeschichte der Wehrmacht und der NVA eine Rolle gespielt. sein soll. Doch ganz gewiss nicht parteipolitisch.“14 ging Schleicher (Verf.: vermutlich! ) zu weit. Schleicher wollte die Reichswehr nicht politisch „immun halten“. Er sah für sie größeren Gewinn darin, dass sie – insbesondere ihre Offiziere – an den politischen Problemen der Zeit in dem Sinne teilhaben, dass sie Verständnis für sie und damit für politisches Han- deln hatten, ohne allerdings selbst politisch aktiv zu werden.

Der Kapp-Putsch im März 1920 spannte die Reichswehr und ihre Führung in die bis dahin größte Zerreißprobe ein. Ihr Ausgang war für die angeschlagene Demokratie und ihre einzige Stütze, die Reichswehr, glücklich. 15 Der Kapp-Putsch war nur der Anfang einer innenpolitisch – heute kaum vorstellbaren! – unruhigen Zeit. Es folgten die Spartakus-Umtriebe, insbesondere im Ruhrgebiet, die sich dort zu einem richtigen Bürgerkrieg ausweiteten und nur durch den Einsatz der Reichswehr im Mai 1920 beendet werden konnten. Dann putschte erstmals die extreme Rechte gegen die bayrische Landesregierung und schließlich griffen die roten Bürgerkriegshorden von Hölz in Thüringen und Sachsen die rechtmäßigen Regierungen an. Auch hier konnte die Reichswehr die Ordnung wiederherstellen. Mit der Beendigung dieser Unruhen fand ein Revirement in der Reichswehrführung statt. Noske, dem man in seiner Partei vorwarf, nicht konsequent gegen Kapp und Ehrhardt vorgegangen zu sein, musste gehen. Als Nachfolger berief Ebert den Juristen Gessler, einen süddeutschen Liberalen, der dann acht Jahre Reichswehr-Minister war. Seeckt löste General Reinhardt als Chef der Heeresleitung ab, dem man die gleichen Vorwürfe wie Noske machte. Für Schleicher bedeutete der Wechsel auf Seeckt eine Umstellung. Fachlich war Seeckt, insbesondere als Organisator, überragend. Menschlich hielt er in seiner Eiseskälte gepaart mit Hochmut, so gut wie alle Menschen auf Distanz, sein undurchdringlicher Gesichtsausdruck legte seiner Umgebung Zurückhaltung auf. Reichswehrminister Gessler, bescheiden im Auftreten und von wacher Selbstkritik, be- schränkte nolens-volens die Zusammenarbeit mit Seeckt auf das Notwendigste; oft blieb es beim Austausch schriftlicher Informationen. 16 Schleichers Verhältnis zu Seeckt war distanziert aber korrekt. Von Nutzen war, dass zwischen beiden noch der Chef des Truppenamtes (Oberst Heye, dann Oberst Hasse) stand. In

14 von Seeckt, Hans: Gedanken eines Soldaten, Leipzig 1935, S. 93 15 Die Reichsregierung flüchtete (13.03.1920) über Dresden nach Stuttgart. Noske wollte ursprünglich gegen die Brigade Ehrhardt kämpfen, schloss sich dann aber Seeckts Auffassung „Truppe schießt nicht auf Truppe“ an und verhinderte damit eine mögliche Spaltung der Reichswehr. Hinzu kam das Glück, dass die Meuterer unter Kapp und Gen.von Lüttwitz nach vier Tagen unter den Bedingungen eines Generalstreiks aufgaben. Schleicher war mit der unblutigen Beendigung des Kapp-Putsches nicht unmittelbar befasst, er stand jedoch unzweideutig auf der Seite Seeckts und Noskes. 16 Schüddekopf, Otto-Ernst: Das Heer und die Republik, Hannover, Frankfurt/Main 1955, S.116, Fußnote 345. Abwesenheit des Chefs musste Schleicher mit Seeckt allein auskommen; er schaffte es. In seiner Eigenschaft als politischer Berater Seeckts und militärischer Gesslers war Schleicher jetzt das „Scharnier“ zwischen den auf gegenseitige Distanz bedachten Herren. Die Folge war, dass Schleicher Informationslücken und Missverständnisse wechselseitig ausbügeln musste. Sechs Jahre lang, bis zum Ausscheiden Seeckts aus der Reichswehrführung 1926 verstand es Schleicher, in seinen Vorträgen zu Grundsatz- und Tagesfragen Seeckts Anforderungen zu entsprechen. Lediglich am Ende von Seeckts Dienstzeit sollte es zu ernsthafte Spannungen kommen; dazu später mehr. Schleicher diente Gessler und Seeckt loyal; das attestiert Schleicher u.a. der spätere Wehrmachts- und NVA-General Vincenz Müller 17 .

Nach dem Kapp-Putsch kamen für die Weimarer Republik und damit auch für die Reichswehr ruhigere Zeiten. Als Konstante blieben die häufigen Regierungswechsel. Die Reichswehr- führung konnte daran gehen, den Auf- und Ausbau der Reichswehr unter den Vorgaben des Versailler-Vertrages - zugleich unter einem sehr engen Finanzrahmen - zu gestalten.

Schleicher brachte der Republik „Loyalität ohne Augenzwinkern“ entgegen. „ Er wandte sich [.] temperamentvoll gegen die Überspitzung und zu hohe Bewertung des [.] Begriffs National. Gelegentlich entfuhr ihm die Erklärung, dass er das Adjektiv könne, weil es zu oft für die Begründung von törichten und den Interessen des Landes entgegenlaufenden Plänen missbraucht würde. “18 Seine Haltung gegenüber der Regierung wurde bald von so genannten „völkischen Gruppierungen“ kritisiert, sie dichteten ihm eine sozialistische Gesinnung an. Fraglos war Schleicher konservativ, er hatte allerdings keine Schwierigkeiten damit, dass sein Vaterland nun eine Republik war. Das Zustandekommen des Vertrages von Rapallo (16.04.1922), von Seeckt anfangs zögerlich befürwortet, wurde auch von Schleicher mit großer Vorsicht beobachtet. In der besonderen Situation der Reichswehr sahen Seeckt und Schleicher eine Möglichkeit, sich für die Verteidigungsfähigkeit des Landes aus den Auflagen des Versailler-Vertrages zu lösen. Schleichers Zögern war möglicherweise darin begründet, dass er eine Aussöhnung mit Frank- reich nicht - wie Seeckt - grundsätzlich ausschloss19 . Seeckt - und nicht nur er! – sahen, in der Sowjetunion den fraglos ungeliebten aber natürlichen Verbündeten Deutschlands zur

17 Müller, Vincenz: Ich fand das wahre Vaterland, Berlin 1963, S.220. 18 von Plehwe a.a.O. S. 57. 19 von Mannstein, Erich: Aus einem Soldatenleben 1887 – 1939, Bonn 1958, S.84 ff. Wiedergewinnung der an Polen verlorenen Gebiete. Das war politisch logisch, darüber hinaus war es auch eine Möglichkeit, Deutschland aus seiner politischen Isolierung zu lösen. 20 In der Folge des Rapallo-Vertrages kam es dann zu der streng geheimen deutsch- sowjetischen militärischen Zusammenarbeit. Der erste Schritt war 1923 der Aufbau einer -Flug-zeugfabrik in Fili bei Moskau, es folgte 1924 eine Fabrik für die Kampfgasentwicklung bei Lipzek und nördlich Woronesch´ ein Fliegerausbildungszentrum. 1927 nahm eine Gaskampf-schule in Saratow die Arbeit auf und die gemeinsame Panzerentwicklung in Kasan begann. Schleicher war für die Einleitung erster Schritte verantwortlich und in der Folge für die strikte Geheimhaltung dieser Umgehung des Versailler-Vertrages. Die Reichswehrführung legte größten Wert darauf, dass die Politik die Verantwortung für die Ausbildung der Reichswehr in der Sowjetunion übernahm und die Gelder hierfür genehmigte. Diese für die Reichswehr sehr ertragreiche Zusammenarbeit endete kurz nach dem Regier-ungsantritt der Nationalsozialisten im Februar 1933. Am 01.04.1922 wurde Schleichers Gruppe dem Chef des Truppenamtes unmittelbar unter- stellt. Das war die Folge aus Schleichers Vorträgen vor dem Minister – inzwischen häufiger im Alleinvortrag für die Heeresleitung! - und dem Chef der Heeresleitung.

Die Zeit relativer Ruhe und des konsolidierenden Aufbaus der Reichswehr ging 1923 mit drei politischen Paukenschlägen zu Ende. Im Januar 1923 kam es zur Besetzung des Ruhrgebietes durch Franzosen und Belgier, weil das Reich – so der Vorwurf - vorsätzlich, seine ihm nach Versailler-Vertrag obliegenden Kohlelieferungen vernachlässigt habe. Frankreich marschierte mit fünf Divisionen, Belgien mit einem kleinen Kontingent in das entmilitarisierte Ruhrgebiet ein. Am 13.01. verkündete Reichskanzler Cuno den passiven Widerstand, der von der Bevölkerung des Ruhrgebiets befolgt wurde. Die sich daraus entwickelnde Wirtschaftskrise und die galoppierende Inflation ließen den passiven Widerstand am 26.08.1923 zusammenbrechen. Der Versuch der Franzosen durch die Ausrufung einer „Rheinischen Republik“ (21.10.1923) und mit der Errichtung eines „Autonomen Pfalzstaates“ eine Zerstückelung Deutschlands einzuleiten, scheiterte schnell am breiten deutschen Widerstand und dem Druck Großbritanniens auf Frankreich, diese Politik aufzugeben. Die seit geraumer Zeit, durch die wahnwitzigen Finanzauflagen des Versailler-Vertrages heftig um sich greifende Inflation in Deutschland , erreichte ihren Höhepunkt. Der Franc und andere Währungen wurden nun in den sich internationalisierenden Inflationsstrudel hinein gerissen. Nur das Eingreifen der USA mit dem Dawesplan verhinderte in der Folge das

