Olympia

RODELN Transrapid in der Eisröhre Die Wettbewerbe in der „Spirale“ von Nagano gerieten zum vielbejubelten deutschen Medaillenfest. Mit High-Tech-Materialien und wissenschaftlicher Akribie haben die Rodler ihrem ehemals belächelten Sport eine eigene Faszination verschafft.

er „Gefechtsstand der Deutschen“, deutsch-tiroler Meisterschaft mit US-ame- Neuner, 28, eine Sekretärin aus Innsbruck. wie ihn Hauptfeldwebel Hackl rikanischer Beteiligung. Es sei schon „echt frustrierend“, meinte Dnennt, liegt zwischen Kurve 10 und Angesichts der „Übermacht“ grinste Jo- die Bronzemedaillengewinnerin, wie weit 11. An dieser Schlüsselstelle der Bob- und sef Fendt, der – logisch – aus Deutschland die Deutschen enteilt sind. Die seien eben Rodelbahn von Nagano haben sich der stammende Präsident des Internationalen „allesamt Soldaten“ und hätten somit jede „Schwaberl“ und der „Lenz Sepp“ am vo- Rodelverbandes, „daß wenigstens eine der Zeit zur Vorbereitung – und außerdem rigen Montag eingefunden, um die Fahrt anderen Nationen aufs Stockerl kommt, habe sie da „einen Verdacht“. Die Schlit- des Bundeswehrsoldaten zu begutachten. das ist olympisch gesehen bestimmt gut“. ten von Hackl und der Olympia-Zweiten Als die Startnummer 3 beinwärts wie Bei den Damen schaffte dies Angelika Barbara Niedernhuber klängen ganz an- ein schwarzrotgold bemalter Transrapid ders, irgend etwas hätten sie wohl heranzischt, schwingen die Japaner an der „mit der Federung“ getrickst. Be- Eisrinne hastig ihre Köpfe, dabei entfährt weisen könne sie natürlich nichts: ihnen ein giggelndes „Huiiiuhahh“. Der „Die Schlitten werden doch immer Schwaberl indes nuschelt nur leise „sup- unter Decken versteckt.“ pa“, während Lenz feststellt: „voll getrof- Neuners offen ausgesprochener fen“; er meint damit die Ideallinie. Argwohn überrascht, die Branche Sekunden später liegen sich die beiden gibt sich ansonsten verschwiegen Männer, Bundestrainer Thomas Schwab, wie die Camorra. Denn eigentlich 35, und sein Vorgänger Sepp Lenz, 63, in weiß jeder, daß die Sucht nach den Armen und tanzen eng umschlungen Schnelligkeit und Perfektion das wie ein Liebespaar. Die Nr. 3, , Rodeln in eine von Funktionärs- 31, aus , ist soeben Olym- hirnen geschaffene Kunstwelt ge- piasieger im Rodeln geworden. trieben hat, die der Öffentlichkeit In der ersten Woche von Nagano war kaum verständlich zu machen ist. „The Spiral“ so was wie die Spielwiese der Um den Schein von Fairneß und Deutschen. In keiner anderen Sportart do- Gleichheit zu bewahren, hat das minierten sie über den Rest der Welt wie Regelwerk Buchdicke erreicht, in im Rodeln: Alle drei in Nagano zu verge- dem Sätze wie diese zu finden benen Goldmedaillen – dazu einmal Silber sind: „Die Prüfung der Kufenmaße und einmal Bronze – stehen in der Bilanz erfolgt rechtwinklig zur vertikalen des Bundestrainers Schwab. und horizontalen Mittelachse der Und auch die Heimat stand kopf. Hackls Kufe.“ Bevor der Rodler seine dritter Olympiasieg in Serie wurde zur Fahrt beginnt, mißt eine Frau im Topnachricht der „Tagesschau“. Über- Silberanzug, ob die Kufe nicht zu standen sind die Zeiten, in denen die Rod- warm ist. Wenn die Fahrt beendet ler wegen ihrer eiförmigen Helme und ist, wiegen Juryhelfer erst den Lackanzüge verhohnepipelt wurden. Hackl Schlitten und dann den Fahrer, da- gilt der Sportgemeinde längst als verläßli- mit keiner wagt, sich mit Zusatz- cher Bekannter. Und seine Leistung, dieser Olympiasieger Hackl*: „Heitäck“ aus Bayern gewicht in die Rinne zu mogeln. Mix aus Fahrgefühl, Tüftelei, Beharrlich- Da trifft es sich gut, daß dieser keit und Schläue, wird beinahe wie der etwas undurchschaubare Sport ei- Nachweis für die Qualität des Standorts nen Helden vorzuweisen hat, der Deutschland gehandelt. sich bestens verkaufen läßt. Auch Längst lacht hierzulande keiner mehr, im Triumph seiner dritten Gold- wenn Schwab seinen „Profi“ Hackl lobt medaille spielte Hackl vorige Wo- und dieser seine Sportart als „Heitäck“ che den ewig Weißbier saufenden beschreibt. Der Wandel vom Schlittenfah- Bayern, der sich allein von Leber- ren zum Hochgeschwindigkeitsrodeln un- käs ernährt – obwohl er in Wahr- ter Geheimdienstprinzipien ist indes so heit genausogern Wein und Pasta weit vorangeschritten, daß kaum noch je- verzehrt. Das Image des „bayri- mand in der Lage ist, mitzuhalten – Olym- schen Urgesteins“ („Bild“) ver- pia 1998 reduzierte sich deshalb auf eine deckt, daß Hackl ein zur Beses- senheit neigender Pedant ist.

