Ingo Werner Gerhartz Tragische Schuld

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Ingo Werner Gerhartz Tragische Schuld Ingo Werner Gerhartz Tragische Schuld ALBER THESEN A Die Frage nach der Schuld des Ödipus ist nicht nur eines der meist- diskutierten Probleme der philologischen Tragödienforschung, son- dern verweist als Paradigma tragischen Handelns auf die Verstrickun- gen einer menschlichen Freiheit, die sich von den Bedingungen ihrer eigenen Existenz zu lösen versucht und ihnen doch stets verhaftet bleibt. Solange jedoch ein modernes, auf individuelle Verantwortlich- keit reduziertes Verständnis von Schuld unhinterfragt an das antike Drama herangetragen wurde, musste Sophokles schweigen. Erst die philosophische Reflexion grundlegender Begrifflichkeiten eröffnet den Blick auf die kultische Metaphorik der Befleckung (miasma) im rituellen Untergrund der Tragödie und den wesenhaft ekstatischen Ursprungsbezug von Mythologie überhaupt. Indem tragische Schuld solcherart über die engen Grenzen sub- jektiver Zurechenbarkeit hinaus gedeutet wird, liefert sie nicht nur wichtige Impulse für mehrere Forschungsprobleme der beteiligten Disziplinen, sondern erschließt auch eine neue Perspektive auf das Verhältnis des Stücks zu drängenden Fragen unserer Zeit als Aus- einandersetzung mit Hybris und Fehlbarkeit des Menschen im Schat- ten eines mißverstandenen Ideals grenzenloser Machbarkeit. Der Autor: Ingo Werner Gerhartz, Jahrgang 1979, studierte in Mainz Philoso- phie und Griechische Philologie. Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter am Arbeitsbereich für Praktische Philosophie der Johannes Guten- berg-Universität Mainz. Ingo Werner Gerhartz Tragische Schuld Philosophische Perspektiven zur Schuldfrage in der griechischen Tragödie Verlag Karl Alber Freiburg/München Alber-Reihe Thesen Band 66 Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 (Philosophie) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2014 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philo- sophie (Dr. phil.) angenommen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gutenberg-Akademie der Universität Mainz ® MIX Papier aus verantwor- tungsvollen Quellen ® www.fsc.org FSC C083411 Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48787-7 Inhalt Vorwort . 11 Teil I: Tragik I.1) Die Philosophie des Tragischen . 23 a) Poetik . 23 b) Dialektik . 33 c) Krisis . 42 I.2) Der tragische Kultus . 53 a) Bocksgesang . 53 b) Dionysos . 63 c) Heldenopfer und Restitution . 73 I.3) Der tragische Mythos . 85 a) Rechtfertigung des Lebens . 85 b) Entmythologisierung . 95 c) Diffuse Schuld . 105 Tragische Schuld A 7 Inhalt Teil II: Schuld II.1) Die Suche nach der Schuld . 119 a) Schmitt und Lefèvre . 119 b) Lurjes Kritik . 129 c) Die Leerstelle des Sophokles . 139 II.2) Schuldlose Schuld? . 150 a) Befleckung . 150 b) Ursprung . 160 c) Ekstase . 169 II.3) Tragische Schuld . 180 a) Verfehlung . 180 b) Versöhnung . 190 c) Verstrickung . 200 Nachwort . 210 Literaturverzeichnis . 220 Register . 230 8 ALBER THESEN Ingo Werner Gerhartz Φθίνοντα γὰρ Λαίου παλαιὰ θέσφατ’ ἐξαιροῦσιν ἤδη, κοὐδαμοῦ τιμαῖς Ἀπόλλων ἐμφανής· ἔρρει δὲ τὰ θεῖα.1 (Sophokles, Oidipus Tyrannos, 2. Stasimon, 2. Gegenstrophe) 1 »Denn schwindend wird Laios’ / Uraltes Götterwort / Hinweggeworfen; nimmer strahlt / Nunmehr Apollos Ehrenglanz; / Hinsinket die Gottheit!« – Übersetzung von K. F. W. Solger, in: Friedrich, W. H. (Hrsg.): Aischylos, Sophokles, Euripides – Die großen Tragödien. Düsseldorf: Albatros 2006, S. 423. Vorwort Als Meisterwerk des womöglich größten aller Tragödiendichter ge- priesen, von Aristoteles zum Musterbeispiel einer tragischen Hand- lung erklärt und im Brennpunkt verschiedenster Theoriebildungen aus Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaft entzieht sich der König Ödipus des Sophokles noch immer einer letztgültigen Deutung – und rückt schon damit in greifbare Nähe zu jenen grundlegenden Fragen über Sinn, Sein und Wahrheit, welche die Philosophie seit ihren An- fängen beständig und doch immer von Neuem zu beantworten sucht. Die »Auffassung vom Wesen des Tragischen« – nebenbei gesagt eine Wortschöpfung der Philosophie –, als dessen Exempel und Prüfstein sich das Stück im Laufe der seit bald zweieinhalb Jahrtausenden an- dauernden Deutungsgeschichte oft genug gerierte, erwies sich dabei stets als »ein entscheidendes Stück Weltanschauung«1, wie der re- nommierte Altphilologe Albin Lesky richtig bemerkt. Richtig in zweierlei Hinsicht, denn einerseits brachte der zeit- liche Abstand trotz der kargen Anzahl überlieferter Werke einen breiten Materialbestand an Interpretationen hervor, welche (zumeist gestützt auf die maßgebliche Poetik des Aristoteles) ihren Gegen- stand jederzeit mit dem Vorwissen und -urteil ihrer Epoche betrach- ten mussten, ebenso