20 Vgl. hierzu Schüddekopf a.a.O., S.160 ff. Zusammenbrechen der Weltwirtschaft. Am 15.11.1923 beendete die Ausgabe der Rentenmark die Inflation. Während sich die Reichregierung bemühte, diese beiden Krisen zu meistern, glaubten linke und rechte Kräfte die Schwäche des Staates für dessen Umsturz und der Einführung ihrer Systeme nutzen zu können. Die Reichswehr als einzige Exekutive des Staates, war dessen entscheidende und einzig verlässliche Stütze des Reiches. Der größte Unruheherd war seit April 1923 Bayern. Noch im Frühjahr 1919 von einer Räterepublik, wurde es nun von der extremen Rechten bedroht. Für die Reichswehr war das kritischste Moment der eklatante Ungehorsam des Befehlshabers im WB VII (Gen. von Lossow). Schleicher riet ohne Zögern zu einer harten Haltung gegenüber der ungehorsamen Reichswehrführung in München. Er sah die un-mittelbare Gefahr für den Zusammenhalt der Reichswehr und entsprechend scharf waren seine für Gessler und Seeckt abgefassten Weisungen. Zu den Schwierigkeiten mit den Rechtsextremen in Bayern kamen im Oktober offene Unruhen durch Linksextreme in Hamburg, in Sachsen und in Thüringen. In allen drei Ländern konnte die Reichswehr durch schnelles Zupacken die kommunistischen Aufstände im Keim ersticken. Das gelang in München erst am 9.11.1923, als der „Marsch auf die Feldherrnhalle“ durch loyale bayrische Polizei beendet wurde. Wie bekannt, übertrug Reichspräsident Ebert General von Seeckt am 11.11.1923 die voll- ziehende Gewalt. Seeckt gab sie Ende Februar 1924 wieder an Reichskanzler (Marx / Zen- trum) zurück. Für Schleicher bedeuteten diese 3½ Monate Notstand eine gewaltige Mehrbe- lastung. Er war im Reichswehrministerium verantwortlich für die Führung der Reichswehr im Ausnahmezustand; Seeckt ließ ihm hierzu weitgehend freie Hand (Auftragstaktik!). Die Reichswehr musste nicht nur Sorge dafür tragen, dass nicht neue Unruhen aufkeimten, sie musste auch die Versorgung der darbenden Bevölkerung in zahlreichen Großstädten gewährleisten und ganz nebenbei liefen die Vorbereitungen der Umstellung der inflations- geplagten Reichsmark auf die Rentenmark. Die Weimarer-Regierung hatte - abgesehen von der Finanzverwaltung – weniger Möglichkeiten des „Durchregierens“ verglichen mit der Bundesregierung. Die Reichswehr musste in diesen Tagen jedoch in zahlreiche zivile Bereiche „hineinregieren“, um Sicherheit und Ordnung aufrecht zu erhalten. Auch das gehörte zu Schleichers Aufgaben. 21 Eine Darstellung der Leistungen Schleichers kann hier nur gestreift werden. Drei Beispiele: - Führung eines nahezu zeitgleichen Einsatzes der Reichswehr in vier Ländern gegen politisch motivierte Aufstände 22 ,

21 Müller a.a.O., S. 207. 22 Schüddekopf a.a.O., S.186, Dokument 78 - Organsation einer caritativen Aktion „Reichswehr-Weihnachten für die Armen“ und - Einwirken auf einen Interessenausgleich von Arbeitnehmern und Arbeitgebern um eine innenpolitisch stabilere Lage im Reich zu erreichen.23 Zur Frage, ob und wieweit Schleicher auf Seeckt eingewirkt hat, seine ihm mit der Übertra- gung der vollziehenden Gewalt gegebene exekutive Vollmacht zu einem frühen Zeitpunkt wieder zurückzugeben, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Ich halte es für nicht wahr- scheinlich, dass der politisch denkende Schleicher, seinem Vorgesetzten zu etwas anderem als zu einer frühen Rückgabe der Exekutivgewalt geraten hat. Und so handelte Seeckt dann auch am 23.02.1924, als der Ausnahmezustand beendet wurde.24 Seeckt anerkannte Schleichers Leistungen am 23.12.1923 mit dessen außerplanmäßiger Beförderung zum Oberstlt. Ein Truppenkommando, das angestanden hätte, wurde, soweit bekannt, nicht erwogen. Schleicher schien in seiner Verwendung auf dem politisch-mili- tärischen Parkett unentbehrlich und er selbst leistete offensichtlich diesen Dienst gern.

23 Schüddekopf a.a.O., S.192, Dokument 82a. 24 Ebda. S. 193, Dokument 82b. Kapitel 4 Konsolidierung der Reichswehr und auf dem Weg in die „große“ Politik 1924 – 1930 . Das Reich war von drei Kräftegruppierungen bedroht: im Inneren von der extremen Rechten und der extremen Linken und von Außen, unterschiedlich in der Intensität, durch die Sieger von Versailles. Die größere Gefahr für die innere Stabilität ging von den Kommunisten aus. Sie hatten Moskau sowohl ideologisch als auch als politisch-militärisch hinter sich. Die Nationalsozialisten waren noch im Aufwuchs, auf sich gestellt und ohne Abstützung auf eine auswärtige Macht. Die gefährlichste Lage für das Reich konnte durch einen Bürgerkrieg der beiden Extreme entstehen, wenn die schwache Staatsautorität ihn nicht schnell beenden konnte; er hätte auswärtige Mächte zur Intervention geradezu eingeladen. Schleichers Abteilung im Truppenamt (T 1 III) war wegen ihrer gewachsenen Bedeutung - die allerdings nur wenige richtig einschätzen konnten - viele aber überschätzten 25 , seit 1922 der Amtsführung unmittelbar unterstellt. Am 01.Februar 1926 wurde sie aus dem Amt herausgelöst, damit Seeckts unmittelbaren Einfluss entzogen und Reichswehrminister Geßler direkt unterstellt. Das gute Verhältnis Geßlers zu Schleicher allein konnte nicht den Aus- schlag gegeben haben, was aber letztendlich ihn gab, ist unbekannt. Schleicher selbst dürfte gegen die Neuunterstellung nichts eingewendet haben, zumal sie mit der Unterstützung anderer Offiziere (z.B. von Stülpnagel) betrieben worden war. Im März 1926 wurde Schleicher (44) zum Oberst befördert. Seine für Reichswehrverhältnisse sehr schnelle Karriere, wurde ihm (noch) nicht geneidet; nicht zuletzt weil sie außerhalb der „normalen“, sichtbaren Verwendungen in der Reichswehr stattfand. Argwöhnisch unterstellte man ihm aber im engeren Kreis, dass er Ambitionen auf den Staatssekretärposten habe. Neider fanden sich bald in der Generalität und unter den höheren Stabsoffizieren aber auch in den Parteien kam Kritik auf. Als Seeckt nach seiner politisch nicht opportunen Einladung des Kronprinzen zum Herbst- manöver 1926 zurücktreten musste, wurde Schleicher eine Mitschuld zugeschrieben. Er habe intrigiert, sein Ehrgeiz militärischer Staatssekretär zu werden, sei die Triebfeder gewesen. Doch dafür gibt es keinen Beweis! Schleicher hat versucht, zwischen Seeckt und Geßler, der sich von Seeckt nicht zu unrecht hintergangen fühlte, zu vermitteln. 26 Geßler stellt in seinen Memoiren allerdings klar: „ Verantwortlich für die Lösung [Seeckt zu entlassen] … bin einzig und allein ich. Ich habe von niemandem Rat erbeten und erhalten. Ich habe mit niemanden

25 Gordon, Harold, J.: Die Reichswehr und dir Weimarer Republik 1919- 1926, Frankfurt/Main 1959, S. 179. 26 Ebda. S. 259 und 261. aus dem Hause [und nun ganz explizit!] auch nicht mit Schleicher, darüber nur ein Wort gesprochen.“ 27 Sicher dürfte sein, dass Schleicher Seeckts Ausscheiden weder politisch noch menschlich bedauert hat. Hindenburg, Geßler und Seeckt einigten sich schnell auf einen Nachfolger als Chef der Heeresleitung: General d. Inf. Heye. Am 16.12.26 hielt der Reichstagsabgeordnete Scheidemann (SPD) eine gefährliche Rede im Parlament. Er posaunte die geheimen Absichten der Reichswehrführung, neben der Reichs- wehr einen wirksamen Grenzschutz gegenüber Polen und der Tschechoslowakei aufzubauen, heraus. Noch schlimmer, er zerrte die streng geheime, sich sehr positiv entwickelnde Zusammenarbeit der Reichswehrführung mit der Roten Armee vor das Parlament. Die SPD distanzierte sich von Scheidemann und mit viel Glück konnte die bürgerliche Regierung (RK Marx 28 ), insbesondere Stresemann und Geßler außenpolitischen Schaden vom Reich aber auch innenpolitische Verwerfungen abwenden. Schleicher musste die Wogen glätten. 29 Im Januar 1928 trat Minister Geßler zurück. Anlass waren vornehmlich Unregelmäßigkeiten bei Reichswehr-Beschaffungsvorhaben („Phoebus-Affäre“). Persönlich war Geßler nicht in die Affäre verwickelt; er war aber nach 6 Jahren in einer politisch äußerst schwierigen Zeit amtsmüde und nutzte die Gelegenheit zum Rücktritt. Sein Nachfolger wurde zu Schleichers großer Genugtuung sein „ väterlicher Freund“ der Gen.d.Inf. Groener, bisher Reichsverkehrs- minister. Schleicher hatte dessen Ernennung, vornehmlich über Oskar von Hindenburg, aktiv und wie sich bald erweisen sollte, zum Nutzen der Reichswehr, gefördert,

Zum 01.03.1929 wurden die Wehrmachtsabteilung, die Abwehr und die Rechtsabteilung in einem neu gebildeten Reichswehr-Ministeramt zusammengefasst und Schleicher zum Chef dieses Amtes ernannt. Damit hatte das Reichswehrministerium de facto den lange angestreb- ten Staatssekretär, der allerdings nicht so hieß. Am 01.10.1929 wurde Schleicher zum Generalmajor befördert. 30 Diese Karriere – weit außerhalb einer Truppenverwendung! – führte nun doch im höheren Offizierkorps, wie auch in der interessierten Öffentlichkeit zu Erstaunen, vereinzelt auch zu Unmut. Der Chef der Heeresleitung, Gen.Obst Heye, wollte die offensichtliche Schwächung seiner Position, die durch die Herausnahme der „politischen“ Elemente aus dem Truppenamt entstanden war, zudem sich weitere derartige Maßnahmen abzeichneten, nicht hinnehmen

27 Vogelsang a.a.O. S. 50 28 4 Kabinette führte Marx / Zentrum 11,1923- 06.1924, weiter bis 01.1925, 05.1926 -01.1927 und weiter bis 06.1928. 29 Plehwe a.a.O., S. 106 und Strenge a.a.O. S. 46. 30 Vom 23.09. bis 01.10. war Schleicher „überzähliger“ Generalmajor. „Überzähligkeit“ bedeutete Verzicht auf Patent und Gehalt bis alle anderen zur Generalsbeförderung anstehenden Obristen befördert worden waren. und protestierte. Groener legte Heye den Rücktritt, vor dem er eh kurz stand, nahe; Heye nahm an.