* Mit dem Zweitplazierten Armin Zöggeler (Italien, DPA FOTOS: Nur im Auge des Laien ist der rechts) und dem Dritten Jens Müller (Oberhof). Rodlerin Erdmann: Überall Hundertstel versteckt Schlitten nämlich ein Stück Kunst-

194 der spiegel 8/1998 Deutsche Silbermedaillen-Gewinnerin Niedernhuber: Mit Autobahnrichtgeschwindigkeit zehn Zentimeter über dem Eis stoffschale, dem zwei Kufen unterge- Heizungsproduzenten Viessmann, neu- Erdmann, 30, war nach der Wende dafür schraubt sind. Für Kenner wie Hackl da- artige Stahlschienen. Bei Adidas warb er ausersehen, Hackls weibliches Pendant zu gegen sind überall Hundertstelsekunden um einen speziell zu entwickelnden Ro- werden. Prompt holte die langbeinige versteckt. Jeder Schlitten ist handgemacht, delschuh – er habe da „ein paar bestimm- Blonde bei Olympia in Albertville ’92 der Körperform des Fahrers angepaßt, und te Ideen“. Schon bald stand der Perfektio- Bronze, in Lillehammer ’94 sogar Silber. jede Kufe nach Wunsch der Athleten zu- nist an der Werkbank des Sportausrüsters. Doch jedesmal wäre mehr drin gewe- geschliffen: Scharfe Kufen bohren sich tem- Es entstand ein Prototyp, der „sicher eini- sen. patzte stets am Start. pomindernd ins Eis und machen das Ar- ge Hundertstel“ bringt. Die skeptischen Mal war sie „übermotiviert“, mal „ir- beitsgerät richtungsstabil, runde Kufen glei- Adidas-Leute maßen die Kreation im gendwie zu lasch“. Um sich den Traum ten schneller über die Bahn, sind aber Windkanal: Hackl hatte recht.Als die Deut- vom Gold in Nagano zu erfüllen, suchte sie schwerer beherrschbar. Die Befestigung schen mit den gelbleuchtenden Pantoffeln Rat bei Dieter Hackfort, einem auf Sport- der Sitzwanne und die stählernen Aufhän- in Nagano an den Start marschierten, ler spezialisierten Psychologen. gungen sind von Plastikmänteln verbor- protestierten die Amerikaner – vergebens, Wer seinen Körper bei Autobahnricht- gen, und keine Nation weiß von der ande- alles war regelgerecht. geschwindigkeit in einer Höhe von knapp ren, wie es darunter aussieht. In der kleinen Rodlergemeinde gilt zehn Zentimetern übers Eis schickt, für All diese Feinheiten und Geheimnisse Hackl als „total fanatisch“ (Neuner) – je- den ist körperliche Hochform eine Voraus- hat Hackl bei seinem Lehrmeister Lenz er- denfalls als jemand, der die Entwicklung setzung. Die Fliehkraft drückt den Fahrer fahren. Doch weil der Erfahrungsschatz zur Technokratie immens beschleunigt hat. mit einem Druck in den Schlitten, der bis seines väterlichen Freundes ihm nicht lang- Und wie überall im Leben bleibt bei zu sechsmal so hoch ist wie sein Körper- te, probierte Hackl weiter und weiter – so der zunehmenden Verwissenschaftlichung gewicht. „Die ständigen Schläge im Eis zer- daß das heimische Bett zur Nacht oftmals auch im Sport das Menschliche auf mürben zudem die Muskeln“, weiß Lenz. kalt blieb und seine Freundin maulte. Der der Strecke. Doch nur wer es schafft, unter diesem Schorsch, meint Margit Datzmann, habe Im Ringen um Sekundenbruchteile ist Druck „Bewegungserfahrung automatisch „über Tage und Wochen“ diesen „Tunnel- inzwischen jede Lebensentscheidung dem abzurufen“ (Hackfort), kann siegen. Schon blick“, gerichtet auf das Ziel, den perfek- Kampf mit Material und Gegner unterzu- die kleinste Abweichung von der Idealspur ten Schlitten zu bauen. Dazu erfand der ordnen. Wer nur kleine Kompromisse zu- kostet die entscheidenden Sekunden- manische Tüftler mit seinem Sponsor, dem zuläßt, kann als Held rasch abstürzen: Susi bruchteile. Und wer sich lange über Fehler

