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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 27. November 2000 Betr.: Bernsteinzimmer, Pereira, SPIEGEL Almanach, SPIEGELreporter eue Spuren vom Bernsteinzimmer. In einer zweiteili- Ngen Serie schildert der SPIEGEL die Suche nach dem Jahrtausendkunstwerk, das gegen Ende des Zweiten Welt- kriegs verschwand und seither die Phantasie von Aben- teurern, Wissenschaftlern und Geheimdienstlern anregt. SPIEGEL-Autor Erich Wiedemann hat in ostpreußischen Katakomben und stillgelegten Bergwerken im Erzgebirge recherchiert und Dutzende Schatzsucher und Zeitzeugen einvernommen. Vor allem aber kämpfte er sich durch mehr als 30 Leitz-Ordner von Stasi-Akten: Eine spezielle Stasi- Abteilung, Erich Mielke direkt unterstellt, hatte die ganze

DDR durchsucht, um den Sowjets das Zimmer zurück- DER SPIEGEL geben zu können – ohne Erfolg (Seite 76). Schatzsucher, Wiedemann

eit fast 32 Jahren beschreibt Klaus Umbach für den SPIEGEL den klassischen Mu- Ssikbetrieb, und nichts hat ihn dabei so gereizt wie das Luxusgeschöpf Oper, die schillerndste, teuerste und eitelste Institution des Kulturbetriebs. Vor allem auf den drei Berliner Musikbühnen und bei deren Chefs musste sich Umbach in letzter Zeit ungewöhnlich oft um- hören – die Opernmisere in der Hauptstadt nahm, mit Reformpapie- ren und Gegenpapieren, zuweilen gro- teske Züge an. Jetzt traf sich Umbach mit dem Zürcher Opernintendanten Alexander Pereira zur Bestandsauf- nahme. Der hat als gebürtiger Wiener mit schweizerischem Arbeitsvertrag

L. ZANETTI / LOOKAT wenigstens den Anschein eines neu- Umbach, Pereira tralen Beobachters (Seite 332).

icht wie sonst zur Frankfurter Buchmesse, sondern aktueller denn je erscheint Nin dieser Woche der SPIEGEL Almanach 2001. Als einziger in seiner Klasse geht der reichhaltig illustrierte, 640 Seiten starke Band auf die Chaos-Wahl in den USA ein und leuchtet die Hintergründe des Umsturzes in Jugoslawien aus. Hinzu kommen, wie gewohnt, verlässliche Zahlen, Daten und Ana- lysen für alle Länder der Welt, eine Chronik der wichtigsten Er- eignisse, die „Themen des Jahres“ – vom Spendenskandal der CDU bis zur Entschlüsselung des menschlichen Erbguts –, Porträts der „Personen des Jahres“, Nachrufe sowie eine Vielzahl von Lis- ten und Tabellen. Den SPIEGEL Almanach 2001 gibt es als Buch (29,90 Mark), als Buch mit CD-Rom (49,90 Mark) und als CD-Rom (29,90 Mark).

er Traum: Reich werden durch 15 richtige Antworten – doch Dwirklich reich wird nur der Moderator, Günther Jauch. Die Quizshow „Wer wird Millionär?“ ist weltweit die erfolgreichste Fernsehsendung. Wissen und Raten ist in. Den neuen Millionärs- wahn beschreibt die Titelgeschichte der Dezember-Ausgabe von SPIEGELreporter. Außerdem im Monatsmagazin: Reportagen über die Hacker des FBI, das Rennen der Segelmonster und den Mann, der allergisch ist gegen die Welt.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 48/2000 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Das Liebesleben im 21. Jahrhundert...... 180 Internet – letzter Zufluchtsort für Intimität...... 186 SPIEGEL-Gespräch mit Michel Houellebecq BSE – Seuche ohne Grenzen Seite 22 über die Wandlung der Liebe zur Ware ...... 198 Essay: Molekularbiologe Jens Reich über Jahrelang behaupteten Lobbyisten, deut- die Erotik in der Cyberwelt ...... 204 sches Fleisch sei BSE-sicher. Doch jetzt ist Antibabypillen-Erfinder Carl Djerassi über die der Rinderwahn in der Bundesrepublik an- Zukunft der künstlichen Befruchtung ...... 210 gekommen. Tests ergaben BSE-Verdacht bei Versandhandel – Samenbank in Dänemark...... 216 zwei deutschen Kühen. Experten fürchten,

Kommentar AP dass längst Fleisch infizierter Rinder verkauft Rudolf Augstein: „Kannitverstan“ ...... 28 wurde. Gerhard Schrö- ders Gesundheitsminis- Deutschland terin Andrea Fischer Panorama: Stasi-Spitzel in Union enttarnt / Tritt Rezzo Schlauch zurück?...... 17 will die Einführung von BSE: Rinderwahn nun auch in Deutschland ...... 22 Schnelltests vorziehen, Hirn-Experten arbeiten an Tests für Menschen ..... 24 Tiermehl als Futter soll

Ex-Kanzler: Helmut Kohl rechnet ab ...... 29 BILDERDIENST ULLSTEIN verboten werden. CDU/CSU: Wer wird Kanzlerkandidat? ...... 32 Bundeswehr: Weltweite Einsätze...... 33 Regierung: Missmanagement im Kanzleramt ...... 34 Schlachthof (in Essen) Fischer, Schröder Brandenburg: Große Koalition vor dem Aus? ...... 38 CDU: Wie Saar-Ministerpräsident Peter Müller sich nach oben arbeitet...... 40 SPD: Gefährliche Nähe zwischen der Partei und ihren Firmen...... 46 Affären: Angeklagter Ex-Minister will über Vertuschter Mord? S. 99 Stuttgarter Landesregierung auspacken...... 50 Minister: Rechthaberin Herta Däubler-Gmelin .... 54 Im sächsischen Sebnitz, einer Kleinstadt Rechtsradikale: Fußballvereine als Tarnung?...... 60 mit Neonazi-Szene, ertrank 1997 ein sechs- Kirche: Vatikan sabotiert Schwangerenberatung... 64 jähriger Junge im städtischen Freibad. Hin- Justiz: In Stammheim beginnt einer der weise, es könne sich um ein Verbrechen letzten RAF-Prozesse ...... 70 Bernsteinzimmer: Neue Spur im Osten (I) ...... 76 handeln, wurden jahrelang ignoriert. Ver- Todesfälle: Ermordeten Rechte den gangene Woche ließ die Staatsanwaltschaft sechsjährigen Joseph Abdulla in Sebnitz?...... 99 zwei Männer und eine Frau verhaften – sie sollen Joseph Abdulla umgebracht haben. Wirtschaft DPA Trends: Kahlschlag beim Bahnpersonal / Eichel Doch Zweifel bleiben. Joseph, Schwester Diana, Mutter contra Breuer / EU lässt Holzmann prüfen ...... 105 Geld: Noch keine Entwarnung am Neuen Markt / Banken tricksen bei privater Vorsorge ...... 107 Konzerne: DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp muss kämpfen...... 108 Bündnis für Arbeit: Parteien und Verbände Daimler in Not Seite 108 verlieren das Interesse...... 112 Transrapid: Comeback als S-Bahn? ...... 114 „Unser Unternehmen befindet sich in einer dramati- Telekommunikation: SPIEGEL-Gespräch mit schen Situation“, sagt der neue Chrysler-Chef Die- Telekom-Chef Ron Sommer über den Kurssturz ter Zetsche. Die Krise bei der US-Marke trifft den ge- der T-Aktie und die Probleme bei T-Online...... 116 samten DaimlerChrysler-Konzern. Nach dem Kurs- Warum der Regulierer ging ...... 120 EU: Kommunen missachten Europa-Recht...... 122 sturz der Aktie könnte er gar Ziel einer feindlichen Unternehmen: Geisterbüros für Notfälle ...... 124 Übernahme werden. Konzernchef Jürgen Schrempp

G. TROTT muss schnell einen Sanierungsplan vorlegen. Medien Trends: National Geographic plant Doku-Kanal / Blitzkarriere beim Bayerischen Rundfunk ...... 127 Schrempp Fernsehen: „Jahrestage“-Verfilmung verschafft Uwe Johnson neue Leser / Grimme-Preis- Verwalter Ulrich Spies über Qualität im TV...... 128 Vorschau ...... 129 Presse: Dauerkrise bei der „Zeit“...... 130 Fernsehspiele: Springers Leben als Zweiteiler... 133 Mut zum jungen Mann S. 152 Unterhaltung: Fünf Jahre „Harald Schmidt Show“ – das Jubiläum ...... 138 Ältere Männer, die sich mit jungen Gefährtinnen Merchandising: „TV total“ – die Zeitschrift schmücken – dieses Bild ist aus Alltag und zum Fernsehspektakel ...... 147 Presse wohlvertraut. Wählen sich ältere Frauen Gesellschaft jedoch einen jüngeren Partner, reagiert die Um- Szene: Die Magie des Telefons / Militärs welt noch immer mit Skepsis. Trotzdem zeigen entwickeln mobile Container-Kneipen...... 151 sich nun auch Promi-Ladys selbstverständlicher Partnerschaft: Warum sich immer mehr mit jüngeren Begleitern. Anders als das Klischee Frauen zu jüngeren Geliebten bekennen ...... 152 es will, vermeiden diese Paare oftmals den Hauptstadt: Der Niedergang des Wedding...... 160

Tausch traditioneller Geschlechterrollen. AFP / DPA Sport Leichtathletik: Nils Schumanns Probleme Madonna mit jüngerem Partner Guy Ritchie mit dem Image ...... 168 Affären: Wirbel um den kleinen Kaiser...... 179 6 der spiegel 48/2000 Ausland Panorama: Neue Angriffe der Kosovo-Albaner / Bomben gegen Ibn Ladin ...... 223 Nahost: Die Eskalation des Hasses ...... 226 Interview mit Palästinenser-Präsident Jassir Arafat über die Spirale der Gewalt ...... 230 USA: Bitterer Kampf ums Weiße Haus ...... 234 Spott für das Wahldebakel ...... 236 Peru: Fujimoris schmählicher Abgang...... 238 Europa: Teurer Tierschutz ...... 242 Russland: SPIEGEL-Gespräch mit Ministerpräsident Michail Kassjanow über den wirtschaftlichen Aufschwung ...... 246 Sibiren: Die vergessenen Forscher von Akademgorodok ...... 251 Ägypten: Christen gegen Islamisten ...... 260 Vereinte Nationen: Die politischen Mühen der Uno-Chefanklägerin Carla Del Ponte ...... 266 AFP / DPA China: Untreuen Männern droht Gefängnis ...... 272 Intifada-Kämpfer in Hebron Wissenschaft · Technik Prisma: Killerelefanten gebändigt / Mini-U-Boot mit Bakterienmotor ...... 275 Nahost: Hilferuf an die Uno Seiten 226, 230 Gesundheit: Ärzte verweigern Patienten Hilfe und Medikamente ...... 278 Unter dem Druck seiner Rivalen muss sich Israels Premier Barak zwischen neuen Ver- Rüstung: Nachwuchssorgen in Amerikas handlungen oder weiteren Vergeltungsschlägen entscheiden. Autonomie-Führer Atombombenlabors ...... 288 Arafat fordert „Schutz von der Uno“, die USA bringen „Pufferzonen“ ins Gespräch. Computer: Die zwei Gesichter des Apple-Chefs Steve Jobs...... 292 Ethik: Die Ethikerin Regine Kollek über die Angst, ein behindertes Kind zu gebären ...... 298 Kultur Szene: Bertelsmanns Mega-Literaturpreis Sparen an den Kranken Seite 278 floppt / Hollywood-Star Jim Carrey über Weihnachtsmärchen ...... 303 Die Jahresbudgets der deutschen Ärzte sind erschöpft: Immer häufiger beschweren Autoren: Sebastian Haffners bewegendes sich auch schwer kranke Patienten, dass ihnen Medikamente und Behandlungen Erinnerungsbuch ...... 306 verweigert werden. Geld wäre genug da, doch es wird verschwendet. Ausstellungen: Eine Karlsruher Groß-Schau würdigt den Exzentriker Franz West...... 312 Theater: Tom Waits und Robert Wilson machen aus „Woyzeck“ ein Musical...... 316 Kulturpolitik: Interview mit dem designierten Kultur-Staatsminister Julian Nida-Rümelin über seine Zukunft in der Politik ...... 318 Haffners Hellsicht S. 306 Bestseller...... 320 Kino: Die Actionkomödie Eine stille Buch-Sensation: Die „Geschich- „Drei Engel für Charlie“...... 322 te eines Deutschen“, das erst jetzt gefun- Regisseure: Der Chinese Wong Kar-wai und dene Frühwerk aus dem Nachlass des sein Melodram „In the Mood for Love“ ...... 324 1999 verstorbenen Publizisten Sebastian Film: Das britische Außenseiterdrama Haffner, begeistert die Kritik und stürmt „Billy Elliott“...... 328 die Bestseller-Listen. Die Erinnerungen Künstler: Das Liebesleben des Malers Alexej von Jawlensky ...... 330 ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN aus den Jahren 1914 bis 1933, im Londoner Musiktheater: SPIEGEL-Gespräch mit dem Exil 1939 verfasst, be- Zürcher Opernchef Alexander Pereira über sein schreiben ebenso poe- Reformkonzept für Berlins Opernhäuser ...... 332 tisch wie politisch hell- Musikgeschäft: Wie der Erfolgsmanager Alan sichtig den Untergang McGee die Popbranche revolutionieren will ...... 338 Deutschlands im Wahn Briefe...... 8 des nationalsozialisti- Impressum...... 14, 340

Berlin 1922, Haffner 1992 PRESS ACTION schen Terrors. Leserservice ...... 340 Chronik ...... 341 Register...... 342 Personalien...... 344 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 346 Gold mit Schrammen S. 168 Hongkongs Diva Zuerst hat er lässig mit seiner Bierleidenschaft kokettiert, dann wollte er mit seinem Trainingsfleiß Ein Porträt von Chinas Film- Vorbild sein. Nun posiert er auf erotischen Fotos. star Maggie Cheung. Außer- Der 800-Meter-Olympiasieger Nils Schumann hat dem in kulturSPIEGEL, dem

sich verzettelt und sein Image ramponiert. AFP / DPA Magazin für Abonnenten: der australische Design-Star Marc Schumann Newson und Kelly Kleins Bildband „Cross“.

der spiegel 48/2000 7 Briefe

wird’s deprimierend – zumindest für Ger- „Der ‚Homo theoreticus‘ wird vom manisten in Deutschland. Wenn alles so geht, wie ich es mir vorgestellt habe, wer- ‚Homo practicus‘ in der universitären de ich zur Jahresfrist meine Doktorarbeit Ausbildung ersetzt werden müssen, einreichen. Was ich danach mache, ist, ehr- wenn Deutschland den internationalen lich gesagt, noch sehr ungewiss. Vielleicht gehe ich ja ganz lange einen trinken. Anschluss nicht verpassen will. Aber Wadgassen (Saarland) Martin Schmitt warum sollte ein Praktiker in die Uni-Lehre Mit keinem Wort erwähnen Sie das Berufs- gehen, wenn sein Gehalt in der freien akademie-Studium, das dem an der Fach- Wirtschaft mindestens das Dreifache beträgt?“ hochschule gleichgestellt ist. Diese Art des praxisnahen Studiums ist in Baden-Würt- Patrick Bannert aus Hamburg zum Titel „Studieren zum Erfolg“ temberg seit Jahren erfolgreich und wird SPIEGEL-Titel 46/2000 von immer mehr Bundesländern über- nommen. Wir erreichen unser Diplom in drei Jahren und sind während dieser Zeit das langfristig eine große Gefahr für das im Wechsel an der Hochschule und in der Reichlich Hausaufgaben Hochschulsystem darstellt. Mit der zuneh- Firma tätig. Sie sprechen den Wunsch vie- Nr. 46/2000, Titel: Große SPIEGEL-Untersuchung: Die menden Attraktivität von Positionen in der ler Studenten an, das Studium mehr zu Berufschancen der Studenten. Studieren zum Erfolg Wirtschaft entscheiden sich immer weniger verschulen. Anstatt gerade hier auf die Be- Absolventen für eine wissenschaftliche rufsakademien zu verweisen, geben Sie Schluss mit den heuchlerischen Klagen Laufbahn. Die Zahl der Studierenden, die Beispiele aus dem Ausland, als gäbe es die- über die mangelhafte akademische Lehre! den Beruf des Hochschulprofessors an- ses System in Deutschland nicht. Solange über Forschungsgelder, Förder- streben, ist sehr stark zurückgegangen. Nur Dielheim Steffen Sauer und Armin Maier maßnahmen und Stellenvergabe an den durch eine drastische Universitäten ausschließlich die „Zahl der Erhöhung der At- wissenschaftlichen Veröffentlichungen“ (so traktivität der Hoch- das Bewerbungsmerkblatt der vom Bund schullaufbahn lässt finanzierten Deutschen Forschungsgemein- sich diese Negativ- schaft) entscheidet und damit weder de- selektion vermeiden. ren Länge oder gar Qualität – von Unter- Würzburg richtserfahrungen ganz zu schweigen –, so Prof. Dr. Fritz Strack lange besteht keinerlei Anreiz, Energien in die Betreuung von Studenten zu investie- Als Absolventin ei- ren. Der favorisierte Anwärter auf einen ner staatlichen Uni- Lehrstuhl ist männlich und/oder kinderlos, versität hätte ich hat sich mit spätestens 35 Jahren habili- mir zumindest einen tiert und eine stattliche Publikationsliste Hauch von Feierlich- vorzuweisen. Denn statt kostbare Zeit mit keit und würdevoller Lehre und Studenten zu verplempern, hat Verabschiedung an- er möglichst viele, kurze Artikel zum sel- lässlich meines Ab- ben Thema veröffentlicht. schlusses gewünscht Savigny (Schweiz) Dr. Sabine Haupt – statt des Hinweises, I. BAIER / JOKER dass ein frankier- Berliner Humboldt-Universität: Schluss mit heuchlerischen Klagen Welch ungewohnter Stil für einen SPIE- ter Rückumschlag im GEL-Artikel! Statt Häme und Zynismus Prüfungsamt zu hinterlegen sei. Mit Ihrem Schon der Titel Ihrer Untersuchung ließ diesmal auf 40 Seiten überwiegend Lob und Titelbild suggerieren Sie eine Realität, die mich ahnen: Hier wird wieder in das ewig Zustimmung. Als Vertreter einer Zunft un- es nicht gibt – jedenfalls nicht für das Gros gleiche Horn geblasen. Studieren, um Er- ter Beschuss kann ich da nur sagen: Danke! der deutschen Studienabsolventen. folg zu haben. Sicher, Ihre Untersuchung Osnabrück Prof. Dr. Oliver Vornberger Bamberg Marga Bosecke ist sehr aufschlussreich. In dem ganzen Be- richt wird ein wichtiges Thema allerdings Solange laut Bundesausbildungsförde- Entscheidet sich ein Studierender dazu, nicht beleuchtet: Studium um seiner selbst rungsgesetz (Bafög-Gesetz) „ein Vollzeit- sich in Richtung akademische Forschung willen! Das Studium als selbständiger Le- studium im Ausland nicht förderungs- und Lehre zu orientieren, so ist das bis zur bensabschnitt, der nicht nur weiterführen- würdig ist“ (Bescheid vom nordrhein-west- Promotion noch ganz witzig. Aber ab dann de (auf die Schule aufbauende) Vorberei- fälischen Landesamt für Ausbildungsförde- rung zum Antrag für unseren in studierenden Sohn), bleibt die Verdoppe- Vor 50 Jahren der spiegel vom 29. November 1950 lung der Auslandsstudenten ein Wunsch- West-KP-Männer besuchen DDR Inkognito als Taubenzüchter. Anti-Ho- traum. Hier hat die Politik noch reichlich mosexuellen-Aktion in Frankfurt am Main Über 700 Vernehmungen – Hausaufgaben zu erledigen. für den „Soldatennachwuchs“. Beamter als Auto-Hehler Die Klage Sprockhövel (Nrdrh.-Westf.) wird abgewiesen. Ernst Freiherr von Weizsäckers Erinnerungen Befür- Peter Leveringhaus wortung einer konstitutionellen Monarchie. USA unterstützen Titos Ju- goslawien Weizen auf Umwegen. Bundesbahn in der Krise Erhöhung der Fahrpreise. Neues Genre im Rundfunk Beim Feature ist das Thema Sosehr wir uns über die exzellenten Kar- der Held. Oscar Werner in Hollywood Begehrtes Pferd im Star-Stall. rieren und Einkommen unserer Hoch- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de schulabsolventen freuen dürfen, sosehr Titel: Revolutionär Mao Tse-tung müssen wir ein Problem ins Auge fassen,

8 der spiegel 48/2000 Werbeseite

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Werbeseite Briefe tung auf das „spätere“ (Arbeits-)Leben ist. direkten und ehrlichen Worte zum Thema Was soll die Hetze? Hat studieren an sich „deutsche Leitkultur“ fand und damit hof- keine Daseinsberechtigung? Wer vier, fünf fentlich eine unsägliche und peinliche Dis- oder auch sechs Jahre studiert, verliert kussion zum richtigen Zeitpunkt erst ein- doch keine Zeit. Es ist doch auch erstre- mal beendet hat. Und wer in einer Zeit, wo benswert, als „Mensch“ und nicht nur als sich die Gesellschaft leider wieder einmal „Arbeitstier“ zu reifen! intensiv mit Rechtsextremismus auseinan- München Florian Weber der setzen muss, zwei Wochen braucht, um diesen Begriff mit Inhalt zu füllen, der hat Besser hätte man das Thema kaum vertie- sich als Politiker disqualifiziert. Liebe CDU: fen können als durch diese Untersuchung. Wir brauchen Opposition, nicht Provo- Allerdings ist zu ergänzen, dass die Career- kation! Services der Hochschulen – und die Hoch- Berlin Kay Goldbach schulen selbst – auch erheblich von ihren Absolventenorganisationen profitieren, Mit den Worten zur „deutschen Leitkul- wenn sie diese zu nutzen verstehen. Das tur“ in seiner Rede am 9. November 2000 Networking mit den Ehemaligen schafft in Berlin hat der Vorsitzende des Zentral- Kontakte in die Praxis, die von unschätz- rats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, barem Wert sind, es hilft Studierenden genau den Nerv der Unionsparteien ge- ganz pragmatisch beim Berufseinstieg – troffen. Das beweist das Aufheulen einiger und es handelt sich nicht um plumpe „Seil- Leitfiguren aus den Reihen der CDU/CSU. schaften“. Die Absicht, ein Einwanderungsgesetz zum Mannheim Oliver Figur Wahlkampfthema zu machen, erinnert fa- tal an die Hessische Landtagswahl von 1999 mit der Kampagne der CDU gegen die dop- Schlicht unfähig pelte Staatsbürgerschaft. Offensichtlich will Nr. 46/2000, Register man im Trüben, sprich im rechten Spek- trum, auf Stimmenfang gehen. Man kann Vierzig Jahre lang war ich Hilmar Pabels Paul Spiegel zu seinen Ausführungen in Frau und engste Mitarbeiterin. Daher weiß Berlin nur beglückwünschen. ich am besten, wie sehr ihn die schlimmen Mainhausen (Hessen) Horst Hildebrandt Bildunterschriften zu seinen Bildern aus dem Ghetto von Lublin getroffen und le- Mephisto zu Faust: „Gewöhnlich glaubt benslang belastet haben. Die in Ihrem der Mensch, wenn er nur Worte hört, so Nachruf erwähnte Reportage wurde da- müsse sich dabei doch auch was denken mals in der „Berliner Illustrierten“ unter lassen.“ seinem Namen veröffentlicht. Die Fotos Volkmarsen (Hessen) Hansjörg Wentz stammen von ihm, die Texte nicht. Die wurden im Propagandaministerium zu- Die Kritik des Grafen Lambsdorff an der sammengezimmert, während er längst Rede Paul Spiegels vom 9. November am wieder unterwegs war. Wer ihn kennen Brandenburger Tor ist mir unverständlich. lernte, dem wurde klar, dass ein Mann wie Die Rede war dankenswert eindeutig. Wer er schlicht unfähig war, so bösartige, hass- leichtfertig von „Überfremdung“ redet erfüllte Worte zu finden. oder von „deutscher Leitkultur“, der sich Rimsting / Chiemsee Romy Pabel die Fremden gefälligst anzupassen haben, der zündelt. Unklare Worte verbergen un- klare Gedanken. Ich bin das Gestottere Den Nerv getroffen leid, mit dem erklärt werden soll, welche Nr. 46/2000, Demonstrationen: Der Zentralrats- kulturellen Fundamentalismen mit der vorsitzende der Juden, Paul Spiegel, attackiert die Union; „deutschen Leitkultur“ gemeint sind. Muss Nr. 47/2000 Panorama: Leitkultur man Brahms lieben, den „Faust“ zitieren können und „Die Glocke“? Kann sich ein Ermutigend und beeindruckend, dass Paul schwarzer „Mitbürger“ mit diesen Kennt- Spiegel an diesem historischen Tag solche nissen vor Schlägern retten, die unter

Großkundgebung am 9. November in Berlin: Direkte und ehrliche Worte C. v. POLENZ C. v. „Faust“ allenfalls diejenige am Ende ihres eigenen Arms verstehen? Was müssen wir tun, um zur notwendigen Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen durch Anstrengungen beider Seiten beizutragen? Das ist die entscheidende Frage, nichts anderes. Berlin Dr. Burkhard Hirsch Bundestagsvizepräsident a. D.

In guter Gesellschaft Nr. 46/2000, Debatte: Der Schriftsteller Durs Grünbein über die gentechnische Revolution IFA DNS-Darstellung Recht auf Tod, Krebs und Alzheimer

Sicher, ethisch-moralisch eine Katastrophe, aber ob drohende Langeweile und Ent- fremdung wirklich ein überzeugendes Ar- gument gegen solch revolutionären me- dizinischen Fortschritt darstellen? Die Menschheit gewöhnt sich auch an den Ge- danken, aus dem Reagenzglas zu stammen, dessen bin ich mir sicher. Aber vielleicht bekommt man ja doch irgendwie Leute mobilisiert, die für ihr Recht auf Tod, Krebs und Alzheimer auf die Straßen gehen … Edewecht (Nieders.) Anja Wieben

Grünbein verbiegt in seinem – zugegeben unterhaltsamen – Essay nicht nur akroba- tisch und gewandt die Sprache, sondern auch die Fakten. Dass er sich dabei auf äußerst dünnes Eis begibt, wenn er meint, über das möglicherweise Machbare nicht nur ethisch, sondern auch technisch-me- thodisch kompetent spekulieren zu kön- nen, sei ihm verziehen. Schließlich ist er mittlerweile in der guten Gesellschaft so ziemlich aller, die meinen, bei jeglicher Diskussion über Genetik, Gentechnik und Molekularbiologie mitreden zu können, die irgendwo gelesen haben, dass Verer- bung wohl doch irgendwas mit diesem ko- mischen Zeugs, dieser DNS, zu tun hat. München Dr. Birgit Anderegg Molekulargenetikerin

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und Alex als „Stars“ durch Ihr Blatt mo- Die Behauptung, auf Zypern sei ein Boom niert. Ich befürchtete, dass der SPIEGEL „in zweifelhaften Wirtschaftszweigen ent- aus Modesucht ebenso dem Trend der facht“ worden, ist höchst unglaubwürdig. überwiegenden Zahl der Medien, ins Ni- Hier die Tatsachen: Der Tourismus-Sektor veaulose abzugleiten, verfallen würde. Die- trägt 73 Prozent, die Industrie 13 Prozent ser köstliche Beitrag belehrt mich eines und die Landwirtschaft trägt 4,4 Prozent Besseren. SPIEGEL bleibt SPIEGEL. zum Bruttoinlandsprodukt bei. Sind das Antalya (Türkei) Prof. Peter O. Finke „zweifelhafte Wirtschaftszweige“? Bezeich- nenderweise hat gerade jetzt die Europäi- Trotz aller hervorragend geplanten Image- sche Kommission in ihrem Jahresbericht und Männerwechsel oder ihrer Fähigkeit über den EU-Beitrittskandidaten Zypern zur Selbstinszenierung wird Jenny Elvers bescheinigt, dass er nicht nur alle politi- vor allen Dingen immer eines bleiben: das schen und wirtschaftlichen Beitrittskrite- wahrscheinlich blondeste Nichts, das diese rien erfüllt, sondern auch in der Bekämp- Nation je hervorgebracht hat. fung von Betrug und Korruption erhebliche Nürnberg Christian Urban Fortschritte gemacht hat. Berlin Michalis Koumides Was haben Ihre Leser Ihnen angetan, dass Botschaftsrat der Republik Zypern Sie ganze drei Seiten Ihres Magazins damit vergeuden, diesem Trallala-Rock-hoch- In dem Artikel hat der SPIEGEL Herrn Maskottchen so viel Ehre anzutun. Sie neh- Denkta≈’ lächerlichen Drohungen breiten men Ihren Lesern nicht nur Platz für In- Raum gegeben, dass es zu Krieg und Blut- formationen, Sie werten damit solche Ty- vergießen käme, falls Zypern vor Lösung pen auch noch auf. des Zypern-Problems in die EU aufge- Düsseldorf Hannelore Deckers nommen würde. Dabei hat die negative Haltung von Herrn Denkta≈ und der Tür- kei bis heute jeglichen Fortschritt in Rich- Feste Überzeugung tung einer Lösung des Zypern-Problems Nr. 45/2000, Europa: Dunkle Geschäfte beim Beitritts- verhindert. Im Übrigen finde ich es

M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE / PEOPLE M. TINNEFELD kandidaten Zypern; Interview mit dem Präsidenten des PR-Profi Elvers türkischen Nordzypern, Rauf Denkta≈, über die Multimediales Dauerärgernis? neue Kriegsgefahr auf der geteilten Mittelmeerinsel

Gratulation! Endlich ein objektiver Artikel Das blondeste Nichts der Nation in der europäischen Presse, der nicht in Nr. 46/2000, Stars: das Horn der griechisch-zypriotischen Pro- Der unaufhaltsame Aufstieg der Jenny Elvers paganda stößt. 1963 haben die griechischen Zyprioten einseitig ein Partnerschaftsab- Es ehrt mich über alle Maßen, vom SPIE- kommen der beiden Inselbevölkerungs- GEL in die Trophäensammlung von Jenny gruppen gebrochen und damit die legiti- Elvers eingereiht zu werden, und auch mei- men Bedingungen für die türkischen Zy- ne Frau hat sich sehr darüber gefreut. Der prioten geschaffen, ihren eigenen Staat zu

Haken dabei ist: Ich hab noch nie ein Wort bilden. Joschka Fischer ist nicht der Einzi- AP mit ihr gesprochen. Auch nicht gestöhnt. ge, der Nordzypern ernst nimmt. Viele Griechisch-zypriotische Waffenstillstandslinie Ich erinnere mich lediglich, dass sich beim Ausländer leben in der „Türkischen Repu- Erhebliche Fortschritte Kölner „Telestar“ 1993 oder 1994 eine üp- blik Nordzypern“ in der festen Überzeu- pige Blondine dieses Namens ungefragt bei gung, dass der Republik ein rechtmäßiger schockierend, dass der SPIEGEL Zypern mir unterhakte und der sie begleitende Fo- Platz in der Staatengemeinschaft zusteht. als ein Zentrum für Schmuggel, Geld- tograf mehrere Bilder schoss. Sie sei ein Lapta (Nordzypern) Brian Self wäsche et cetera präsentiert. Solche An- Nachwuchstalent, sagte er, und wolle groß schuldigungen haben sogar einschlägig rauskommen. Da ich selber ein Nach- bekannte Kritiker Zyperns nicht öffentlich wuchstalent bin, weiß ich, wie das ist, und zu erheben gewagt. hätte gern mit ihr geredet. Aber sie riss VERANTWORTLICHER REDAKTEUR Nikosia (Zypern) George Vassiliou dieser Ausgabe für Panorama, BSE, Brandenburg, CDU, Affären sich sofort wieder los und hakte sich beim (S. 50), Rechtsradikale, Kirche, Justiz, Todesfälle, Hauptstadt, Chefunterhändler Zyperns Nächsten unter. Gesundheit: Clemens Höges; für Ex-Kanzler, CDU/CSU, für den Beitritt zur EU Bundeswehr, Regierung, SPD, Minister: Dr. Gerhard Spörl; für Brühl (Nrdrh.-Westf.) Herbert Feuerstein Trends, Geld, Konzerne, Bündnis für Arbeit, Transrapid, Tele- kommunikation, EU, Unternehmen, Presse, Fernsehspiele, Merchandising: Armin Mahler; für Fernsehen, Unterhaltung, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Einen Aufstieg in Elvers’ Karriere vermag Szene, Partnerschaft, Autoren, Ausstellungen, Theater, Kultur- politik, Bestseller, Kino, Film, Künstler, Musiktheater, Musikge- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. ich nicht zu sehen, eher schon einen Ab- schäft: Wolfgang Höbel; für Leichtathletik, Affären (S. 179): Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] Matthias Geyer; für Titelgeschichte: Jürgen Petermann; für stieg im Niveau des SPIEGEL, der diesem Panorama Ausland, Nahost, USA, Peru, Europa, Russland, multimedialen Dauerärgernis ein weiteres Sibirien, Ägypten, Vereinte Nationen, China, Chronik: Dr. Olaf Ihlau; für Prisma, Rüstung, Computer, Ethik: Johann Grolle; Forum verschafft – es sei denn, der SPIE- für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Perso- In der Gesamtauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet GEL will künftig Mutterkreuze verleihen. nalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für sich in der Heftmitte ein Beihefter der Firma Hugo Boss Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Haus- AG, Metzingen. In einer Teilauflage dieser SPIEGEL- Erlangen Reinhard Kunstmann mitteilung: Heinz P. Lohfeldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) Ausgabe befinden sich ein Beikleber des SPIEGEL/Abo, TITELBILD: Titelfotos: Wartenberg/Picture Press; Getty Images/ Hamburg, und ein Beikleber der Firma Creative In- Selten habe ich einen so gelungenen Arti- Stone neneinrichtung, Darmstadt. In einer Teilauflage dieser Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher SPIEGEL-Ausgabe befinden sich Beilagen der Firmen Uni- kel gelesen wie den von Herrn Thomas Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für die Aufnahme in elek- tronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfälti- versal Music, Hamburg, Stern Verlag, Düsseldorf, Galle- Tuma über die Frau Elvers. Ich hatte be- gungen auf CD-Rom. ria/Fritz Immobilien, Berlin, sowie die Verlegerbeilage reits einmal die Bezeichnung von Elvers SPIEGEL-Verlag/kulturSPIEGEL, Hamburg.