Um seinen Nachfolger kam es jetzt zu Auseinandersetzungen, in die auch Schleicher ver- wickelt werden sollte. Nicht der sehr befähigte und als Favorit angesehene Gen.d.Kav von Stülpnagel wurde am 01.12.1929 Chef der Heeresleitung sondern Schleichers Kamerad aus dem 3.Garde Infanterie Regiment zu Fuß, Gen.d.Inf von Hammerstein-Equord. Diese Entscheidung wurde Schleicher im wesentlichen angelastet. Eine mindestens gleich bedeutsame Rolle hat aber auch Hindenburgs Sohn Oskar, der Regimentskamerad, gespielt. Einzelheiten für die Entscheidung zugunsten Hammersteins sind nie bekannt geworden. Möglicherweise war das ausschlaggebende Kriterium, dass man in Hammerstein einen standfesteren Exponenten gegenüber einem präsumtiven Reichskanzler Brüning (Zentrum) sah, der geneigt schien, mit Notverordnungen und Parlamentsauflösung zu regieren. Das entsprach weder Hindenburgs, noch Groeners, noch Schleichers Vorstellungen von Parlamentarischer Demokratie. Wie heftig das Tauziehen um Heyes Nachfolge gewesen sein muss, kann man daran ablesen, dass die Position des Chefs der Heeresleitung 11 Monate vakant war! Schleichers Freundschaft mit Stülpnagel war beendet. Am 27.03.1930 wurde die Regierung Müller (SPD) gestürzt. Die SPD resignierte. Drei Tage später stellte Brüning (Zentrum) sein Minderheitenkabinett (Zentrum bis Volkskonservative) vor. Seine Absicht war es, seine Regierung nicht parlamentarisch zu gefährden, sondern die verfassungsmäßigen Möglichkeiten des Reichspräsidenten 31 , die Kombination von Notverordnung und Auflösungsrecht, zu nutzen, um so mit einer starken Exekutive durchgreifende wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen zu treffen. 32 Groener wie Schleicher sahen in einer Notverordnung nur eine „ultima ratio“. Sollte sie jedoch notwendig werden, dann wollten sie in dem dann de facto regierenden „Dreigestirn“ Reichspräsident, Reichskanzler und Reichswehrminister, keinen Sozialdemokraten. Unter den Auspizien des Artikels 48 wurde die Reichswehr zur vollziehenden Gewalt im Staate. Sie musste im Notfall gegen links- wie rechtsradikale Kräfte eingesetzt werden. Und hier erschien Schleicher Hammerstein als ein beiden radikalen Flügeln gleichermaßen kompro- misslos gegenüber stehender Chef der Heeresleitung als die beste Lösung. Am 18.07.1930 wurde der Reichstag aufgelöst. Die fast zwei Jahre (30.05.1932), in denen Brüning mit Notverordnungen regieren sollte, begannen. Die Reichstagswahlen vom

31 Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Artikel 48 in Verbindung mit 25 u.a. Artikeln. 32 Vogelsang a.a.O. S. 58 erwähnt hier die „stumme Präsenz der roten Mappe (Auflösungsorder der Regierung)“ 14.09.1930, mit dem Ansteigen der NSDAP-Mandate von 12 auf 107 überraschten Groener wie Schleicher. Die Reichswehrführung musste nach dem Aufsehen erregenden Prozess gegen drei Offiziere des Ulmer Artillerieregiments 3 vor dem Reichsgericht in Leipzig erkennen, dass der Nationalsozialismus, wenn auch vereinzelt, in der Truppe Fuß gefasst hatte. 33 Das erklärte Ziel der NSDAP war, einen Keil in die Reichswehr zu treiben, in dem sie zunehmend ihre Führung, insbesondere Hammerstein und Schleicher, wegen ihres angeblichen Linkskurses angriff. Tatsächlich hatten beide Generale sich unmissverständlich gegen ein weiteres Aufwachsen der SA und deren von Röhm betriebene Annäherung an die Reichswehr gewandt. Hitler, der als Zeuge im Ulmer Prozess geladen war, versicherte unter Eid (!), dass er die Macht im Staate nur auf legalem Wege erreichen wolle; er wolle keine Zersetzung der Reichswehr! Im Laufe des Jahres 1931 kamen Groener und Schleicher zu der Überzeugung, dass die NSDAP, die auf Landtagsebene zunehmend Wahlerfolge hatte, langfristig in eine Regierungs- verantwortung unter den Einschränkungen von Notverordnungen einzubinden sei. Durch ein derartiges Vorgehen wollten sie die NSDAP „zähmen“ 34 . Schleicher sah eine weitere Mög- lichkeit, der Gefahr von Rechts entgegentreten zu können darin, zu versuchen, die keinesfalls homogene NSDAP zu spalten.35

33 Prozess gegen die Offiziere des ArtRgt 3, Lt. Ludin und Scheringer sowie Oberlt. Wendt, am 05.10.1930 angeklagt wegen Hochverrat. Das Urteil war Ausschluss aus der Reichswehr sowie Festungshaft. Vgl. Schüddekopf a.a.O. S. 265 – 279. Vgl. auch Krausnick, Helmut: Die Wehrmacht im III.Reich 1933-1939, S. 289f, in: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd. 3, Tübingen 1957. 34 „Zähmen“ ist der einschlägige Ausdruck für die Einbindung der NSDAP in das parlamentarische System. 35 Vgl. Strenge a.a.O. S. 79ff., Schüddekopf a.a.O. Dokument 132 und Plehwe a.a.O., S.148ff., Kapitel 12 und Ritter, Gerhard: Der 20. Juli 1944: Die Wehrmacht und der politische Widerstand, S.358 f., in: Schicksals- fragen der Gegenwart, Bd. 3, Tübingen 1957.

Kapitel 5 Januar 1931 – Dezember 1932 Die Zeit der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

In der ersten Hälfte des Jahres 1931 beunruhigte Schleicher das ungestüme Aufwachsen der NSDAP, insbesondere das ihrer zunehmend schlagkräftigeren paramilitärischen Organisation SA unter ihrem „Chef des Stabes“ Ernst Röhm (seit Januar 1931). Schleicher prüfte Möglich- keiten, die SA in ihren Wirkungsmöglichkeiten einzuschränken. 36 Er führte Gespräche mit Göring, Graf Helldorf (Berliner Polizeipräsident) und Röhm. Teilerfolge waren Schleicher beschieden. U.a. Hitler stimmte zu, die SA in die Planungen für den Grenzschutz Ost einzube- ziehen und untersagte die weitere Teilnahme der „Parteiarmee“ an Straßenkämpfen (vornehmlich in Berlin) gegen Rotfront und Rotbanner. Im Auftrage Groeners arbeitete Schleicher aktiv an der Verbesserung des dt.-frz. Verhält- nisses. Sein gutes Verhältnis zum Französischen Botschafter, Francois-Poncet. war dabei sehr hilfreich. Im Juli 1931 heiratete der „ewige“ Junggeselle Schleicher die geschiedene Frau seines Vetters Bogislav; es wurde eine kurze aber sehr glückliche Ehe. Das zweite Halbjahr 1931 war durch heute nicht mehr vorstellbare innenpolitische Turbulenzen gekennzeichnet . Bankenkrach (13.06.), weitreichende, vornehmlich wirtschaftliche Notverordnungen für die Länder und zur Stützung der maroden Wirtschaft und Finanzen des Reiches, die Bildung der „Harzburger Front“ (NSDAP, Deutschnationale und Stahlhelm) und der „Eisernen Front“ (SPD, Gewerkschaften, Reichsbanner Schwarz-Rot- Gold). Schleichers vorrangiges Ziel war die Stützung der ständig von Misstrauensvoten bedrohten Regierung Brüning. Schleicher nutzte dabei seinen direkten Draht zum Reichspräsidenten über dessen Sohn, den Regimentskameraden Oskar von Hindenburg. Als im Oktober 1931 zwei Minister 37 das Kabinett Brüning verließen, konnte Schleicher Minister Groener dazu bewegen, zusätzlich das Innenministerium zu übernehmen. Obwohl in der Literatur nicht nachvollziehbar, kann davon ausgegangen werden, dass Schleicher in dieser Zeit der unverändert anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, die innenpolitische Absicherung des Reichs durch Einsatz der Reichswehr vor Augen hatte. Schleicher war zu diesem Zeitpunkt, da er Groener oft vertreten musste, der „de facto-Reichswehrminister“.