der spiegel 8/1998 195 Olympia grämt, hat schon verloren.Viele Rodler las- „Ase“ (Schweiß) er um der Gemeinschaft sen sich deshalb von Psychologen beraten SKISPRINGEN willen vergossen hat. – auch wenn die wenigsten darüber spre- Während der moderne europäische Pro- chen mögen, weil die „immer noch den Fröhliche fisportler heutzutage die Frage, ob er die Ruf haben, nur für Kopfkranke dazusein“ Medaille für sich oder sein Land gewonnen (Erdmann). habe, eher mit einem verstörten Blick quit- Als Susi Erdmann das Starthaus von Na- Fassade tiert, ist es für Japaner wie Harada selbst- gano betritt, fühlt sie sich „bestens präpa- verständlich, sein Sieg dem Team, der Fir- riert“. Wie vor jedem Wettkampf üblich, Schon oft scheiterten japanische ma oder gleich dem ganzen Volk zu wid- hat die amtierende Weltmeisterin am Sportler am Druck der men. Nahezu klassisch verpackt Harada Abend vorher mit einem Walkman auf den seinen persönlichen Ehrgeiz in patriotische Ohren vier Stunden lang die Kufen ge- Öffentlichkeit. Beim Teamwett- Standards: „Mit meinem Sprung“, ver- schmirgelt und poliert. Nun geht sie in Ge- bewerb sorgt sich das Land kündete er im Hinblick auf das Mann- danken nochmals die Wechsel von Kurven um die Nerven seiner Skispringer. schaftsspringen am Dienstag dieser Woche, und Graden durch, die sie längst so tief im „werde ich Japans schlechte Wirtschafts- Gehirn eingegraben hat, daß sie nahezu ier Jahre hatte Masahiko Harada, konjunktur hinwegfegen.“ blind fahren wird. 29, eisern trainiert, hatte kurz vor Der brave Athlet denkt an sich zuletzt. Mit dem bei Hackfort antrainierten Vdem Wettkampf noch den Zenkoji- Auch der erste japanische Olympiasieger „Biß“ und der Kraft aus drei Paddelschlä- Tempel in Nagano besucht, um eine Für- der Nagano-Spiele bediente dieses Kli- gen, die über eisenbeschlagene Handschu- bitte auf eine Votivtafel zu schreiben schee. Bevor sich Hiroyasu Shimizu, 23, he aufs Eis gebracht wird, stürzt sie sich ins („Möge die Welt durch Haradas Lächeln Goldmedaillengewinner über 500 Meter Tal – bis zur Hälfte der Strecke liegt sie im Eisschnellauf, über sei- nahe der Bestzeit. Doch dort, wo wieder ne Leistung äußern moch- Lenz und Schwab stehen, kommt sie um te, dankte er „meinem Va- Millisekunden zu spät aus der Kurve. Bei ter im Himmel“, den Kol- Tempo 120 wirbeln die Winde am Anzug legen vom Nationalteam, der 186 Zentimeter großen Fahrerin. „Die der Firma, die ihn be- Susi hat einen großen Nachteil“, erkennt schäftigt, und generell „al- Schwab, „die ist so lang, da kann der Wind len Leuten in Japan“. So viel besser packen als bei den anderen.“ wie Harada seit dem Lille- Am Ende ist Erdmann auf Rang vier. Es hammer-Desaster versuch- fehle ihr weder an Fahrgefühl noch an Ath- te, die seelische Anspan- letik, urteilt Lenz. Woran sie letztlich ge- nung „in Vergnügen zu scheitert ist, war ihre Wahl, in München verwandeln“, berichtete leben zu wollen, um „auch ein Leben ne- auch Shimizu vom Kampf ben dem Sport zu haben“. Dort, fernab gegen die Favoritenbürde. der Tüftlerzentralen von Königssee und „Eine Stimme sagte mir Oberhof, verlor zwar nicht sie, aber ihr vor, was passiert, wenn ich