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Werbeseite Panorama Deutschland ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Bundeskanzler Brandt, CDU/CSU-Fraktionsgeschäftsführer Wagner, CDU-Chef Helmut Kohl (1973)

STASI ziellen Nöten gewesen sei, Geld angeboten, wenn er für Brandt stimme. „Dürer“, mittlerweile verstorben, wurde 1995 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einem Jahr und neun CSU-Spion enttarnt Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Tatsächlich war Wagner seit Beginn der siebziger Jahre so hoch ie Bundesanwaltschaft hat einen hochrangigen Stasi-Spion verschuldet, dass ihn die Union schließlich 1975 zum Rückzug Din der Union enttarnt. Demnach soll der langjährige Parla- vom Amt des Parlamentarischen Geschäftsführers drängte. Aus mentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Bundestag schied er erst Ende 1976 aus. 1980 verurteilte Leo Wagner – einst enger Vertrauter von CSU-Chef Franz Josef ihn das Bonner Landgericht, welches dem CSU-Politiker „zu- Strauß – dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als nehmende Verschwendungssucht“ attestierte, wegen Betrugs zu Spitzenquelle gedient haben. Wagner sei derjenige Unionspoli- einer Haftstrafe mit Bewährung. Während des Prozesses kam tiker, der die Stasi als Inoffizieller Mitarbeiter „Löwe“ (SPIEGEL heraus, dass Wagner 1972 exakt 50000 Mark aus einer zunächst 47/2000) von 1976 bis 1983 über Interna aus der Führung von nicht bekannten Quelle erhalten hatte – die Summe, die Wolfs CDU und CSU unterrichtet habe, teilte die Bundesanwaltschaft berüchtigte Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) für Steiners vorvergangene Woche vertraulich dem Kölner Bundesamt für Stimme gezahlt hatte. Später gab ein mit Wagner befreundeter Verfassungsschutz mit. Wagner, 81, sitzt bis heute ge- CSU-Mann an, er habe dem Abgeordneten ein meinsam mit dem früheren Parteichef Theo Waigel „Darlehen“ in dieser Höhe gewährt. im Vorstand des CSU-Kreisverbands Günzburg. Die Bundesanwaltschaft kam „Löwe“ bei der Aus- Nach Hinweisen, die deutschen Behörden vorlie- wertung der Ende 1998 entdeckten HVA-Daten- gen, spricht zudem einiges dafür, dass Wagner auch bank „Sira“ auf die Spur. Dort finden sich unter sei- der bislang unbekannte zweite Unionsabgeordne- nem Decknamen 30 Einträge. So informierte te ist, der 1972 mit seiner Stimme dazu beitrug, „Löwe“ (Registriernummer XV/6985/75) etwa im dass das Misstrauensvotum gegen den damaligen März 1983 über „CSU-Absichten nach der Bun- Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) scheiterte. destagswahl“. Bei der Identifizierung von „Löwe“

Brandt setzte sich überraschend gegen CDU-Frak- / VISION PHOTOS A. KULL musste die Bundesanwaltschaft allerdings auf den tionschef Rainer Barzel durch, der statt der erwar- „Rosenholz“-CD US-Geheimdienst CIA zurückgreifen, bei dem die teten Mehrheit von 249 nur 247 Stimmen erhielt. Klarnamendatei aller HVA-Spitzel liegt. Die hatten 1993 hatte der einstige DDR-Auslandsspionage-Chef Markus sich die Amerikaner nach der Wende in der geheimnisumwo- Wolf offenbart, die Stasi habe 1972 für 50000 Mark die Stim- benen Operation „Rosenholz“ beschafft. Auf CDs gebrannt, er- me des CDU-Abgeordneten Julius Steiner gekauft. Ein Stasi- halten die Deutschen derzeit stückweise eine Kopie der Datei Offizier vertraute daraufhin einem Ermittler an, auch die zwei- zurück. te Unionsstimme sei vom MfS organisiert worden. Er wisse, so Wagner bestreitet, MfS-Kontakt gehabt zu haben: „Das ist der Mann, dass ein der CSU nahe stehender West-Journalist na- falsch und frei erfunden.“ Er räumt jedoch ein, den Journalis- mens Georg F. vom MfS angesprochen worden sei. F. arbeite- ten F. alias „Dürer“ seit den sechziger Jahren gekannt zu ha- te unter dem Decknamen „Dürer“ von 1966 bis 1985 für Ost- ben. Dessen Verbindung nach Ost-Berlin sei ihm unbekannt ge- Berlin. „Dürer“ habe schließlich Wagner, der damals in finan- wesen. Strafrechtlich wäre eine Spionage Wagners verjährt.

der spiegel 48/2000 17 Panorama

AFFÄREN Wirbel um Selenz-Notiz ußerst bizarre Züge nimmt die Affäre um den Verkauf der Äehemaligen Preussag-Stahl-Tochter Salzgitter Ende 1997 an.

In mehreren Briefen an Bundeskanzler Gerhard Schröder be- AP hauptete der ehemalige Chef des Stahlunter- nehmens, Hans-Joachim Selenz, Preussag-Chef Michael Frenzel habe den Salzgitter-Vorstän- den bis zu einer Million Mark angeboten, wenn Selenz, Salzgitter-Stahlproduktion sie den Verkauf ihrer Firma an einen aus- ländischen Konzern unterstützten (SPIEGEL sätzlich belasten soll. Anders als die erste 44/2000). Ein socher Verkauf hätte vor den Fassung ist das Schreiben von Selenz un- Landtagswahlen in Niedersachsen im März 1998 terschrieben. Außerdem trägt das Doku- Schröders Kanzlerambitionen geschadet. Seit ment die Unterschrift und einen hand- Anfang November ermittelt die Staatsanwalt- schriftlichen Zusatz von Salzgitter-Vorstand

schaft Hannover deshalb gegen Frenzel wegen / NOVUM SCHMIDT W. Heinz Jörg Fuhrmann, in dem er versichert, des Verdachts der Bestechung. Doch nun gerät die Schilderung sei „korrekt hinsichtlich Selenz selbst in Rechtfertigungszwang – durch ein manipuliertes Verlauf und Sachinhalt“. Gegenüber dem Norddeutschen Rund- Gedächtnisprotokoll, das die Vorwürfe erhärten soll und das funk gestand Fuhrmann die Echtheit seiner Unterschrift und der dem SPIEGEL vorliegt. In der Aktennotiz, die Selenz bereits im Anmerkung, obwohl er in einer schriftlichen Erklärung an Fren- November 1998 dem damaligen niedersächsischen Ministerprä- zel beteuert hat, ein solches Bestechungsangebot weder direkt sidenten Gerhard Glogowski und Finanzminister Heinrich Aller noch indirekt erhalten zu haben, und sein Schriftzug offenkun- zusandte, schildert der Manager detailliert, wie Frenzel ihm am dig von einem anderen Schreiben auf das Selenz-Papier umko- 5. Dezember 1997 auf dem Frankfurter Flughafen das Angebot piert wurde. Die Pressestelle der Salzgitter AG verweigert jede vortrug. Die Notiz enthält allerdings keinen Briefkopf und kei- Stellungnahme zu dem Vorgang. Selenz selbst bestreitet vehe- ne Unterschrift von Selenz. Vor zwei Wochen tauchte in Han- ment, Urheber des gefälschten Dokuments zu sein. Wer das Se- nover erstmals eine neue Version des Memos auf, das Frenzel zu- lenz-Memo verändert hat, müssen nun die Staatsanwälte klären.

BUNDESBANK Zoff zwischen Eichel und Welteke wischen Finanzminister Hans Eichel und Bundes- Zbankpräsident Ernst Welteke ist es erneut zu ei- ner schweren Verstimmung gekommen. Die Bundes- bank hatte Eichel in ihrem jüngsten Monatsbericht aufgefordert, den Abbau des Defizits wieder ernster

zu nehmen und zusätzlich zu sparen. Eichel wertet M. URBAN dies als neuen Affront Weltekes, mit dem ihn einst Kuhn, Schlauch ein freundschaftliches Verhältnis verband – Welteke diente dem früheren hessischen Ministerpräsidenten GRÜNE Eichel als Finanzminister. Die Ermahnung hat Eichel erbost, weil sie seine Reputation als strengen Haus- „Sehr schwierige Situation“ haltssanierer beschädigt. Dabei hatte er vor kurzem schon für 2004 einen ausgeglichenen gesamtstaatli- er Grünen-Vorsitzende Fritz Kuhn, 45, geht auf Distanz zu seinem chen Haushalt angekündigt. Weil der Bundesbank Dlangjährigen politischen Weggefährten Rezzo Schlauch, 53, dem dieselben Finanzda- Chef der grünen Bundestagsfraktion. Nach den Parteilinken will jetzt ten zur Verfügung auch der grüne Parteivorstand Schlauchs Vorschlag, das Tarifrecht zu stehen wie seinem flexibilisieren, an diesem Montag öffentlich rügen. Der Realo Schlauch Ministerium, hält er hat angeregt, eine untertarifliche Entlohung zu ermöglichen, wenn Be- die Schlussfolgerun- triebe in einer wirtschaftlich schwierigen Lage sind. Kuhns Abrücken gen der Banker bringe Schlauch „persönlich in eine sehr schwierige Situation“, heißt es schlicht für falsch. bei Realpolitikern in der grünen Bundestagsfraktion. Sollte es auf der Erst jüngst war es Fraktionssitzung in dieser Woche zu einer förmlichen Abstimmung über zwischen Eichel und Schlauchs tarifpolitische Vorschläge kommen, ist die bislang als sicher Welteke zum Streit geltende Realomehrheit fraglich. Noch wollen weder die Fraktionslin- über die Zuständig- ken noch die Realos die Machtfrage stellen. Für den Fall einer Kampf- keit für die Schul- abstimmung, so orakeln einige Realos, bliebe Schlauch nur, seinen Vor-

R. UNKEL denverwaltung des schlag zurückzuziehen und damit eine persönliche Niederlage einzu- Eichel, Welteke Bundes gekommen. gestehen – oder der Rücktritt vom Fraktionsvorsitz.

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EUROPA die Milliardensubventionen sichern will. „Besser als gar nichts“ Tsatsos: Da bereitet man einen Kompro- miss vor. Bei jenen Artikeln, die mit Zah- Der griechische Sozialist Dimitrios lungen zusammenhängen, soll es beim Tsatsos, 67, Vertreter des Europaparla- Zwang zur Einstimmigkeit bleiben. Bei ments in der EU-Regierungskonferenz, anderen, in denen es um Verfahrenser- über den Gipfel von Nizza leichterungen für Strukturmittel geht, soll mit Mehrheit entschieden werden. SPIEGEL: Es gibt kaum Hoffnung, dass SPIEGEL: Ein fauler Kompromiss. die Regierungschefs beim Gipfel in Niz- Tsatsos: Lieber das als gar nichts. za eine weittragende Reform der EU SPIEGEL: Müssen die Ausgaben der EU schaffen. Wie reagiert das Europäische für die Agrarpolitik, bei denen das Par- Parlament? lament bisher nichts zu sagen Tsatsos: In seinem Bericht zu hat, in Nizza auch der Mit- Nizza muss es dann festhalten, entscheidung der Parlamenta- dass die EU nicht reif für die rier unterworfen werden? Erweiterung ist. Sollte der Rat Tsatsos: Ja. Nicht für jede dennoch versuchen, eine Er- Kleinigkeit. Aber auf jeden weiterung durchzudrücken, Fall bei Entscheidungen von wird das Parlament die Ratifi- grundlegender Bedeutung. zierung der einzelnen Bei- SPIEGEL: Dann müssen die trittsverträge ablehnen. Staats- und Regierungschefs SPIEGEL: Welche Mindestforde- nachbessern? rungen stellt das Parlament? Tsatsos: Dann werden die

Tsatsos: Entscheidend ist die PARLAMENT EUROPÄISCHES zum ersten Mal merken, dass Abkehr vom Vetorecht im Tsatsos es ein Parlament gibt. Inner- Rat und die mutige Auswei- halb einer knappen Frist tung der Mehrheitsentscheidung auf müsste die Union doch noch erweite- Steuern, Sozialpolitik oder Inneres. rungsfähig gemacht werden. Dies muss jeweils von der Ausweitung SPIEGEL: Erste Beitritte am 1. Januar des Mitentscheidungsrechts des Parla- 2005 wären eine Illusion? ments begleitet sein, sonst reicht es Tsatsos: Der Erweiterungsfahrplan wäre nicht. nicht zu halten. Die Nachbesserungen SPIEGEL: Muss über die Strukturfonds müssten von den Nationalparlamenten künftig mit Mehrheit zu entscheiden ratifiziert werden; dazu reicht die Zeit sein? Spanien mauert, weil es sich nicht. Man kann nicht alles haben.

TÜRKEI senheit geführt wurde, sprach die türki- sche Justiz ihn jetzt rechtskräftig von Freispruch dem Vorwurf frei. Ceyhuns Rechtsan- walt Hans Wolfgang Euler hatte wieder- für Abgeordneten holt schwere Vorwürfe gegen die türki- schen Strafverfolger erhoben, so seien er hessische Europaabgeordnete fehlerhafte Angaben in dem Haftbefehl DOzan Ceyhun wird nicht mehr von gegen seinen Mandanten „bewusst ge- der türkischen Justiz als Mordverdächti- fälscht“ worden. Wider besseres Wissen ger verfolgt. Der Politiker, der kürzlich hätten die türkischen Behörden behaup- von den Grünen zur SPD wechselte, tet, Ceyhun sei noch Staatsbürger der wurde in seinem Herkunftsland jahre- Türkei. lang zu Unrecht verdächtigt, 1980 zur Zeit der Militärdiktatur in ei- nem Vorort von Istanbul als Mit- glied der linken „terroristischen Organisation Dev Sol mit Kompli- zen einen Mann getötet“ zu ha- ben. Auf Grund eines internatio- nalen Haftbefehls der türkischen Behörden war Ceyhun, der seit 1992 die deutsche Staatsbürger- schaft besitzt, im Februar 1998 so- gar für einige Stunden in Wiesba- den festgenommen worden. Nach

einem vier Jahre währenden / ROPI SABAN Prozess, der gegen ihn in Abwe- Dev-Sol-Demonstration (in Istanbul)

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führen, ist am Widerstand des Am Rande grünen Koalitionspartners ge- scheitert. Auf Drängen der Grü- nen hatte die rot-grüne Koalition Aktie feldgrün vergangenes Jahr gemeinsam beschlossen, das alte Kronzeu- s ist gut, eine Bundeswehr zu gengesetz nicht zu verlängern. Ehaben, die Entwicklungen auf- Entsprechend irritiert reagierten merksam verfolgt und blitzschnell grüne Politiker auf den Vorstoß, auf sie reagiert. Als letzte Wo- die Regelung nun – in leicht ver- che die Aktienkurse weiter nach änderter Form – wieder auf- leben zu lassen. Im Entwurf für unten sackten und die Börsianer das neue Sanktionenrecht hatte dazu übergingen, Lottoscheine das Justizministerium erwogen, auszufüllen, überraschte der Ver- für Kronzeugen eine „Strafzu- teidigungsminister mit der messungsvorschrift“ einzu- Ankündigung, die Bundes- führen. Eine Änderung im Straf- wehr erwäge den Börsen- gesetzbuch sollte es den Gerich- ten ermöglichen, aussagebe- gang. Der chinesi- reiten Tätern Strafmilderung zu

sche Militärstrate- DPA gewähren, falls deren Wissen ge Sun-tzu wür- Razzia gegen Organisierte Kriminalität eine Tat verhindern, ihre Auf- de dazu sagen: klärung fördern oder zur Ergrei- „Deine Pläne JUSTIZ fung eines Täters führen könnte. Zur sollen dunkel Anwendung kommen sollte die Vor- Krach wegen schrift vor allem im Bereich der Organi- und undurchdringlich sein wie die sierten Kriminalität und bei politisch- Nacht“ (Sun-tzu: „Die Kunst des Kronzeugen extremistischen Straftaten. Nach Inter- Krieges“). Schon im nächsten Jahr vention der Grünen wurden die könnten Anteile am Immobilien- in Versuch von Bundesjustizministe- entsprechenden Passagen aus dem fertig vermögen ausgegeben werden, Erin Herta Däubler-Gmelin, die erst formulierten Referentenentwurf ge- man rechne an dieser neuen Front zum Jahresende 1999 ausgelaufene strichen und die Pläne der Ministerin Kronzeugenregelung wieder einzu- zurückgestellt – bis auf weiteres. mit einem Platzierungsvolumen von einer Milliarde Mark. Als Auf- sichtsratsvorsitzenden für die mit dem Börsengang betraute Bun- NS-PROZESS drun Burwitz, Tochter des einstigen SS- deswehr-Gesellschaft bestellte Ru- Chefs Heinrich Himmler. Im Herbst dolf Scharping einen Herrn, der Viertes Verfahren 1999 meldete sich ein neuer Zeuge. Sei- ne Aussage reichte der nunmehr zustän- dieses Amt auch bei der Expo n Kürze wird die digen Münchner Behörde, ein vier- 2000 innehatte (Defizit zuletzt 2,4 IStaatsanwaltschaft tes Verfahren zu eröffnen. Seither sitzt Milliarden Mark.) Sun-tzu sagt: in München gegen Malloth in Untersuchungshaft. „Jede Kriegsführung beruht auf den früheren SS- Täuschung. Siegen wird, wer den Oberscharführer An- ton Malloth, 88, An- Kunstgriff der Täuschung be- klage wegen Mordes Nachgefragt herrscht.“ In den Beteiligungs- erheben. Malloth soll fonds sollen Grund und Boden im September 1943 eingebracht werden, Fregatten als Aufseher des Poli- Vorsicht Fleisch! zeigefängnisses und Bomberstaffeln nicht. Tages- Wie reagieren Sie auf befehl in diesen Liegenschaften ist BORRS W. „Kleine Festung The- Malloth (1992) resienstadt“ bei der die BSE-Gefahr? die Sicherung des Shareholder-Va- Feldarbeit einen jü- Befragte gesamt lue, wenn nötig auch außerhalb dischen Gefangenen erschossen haben – der Bündnisgrenzen. Sun-tzu sagt: Ich informiere mich über die weil der offenbar hungrige Mann einen Herkunft des Rindfleisches, 39 „Der General, der eine Schlacht Kohlkopf unter seiner Jacke versteckt das ich esse gewinnt, stellt vor dem Kampf im hatte. Gegen den gebürtigen Inns- brucker wurde seit 1964 in der Bundes- Ich esse gar kein Rindfleisch 24 Geiste viele Berechnungen an.“ mehr republik ermittelt. Dreimal stellte die Am Werbefeldzug für die „Aktie Staatsanwaltschaft Dortmund das Ver- Ich esse weniger Rindfleisch 20 Feldgrün“ wird noch gearbeitet. fahren ein, unter anderem deshalb, weil Vorbild ist die Post. Vielleicht hat Malloths „Schicksal“ nicht habe ermit- ja auch Scharping einen cleveren telt werden können. Damals hielt er Ich reagiere gar nicht 15 Bruder. sich – unter richtigem Namen – in Ita- Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 21. und 22. lien auf. Nach seiner Abschiebung 1988 November; 1000 Befragte; Angaben in Prozent; lebte er in München, betreut von Gu- an 100 fehlende Prozent: „Weiß nicht/ist mir egal“

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Werbeseite Deutschland Der deutscheBSE Wahn Jahrelang haben Politiker und Bauern die Bürger in dem Glauben gelassen, ihr Land sei frei von der Rinderseuche BSE. Zwei tote Kühe aus der Bundesrepublik zerstörten die Illusion: Auch Deutschlands Verbraucher leben gefährlich.

ie Chance, sofort widerlegt zu wer- matischen Tests für eine Handelskette den den, war gering. Deshalb konnte ersten Treffer. Und dabei hatten die Ex- Dsich der deutsche Bauernpräsident perten erwartet, dass sie Monate testen Gerd Sonnleitner am vergangenen Don- müssten, bevor sie fündig würden – wenn nerstag noch einmal mit Macht für das überhaupt. Wohl der Agrarindustrie einsetzen: An der In dieser Woche wird das entnommene Ladentheke nach Rindfleisch aus deutscher Hirn ein weiteres Mal in Tübingen bei der Aufzucht zu fragen, das sei „aktive Bundesanstalt zur Erforschung von Virus- Sicherheit“, sagte er im Informationskanal erkrankungen der Tiere untersucht. Ex- Phoenix. Aber in anderen Ländern, da perten wagen die Prognose: Auch dieser werde „geschlampt, geschoben, nachlässig histologische Test werde den Befund BSE kontrolliert“. bestätigen. Da war sie noch mal, die Hybris, dass 15 Selbst die Artus-Wissenschaftler sind ge- Millionen Rindviecher aus deutschen Lan- schockt, denn aus dem schnellen BSE-Fund den clean, ihre Gesundheit sicher, ihre Her- folgt, was sie genauso ausgeschlossen hat- kunft nachweisbar, die Kontrolle ausrei- ten wie deutsche Agrarlobbyisten und Po- chend, ihr Fleisch ein „Stück Lebenskraft“ litiker, allen voran Bundeslandwirtschafts- sei. Ein letztes Mal. minister Karl-Heinz Funke: Wer die Rin- Nur wenige Stunden nach Sonnleitners Glaubensbe- kenntnis war sein Kampf BSE-Test an Rinderhirnen verloren. Deutschland erleb- (in Garching bei München) te am Freitag vergangener Woche den „GAU der in- dustrialisierten Landwirt- tragen. Davon dürften nach Osterhaus’ schaft“ (Bundesgesundheits- Analyse „mehrere Dutzend“ in die Nah- ministerin Andrea Fischer); rungskette des Menschen gelangt sein. Und die wahrscheinlich ersten einige Dutzend BSE-Kühe, so erwartet er, deutschen BSE-Fälle, gleich stehen auch jetzt noch in den Ställen. „Die- als Doppelschlag: Auf den ser Fall“, wagt Osterhaus ein frühes – aber Azoren war eine Zuchtkuh wohl nicht zu spekulatives – Urteil, „be- aus Sachsen-Anhalt der Ras- stätigt eindeutig, dass das BSE-Risiko in se „Holstein Friesien“ not- Deutschland ebenso groß ist wie in der geschlachtet worden, er- Schweiz und in Frankreich.“ In Frankreich krankt an der Rinderseuche freilich sterben bereits die ersten Menschen

BSE. Wenig später fanden M. DARCHINGER mit den grauenhaften Symptomen der Experten ein weiteres kran- Gesundheitsministerin Fischer, Kanzler Schröder Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, der mensch- kes Rind: Auch Schleswig- „GAU der industrialisierten Landwirtschaft“ lichen BSE-Version. Holstein hatte da seinen Doch als ob das Desaster vom Freitag im mutmaßlichen Fall eins – eine rotbunte derseuche sucht, der findet die tödliche 15. Jahr nach Entdeckung der Krankheit in Kuh, die 1996 auf einem Hof in Hörsten im Krankheit auch in Deutschland – mit er- England völlig unerwartet gekommen Kreis Rendsburg-Eckernförde geboren schreckender Leichtigkeit. wäre, verfällt die Bundesregierung jetzt in wurde und nach ihrer Schlachtung am Beängstigender noch die Rechnung, die aufgeregten Aktionismus. Seit vier Jahren Mittwoch bei einem Schnelltest aufgefallen Albert Osterhaus, 52, Rotterdamer Virolo- gibt es Tests, die BSE-Fleisch identifizieren war. ge und Mitglied des wissenschaftlichen können. Aber die Regierung schrieb ihren Das sind nur 2 von 15 Millionen Rindern Lenkungsausschusses der EU-Kommis- Einsatz nicht vor. Deutsches Fleisch ist si- in der Bundesrepublik, aber genug, um sion, nach vielen Erfahrungen in anderen cher. Oder Rinderhirn: Warum durfte es in Deutschlands Verbraucher in Angst zu ver- Ländern aufmacht: Auf „jedes entdeckte Würsten verwendet werden? Weil deut- setzen – und das mit sehr gutem Grund. BSE-Rind“, so Osterhaus, kämen im sches Rindfleisch sicher ist. Denn nicht nur in anderen Ländern ist ge- Schnitt zwei kranke Tiere, die „durch die Immerhin, jetzt wirkt der Schock: Noch schlampt, geschoben, nachlässig kontrol- Kontrollen geschlüpft sind“. Schlimmer für den vergangenen Samstag setzten die liert worden: Mit dem schleswig-holsteini- noch: Auf jedes kranke Rind entfallen nach Agrarministerien von Bund und Ländern schen Rind landeten die BSE-Fahnder des Osterhaus’ Einschätzung viele Tiere, die sowie das Bundesgesundheitsministerium Hamburger Privatlabors Artus schon in zwar infiziert, jedoch noch nicht krank eine Krisensitzung im Landwirtschaftsmi- der ersten Woche nach Beginn ihrer syste- sind. Auch sie können die Krankheit über- nisterium an.

22 der spiegel 48/2000 REUTERS (li.); M. AUGUST (re.) Fall 1 1996 Die rotbunte Kuh wird auf dem Hof des Bauern Peter Lorenzen (Foto oben) in Hörsten bei Rendsburg geboren und dort gemästet. November 2000 Nach der Schlachtung bei SCHLESWIG- der Firma Basche in Itzehoe ergibt sich bei HOLSTEIN einem Test BSE-Verdacht.