36 Vgl. hierzu Fest, Joachim C.: Hitler, Berlin 1973, S.415 37 Curtius (DVP), AuswAmt, sein Nachfolger wurde Reichskanzler Brüning in Doppelverwendung und Wirth (DVP), InnMin, dessen Nachfolger, gleichfalls in Doppelverwendung, Reichswehrminister Groener wurde. Im Oktober 1931 empfing Hindenburg Hitler zum ersten Mal. Schleicher hatte Hindenburg zu diesem Gespräch geraten, dem ein wenig substantielles Gespräch Schleichers mit Hitler 38 vor- ausging. Den Hintergrund bildete das schwächelnde Kabinett Brüning (seit 30.03.1931). Schleichers Urteil nach dem Gespräch mit Hitler war ernüchternd, über die Person sarkas- tisch. „[Er] versteige sich in seinen Plänen in zu hohe Regionen und müsse dann am Rockzipfel auf den Boden der Tatsachen heruntergezogen werden. Das sei aber nicht einfach, denn Hitler nähme seinem Gesprächspartner ständig den Satz aus dem Mund und sein Wortschwall überstürze sich dann wie ein Giesbach.“39 Hindenburg soll nach seinem ebenfalls ergebnislosen Gespräch geäußert haben, dass dieser „böhmische Gefreite allenfalls einmal als Postminister in Frage käme! “40 Während die politischen Extreme an politischem Gewicht zunahmen, ging der Einfluss der politischen Mitte zurück. Die Wirtschaftslage des Reiches hatte sich nicht verbessert (6 Mio. Arbeitslose im Januar 1932). Der Ausgang der Wahl zum Reichspräsidenten im März 1932 war unsicher, der 85-jährige Hindenburg zeigte wenig Neigung für eine weitere Amtszeit. Eine Lösung der zahllosen innenpolitischen Probleme des Reiches wurde immer unwahrscheinlicher . Schleicher sah zu diesem Zeitpunkt eine Lösungsmöglichkeit nur noch in der Hereinnahme von starken rechten Kräften in eine Regierung mit dann breiter Grundlage. Eine derartige Lösung wollte aber Brüning nicht. Am 22.10.1931 traf sich Schleicher erneut mit Hitler, Röhm und weiteren hohen NSDAP- Funktionären sowie Vertretern der Harzburger Front. Auch dieses Treffen brachte keine Ergebnisse. Schleichers Hoffnung, dass NSDAP und Harzburger Front zustimmen würden, in eine dann auf breiter Basis bis zum Zentrum reichende Regierung einzutreten, schwand. Die Forderungen der „Harzburger Front“ wurden zunehmend maßloser, ein konstruktives, zumindest partielles Mitregieren lehnte sie ab. Schleicher gewann in diesen Verhandlungen und weiteren Informationen einen „Vorgeschmack von Hitlers nahezu unbegrenzter Bereitschaft, eine widersprüchliche und unorthodoxe Politik zu betreiben.“ 41 Die angestrebte „Zähmung “ Hitlers und seiner Partei, mit der manche konservative Politiker noch geliebäugelt hatten, wurde zunehmend unrealistischer.

Schleicher beschrieb Hitlers Rolle im Wahlkampf drastisch aber zutreffend: „ Da ich über- zeugt bin, dass Hitler zum Reichspräsidenten geeignet ist wie der Igel zum Handtuch und weil ich fürchte, dass seine Präsidentschaft zum Bürgerkrieg und letzten Endes zum Bolsche-

38 Vgl. Schüddekopf a.a.O. S. 327 (Dokument 132) und 328 (Dokument 134) 39 Plehwe a.a.O. S. 147 40 Fest a.a.O., S. 419 41 Plehwe a.a.O., S. 152 wismus führt, ist die Entscheidung, wem man seine Stimme geben soll, […] wirklich nicht schwer.“ 42 Der Niederlage Hitlers bei der Wiederwahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 43 folgten wenige Tag später (23.04.1032) deutliche Stimmengewinne der NSDAP in 4 Landtags- wahlen.44 Am 13.04.1932 wurden SA und SS mit der „Notverordnung zur Sicherung der Staatsautori- tät“, verboten. Das bisher sehr gute Verhältnis Schleichers zu Groener erlitt dabei einen tiefen Riss. Groener fühlte sich durch Schleicher, der seinen Einfluss bei Hindenburg geltend gemacht hatte, (nicht zu unrecht) hintergangen. Lassen Sie mich auf dieses in der Literatur immer wieder herausgestellte Ereignis des Bruchs der beiden Männer etwas genauer eingehen. Ursprünglich wollten beide die militanten Verbände der NSDAP (SA, inzwischen auf rd. 400.000 Mann angewachsen!), der nationalen Rechten (Stahlhelm) und der SPD (Reichsbanner) - nicht jedoch die „Rotfront“ (KPD) – in einem großen Wehrsportverband zusammenführen. Dadurch sollten sie entpolitisiert werden und unter einer Art „Reichswehr-Aufsicht“, eine Miliz für die Reichswehr bilden. Diese war für die Verteidigung des Reiches als 100.000 Mann Heer viel zu schwach. Die Heeresleitung (Heye/Hammerstein) hatten das Vorhaben befürwortet. Wegen der ab Mitte 1931 immer gewalttätiger werdenden politischen Auseinandersetzungen, drängten auch die Länderministerpräsidenten auf entsprechende Reichsgesetze. Falls diese nicht kämen, wollten sie auf Landesebene handeln. Groener sah sich im Zugzwang, die Handlungsfähigkeit der Reichsregierung musste demonstriert werden. Anfang April 1932 änderte Schleicher seine Absicht hinsichtlich der SA . Er wollte sie nun, wenn möglich mit Zustimmung Hitlers, wenn nicht, per Notverordnung unter Reichs- aufsicht stellen. Das hätte Röhms Intentionen entsprochen, nicht jedoch Hitlers und hier sah Schleicher die Möglichkeit, einen Keil zwischen Röhm und Hitler zu treiben. Doch wie sich bald herausstellen sollte, hatte Schleicher Hitlers dominante Rolle unterschätzt. Brüning und Groener erhielten Hindenburgs Zustimmung zu einer Notverordnung, mit der nur die SA verboten wurde. Schleicher und die Heeresleitung hatten verloren. Die Notverordnung wirkte sich kaum aus. Die NSDAP, die nicht verboten worden war, führte unverändert die SA. Schleicher glaubte noch, die NSDAP politisch „zähmen“ zu können. Auch schreckte er davor zurück, vor den Länderwahlen (24.04.) die NSDAP in eine

42 Plewhe a.a.O. S. 158 f. 43 1. Wahlgang 13.03.1932: 49,6% für Hindenburg, 11,3%, für Hitler 30,1%, für Thälmann 13,2% 2. Wahlgang 10.04.1932: 53,0% für Hindenburg, 36,8%, für Hitler 36,8%, für Thälmann 10,9% 44 Wahlen am 23.04.1932 in Preußen, Bayern, Württemberg, Anhalt und Hamburg Art Amoklauf zu treiben und schließlich war mit einem Verbot sein Plan, der Reichswehr mittelfristig eine Miliz an die Seite stellen zu können, durchkreuzt. Die formale Zusammenarbeit Groeners mit Schleicher lief weiter. Hindenburg ließ, insbe- sondere nach den verheerenden Wahlergebnissen (Preußen: NSDAP von 9 auf 126 Sitze!) Unmut über Groener erkennen. Dieser war durch die doppelte Minister-Belastung, gesund- heitlich angeschlagen, Hindenburg bezeichnete ihn als „ nicht mehr felddienstfähig “. Am 12.05.1932 trat Groener vom Amt des Reichswehrministers zurück, blieb aber Innen- minister. 45 Am 30.05.1932 trat das Kabinett Brüning zurück und damit auch Groener. Dessen Unmut über Schleicher verflog schnell. 46 Nach gründlichem Literaturstudium komme ich zu der Auffassung, dass die Kontroverse Groener – Schleicher von interessierter Seite hochgespielt wurde . Meissner wird als Zeitzeuge Recht haben: “Die Entfremdung […] ist von den Kommentatoren jener Jahre oft übertrieben worden.“ 47 Schleicher hatte, als sich das Ende des Kabinetts Brüning abzeichnete, beim Reichspräsi- denten den politischen Außenseiter (1879-1969) ins Gespräch gebracht. Ihn beauftragte Hindenburg mit der Bildung eines „ Kabinetts der nationalen Konzentration “, das am 01.06.1932 - wiederum ohne parlamentarische Mehrheit - gebildet wurde. Schleicher wurde darin Reichswehrminister 48 , er sah sich seinem „Zwischenziel“, die Nazis in eine Regierungsverantwortung einzubinden, näher. Überraschenderweise hatten die Nazis - neben den Deutschnationalen - einer Regierungs- bildung unbefristet zugestimmt. Allerdings war Hitler nicht bereit gewesen, Papen eine schriftliche Zusage für eine kontinuierliche Zusammenarbeit zu geben. Hitler dachte länger- fristig! Als man Schleicher darauf hinwies, dass „Papen doch kein Kopf wäre“, antwortet er mit der ihm eigenen Ironie - seine eigene Rolle aber überschätzend - „das soll er auch nicht. Aber er ist ein Hut.“ 49 Schleicher musste sein Urteil über Papen bald revidieren. Am 14.06.1932 erhielt Hitler die Gegenleistung für seine Regierungstolerierung, das Verbot der SA (und SS) wurde wieder aufgehoben. 50

