Vom Turbo-Folk Der Mafia Zum Polit-Rap Des Untergrunds | Norient
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Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com 29 Sep 2021 14:28:19 Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds by Thomas Burkhalter Vier Jahre nach dem Sturz von Milosevic zeigt die junge Belgrader Musikszene unterschiedliche Seiten. Während das ehemalige Oppositions-Radio B92 vor allem nach Sponsoren sucht, parodiert eine junge Rapper-Generation die Mafia- und Macho-Gesellschaft des «nationalistischen» Turbo-Folks und knüpft überregionale Netzwerke. Die Roma-Musiker versuchen derweil, sich auf dem Weltmusikmarkt durchzusetzen. Vom sumpfigen Belgrader Niemandsland kommen wir her, vom Roma- Partyschiff «Black Panther», am Ufer der Save. Unter Deck gab es «pivo domestik», Bier von hier, und dazu Akkordeon- und Synthesizer-Versionen von Stücken wie Dizzy Gillespies «A Night in Tunisia» oder Simon and Garfunkels «El Condor Pasa». Bis dann unser Sitznachbar, ein dubioser italienischer Handelsreisender, plötzlich seltsame Ranglisten herunterleiert: «Russland – Nummer eins; Serbien – Nummer zwei; Kroatien – Problema; https://norient.com/index.php/stories/belgrad2004 Page 1 of 9 Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com 29 Sep 2021 14:28:19 Mazedonien – Problema.» Und dann: «Für einen Serben zählt erstens Herz, zweitens Freunde, drittens Geld.» Oder: «Erstens Tanzen, zweitens Frauen, drittens Bier.» Das reicht. Zeit für uns zu gehen. Am Donauufer, gegenüber der Belgrader Burg, stehen wir am frühen Morgen endlich wieder auf festem Boden. Die Schuhe schlammverschmiert, die Socken nass. Es ist verdammt kalt. Ein paar Bier trinkende Teenager lungern herum. Und klären uns auf: Noch vor vier Jahren hätten sich hier die Mafia- Freunde von Slobodan Milosevic mit ihren Flittchen amüsiert, in den rund zwanzig beleuchteten Booten vor uns. Auch heute stehen teure Autos vor den wackligen Bootsstegen parkiert. Überlaut dröhnt Techno und Rock mit türkisch-arabischem Einschlag in die Flusslandschaft hinaus. In einigen Schiffen amüsieren sich Teens und Twens, in anderen die älteren Semester. Mit Silikon bewehrte Frauen produzieren sich in Leopardenkostümen und kurzen Jupes vor ihren saufenden Freunden. Mit gelangweilten Mienen heizen die Partymusiker ein; die Sängerin setzt auf gekünstelte Orientalismen und laszives Stöhnen. Mafia – ein Teil von Belgrad. «Es ist hart, hier zu leben» Seit dem 5. Oktober 2000 ist Slobodan Milosevic in Serbien nicht mehr an der Macht. Aus dem ganzen Land war die Bevölkerung an jenem denkwürdigen Tag nach Belgrad geströmt, um den ungeliebten Diktator zu stürzen. Bereits acht Jahre zuvor hatte die Opposition in der 2-Millionen- Stadt 840 000 Unterschriften zu seiner Absetzung gesammelt – ohne Erfolg. Viele junge Männer versteckten sich danach in fremden Häusern, um nicht in den Krieg eingezogen zu werden. Junge Intellektuelle und Künstler verliessen das Land oder wurden in ihrer «No Future»-Depression Opfer von Drogen, die in Belgrad leicht erhältlich waren. Heute fehlt die Generation der 30-Jährigen im städtischen Kulturleben weitgehend. Und viele der Gebliebenen wollen von Politik, etwa vom jüngsten Wahl-Hickhack, nichts mehr wissen. Gestiegen ist die Arbeitslosigkeit. «Es ist hart, hier zu leben», kommentiert der 24-jährige Rapper Bori Se alias MC Shorty: «Im Ausland gelten wir Serben als Killer. Dabei sind es die Politiker, die Kriege führen. Milosevic hat in den neunziger Jahren systematisch Kriminelle aus den Gefängnissen entlassen und in leitende Staatspositionen gehoben.» Shorty möchte Grafikdesign studieren und ein sogenannt normales Leben führen. Wie er mit seinen monatlichen 200 Euro die Kursgebühren bezahlen soll, weiss er nicht. «Ich lebe alleine in dieser verdammten Welt. Eigentlich sollte ich ins Ausland ziehen. Aber irgendwie brauche ich meine Stadt.» https://norient.com/index.php/stories/belgrad2004 Page 2 of 9 Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com 29 Sep 2021 14:28:19 In den Kriegsjahren unter Milosevic (1990 bis 2000) agierten die Medien als verlängerter Arm des Regimes. Via Pink TV avancierte der sogenannte Turbo- Folk, der noch heute auf den Partybooten in einer Light-Form gespielt wird, zum medialen Ausdruck der Macho- und Mafia-Kultur Belgrads. Fast alle Starsängerinnen des Genres waren mit Mafiabossen liiert – was ihre Popularität nur steigerte. Svetlana «Ceca» Raznatovic, Königin des Genres, heiratete den berühmt-berüchtigten «Arkan», Kriegsverbrecher und Anführer der Tiger-Miliz. Nach der Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic am 12. März letzten Jahres verbrachte die Starsängerin vier Monate hinter Gittern: Der Mordhauptverdächtige soll in ihrer Villa ein und aus gegangen sein. Es ist elf Uhr. Im schicken Café Plato treffen wir