Schlitten den Anschluß ans Topniveau. AP FOTOS: versage. Ich sagte dagegen Gesandte der beiden Rodelhochburgen Eisschnellauf-Olympiasieger Shimizu immer: ‚Du schaffst es.‘“ hüten ihre Sportgeräte wie Schätze, denn „Eine Stimme sagte mir, was passiert, wenn ich versage“ Daß die japanischen selbst im eigenen Lager traut man sich Skispringer in diesem Jahr nicht mehr über den Weg. Jeder Athlet Frieden finden“); doch dann widerfuhr die vorolympischen Wettbewerbe be- parkt heute seinen Rodel neben dem Bett. dem Skispringer die schwärzeste Stunde herrschten, bejubeln die Medien voreilig Die Geheimniskrämerei zahlt sich aus. seines Sportlerlebens ein zweites Mal. als Wiederauferstehung der „Hinomaru Hi- Wohl auch, weil sie noch vom alten Know- Nach dem ersten Durchgang souverän in kotai“ – jener legendären „Sonnenbanner- how der DDR profitieren, gewinnen so- Führung liegend, verpatzt der Weltmeister Flugstaffel“, die 1972 in Sapporo sämtliche wohl Silke Kraushaar als auch das Duo vergangenen Mittwoch seinen zweiten Ver- Medaillen auf der Normalschanze gewann. Stefan Krauße/ Gold – sie alle such: statt olympischem Gold nur Platz Diese übermäßigen Verheißungen wiegen kommen aus Oberhof. Dort kümmern sich fünf. Wie zum Trotz versichert der Dauer- schwer – und machen womöglich die tech- Mechaniker der Forschungs- und Entwick- lächler aus Kamikawacho den fassungslo- nische Überlegenheit der Springer zunich- lungsstelle für Sportgeräte um den schnel- sen japanischen Journalisten: „Der starke te, in die Japan soviel Geld und Know-how len Schliff. Zwei Tausendstelsekunden hin- Harada lebt.“ Hinter der fröhlichen Fassa- gesteckt hat: „Was unser Team stützt, ist ter Kraushaar erreichte Barbara Niedern- de verbirgt sich indes Hilflosigkeit. die Kraft seiner technischen Fähigkeit“, huber das Ziel – eine bayerische Soldatin, Wieder einmal ist ein japanischer Athlet sagt Trainer Hirokazu Yagi. die nicht nur wie Hackl redet, läuft und tüf- am Druck der Öffentlichkeit gescheitert. Besonders stolz sind die Japaner darauf, telt, sondern auch so rodelt. Fatal erinnert Haradas Mißgeschick an den V-Stil mit Hilfe von Wissenschaftlern Und derweil die „Babsi“ und der das Debakel von Lillehammer 1994, als er des Luftfahrtforschungs-Instituts der staat- Schorsch am Tag nach dem Wettkampf zu- beim Mannschaftswettbewerb den letzten lichen Elite-Universität Todai perfektio- frieden durch Nagano schlendern, fühlt Sprung vermasselte, das sicher geglaubte niert zu haben. Doch vor lauter Technik- sich Susi Erdmann „wie auf einer Beerdi- Olympia-Gold an das deutsche Quartett besessenheit scheren sich Japans Sport- gung“. Doch sie will nicht aufgeben, noch verschenkte – und die Nation in tiefe Trau- funktionäre traditionell wenig um die Psy- einmal „Zeit und Geld zu investieren“ – rigkeit stürzte. che der Athleten. Sie setzen ihre potenti- und vor allem schnell weg aus Japan. Denn schlimmer noch als individuelles ellen Medaillenlieferanten mit einer Gelöb- Denn während Hackl ein Glückwunsch- Versagen bekümmert die japanische Ge- nisfeier („Ketsudanshiki“) unter Druck, die telegramm vom Kanzler bekam, hat sie ein sellschaft, wenn die Gruppe um die ver- aus der Vorkriegszeit stammt. „tolles Fax“ von ihrem Freund erhalten. diente Ehre gebracht wird. Wie in Schule, Vor allem seit den Sommerspielen von „Vierter Platz in Nagano“ stand darauf zu Beruf und Politik wird der einzelne auch Tokio 1964, für die das Land rund die Hälf- lesen, „Gold zu Hause – komm heim.“ ™ im Sport vor allem daran gemessen, wieviel te des damaligen Staatshaushalts ausgab, ist

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