45 Vgl. hierzu Conze, Werner: Zum Sturz Brünings, in VfZ Nr. 1/1953, S. 261 - 288 46 Groener schrieb am 22.05.1934 an einen Freund (nach Groener-Geyer, Dorothea: General Groener, Soldat und Staatsmann, Frankfurt/Main 1955, S. 325 f.): „ dass [Schleichers] Aktion schon lange gegen mich gegangen wäre, glaube ich keinesfalls, er hatte mir zweifelslos einen dicken Posten in seinem Spiel zugedacht, zeitweise sogar den Reichskanzlerposten. Da ich ihm aber in der Nazifrage ausgebrochen bin, habe ich ihm sein fein ausgeklügeltes Spiel verdorben. […] ich bin meinem Freund Schleicher keineswegs böse. Er meint, mangels an Egoismus hätte ich mich selbst gestürzt .“ 47 Meissner, Hans-Otto: 30. Januar 1933, Esslingen 1976, S.366, Fußnote 30. 48 Schleicher wurde aus dem aktiven Dienst als General der Infanterie verabschiedet. 49 Vogelsang a.a.O., S. 71. 50 Einen Monat später kam es zum „Altonaer Blutsonntag“ (17.07.1932) Am 20.07.1932 enthob Papen die geschäftsführende Regierung Braun in Preußen 51 durch Notverordnung mit gleichzeitigem militärischem Ausnahmezustand ihres Amtes und machte sich zum Reichskommissar für Preußen. („Preußenschlag“). Schleicher, von dieser Maßnah- me Papens überrascht, hatte Kräfte der Reichswehr bereitzustellen. Sein vorrangiges Inter- esse war, die 100.000 Mann preußischer Landespolizei nicht in die Verfügungsgewalt der auf eine Regierungsbildung in Preußen spekulierenden NSDAP fallen zu lassen. Er begrenzte deshalb den Ausnahmezustand auf Berlin und die Provinz Brandenburg und befahl der Reichswehr größtmögliche Zurückhaltung. Nach 6 Tagen (26.07.1932) wurde der Ausnahme- zustand aufgehoben und Schleicher erklärte – die Reichswehr exkulpierend - in einer Rundfunkansprache, dass „ die Reichswehr in die Ereignisse der letzten Tage habe hinein gezogen werden müssen.“ 52 Wenige Tage später (31.07.1932) erzielten die Nazis bei der Reichstagswahl, bei einer Wahlbeteiligung von 83%, 37,8% der Stimmen. Damit konnten sie die Anzahl ihrer Mandate von 107 (1930) auf 230 erhöhen. Die bürgerliche Mitte war nahezu bedeutungslos geworden. Hitler meldete seinen Anspruch auf ein neues Präsidialkabinett an. Letztmalig versuchte Schleicher, Hindenburg zur Einbindung der Nazis in eine Regierungsverantwortung zu bewegen. Doch nach einem Gespräch mit Hitler (10.08.1932) lehnte Schleicher, in Überein- stimmung mit Hindenburg und Papen, Hitlers Kanzlerschaft ab, erwog aber eine Vizekanz- lerschaft, doch das wiederum lehnte Hitler ab. So blieb alles beim Alten und Papen blieb mit seinem „ Kabinett der nationalen Konzentration “ Reichskanzler.

Schleicher versuchte nun, nachdem sich Röhm als „Spaltkeil“ als ungeeignet erwiesen hatte, mit dem ideologischen Denker der NSDAP, Gregor Strasser , ins Gespräch zu kommen. Strasser hatte sich bis Mitte 1932 eine starke Stellung in der NSDAP aufgebaut. 53 Er war ausgewiesener Wirtschaftsexperte, ein guter Organisator und er war beliebter als Hitler. Es war der letzte Versuch, Hitler durch eine Zersetzung der NSDAP, nicht an die Macht kommen zu lassen. Was jetzt bis Ende November folgte war das „Schauspiel eines parlamentarischen Chaos“: • Am 30.08. trat der neu gewählte Reichstag zusammen – jedoch zu einer Regier- ungsbildung kam es nicht. • Papen erließ Wirtschaftsverordnungen und versuchte erfolglos die Arbeitslosenzahl (6 Mio.) zu senken. • Am 12.08. 1932 löste Papen den Reichstag auf, um einem Misstrauensantrag der Rechten zuvorzukommen. Erstmals kam das Auflösungsdekret des Reichspräsidenten,

51 Nach den Wahlen vom 24.04. 1932 war es nicht zu einer Regierungsbildung gekommen. 52 Vogelsang a.a.O., S. 80f. 53 Craig, Gordon A.: Die preußisch-deutsche Armee 1640 – 1945, Düsseldorf 1960, S. 498 ff. Vgl. auch Hildebrandt, Klaus: Das vergangenen Reich, Stuttgart 1995, S. 645 das Papen von Beginn seiner Kanzlerschaft an in der „roten Mappe“ zur Verfügung stand, zum Einsatz.(u.a. ging es auch um neue Bestimmungen im Tarifrecht ) • Erneute Reichstagswahlen am 06.11.1932 mit einem Rückgang der NSDAP um 4,3% auf 33,5% (196 Mandate), Gewinne der Deutschnationalen und Kommunisten. • Am 17.11. trat das 2. Kabinett Papen zurück. Da mit einem Reichskanzler von Papen, der allerdings unverändert in der Gunst Hindenburgs stand, offensichtlich keine Wende möglich sein würde, hatte sich bei Schleicher in diesen turbulenten Monaten der Gedanke, einer möglichen eigenen Kanzlerschaft festgesetzt. Eine conditio sine qua non war für ihn, dass er in Personalunion Reichswehrminister blieb. Papen rechnete mit einer erneuten Berufung durch Hindenburg. Als dann mehrere Minister aus seinem Kabinett ausschieden, war Papen nicht mehr zu halten. Hindenburg blieb als letzte Alternative nun nur noch Schleicher, zu dem er auch unverändert Vertrauen hatte. Schleicher musste sich mit dem Gedanken einer auf ihn zukommenden Kanzlerschaft vertraut machen. Er soll dies keineswegs mit Begeisterung gemacht haben; so die nahezu übereinstimmende Feststellung in der Literatur. 54 Auf wen konnte sich Schleicher, der ja keiner Partei angehören durfte, im Reichstag stützen? Er war keinesfalls der Wunschkandidat der Bürgerlichen – einen solchen gab es nicht. Er hatte aber unterschiedlich gute Verbindungen quer durch die Parteien und ihre Organisatio- nen, von der SPD bis zum Strasser-Flügel in der NSDAP. Diese umfassende „parlamenta- rische Brückenbildung“ hatte seinerzeit den Namen „Querfront “.55 Das Modell stammte von Gereke 56 und versuchte durch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm – das auch Hindenburg nachhaltig gefordert hatte! - „quer über den Parteien “, das Reich aus seiner Dauerkrise zu führen. Ein derartiges „Querfrontkonzept “ entsprach auch Schleichers Vorstellungen, mehr gesamtpolitisch, nicht nur wirtschaftlich. Auf der Grundlage einer Studie wurde Ende November 1932 im Reichswehrministerium unter Oberstlt. Ott eine sehr detaillierte Planübung, die einen Notstand im Reich untersuchte , durchgeführt. Zweck war die Durchführung eines Ausnahmezustandes unter Heranziehung aller erforderlichen Kräfte, vorrangig der Reichswehr. (Mit-)Auslöser war der von NSDAP und KPD Anfang November in Berlin angezettelte Streik der Berliner Verkehrsbetriebe, der die Handlungsfähigkeit der Regierung in einer sehr kritischen Situation untersuchte. Das Planspiel zeigte, dass die Reichswehr bei von linken und rechten Kräften ausgelösten Unruhen und zeitgleichem Eingreifen einer ausländischen Macht (Polen), diesen Unruhen

54 Vgl. hierzu Vogelsang a.a.O., S.85, Strenge a.a.O., S. 198f., 55 Siehe hierzu Strenge a.a.O. S.173 – 180. 56 Dr. Günther Gereke, Christliche Bauern- und Landvolkpartei, MdR 1930 bis 1932, dann im Kabinett Schleicher Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung. nicht mit Aussicht auf Erfolg entgegentreten konnte. Das Planspielergebnis wurde Papen und seinem Kabinett am 02.12. - teilweise durch Schleicher persönlich kommentiert - vorgetragen. Die Ministerrunde war über die festgestellte Lage erschüttert. Papen verlor erhebliches Vertrauen in seinem Kabinett, hatte er doch diesem gegenüber den Eindruck erweckt, einen Ausnahmezustand beherrschen zu können.57 Brüning schreibt: „Nach dem Vortrag Otts, begab sich Papen zum Reichspräsidenten und berichtete von dem Vortrag. Hindenburg bestätigte den Auftrag zur Regierungsbildung für Papen nicht. [was dieser erwartet hatte!] Denn er wolle, wie er sagte, am Ende seines Lebens einen Bürgerkrieg nicht verantworten. „Dann müssen wir eben in Gottes Namen Herrn von Schleicher sein Glück versuchen lassen.““ 58 Hindenburg war es nicht leicht gefallen sein, „ seinen lieben jungen Freund“ 59 Papen aus der Regierungsverantwortung zu entlassen. Für Schleicher war das persönlich gute Verhältnis Hindenburgs zu Papen, wie sich bald herausstellen sollte, ein großer Nachteil.

Am 03.12.1932 ernannte Hindenburg Schleicher zum Reichskanzler und bestätigte ihn als Reichswehrminister. Es war mit Sicherheit nicht Schleichers Absicht gewesen, die Führung des Reichs in einem Moment zu übernehmen, wo dieses politisch am Abgrund stand. Somit war es nur die Verantwortung für das Vaterland, die ihm verbot, sich diesem zu versagen. Allerdings mag für ihn die geringe Chance eines politischen Erfolges auch Anreiz gewesen sein.