1 Kiel

Itzehoe 2 MECKLENBURG- VORPOMMERN Von der portugiesischen Handels- firma „Imporgado – Importação de Fall 2 HAMBURG Gado“ in Vila Nova de Famalicão 23. September 1995 wird das Tier auf die Azoren ver- frachtet. Dort wird nach der BREMEN Das Kalb der Rasse Schlachtung am 2. Oktober 2000 „Holstein Friesien“ wird bei einem Test der BSE-Erreger in einem Zuchtbetrieb nachgewiesen. NIEDERSACHSEN 1 bei Havelberg geboren. 2 Hannover Herbst 1998 SACHSEN- BERLIN Das Tier wird zur „Gebrüder ANHALT Schoppe Viehhandlung“ nach Messingen bei Lingen geliefert. BRANDENBURG Am 13. Oktober 1998 wird es Magdeburg – ohne Befund – vom Amts- veterinär untersucht und mit 4 3 35 anderen Rindern nach Portugal transportiert. Doppelter Verdacht NORDRHEIN- Die zwei BSE-Verdachtsfälle WESTFALEN in Deutschland geborener Rinder HESSEN

Stunden vor so die Ministerin, „stehen auf dem Prüf- schers Anordnung in Kraft, nach der auch dem ersten Fund stand.“ aus in Deutschland befüllten Spenderblut- hatte Gesundheits- Um ein Ausbreiten der Seuche über beuteln die weißen Blutkörperchen her- ministerin Fischer ihre Fachbeamten end- Blutspenden zu verhindern, will sie all je- ausgefiltert werden müssen. Diese stehen lich angewiesen, die rechtlichen Voraus- nen Deutschen, die sich länger als sechs im Verdacht, die Creutzfeldt-Jacob-Krank- setzungen für Lebensmittelverbote nach Monate in Frankreich aufgehalten haben, heit zu übertragen. französischem Vorbild zu recherchieren. das Spenden untersagen. Anfang Januar Rückendeckung bekommt die Ministerin „Kalbshirn, Kutteln und T-Bone-Steaks“, des kommenden Jahres tritt zudem Fi- von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Auf

der spiegel 48/2000 23 Deutschland „Etwas völlig Neues“ Hirn-Experten arbeiten an vCJK-Tests für Menschen. s begann mit zitternden Händen, 22-Jährigen wurde eine Genveränderung und dann kam die Müdigkeit. gefunden, die so genannte Mutation EMarkus Meiler, damals 20, ver- G114V, und die hat er von seinem Vater wechselte Züge, ging nachts nicht mehr geerbt. Etwa 25 Mutationen, die unheil- aus, wollte nicht mehr mit seinem Vater bare Degenerationen des Gehirns auslö- zum Bergsteigen. „Da ist was“, sagte ein sen können, sind bekannt. „Hier scheint Neurologe im bayerischen Murnau, es sich um etwas völlig Neues zu handeln, nachdem er die Hirnströme gemessen deshalb ist der Fall so kompliziert“, sagt hatte. der Münchner Neuropathologe Hans Risikofaktor Tiermehl „Schlaf dich aus, trink weniger Kretzschmar. „So furchtbar das klingt, Fall für den Ofen Bier“, sagten die Eltern, die damals, im wir wissen erst mehr, wenn der Patient Frühjahr 1999, noch nicht wissen konn- tot ist.“ der Balkan-Konferenz in Zagreb sagte er, ten, dass sie gerade den Anfang vom Das könnte sich bald ändern. Britische nun endlich in Machermanier, wahr- Sterben ihres Sohnes erlebten. Ärzte setzen bereits heute auf eine scheinlich schon an diesem Montag werde

Markus Meiler, der ein Art Test am Menschen: die Verfütterung von Kadavermehl ganz / OKAPIA KOCH P. Sportler von 1,93 Meter In den Mandeln und verboten. Damit geht Schröder einen war, ist unheilbar krank. den Blinddärmen von Schritt über das bestehende Verbot hin- Der Grund seines Lei- vCJK-Infizierten finden aus, Wiederkäuer mit Tiermehl zu füttern. dens ist mysteriös: Der sich die Prionen, die Nun will die Bundesregierung beim ge- Verlauf scheint identisch rätselhaften Erreger des samten landwirtschaftlichen Schlachtvieh, zu sein mit dem bei jenen Hirnschwamms, schon also bei Schweinen, Schafen und Geflügel, Franzosen und Briten, die vor Ausbruch der Krank- die tierische Resteverwertung vom Speise- an der neuen, auf ver- heit. Der Londoner Me- plan streichen. seuchtes Rindfleisch zu- diziner John Collinge will Überdenken muss die Bundesregierung rückzuführenden Form nun entnommene Man- jetzt auch den EU-Beschluss, Rindertests der Creutzfeldt-Jakob- deln auf vCJK testen. erst im Januar kommenden Jahres einzu- Krankheit (vCJK) zu Möglicherweise erfährt er führen. „Es wird nicht reichen, nur die al- Grunde gingen. Die Re- auf diese Weise, wie groß ten und auffälligen Fälle zu untersuchen“, sultate der Untersuchun- die zu erwartende vCJK- ahnt die Gesundheitsministerin. „Umge-

gen aber unterscheiden / ARGUM HELLER F. Epidemie sein wird. hend“ müsse damit begonnen werden, „so sich in Details; vCJK sei Schwer kranker Meiler Einen anderen Weg viele Tiere wie möglich zu testen“. „eine sehr unwahrschein- Sensation für die Experten verfolgt der Zürcher Während die vor kurzem noch als ange- liche Diagnose“, schreibt Prionenforscher Adriano schlagen geltende Grüne Fischer dank deshalb der britische Neurologe Robert Aguzzi. Er hat, wie er in der Fachzeit- Schröders Unterstützung zur Frau der G. Will, ein Diagnostiker, dessen Tref- schrift „Nature“ mitteilte, ein überra- Stunde wird, gerät Landwirtschaftsminister ferquote deutsche Kollegen „bei 100 Pro- schend einfaches Verfahren gefunden, Funke (SPD) umso schwerer unter Be- zent“ ansiedeln. infektiöse Prionen nachzuweisen. Er schuss. Der Nebenerwerbsbauer aus dem Was aber hat Markus Meiler dann? Ist entdeckte ein gewöhnliches, im Blut vor- Oldenburgischen hatte in den vergangenen es eine neue Variante der Krankheit? kommendes Protein, das Prionen iden- Monaten immer wieder behauptet: „Un- Oder ein Einzelfall? tifizieren kann. Wenn sich die Industrie ser Fleisch ist sicher.“ Noch vergangenen Weil sie bis heute kein Medikament dieser Entdeckung annähme, könnte ein Mittwoch nutzte er Schröders Abwesen- und keine Therapie gefunden haben, Test in wenigen Jahren den Erreger des heit, um bei der Kabinettssitzung eine flam- wagten die Eltern Meiler am vergange- Rinderwahns im Blut nachweisen. mende Rede gegen „politischen Aktionis- nen Freitag einen ungewöhnlichen Aus Sicht der Familie Meiler: zu spät. mus“ zu halten. Ein sofortiger Verzicht Schritt. Auf Einladung der bayerischen Denn inzwischen wirkt Markus schon auf Tiermehl, das als Infekt-Träger gilt, Grünen führten sie ihren Sohn in den wie ein Baby – oder wie ein 90-jähriger sei unmöglich, behauptete er, denn: fünften Stock des Landtags und präsen- Alzheimerkranker. Waltraud Meiler arbei- „Ohne Eiweiß im Futter kippen unsere tierten ihn der Presse. tet nicht mehr im Altenheim, da sie ihren Schweine um.“ Das Wort BSE, das hatten sie verein- erwachsenen Sohn waschen, wickeln und Gesundheits-Staatssekretärin Christa bart, sollte nicht fallen. Von einer neuen füttern muss. „Niemand auf der Welt in- Nickels hatte Mühe, die anwesenden Kol- Variante der Creutzfeldt-Jakob-Erkran- teressiert sich für ihn“, sagt sie und weint. legen vom Gegenteil zu überzeugen: „Wir kung sprachen die Grünen. Doch das Was soll sie auch sagen? Es muss doch rechnen täglich mit der ersten Katastro- mag der Vater auch wieder nicht glau- in irgendeinem Labor Antikörper geben. phenmeldung“, warnte sie geradezu hell- ben. „Wenn die nicht wissen, was es ist, „Der Abbau ist so offensichtlich“, sagt sichtig. können sie nicht behaupten, es hat nichts Andreas Meiler. Beim nächsten Wut- Funke fürchtete beträchtlichen Ärger mit BSE zu tun“, sagt er. anfall könne Markus’ zersetztes Gehirn und unabsehbaren ökonomischen Scha- Die wenigen Experten auf dem weiten einen Schlaganfall bekommen. „Und den für Landwirte und Tiermehlprodu- Feld der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit dann ist der Junge tot.“ zenten, ähnlich wie in Frankreich. Dort halten Markus Meiler für eine Sensation. Klaus Brinkbäumer, Marco Evers, hat Premierminister Lionel Jospin schon Conny Neumann Bei einer Blutuntersuchung des heute Kasernen, Militärbasen, Silos und Scheu- nen akquiriert, um 740 000 Tonnen Tier-

24 der spiegel 48/2000 mehl und 275 000 Tonnen tierische Fette rium die zuständigen Beamten erst mal Krankheit kann also nicht importiert wor- zwischenzulagern. Die Verbrennungsöfen perplex. Ganz so, als hätten sie wirklich im- den sein. können den unerwarteten Sondermüll- mer an das geglaubt, was Minister Funke Dass er Tiermehl gefüttert haben könn- berg nicht schnell genug verfeuern; selbst über das angeblich BSE-freie Deutschland te, was bei Rindern verboten ist, weist der über die Verschickung von 150000 Tonnen verbreitete und was Ministerin Fischer nun Landwirtschaftsmeister, Bauer in der drit- Tierabfall nach Deutschland wird disku- als „Schönrednerei“ geißelt. Das Rindvieh, ten Generation, entschieden zurück. „Nur tiert. das den BSE-Fluch ins Inland trug, war im Gras- und Maissilage“, schwört der Mann, Der Plan dürfte sich mit den deutschen benachbarten Sachsen-Anhalt am 23. Sep- dem die Tötung seiner rund 160 Rinder BSE-Fällen erledigt haben. Knapp 2,7 Mil- tember 1995 im Betrieb des Züchters Hu- droht. Die Kieler Landwirtschaftsministe- lionen Tonnen Schlachtabfälle und Kadaver bert Aselmeyer geboren worden. Asel- rin Ingrid Franzen will nun lückenlos über- sind im vergangenen Jahr in rund 35 deut- meyer selbst weilte am vergangenen Frei- prüfen lassen, was das Tier in den vier Jah- schen Fabriken zu 701000 Tonnen Tiermehl tag auf der Jagd, seine Ehefrau konnte sich ren seines Lebens zu fressen bekam. Bleibt und 310 000 Tonnen Tierfett verarbeitet den Positiv-Fall nicht erklären: „Wir haben bis dahin ein übler Verdacht: Könnte sich worden – was demnächst nicht als Tiermehl immer alles durchgetestet, wie es Vorschrift die Rotbunte über die Mutterkuh ange- exportiert werden kann, ist dann wohl auch ist, nach Herpes und Leukose, nie was ge- steckt haben? Die ist schon lange verzehrt in Deutschland ein Fall für den Ofen. funden.“ – möglicherweise zu einer Zeit, als man In Verruf geraten war die Branche der Fest steht: Aselmeyer, dessen Betrieb der Krankheit schon auf die Spur hätte Abdecker EU-weit schon, nachdem in nun geschlossen ist, verkaufte sein Rind kommen können. Von Tier zu Tier Tier- und Fleischknochenmehl in Deutschland in tausend Tonnen 700 629 591 HERSTELLUNG 600

500 517 VERBRAUCH 347 400

300 315 200 AUSFUHR 85 100 33 12 EINFUHR 0 Quelle: BML H. SCHWARZBACH / ARGUS H. SCHWARZBACH 1990/91 1993/94 1995/96 1997/98 Metzgerladen (in Hamburg): Unabsehbarer ökonomischer Schaden englischen Anlagen die Pampe aus zer- ins niedersächsische Emsland an einen Seit über vier Jahren sind in Europa mahlenen Kadavern nur lau erwärmt wur- Viehhändler in Messingen bei Lingen. Von schon taugliche BSE-Tests auf dem Markt de und das Mehl dann samt überlebender dort wurde die Kuh 1998 mit 35 Artgenos- – erst vergangene Woche rangen sich die BSE-Erreger in die Tröge von Wieder- sen nach Portugal und dann auf die Azo- EU-Agrarminister und Chefveterinäre end- käuern geriet. reninsel São Miguel verfrachtet. Noch kurz lich zur flächendeckenden Anwendung Nun droht den deutschen Fabriken das zuvor hatte ein Veterinär sie im Emsland durch. Vom 1. Januar an sollen auf allen eu- Aus, obwohl Fachleute wie der Stuttgarter mit den bislang üblichen Methoden auf die ropäischen Schlachthöfen sichtbar kranke Tierhygieniker Oskar Riedinger be- gängigen Tierseuchen untersucht – Ergeb- und notgeschlachtete Rinder auf die un- schwichtigen, in hiesigen Anlagen wür- nis: kein Befund. heimlichen Prionen geprüft werden. Die den die Sterilisationsvorschriften – min- Dass sich das Tier, zur Entlastung der Anordnung gilt für rund 500000 Tiere im destens 20 Minuten Erhitzen auf 133 Grad deutschen Landwirtschaft, erst in Portugal Jahr. Vom 1. Juli kommenden Jahres an bei 3 Bar Druck – penibel eingehalten. infiziert haben könnte, will ein Beamter müssen dann nach einem EU-Beschluss Ob das aber reicht, darüber streiten sich im niedersächsischen Landwirtschaftsmi- alle Schlachtrinder über 30 Monate zum jetzt die Fachleute, seitdem sogar in der nisterium zwar nicht ganz ausschließen, BSE-Test. Etwa sieben Millionen Tiere Asche eines bei 600 Grad verbrannten viel spricht aber nicht dafür: Meist dauert müssten pro Jahr geprüft werden; Kosten Hamsters noch jene Prionen nachgewie- es länger als zwei Jahre, bis die Krankheit der Seuchensuche: 1,4 Milliarden Mark. sen wurden, die wie Beulen einer neuen ausbricht. 15 Jahre nach dem Auftreten von BSE Pest auf die Seuche hinweisen. Kanzler Auch in Schleswig-Holstein stehen die werden die Massentests erstmals das Aus- Schröder geht deshalb wortstark auf Num- Behörden noch vor einem Rätsel, wie sich maß des Rinderwahns aufdecken. Den mer sicher: Es müsse alles getan werden, das Tier des Bauern Peter Lorenzen aus Verbrauchern jedoch bieten sie nur be- „was dem Schutz der Verbraucher nützt“. Hörsten am Nord-Ostsee-Kanal ange- dingt Sicherheit: Auch jüngere, anschei- Während in Berlin Rinderpolitik im steckt haben könnte. Schon das Muttertier nend gesunde Tiere können schon von Schweinsgalopp gemacht wird, sind im nie- hatte auf dem Hof gestanden, auch der dem Erreger befallen sein. Die Testver- dersächsischen Landwirtschaftsministe- Zuchtbulle gehört dem Landwirt; die fahren, die heute auf dem Markt sind,

der spiegel 48/2000 25 Deutschland schlagen bei ihnen je- Belgien, Luxemburg, Seuche auf dem Vormarsch Finnland doch nicht an. Norwegen Finnland und den Nie- Und niemand kann BSE-Fälle in europäischen derlanden wurden sagen, ob die Untersu- Ländern seit 1988 ebenfalls Strafen ange- chungen zum 1. Januar Schweden droht, weil sie Auflagen überhaupt pünktlich missachteten. 2 anlaufen werden. Fran- Dänemark Und auch den Deut- zösische Veterinäre, die Groß- schen. Die haben sich 538 Nieder- schon Mitte des Jahres Irland britannien keineswegs als Vor- mit umfangreichen lande kämpfer für schärfere Stichproben begonnen 177 434 7 6 BSE-Fälle bei BSE-Maßnahmen her- hatten, warnten ver- Belgien Deutschland importierten vorgetan: Nachdem die gangene Woche in 18 Rindern Experten im wissen- 2 Brüssel, dass die Be- im Land schaftlichen EU-Len- reitstellung von Labors 184 1 kungsausschuss vor Frankreich Luxemburg geborenen und Logistik „mindes- Rindern Jahren der Bundes- tens zwei bis drei Mo- 360 republik empfahlen, Ri- nate“ erfordere. Schweiz Österreich sikomaterialien wie Munter beschreiten Rückenmark und Rin- daher verschiedene 458 derhirn nicht länger für EU-Länder weiterhin Portugal den menschlichen Ver- Sonderwege: Öster- zehr freizugeben, beka- reich, Finnland und 2 men sie eine herbe Ab- Schweden, die sich al- 1 Italien fuhr aus Deutschland: lesamt noch BSE-frei Spanien Die Bundesregierung wähnen, wollen die akzeptierte nicht ein- zweite, umfangreiche mal die Einstufung die- Testphase ab Juli auf ser Rinderteile als Ri- Quelle: Office International des Epizooties Stichproben beschrän- BSE-Risiko-Einstufung: sikomaterial, da es ja ken, falls bei ihnen bis in der Bundesrepu- dahin kein Rind auf- Kategorie 1 Kategorie 2 Kategorie 3 Kategorie 4 blik keine BSE-Fälle und umgefallen sein gebe. Risiko extrem Risiko vorhanden, Risiko Risiko sollte. Italien, Spanien gering aber gering vorhanden groß Die Folge: Bis Okto- und Österreich ver- ber dieses Jahres durf- hängten im Alleingang ten etwa deutsche und gegen EU-Recht verstoßend schon • Frankreich etwa erkannte den EU-Be- Würste nach altem Brauch Rinderhirn ent- einmal einen Import-Stopp für französi- schluss zum Hitzekochverfahren erst gar halten – und das gilt Experten als Krank- sches Rindfleisch. nicht an, ignorierte die Vorgaben und heitsüberträger schlechthin. Tests der Uni- Ob das so einfach geht, entscheidet bis verarbeitete seine Tierkadaver weiter versität Gießen haben ergeben, dass Hirn zum Donnerstag die EU-Kommission. Falls auf althergebrachte, gefährliche Weise. bei vielen Wurstarten eine regelmäßig an- nicht, müsste sie, welch Widersinn bei der • Spanien kontrollierte seine Tiermehlfa- zutreffende Ingredienz ist. Erst seit acht Lage, die Staaten vor dem Europäischen briken nur unzulänglich; ob Tiermehl Wochen ist der Gebrauch solchen Risiko- Gerichtshof verklagen. Genau so, wie sie es ins Wiederkäuerfutter geriet, prüfte kei- materials EU-weit verboten – andere Län- mit Frankreich getan hat, als die Franzosen ner nach. der hatten schon früher darauf verzichtet, sich gegen die Aufhebung des Importbanns • Schweden stellte Teile des EU-Beschlus- Deutschland, angeblich ja BSE-frei, nicht. für britisches Rindfleisch sperrten. ses in Frage und untersuchte nur 100 An das Verbot müssten sich nun theore- Damit werden BSE und der internatio- Futtermittelproben pro Jahr. tisch alle deutschen Schlachtereien halten nale Fleischhandel zum Schulbeispiel • Italien musste sich den Vorwurf gefallen – dass sie es tun, gilt Verbraucherschüt- dafür, wie trügerisch EU-Vereinbarungen lassen, das Verbot der Verfütterung an zern als zweifelhaft. Der EU-Verbraucher- sein können: Seit 1994 ist per Gesetz die Wiederkäuer nicht kontrolliert zu haben. kommissar David Byrne erhielt auf seine Tiermehlfütterung von Wiederkäuern • Portugal blieb schlicht die Rückmeldung Frage nach Kontrollen bei der letzten Sit- nicht nur in Deutschland, sondern EU-weit an Brüssel schuldig. zung der Landwirtschaftsminister in Brüs- verboten. Seit 1996 müssen per sel nur ungenügende Antworten – EU-Gesetz alle Mitgliedstaaten auch von den Deutschen. Wirk- ihr Tiermehl nach dem in same Überwachung des Verbots Deutschland praktizierten Druck- konnte keiner der Politiker nach- kochverfahren herstellen. weisen. Doch bei der Einhaltung dieser Daraus hat Bundesgesund- Richtlinien wird geschlampt. Da heitsministerin Andrea Fischer verwundert es nicht, dass die Seu- bereits ihre Konsequenzen gezo- che sich breit macht: Gegen zehn gen: Ausgerechnet die sinnen- Mitgliedstaaten musste die EU- frohe Ressortchefin verzichtet Kommission bereits im Juni 1997 bei ihrem Lieblings-Italiener die ersten Strafandrohungen aus- „Osteria“ in Berlin neuerdings sprechen, weil ihre Kontrolleure auf die Kalbsspezialität Saltim- gröbste Verstöße im Kampf gegen bocca. Jürgen Dahlkamp, BSE festgestellt hatten: Marco Evers, Alexander Neubacher, Norbert Pötzl, Sylvia Schreiber, F. BRUENDEL / ACTION PRESS BRUENDEL / ACTION F. Hans-Jörg Vehlewald * Im sachsen-anhaltinischen Genthin. Kadaververwertung*: Prionen in der Asche

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Werbeseite Kommentar „Kannitverstan“ Rudolf Augstein über Helmut Kohls Tagebuch

un weint er. Auch Männer dür- Seine Generalsekretäre hatten of- fen weinen. Aber dieser Hel- fenbar nichts Besseres zu tun. Über Nmut Kohl war früher ein lusti- Kurt Biedenkopf geht das umgekehrt. ger Gaudi-Bursch. Was er über seine Er könne „die Rachegefühle nicht ver- erotischen Abenteuer zum Besten gab, bergen, die sich über viele Jahre bei hätte sich zur Weitergabe an Frau ihm aufgestaut haben“. Was für ein Hannelore Kohl nicht geeignet. Verein! Gut, wenn man ihn auch so noch Angela Merkel bezweifelt, dass Kohl gekannt hat. An einer Festtafel war am meisten unter dieser (seiner) Affä- ich, gemessen an dem damaligen Op- re gelitten hat: „Wir alle in der Partei positionsführer Kohl, zu hoch plat- haben unendlich gelitten.“ ziert. Er bemerkte dazu: „Sie saßen „Tanze, Ukrainer“, hat Stalin dem ziemlich weit oben.“ Meine Antwort: Chruschtschow befohlen. „Mach de „In Hamburg geht es nach Geld. Han- Aff“, rief der Ministerpräsident Kohl seat kann man im Nebenberuf sein.“ seinem Kultusminister zu, und der Was zwingt diesen Mann dazu, tanzte gehorsam auf dem Tisch. Dafür möglichst alles zu zerstören, was er erntet er nun den Dank. Der eher doch auch an Gutem geschaffen hat? harmlose Bernhard Vogel wird zu ei- Warum schadet er seiner eigenen nem Mann titanischen Ausmaßes, „ein Schöpfung, der CDU? Warum spielt Glücksfall für Thüringen, ein Glücks- er, der Elder Statesman, nun den Wü- fall für die CDU, für die Bundesrepu- terich vom Dienst? blik“. Hat der Mann noch alle seine Beispiellos in der Geschichte ist der Sinne beisammen? zwanghafte Niedergang dieses bedeu- Der Grieche Herostrat wollte in die tenden Politikers. Was gehört dazu, sei- Geschichte eingehen, indem er 356 vor nem Kritiker Heiner Geißler zu be- Christus den Artemistempel zu Ephe- scheinigen, der werde „seinen Hass mir sos anzündete. Kohl scheint es ihm gegenüber wohl mit ins Grab nehmen. gleichzutun. Er versteht einfach nicht: Das steht ihm ins Gesicht geschrieben“. „Kannitverstan.“ Hier macht er eine Anleihe beim alten Die Person, die in dieser schwieri- Adenauer, der den Bundestagspräsi- gen Affäre die beste Figur gemacht denten Eugen Gerstenmaier mit den hat, war Hannelore Kohl. Mag ihr Ehe- Worten aus dem Fraktionssaal trieb: mann sich auf die Erzählung von „Es ist sonderbar, dass man in den Au- „Kannitverstan“ versteifen, so enthüllt gen eines Menschen den Hass in sei- sich jetzt die menschliche Qualität. Der nem Herzen ablesen kann.“ Christliche Kern dieses so genannten Tagebuchs Parteien müssen so sein. soll Wolfgang Schäuble treffen, den Die ganze CDU-Führung scheint treuen Knappen während langer 16 sich in Hass ergehen zu wollen. Ri- Jahre Kanzlerschaft. chard von Weizsäcker ist Kohls Ge- Schäuble ist, so hat Kohl jetzt her- schöpf. Er hat ihn zum Bundespräsi- ausgefunden, ein Intrigant. Oberleh- denten gemacht. Wahr ist, er hat es rer Kohl verteilt Schulzeugnisse: ihm versprochen und ihn dann ein „Schäuble mangelhaft, Merkel ausrei- Weilchen hängen lassen. Weizsäckers chend“, so die „taz“. Oberster Zensor Rolle in Sachen deutsche Einheit ist genau jener Mann, der die Partei in kommt der Helmut Kohls mindestens ihre schwierigste Krise hineingesteu- gleich. ert hat. Dass er, wenn er die CDU Er ist ja nun wirklich nicht, obwohl er prügelt, gleichzeitig die Reste seines das immer betont, der „Kanzler der Vermächtnisses, seines Denkmals mit Einheit“. Vielmehr, die Einheit kam an- zerschlägt, daran scheint er nicht geschlichen wie ein Dieb in der Nacht zu denken. Seine Rücksichtslosigkeit und fand einen Kanzler Kohl vor. kennt keine Grenzen. Genscher schont er, er weiß zu gut, So beschwert sich auch Hessens Mi- dass dessen Rolle wichtiger war als die nisterpräsident Roland Koch über das seine. Die Gründungsväter der Einheit „Timing“ – wohl wegen der bevorste- sitzen in Amerika. Sie förderten, was henden Landtagswahlen. Kohl kann auf Dauer gar nicht zu verhindern war. und will das alles gar nicht verstehen, Da Kohls Hauptbeweggrund Rache ist, auf gut Holländisch könnte er sagen: muss er auch überall Hass vermuten. „Kannitverstan.“

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Nur das Buch, das in Teilen eine Woche „ungeheuren mentalen Tief“ herauszuar- EX-KANZLER lang schon in „Welt am Sonntag“ und beiten, behauptet er. „Welt“ vorabgedruckt wurde, und selbst Nicht dass er überrascht gewesen sei Das letzte Wort bei konservativen Journalisten wegen sei- „vom Lauf der Welt“. Schon von seiner ner weinerlichen Selbstgerechtigkeit Be- Mutter hat Kohl erfahren, dass „die Hand, Treulosigkeit, Illoyalität, fremden und unverhüllte Verachtung aus- die segnet, als erste gebissen wird“. Verrat, löste („Frankfurter Allgemeine“: „Schnul- Treulosigkeit, Illoyalität und Opportunis- Lügengebilde – Helmut Kohl sieht ze“), mag er nicht hochhalten. Vielleicht mus wohin er blickt, dazu die Meute seiner sich von Undank umzingelt. weil er gar kein richtiger Autor ist? Oder Feinde. weil es kein Tagebuch ist? Oder weil sich So ist es immer gewesen, nur war er selbst enn Helmut Kohl sich als Ziel- keiner gefunden hat, der es an diesem Tag jahrzehntelang derjenige, der anderen „auf scheibe hetzender Kampagnen lobend vorstellt? die Füße getreten“ hat, wie er einräumt. Wbeschreibt, dann nennt er sich Da kann der Ex-Kanzler nur so keu- Nun, da er selbst das Opfer ist, deutet nichts höhnisch „das System K.“, so als habe sein chend lachen, wie er schon seit Jahrzehn- darauf hin, dass die Kategorien, in denen er Leben plötzlich kafkaeske Züge angenom- ten Kritik wegzuhöhnen und Zweifel ab- denkt und redet, andere sind als früher: Ver- men. Tatsächlich erinnert der Mann, der zubürsten versteht. „Es ist alles penibel nichtung, Kampagne, Verleumdung, Hetze am Freitag vergangener Woche in Berlin aufgeschrieben“, sagt er schlau. Und: „Ich – Markenzeichen einer erbarmungslosen sein Tagebuch vorstellt, an jenen Gregor habe nie behauptet, dass ich ein ausführli- Freund-Feind-Welt. Kohl: „Was ich theore- Samsa aus Franz Kafkas Erzählung „Die cher Tagebuchschreiber bin.“ Notizen habe tisch wusste, habe ich nun in der Wirklich- Verwandlung“, der eines morgens aus un- er sich gemacht, Unterlagen und Material keit erlebt.“ ruhigen Träumen erwacht war Um 11 Uhr 11 hat Helmut Kohl und sich „zu einem ungeheuren zu reden begonnen, und es dau- Ungeziefer“ verwandelt fand. ert nicht lange, bis er sich wieder Helmut Kohl, bis zum 9. No- auf den aus seinen 16 Regie- vember 1999, dem zehnten Jah- rungsjahren vertrauten Ton lar- restag des Mauerfalls, noch als moyanter Rechthaberei einge- Kanzler der deutschen Einheit pendelt hat. Dass er selbst der und Ehrenbürger Europas „auf Parteispendenskandal ist, der in dem Olymp“, fühlte sich wenig sein Leben eingebrochen zu sein später verwandelt in einen wehr- scheint wie eine tückische Insze- losen, gehetzten, gnadenlos kri- nierung der Linken, entzieht er minalisierten und verleumdeten seiner Wahrnehmung. Mann. Realität mag es früher gege- „Was ist mit mir geschehen?“, ben haben, als Kohl Staatsmann fragte Kafkas Held. Helmut Kohl war. Jetzt ragen seine bizarren hat, um sich diese Frage zu be- Verlautbarungen in die Berliner antworten, ein „Tagebuch“ ver- Gegenwart hinein, als ob Herr K. öffentlicht; zu behaupten, dass er den Sargdeckel seiner politischen es geschrieben habe, wäre viel- Vergangenheit geöffnet habe, leicht ein bisschen übertrieben. um aus der Versenkung heraus Es handelt vom Parteispenden- mit unerbittlicher Hartnäckig- skandal – einem unablässig lässig keit einzutreiben, was ihm die eingestandenen „Fehler“, für Welt schuldig geblieben ist: Mit- den er im Nachhinein Verständ- leid, Fairness, Gerechtigkeit, nis und Mitleid einfordert. Freundschaft, Verständnis – und Wie schon seit Monaten tut Geld. der verwandelte Ex-Kanzler so, Nichts vom Autoren-Honorar als sei er noch ganz der Alte. Und wird er abgeben, schließlich hat sieht es nicht auch so aus? Im er der CDU 25 Jahre ehrenamt- Festsaal des Hilton-Hotels am lich als Vorsitzender gedient. Gendarmenmarkt blicken 400 Und überhaupt: „Ich habe mehr Journalisten der deutschen und Prügel eingesteckt für Fehler als ausländischen Presse zu ihm auf, jeder andere“, sagt Helmut Kohl. fünf Minuten blitzen Fotografen, Selbst Wolfgang Schäuble, findet ein Dutzend TV-Kameras richten er, muss ihm in Wahrheit dank- sich auf ihn. bar sein für seine Loyalität.