Ksenija Stevanovic. Die Musikwissenschafterin sucht nach Erklärungen für den Turbo-Folk: «Mit Partymusik und Silikonbusen wurden unter Milosevic Gefühle einer heilen Welt produziert», erzählt sie. «Das Motto: Wir Serben habens gut. Was kümmert uns der Rest der Welt.» In den Kriegsjahren seien die mafiösen Neureichen die Einzigen mit Geld gewesen: «So zwängten sich junge Serbinnen in engste und kürzeste Kleidchen, schmierten zu viel Make-up ins Gesicht und schmissen sich an die Ganoven ran.» Meistens wurde in den Turbo-Folk-Songs die Liebe besungen. Ab und an mussten sich Europäer und Amerikaner in den Gesangstexten als Faschisten bezeichnen lassen. Und immer wieder sollte die serbische Armee zu Heldentaten angestachelt werden. Noch nach dem Sturz Milosevics brachte eine Band namens Srpski Talibani eine Kassette in Umlauf, auf der die Anschläge vom 11. September 2001 glorifiziert und Carla Del Ponte sowie der Haager Gerichtshof https://norient.com/index.php/stories/belgrad2004 Page 3 of 9 Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com 29 Sep 2021 14:28:19 abgekanzelt wurden. Heute aber wolle der Turbo-Folk sein nationalistisches Image los werden, erzählt Stevanovic. Die Musik klinge stärker nach MTV und weniger orientalisch: «Stars wie Jelena Karleusa, in den Neunzigerjahren Partnerin eines bekannten Drogendealers und Autoschmugglers, produzieren heute aufwändige internationale Alben und finden auch in Bosnien und Kroatien ein Publikum. Ihr künstliches Aussehen hat Karleusa gar zum Kultobjekt der Homosexuellenszene werden lassen.» Stevanovic lacht – und fügt sogleich hinzu, dass der Turbo-Folk heute bei vielen Zwanzigjährigen äusserst beliebt sei. «Diese Kids waren nie im Ausland. Sie saugen mit dieser Musik zweifelhafte Werte auf. Bedenklich.» Ein Besuch im Glastempel von City Records, dem Musiklabel von Pink TV, bestätigt die Aussagen von Stevanovic: Turbo-Folk ist aus dem Katalog gestrichen. Statt dessen werden geschliffener Retortenpop sowie Techno-, Trance- und Kommerzialrock-Ware auf CD gebrannt. Unter Vertrag stehen neu die grossen Stars aus Kroatien, Bosnien und Mazedonien. Ihre CDs sollen in Belgrad bis zu 100 000 Mal über den Ladentisch gehen. Für ihre Produkte scheinen die beiden Talentspäher des Labels, Aleksandar Pavic und Goran Tomanovic, allerdings wenig Feuer gefangen zu haben. Tomanovic, früher Leader einer populären Underground-Rockband, macht hier, wie er sagt, bloss seinen Job: «Damit verdiene ich den Lebensunterhalt: für mich und meine kleine Tochter.» Die alternative Musikszene Am späten Abend setzt ein Sturm ein. Wir sind auf dem Weg zurück ins Stadtzentrum. In einem kalten Übungskeller schreien die beiden Frauen der Gruppe E-Play so laut ins Mikrofon, als wollten sie allen Frust ihres Belgrader Lebens auf einmal loswerden – ein lauter Protest gegen den Kitsch des Turbo-Folks. In der Nähe des Übungskellers steht Klub neben Klub. Im Akademija, einem Underground-Kultklub der achtziger Jahre, klingen abstrakte elektronische Sounds und Beats durchs dunkle, unterirdische Labyrinth. Gleich gegenüber, im «Basement», tanzt die Partygemeinde zu einem Verschnitt aus Retro-Techno und Alternativ-Rock. Schräg vis-a-vis wiederum spielt eine Jazzrock-Combo, derweil im «Anderground», in den Katakomben der Weissen Burg, Punks und Popper zu stampfendem Techno ihre Glieder verrenken und ein Show-Friseur auf einem violett ausgeleuchteten Podium Haare schneidet. Belgrads alternative Musikszene gilt als legendär. Rockgruppen wie Eyesburn, Darkwood Dub, Jarboli, Block Out, Flip Out, Elektronikkünstler wie Belgradyard Sound System und DJs wie Marco Nastic und Bojan Mitrovic haben nichts mit Turbo-Folk am Hut. Ihr wichtigster Partner bleibt bis heute die Radiostation B92. Viermal war der Oppositionssender in den neunziger Jahren verboten worden, und doch rief er im Oktober 2000 mit zu jener Demonstration auf, die Milosevic stürzen sollte. Mit dem anschliessenden Abzug zahlreicher internationaler Friedens- und Medienorganisationen verlor https://norient.com/index.php/stories/belgrad2004 Page 4 of 9 Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com 29 Sep 2021 14:28:19 der Sender jedoch wichtige Geldgeber; heute muss er sich neu vermarkten. Mittlerweile verfügt B92 über einen eigenen TV-Kanal, ein Musiklabel und einen Internet-Provider. «Früher kämpften wir gegen das Regime, heute für Sponsorengelder», fasst das B92-Urgestein Gordan Paunovic die jüngsten Entwicklungen zusammen. Der Sender, der seit 1989 mit nationalem und internationalem Indie-Rock, Punk, New Wave und Hip-Hop schockierte, ist in den letzten Jahren gefälliger geworden. «Am Tag läuft eine Play-List. Speziellere Sounds gibt’s bloss noch am Abend. Darum arbeite ich auch hier nicht mehr als Musikredaktor», sagt Paunovic. Hip-Hop parodiert Turbo-Folk Die Musikergeneration