57 Brüning, Heinrich: Memoiren 1918 – 1934, 1970 S. 637 58 Strenge a.a.O., S. 188 59 Vogelsang a.a.O. S. 89 und andere.

Kapitel 6 Reichskanzler von Schleicher 03.12.1932 – 28.01.1933 Schleichers Ermordung Schleicher nahm am Kabinett Papen nur zwei Ministerwechsel vor. 60 Mittelfristig weitere Umbesetzungen im Sinne der „Querfront“ hatte er geplant. Der Versuch, Strasser als Vertreter des gemäßigten Flügels der NSDAP in das Kabinett zu bringen, misslang. Schleicher hatte die Machtposition Hitlers in der NSDAP einmal mehr unterschätzt. Hitler setzte sich gegenüber Strasser, dessen Position in der Partei auch er unterschätzt hatte, in heftigen Auseinandersetzungen Anfang Dezember durch. 61 Einen ersten Erfolg konnte Schleicher in der Außenpolitik verzeichnen. Am 11.12. wurde in Genf eine Vereinbarung über eine ansatzweise deutsche Gleichberechtigung in Rüstungs- fragen mit den USA, FRA, GBR und ITA unterzeichnet. Die Vorarbeiten hatte noch das Kabinett Brüning geleistet, doch Schleicher entschied, einen - wenn auch mageren - Verhandlungserfolg nicht mehr zu blockieren. Schleichers am 15.12. über den Rundfunk gegebene Regierungserklärung, deren Kernstück das in Aussicht genommene Arbeitsbeschaffungsprogramm war, löste - selbst in ihm wohlge- sonnenen Kreisen - Unbehagen und Kritik aus. Er verfehlte, der weit verbreiteten pessimis- tischen Stimmung im Volk entgegenzuwirken. Sein Kabinett arbeitete an einer effektiveren Arbeitsbeschaffung und einer besseren agrarischen Versorgung des Reiches durch aktive Siedlungspolitik in den Ostprovinzen. 62 Am 04.01.1933 wurde das Ende des Kabinetts Schleicher eingeläutet. In der Kölner Wohnung des Bankiers von Schröder fand ein Treffen Hitlers mit dem (wahrscheinlichen) Arrangeur des Treffens, Papen statt. Seine Absicht war, den Nationalsozialisten den Boden für eine Regierungsbeteiligung zu ebnen. Dieses Treffen wurde geradezu in „Bild-Zeitungs-Manier“ mit der Schlagzeile „Hitler und Papen gegen Schleicher“ - in allerkürzester Zeit veröffent- licht. Papen wollte seine persönliche Genugtuung für die ihm von Schleicher im Juli 1932 erteilte politische Ablehnung. Papen hatte vorab Hindenburg von seinem Vorhaben unterrichtet, der sein Handeln absegnete. Schleicher, dessen Vertrauen bei Hindenburg aus nicht sicher nach- zuvollziehenden Gründen gelitten hatte, hatte verloren. Er war tief enttäuscht, dass Hinden-

60 Den Papen sehr verbundenen Reichsinnenminister von Gayl/ DNVP ersetzte er durch Dr.Bracht und Dr. Syrup löste Arbeitsminister Schäffer ab. Dr. Gereke wurde Reichskommissar für die Arbeitsbeschaffung. 61 Schleicher und Strasser hatten erwogen, eine „Liste Strasser“ der NSDAP aufzustellen. Am 5. und 7.12.1932 kam es im „Hotel Kaiserhof“ in Berlin zu sehr heftigen Auseinandersetzungen in der Partei. Hitler warf Strasser Treulosigkeit und Verrat vor, dieser trat von allen Parteiämtern zurück. 62 Vgl. hierzu Eyck, Erich: Geschichte der Weimarer Republik, Bd. II, Zürich-Stuttgart 1956. burg, der ihm bei seiner Ernennung zum Kanzler zugesichert hatte, jederzeit die Vollmacht zur Auflösung des Reichstages zu erteilen, nun damit zögerte.

Papen stellt in seiner Autobiographie fadenscheinig fest, er habe mit dem Treffen nur Schleicher helfen wollen. 63 Ihm sollte das Treffen die Möglichkeit eröffnen, eine Regierungs- beteiligung Hitlers zu erreichen, der Schleicher, wie dargestellt unter bestimmten Prämissen gar nicht abgeneigt war. Eine heute kaum mehr diskutierte Tatsache ist, dass Papens Darstellung nicht zutrifft. Hinter dem Rücken des Reichskanzlers aber auch des greisen Reichspräsidenten hat Papen Hitler den Weg zur Machtübernahme mit diesem Treffen geebnet . Schleicher missbilligte Papens Handeln, auch gegenüber dem Reichspräsidenten - passiert ist aber nichts! Papen hat dann bei weiteren Treffen mit Hitler am 18.01. und 22.01. die Weichen endgültig gestellt. Bei dem letzten Treffen waren neben Hitler, Göring, Frick und Ribbentrop sowie neben Papen, Staatsekretär Meissner und Hindenburgs Sohn anwesend. Nach dem Treffen erklärte Papen, dass „er sich für Hitlers Ernennung einsetzen und sich selbst mit dem Posten des Vizekanzlers begnügen werde.“ 64 Am 23.01. erbat Schleicher von Hindenburg die Genehmigung zur Auflösung des zum 31.01. einberufenen Reichstages. Wahlen sollten vorerst ausgesetzt werden, erforderlichenfalls der Staatsnotstand erklärt und ein Verbot von NSDAP und KPD erlassen werden. Hindenburg lehnte ab. Er verwies Schleicher darauf, dass ein gleichartiges Ansinnen Papens am 02.12.32, unter anderem auf seinen (Schleicher) dringenden Rat hin, von ihm abgelehnt worden sei. In beiden Fällen könnte - je nach Entwicklung der innenpolitischen Lage - der Einsatz der Reichswehr notwendig werden. Hindenburg ließ sich auch nicht durch Schleichers zutreffende Argumente, dass die SPD und die Gewerkschaften diesmal – er hatte entsprech- ende Absprachen mit ihnen getroffen – hinter der Regierung stünden und dass das außen- poltische Abkommen vom 11.12.32 ihm die Verstärkung der Reichswehr durch Freiwillige erlauben würde, zu einer Zustimmung bewegen. Hindenburg hatte offensichtlich, nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner Gespräche mit Papen, seine Meinung geändert. Er lehnte das ver- fassungswidrige, längerfristige Aussetzen von Neuwahlen ab. Er wolle sich an die Wahlfristen (Art.25 / 60 Tage) halten. Einem Staatsnotstand könne er nur zustimmen, wenn damit kein Verfassungsbruch begangen würde; das gelte es zu prüfen. Hindenburg hatte sich gegen Schleicher entschieden. In der Literatur gibt es keine schlüssige Erklärung für Hindenburgs Abwendung von Schleicher. Mit Sicherheit wollte Hindenburg die Reichswehr aus innenpolitischen Auseinandersetzungen heraushalten. Seine Argumentation

63 von Papen, Franz: Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, S. 255f. 64 Plehwe a.a.O. S. 275 mit der Verfassung wirkte insofern nicht überzeugend, als er Schleicher ja zu Beginn seiner Amtszeit seine volle Unterstützung einschließlich einer extensiven Auslegung der ver- fassungsmäßig gegebenen Maßnahmen zugesichert hatte. Was bei Hindenburg gewirkt haben muss, waren Papens diverse Vorsprachen, die mit Sicherheit keine Plädoyers für Schleicher waren. In den folgenden Tagen kam es zu mehreren Gesprächen Papens mit Hitler, Vier-Augen- Gespräche und in einem erweiterten Kreis. Hitler bestand auf seiner Kanzlerschaft, mit einem Vizekanzler Papen war er einverstanden. Unklar war nur noch, wie sich die Reichswehr – deren Minister ja noch Schleicher war! – zu einem Reichskanzler Hitler stellen würde. Eine bis heute unklare Rolle spielte in diesen Tagen der General von Blomberg (Befh. WK I). Hinter Schleichers Rücken sprach Blomberg mit Hindenburg und stellte diesem aus seiner pronationalsozialistischen Sicht eine grundsätzlich positive Einstellung der Reichswehr zum Nationalsozialismus dar. Das war Blombergs Einstellung, mit Sicherheit aber nicht reprä- sentativ die der Reichswehr. Als am 27.01. der Chef der Heeresleitung, General von Hammerstein in Anwesenheit Schleichers, Hindenburg Bedenken gegen Hitler vortrug, war Hindenburg erst ungehalten, hörte sich dann aber Hammersteins Argumente an. Dieser verneinte eine Rolle der Nationalsozialisten in der Reichswehr, warnte aber längerfristig vor deren Einfluss. Hammerstein riet von einer erneuten Beauftragung Papens ab und plädierte für die Beibehaltung des Kabinetts Schleicher. Das Gespräch muss keinen allzu nachhaltigen Eindruck auf den greisen Hindenburg gemacht haben, der die Unterhaltung mit der bekannten Versicherung, „ er dächte nicht daran, den österreichischen Gefreiten zum Wehrminister oder Reichskanzler zu machen“ 65 beendete .

Am 28.01. riskierte Schleicher einen letzten Versuch, das Unheil Hitler abzuwenden. Er war sich bewusst, dass das von ihm erbetene Gespräch mit dem Reichspräsidenten, um die zum Weiterregieren notwendigen Vollmachten zu erhalten, das mit seinem Kabinett abgestimmt war, auch mit seiner Absetzung enden konnte. Hindenburg scheint nicht mehr auf Schleichers Argumentation eingegangen zu sein. Schleicher gab seinen Rücktritt bekannt. Er bat Hindenburg ausdrücklich, das Reichswehrministerium nicht einem Nationalsozialisten zu übertragen. Ein solcher bekam es auch nicht – Blomberg reichte den Nationalsozialisten. Nach Hammerstein hat es in diesen Tagen noch Überlegungen gegeben, eine Kanzlerschaft Hitlers aber auch Papens oder Hugenbergs durch einen Einsatz der Reichswehr zu verhindern. Schleicher lehnte dies, aber erst recht einen angedachten Sturz des greisen Reichspräsidenten ab.

65 Plehwe a.a.O., S. 279; Vogelsang a.a.O. S. 95.

Am 30.01.1933 ernannte Hindenburg Hitler zum Reichskanzler.