Nur die schwarz-rot-goldene M. URBAN Helmut Kohl habe das mal Fahne fehlt, das Symbol des Staa- Autor Kohl*: „In die Hand gebissen“ wieder „perfekt arrangiert“, be- tes. Stattdessen steht über sei- grüßte „Die Welt“ das Tagebuch nem Kopf in geraden Lettern, schlicht wie gesammelt. Ein Gesamtauflage von 240000 des strapaziösen Patriarchen der Partei- eine Todesanzeige: „Helmut Kohl, Mein Exemplaren wird angeblich ausgeliefert. familie. „Er hat das letzte Wort.“ Tagebuch 1998 – 2000“. Den ersten Schock der Verwandlung Doch anders als Kafkas Gregor Samsa, Aber Helmut Kohl lebt, und wie. Ge- will Helmut Kohl inzwischen überwunden der nach der Verwandlung am Ende in nüsslich leckt er sich die Lippen: Das kennt haben – „mein Leben wird schon wieder „Rührung und Liebe“ an seine Familie er. In den „vielen vertrauten Gesichtern“ positiv“. Doch sein Ton ist bitter, voller zurückdenkt und findet, „dass er ver- mag er Skepsis und Reserve lesen. Das be- Häme und vibrierender Rachsucht. Das schwinden müsse“, droht Helmut Kohl mit feuert ihn, es törnt ihn an. Der wehrhaftes- Buch habe ihm geholfen, sich aus einem Nachhaltigkeit: Dem Tagebuch sollen im te Wehrlose der Nation ist bereit zum Ge- Jahr 2002 seine Memoiren folgen. genschlag. * Am vergangenen Freitag in Berlin. Jürgen Leinemann

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CDU/CSU Gesucht: ein Verlierer Stoiber oder Merkel: CDU und CSU widmen sich bereits der Kanzler- kandidaten-Frage. Dass einer von beiden 2002 Schröder besiegt, glaubt aber kaum jemand in der Union. er Kampf geht weiter“, tönte der Wahlverlierer vollmundig. Mit 44,5 DProzent der Stimmen waren CDU und CSU zwar wieder stärkste Kraft bei der Bundestagswahl geworden, Kanzler aber blieb der Sozialdemokrat Helmut Schmidt. Für Franz Josef Strauß hatte sich die Kandidatur 1980 trotzdem gelohnt. Bei der Landtagswahl zwei Jahre später wurde er unangefochten als bayerischer Minister- präsident bestätigt. So ähnlich könnte es bald wieder laufen, wenn es nach dem Willen vieler CSU- Mächtiger geht. Edmund Stoiber, so ver- breiten seine Berliner Büchsenspanner,

könne bei einer Kanzlerkandidatur in je- REUTERS dem Fall nur gewinnen. Der Bayernprimus CSU-Chef Stoiber, CDU-Vorsitzende Merkel*: Gedichte aus dem Osten könnte für sich in Anspruch nehmen, alles für einen Erfolg im Dienste der Union ge- in Berlin und München angestellt werden: Auch finanziell ist die CDU gegenüber tan zu haben. Die Schuld an der Niederla- Fraktionschef Friedrich Merz kommt darin den regierenden Sozialdemokraten im ge ließe sich der desolaten Schwesterpartei ebenso wenig vor wie ein Erfolg der Bundestagswahlkampf nicht konkurrenz- zuschieben. Zugleich könnte die CSU eine CDU/CSU im Jahr 2002. Diese Wahl haben fähig. Der neue CDU-Schatzmeister Ulrich maximale Mobilisierung der konservativen die meisten in der Union abgehakt. Bei Um- Cartellieri kassiert bei seinen Freunden Wähler in Bayern erreichen. fragen, wen die Deutschen direkt zum in der Wirtschaft reichlich Absagen, wenn Anhänger der CDU-Vorsitzenden An- Kanzler wählen würden, liegen Stoiber wie er um Spenden bittet. Die Investition lohnt gela Merkel streuen derweil, auch für sie Merkel derzeit weit abgeschlagen hinter aus Sicht der Konzerne nicht, denn kaum sei die Kanzlerkandidatur in jedem Fall Schröder. Gesucht wird kein Gewinner, einer der Bosse glaubt, dass die Konser- eine profitable Angelegenheit. Wenn sie sondern ein respektabler Verlierer. Denn vativen demnächst wieder etwas zu sagen sich im Wahlkampf tapfer schlage, könne im Ringen um die Kanzlerkandidatur geht haben. sie außer dem Partei- auch den Fraktions- es längst nicht mehr um 2002, sondern um Das glaubt zwar auch in der Union nur vorsitz übernehmen und beim zweiten An- die Aufstellung für die Zeit danach. eine Minderheit, aber die Rituale laufen lauf 2006 besser durchstarten. Eine stabile Konjunktur und sinkende trotzdem nach dem gewohnten Muster ab. Nach den Parteitagen von CSU und Arbeitslosenzahlen, so die pessimistische „Was sollen wir denn machen“, sagt einer CDU in München und Stuttgart ist der Einschätzung in der Unionsspitze, spielten aus der CDU-Spitze schulterzuckend, „wir Kampf um die Kanzlerkandidatur in der Kanzler Schröder in die Hände – mag die können ja nicht gut sagen, wir nehmen 2002 Union endgültig eröffnet, an Gerüchten CDU auch noch so sehr darauf beharren, nicht teil.“ Gesucht wird also ein Kanzler- herrscht kein Mangel. Eines allerdings ha- dass die Erfolge mehr mit der alternden Be- kandidaten-Darsteller. ben alle Planspiele gemeinsam, die derzeit völkerung als mit Leistungen der Regierung Verständlich, dass es dabei zugeht wie zu tun haben. Während Schröder beim Beamten-Mikado: Wer zuerst wackelt, und sein Außenminister Joschka hat verloren. Stoiber und Merkel versuchen Fischer medienwirksam den Gro- beide, sich alle Optionen möglichst lange ßen der Welt die Hand schütteln, offen zu halten. zankt die Union um Leitkultur Das ungewöhnlich harte Bekenntnis von und Asylrecht und berauscht sich Stoiber, er stehe für den Posten „defini- an Büttenreden-Kalauern wie tiv“ nicht zur Verfügung, wurde deshalb „öde, öder, Schröder“ (Angela von seinen Chef-Interpreten schnell relati- Merkel beim CDU-Parteitag in viert. Niemand solle glauben, es gebe „ein- Stuttgart). „Es sind Gedichte aus seitige Zugriffsrechte“, stellte CSU-Gene- dem Osten, die den Wahlsieg ralsekretär Thomas Goppel klar. Die kosten“, kommentierte die kon- Entscheidung werde von CDU und CSU servative „Welt“. gemeinsam und nicht vor dem Frühjahr

DPA 2002 getroffen. Dass Angela Merkel beim Ministerpräsident Koch * Auf dem CSU-Parteitag in München am 17. CSU-Parteitag stürmisch gefeiert wurde, „Der stünde sofort auf der Matte“ November. hat wenig zu bedeuten. Die Delegierten

32 der spiegel 48/2000 folgten damit nur brav der Regie des Vor- Kapazitäten aufbauen, bevor die Bedro- sitzenden. BUNDESWEHR hung da ist“, befiehlt Willmann. Stoiber als Merkel-Macher? CSU-Politi- Der General stellt eine große neue ker glauben eher an eine besonders Verdeckte Gegner Elite-Einheit auf, die aus den bisherigen trickreiche Finte des ehrgeizigen Edmund. Fallschirmjägern zusammengeklaubt ist. Nur wenn die Konkurrentin „kaputt“ sei, Deutsche Fallschirmjäger sollen für Einige Kompanien trainieren bereits, wie habe Stoiber eine Chance, dass die CDU sie in Gebirgen, Wüsten oder auf tropi- ihm die Kandidatur auf dem Silbertablett die Europäische Union demnächst schen Inseln kämpfen könnten gegen den antrage. Mit demonstrativem Lob solle Geiselnehmer, Partisanen oder „verdeckten Gegner“ – im Soldaten-Jargon Merkel nun unter Druck gesetzt und plan- Terroristen bekämpfen – weltweit. schlicht „Huckeduck“ genannt. mäßig überfordert werden – zitieren lassen Für die Elite-Truppe, die einmal 4000 möchte sich aber niemand mit solchen In- avier Solana geriet ins Schwärmen. Soldaten stark sein soll, ist das Beste und terpretationen. „Mit Lichtgeschwindigkeit“, jubelte Teuerste gerade gut genug. Sie bewegt sich Die Merkel-Anhänger, die sich von der Jder „Hohe Repräsentant“ der EU für vorzugsweise per Hubschrauber und mit Karriere der CDU-Chefin auch eigenen Außen- und Sicherheitspolitik, komme der leicht gepanzerten Fahrzeugen. Laser-Ent- Aufstieg erhoffen, streuen unterdessen, al- Aufbau der Schnellen Eingreiftruppe vor- fernungsmesser, Wärmebildgeräte für bes- les laufe auf die Parteivorsitzende zu. Die an. „Die Europäische Union hat den Weck- sere Sicht bei Nacht und Rauch sowie un- Messlatte für sie liege niedrig: Gerade mal ruf gehört“, lobte Nato-Generalsekretär bemannte Kleinflugzeuge zur Feind-Auf- 35 Prozent fuhr Helmut Kohl bei der letz- George Robertson das Streben der Eu- klärung gehören zur Grundausstattung. ten Wahl ein, schlechter könne es kaum ropäer, nach dem amerikanisch dominier- Die „Spezial-Infanterie“ soll fast so gut werden. Nach einer achtbaren Wahlnie- ten Kosovo-Krieg militärische Schlagkraft sein wie das geheimniskrämerische Kom- derlage, so das Kalkül, werde Merkel den zu entwickeln. mando Spezialkräfte (KSK), aber viel Fraktionsvorsitz übernehmen und ihr Die EU will künftig in eigener Regie mi- größer. Die knapp 1000 Soldaten des KSK strukturelles Machtdefizit ausgleichen. litärisches Krisenmanagement betreiben. seien nur gut für „den kleinen, chirurgi- Aus Merkels Sicht ist dieses Szenario die Und zwar, anders als die Nato, nicht nur einzige Chance, will sie langfristig den Par- auf Europa fixiert, sondern weltweit – Mis- teivorsitz halten. Verzichtet sie auf die Kan- sionen in Sierra Leone oder Aserbaidschan didatur, muss sie befürchten, auch als Par- nicht ausgeschlossen, sei es, um Hungers- teivorsitzende in Frage gestellt zu werden. not zu lindern, Touristen aus Bürgerkriegen „Roland Koch stünde sofort auf der Mat- zu retten oder, wie auf dem Balkan, einen te“, glaubt ein CDU-Vorstandsmitglied. Die brüchigen Frieden zu sichern. Parteichefin selbst schweigt zu allem. Zu- Eine Interventionstruppe mit 60 000 trauen würde sie sich aber sowohl eine Heeres-Soldaten nebst 30000 Kameraden Kandidatur wie auch die Kanzlerschaft. von Luftwaffe und Marine soll binnen 60 Dagegen verbinden konservative CDU- Tagen ausrücken und mindestens ein Jahr Kräfte aus Landesverbänden wie Baden- lang fern der Heimat durchhalten können. Württemberg, Rheinland-Pfalz, Thüringen Vergangene Woche meldeten die Verteidi- und Hessen mit einer Kandidatur Merkels gungsminister der EU-Länder in Brüssel vor allem die Hoffnung, die Vorsitzende ihre Beiträge an. Zusätzlich offerierten EU- rasch wieder loszuwerden. „Angie“, froh- Beitrittskandidaten wie Polen, Tschechien lockt ein konservativer Unionsmann, werde und die Türkei Truppen, Jets und Schiffe. im Wahlkampf geschleift, „bis nichts mehr Die Deutschen, rühmt sich SPD-Vertei- von ihr übrig ist“. Dann, so hoffen vor allem digungsminister Rudolf Scharping, stellen Fans des hessischen Ministerpräsidenten, ein Fünftel aller Kräfte. Inklusive einer Re- wäre endlich Platz für einen richtigen Par- serve für halbjährliche Kontingentwechsel teichef vom Schlage Roland Kochs. will die Bundeswehr mehr als 30000 Män-

Noch lieber wäre es vielen Traditionalis- ner und Frauen abmarschbereit halten: IMO ten freilich, statt der spröden ostdeutschen Schon im nächsten Sommer, so die schö- Verteidigungsminister Scharping* Naturwissenschaftlerin träte der boden- nen Pläne, könnte es losgehen. Mehr Schlagkraft entwickeln ständige Bayernchef Stoiber an. Von Landesverteidigung, noch immer Auch in der CSU wird Stoiber gedrängt Rechtfertigung der allgemeinen Wehr- schen Schnitt“, urteilt Willmann. Er wolle – die Staatspartei sieht ihre absolute Mehr- pflicht, ist in Berlin kaum noch die Rede. jedoch „größere Räume beherrschen“ und heit in Bayern in Gefahr. „Fünfzig Prozent Selbst Scharping findet es „erstaunlich“, mit den „Special Forces“ der USA mithal- plus X“, meint Stoiber hochfahrend, bringe wie selbstverständlich Out-of-area-Aktio- ten. „Wir sind dabei“, brüstet sich der Ge- die CSU regelmäßig ein. Doch sorgenvoll nen der Bundeswehr für Parlament und neral, „eine Spitzenstellung einzunehmen.“ beobachtet man bei den Christsozialen, dass Öffentlichkeit nach den erbitterten Kon- Willmann drängt zur Eile, denn er geht das X immer kleiner wird. Eine Kanzler- troversen um Einsätze in Somalia und auf bald in Pension. Sein Vermächtnis könnte kandidatin Merkel, sorgen sich CSU-Spit- dem Balkan schon geworden sind. den Deutschen aber noch unliebsame zenleute, könnte die bayerischen Wähler Früher waren Panzerarmeen aus dem Überraschungen bringen: Bei künftigen erst recht vergraulen. Osten der Gegner. Jetzt fehlt ein festge- Krisen in Europa werden die Amerikaner So wie Oskar Lafontaine und Gerhard fügtes Feindbild: Der Kontrahent der Bun- „Germans to the front“ rufen, anstatt ei- Schröder es erfolgreich vormachten, wol- deswehr kann ein Soldat sein, ein gemeiner gene Spezialkräfte zu schicken. Und EU- len CDU und CSU die Entscheidung mög- Bandit, Terrorist oder Partisan. Künftig sei Partner werden die starken Deutschen lichst lange offen halten. Denn dass die verstärkt mit dem „verdeckt operierenden bei militärischen Abenteuern gern und spannendste Frage an die größte Opposi- Gegner“ zu rechnen, meint Heeresin- womöglich oft um Hilfe bitten. Eine Berli- tionskraft unbeantwortet ist, gewährleistet spekteur Helmut Willmann. „Lasst uns ner Regierung, die zudem offensiv einen nicht nur anhaltendes Medieninteresse – es ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat an- lenkt auch von inhaltlichen Schwachpunk- * Am 21. August während eines Besuchs in Prizren im strebt, könnte kaum noch Nein sagen. ten ab. Tina Hildebrandt Kosovo. Susanne Koelbl, Alexander Szandar

der spiegel 48/2000 33 Mittlerweile fühlt sich Schröder in der internationalen Diplomatie so sicher, dass sie ihm Spaß macht – zumal er von aus- ländischen Staatsmännern zu hören be- kommt, sein Land werde gebraucht. Längst vorbei die Zeit, als Schröder noch nicht recht wusste, was er in der Außen- politik verloren habe. „Was soll ich eigent- lich hier?“, stöhnte ein entnervter Schröder noch bei seinem Antrittsbesuch als Kanz- ler in Moskau im November 1998. Während Schröder durch Europa jettet, stößt in Berlin der omnipotente Feuer- wehrmann der Bundesregierung, Kanzler- amtschef Frank-Walter Steinmeier, immer öfter an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Kein Wunder, die Liste seiner Aufgaben reichte für drei Leute: vom siechenden Bündnis für Arbeit über den Solidarpakt mit dem Osten bis zur Abstimmung Dut- zender Gesetzesvorhaben mit den Frak- tionen. Dazwischen fliegt Steinmeier rasch

F. OSSENBRINK F. nach Paris, um im Streit um den Rück- Kanzler Schröder, Amtschef Steinmeier (in Berlin): An den Grenzen der Belastbarkeit transport von Atommüll bei der französi- schen Regierung um Vertrauen zu werben. Zu viel für einen Einzelnen. In Berlin REGIERUNG kursiert der Scherz, die wirkliche Krise für Deutschland breche aus, wenn Steinmeier wegen Grippe ausfalle. Seine Stärke be- Der auswärtige Kanzler steht in der geräuschlosen Koordination, nicht jedoch im Konzipieren politischer In Berlin reiht sich eine Regierungspanne an die nächste. Perspektiven. Nun zeigt sich, dass Schröder wie einst Helmut Kohl einen homo politi- Doch Gerhard Schröder kümmert sich lieber cus vom Typ Wolfgang Schäubles brauchen um die Vorbereitungen für den nächsten EU-Gipfel in Nizza. könnte: eine Figur, die den Laden zusam- menhält, im Kabinett und bis in die Minis- uer durch Europa ließ sich Gerhard Schröder und seine Truppe hatten Kon- terien hinein über Autorität verfügt. Schröder von der Flugbereitschaft sequenzen gezogen, vieles schien gelernt. Hinzu kommt, dass der Chef selbst, Ger- Qtragen – von Zagreb bis Kopen- Doch nun zeigen sich erneut Verschleiß- hard Schröder, Schwächen erkennen lässt. hagen, von bis Budapest. In Brüs- erscheinungen im kunstvoll installierten Sein sicheres Gespür für Stimmungen im sel fand Schröder – zwischen zwei Terminen Vorwarnsystem der Regierung. Schwierig- Volk, bislang eine Art politische Lebens- – am Mittwoch Zeit, um gemeinsam mit der keiten, die im Frühstadium erkennbar versicherung für den Kanzler, hat gelitten. aus Berlin mitgereisten Büroleiterin Sigrid wären, wachsen sich wieder zu veritabler Seine Spontanentscheidung, wegen ho- Krampitz und Regierungssprecher Uwe- Größe aus. Das könnte auch daran liegen, her Spritpreise die Kilometerpauschale Karsten Heye wenigstens die dringendsten dass Schröder neuerdings immer mehr Zeit anzuheben und in eine Entfernungspau- Hausaufgaben abzuarbeiten. mit Außenpolitik verbringt. schale umzuwandeln, markierte den Be- Der umherreisende Kanzler setzte sich dafür ein, dass der EU-Gipfel in Nizza An- fang Dezember nicht zum krachenden Miss- erfolg gerät. Daheim in Berlin aber flogen derweil die Fetzen. In der Kabinettssitzung, die Innenminister Otto Schily leitete, gerie- ten Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Fun- ke und Gesundheits-Staatssekretärin Christa Nickels wegen der Maßnahmen gegen die Rinderseuche BSE heftig aneinander. Am selben Tag blamierte sich das Kanz- leramt mit der amateurhaften Inszenierung des Abgangs von Kultur-Staatsminister Michael Naumann und der Ernennung des Nachfolgers Julian Nida-Rümelin (sie- he Seite 318). Keine Einzelfälle – die dichte Abfolge von Pleiten, Pech und Pannen der Bun- desregierung erreichte in den vergangenen Wochen einen neuen Höhepunkt. Man- cher Flop erinnerte gar an die Startphase

der rot-grünen Himmelstürmer, als ein PRESS VARIO Misserfolg dem nächsten folgte. Kanzleramt in Berlin: „Das Kabinett ist nicht gut drauf“

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Werbeseite Deutschland ginn einer Pannenserie. Weil die Länder ei- auf genmanipulierte Pflanzen aussprach, sich die rot-grünen Fraktionschefs, aber nen Teil der Kosten bezahlen müssen, verkündete Landwirtschaftsminister auch die beamteten Staatssekretäre der Mi- hängt seither der Haussegen zwischen Ber- Funke: „Es wird leider zu wenig wahr- nisterien regelmäßig. Staatsminister Hans lin und den Länderfürsten schief. Doch die genommen, welche Chancen die grüne Martin Bury versammelt die Parlamenta- Mängelliste ist weitaus länger: Gentechnik eröffnet.“ rischen Staatssekretäre und koordiniert die • Als Mitte September Hans Eichel den Schröder treiben derzeit größere Sor- Regierungspolitik mit den SPD-Bundes- Entwurf für eine nachgelagerte Be- gen um als der Berliner Alltagstrott: Falls ländern. steuerung der Rente vorstellen wollte, der EU-Gipfel übernächste Woche in Nizza Hinter der vordergründigen Routine wurde er vom Kanzler zurückgepfiffen. scheitert, wäre das eine Katastrophe für hat sich aber offenkundig Schlendrian „Ein strategischer Fehler“, knurrte der die EU-Erweiterung und damit auch für eingeschlichen. In Ministerien wird geklagt, Finanzminister. die deutschen Interessen. Der Kanzler ver- aus anderen Häusern kämen Vorlagen zu • Eine Frontalkollision in der Koalition sucht, für die zögerlichen Franzosen, die spät. Terminpläne werden nicht einge- wegen der Folgen der Invalidenrente für den Gipfel nur unzureichend vorbereiten, halten, das Kanzleramt möglichst spät die Rentenversicherung wurde erst im die Kohlen aus dem Feuer zu holen. eingeschaltet. allerletzten Moment verhindert. Frankreich, heißt es in Berlin, verfolge Doch es gibt auch andere Erklärungen. • Zwei Tage nach dem „Basta“ des Kanz- bei der EU-Reform eigensüchtig natio- Etwa die, dass Schröders Politik die Rich- lers zur Rentenreform beschlossen die nale Ziele, statt sich dem übergeord- tung fehlt. Selbst wenn verschiedene Mi- Minister Eichel und Riester ohne Ab- neten Ganzen verpflichtet zu fühlen, wie nisterien ein Problem auf sich zurollen se- hen, herrscht häufig Ratlosigkeit. „Die set- zen sich dann zwar zusammen“, berichtet ein hoher Beamter, „wissen aber nicht, wo- hin die Reise gehen soll.“ Auch in der selbstbewusst gewordenen Fraktionsspitze heißt es: „Das Kabinett ist nicht gut drauf im Moment.“ Selbst nach über zwei Jahren rot-grüner Regierungskunst fehlt die überzeugende Idee für ein sozialdemokratisches Gesell- schaftsbild. „Wir bauen ein Auto, ohne ei- nen Plan zu haben“, spottet ein Regie- rungsstratege. „Am Schluss haben wir das Auto, nur das Lenkrad ist nicht in Fahrt- richtung.“ Schröders Vorgänger Helmut Kohl floh vor den Problemen daheim gern ins eu- ropäische Ausland. Dort fand er Zuspruch und verspürte das erhebende Gefühl, an der Gestaltung des Kontinents mitwirken zu dürfen. Auch Schröder entschwindet immer öfter. In London besänftigte der Kanzler den immer noch skeptischen Tony Blair, der einen europäischen Superstaat unter allen Umständen verhindern will. In Kopenha-

M. URBAN gen äußerte der Kanzler Verständnis für SPD-Politiker Bodewig, Rau, Schröder, Klimmt*: „Keine Ahnung von Verkehr“ den Wunsch seines dänischen Kollegen Poul Nyrup Rasmussen nach einem stän- sprache mit Schröder, den Einstieg in es der Ratspräsidentschaft eigentlich zu- digen Repräsentanten in der Kommission. die private Altersvorsorge um ein Jahr kommt. Sogar mit dem lange verfemten Österrei- zu verschieben. Argwohn erregte vergangene Woche bei cher Wolfgang Schüssel besprach Schrö- • Der Rücktritt von Verkehrsminister Rein- Schröder, dass französische Diplomaten in der in Berlin den EU-Gipfel. hard Klimmt erfolgte erst auf massiven der EU-Metropole Brüssel den Schwarzen Bei Wim Kok in Amsterdam „austarie- Druck der SPD-Bundestagsfraktion. Peter für den Fall des Scheiterns bereits an ren“, beim belgischen Kollegen Guy Ver- Schröder wirkte wie ein Getriebener. die Deutschen reichen wollen. hofstadt „den Puls fühlen“ – wer das • Auch der Abgang von Kultur-Staatsmi- Beim Besuch der EU-Kommission wur- Gewicht Europas derart auf seinen Schul- nister Naumann vergangene Woche ver- de die deutsche Delegation von wichtigen tern spürt, kann schon mal übersehen, dass lief höchst unglücklich. Der Name des Kommissaren ausdrücklich ermutigt, aktiv viel weiter unten der Schuh gewaltig Nachfolgers gelangte an die Öffentlich- zu bleiben: „Wir brauchen euch, wer soll es drückt. keit, ohne dass Regierung oder Bundes- denn sonst machen?“ Zum Beispiel im Bundesverkehrsminis- presseamt vorbereitet waren. Vor Jour- Schröder widmet sich der Außenpolitik, terium des neuen Ressortchefs Kurt Bode- nalisten tat der Kanzler den Fauxpas la- weil er lange das Gefühl haben konnte, zu wig: Als der seinen neuen Staatssekretär pidar ab: „Das ist Ihr Rechercheerfolg Hause laufe ohnehin alles wie von selbst. Stephan Hilsberg anrief, um ihn von der und nicht Missmanagement.“ Die Koordinierung des Tagesgeschäfts bevorstehenden Berufung zu informieren, • Durcheinander auch in der Gentechnik: funktioniere „blendend“, behauptet ein reagierte der Bildungsexperte aus Bran- Am selben Tag, an dem sich Schröder in Kanzlervertrauter. Die Pannen seien „jede denburg überrascht: „Wieso ich? Ich habe Brüssel für einen vorläufigen Verzicht einzeln erklärbar: mit Murphy’s Gesetz“. doch von Verkehr gar keine Ahnung.“ In der Morgenlage im Kanzleramt be- „Macht nichts“, entgegnete Bodewig la- Ulrich Deupmann, * Am vergangenen Montag in Berlin bei der Übergabe von spricht Schröder mit seinen engsten Mit- chend: „Ich auch nicht.“ Jürgen Hogrefe, Horand Knaup Entlassungs- und Ernennungsurkunden. arbeitern das Programm. Außerdem treffen

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ser der rechtsradi- BRANDENBURG kalen „Jungen Frei- heit“, hatte dagegen Rambos Epistel von Vietnamesen ge- sprochen, „die über Mit Schmähbriefen an Jahre vom Steuerzah- ler durchgefüttert“ die Kirchen bringt CDU-Minister worden seien. Schönbohm Regierungschef In diesem Klima Stolpe gegen sich auf. Steht die sind gemeinsame Koalition vor dem Aus? Kraftakte wie in den vergangenen Wochen er Synodale Udo Semper hatte die undenkbar. Da hatte Lacher auf seiner Seite. Er wer- Stolpe seine eigene Dde, erklärte der Geophysiker aus Fraktion davon abge- Oranienburg den Mitgliedern des Parla- bracht, den Rücktritt ments der Berlin-Brandenburgischen Lan- des CDU-Justizminis- deskirche, den Potsdamer Innenminister ters Kurt Schelter zu künftig nur noch „Genosse Schönbohm“ fordern. Auf dessen nennen. Bitte hatte sein Büro- Zuvor hatte Semper einen Brief verle- leiter eine Richterin sen, den der CDU-Hardliner Jörg Schön- in ihrer Freizeit be-

bohm am 14. November der St.-Marien- DDP drängt, eine Haftprü- Kirchgemeinde in Bernau geschickt hatte. Kontrahenten Schönbohm, Stolpe: „Der dreht durch“ fung vorzunehmen Darin lehnt der nicht nur die Bitte der Ge- und ihr im Falle einer meinde um einen gnädigeren Umgang mit Möglichkeit sondieren, ob die PDS wie Weigerung mit Kon- Asylbewerbern ab. Der Innenminister in Sachsen-Anhalt eine SPD-Minder- sequenzen gedroht – nutzte die Gelegenheit zu einem verbalen heitsregierung tolerieren würde. ein klarer Eingriff in Rundumschlag, der bei ostdeutschen Pro- Vergangene Woche stellte Stolpe die Unabhängigkeit testanten wie Semper Erinnerungen an die seinen Vize zur Rede und forderte der Justiz. Im Ge- SED-Diktion weckt. ihn zu einem klärenden Gespräch genzug hielt Schön- „Warum“, fragt Schönbohm in seinem mit den Kirchenoberen auf. Noch bohm seine Abgeord- Schreiben, „missioniert die Kirche nicht, am Freitag musste der CDU-Politiker neten davon ab, nach um wieder mehr Christen in den neuen beim Bischof von Berlin-Brandenburg, der Flucht des Se- Bundesländern zu gewinnen?“ Für „wün- Wolfgang Huber, Abbitte leisten – eine xualstraftäters Frank schenswert“ hält es der CDU-Landeschef, glatte Demütigung. Huber hatte sich Schmökel auf einem „wenn sich die Kirchen auch ihrer urei- telefonisch bei Stolpe über Schön- Rücktritt des SPD-So-

gensten Aufgabe mit der gleichen Hingabe bohm beschwert. Denn der Innen- A. SCHOELZEL zialministers Alwin und dem gleichen Engagement widmen minister hatte gleich mehrere Mahn- PDS-Politiker Bisky Ziel zu beharren. könnten“ wie den Ausländerfragen. So hat- schreiben versandt. Zu den Empfän- Zur Tolerierung bereit? Hinzu kommt, dass ten zu DDR-Zeiten Parteifunktionäre ar- gern eines der Briefe, in dem vor der der CDU-Vormann „Politisierung der Kirche“ gewarnt diesmal in seinen Episteln auch noch ge- Der brandenburgische Landtag wird, gehört sogar einer der Stellver- gen ein Vorzeigeprojekt Stolpes mobil- treter Hubers. macht – das bundesweit einmalige Schul- Große Koalition Die neue harte Gangart zeigt, wie fach „Lebensgestaltung, Ethik, Religion“ 61 Sitze zerrüttet das von Beginn an hochkom- (LER). Diese Kombination soll nach Vor- plizierte Bündnis zwischen den Regie- stellungen der SPD langfristig den klassi- rungsparteien mittlerweile ist. Zuletzt schen Religionsunterricht ersetzen. Schön- CDU 25 hatte nur noch das bislang gute per- bohm vertritt dagegen die Ansicht, das sönliche Verhältnis zwischen Stolpe Fach grabe den Kirchen das „christliche SPD 36 PDS 22 und Schönbohm die Koalition zusam- Wasser ab“. mengehalten. Eine „unhaltbare Unterstellung“, erregt DVU 5 Doch schon Schönbohms herablas- sich der für LER zuständige Bildungsmi- sende Äußerung über die Berliner nister Steffen Reiche (SPD). Auch der SPD- insgesamt 88 Sitze Großdemonstration gegen rechts am Fraktionschef des Landtags, Gunter Fritsch, 9. November hatte Stolpe empört. sieht darin den „Versuch, die Koalition zu gumentiert, wenn sich Pfarrer schützend Während der Ministerpräsident selbst zur unterlaufen“. Intern schimpften die Sozial- vor Dissidenten gestellt hatten. Teilnahme aufgerufen hatte, höhnte sein demokraten über Schönbohms „Rambo- Mit seiner Attacke auf die Kirchen hat Vize, er halte nichts von „Kerzenprozes- Methoden“. Ein enger Vertrauter Stolpes der Innenminister, der auch stellvertreten- sionen“. klagt verbittert: Alle drei aktuellen Proble- der Ministerpräsident ist, überzogen. Auch Der Innenminister, der jüngst klagte, er me des Landes würden mit „Sch“ beginnen Landesvater Manfred Stolpe (SPD) erin- fühle sich in Brandenburg verfolgt, ist wie- – „Schönbohm, Schmökel, Schelter“. nerte das Schreiben Schönbohms an DDR- derum verärgert, dass sich der Landesvater Das Problem Schönbohm soll nun mit Zeiten. „Der dreht durch“, befand der im Asylstreit mit den Kirchen demonstrativ Hilfe der PDS beiseite geräumt werden. einstige Kirchendiplomat knapp. Stolpe von ihm distanzierte. Vergangenen Don- Die ist offenbar bereit, eine SPD-Minder- nimmt das „absolut unsensible“ Vorgehen nerstag forderte Stolpe das Bleiberecht für heitsregierung zu tolerieren. „Um Schön- Schönbohms nicht nur persönlich – er stellt zwei vietnamesische Schüler, die seit Jah- bohm loszuwerden“, so ein Vertrauter von auch die Koalition in Frage. In den nächs- ren in Deutschland leben. Schönbohms PDS-Fraktionschef Lothar Bisky, „tun wir ten Tagen lässt der Sozialdemokrat die Sprecher Heiko Homburg, begeisterter Le- so gut wie alles.“ Stefan Berg

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Parteifreunde hatten ihm so glattes Taktie- ren nicht zugetraut. Weil er aussieht wie CDU eine Mischung aus Mr. Bean und Inspektor Columbo, wird der Christdemokrat, dessen vergnügt meckerndes Lachen gelegentlich Vom Raufbold zum Strategen aus Blödelrunden im Landtagsrestaurant herauszuhören ist, oft nicht ernst genom- Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller hat sich binnen men. Vor allem seine politischen Kontra- henten von der SPD unterschätzen den Jahresfrist in der Union als moderater Konservativer pro- Mann mit dem spitzbübischen Lächeln und filiert – und als wichtigster Gegenspieler des Hessen Roland Koch. dem rollenden „R“ immer wieder. Müller leidet darunter keineswegs, ver- r wirkte wie ein Trauerredner: bleich, sche Geschäftsführerin der CDU-Land- schafft ihm die Fehleinschätzung doch ei- ernste Miene, gesetzte Worte. Erst- tagsfraktion. nen strategischen Vorteil: Während die Emals in seiner 14-monatigen Amts- Peter Müller als erfolgreicher Krisen- Konkurrenz sich mokiert, erklimmt er eine zeit als CDU-Regierungschef des kleinsten manager. Ein „unwürdiges Herumgeeiere“, CDU-Spitzenposition nach der anderen. In Flächenlandes der Republik hatte Peter wie Bundeskanzler Gerhard Schröder es nur neun Jahren arbeitete sich der Fan von Müller, 45, sonst meist gut gelaunt, ein gra- im Fall Klimmt vorgeführt habe, werde es Fantasyromanen (Lieblingswerk: Tolkiens vierendes Personalproblem. „in der Saar-CDU nicht geben“. Selbst „Herr der Ringe“) vom Parlamentarischen Eine Woche nach dem Rücktritt von Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion SPD-Bundesverkehrsminister Reinhard bis in die CDU-Bundesspitze hoch. Klimmt forderte der Finanzskandal um den Karriere im Eiltempo Als der frühere Bundesumweltminister Fußball-Zweitligisten 1. FC Saarbrücken • 1971 Eintritt Müllers in die Junge Union und damalige saarländische CDU-Spitzen- vergangenen Mittwoch auch in Müllers des Saarlands, von 1983 bis 1987 Lan- kandidat Klaus Töpfer den Einser-Juristen saarländischem Kabinett ein Opfer: Aus desvorsitzender der JU Müller Ende der achtziger Jahre für eine „Rücksicht auf Regierung und Partei“ er- Landtagskandidatur gewinnen wollte, zier- • 1990 Einzug in den saarländischen Land- klärte CDU-Innenminister Klaus Meiser, te der sich zunächst. Die Kieler Barschel- tag, zunächst Parlamentarischer Ge- 46, Fußballenthusiast und Vizepräsident Affäre hatte dem CDU-Nachwuchsmann, schäftsführer der CDU-Fraktion, ab 1994 des Clubs, seinen Ausstieg aus der acht- der vor allem wegen Heiner Geißlers So- deren Vorsitzender köpfigen Regierungsriege. zialpolitik in die Union eingetreten war, Der Grund: Wie seinem Spezi Klimmt • 1995 Ablösung des ehemaligen Bundes- vorübergehend die Lust an der Politik ge- wirft die Koblenzer Staatsanwaltschaft umweltministers Klaus Töpfer als CDU- nommen. auch Meiser vor, durch seine Unterschrift Landesvorsitzender Das änderte sich mit seinem Einzug in unter einen fingierten Beratervertrag • 1998 Wahl zum Präsidiumsmitglied der den Landtag gründlich. Schnell profilierte 615000 Mark zu Lasten der Trierer Cari- Bundespartei sich der aus einem sozialdemokratischen tas Trägergesellschaft für den Fußball- Elternhaus stammende Müller, der 1975 verein kassiert zu haben (SPIEGEL • 1999 knapper Sieg bei der Landtagswahl den Wehrdienst verweigert hatte, im Clinch 44/2000). über die seit 14 Jahren regierende SPD, mit Freund und Feind. „Politischer Streit“, Müller, Präsidiumsmitglied der Bundes- mit rund 6500 Stimmen CDU und Vorsitzender der CDU-Zuwan- Vorsprung erringt die CDU derungskommission, nutzte den Abgang die absolute Mehrheit des Parteifreundes für einen cleveren PR- • 2000 Vorsitz der CDU-Kom- Coup. Er kündigte an, erstmals in der Ge- mission, die für die Partei schichte der Bundesrepublik werde eine ein Positionspapier über Zu- Frau das Innenressort leiten: Annegret wanderung und Asyl erstel- Kramp-Karrenbauer, bisher Parlamentari- len soll BECKER & BREDEL Unionspolitiker Merkel, Müller, Ehepaar Müller „Wild nur beim Skatspielen“

gibt er unverhohlen zu, „macht mir richtig Spaß.“ Wegen der „Steuerlüge“ forderte der Saarländer Parteifreund Helmut Kohl 1991 indirekt zum Rücktritt auf und bescheinig- te den Christdemokraten ein „Sofa-Syn- drom“: Alle säßen nur da und starrten auf den Kanzler. Noch bissiger ging Müller den heimi- schen Superstar Oskar Lafontaine an. Den Sozialdemokraten schmähte er als „fauls- ten“ und „überschätztesten“ Regierungs- chef in Deutschland. Lafontaine strafte den rauflustigen Müller durch Nichtbeachtung:

M. URBAN Wenn der CDU-Mann im Saarbrücker Werbeseite

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Landtag ans Mikrofon ging, verließ der Mi- beiträge abgeschafft. Vergangene Woche 1999 die umstrittene Wehrmachtsausstel- nisterpräsident oft den Plenarsaal. beschloss die CDU, die im Landtag nur lung gezeigt wurde, exponierte sich Müller Den CDU-Jungmann, der ungeachtet al- ein Mandat mehr hat als die SPD, die Ver- als Kritiker und gewann damit Rückhalt ler politischen Differenzen einen guten kürzung der Gymnasialzeit von neun auf auch bei den Konservativen. Draht zu seinem SPD-Vorgänger Reinhard acht Jahre. Im Machtgeflecht der Union gilt Müller, Klimmt hat, focht das nicht an: „Ich habe Wichtiger als die Erfolge zu Hause ist der von Anfang an die CDU-Vorsitzen- nie zu denen gehört, die an einem über- für seinen Aufstieg in der CDU die Mi- de Angela Merkel unterstützt hat, jedoch steigerten Harmoniebedürfnis leiden.“ schung aus Bodenständigkeit und Weltof- als wichtigster Gegenspieler des Hessen Als die SPD im September 1999 die fenheit, die dem begeisterten Kartenspie- Koch. Vor der Saarland-Wahl 1999 machte Landtagswahl verlor, spotteten Vertraute ler Müller („Wild werde ich nur beim er kaum einen Hehl daraus: Er verstehe des gestürzten Regierungschefs Klimmt Skat“) in seiner Partei Sympathisanten seine Politik als liberal-konservativen noch: „Der Müller kann das nicht.“ Doch aus einem breiten Spektrum der Union Gegenentwurf zum rechtskonservativen nach nur gut einem Jahr CDU-Regent- zutreibt. Modell der Hessen-CDU. schaft müssen auch viele Vor allem in der Debat- Genossen mit wachsendem te über Zuwanderung und Schrecken feststellen, wie Asyl wirbt Müller für einen schnell Müller sich im Land gemäßigten Kurs. Schon beliebt gemacht hat. In 1996 hatte er sich mit dem den Umfragewerten ran- damaligen CDU-Bundesin- gierte er schon Wochen nenminister Manfred Kan- vor Klimmts Rücktritt ther angelegt. Der Saar- als Verkehrsminister mit länder widersprach Kan- 21 Prozent Vorsprung vor thers These, Deutschland dem Sozialdemokraten. Im dürfe kein Einwanderungs- Herbst des vergangenen land werden. Als Koch Jahres lagen die beiden 1999 seine Unterschrif- noch dicht beieinander. tenaktion gegen die dop- Ähnlich wie Lafontaine pelte Staatsbürgerschaft hat Müller einen ausge- startete, versagte Müller prägten Instinkt für die Be- ihm die Gefolgschaft. Im findlichkeit seiner saarlän- Saarland wurden keine dischen Landsleute. Mit Freizeitbäcker Müller: Schnell beliebt gemacht Unterschriften gesammelt. denen „palavert“ der Va- Müller: „Das Boot ist nicht ter dreier Söhne bei Dorf- voll.“ festen am liebsten Dialekt. Stur beharrte der Saar- Vielen Parteifreunden im- länder auch auf seiner Li- poniert zudem die Offen- nie, als der Chef der heit, mit der Müller schon CDU/CSU-Bundestagsfrak- vor der letzten Landtags- tion Friedrich Merz den wahl den Kohlenbergbau Begriff der „deutschen Leit- zum aussterbenden Wirt- kultur“ propagierte. Zwar schaftszweig erklärte. Mül- konnte Müller nicht ver- ler: „Wer heute 34 Jahre alt hindern, dass die heftig ist, geht in diesem Beruf umstrittene Formulierung nicht mehr in Pension.“ in ein von ihm verfasstes Ein mutiger Satz in einem vorläufiges Positionspapier Land, das jahrzehntelang zur Zuwanderung hinein- von der Kohle geprägt geschrieben wurde. Er wurde. werde das Wort Leitkultur

Aufsehen erregte auch BECKER & BREDEL FOTOS: jedoch „nicht verwenden“, Müllers Kabinett. Als So- Musiker Müller: Mischung aus Mr. Bean und Inspektor Columbo versichert er unverdros- zialministerin gewann er sen. Die von ihm geleitete die DGB-Vorständlerin Regina Görner, Jazz-Liebhaber Müller, er spielt Klari- CDU-Zuwanderungskommission wird ihr einst persönliche Referentin von Rita Süs- nette und Saxofon, pflegt eine enge Arbeitsergebnis voraussichtlich im April smuth. Umweltminister ist der parteilose Freundschaft zu dem bei Parteirechten un- vorlegen. Stefan Mörsdorf, ehemaliger Landesvor- beliebten Michel Friedman. Reihenweise „Das Bohren dicker Bretter war immer sitzender des Naturschutzbundes Deutsch- antisemitische Hetzbriefe landeten in Mül- seine Spezialität“, lobte ihn einst der rhein- land (Nabu). lers Post, nachdem er angekündigt hatte, er land-pfälzische CDU-Landesvorsitzende Als Berater holte sich der Regierungs- werde den stellvertretenden Vorsitzenden Christoph Böhr für seine Hartnäckigkeit. chef zudem den erfolgreichen saarländi- des Zentralrates der Juden in Deutschland Doch Müller provoziert auch gern – wie schen Software-Unternehmer August-Wil- zu seinem ehrenamtlichen Kultur- und Eu- sein Landsmann Lafontaine: Der Christ- helm Scheer, Gründer der Firma Inte- ropabeauftragten ernennen. Der Frankfur- demokrat war einer der Ersten, die öffent- grierte Datenverarbeitungssysteme, die ter Jurist und Fernsehmoderator Friedman lich über schwarz-grüne Bündnisse nach- rund tausend Mitarbeiter beschäftigt. Um wechselte im Sommer aus Protest gegen dachten. Scheer hatte sich zuvor vergebens Rein- Roland Koch vom hessischen in den saar- Einen kleinen Erfolg erzielte Müller hard Klimmt bemüht. ländischen CDU-Landesverband. auch in der eigenen Familie: Sein Vater, Schwerpunkte setzte Müller bisher in Friedman lobte Müller als „Liberalen“, Steuerberater und seit Jahrzehnten SPD- der Sozial- und Bildungspolitik. Im Saar- doch so einfach lässt sich der gewiefte Stra- Mitglied, wählte 1999 erstmals die Christ- land werden sukzessive die Kindergarten- tege nicht festlegen. Als in Saarbrücken demokraten. Wilfried Voigt

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„Ich hab richtig Angst“, bekennt ein Partei-Präside. SPD Gebunkert hat die SPD ihren Reichtum vor allem in der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft (DDVG), einer partei- Ein paar Heimlichkeiten eigenen Holding, die über Druckereien und Zeitungsverlage, Reisebüros und Buch- Die SPD greift viel direkter in die Geschäfte ihres handlungen gebietet. Im Jahr 1993 wurde das Parteivermögen inklusive zahlreicher Firmen-Imperiums ein, als Schatzmeisterin Wettig-Danielmeier Immobilien in der ganzen Republik auf glauben macht. Das könnte die Partei Millionen kosten. rund 500 Millionen Mark beziffert, heute schätzen es führende Parteipolitiker auf Die Schatzmeisterin hat sich in den mehr als eine Milliarde Mark. vergangenen Tagen vielfältigen Rat ein- Als Schaltzentrale zwischen Parteispitze geholt, auch bei Generalsekretär Franz und Holding-Management fungiert ein Müntefering. Der legte ihr nahe, sich Treuhand-Aufsichtsrat, dem unter anderen bei ihrem Vortrag im Untersuchungs- kraft Amtes Müntefering sowie parteinahe ausschuss tunlichst auf ihre Amtszeit Finanz- und Medienexperten angehören. zu beschränken und nicht über weit Seit 1983 mischt der Rat nicht nur bei Per- zurückliegende Zeiten zu plaudern, als sonal- und Geschäftsangelegenheiten der die SPD nach eigener Einschätzung DDVG entscheidend mit, sondern berät sehr freihändig mit dem Geld umging. auch das SPD-Parteipräsidium bei Entschei- dungen über die Partei-Unternehmungen. Gremium mit Doppelfunktion Der Rat unter Leitung des früheren Chefs Die Rolle des SPD-Treuhand-Aufsichtsrats der Hamburgischen Landesbank Hans Fah- ning tagt alle drei Monate. „Wir nehmen“,

F. DARCHINGER F. so Fahning, „entscheidenden Einfluss auf Aufsichtsrat Fahning, Wettig-Danielmeier Parteipräsidium die Geschäfte.“ Zu den Aufgaben des „Es geht um viel, viel Geld“ Gremiums gehöre es, Investitionspläne zu überprüfen und die Bilanzen der DDVG m SPD-Parteirat bat Inge Wettig-Dani- Schatzmeisterin: vorzubereiten. Auch bei der Berufung der elmeier, 64, am vergangenen Montag Inge Wettig-Danielmeier Geschäftsführung redet die Runde ein ge- Ium das Wort. Die Genossen, versuchte wichtiges Wort mit, ebenso wie bei kon- sie zu beruhigen, dürften die „alarmieren- kreten unternehmerischen Zielen. den“ Veröffentlichungen in einigen Zei- SPDberät das Ohne den Sachverstand des Treuhand- tungen und Magazinen ignorieren. Die Parteipräsidium in Fragen der Aufsichtsrats stünde die gelernte Sozial- Kasse der Partei sei korrekt geführt, die Partei-Unternehmungen, erstattet Bericht wirtin Wettig-Danielmeier auf verlorenem Wirtschaftsprüfer hätten nichts gefunden. Posten. „Ohne jede Ausbildung und so viel Die Aufforderung der SPD-Schatzmeiste- Geld – das ist nicht einfach für die Schatz- rin zum Vertrauensvorschuss kam nicht von Treuhand-Aufsichtsrat meisterin“, ätzen SPD-Finanzfachleute. Sie ungefähr. An diesem Donnerstag muss sie Gremium aus acht Mitgliedern ist von einer Phalanx von Beratern umge- sich vor dem Parteispenden-Untersuchungs- Vorsitz: Hans Fahning ben – dazu gehören ihr Ehemann Klaus ausschuss des Bundestages verantworten. weitere Mitglieder: Wettig, einst Schatzmeister der Sozialisti- Wettig-Danielmeier soll belegen, dass die kraft Amtes SPD-Generalsekretär Franz schen Fraktion im Europaparlament, und SPD ihre Unternehmen und Unternehmens- Müntefering sowie parteinahe Finanz- Hans Feldmann, „ohne den die Schatzmeis- beteiligungen nach Recht und Gesetz führt. und Medienexperten terin in Finanzdingen keine zwei Schritte Nicht wenige Parteigrößen sehen dem weit kommt“, wie Insider berichten. Auftritt ihrer Kassenfrau mit beträchtlichem überprüft Investitionspläne, beeinflusst Weil es „um viel, viel Geld geht“, wie Unbehagen entgegen. Denn mit der vom wichtige Personalentscheidungen und ein Mitglied des Gremiums erklärt, arbei- Grundgesetz geforderten Transparenz, die unternehmerische tet die Achter-Runde höchst diskret. Be- den Parteien abverlangt, Vermögen und Ein- Ziele richtspflichtig ist das Gremium allein dem nahmen offen zu legen, ist es nicht weit her. SPD-Parteipräsidium. Selbst hochrangige Im Zeugenstand droht offenbar zu wer- Parteimitglieder kennen den erlauchten den, was bislang nur ein kleiner Kreis von Deutsche Druck- und Verlags- Kreis nicht. Eingeweihten weiß: Die Partei ist viel enger gesellschaft (DDVG) Auch die Schatzmeisterin pflegte ver- mit ihrem verschachtelten Firmenimperium geschätzter Gesamtwert: gangene Woche ihre übliche Heimlichtue- verbandelt, als sie bisher zugeben mochte. über 1 Milliarde Mark rei und weigerte sich, Namen und Nomi- Das könnte die SPD Millionen kosten: Als nierungskriterien zu nennen. Sie tut die Partei muss sie bisher keine Steuern zahlen. Beteiligung an 27 Unternehmen, u. a. Runde als „Beratungsgremium mit Infor- am Dresdner Druck- und Verlagshaus, der Wenn sich aber herausstellt, dass die SPD Verlagsgesellschaft Madsack in Hannover, mationsrecht“ ab und befürchtet offen- ihr Firmengeflecht entscheidend mitlenkt, der Westfälischen Verlagsgesellschaft und kundig, dass das Bild von der angeblich könnte das Steuerprivileg fallen. dem Hofer Frankenpost-Verlag scharfen Trennung zwischen Partei und Während CDU, CSU, FDP und Grüne Unternehmensbereich ins Wanken gerät. ihren nächsten Wahlkampf mit so gut wie Finanziell profitiert die SPD nämlich er- leeren Kassen bestreiten müssen, verfügt heblich von ihrem Firmenbesitz. Wie hoch die SPD über einen Milliardenbesitz, auf die Beträge wirklich sind, soll der Öffent- dessen Erträge sie zurückgreifen kann. Die- lichkeit indes weitgehend verborgen blei- se Ungleichheit prangerte etwa Wolfgang ben. Von den 18,4 Millionen Mark, die die Schäuble an (SPIEGEL 47/2000). DDVG 1998 an die Partei weiterleitete, 46 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland tauchten nur knapp 2,5 Millionen im Re- enge Freundin der Schatzmeisterin, Vor- chenschaftsbericht auf. Fast 16 Millionen sitzende der Prüfkommission. Mark flossen in Unterhalt und Tilgung des Nicht nur in der Schatzmeisterei, auch hoch verschuldeten Willy-Brandt-Hauses im Unternehmensbereich zeigte sich Wet- in Berlin. Wettig-Danielmeier muss inzwi- tig-Danielmeier durchsetzungsfähig. Zwei schen bekennen, dass die Partei sehr wohl Geschäftsführer der DDVG mussten ge- zur Finanzierung ihrer Belange auf DDVG- hen. Bei der „Neuen Westfälischen“ in Bie- Erträge zurückgreift, insbesondere „für in- lefeld, die zu 57,5 Prozent der SPD gehört, vestive Zwecke“. wurden mehrmals in rascher Folge Mana- Deshalb schlagen Experten für Partei- ger und Chefredakteure gewechselt. enfinanzierung Alarm. Der Münchner Pro- Pläne der Parteispitze, die Kassenhüte- fessor Peter Badura urteilt in einer Studie: rin auszuwechseln, blieben stets ohne Er- Die Verrechnung von Gewinnen mit den folg. Weder Ingrid Matthäus-Maier 1995 Kosten für das Willy-Brandt-Haus verstoße noch der inzwischen verstorbene nord- eindeutig gegen „die Vorgaben des Partei- rhein-westfälische Finanzminister Heinz engesetzes“. Auch das SPD-Mitglied Schleußer, den Parteichef Gerhard Schrö- Christine Landfried, Politik-Professorin der und Generalsekretär Müntefering im an der Universität Hamburg und eine der vergangenen Jahr gern nach Berlin geholt versiertesten Expertinnen für Parteien- hätten, mochten sich auf den Job einlassen. finanzierung, meint: „Die Bürger müssen Mit Schröder, der nie Sympathien für über Einnahmen, Ausgaben und Vermö- Wettig-Danielmeier entwickelte, fand sie gen der Parteien genau Bescheid wissen.“ im vergangenen Jahr ein Arrangement. Deshalb könne die SPD die Erträge aus der Beteiligung an der DDVG „nicht mit Aufwendungen für das Wil- ly-Brandt-Haus verrechnen“. Denn: „Eine solche Saldie- rung lässt nicht mehr erken- nen, welche Einnahmen die SPD aus der Beteiligung er- zielt hat und für welchen Zweck die Gelder ausgege- ben wurden.“ Nicht nur vor der Öffent- lichkeit, sondern auch vor den eigenen Mitgliedern

wollte die SPD die sprudeln- M. S. UNGER den Finanzquellen verheim- Zeuge Schäuble*: Ungleiche Behandlung lichen, nachdem der lange marode Unternehmensbereich seit Mitte Wie alle Parteivorsitzenden vor ihm zieht der neunziger Jahre ordentliche Gewinne er es vor, nicht in gefährliche Nähe der abwirft. Die SPD-Spitze befürchtet, das unübersichtlichen Beteiligungen und Ge- einfache Parteivolk könnte auf die Idee schäfte zu geraten. kommen, Mitgliedsbeiträge seien künftig Neuerdings steigt der Druck auf Wettig- verzichtbar. Denn noch immer tragen die Danielmeier massiv. In der Parteispitze Mitglieder mit 158 Millionen Mark gut die ebenso wie in der DDVG hat sich die Ein- Hälfte der Einnahmen. sicht durchgesetzt, dass die Heimlichtuerei Wie ausgerechnet die Nicht-Fachfrau nicht mehr zeitgemäß ist. Sogar einer ihrer Wettig-Danielmeier Schatzmeisterin wer- Vorgänger, Friedrich Halstenberg, erklärt den konnte, ist vielen Genossen nach wie jetzt selbstkritisch: „Man hätte bei den No- vor ein Rätsel. Zweimal hatte sich Ehe- vellierungen des Parteiengesetzes einfügen mann Klaus Wettig vergebens um den Pos- müssen: Zur Offenlegungspflicht der Par- ten bemüht. Björn Engholm beförderte teien gehört es, ihre Besitztümer und Be- dann 1991 dessen Ehefrau Inge zur Schatz- teiligungen in den Rechenschaftsberichten meisterin. aufzulisten.“ Aufsichtsrat Fahning kündigt Zahlreiche interne Widersacher räumte an, die SPD werde in diesem Jahr erstmals sie aus dem Weg. Peter Conradi zum Bilanzen und Beteiligungen im Rechen- Beispiel, Vorsitzender der für die Prüfung schaftsbericht offen legen. der Schatzmeisterei zuständigen Kontroll- Der plötzliche Drang zur Transparenz kommission, musste zurücktreten, als er kommt nicht ganz aus freien Stücken: sich Plänen widersetzte, den Neubau der Eine EU-Richtlinie aus Brüssel schreibt Parteizentrale in Berlin ohne Ausschrei- bei Bilanzen neuerdings vor, „ein den bungen anzugehen. Heute ist die Europa- tatsächlichen Verhältnissen entsprechen- parlamentarierin Christa Randzio-Plath, des Bild der Vermögens-, Finanz- und Er- tragslage“ zu zeichnen. An diesem Gebot kommt auch eine SPD-Schatzmeisterin * Mit der ehemaligen CDU-Schatzmeisterin Brigitte Bau- Horand Knaup, meister (2. v. r.) vor dem Spenden-Untersuchungsaus- nicht vorbei. Hartmut Palmer, Rüdiger Scheidges schuss in Berlin am 29. August 2000.

der spiegel 48/2000 49 Die Staatsanwaltschaft hat an dieser Version erhebliche Zweifel. Bereits vor dem Rom-Trip habe der Minis- ter den Geschäftsführer der Tourismus-Marketing GmbH Baden-Württemberg um die Ausstellung eines Schecks gebeten. Schaufler war damals auch dort Auf- sichtsratschef. Zudem wur- de bei einer Durchsuchung in Stuttgart die Kopie eines Schaufler-Briefes „an den Heiligen Vater“ beschlag- nahmt, dessen Original of- fenbar die Spende der „pilgernden Geschäftsleute“ begleitete. Weil die Mitrei- senden in Wahrheit kaum spendeten, sprang Kraft mit seiner SWEG ein. Auch Teufel habe sich in seiner Zeit als Fraktionschef Christdemokrat Teufel (bei seiner Papst-Audienz 1988 im Vatikan): 12000 Mark gespendet 1988 eine Audienz beim Papst gegönnt, verteidigt sich (SWEG), einer 100-prozentigen Lan- der Angeklagte. Damals waren beim Be- AFFÄREN destochter, diese veranlasst haben, Gelder such der CDU-Parlamentarier im Vatikan für betriebsfremde Zwecke zu verwenden. 12000 Mark geflossen – laut Günther Oet- Geldkuverts im Auch der frühere Vorstandschef der SWEG, tinger, dem heutigen Fraktionschef, aber Hansjörg Kraft, steht deshalb vor Gericht. nur aus freiwilligen Abgeordnetenspenden. So ging mit Schaufler offenbar seine Schaufler erbost auch, dass Teufel-Ehe- Stammlokal Leidenschaft für den damaligen Fußball- frau Edeltraud über das Staatsministerium regionalisten SSV Reutlingen für Assisi sammeln ließ – ob Kurz vor der Wahl droht der durch, dessen Präsident er ab auch bei Landesunterneh- November 1995 war. 45000 men, will er von ihr im Zeu- Regierung Teufel eine Schlamm- Mark sollen in drei Tran- genstand hören. schlacht: Der wegen Untreue chen von 1995 bis 1997 Noch heikler für Teufel ist angeklagte Ex-Minister Hermann aus der SWEG-Kasse an freilich die Spendenpraxis Schaufler will Interna ausplaudern. den Fußballclub geflossen mehrerer Firmen, an denen sein. das Land beteiligt ist. So ließ er ehemalige baden-württembergi- Von der ersten Rate beispielsweise die Baden- sche Minister Hermann Schaufler (20000 Mark) will Schaufler Württembergische Bank AG, Dmuss nur den Namen Erwin Teufel „zunächst überhaupt nichts an der das Land 36 Prozent hören, dann brodelt der Zorn, und dann gewusst“ haben. Die beiden hält, binnen acht Jahren sagt er Sätze, die Politprofis sonst für sich anderen Tranchen über 83 000 Mark der CDU und behalten: „Der Teufel, der wollte mich nur 15000 und 10000 Mark habe 16 000 Mark der FDP zu- loswerden.“ er in Kuverts in seinem kommen – aber nur 1000 In dieser Woche steht Schaufler, 53, vor Stammlokal „Württemberger Mark der SPD und gar nichts dem Landgericht Offenburg. Dort will er Hof“ in Reutlingen depo- den Grünen. Auch die den Prozess um die Affäre, für die er im niert. Das Geld sei „abgeholt SWEG spendete der CDU

Oktober 1998 zurücktreten musste, zur Ge- und für den Verein ver- M. ULMER 35000 Mark, SPD und FDP neralabrechnung mit dem Regierungschef braucht worden“. Von wem, Angeklagter Schaufler zusammen nur 10000 Mark. nutzen. Nur vier Monate vor der Land- hat er bisher nicht offenbart. Pilgernde Geschäftsleute Schaufler wiederum soll tagswahl droht dem Ministerpräsidenten Bis heute sei der Verbleib der laut Anklageschrift geduldet damit eine Schlammschlacht. „Wenn das Gelder nicht einwandfrei geklärt, so die haben, dass für sieben Ministerreisen mit strafbar ist, was ich gemacht habe, dann Ermittler. einem Privatjet überhöhte Rechnungen gehe ich nicht allein heim“, droht er und Angeklagt ist er auch wegen einer zum Teil von der SWEG übernommen kündigt an, das Finanzgebaren seiner Ex- Spende an den Papst, die überwiegend wurden. Entsprechende Vermerke des Mit- Kollegen zum Thema zu machen. von einem SWEG-Konto stammte: angeklagten Kraft hatten Ermittler ent- Neun Jahre lang war Schaufler, zuletzt Schaufler reiste als Verkehrsminister mit deckt. als Umwelt- und Verkehrsminister, einer einer Delegation im Oktober 1997 nach Aufgeflogen war die Affäre durch den der starken Männer der CDU-geführten Rom und übergab im Vatikan einen Landesrechnungshof. In Schauflers Welt Regierungen im Ländle. Untreue in zwölf Scheck über 10 000 Mark. Die Folgen des haben solche Prüfungen offenbar wenig Fällen wirft Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Erdbebens in Assisi hätten ihn gerührt, so Platz: „Wenn jede Rechnungshofkritik zum Collmann, ein erfahrener Ermittler, dem Schaufler. Deshalb will er der Gruppe Anlass genommen wird, den Staatsanwalt Christdemokraten vor. Laut Anklage soll „spontan vorgeschlagen“ haben, den Be- einzuschalten, gibt es bald keine Minis- der Politiker als Aufsichtsratsvorsitzen- trag zu Gunsten des Päpstlichen Hilfs- ter mehr“, stöhnt er. Jürgen Dahlkamp, der der Südwestdeutschen Verkehrs-AG werks zu sammeln. Felix Kurz

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auf Widerspruch. In der Bundestagsdebat- te über die Homo-Ehe fuhr sie den FDP- Abgeordneten Guido Westerwelle derart an, dass Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) die Ministerin zur Ordnung rief. Von der Regierungsbank, ermahnte er, hätten keine Zwischenrufe zu erfolgen. Däubler-Gmelin hielt daraufhin nicht etwa den Mund, sondern wechselte, unter fort- gesetzten Schimpftiraden, ins Plenum und verfolgte den Rest Provokante Stellungnahmen der Debatte als einfache Ab- ÜBER ULI HOENESS: geordnete. Herta Däubler-Gmelin „Unser Rechtsstaat hat klare Regeln: kämpft – nicht immer zum klare Anschuldigungen, klare Vorteil der eigenen Sache. Wie Beweise! Das gilt auch für Hoeneß. sie sich Gegner selbst da Er ist in der Pflicht, nicht Daum. schafft, wo Mitstreiter zu ha- “ ben wären, zeigt das Ringen ZUM PRÄSIDENTEN DES TÜBINGER um die Reform der Zivilpro- LANDGERICHTS BEI EINER DISKUSSION: zessordnung. „Ich kann nur jeden bedauern, Im Juni vergangenen Jahres der Sie als Richter hat. hatten die Landesjustizminis- ter die Pläne der Bundeskol- ÜBER DIE HOMO-EHE: “ legin, die dreistufige Zivilge- „Alle Einwände, die von der einen richtsbarkeit zu straffen, noch oder anderen Seite vorgebracht einstimmig gebilligt. Heute ar- gumentieren selbst SPD-Kol- wurden oder werden, das sei mit legen vehement gegen die Mi- unserer Verfassung nicht in Einklang nisterin. Nur knapp entging zu bringen, laufen ins Leere. der Reformentwurf einer Ab- “ lehnung im Bundesrat. Kater- stimmung hernach bei den SPD-Ministerpräsidenten. Ein resigniertes „Das hat keinen Zweck mit Herta“ mach- te die Runde. Was war passiert? Die Welt war gegen die Ministerin. Seit jener einhelligen Kon- ferenz seien zehn Justizminister ausge- tauscht worden, begründet Däubler-Gmelin

M. DARCHINGER den Stimmungswandel. Das hätte, ohne ihr Justizministerin Däubler-Gmelin: „Da können Sie sich aufhängen oder weitermachen“ Zutun, das politische Umfeld verändert. Oder war die Ministerin uneins mit der Welt? Sie nehme Einwände nicht zur MINISTER Kenntnis, klagen Kollegen aus den Län- dern: „Sie telefoniert ständig, aber die anderen kommen nicht zu Wort. Und nach- Gegen den Rest der Welt her sagt sie: Ihr habt doch nicht wider- sprochen.“ Was aber soll einem schlaf- An ihrer Kompetenz zweifelt eigentlich niemand, aber mit trunkenen Telefon-Opfer auch einfallen, dem mitten in der Nacht die Bundesjustiz- Streitlust und Rechthaberei ministerin persönlich noch einmal ihre Re- verprellt Herta Däubler-Gmelin selbst ihre Freunde. formpläne erklärt? Sie kümmert sich am liebsten selbst um n ihrer Wut greift die Frau zum Flam- tionsgrenzen hinweg einander rieten: „Beim möglichst vieles – eine Neigung, die auch menwerfer. Es zischt und faucht, rotes nächsten Mal bringst du besser eine kugel- im eigenen Haus nicht nur auf Gegenliebe IFeuer saugt und züngelt, und wo eben sichere Weste mit.“ Im Ministerium bekam stößt. Als sie antrat, erinnert sich Däubler- noch eine behände Schar Termiten krab- ein Besucher, nur halb im Scherz, vor dem Gmelin, seien die Beamten „zu Eis erstarrt, belte, prangen kleine rote Kleckse. Ent- Eintreten in ihr Büro den Rat: „Im Notfall wenn ich sie direkt anrief und fragte, ob sie spannt lehnt sich Herta Däubler-Gmelin flach hinlegen und auf Hilfe warten!“ mir ihre Aktenvermerke mal erklären zurück, wählt aus dem Menü ihres Com- Achtung, streitbare Herta: Seit Juso-Zei- könnten“. Zur Verunsicherung beigetra- puterspiels „Stressreducer“ die Wasserpis- ten hängt der blitzgescheiten Juristin der gen haben mag ihre Überzeugung, dass tole und tilgt die Spuren des imaginären Ruf einer resoluten Kombattantin an. Eine man durch diese Kontakte „sehr schnell Massakers vom Bildschirm ihres Laptops. Frau vom Fach, wortmächtig und parla- feststellt, wer gut ist und wer nicht“. Auch im wirklichen Leben schießt sie mentserfahren, die sich bisweilen aufführt, Müssen Frauen so sein, um sich in der scharf, wenn auch nur mit Worten. Das aber als habe sie als Ministerin amtlichen An- Macho-Machtwelt der Politik durchzuset- bisweilen so heftig, dass Mitglieder des spruch auf Unfehlbarkeit. zen? Bringt, wer immer nett und voller Rechtsausschusses nach einer bewegten Lieber verzichtet sie, zumindest vor- Rücksicht ist, es bis zur Bundesjustizminis- Debatte mit ihr jüngst über alle Frak- übergehend, auf ihren Ministersessel als terin? „Ohne die Bereitschaft, anderen ge-