aber vermochte die Rückbesinnung ad fontes wiederum das Denken eines jeden Jahrhunderts zu befruchten. So befindet sich der moderne Rezipient in jenem eigentümlichen Zwiespalt zwischen der Problematik hermeneutischer Allegorese und dem, was Nietzsche in der Einleitung zu seiner zweiten unzeitge- mäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben folgendermaßen beschreibt: »Ich wüsste nicht, was die klassi- sche Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, 1 Lesky, A.: Die griechische Tragödie. Stuttgart: Kröner 1984, S. 44. Tragische Schuld A 11 Vorwort in ihr unzeitgemäß – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit zu wirken«2. Als »Unzeitgemäße Bemerkungen«3 wollte nunmehr auch Eckard Lefèvre seine Bestrebungen gegen die seit Ulrich von Wilamo- witz-Moellendorffs Diktum etablierte communis opinio der jüngeren Sophoklesforschung verstanden wissen, bei der Rede von Schuld und Strafe im Ödipus handle es sich um »Unverstand«4, und entfachte damit erneut die Glut der Diskussion um eine sehr alte Frage: die Frage nach der Schuld. Lefèvre diagnostiziert dem Thebanischen König, der auf der Suche nach den Mördern seines Vorgängers Laios sich selbst des Va- termordes und der inzestuösen Ehe mit der Mutter überführt, be- stimmte charakterliche Fehltendenzen wie sowohl Zornesblindheit als auch Überklugheit und Selbstverkennung, die er mit Verweis auf den Begriff der ἁμαρτία (»Verfehlung«) im Werk des Aristoteles als Ursachen einer moralischen, subjektiv zu verantwortenden Schuld interpretiert. Eine ganz ähnliche These hatte der ehemalige Inhaber des Main- zer Lehrstuhls für Gräzistik Arbogast Schmitt bereits einige Jahre zu- vor in seiner unveröffentlichten Habilitationsschrift5, sowie darauf- hin in einem kürzeren Artikel6 vertreten. Demnach zeige Ödipus »die Neigung, sich von einem Gedanken, den er faßt, ganz einneh- men und zu allen in ihm angelegten Konsequenzen fortreißen zu las- sen« (S. 14) und werde somit »durch ein vermeidbares, aber aus Cha- rakter und Denkhaltung heraus verständliches Fehlverhalten selbst zur Ursache vielfältiger Verstellungen und Verzerrungen«, sein Schicksal treffe ihn also »nicht zufällig und von außen« (S. 28). Ödi- pus ist selbst schuld – eben darin besteht seine Tragik. Eine umfassende Gegendarstellung erhielten beide Positionen 2 Nietzsche, F. W.: Kritische Studienausgabe (KSA), herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montiniari, München: dtv 1999, Bd. 1, S. 247. 3 Lefèvre, E.: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen, Unzeitgemäße Betrachtungen zu Sophokles’ Oidipus Tyrannos, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissen- schaft, N.F. 13 (1987), S. 37–58. 4 Wilamovitz-Möllendorff, U. v.: Excurse zum Oedipus des Sophokles, in: Hermes, Zeitschrift für classische Philologie 34 (1899), S. 55–80. 5 Charakter und Schicksal in Sophokles’ ›König Ödipus‹, Würzburg 1981 (unver- öffentlicht). 6 Schmitt, A.: Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern, Zur Handlungsmotiva- tion im sophokleischen ›König Ödipus‹, in: Rheinisches Museum für Philologie N.F. 131 (1988), S. 8–30. 12 ALBER THESEN Ingo Werner Gerhartz Vorwort mit der Veröffentlichung einer Berner Dissertation von Michael Lur- je unter dem Titel Die Suche nach der Schuld7. Seine breit angelegte Deutungsgeschichte des König Ödipus kommt zu dem Schluss, dass die Arbeiten von Lefèvre, Schmitt und auch dessen Schülerin Cessi8 »nicht vom sophokleischen Text ausgehen, sondern Ergebnis und Fol- ge der Anwendung einer bestimmten Auffassung des 13. Kapitels der aristotelischen Poetik, insbesondere der Hamartia, auf die attische Tragödie darstellen« (S. 387), also keineswegs Neuerungen, sondern lediglich eine Rückkehr zu moralisierenden Interpretationen der frü- hen Neuzeit bedeuten, und somit wieder hinter als bereits gesichert geglaubte Erkenntnisse zurückfallen. Lurje selbst verzichtet auf eine eigene Interpretation und be- gnügt sich mit Kritik – die Frage nach der von ihm aufgewiesenen »Leerstelle«, einer bewussten Ausklammerung jeglicher Zuweisung von Schuld im König Ödipus, welche im Laufe der Jahrhunderte von diversen Interpreten mit den jeweils eigenen Vorurteilen gefüllt wor- den sei, beantwortet er nicht. »Warum schweigt Sophokles also« (S. 394)? Arbogast Schmitt hingegen scheint sich mit seiner Auf- arbeitung der Diskussion im jüngst erschienenen Kommentar zum 13. Kapitel der Poetik des Aristoteles9 eher um eine Rückgabe der Kri- tik zu bemühen, wenn er seinerseits Lurje eine »Aversion gegen die Verquickung von Dichtung und Moral« vorwirft, welche »ihren Grund – auch – in einer bestimmten Auffassung von Moral, die nicht aristotelisch ist« (S. 440) habe. Über Sophokles sagt dies freilich nichts aus. Die Frage, ob eine
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