Schleicher betätigte sich nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst nicht mehr politisch. Das schloss ein Gespräch über Politik im Freundes- und Bekanntenkreis nicht aus, wobei er öfters daraufhin gewiesen wurde, sich mehr Zurückhaltung aufzuerlegen. In den letzten Monaten vor seiner Ermordung erhielt er Hinweise, dass er von der GESTAPO überwacht würde. Versuche Röhms, über Kontaktleute zu Schleicher Verbindung aufzunehmen, wurden von ihm sofort zurückgewiesen. Am 30.06.1934 wurde Schleicher und seine Frau im Rahmen der Beseitigung von Persön- lichkeiten, die Hitler im Wege standen oder ihm hätten gefährlich werden können, ermordet. Es gilt heute als sicher, dass die Mörder in der GESTAPO zu suchen sind. Sie handelten wahrscheinlich auf Befehl Görings, auch Himmler und Heydrich scheinen in den Mord ver- strickt zu sein. Eine Aufklärung des Mordes, dabei auch die Obduktion der Leichen wurde der zuständigen Kriminalpolizei Potsdam noch am Abend des Mordtages untersagt; die GESTAPO habe die Ermittlungen aufgenommen, hieß es. Einen „offiziellen Schlusspunkt“ setzte ein „ Reichsgesetz über die Straflosigkeit aller im Zusammenhang mit der Säuberungs- aktion vom 30.06.1934 begannen Taten “66 am 03.07.1934; Zur Beerdigung auf dem Friedhof Lichterfelde fanden sich nur sehr wenige Freunde ein, darunter der inzwischen aus dem aktiven Dienst ausgeschiedene (31.01.1934) General von Hammerstein. Die Särge des Ehepaars Schleicher waren noch in GESTAPO-Besitz. Schleichers Schwester erhielt einige Tage später die Urnen. Hitler belog den Reichstag und damit das Deutsche Volk am 13.07.1934 in einer „Recht- fertigungsrede“, die Schleicher und Röhm, gemeinsam des Hoch- und Landesverrats beschul- digte und die Morde als Staatsnotwehr hinzustellen versuchte. Die neue Reichswehrführung verhielt sich so, wie es die Nationalsozialisten von Blomberg und Reichenau erwartet hatten: sie schwieg oder schloss sich den offiziellen Äußerungen an. Eine offizielle Pressemeldung wurde von Reichenau, dem neuen Chef des Truppenamtes verfasst und von Göring und Blomberg genehmigt. Lediglich der neue OB Heer, Gen.Obst von Fritsch, und Gen.Obst Beck, ChdGst, versuchten – ohne Erfolg – eine Untersuchung des Mordes einzuleiten. 67

66 Eschenburg, Theodor, Zur Ermordung des Generals Schleicher, in VfZ1/1953, S.75 und 77, in: Plehwe a.a.O., S. 297 67 vgl. hierzu Erfurth, Waldemar: Die Geschichte des deutschen Generalstabes 1918 – 1945, Hamburg 2001, S. 158. Kapitel 7 Das Versagen der Generalität der Reichswehr / der Wehrmacht im Mordfall Schleicher. Schleichers Bild in der Geschichte.

Der Mord an General von Schleicher und seiner Frau und des Generals von Bredow 68 hätte – nach heutigem Verständnis und Wissen – für die Reichswehr das Zeichen zum Handeln zur Rettung des Rechtsstaates und der Ehre der Armee werden müssen. Die Reichswehr jedoch nahm die Morde hin. „Das Oberkommando Reichswehr fand sich […] mit der Ermordung zweier Männer [Schleicher und Bredow] aus ihren eigenen Reihen ab; das hatte es in der Geschichte der Armee noch nie gegeben.“ 69 . Dieses „Schweigen bei Mord“ wurde von Hitler geradezu ausgetestet. Die Nationalsozialisten erkannten die eklatante, insbesondere im Offizierkorps inhärente Schwäche, die auf einem falschen Loyalitätsverständnis aufbaute. Ihr Missbrauch eskalierte. Die Morde an Schleicher und Bredow stehen m.E. in einer Linie mit den ehrabschneidenden Behandlungen von Fritsch und Beck bis zu den Morden an den deutschen Widerstandskämpfern. Schleicher hat in der Einschätzung des Nationalsozialismus´ geirrt. 70 Er hat ihn, wie nahezu alle auf dem Boden eines Rechtsstaates Stehenden seiner Zeit, unterschätzt. Wer aber von den politisch Führenden dieser Zeit konnte ahnen, wie niedrig die Hemmschwelle der Nationalsozialisten war, Recht und Gesetz zu missachten? Dieser Fehler ist Schleicher nicht vorzuwerfen; dafür hat er „bezahlt“. Schleicher war aber bereit - durch Wort und Tat - sich dem Nationalsozial- ismus entgegen zu stellen, zumindest den Versuch zu wagen, ihn zu „ zähmen “. Ich vermisse in der heutigen Diskussion der Weimarer Zeit und insbesondere der Person Schleichers, diese Bereitschaft anzuerkennen, auch wenn ihm der Erfolg versagt blieb. Das Bild Schleichers in der Historiographie ist unklar und deshalb umstritten. Ihm zum Nachteil gereicht bis heute, dass er wegen seinen außergewöhnlichen Verwendungen nur wenigen bekannt werden konnte. Schleicher war nur 56 Tage Reichskanzler und vornehmlich für diese, nicht erfolgreiche Zeit wird er beurteilt. „Da die Welt Politiker vorwiegend nach ihrem Erfolg zu beurteilen pflegt und dieser ihm versagt geblieben ist, steht Schleicher heute der Allgemeinheit als ein Gescheiterter vor

68 General von Bredow(1884 – 1934) seit 1926 im Reichswehrministerium, seit 1928 in Schleichers Abteilung, 1931-1932 Chef der Abwehr, war 06.1932 bis 30.01.1933 Chef des Ministeramtes. Am 30.06.1934 ermordet. 69 Stern, Fritz: Fünf Deutschland und ein Leben. München 2009, S. 137 70 Vgl. Krausnick a.a.O., S.290f.

Augen.“ 71 Sein Soldatenleben, das wirklich nicht typisch für eine Offizierslaufbahn bis zum General war, war jedoch bis 1932 als er Reichswehrminister wurde, in allen militärischen Verwendungen nachweislich erfolgreich. In den für die Armee äußerst schwierigen Zeiten nach 1918 hat er sich in den verschiedensten Verwendungen, fast ausschließlich an der Schnittstelle Militär – Politik, qualifiziert. Schleicher hat sich, soweit nachprüfbar, nie in diese Verwendungen gedrängt! Er ist geholt worden und das, weil er sich in ähnlichen Verwendungen bewährt hatte und kein qualifizierterer Offizier für dieses „glatte Parkett“ zur Verfügung stand - oder möglicherweise nicht zur Verfügung stehen wollte? (Offizier wurde und wird man nicht, um in die Militär- politik zu gehen; man will Truppe führen!)

Wie wurde Schleicher von seinen Zeitgenossen gesehen? Zwei positive Aussagen zu Schleicher, die als repräsentativ gelten können und denen in der Literatur nicht grundsätzlich widersprochen wird. • Zuerst das Urteil des Regimentskameraden von Manstein, der ausdrücklich darauf hinweißt, dass er nie zu Schleichers Vertrauten gehörte.72 Er charakterisiert Schlei- cher wie folgt: „ Seine Untergebenen haben ihn außerordentlich verehrt. Ich weiß von keinem seiner Mitarbeiter, auch nicht aus der Zeit von Schleichers politischer Tätigkeit, der ihn nicht hoch geschätzt hätte. Man wusste, dass man sich auf ihn als Kameraden verlassen konnte. Was er versprach, hielt er. Ein Streber zu sein, andere ausstechen zu wollen, lag ihm völlig fern. Er hatte es bei seinen Anlagen auch nicht nötig.“ 73 • Ähnlich äußert sich der spätere NVA-General Vincenz Müller. Er attestiert Schleicher eine glückliche Hand in der Führung des Stabes, Offenheit, die Fähigkeit zum direkten Kontakt und zum Aufbau beiderseitigens Vertrauens.74 Es gibt weitere ähnlich positive Beurteilungen Schleichers. 75 Diesem positiven Bild Schleichers steht ein kaum durch Beweise untermauertes Negativbild gegenüber. Dieses wird im Kern nur kopiert, sodass sich der Eindruck aufdrängt, dass lediglich abgeschrieben wird. Irene Strenge, die sich gründlich mit der Person Schleicher aus- einandersetzt, führt das Negativbild, eines „intriganten, opportunistischen [Offiziers] , eines