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Werbeseite Deutschland legentlich die Augen auszukratzen, wäre sie des Großbürgertums im Ka- nicht, wo sie ist“, meint ein Weggefährte. binett – sie aus einer Tübin- Als Frau „bella figura“ im Kabinett zu ger Gelehrtenfamilie, er mit machen ist nicht leicht. Zicke oder Zim- einem Fabrikdirektor und ei- perliese – die Etiketten werden leichthändig nem Freund von Karl Marx verteilt. Da mag Bundeskanzler Gerhard in der Ahnentafel – ähneln Schröder die „prima Arbeit“ seiner Minis- einander fatal: Jeder fühlt terinnen loben – in den Medien kommt bis- sich dem anderen überlegen lang keine der Regierungsdamen gut weg: und hält sich selbst für die Die grüne Gesundheitsministerin Fischer gilt erste und letzte Instanz. als zu weinerlich, Familienministerin Berg- Wenn beide gemeinsam mann (SPD) als zu sanft und Forschungsmi- nach Brüssel fliegen, weil nisterin Bulmahn (SPD) als zu bescheiden. dort Innen- und Justizthe- Nur Entwicklungshilfeministerin Wieczo- men im EU-Ministerrat stets

rek-Zeul (SPD) wird getätschelt – aber die zugleich auf der Tagesord- H. DARCHINGER J. leicht schrullige „rote Heidi“ bleibt sie doch. nung stehen und natürlich Däubler-Gmelin, Genossen*: „Verehren oder Drauftreten“ Herta Däubler-Gmelin ist weder wei- für beide Minister nur eine nerlich noch sanft, noch bescheiden. Ihre Luftwaffenmaschine von Berlin dorthin trauische Schärfe in 30-jähriger Erfahrung Kompetenz wird nicht einmal von ihren fliegt, wächst sich in der Challenger bis- im Macker-Milieu der Sozialdemokraten Gegnern angezweifelt. Sie hat Kraft, Ehr- weilen die Wahl des Sitzplatzes zur Macht- bekommen. geiz und Erfahrung. Mit ihrem Juristen- frage aus. Gerade weil sie 1988 nach dem Quoten- Kollegen Otto Schily kann sie es im Kabi- Diven unter sich? Auch. Aber Herta beschluss der SPD als erste Frau zur stell- nett wohl aufnehmen. Sollte sie nicht auch und die Männer, das ist ohnehin ein vertretenden Parteivorsitzenden gewählt mit ihm auskommen können? Erstmals lie- schwieriges Kapitel. Auffallend oft sind es wurde, legte Herta Däubler-Gmelin immer gen in einer Koalitionsregierung Justiz- Männer, die sich von ihr heruntergeputzt, Wert darauf, unabhängig vom Geschlecht und Innenressort in der Hand einer Partei. geschulmeistert fühlen. Aber im Polit-Ge- als Fachpolitikerin anerkannt zu werden. Dies, so hoffte die Fachwelt, würde die schäft muss sie sich ja auch, zumal auf Eindeutig entschied sie sich gegen die Rol- natürliche Konkurrenz der beiden Verfas- Führungsebene, vor allem mit Männern le als Anwältin ihrer Geschlechtsgenossin- sungsministerien mindern. auseinander setzen. Der selbst in der nen: „Frauenfragen zu vertreten ist, als Doch Herta Däubler-Gmelin und Otto schwäbischen Mundart oft schneidende Schily bekriegen einander, wo immer sich Ton der Ministerin, ihre fast reflexhafte * Bei ihrer Wahl zur stellvertretenden Parteichefin auf ein Thema findet: Homo-Ehe, Zuwande- Abwehrhaltung gegen Feinde und biswei- dem Parteitag in Münster im September 1988 mit Oskar rung, Datenschutz. Die beiden Vertreter len selbst gegen Freunde haben ihre miss- Lafontaine, Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau. Zu Gunsten eines Man- sitz – und verlor gegen Hans-Ulrich Klose. nes, nämlich ihres eigenen, Im Frühjahr 1993 schlug ihre Partei sie als verzichtete sie 1981 auf das Richterin für das Bundesverfassungsgericht Amt der Familiensenatorin vor, ohne zuvor, wie üblich, diskret das in Berlin, das ihr von ihrem Einverständnis der Union auszuloten. Die Vorbild Hans-Jochen Vogel Konservativen fühlten sich überfahren und angetragen worden war. Sie lehnten sie als „zu politisch“ ab. Selbst ihre hatte eigentlich schon zuge- juristische Qualifikation stellten sie in Fra- sagt, als sich im letzten Mo- ge. Nach zermürbenden neun Monaten ment ihr Mann querlegte. verzichtete sie auf ihre Nominierung. Zwei Kinder, die ohnehin Das Gefühl, als Frau in der Politik noch häufig von der Großmutter härter kämpfen zu müssen, ließ Herta betreut wurden, seine Tätig- Däubler-Gmelin danach wohl nie wieder keit als Professor in Bremen, los. „Die Männer suchen sich was zum

S. BONESS / IPON ihre Arbeit als Politikerin in Verehren oder zum Drauftreten“, resü- SPD-Ministerinnen*: Zicke oder Zimperliese Bonn schienen ihm genug mierte sie einmal gegenüber der Münchner Belastung für die Familie. Journalisten Cathrin Kahlweit ihre Erfah- wäre man Negersprecher in Südafrika – Sie gab Vogel einen Korb. Ausgerechnet rungen als Frau in der Politik. „Auf der ei- man wird zur wandelnden Klagemauer.“ jenem Mann, der sie als eine der wenigen nen Seite wird erwartet, dass man die Män- Dabei hatte sie schon zu Beginn ihrer Kar- pries, „auf die man sich unbedingt verlassen ner anbetet, kooperieren kann. Gleichzei- riere gelernt, dass sie gelegentlich tricksen konnte“. Ihr Fazit damals: „So etwas ist un- tig sollen Frauen durchsetzungsfähig sein.“ muss, um in der Politik voranzukommen. angenehmer, als nachts nackt auf der Kreu- Mit dem Anbeten tut sich Herta Däubler- Bei ihrer ersten Kandidatur für ein Bundes- zung zu stehen. Aber es war halt so. Da kön- Gmelin schwer – schon weil es aus ihrer Sicht tagsmandat im Jahr 1972 waren ihre Gegner nen Sie sich aufhängen oder weitermachen.“ an anbetungswürdigen Objekten mangelt. fünf Männer – und sie selbst hochschwanger. Sie machte weiter, als Oppositionspoli- Das Paradoxe ist: Jenseits aller Überlegen- Um sich nicht gleich als vermeintliche Ra- tikerin in Bonn und stieg bis zur Vize-Par- heitsrhetorik vermittelt sie bis heute nicht benmutter jeder Chance zu berauben, ver- teichefin auf. Dann schien die oberste das Gefühl, es geschafft zu haben. Kam der barg sie den Bauch unter weiten Röcken und Sprosse der Karriereleiter erreicht. Die Erfolg zu spät, um Gelassenheit zu ge- Jacketts, ertrug den Genossenspott, sie kön- neunziger Jahre waren für Herta Däubler- währen? Oder wird sie dem eigenen Perfek- ne ruhig ein wenig abspecken – und gewann. Gmelin, bis zum Wahlsieg im Herbst 1998, tionismus nicht gerecht? Ideale können eine vor allem ein Jahrzehnt der Niederlagen. destruktive Kraft entwickeln. Die Ministe- * Edelgard Bulmahn, Herta Däubler-Gmelin, Christine Im Oktober 1991 bewarb sie sich, auf Vo- rin mag sich klüger fühlen als der Rest der Bergmann, Heidemarie Wieczorek-Zeul. gels Drängen, um den SPD-Fraktionsvor- Welt – einsamer ist sie auch. Susanne Fischer Werbeseite

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zig eingestuften Sportclub eine getarnte Organisationsbasis für Rechtsradikale. RECHTSRADIKALE Vor dem Hintergrund eines möglichen NPD-Verbots, so ihr Verdacht, könnten Vereinsgründungen wie die des FC Ger- Ins Leere laufen mania Indizien für den Versuch von Neo- nazi-Kadern sein, lange vor einem NPD- Von Rechtsextremisten gegründete Fußballvereine Verbot durch das Bundesverfassungsge- richt eine neue, legale Untergrundstruktur geben Ermittlern bundesweit Rätsel auf. Bereiten sich zu schaffen – in unpolitischer Maske. Neonazis so auf ein mögliches NPD-Verbot vor? Direktiven für die Bildung solcher Rück- zugszonen liefert das nationalistische Schu- ie rechte Flanke des FC Germania zur Halbzeit des Spiels gegen Lychen mit lungsorgan „Weg und Ziel“, herausgege- Templin ist offen wie ein märki- 0:8 zurück. ben von Steffen Hupka, bis zum März Dsches Scheunentor. Seelenruhig Fußball in der zweiten Kreisklasse der NPD-Vorstandsmitglied und früher Schu- marschiert der gegnerische Stürmer auf brandenburgischen West-Uckermark ist lungsleiter der inzwischen verbotenen den Templiner Strafraum zu. „Geht ran da, nichts für filigrane Techniker. Doch schie- „Nationalistischen Front“. Zur Festigung ihr Schwuchteln!“, brüllt der Torwart sei- re Kraft ist eben auch keine Sieg-Garantie. der „geistigen und seelischen Kampfkraft“, ne Verteidiger an, die lustlos an der Mit- Die Kameraden vom Fußballclub Germa- heißt es da, diene besonders die „Meiste- tellinie herumlungern. Doch schon fliegt nia Templin erinnern eher an eine teuto- rung von Aktionen und Freizeiten“; „ge- der Ball ins Netz – der FC Germania liegt nische Sturmabteilung als an einen zivilen meinsame Erfolgserlebnisse“ würden den „Zusammenhalt der Grup- pe“ fördern. Für die Tar- nung gelte: „Wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, sollte der Name NPD nicht in Erscheinung treten.“ Helmut Klein, Chef- ermittler des Polizeipräsidi- ums Eberswalde, vermutet, dass beim FC Germania ge- nau diese Vorgaben umge- setzt wurden: „Das ist die Taktik, Verbote ins Leere laufen zu lassen.“ Der Sport bietet zudem – ein willkommener Neben- effekt – neue Rekrutie- rungsmöglichkeiten. „Ein Fußballspiel ist vielen Ju- gendlichen lieber als ver- staubte Nazi-Nostalgie, da werden gezielt rechte Er- lebniswelten geschaffen“, weiß ein Kenner der Szene aus Nordrhein-Westfalen. Auch dort scheint die Infiltration bestens zu funktionieren: So unterhielt der NPD-Kreisverband

K. MEHNER Recklinghausen eine brau- Germania-Fußballer: Die Socken hoch, die Senkel fest geschlossen ne Nachwuchsmannschaft, den SC Valhalla. Die Dort- Sportverein: Die Socken hoch, die Senkel munder NPD zog vor kurzem nach und fest geschlossen, tragen sie zu schwarzen rief auch einen Club ins Leben. In Sporthosen weiße Trikots mit blutrotem Bayern registrierten Verfassungsschützer Fraktur-Aufdruck. Das reichskriegsfarbe- ebenfalls Vereinsgründungen im Umfeld ne Outfit wird durch Kurzhaarschnitte – der NPD. wahlweise kahl rasiert oder messerscharf Die desaströse Bilanz der Templiner gescheitelt – ergänzt; auf der Kickerbrust Fußball-Germanen lässt selbst Laien ah- wirbt der örtliche Brennstoffhändler. nen, dass das Hauptinteresse der Kamera- In Fußballkreisen sorgten die strammen den nicht unbedingt dem Fußball gilt: Sieg- Glatzen-Kicker zunächst nur als Toreliefe- los steht die Glatzen-Truppe auf dem letz- ranten und durch ihr radikales Äußeres ten Tabellenplatz – mit null Punkten und (Liga-Spott: „Da kommen die Nazis“) für einem Torverhältnis von 14:120. Aufsehen. Doch inzwischen beschäftigt der Eine andere Statistik legt nahe, was die

C. DITSCH / VERSION C. DITSCH Verein Polizei und Staatsanwaltschaft: Er- Sonntagskicker eher umtreibt: Ein gutes NPD-Demonstration in Berlin mittler vermuten hinter dem im Juni ge- Dutzend der rund 20 Gründungsmitglie- „Müll zur Tonne gebracht“ gründeten und inzwischen als gemeinnüt- der ist einschlägig vorbestraft. „Wir sind“,

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Werbeseite Deutschland C. DITSCH / VERSION C. DITSCH NPD-Redner Hupka (im August in Halle): „Aktionen für die geistige Kampfkraft“ sagt Ermittler Klein, „über die ideologi- dachts der Verwendung von Kennzeichen sche Gratwanderung der Mehrzahl der verfassungswidriger Organisationen“. Mitglieder informiert.“ Die Eintragungen Theis kann nicht erklären, wie die Ansage reichen von einer Verurteilung wegen Kör- auf seine Mailbox gelangte. perverletzung bis zu Strafen für Propa- Der Verein selbst, der sich laut Satzung gandadelikte oder Volksverhetzung. Mal besonders die „Förderung der Jugend“ auf wurden die Sportsfreunde am Info-Tisch seine Fahnen geschrieben hat und „steu- der NPD gesichtet, mal bei Zusammenrot- erbegünstigte Zwecke“ geltend macht, tungen von Skinheads. konnte bisher weder polizeilich noch juris- Germanen-Kulturwart Denny B. (Spitz- tisch belangt werden. „Wir sind immer name „Nazi“) ist für seine Vorliebe von dann präsent, wenn die Vereinstätigkeit im rechten Aufmärschen bekannt, während Zusammenhang mit Straftaten steht oder Vereinschef Dirk Brose offenbar gern aus- Straftaten drohen“, sagt Ermittler Klein. gelassen mit Kameraden feiert: Im August Ansonsten könne man nur „aufmerksam lösten Beamte eine Party in dessen Garten machen“ und versuchen, die „kommuna- auf; randalierende Gäste hatten – so ver- len Verantwortungsträger zum Hinschauen meldete die Polizei – das verbotene „Heß- zu bewegen“. Der zuständige Kreissport- Gedenklied“ gegrölt und mehrfach „Sieg bund gibt sich derweil etwas ratlos: Man Heil“ gerufen. Unter den Festgenomme- könne doch bei Vereinsgründungen keine nen befanden sich auch Freunde aus dem Gesinnungsüberprüfung vornehmen. Fußballclub. „Was die Jungs in ihrer Frei- Auf dem Rasen präsentieren sich die zeit machen, ist ihre Sache“, ließ der Gast- Kahlköpfe von Germania Templin zudem geber später wissen, „aber der Verein ist als Saubermänner. „Unsportliches oder sauber und unpolitisch.“ vereinsschädigendes Verhalten“, sagt Bro- Germania-Boss Brose, früher ABM- se, werde eben auf keinen Fall geduldet. Kraft bei der Volkssolidarität, gibt aber im- Auch das klingt nach den NPD-Vorgaben: merhin zu, dass „einige“ seiner Mitglieder Wer es an Loyalität und Disziplin vermis- „ihrer Einstellung nach eher rechts“ seien, sen lasse, heißt es im Schulungspapier, was „ja auch gut und richtig“ sei. Mit dem „muss gnadenlos entsorgt werden … Müll Fußball wolle man den „Jugendlichen le- muss umgehend zur Tonne gebracht wer- diglich eine sportliche Perspektive“ geben den“. und sie „von der Straße holen“. „Bis jetzt“, weiß der zuständige Staffel- Umso merkwürdiger wirkt da die Band- leiter Manfred Ehrlich, habe die von Hau- ansage, die bis vor kurzem die Mailbox se aus so kampferprobte Truppe „nicht von Germania-Vize Ronny Theis ankün- eine gelbe Karte gesehen“. Der Verein sei digte. Wer die Handy-Nummer, mit der „ungewöhnlich fair“. der Verein öffentlich nach einem Schieds- So kommt es zu menschelnden Sze- richter suchte, anrief, hörte eine düste- nen im rauen Milieu der zweiten Kreis- re Männerstimme: „Sie sind verbunden klasse: Die tumben Blut-und-Boden- mit der Mobilbox von ,Blood and Kicker wecken wegen ihrer augenschein- Honour‘.“ lichen Talentlosigkeit oft Mitleid bei Die mögliche Verbindung zu der seit den Gegnern. Nach dem Schlusspfiff in September verbotenen Skinhead-Organi- Lychen – die Templiner hatten mit 0:13 sation dürfte den Fußballfreund jetzt in Er- verloren – spendete einer der Gastge- klärungsnöte bringen: Die Staatsanwalt- ber fußballerischen Trost: „Jungs, macht schaft Neuruppin prüft die Einleitung eines euch nichts draus – ihr müsst halt weiter Ermittlungsverfahrens wegen des „Ver- üben.“ Stefan Berg, Sven Röbel

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tae bereits zwölf Filialen, die meisten in NRW, wo das Land 81 Prozent der Kosten KIRCHE übernimmt. Bayern zahlt sogar 95 Prozent. Der Zulauf ist einfach zu erklären: Auf päpstliche Anweisung sind drei deutsche Rebellion gegen Rom Bistümer bereits aus der staatlichen Schwangerenkonfliktberatung ausgestie- Die katholische Kirche verschärft den Streit um die Schwangeren- gen. Die Diözesen Köln, Paderborn und Speyer stellen keine Beratungsscheine konfliktberatung. Der Vatikan will den Gläubigen mehr aus. 23 weitere werden bis Jahresen- verbieten, beim Katholiken-Verein „Donum vitae“ mitzumachen. de folgen. Viele der einst bundesweit über 260 katholischen Stellen – meist von Cari- on ihrer neuen Arbeitsstelle ist tas und dem Sozialdienst katholischer die katholische Diplom-Pädagogin Frauen (SkF) betrieben – werden V„ganz begeistert“. Jeden Werktag schließen, da für sie die öffentlichen Gel- macht sich Ilse Lipka-Hartmann auf den der wegfallen. Weg in die Bonner Beratungsstelle des pri- Die Lücke, welche die Kirche hinterlässt, vaten Vereins „Donum vitae“. Dort führt will Donum vitae möglichst flächen- die 56-Jährige „ergebnisoffene Gespräche“ mit Frauen, die einen Schwangerschafts- Katholische Beratung – ohne Kirche abbruch erwägen. Am Ende stellt sie auf Wunsch den vom Gesetz vorgeschriebe- „Donum vitae“-Beratungsstellen nen Beratungsschein aus. Damit kann jede Bereits arbeitend Frau frei darüber entscheiden, ob sie legal ab Januar 2001 geplant abtreiben will oder nicht. Die Nachfrage ist groß: In den wenigen Monaten seit der Eröffnung im Sommer ka- Kiel men über 60 Frauen in die Bonner Breite Straße. Ähnlich ist der Zulauf in an- Neumünster

REUTERS deren Städten, in denen der von ka- Papen- Schein-Gegner Johannes Paul II. tholischen Laien vor Jahresfrist ge- burg Brake Kirchenbann für unbotmäßige Laien? gründete, von der offiziellen Kirche unabhängige Verein Beratungsstellen Wildeshausen Vechta Berlin aufgemacht hat. Im nordrhein-west- fälischen Neuss etwa stößt Donum Georgsmarienhütte vitae nicht nur bei schwange- Hildesheim Potsdam ren Frauen, sondern auch bei Höxter Ärzten und Behörden auf große Zustimmung. Auch in Köln, Düsseldorf, Höxter oder Heiligenstadt Wuppertal hat sich Donum vi- tae inzwischen etabliert. Die Gießen Erfurt Beraterinnen begleiten die Bistum Fulda Suhl Frauen auf deren Wegen zu Limburg

M. GLOGER / JOKER M. GLOGER Ämtern und Behörden, besor- Bitburg Bamberg „Donum vitae“-Beraterin Lipka-Hartmann gen Geld oder Wohnungen. Weiden Darmstadt Aschaffen- „Ergebnisoffene Gespräche“ Insgesamt betreibt Donum vi- burg Nürnberg Ludwigshafen Scheine für Schwangere Die Gründung von „Donum vitae“ Regensburg Stuttgart München 11.Januar 1998 über ihre Haltung zur wegen auf, den Bera- um eine von der Passau Papst Johannes Paul Konfliktberatung ab. tungsschein um den Kirche unabhängige Neu-Ulm II. fordert die deut- Die Mehrheit favori- Satz „Diese Beschei- katholische Konflikt- Sigmaringen schen Bischöfe auf, siert einen alterna- nigung kann nicht zur beratung zu organi- Wege zu finden, tiven „Beratungs- Durchführung straf- sieren. Memmingen damit die über 260 und Hilfeplan“, mit freier Abtreibungen katholischen Be- dem Frauen aller- verwendet werden“ 1.Januar 2000 dings immer noch zu ergänzen. Das Als Erstes steigt das ratungsstellen keine 15.September der Unterstützung Beratungsscheine abtreiben könnten. bedeutet faktisch Bistum Paderborn und 30.Oktober 2000 den Ausstieg aus der von Donum vitae. mehr ausstellen. 3.Juni 1999 aus dem System der Konfliktberatung. Kardinal Joseph Ratzin- 25.Februar 1999 Papst Johannes Paul staatlichen Konflikt- ger, Chef der vatikani- 1.Januar 2001 Die Bischöfe stimmen II. fordert die deut- 24.September 1999 beratung aus, gefolgt schen Glaubenskongre- Alle deutschen Bistümer, in Lingen geheim schen Bischöfe des- Katholische Laien, von Speyer und Köln. gation, und der Nuntius voraussichtlich bis auf darunter zahlreiche Gleichzeitig entste- des Papstes in Deutsch- Limburg, beenden Politiker der CDU und hen die ersten Be- land, Giovanni Lajolo, ver- die Konfliktberatung. der SPD, gründen in ratungsstellen von senden „private“ Briefe, Über 90 Beratungs- Fulda den Verein Donum vitae in Hom- u. a. an Bayerns Minister- stellen von Donum vitae „Donum vitae“ (Ge- burg/Saar und Nord- präsidenten Edmund übernehmen bundesweit Donum vitae schenk des Lebens), rhein-Westfalen. Stoiber, und warnen vor diese Aufgabe.

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Werbeseite Deutschland deckend füllen. Anfang kommenden Der Apostolische Nuntius in Deutschland, Jahres sollen bundesweit 90 Beratungs- Erzbischof Giovanni Lajolo, legte in Ratzin- stellen arbeiten. Das Personal rekrutiert gers Auftrag Ende Oktober nach. In einem sich vor allem aus bisherigen Mitarbeitern Schreiben an einige konservative Katholi- von Caritas und SkF. In der zum Bistum kinnen, die um Klärung von oben gebeten Paderborn gehörenden Stadt Höxter wech- hatten, betont der päpstliche Gesandte in selte die gesamte SkF-Belegschaft zur bestem Kirchendeutsch: Bei der Anweisung Donum-vitae-Beratungsstelle, nachdem ein Seiner Heiligkeit, keine Scheine mehr aus- halbes Jahr lang keine Frauen mehr zustellen, handele es sich um eine „Feststel- zur Konfliktberatung erschienen waren. lung lehrmäßiger Natur“, die der Papst „in Auch in Bayern werden in den nächsten Feststellung seines obersten Hirtenamtes“ Wochen oft nur die Türschilder aus- verfügt habe. Sie binde damit auch Laien. gewechselt. Der Verein Donum vitae befinde sich „in of- Donum vitae ist deutschlandweit bereits fenem Widerspruch“ zum Pontifex. gut vernetzt. Zwölf Landesverbände bau- Ratzinger selbst fügte bei einem Vortrag en die Filialen des Vereins auf. Eine Bun- in Regensburg die Drohung an, die Amts- desgeschäftsstelle in Bonn kümmert sich kirche wolle „jetzt nicht mit dem Büttel um die Öffentlichkeitsarbeit wie etwa beim drohen“. Noch nicht? Für unbotmäßige Internet-Auftritt (donumvitae.org). Das Fa- Mitglieder hält der Vatikan nach wie vor milienministerium stellte vergangene Wo- die Exkommunikation, den Kirchenbann, che 450000 Mark bereit, um die Qualifi- bereit. Der fromme Norbert Blüm auf sei- zierung der Mitarbeiter zu fördern. Rund ne alten Tage im Kirchenbann? 7000 private Spender stifte- Der deutsche Episkopat ten bislang schätzungsweise hat inzwischen hinreichend mehr als eine Million Mark. seine Rom-Treue bekundet: Rückendeckung und Bei- Vergangene Woche verab- stand bekommen die Ab- schiedete die Bischofskon- trünnigen von prominenten ferenz neue Richtlinien zur Laien aus den eigenen Rei- Schwangerenberatung, in hen. Zu den Gründern denen die Oberhirten die und Mentoren gehören noch existierenden offiziel- zahlreiche Unionspolitiker len kirchlichen Beratungs- wie die Ministerpräsiden- stellen auf strikte Distanz ten von Baden-Württem- zur Laien-Konkurrenz ver- berg und Thüringen, Erwin pflichten. Mit einer fünf Teufel und Bernhard Vogel, Millionen Mark teuren der CDU-Altlinke Norbert Kampagne wollen die Blüm und der sächsische Bischöfe zudem für ihre ei-

Wissenschaftsminister Hans DPA genen Beratungszentren Joachim Meyer, zugleich Schein-Befürworter Kamphaus werben. Präsident des Zentralkomi- Widerspruch zum Papst ZdK-Präsident Meyer tees der deutschen Katholi- fürchtet einen internen ken (ZdK). Die CSU ist unter anderem Kirchenkampf: Der Vatikan wolle die Zeit durch ihren Landtags-Fraktionschef Alois um 50 Jahre zurückdrehen und Katholi- Glück vertreten. ken „allen Ernstes ihre staatsbürgerlichen Die Unbotmäßigkeit der deutschen Rechte bestreiten“. Der Freiburger Religi- Schäflein erbost vor allem den obersten onssoziologe Michael Ebertz sieht im Streit Glaubenswächter der katholischen Kirche, um Donum vitae einen „Grundkonflikt um Kardinal Joseph Ratzinger, 73. In einem das Gehorsamsprinzip in der katholischen Brief an Bayerns Ministerpräsidenten Ed- Kirche“. mund Stoiber bezichtigte er die Macher Nur ein deutscher Oberhirte will – kom- von Donum vitae, sie trügen „auf Dauer ei- me aus Rom, was wolle – seiner Moral treu nen tiefen Riss in die Kirche“, und forder- bleiben und aus der Phalanx seiner Kon- te den CSU-Chef auf, „sich dieser Vorgän- fratres ausscheren: Der Limburger Bischof ge anzunehmen“. Franz Kamphaus hat wissen lassen, er wer- Die Laien-Initiative, so der Kardinal, zie- de weiterhin in kirchenamtlicher Regie Be- le auf eine weit gehende Autonomie der ratungsscheine ausstellen lassen. Bislang einfachen Gläubigen gegenüber der Amts- gäbe es „noch keine glaubwürdige Alter- kirche ab – für Ratzinger ein fast blasphe- native“ zur staatlichen Konfliktberatung. misches Unterfangen, obwohl das Zweite Wie der Vatikan auf den ersten offenen Vatikanische Konzil den Laien ausdrück- Ungehorsam eines deutschen Bischofs seit lich zugestanden hat, sie könnten sich zur 1871 reagieren könnte, steht dahin. Damals Durchsetzung politischer und ethischer rebellierte der Rottenburger Bischof Carl Ziele auch ohne den Segen der klerikalen Joseph von Hefele gegen das Dogma der Obrigkeit zusammentun. Unfehlbarkeit – und beugte sich wenig spä- Doch Stoiber blieb stur: Sein Freistaat fi- ter römischem Druck. Doch die Zeiten ha- nanziert künftig nur noch Donum vitae, ben sich geändert: Disziplinarmaßnahmen die kirchlichen Beratungsstellen erhalten gegen Kamphaus wären ein Eklat mit un- keine staatlichen Gelder mehr. kalkulierbaren Folgen. Peter Wensierski

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Die Bundesanwaltschaft wirft ihr vor, 1988 im andalusischen Rota an einem fehl- JUSTIZ geschlagenen Sprengstoffanschlag beteiligt gewesen zu sein. Das Attentat, so hieß es zunächst, habe US-Soldaten vom nahen Phantome der Fahnder Nato-Stützpunkt gegolten. Wegen der Menge des benutzten Sprengstoffs und ei- In Stammheim beginnt einer der letzten RAF-Prozesse. ner perfiden Schrapnellfalle hätte es ver- mutlich ein Blutbad gegeben. Der Mord- Das Verfahren gegen Andrea Klump beleuchtet das plan scheiterte, weil eine Zündkapsel vor- größte Fahndungsfiasko der deutschen Polizeigeschichte. zeitig wegbrannte. Die Täter flüchteten, lieferten sich mit spanischen Polizisten ein Feuergefecht und nahmen schließlich ein englisches Camper- Paar sowie dessen Sohn als Geiseln – be- vor sie dann in Sevilla unerkannt entkom- men konnten. Mit keinem Wort ist Andrea Klump bis- lang auf den Vorwurf des versuchten Mor- des und der Entführung eingegangen. Statt- dessen bestreitet sie, je der Roten Armee Fraktion angehört zu haben. Dass sie ab- tauchte, habe nur einen Grund gehabt – nämlich einer „verschärften staatlichen Re- pressionspolitik“ zu entgehen. Etliche Mitglieder der zweiten RAF-Ge- neration hatten schon Anfang der achtziger

WECO Jahre mit Stasi-Hilfe in der DDR abtau- chen können, andere stan- den vor Gericht oder ver- büßten bereits Haftstra- fen. RAF-Sympathisanten wie Andrea Klump oder DIE ENKEL DER das Ehepaar Barbara und RAF-GRÜNDER Horst Ludwig Meyer la- Erschossener RAF-Verdächtiger Meyer (1999) Jahrelang hingen überall gen ständig im Faden- Im Zelt in der Wildnis gehaust die Konterfeis angeblicher kreuz der Ermittler. Terroristen – auf Bahnhö- Monatelang lebten ängst sind die überdimensionalen fen, in Amtsstuben und Klump und die Meyers Steckbriefe („Vorsicht Schusswaf- hier zu Lande im Unter- fen!“) abgehängt. Staatsschützer hat- Flughäfen. Über die so ge- grund, ehe sie Anfang L nannte dritte Generation ten den Terrortrupp Rote Armee Fraktion 1986 nach Norwegen ver- (RAF) schon für tot erklärt, bevor die der RAF, der die Verdäch- schwanden. Dort hausten RAF selbst im März 1998 ihr Ende mit den tigen zugeordnet wurden, sie in einem Zelt in der Worten verkündete, sie sei „nun Ge- war und ist dem Bundes- Wildnis. Später gingen sie schichte“. kriminalamt und der Bun- AP für kurze Zeit zurück Diese Geschichte wird von Dienstag die- desanwaltschaft nur we- nach Deutschland, um ser Woche an wieder lebendig. Vielleicht nig bekannt. Andrea Klump muss sich sich mit einer RAF-Frau zu treffen, die spä- zum letzten Mal muss sich im Gerichts- jetzt vor Gericht verantworten, ihr ter zu lebenslanger Haft verurteilt werden bunker des Gefängnisses von Stuttgart- Freund Horst Ludwig Meyer wurde bei sollte – Birgit Hogefeld. Stammheim eine Frau gegen den Vorwurf einem Schusswechsel im September Nach BKA-Erkenntnissen finanzierte Bir- verteidigen, Mitglied der RAF gewesen zu 1999 in Wien getötet. Seine geschiede- git Hogefeld den Flüchtenden die Weiter- sein: Andrea Klump, 43, ehedem Studen- ne Frau Barbara Meyer hatte sich ver- reise ins Exil – über Wien, Bulgarien, die tin der Völkerkunde und der Soziologie. gangenes Jahr gestellt, mittlerweile be- Türkei nach Syrien. Bevor sie dann in den Knapp drei Jahrzehnte lang existierte Libanon gingen, wurden sie von Mitgliedern die RAF. Ihr Kampf kostete auf beiden Sei- findet sie sich auf freiem Fuß. Die Er- der Volksfront zur Befreiung Palästinas ten mehr als 50 Menschen das Leben. Aber mittlungen gegen sie wegen Raubes (PFLP) zwei Monate militärisch gedrillt, „zur bis auf ein Bombenattentat in Frankfurt ist und Mordversuchs stehen vor dem Ab- Selbstverteidigung“, so Andrea Klump. „Im von den seit 1985 begangenen Verbrechen, schluss. Der Vorwurf gegen Christoph Libanon herrschte damals Krieg.“ zu denen sich die RAF bekannte, kein ein- Seidler, 1989 am Mord an Bankier Al- Ihre Freundin Barbara Meyer arbeitete ziges aufgeklärt – was als größtes Fahn- fred Herrhausen beteiligt gewesen zu erst in einer Schreibstube der PFLP und dungsfiasko in der deutschen Polizeige- sein, ist längst fallen gelassen. Ernst- später in einem Krankenhaus. Die Meyers schichte gilt. Volker Staub, der schon einmal wegen lebten bereits getrennt, mittlerweile waren Während die RAF-Gründer und ihre Mitgliedschaft in einer terroristischen Horst Ludwig Meyer und Andrea Klump unmittelbaren Nachfolger nach und nach Vereinigung im Gefängnis saß, ist eben- ein Paar. ins Netz gingen, blieben die Terror-Enkel so untergetaucht wie Daniela Klette und Seither blieb vieles im Dunkeln, und weitgehend Phantome. Fahnder nennen Sabine Elke Callsen. je weniger die Fahnder wussten, desto grö- sie die dritte Generation, und zu ihr zähl- ber wurden die Beschuldigungen. Barba- ten sie auch Andrea Klump. ra Meyer galt plötzlich als „Staatsfeind

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Werbeseite Deutschland DPA Verhaftete Klump (in Wien 1999): Ausweise unterm Dielenbrett

Nr. 1“, die „Bild am Sonntag“ nannte An- nermeldeämter Dortmund und Bochum – drea Klump „Todes-Lockvogel der Terro- korrekt eingetragen. „Unsere Kennzahl ist risten“, weil sie angeblich einem US-Sol- kein Geheimnis“, sagt ein Beamter der Bo- daten einen Hinterhalt bereitet hatte; dafür chumer Stadtverwaltung. gab es nie handfeste Hinweise, und nicht zu Dass schließlich bei beiden eine Spur belegen war, was ein psychisch Kranker nach Rota führte, ist das Ergebnis krimi- behauptet hatte: dass Klump zu den Mör- naltechnischer Untersuchungen. In einer dern des Deutsche-Bank-Vorstandsspre- Mütze, welche die Täter dort zurückließen, chers Alfred Herrhausen gehörte. wurden vier Haare entdeckt – eines ist, Doch dieser Vorwurf stand seit Januar nach einer DNA-Analyse, eindeutig Horst 1992 in einem internationalen Haftbefehl. Ludwig Meyer zuzuordnen. Auf einer Wo sich Andrea Klump und ihr Lebensge- handschriftlichen Notiz und auf einer Zi- fährte Horst Ludwig Meyer aufhielten, war garettenschachtel („Diana“) konnten zwei nicht bekannt. Sicher scheint nur, dass sie Fingerspuren gesichert werden, wahr- ab Oktober 1995 Unterschlupf bei einem scheinlich stammen sie von Andrea Klump. ahnungslosen Jurastudenten in Wien fan- Jetzt, lange nach Erhebung der Anklage, den. Sie als Heidi Prieri aus Dänemark, er wollen BKA und Bundesanwaltschaft ihr als Jens Jensen. dürftiges Ermittlungsergebnis präzisieren. Mitte Juli vergangenen Jahres fielen bei- Die nicht detonierten Sprengsätze, so die de auf, weil sie sich häufiger an einer neue Erkenntnis, hätten in Wahrheit einer Straßenkreuzung im Wiener Bezirk Do- Nato-Delegation gegolten, was für den Pro- naustadt herumtrieben. Offenbar kund- zess kaum einen Unterschied macht. Mit schafteten Meyer und Klump ein Objekt der Suche nach Belegen begannen BKA- aus – in der Nähe liegen mehrere Banken Beamte freilich erst kurz vor Prozess- und ein Wettbüro. Einige Wochen später beginn. wurde die Polizei alarmiert. Erst kam es zu Schon jetzt scheint klar, dass der Vor- einem Handgemenge, dann zum Shoot- wurf der RAF-Mitgliedschaft mangels Be- out: Meyer wurde getötet, ein Beamter ver- weisen nur schwer gehalten werden kann. letzt, Andrea Klump verhaftet. Zudem konnte die Bundesanwaltschaft Unter einem losen Dielenbrett in ihrer ihre ursprüngliche Behauptung nicht er- Wohnung fanden Ermittler zwei halbferti- härten, Andrea Klump sei an der Ermor- ge deutsche Personalausweise, die – so ein dung Herrhausens beteiligt gewesen. Die- Sachverständiger – echte Seriennummern ser Punkt fehlt in der Anklageschrift. der Bundesdruckerei trugen und somit Und auch der Vorwurf, Klump sei am „professionell gefälscht“ seien. Rota-Anschlag als RAF-Mitglied beteiligt Schon gab es Spekulationen über noch gewesen, wackelt erheblich: Für Rota gibt immer intakte Terrorstrukturen; nur Spe- es keinen Bekennerbrief. Die Terroristen zialisten seien in der Lage, solche Aus- hatten sich aber stets länglich verbreitet, weisnummern zu beschaffen. Einer Kon- selbst nach fehlgeschlagenen Attentaten. trolle jedoch hätten die Falschpapiere in Die inhaftierte RAF-Frau Hogefeld sagt, Wahrheit kaum standhalten können: Sechs sie wisse nicht, wer den Anschlag verübte: Ziffern der zehnstelligen Nummern waren „Ich weiß aber definitiv, dass es nicht die frei erfunden, lediglich die vierstelligen RAF war.“ Behördenkennzahlen – für die Einwoh- Georg Bönisch, Sven Röbel, Gerd Rosenkranz

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Werbeseite Deutschland Operation Puschkin Die Jagd nach dem Bernsteinzimmer (I) / Von Erich Wiedemann

INTERFOTO Bernsteinzimmer im russischen Schloss Zarskoje Selo (um 1930): Ein Phantom, eine Pracht – und eine gefährliche Leidenschaft

eue Spuren bei der Suche nach dem Bern- Den großen Brand im Königsberger Schloss nach steinzimmer: Das legendäre Kunstwerk aus dem Bombardement der Royal Air Force im August Ndem Katharinenpalast bei St. Petersburg, 1944 hat das Bernsteinzimmer überstanden. Nicht während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen ausgeschlossen, dass es von alten Nazis versteckt verschleppt und bei Kriegsende in Königsberg ver- wird. Mehrere Menschen haben den Versuch, das schwunden, beschäftigt eine Armada von Schatzsu- Geheimnis zu lüften, mit dem Leben bezahlt. Im- chern. Hinweise aus Stasi- und KGB-Archiven beflü- merhin: Ein Tipp aus dem Stasi-Milieu brachte den geln die Jagd nach dem Geschenk des Preußen-Kö- SPIEGEL auf die Spur eines Mosaiks aus dem Bern- nigs Friedrich Wilhelm I. an steinzimmer. Es wurde im Übergabe des Mosaiks : Produkt zweier Kulturen Zar Peter den Großen. Ist April Staatspräsident Wla- das Bernsteinzimmer in ei- dimir Putin von Kultur- nem thüringischen Silber- staatsminister Michael Nau- bergwerk versteckt? Oder mann zurückgegeben. Doch in irgendwelchen ostpreußi- der Krimi ist noch lange schen Katakomben? Eine nicht zu Ende: In einer neu- Spur führt auch nach Los en Serie beschreibt der Angeles, eine andere nach SPIEGEL die wichtigsten Deutschneudorf im Erzge- Stationen auf der Suche

birge. So viel scheint sicher: DPA nach dem Bernsteinzimmer.

76 ine verstümmelte nackte Leiche im Wald: die Brust von Messerstichen Wo ist das Bernsteinzimmer? Eperforiert, der Bauch tief aufge- schlitzt, die Därme mit Gras und Erde ver- HEISSE SPUREN IM WESTEN HEISSE SPUREN IM OSTEN matscht. Die Leiche war noch so frisch, • Schacht Wittekind bei Volpriehausen: • Schönbusch-Brauerei in Königsberg- dass sie dampfte, als Spaziergänger sie fan- Hier lagerten das Königsberger Staatsarchiv Ponarth: Gefangene sollen schwarz den. Daneben lagen die Tatwaffen: zwei und die Bernsteinsammlung der Albertus- angestrichene Kisten vergraben haben. Scheren, ein Skalpell, ein großes Brotmes- Universität Königsberg. ser. 20. August 1987. • Schlosskeller von Königsberg: Der Der Augenschein spreche für Selbst- • Gebiet um Elsterberg, Aue, Crimmi- Kriegsberichterstatter Hans-Joachim Paris mord, meinte die Starnberger Kriminal- tschau: Aus dieser Region stammten die will das Bernsteinzimmer an dieser Stelle polizei. Jedoch: So, wie der Obstbauer Ge- zwei Sonderbeauftragten Wyst und Popp, kurz vor der Kapitulation gesehen haben. org Wilhelm Stein aus Stelle bei Hamburg die das Bernsteinzimmer verstecken sollten. gelebt hatte, war ein Anfangsverdacht auf • Katholische Kirche am Steindamm in Mord nicht auszuschließen. Stein hatte vie- • Raum Olga in Thüringen: Hier wollte Hitler Königsberg: Sie wurde Anfang April 1945 le Feinde gehabt. Er war ein Mann, der zu in Bunkern die Kriegswende erwarten. von einer Sprengladung zerstört. viel wusste. Er hatte nach verlorenen Schätzen gesucht, die die Kunstkommissa- • Deutschneudorf: Eine Spezialeinheit • Gut Groß-Friedrichsberg in Metgethen: re der Nazis während des Zweiten Welt- soll am 9. und 10. April 1945 Kisten im Hier hatte Gauleiter Koch seine private kriegs in der besetzten Sowjetunion zu- Fortuna-Stollen versteckt haben. Kunstsammlung gelagert. sammengestohlen hatten. Mit seinem Bemühen um Wiedergutmachung war er erfolgreicher, als seinen Gegnern lieb sein tigsten Thesen in der einstweiligen Rei- vergrößern und ins Katharinen-Palais in konnte. Die Rückgabe des Bernsteinzim- henfolge ihrer Plausibilität. Zarskoje Selo (Zarendorf) bei St. Peters- mers an die Sowjetunion wäre für ihn der Auch die Synthese aus zwei oder mehr burg einbauen. Es war eine niederschmet- Daseinshöhepunkt gewesen. Und für seine Lösungen ist denkbar. Gut möglich, dass ternde Pracht: ein zehn mal zehn Meter Gegner der Gipfel des nationalen Ausver- eine Hälfte des Bernsteinzimmers in großes Zimmer, sechs Meter hoch, davon kaufs. Thüringen versteckt ist und die andere in 4,75 Meter mit edlem, goldschimmernden Das Bernsteinzimmer – ein schönes Ostpreußen. Oder beide an zwei verschie- Bernstein getäfelt. Nur Versailles war noch Phantom, das seit Jahrzehnten durch die denen Stellen in Thüringen und/oder Ost- prächtiger. Träume von Forschern, Abenteurern und preußen. Das würde jedenfalls viele Un- Nachdem die Deutsche Wehrmacht Zar- Hobby-Archäologen geistert. Und eine ge- gereimtheiten erklären. skoje Selo erobert hatte, wurde das Bern- fährliche Leidenschaft. Viele Menschen ha- Das Bernsteinzimmer ist das Produkt steinzimmer im Herbst 1941 aus dem ben dafür ihr Leben gelassen. zweier Kulturen. König Friedrich I. von Katharinenpalast ausgebaut und nach Kö- Wurde es kurz vor Kriegsende in einer Preußen hatte es Anfang des 18. Jahrhun- nigsberg gebracht. Für die Russen war das unterirdischen Fabrik in Thüringen ver- derts von dänischen und Danziger Kunst- Kunstraub, für die Deutschen war es steckt? Oder in einem stillgelegten Silber- handwerkern schnitzen und im Berliner „Heimholung“. bergwerk im Erzgebirge? Oder in irgend- Stadtschloss einbauen lassen, in einem Seit dem Frühjahr 1945, als die Rote Ar- welchen ostpreußischen Kasematten? Raum, in dem er und ausgewählte Unter- mee Ostpreußen überrannte, ist das Bern- Oder ist es mit einem Flüchtlingsschiff in gebene dem Tabaksgenuss frönten. 1716 steinzimmer verschwunden. Georg Stein der Ostsee untergegangen? Oder hat es ein verschenkte es König Friedrich Wilhelm I. hatte sich die Lebensaufgabe gestellt, es zu russischer Kunstfreund aus Königsberg mit- an Zar Peter den Großen von Russland, finden und nach Leningrad (heute St. Pe- genommen? Oder vielleicht ein Ami-GI um dessen Gunst für den Krieg gegen die tersburg) zurückzuschaffen. Wenn er sei- aus Thüringen? Haben es Konspirateure Schweden zu gewinnen. nem Ziel so nahe war, wie seine Freunde aus dem Umfeld um den europäischen Die Erben von Zar Peter ließen das behaupten, und wenn das Geheimnis des Hochadel verschwinden lassen? Ist es nicht Bernsteinzimmer aufs doppelte Format Bernsteinzimmers von einer verschwore- doch vielleicht im Bombenhagel der Royal nen Riege alter Kameraden oder deren Er- Air Force verbrannt? Das sind die wich- * Mit einem Mönch vor dem Kloster Petschur. ben bewacht wird, dann ist der Verdacht ULLSTEIN BILDERDIENST (li.) BILDERDIENST ULLSTEIN Katharinenpalast in Zarskoje Selo, Schatzsucher Stein (r.)*: Für die Russen Kunstraub, für die Deutschen „Heimholung“

der spiegel 48/2000 77 Georg Stein aus Stelle will am 27. Janu- ar 1945 durch Zufall auf Teile des Bern- steinzimmers gestoßen sein. Bei Pojerstie- ten westlich von Königsberg hätten er und seine Kameraden vom Pionierkorps Her- zog drei verlassene Armeelastwagen ent- deckt, die mit insgesamt 80 Kisten beladen waren. Sie hätten einige davon geöffnet und darin Munition und geraubte Kunst- gegenstände gefunden, darunter auch Paneele aus Zarskoje Selo. Weil die Straße unter sowjetischem Ar- tilleriefeuer lag, wurden die Kisten nach Steins Aufzeichnungen in einer Gruft un- ter den Trümmern der Kirche von Heili- genkreutz versteckt. Robert Stein glaubt, dass sein Vater auch die Ordenskirche im Nachbarort Thierenberg gemeint haben könne. Oder die Kirche von Kumenen. Die Trümmer der drei Kirchen wurden viele Jahre später durchsucht. Ergebnislos.

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Flüchtlinge aus Heiligenkreutz berichteten Gauleiter Koch in Ostpreußen (1944): Abgebaut, verpackt – und nichts hinterlassen auch, dass es unter ihrer Kirche keine Gruft und kein Gewölbe gegeben habe. Grund nicht unbegründet, dass er ermordet Paneele und 150 Figuren nach einem Feu- genug zu der Frage, ob es den ganzen rät- wurde. er im Königsberger Schloss abbauen und selhaften Vorgang überhaupt gegeben oder Die Bernsteinzimmer-Forschung ist eine verpacken lassen. Dafür gab es Augenzeu- ob Georg Stein ihn sich nur eingebildet unexakte Wissenschaft mit enorm vielen gen. Die Zeugen, die danach kamen, haben hat. Unbekannten. Schon wegen der zerrütte- immer nur die Kisten, aber niemals den ten Quellenlage. Die Nazi-Bürokratie, die Inhalt gesehen. Ostsee sonst alles mit großer Pedanterie aufschrieb und sogar über ihre schlimmsten Schand- taten Listen führte, hat zum Bernstein- m zimmer nichts von Belang hinterlassen. P o Die Konfusion hat auch damit zu tun, dass die Forschung hauptsächlich von Di- Spuren des Jahrtausendschatzes lettanten und Missionaren betrieben wird. Mögliche Verstecke des Bernsteinzimmers Sie verteilen sich auf zwei diskursunfähige gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Stettin Lager, die einander mit Hass und Häme bekämpfen. Wobei beide Lager über einen Bernsteinzimmer Ostfront 1945 mögliche bis Mitte Januar Karinhall (Landsitz ungefähr gleich großen Anteil von Narren E von Göring) Verstecke l und Nachdenklichen verfügen. Und Georg bis Ende Januar b e Stein war ihr Doyen. bis Mitte März, In Lager eins hält sich die Überzeugung, in Ostpreußen dass der Schatz in Ostpreußen geblieben bis Mitte Februar ist. Dafür gibt es anderthalb bis zwei Dut- Berlin zend gute Gründe, die man ernst nehmen W e muss. Lager zwei glaubt daran, dass das s e Grasleben Bernsteinzimmer kurz vor Kriegsende nach r Westen abtransportiert wurde. Wenn das Oder richtig ist, dann stehen die Kisten in irgend- DEUTSCHES REICH einem ost- oder mitteldeutschen Hohlraum. (Grenzen von 1937) Vermutlich in einem Radius von maximal acht Lkw-Stunden (unter Kriegsbedingun- Wittekind gen) um die Goethestadt Weimar. Falkenburg Die Amerikaner zählten nach Kriegsen- Kassel Wechselburg/ Großgrabe Leipzig Rochlitz de 1800 Lagerstätten – Schlösser, Höhlen, Kyffhäuser Minen, Bunker –, in denen die Nazis kurz Vormarsch der Kriebstein/ Döbeln c h s e n vor Kriegsende Geld, Kunst, Wertgegen- West-Alliierten Weimar Berga a stände und Dokumente versteckt hatten. S Dresden Reinhardsbrunn Saalfeld Nur eine Minderheit davon wurde unter- Olga Chemnitz Augustusburg sucht. Die meisten der vielen hundert still- e n ü r i n g Hartenstein gelegten Schieferbergwerke im Gebiet T h Aue Deutschneudorf Saalfeld etwa, die während des Krieges für Elsterberg Schwarzenberg Rüstungsproduktionen oder als Lager vor- Dittrich-Mühle/Blankenstein gesehen waren, sind bis heute unberührt. Coburg TSCHECHOSLOWAKEI Das Bernsteinzimmer wurde zum letzten 02550 Prag Mal im Juni 1944 gesehen. Der ostpreußi- µt¥chovice sche Gauleiter Erich Koch hatte die 107 Kilometer

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Stein war ein begnadeter Spürhund. Er der halbwegs bei Verstand ist, zieht denn barbarisch zurichtete, um alle Zweifel am hatte 1970 im Ikonenmuseum von Reck- ohne Not die Aufmerksamkeit des Publi- Selbstmord auszuschließen? Ausgeschlos- linghausen den legendären Schatz des kums auf sich, indem er seinem Opfer den sen, erklärte die Staatsanwaltschaft Starn- Klosters Petschur (Russland) aufgestöbert: Bauch aufschlitzt und dann noch Knoten in berg, Stein habe sich nach einem schama- Kisten voll alter Ikonen, goldener Kruzifi- die Därme macht? Nur, die kri- xe und Bischofskronen, alles dick mit Ju- minalistische Logik kann man Zweimal wurde Stein blutüberströmt welen besetzt, außerdem goldene und natürlich auch umkehren. Ha- silberne Becher und Gefäße, schwere Sa- rakiri ist eine besonders unan- aufgefunden. Warum gab er kralgewänder, Grabtücher, Reliquien, Iko- genehme Todesart, der sich nen. Sie waren während des Krieges ge- kein Suizident, der bei Verstand trotzdem sein Geheimnis nicht preis? stohlen worden und nach einer abenteu- und der nicht religiös oder pa- erlichen Reise durch halb Europa im Ruhr- triotisch stigmatisiert ist, freiwillig unter- nischen Ritus selbst entleibt, den er in so- pott gestrandet. wirft. Also wird er wohl ermordet worden wjetischer Kriegsgefangenschaft kennen Wegen der besonderen Umstände und sein. gelernt habe. So was fände man sonst nicht weil der Tote eine Person von öffentlichem Konnte es denn nicht sein, dass der Mör- in Mitteleuropa. Interesse war, ermittelte die Staats- der die abschreckende Signalwirkung woll- Aber so war es nicht. Georg Steins Sohn anwaltschaft Starnberg nach Steins Tod te, dass er im Übrigen Stein mit Absicht so Robert hat die Vita seines Vaters gründlich pflichtgemäß wegen Mordverdachts. Al- ausgeleuchtet und herausgefunden, dass lerdings wohl eher gegen ihre Überzeu- darin kein sowjetisches Gefangenenlager gung. Schon die spektakuläre Todesart, so vorkommt. Nach Mitteilung der Melde- hieß es, spreche ge- Heiligenkreutz behörde von Barsinghausen bei Hannover gen die Mordtheorie. Metgethen war er ein paar Monate lang im Lager Han- Gdingen Welcher Mörder, e nover-Bemerode interniert, bevor er in die („Wilhelm Palmnicken Preg l Gustloff“) Königsberg Freiheit entlassen wurde. Also nichts mit Lochstädt schamanischen Riten. Richau Die Frage, ob es Mord oder Selbstmord Balga Tharau Steinort war, wird auch deshalb unbeantwortet blei- ben, weil die Akte Stein nicht mehr aufzu- Danzig finden ist. Georg Stein ist einer von min- Tolkemit n e destens drei Dutzend Menschen, die nach n Schlobitten ß dem Bernsteinzimmer gesucht hatten oder r e u die etwas über seinen Verbleib hätten sa- e O s t p r m m gen können und die unter ungeklärten Um- ständen ums Leben kamen. Stein war schon zweimal blutüberströmt aufgefunden und im letzten Moment geret- tet worden. Das letzte Mal nur sieben Wo- chen vor seinem Tod. Als er zu sich kam, sagte er, sie seien wieder hinter ihm her ge- W wesen. Fremde Männer hätten ihn unter e ic Drogen gesetzt, ihn verhört und ihm dann hs el den Bauch aufgeschlitzt. Sie hätten ihn aus dem Wege räumen wollen, weil er kurz da- Vormarsch der vor gewesen sei, das Bernsteinzimmer zu Roten Armee finden. Nur, warum hat er sein Geheimnis Warschau denn nicht preisgegeben, wenn er damit Posen POLEN rechnen musste, umgebracht zu werden? Im Februar, einen Tag bevor er auf einer Pressekonferenz seine neueste Spur hätte bekannt machen wollen, lag Stein frühmor- gens schwer verletzt in seinem Arbeits- zimmer und presste schweigend ein Kis- sen vor eine klaffende Bauchwunde. Alles S war voll Blut. In einer geöffneten Schub- c lade lag ein zerknittertes DIN-A4-Blatt mit h einem lateinischen Spruch. l e Der Spruch lautete in der deutschen s Übersetzung: „Der Schandfleck jenes dei- i ner Diener, sei er weiß, dann soll Christus e sein Blut verspritzen. Oder sei er rot, dann n soll Christus ihn auslöschen. Oder sei er schwarz, dann soll Christus ihn sterben lassen.“ Blut verspritzen, auslöschen, sterben las- sen. Was hatte das zu bedeuten? War Stein verrückt? Waren die Killer, die ihm ans Fell wollten, verrückt? „Ihr wisst ja nicht, wer er ist“, hatte Steins Ehefrau Elisabeth ihren Kindern im Sommer 1983 unter Trä-

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er nur noch an Vol- da bis „Gesteinsproben“ ist es morpholo- priehausen. gisch nur ein Katzensprung. Schacht Wittekind Die Lösung des Rätsels liegt unter ein war während des paar tausend Tonnen Erdreich und Gestein Krieges Heeresmu- begraben. Am 11. September 1945 über- nitionsanstalt. Auf der nahm ein Sonderkommando der britischen ersten Sohle in 540 „76. Depot Control Company“ die Schacht- Meter Tiefe waren anlagen Wittekind und Hildasglück. Sie soll- 30000 Tonnen Spreng- ten die Stollen erforschen und die noch dar- stoff und Munition ge- in lagernden Sprengmittel bergen. Doch lagert. Die zweite, dazu kam es nicht mehr. In der Nacht vom dritte und vierte Soh- 28. auf den 29. September wurde der le mit jeweils 5000 Schacht von einer mächtigen Explosion er- Stasi-Chef Mielke (1985), Enke-Dossier: 15 Jahre harte Recherche Quadratmeter Fläche schüttert. In Volpriehausen bebte minuten- waren ungenutzt. Fer- lang die Erde, und über dem Schacht stand nen gesagt. Sie hatten den Eindruck, dass ner waren da noch 20000 Quadratmeter in eine hundert Meter hohe Stichflamme. sie kurz davor stand, ihnen das Lebensge- der benachbarten Grube Hildasglück, die Es sei klar, dass die Detonation nicht heimnis von Georg Stein zu verraten. We- durch mehrere Stollen mit Wittekind ver- ohne Fremdeinwirkung erfolgt sei, hieß es nige Tage später wurde sie erhängt im Kel- bunden war. in dem Untersuchungsbericht der briti- ler ihres Hauses in Stelle gefunden. Bis Auf einigen der leeren Flächen hatte die schen Besatzer. Also Sabotage. 1955 wur- heute weiß niemand, wer Georg Stein Göttinger Georg-August-Universität ihre de dann der Schacht auch noch mit tausend wirklich war. Bibliothek gestapelt – insgesamt die Ladung Kubikmeter Bohrschlamm verfüllt. Als Über 20 Jahre lang hat Georg Stein zäh von 24 Eisenbahnwaggons. Außerdem war wenn jemand ganz sicher sein wollte, dass und hingebungsvoll nach dem Bernstein- dort das gesamte Preußische Staatsarchiv er nie wieder geöffnet werden konnte. zimmer gesucht. Für seine Obsession ging Königsberg untergebracht – und die Bern- In der Schachtanlage Wittekind wäre si- sein ganzes Vermögen drauf – und noch ein steinsammlung der Königsberger Albertus- cher noch viel zu finden. Unter anderem bisschen mehr. Er war ein enorm fleißiger Universität, die aus rund 100000 Rechercheur. Stücken bestand. Die Lösung des Rätsels liegt unter Die wütende Besessenheit, mit der Ge- Stein ermittelte, dass in Vol- org Stein gewisse Faktenpanschereien ver- priehausen in einem Waggon ein paar tausend Tonnen teidigte, war schuld daran, dass ihn auch mit der Aufschrift „10“ auch seine Freunde nicht mehr so ernst nahmen. zwölf etwa 1,50 Meter lange Erdreich und Gestein begraben. Deshalb wurde ausgerechnet seine aus- und 80 Zentimeter hohe große sichtsreichste Spur nie so ernsthaft ver- Kisten aus Königsberg eingetroffen waren. private Vermögenswerte, die da kurz vor folgt, wie sie es verdiente: das alte Kali- War es das Bernsteinzimmer oder ein Teil Kriegsende eingelagert wurden. Es wird bergwerk Wittekind bei Volpriehausen davon? aber wohl keinen Bergungsversuch geben nördlich von Göttingen. Oder waren es gar keine Kisten, son- – einfach weil es zu teuer ist. Und viel- Volpriehausen im Solling und Pojerstie- dern Koffer? Vielleicht die Koffer aus dem leicht auch, weil es zu gefährlich ist: Ehe- ten im Samland, das passte wie der Sattel Besitz eines Königsberger Paläontologen malige Zwangsarbeiter haben berichtet, die zur Kuh. Doch Georg Stein war beken- namens Andree, die ins Bergwerk gebracht Zugänge zu einigen Verstecken seien mit nender Renegat. Er hatte Dutzende von worden waren und die angeblich Gesteins- Giftgranatenfallen gesichert gewesen. Rich- Spuren kaputtrecherchiert und dabei mehr- proben enthielten. Gerhard Utikal, der vor- tig ist immerhin, dass die Wehrmacht im fach das Lager gewechselt. Er hat die The- malige Leiter des Einsatzstabes Rosenberg, Schacht Wittekind große Mengen Giftgas- se, das Bernsteinzimmer sei in Ostpreußen hat später enthüllt, die Sendung mit dem projektile lagerte, von denen freilich nie geblieben, ebenso inbrünstig vertreten wie Bernsteinzimmer sei unter der Tarn- eines eingesetzt wurde. später die Vermutung, es sei nach Westen bezeichnung „Geologische Formations- Wenn Volpriehausen in der DDR gele- ausgelagert worden. Zum Schluss glaubte sammlungen“ in den Westen gelangt. Von gen hätte, dann hätte Oberstleutnant Paul

Kalibergwerk Wittekind bei Volpriehausen: Die aussichtsreichste Spur wurde nie so ernsthaft verfolgt, wie sie es verdiente ARKANA VERLAG Werbeseite

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Enke gewiss einen Weg gefunden, der Sa- rung der Kochschen Sammlung so ausge- che auf den Grund zu gehen. Enke war legt, dass das Bernsteinzimmer „mit an Si- Chef der Sondereinheit Puschkin, die im cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ Auftrag des Ministeriums für Staatssicher- in Thüringen versteckt sei. Durch die über- heit (MfS) fast anderthalb Jahrzehnte lang prüfbare Faktenlage ist diese Bewertung den Arbeiter-und-Bauern-Staat nach dem jedoch nicht gedeckt. Koch hatte zwar so Bernsteinzimmer absuchte. etwas wie ein Patronat für das Bernstein- 15 Jahre harte Recherche. Aber Enke zimmer übernommen. Aber es gab auch erwirtschaftete ein einziges handfestes In- noch andere Spitzenbonzen, die ihre diz für die Annahme, dass das Bernstein- Biografie gern mit dem Verdienst ge- zimmer in der DDR versteckt war: Er be- schmückt hätten, ein so gediegenes Klein- wies, dass die private Kunst- sammlung des ostpreußischen Gauleiters Erich Koch am 9. Februar 1945 auf Lastwagen im Weimarer Landesmuseum ein- getroffen war. Und nach Lage der Dinge durfte man anneh- men, dass Koch den Befehl ge- geben hatte, das Bernsteinzim- mer zusammen mit seinen pri- vaten Kunstschätzen von Kö- nigsberg auf die Reise zu schicken. Es ist nur nicht be- legt, dass der Befehl auch aus- geführt wurde. Leiter der Operation war ein

gewisser Albert Popp, ein FOCUSIRRGANG / AGENTUR hochrangiger nationalsozia- Schlosshotel Reinhardsbrunn: „Museumsgut“ im Lkw listischer Funktionär mit nied- riger Parteimitgliedsnummer und Standar- od arischer Kultur vor den bolschewisti- tenführer im Nationalsozialistischen Flie- schen Horden gerettet zu haben: Reichs- gerkorps (NSFK). leiter Alfred Rosenberg, Reichsmarschall Er war Neffe und persönlicher Berater Hermann Göring, Führer-Stellvertreter des Gauleiters von Sachsen, Martin Martin Bormann. Mutschmann, und Vetter von Admiral Ca- Am 9. Februar waren die Sarkophage naris. Außerdem war er Landesbeauftragter von Reichspräsident Paul von Hindenburg, für „Kulturgut-Verlagerung“ und „Verwal- dem Sieger der Schlacht von Tannenberg, ter von Gauleiter Koch-Königsberg“, wie und seiner Frau nach einer Reise über es in einer Notiz über die Zwischenlage- Königsberg, Swinemünde und Potsdam rung in Weimar hieß. Er hatte bereits am in Bernterode südlich des Harz eingetrof- 18. August auf Kochs Order im Weimarer Fi- fen. Von da nach Weimar waren es an- nanzministerium vorgesprochen und die derthalb Autostunden. Es spricht eini- Verlagerung von Kulturgütern „im Umfan- ges dafür, dass die Särge, die Koch-Samm- ge eines Lastzuges“ angekündigt. lung und das Bernsteinzimmer zusammen Albert Popp war ein Mann für besonde- bis Bernterode reisten und dass dort Popp re Anlässe. Im März zum Beispiel war er und Wyst ihre Fracht für Weimar über- für würdig befunden worden, für Hitlers nahmen. Halbschwester Angela den Umzug von Albert Popp war nervös, als er in Wei- Sachsen nach Traunstein in Österreich zu mar eintraf. Er sagte, er habe keine Zeit für organisieren. Formalitäten. Deshalb ließ er sich nur ganz pauschal die Abgabe einer Albert Popp war nervös, als er Sendung „Museumsgut aus Königsberg“ bescheinigen. Es in Weimar eintraf: Er habe keine handelte sich dabei um die Koch-Sammlung, wie sich spä- Zeit für Formalitäten. ter herausstellte. Weil sie of- fenbar nur kurz in Weimar Sein ständiger Begleiter in diesen Wo- bleiben sollte, brachten Direktor Scheidig chen war Gustav Wyst, ein ehemaliger und das Hausmeisterehepaar Gitschier Briefträger aus Königsberg. Wyst und Popp die Kisten, Koffer und Truhen in einem lieferten die Sendung nach Aussage von Saal gleich unten im Parterre des Museums Museumsdirektor Walter Scheidig am 9. unter. Februar im Weimarer Landesmuseum an Wyst und Co. fuhren mit den leeren und holten sie am 9. und 10. April wieder Lastwagen und einem Möbelwagen, der ab. Danach verliert sich die Spur. nicht entladen worden war, weiter nach Die unabhängige Forschergruppe „Kak- Schloss Reinhardsbrunn bei Gotha, das tus“ (Kunstraub-Aufklärungs-Komitee- dem Herzog Karl-Eduard von Sachsen-Co- Thüringen-und-Sachsen) hat die Anliefe- burg-Gotha gehörte. Dort wurde die Fracht