71 von Manstein a.a.O., S. 201 72 Warum das von Manstein so prononciert herausstellt, ist nicht ersichtlich. Will er seinem Urteil dadurch mehr Gewicht verleihen oder geht es ihm darum, zwischen sich und Schleicher eine größere Distanz zu legen? Warum das aber 24 Jahre nach Schleichers Tod, dessen Erscheinungsbild als früher Gegner des Nationalsozialismus inzwischen in der Historiographie Profil gewonnen hatte, geschieht, ist unklar? 73 von Manstein: Aus einem Soldatenleben 1187 – 1939, Bonn 1958, S. 201. 74 Müller a.a.O. S. 282. 75 Strenge a.a.O., S.12. treubrüchigen Fädenziehers hinter den Kulissen, der das Licht der Öffentlichkeit scheute“ 76 an, um es zu korrigieren . Strenges gründliche, mit Schwerpunkt Schleicher in der Zeit 1929 bis 1933 darstellende Arbeit, führt zwei Beispiele für Schleichers „schlechtes Bild´“ an. • Zum einen ist es Schleichers Auseinandersetzung mit Groener im Falle des SA- Verbots im Mai 1932. Hier konnte sich Groener zu recht von „seinem Ziehsohn Schleicher“ hintergangen fühlen 77 . Strenge berücksichtigt dann aber nicht Groeners (gest.1939) 1934 abgefasstes Testament, in dem er seines „ Wahlsohns General von Schleicher (...) [sehr warmherzig gedenkt und ihm] für seine unermüdliche Arbeit in Krieg und Frieden [und] für seine Anhänglichkeit und seinen Humor“ dankt. Groener hatte sein Urteil – nach den für sich und Schleicher unerfreulichen Ereignissen des Jahres 1932 – gründlich revidiert. • General von Stülpnagel wirft Schleicher „ewige Besserwisserei“ 78 verbunden mit Zynismus vor. Verschiedene Quellen charakterisieren Schleicher als einen „Meister der Intrige“ 79 , ob diese Charakterisierung zutrifft, erscheint fraglich; ich konnte keinen Beweis in seinem Handeln finden. Wenn Vorgesetzte ihn um Rat fragten und Schleicher ihnen diesen nach bestem Wissen und Gewissen gab, dann ist ihm m.E. kein Intrigieren vorzuwerfen. Er war wohl für viele, besonders für weniger intelligente, Menschen schwer zu durchschauen. Er ließ „Ver- suchsballons“ aufsteigen, um Reaktionen herauszufordern. „Seine direkte Sprache konnte entweder als Aufrichtigkeit und Offenherzigkeit oder als „Berliner Schnauze“ gelten.“ 80 Seine Selbstsicherheit hat manchen gestört, insbesondere wenn er für sein Gegenüber nicht eindeutig einzuordnen war. Schleicher wird übereinstimmend überragende Intelligenz, eine sehr schnelle Auffassungsgabe und ein hervorragendes Analysevermögen zugebilligt. Ungewöhnlich für einen Mann seines Herkommens war seine ausgeprägt soziale Einstellung. Bei Konservativen galt er deshalb häufiger als „roter General“. Menschen, die ihm nicht intellektuell gewachsen waren, hatten, wenn sie zu ihm auf Konfrontationskurs gingen, einen schweren Stand. Bei Kameraden und Untergebenen scheint er gleichermaßen geachtet wie beliebt gewesen zu sein. Er galt als absolut ehrlich und äußerst zuverlässig.

76 Ebda. S.12. 77 Vgl. Strenge a.a.O., S. 11f. 78 zitiert aus Nachlass Joachim von Stülpnagel in: Strenge a.a.O. S. 12. 79 Benoist-Méchin, Jaques: Auf dem Wege zur Macht 1925 – 1937, Bd. 3 Geschichte der Deutschen Militärmacht. Oldenburg-Hamburg 1965, S.72. Strenge a.a.O. S. 12 80 Strenge a.a.O., S.12. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der wenigen Primärliteratur zur Person Schleichers dieser m.E. selten negativ dargestellt wird; in der Sekundärliteratur rekurriert man häufig auf nicht unbedingt als authentisch zu bezeichnende Quellen. Schleichers Per- sönlichkeit wird dort häufig „schillernd“ dargestellt; schillernder als sie war.

Schleicher hatte ein unumstößliches „politisches Credo“ – wie es Strenge nennt. Im Dezember 1918 stellte er im Kreise von Generalstabsoffizieren in „einem strategischen Stufenprogramm“ seine politischen Vorstellungen dar 81 : 1. Wiederherstellung der Regierungsgewalt, 2. Gesundung der Wirtschaft und 3. Restitution der äußeren Macht Deutschlands . Diese drei Ziele Schleichers werden in der Literatur mehrfach als die für sein Handeln verbindliche Richtschnur angegeben 82 . Was verstand Schleicher unter den einzelnen Punkten? Zu 1. Hier sah er vordringlich die Notwendigkeit nach der Ablösung der Monarchie durch die Republik, den Staat wieder zu ordnen und mit Autorität auszustatten. Diese Zielsetzung konnte in Schleichers Verständnis nur durch das enge Zusammenwirken von Reichspräsident und Reichswehr erreicht werden. Insbesondere galt es, der Zentralgewalt des Reiches die Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den eigenwillig gewordenen Ländern zu geben. Zu 2. Die deutsche Wirtschaft musste für die Friedensbedürfnisse und um den zu erwartenden Reparationsansprüchen der Sieger entsprechen zu können, in kurzer Zeit wieder leistungs- fähig werden, (wobei der Umfang der Versailler-Vertrags-Forderungen 1918 noch nicht zu ahnen war!) Diese Zielsetzung musste Hand in Hand mit dem Aufbau einer, damals als Begriff noch unbekannten „Sozialen Marktwirtschaft“ gehen (Ausreichender Lohn, Sozialfür- sorge, geregelte und „menschliche Arbeitszeiten“, u.a.m.). Dieser Wiederaufbau war für Schleicher eine conditio qua non für Ruhe im Reich und um in der Außenpolitik Akzeptanz zu finden. 83 Zu 3. Das Ziel „Restitution der äußeren Macht“ konnte unter den Auflagen der Versailler Friedensbedingungen nur langfristig angegangen werden und dann den sich verändernden außenpolitischen und wirtschaftlichen Bedingungen kontinuierlich angepasst werden.

81 Vgl. Fleming, Jens / Krohn, Klaus-Dieter / Stegmann, Dirk / Witt, Peter-Christian (Hrsg.): Die Republik von Weimar, Band I, Das politische System, 1979, Kapitel II, Dokument 6a., zitiert nach Strenge a.a.O. S.16; vgl. auch Bracher, Karl-Dietrich: Die deutsche Armee zwischen Republik und Diktatur, S. 102ff., in: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd. 3, Tübingen 1958 82 Hier seien genannt: Generalmajor Eugen Ott, Militärattaché in Tokio, General NVA Vincenz Müller und GenMaj von Holtzendorff; siehe hierzu Strenge a.a.O. S. 17 ff. 83 Hildebrand a.a.O., S.459. Ich bezweifele, ob Strenges Feststellung „Die Verfassung war Schleicher letztendlich gleich- gültig. (...) Staatsautorität war ihm wichtig“ 84 , uneingeschränkt zutrifft. Richtig ist, dass Schleicher als Pragmatiker die Verfassung respektierte und mit ihr Deutschland wieder aufbauen wollte – was er insgeheim vielleicht dachte, ist uninteressant. Seine Bereitschaft nach der Kapitulation 1918, der Republik zu dienen, war vorbehaltlos. Wenn Schleicher politischen Einfluss ausübte - was er unbestritten tat! - dann konnte er das nur tun, weil seine Vorgesetzten (Noske, Groener, Gessler, Ebert und Hindenburg) ihm das entsprechende Vertrauen geschenkt hatten. Das hat er nicht missbraucht . In den Fällen Brüning, zu dem er persönlich ein gutes Verhältnis hatte und Papen, wäre zu prüfen, inwie- weit Schleicher hier Unheil abwenden wollte, da er die Grenzen dieser Politiker erkannt hatte. „Die Quellenlage über die politischen Aktivitäten Schleichers ist spärlich “, stellt Frau Strenge fest und sie hat recht. 85 Sie begründet es mit Schleichers „konspirativer Vorgehens- weise, [da er] in hochsensiblen Bereichen arbeitete “ außerdem vermied er schriftliche Unterlagen nach Möglichkeit. Seine Mörder haben Aufzeichnungen, die er für eine beabsichtigte Biographie zusammengetragen hatte, mitgehen lassen. Sie sind nicht mehr auffindbar. Durch seinen frühen, gewaltsamen Tod und seine, sich in der Regel nicht der Öffentlichkeit abspielende Arbeit als Generalstabsoffizier und Politiker, wird seine Persönlichkeit in der Historiographie deshalb auch in Zukunft widersprüchlich dargestellt werden. Die Chance, General von Schleicher in seiner historischen Dimension gerecht zu werden, ist gering.

84 Strenge a.a.O. S. 19. 85 Strenge a.a.O., S. 12-15. LITERATURVERZEICHNIS Benoist-Mechin, J.: Geschichte der Deutschen Militärmacht Bd. 3, Auf dem Wege zur Macht 1925 – 1937, Oldenburg und Hamburg 1965, S. 72 ff. Bracher, Karl-Dietrich: Die deutsche Armee zwischen Republik und Diktatur, S.102 ff., in: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd.3, Tübingen 1957. Brüning, Heinrich: Memoiren 1918 – 1934, Stuttgart 1970. Craig, Gordon A.: Die preußisch-deutsche Armee 1640 – 1945, Düsseldorf 1960, Erfurth, Waldemar: Die Geschichte des Deutschen Generalstabes 1918 – 1945, Hamburg 2001 Eyck, Erich: Geschichte der Weimarer Republik, Bd. II, Zürich-Stuttgart 1956. Groener-Geyer, Dorothea: General Groener, Soldat und Staatsmann, Frankfurt am Main 1955, Hildebrand, Klaus: Das vergangene reich, Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler , Berlin 1999. Hürter, Johannes: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/1942, München 2007 Krausnick, Helmut: Die Wehrmacht im Dritten Reich 1933 – 1939, in: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd.2, Tübingen1957 Liddell Hart, B.H.: The German Generals talk, New York 1979. von Manstein, Erich: Aus einem Soldatenleben 1887 – 1939, Bonn 1958. Meissner, Hans-Otto: 30. Januar 1933, Esslingen 1976. Müller, Vincenz: Ich fand das wahre Vaterland, Berlin 1963. Neitzel, Sönke: Abgehört Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942 – 1945, 2. Auflage, Berlin 2005. von Papen, Franz: Der Wahrheit eine Gasse, München 1952. von Plehwe, Friedrich-Karl: Reichskanzler Kurt von Schleicher, Weimars letzte Chance gegen Hitler, Esslingen 1983. Schüddekopf, Otto-Ernst: Heer und Republik, Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918 – 1933, Hannover und Frankfurt/Main 1955. Strenge, Irene: Kurt von Schleicher, Politik im Reichwehrministerium am Ende der Weimarer Republik, Bd. 29 in der Reihe „Zeitgeschichtliche Forschungen“, Berlin 2006. Vogelsang, Thilo: Kurt von Schleicher, Ein General als Politiker, Bd. 39 in der Reihe „Persönlichkeit und Geschichte“, Göttingen 1965