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aus dem Möbelwagen aus- der Achse Eisenach–Er- geladen und ins Schloss ge- furt–Weimar–Dresden. bracht. In diesem Gebiet war In der folgenden Nacht der Verkehr durch Flücht- ging ein schweres alliiertes lingstrecks, Wehrmachts- Bombengewitter über Wei- und SS-Einheiten stark mar nieder. Goethehaus, behindert. Das hieß maxi- und Nationaltheater wur- mal Tempo 30. Weil Autos den schwer lädiert. Aber nur nachts halbwegs sicher im Landesmuseum flogen vor Jagdbombern waren, nur ein paar Fensterschei- konnte das Versteck nicht ben aus den Rahmen. Die weiter als etwa 150 Kilo- Koch-Sammlung blieb un- meter von Weimar entfernt beschädigt. sein. Bis in Popps Heimat, Der größere Teil davon das Gebiet um Elsterberg, wurde am 9. April mit Schlema und Crimmi- einem Lastwagen aus tschau, waren es nur gut Weimar abtransportiert, hundert Kilometer. der Schweizer Nummern- Am 11. April, also am schilder und eine Schwei- Tag nach dem Abtransport zer Flagge führte. Es war der zweiten Fuhre aus ein historischer Tag, an Weimar, verließ Albert dem General Otto Lasch Popp laut Zeugenaussagen die Festung Königsberg an mit einer Lkw-Kolon- die Russen übergab, an ne seinen Heimatort Els- dem Admiral Wilhelm terberg in Richtung Rei- Canaris, ehedem Chef der chenbach im Vogtland. In Abwehr beim Oberkom- der folgenden Nacht wur- mando der Wehrmacht, als de Popps Familie aus ihrer Verräter gehenkt wurde Wohnung in Elsterberg und an dem vermutlich abgeholt. Von einem die Amerikaner in der Rotkreuz-Lastwagen. Er Schweiz die Geheimver- brachte sie zunächst nach handlungen mit Groß- Rodewisch und von dort

deutschland über einen BPK nach Johanngeorgenstadt, Separatfrieden im Westen Alliierte, eingelagerte Kunstwerke*: Bunter Klecks im Mustopf der Gerüchte wo Popp sein Stabsquar- abbrachen. tier hatte. Das zweite Drittel der Sammlung wurde Der Führer hatte zwar ausdrücklich ver- Es fügte sich alles gut zusammen: Im am folgenden Tag abgeholt. Denjenigen boten, Rotkreuzautos für nichtkaritative Raum Elsterberg hatte Popp seine Freunde Teil der Fracht, der in Schloss Reinhards- Zwecke zu missbrauchen. Doch die Order und seine Verwandten. Hier kannte er je- brunn zwischengelagert worden war – wurde weiträumig unterlaufen. Ein rotes den Steg und viele Verstecke. Es war die möglicherweise das Bernsteinzimmer –, Kreuz auf dem Dach bot einen gewissen einzige Gegend, die er von Weimar aus hatte das Kommando Popp schon am Schutz vor Tieffliegerangriffen. Und derlei noch gefahrlos in einer Nacht erreichen 3. und 4. April dort wieder requiriert. Au- Regelverletzungen spielten in der letzten konnte und in der er nicht lange nach Ver- genzeugen haben der Stasi später berichtet, Kriegsphase keine große Rolle mehr, weil je- stecken zu suchen brauchte. einige der über 120 Kisten hätten Bern- der wusste, dass sie in Kürze hinter Verstößen Und konnte es Zufall sein, dass die Fa- steinplatten enthalten. ganz anderen Kalibers zurücktreten würden. milie seines Kumpels Gustav Wyst im Aus der Tatsache, dass Schlossherr Popp und Wyst hatten nicht mehr viele Spätherbst 1944 von Ostpreußen ausge- Herzog Karl-Eduard von Sachsen-Coburg- Ziele zur Auswahl, als sie ihre Fracht aus rechnet nach Aue/Schlema und dann wei- Gotha Präsident des Deutschen Roten Weimar und Reinhardsbrunn abholten. ter ins nahe Crimmitschau umgesiedelt Kreuzes war, hat Stasi-Oberst Paul Enke Nach Süden und Südwesten war der Weg wurde? Und dass sie ein Jahr später von später geschlossen, der Laster sei aus schon dicht. Die Amerikaner stießen von Crimmitschau wieder nach Schlema und Coburg in Richtung Hof und bald darauf nach Elsterberg zog? Die Wysts Ein Brief „von allergrößter Wichtigkeit“, Plauen vor, so dass es nur noch hatten doch vorher keinerlei Beziehungen wenige Tage dauern konnte, zu dieser Gegend gehabt. übergeben an Hitler persönlich bis die Autobahn Berlin–Nürn- Am 25. April, also zwei Wochen vor der berg und damit die Verbin- Kapitulation des Deutschen Reiches, setz- oder seinen Stellvertreter Bormann. dung nach Bayern unterbro- te Albert Popp einen von vier bewaffneten chen sein würde. Die Straßen Kradschützen begleiteten Kurier nach Ber- Reinhardsbrunn gekommen. Es ist jedoch in Richtung Böhmen wurden von tsche- lin in Bewegung. Er sollte in der Reichs- mindestens ebenso plausibel, dass er chischen Partisanen verunsichert. Deshalb kanzlei einen mehrfach versiegelten Brief zum Tross des Internationalen Roten kamen die nahe gelegenen Bergwerke und „von allergrößter Wichtigkeit“ entweder Kreuzes aus Genf gehörte, das in Thürin- Stollen in der nördlichen Tschechoslowa- an Hitler persönlich oder an dessen Stell- gen alliierte Kriegsgefangene mit Lebens- kei als Verstecke nicht mehr in Frage. Und vertreter Bormann übergeben. Der Brief mitteln und Medikamenten versorgte daher blieb ihnen nur der Raum südlich kam aber nicht an, weil die Sowjets inzwi- und das sich bereit hielt, das KZ Bu- schen die Autobahn Dresden – Berlin über- chenwald von der SS zu übernehmen. schritten hatten. Die Begleiter wurden bei * Die Generäle Omar N. Bradley, George S. Patton und Mag sein, dass Popp den Wagen geklaut Dwight D. Eisenhower bei der Inspektion von Gemälden zwei Feuergefechten mit sowjetischen Sol- hat. aus Berliner Museen, am 12. April 1945. daten getötet. Der Kurier kehrte um nach

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Johanngeorgenstadt und gab den versiegelten Brief an Al- bert Popp zurück. Was enthielt der Briefumschlag? Eine Be- schreibung des Bernsteinzim- mer-Verstecks? Nicht weit vom Gebiet Crimmitschau, Aue, Elsterberg, da, wo Gustav Wyst und Al- bert Popp in den letzten Wo- chen vor Kriegsende ihre ge- heime Kommandosache abge- wickelt hatten, etablierte sich nach der Kapitulation die Re- publik Schwarzenberg, der Stefan Heym in seinem gleich-

namigen Roman ein Denkmal BILDERDIENST ULLSTEIN gesetzt hat. Schwarzenberg war Bauherr Hitler*: Thüringen ja, Jonastal nein ein gut 1500 Quadratkilome- ter großes geschichtliches Kuriosum, das Weg von Weimar zum sowjetischen Haupt- aus der zerbrochenen Zeit geboren wurde. quartier in Berlin-Karlshorst. Die Amerikaner waren in Aue stehen ge- Das Schlosspersonal von Reinhards- blieben, die Russen bei Annaberg auf dem brunn hat später erzählt, beim Abtrans- 13. Längengrad. In dem Niemandsland port sei eine der eingelagerten Kisten zer- dazwischen rief Paul Korb, ein ehemali- brochen und es seien Bernsteinstücke in ger Arbeiter in der Schwarzenberger Volks- die Toreinfahrt gefallen. Schüler hätten sie badewannenfabrik, zwei Tage nach der Ende der vierziger Jahre gefunden und sie Kapitulation die „Republik Schwarzen- auf einem Teich munter übers Wasser tit- berg“ aus. Sie überlebte immerhin sechs schen lassen. Stasi-Oberst Paul Enke woll- Wochen. te gleich einen Bagger anrücken lassen, um Die Republik Schwarzenberg hat dem die Bernsteinstückchen zu bergen. Er ließ Mustopf der Gerüchte noch einen bunten es aber sein, als er erfuhr, dass der Teich Klecks hinzugefügt. Die Nazis, so hieß es, schon mal ausgebaggert und gründlich ge- hätten hier durch zielstrebige Verwirrung reinigt worden war. eine besatzungsfreie Exklave geschaffen, Paul Enke glaubte fest daran, dass der um das Bernsteinzimmer gegen Ent- Schatz im sächsisch-thüringischen Raum deckung zu sichern. Ein flirrender Unsinn. versteckt war. Die deutsch-tschechischen Denn das wäre nicht ohne die aktive Mit- Grenzgebirge, vor allem das Erzgebirge, arbeit von Paul Korb gegangen. Und Korb sind durchlöchert von Tausenden von Stol- war glühender Antifaschist. len, die der Erzbergbau in über 500 Jahren In polnischer Haft hat Erich Koch ge- darin zurückgelassen hat. Von den meisten sagt: „Findet meine Sammlung, dann habt gab es keine Risszeichnungen mehr bei den Bergämtern. Hier konn- In den Stollen des Erzgebirges konnte te man alle Schätze der Welt spurlos verschwinden man alle Schätze der Welt lassen. Außerdem hatten die spurlos verschwinden lassen. Nazis in Thüringen von KZ-Sklavenheeren üppige ihr auch das Bernsteinzimmer.“ Nur, die Bunker- und Tunnelsysteme bauen lassen. Koch-Sammlung war inzwischen in zwei Der Führer und seine Kamarilla hatten sich bis drei Partien aufgeteilt worden. Der nach dem Desaster im Osten in eine Rest, den die zwei Spediteure nicht mehr Scheinwirklichkeit begeben, in der Erwar- abholen konnten, weil amerikanische tung, sie könnten darin den Staatsinfarkt Truppen unter General George S. Patton des Dritten Reiches überleben. Sie bildeten am 12. April in Weimar einmarschierten, sich ein, die Alliierten würden ihnen aus blieb in der Städtischen Sparbank in Wei- Angst vor der bolschewistischen Weltge- mar. Dabei befanden sich etwa 130 teil- fahr gestatten, in ihrem thüringischen weise mit Bernstein verzierte Armleuchter, Trutz- und Restgau, wie sie ihn nannten, fast genau so viele wie an den Wänden und den Grundstein für ein neues Tausend- auf den venezianischen Spiegeln im Bern- jähriges Wolkenkuckucksreich zu legen. steinzimmer. Der Verdacht drängt sich auf, Schon im Herbst 1944 war im Jonastal dass Koch die Leuchter aus dem Bern- bei Ohrdruf mit dem Bau eines unterirdi- steinzimmer-Fundus geklaut hatte. schen Hauptquartiers für die Führung des Man kann das heute nicht mehr prüfen, Dritten Reiches begonnen worden. An der weil die Leuchter samt den dazugehörigen Akten 1948 von der sowjetischen Kunst- * Mit Gauleiter Fritz Sauckel und Reichspressekammer- wissenschaftlerin Xenija Agafonowa abge- Präsident Max Amann in Weimar vor einem Modell für die holt wurden. Sie verschwanden auf dem Umgestaltung des Museumsplatzes, im März 1936.

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Werbeseite Deutschland DPA ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Ehemaliges Gauforum in Weimar, Suche nach verborgenen Hohlräumen: Ein Kollektiv knorriger Kultbauten mit nordischem Timbre

Peripherie von „Raum Olga“ hatte die SS ternd die Sonne verdunkeln, wenn man sie Goethestadt zu nordischem Timbre hatten drei Außenlager für das KZ Buchenwald tagsüber aus ihren Quartieren scheucht. verhelfen wollen: Haus der Parteigliede- eingerichtet. Krankenhäuser, Sanatorien An einigen Stellen kann man 50 Meter tief rungen, Halle der Volksgemeinschaft (mit und Schlösser in der Umgebung waren in in den Kalksandsteinberg hineinkriechen. 15000 Plätzen), Haus der Arbeitsfront und Verwaltungsgebäude umfunktioniert wor- Auf einen Bunkereingang haben Spät- Gauleitung. Einen Teil der überirdischen den. Schloss Reinhardsbrunn sollte das geborene ein paar hingesprayte Schwüre Bauten haben die DDR-Kommunisten nach neue Führerhauptquartier werden. Deck- hinterlassen: „Unsere Mauern brechen, dem Krieg fertiggestellt. Die verschachtel- name: „Wolfsturm“. aber unsere Herzen nicht.“ ten Keller- und Bunkeranlagen darunter Immerhin ist verbürgt, dass die 6. SS-Ge- Thüringen ja, Jonastal nein, sagt Rentner sind größtenteils erhalten. Sie wurden nie birgsjägereinheit die Eingänge zu dem Tun- Hans Stadelmann aus Weimar. „Das Bern- gründlich erforscht. nelsystem bis Mitte April todesmu- steinzimmer ist hier in der Stadt, da kön- Hans Stadelmann ist mit Taschenlampe tig gegen die Panzer von General Pattons nen Sie von hier aus hinspucken.“ Er tritt und Fackeln hundertmal durch seinen 3. Armee verteidigt hatte, dass ferner in ans Wohnzimmerfenster, an dem gerade Claim gestiegen, und fast jedes Mal, so sagt den Tagen davor mehrere Detonatio- der Interregio nach Erfurt vorüberdonnert, er, habe er neue Spuren gefunden. Er hat nen aus den Stollen zu hören gewesen und zeigt in Richtung Hauptbahnhof. „Da auch festgestellt, dass der Grundriss des waren. hinten, da ist es.“ Er ist sicher, dass das Gebäudes an vielen Stellen nicht mit den Unter den rund 4000 Tonnen Geröll lie- Bernsteinzimmer Weimar Anfang April alten Karten übereinstimmt. gen vermutlich noch die Leichen von meh- 1945 nicht verlassen hat, dass es in den Kel- Das Haus der Parteigliederungen hat reren hundert KZ-Häftlingen, die hier um- lern des alten Gauforums, ganz in der Nähe vier Kelleretagen. Aber nur die Räume im gebracht wurden, weil sie zu viel wussten. des Landesmuseums, versteckt ist. ersten Souterraingeschoss sind noch zu- Zeugen wollen auch gesehen haben, wie Das Gauforum war konzipiert als ein gänglich. Im zweiten, dritten und vierten kurz vor der Sprengung Kisten in den Berg Kollektiv von knorrigen Kultbauten, mit Kellergeschoss sind alle Zimmer und Säle getragen wurden. denen die Nazis der musisch-heiteren zugemauert. Auf den Mauern vor den Räu- Dass die Nazis das Bernstein- men stehen rätselhafte Zahlenkolonnen. zimmer ausgerechnet an einer so Hans Stadelmann hat besonders einen prominenten Stelle versteckt ha- Raum mit doppelt starker Betondecke in ben könnten, ist eine verwegene sechs bis acht Metern Tiefe, der in keiner Idee. Außerdem hat die Sowjet- Zeichnung auftaucht, in Verdacht. Dies sei armee das Jonastal bis 1990, kurz das einzige Versteck in Weimar, das für vor ihrem Rückzug aus Ost- eine so wichtige Sache wie das Bernstein- deutschland, als Schießplatz ge- zimmer in Frage gekommen sei. Am 9. und nutzt. Irgend jemand hätte doch 10. April habe man es nicht mehr weg- mal was Auffälliges finden müs- bringen können, einfach weil die amerika- sen. Nur, innen im Berg wurde nischen Panzerspitzen zu diesem Zeitpunkt nie gesucht. im Süden schon am Magdalaer Berg und Raum Olga ist noch immer ein im Norden schon in Buttstädt standen. finsterer Ort. Der alte Bahn- Ja, hinter den Wänden im Keller des damm, der vom Bahnhof Cra- Gauforums muss was versteckt sein. War- winkel kommt, verliert sich ir- um sieht denn keiner nach, um Himmels gendwo in den Wiesen. Man willen? Hans Stadelmann durchlebt seit kann noch die Konturen der rie- zehn Jahren unablässig das schlimme Leid sigen Zisterne erkennen, die die des Wissenden, den es in eine Welt voller unterirdischen Anlagen mit Was- Ignoranten verschlagen hat. ser versorgen sollte. Im März 1992 hat die thüringische Lan- Seit die Sowjets abgerückt desregierung der Quengelei des drahtigen

sind, haben sich in den Stollen- / DER SPIEGEL E. WIEDEMANN Rentners nachgegeben und zwei Tage lang mündern große Fledermaus- Bernsteinzimmer-Forscher Stadelmann in den Kellern des Gauforums sondieren kolonien breit gemacht, die flat- Schlimmes Leid des Wissenden lassen. Natürlich ohne Ergebnis. „Die Sa-

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Werbeseite Deutschland che ist für uns abgeschlossen“, sagte Ober- Standartenführer Popp war ja kein Dum- würde. Kein Zweifel, dass hier etwas ver- bürgermeister Klaus Büttner. „Sie haben mer. Man durfte ihm zutrauen, dass er sich steckt ist. Stollen 11 wurde untersucht, er nichts gefunden, einfach weil sie nichts fin- ein Versteck suchte, das nicht an promi- war aber leer. Stollen 1 ist immer noch ver- den wollten“, sagt Stadelmann. Noch eine nenter Stelle im Jahrbuch des National- schlossen. Weder die Amerikaner noch die Verschwörung? sozialistischen Architektenbundes regi- Russen noch die Deutschen haben je ver- Das nicht, aber so lieblos, wie Oberbür- striert war. sucht, ihn zu öffnen. germeister Büttners Suchkolonnen recher- Nein, nein, es bleibt dabei, die stärksten Paul Enke hat im „Osterlammstollen“ chierten, erweckten sie den Eindruck, dass Indizien sprechen für das Zielgebiet Aue / im benachbarten Niederschlema buddeln sie die ganze Theorie killen wollten, um sie Crimmitschau/Elsterberg. Ganz besonders lassen, um dem Gerücht auf den Grund zu dann endgültig zu begraben. Die thüringi- für das Projekt „Schwalbe V“ in Berga. Es gehen, das Bernsteinzimmer sei dort unter sche CDU-Regierung und die Stadtväter liegt mitten im Stammland von Standar- den Leichen von ermordeten Gefangenen von Weimar mussten damit rechnen, dass tenführer Albert Popp, der Gauleiter Erich vergraben worden. Warum hat er nicht auch in Berga nachgesehen? Das lag doch viel näher. Die Region zwischen Crimmi- tschau, Aue und Elsterberg ist das Bermudadreieck der Bernstein- zimmer-Forschung. Im April tauchte ein Bündel Frachtbriefe auf, die den Sepkulationen neue schwere Nahrung gaben. Sie be- legen, dass am 9. Januar 1945 in „Schwalbe V“ mehrere Waggons eintrafen, die der Reichsarbeits- dienst am 4. Januar in Königsberg auf die Reise geschickt hatte. Das ist mehr als denkwürdig: Ein Güterzug aus der Bernstein- zimmer-Stadt Königsberg fährt im Bomben- und Granatengetümmel quer durchs halbe Reich ausge- rechnet nach „Schwalbe V“, jott- wedeh im Thüringer Wald. An- geblich waren Kipploren und klei- ne Lokomotiven in den Waggons. Können das nicht auch Deckna- men für das Bernsteinzimmer ge- wesen sein? Dagegen stehen al- lerdings die Aussagen mehrerer

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Zeugen, die die Kisten noch lan- KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter*: Schattenwelt unter der Biedermeier-Kulisse ge danach auf dem Königsber- ger Schlosshof gesehen haben ihre Prospektoren unter dem alten Adolf- Kochs private Kunstsammlung nach Wei- wollen. Wohlgemerkt: die Kisten, nicht Hitler-Platz auch unerfreuliche Dinge fin- mar brachte. den Inhalt. den würden, die den Fremdenverkehr be- „Schwalbe V“ war die größte unterirdi- Heinz-Peter Haustein, FDP-Bürger- schädigen könnten. Die Skelette von KZ- sche Baustelle im ganzen Reichsgebiet. meister von Deutschneudorf in Sachsen, Häftlingen, die da unten umgebracht wor- Hier bauten bis zu 1800 KZ-Häftlinge aus sieht es total anders. „Es ist hier bei uns im den waren. Oder die immer noch ver- Buchenwald, 800 Kriegsgefangene und 500 Fortuna-Stollen – mit 99prozentiger Si- schwundenen fünf Tonnen Raubgold. Bis deutsche Bergleute unter der Aufsicht der cherheit.“ Deutschneudorf ist die frisches- heute wissen ja die wenigsten Bildungsrei- Organisation Todt an einer riesigen Raffi- te Spur der Bernsteinzimmer-Forschung. senden, dass die Goethestadt Weimar nerie, in der Heizöl zu Flugzeugbenzin Die Sachsen nennen die Gegend eine frenetische NS-Hochburg und dass verarbeitet werden sollte. „Deutsch-Sibirien“ wegen der eisigen Stür- das Konzentrationslager Buchenwald seine Anfang April 1945, kurz vor Geschwisterkommune war. Und das soll der Fertigstellung, musste die Es war Chaos. Und Chaos heißt nach dem Willen der Stadtväter auch so Baustelle vor den anrückenden bleiben. Amerikanern geschlossen wer- auch, dass Dinge funktionieren, die Ja doch, die Atmosphäre in der Schat- den. Die SS-Wachmannschaften tenwelt tief unter der Barock- und Bieder- setzten sich nach Süddeutsch- normalerweise schief gehen. meier-Kulisse beflügelt wirklich aufs hef- land ab, nur die Bauleitung blieb tigste die Phantasie. Aber das Hauptargu- zurück. Am 14. April 1945 wurden auf dem me, die im Winter über die Hochebene fe- ment von Stadelmanns Kritikern ist auch Sportplatz im benachbarten Niederschlema gen. Wenn im Frühjahr in Dresden schon nicht ohne weiteres zu entkräften: Unter 83 Häftlinge erschossen. Weil sie Mitwisser die Osterglocken blühen, sind hier die Seen dem Gauforum wäre das Entdeckungs- waren? noch vereist. risiko bedeutend höher gewesen als in ir- In den folgenden Tagen wurden die Deutschneudorf an der Schweinitz liegt gendeinem beliebigen Weimarer Kartoffel- Querstollen in „Schwalbe V“ gesprengt. außerhalb des Radius, in dem die Experten keller. Und zwar so gekonnt, dass man sie nicht das Versteck vermuten. Der Laster, mit mehr oder nur unter großem Aufwand dem Albert Popp seine Fracht aus Weimar * Bei der Fertigung von V-2-Raketenteilen in einem Stol- wieder öffnen könnte, einfach weil immer fortbrachte, hätte es nach bisherigen Kal- len im KZ Mittelbau-Dora (Thüringen). wieder Abraum von oben nachrutschen kulationen bis hierher kaum schaffen kön-

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Suchort Deutschneudorf Frischeste Spur außerhalb des Radius machtshandbuch zu finden. Sie sehen irgendwie amerikanisch nen. Aber Haustein hat natürlich Recht: aus. Es war Chaos. Und Chaos heißt nicht nur, Und wie kommen die Laster dass alles schief geht, sondern auch, dass zu Weißwandreifen? Von keiner Dinge funktionieren, die normalerweise der Krieg führenden Parteien des schief gehen. Zweiten Weltkriegs ist bekannt, Dies ist die Geschichte, wie alte Leute im dass sie im Feld Automobile Dorf sie ihrem Bürgermeister erzählt ha- mit Weißwandreifen eingesetzt ben: Am 9. April 1945 traf ein Militärkon- hätte. voi, bestehend aus mehreren Lastwagen Der Abstieg in die Schachtan- und geländegängigen Personenautos, in lage führt durch eine ergraute Deutschneudorf ein. Die Offiziere trugen ehemalige Lampenfabrik, die schwarze Uniformen, die Mannschaften auch auf dem historischen Foto „afrikafarbene“ Monturen, wie es hieß. zu erkennen ist. Von dort kann Die fremden Soldaten sperrten das Gelän- man auf Leitern zu den Stollen de ab und luden vor dem Eingang zum Ni- hinabklettern, der sich bis tief in kolai-Stollen große Kisten ab. Sie brauch- den Berg hinein verästelt. ten danach zwei Tage, um die Kisten in Von den Wänden sickert eis- den Stollen zu bringen. kaltes Wasser. Unter den Füßen Haustein sagt, in den entscheidenden schmatzt Schlamm. Vornean ist

Tagen hätten sich auch der sächsische Gau- / DER SPIEGEL E. WIEDEMANN FOTOS: die Höhle noch sehr geräumig. leiter Martin Mutschmann und Abwehr- Schatzsucher Haustein Das Bergamt hat die Eingangska- chef Erwin Lahousen in Deutschneudorf „Ganz besondere Nummer gespielt“ verne professionell und kostenlos aufgehalten. „Die wären nicht hier gewe- abgestützt. Einer der Stollen, die sen, wenn hier nicht eine ganz besondere sie aber tatsächlich nebenan im Fortuna- von hier abgehen, ist zugemauert. „Da Nummer gespielt worden wäre.“ Stollen buddelten. geht’s nach Tschechien“, sagt Haustein. Haustein und sein kleines Team sind Und die Beweise? Der Stollen gegenüber verengt sich von nicht die Ersten, die an der Schweinitz Haustein greift in seine Schreibtisch- zwei Meter langsam auf Schulterbreite. Die nach dem Bernsteinzimmer suchen. Der schublade und knallt triumphierend ein Kisten könnten hier gerade eben durchge- deutschamerikanische Schatzjäger Helmut Foto auf den Tisch. „Bitte sehr.“ passt haben. Gaensel hat hier schon ein Vermögen in die Das Bild, das so aussieht, als sei es heim- Sie hatten schon fast tausend Kubikme- Suche investiert. Nur, er suchte im Nikolai- lich aufgenommen worden, ist wirklich ein- ter Gestein weggeschafft, das durch eine Stollen, der unter der Grenze hindurch ins drucksvoll. Es zeigt eine Gruppe von Mi- Sprengung herabgefallen war. Dann brach tschechische Nachbardorf Hora Svarte Ka- litärautos mit ein paar Soldaten dazwi- beim Graben im Stollen ein Teil der Decke teriny (Katharinaberg) führt. schen. Die Beschreibung der Uniformen ein. Heinz-Peter Haustein verliert aber den Der Nikolai-Stollen war jahrzehntelang passt. „Wenn Sie’s nicht glauben, fahren Mut nicht. Er hat am Ortseingang ein eine Art Höhlenmuseum. Jeder konnte ihn wir doch mal rüber“, sagt Haustein. Schild aufstellen lassen: „Bernsteinzimmer besichtigen. Der Fortuna-Stollen, mit dem Es stimmt, das Foto ist unmittelbar ne- 150 Meter“. er sich irgendwo da unten trifft, war dage- ben dem Zechengebäude aufgenommen, gen ganz in Vergessenheit geraten. Hau- in dem bis in die achtziger Jahre des 19. Im nächsten Heft: Das Geheimnis im Koh- stein hat ihn vor anderthalb Jahren erst Jahrhunderts Kupfer gefördert wurde. Es lenkeller – Was trieb Katharina die Große wieder entdeckt. Er glaubt, dass die Sol- ist fast alles noch so wie damals. Nur die im Bernsteinzimmer? – Muckefuck auf Re- daten damals den Eindruck erwecken woll- Bäume sind natürlich viel größer. Aller- naissance-Kommoden – „Alles hin, alles ten, sie arbeiteten im Nikolai-Stollen, dass dings: Die Klein-Lkw sind in keinem Wehr- hin“

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werbung) schien Josephs Sterben bemerkt zu haben. TODESFÄLLE Wie der Junge zu Tode kam, wollte mit Ausnahme der Eltern offenbar niemand so genau wissen. Zwar ermittelten Beamte Späte Zeugen der Kriminalpolizeiinspektion Pirna mo- natelang im „unnatürlichen Todesfall zum Jahrelang ignorierte die Polizei beim Tod eines Sechsjährigen Nachteil des Kindes Joseph Abdulla“. Doch schon früh schlossen sie ein Fremd- Indizien für ein Verbrechen. Jetzt wurden drei Tatverdächtige ver- verschulden aus. Die Ermittler entschie- haftet. Ihnen werden Kontakte zur Neonazi-Szene nachgesagt. den sich für das Nächstliegende: „Ertrin- ken beim Spiel im Wasser.“ Das war womöglich ein voreiliger Schluss. Am Dienstag und Mittwoch voriger Wo- che wurden in Sebnitz und Braunschweig zwei Männer und eine Frau verhaftet, de- nen teilweise Kontakte zur rechtsextremen Szene nachgesagt wurden. Ute S., Maik H. und Sandro R. sollen an jenem Freitag, an dem der Sechsjährige ertrank, im Bad ge- wesen sein. Die Staatsanwaltschaft Dres- den wirft ihnen vor, Joseph Abdulla er- mordet zu haben. Alle drei haben bei ers- ten Vernehmungen die Tat bestritten. Der Sinneswandel der Ermittler kam ziemlich plötzlich – und wohl auch nicht ganz freiwillig. Binnen weniger Tage war der Druck auf sie so groß geworden, dass Vernehmungen, die für diese Woche terminiert waren, vor- gezogen wurden. Hatte vor drei Jahren die damals im Osten weit verbreitete Devise geheißen, nur kein Aufhebens bei einer möglichen Tat Rechtsradikaler zu machen,

BILD ZEITUNG BILD so galt jetzt das Gegenteil: Unter allen Um- Verstorbener Joseph, Mutter (1997): Ertrunken beim Spiel im Wasser? ständen sollten am 23. November mut- maßliche Täter präsentiert werden können. Den Ermittlern saßen die Medien im Nacken. Und es schien, als wollten die Fahnder mögliche Versäumnisse der Ver- gangenheit binnen Tagen wettmachen. Denn „Bild“, Deutschlands auflagenstärks- tes Boulevardblatt, wollte sein Recherche- ergebnis nicht mehr zurückhalten. Am vo- rigen Donnerstag titelte das Blatt: „Neo- nazis ertränken Kind – Keiner half, und eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen.“ Der Bericht, verstärkt durch die gleich- zeitige Bekanntgabe der Festnahmen, hat- te die entsprechende Wirkung. Schon in den frühen Morgenstunden rückten Ka- merateams in Sebnitz an. Auf allen Fern- sehkanälen kommentierten die Moderato- ren das Unfassbare, das „wohl schreck- lichste Neonazi-Verbrechen“.

SPIEGEL TV Dabei ist der Fall viel komplizierter, als Neonazis in Sebnitz*: „Lern erst mal Deutsch“ dass er in einen Fernseh-Trailer passt. Er bietet eine wohl einmalige Melange aus Er- s war exakt 15.01 Uhr, als in der säch- nur moralisch, sondern auch strafrecht- mittlungsfehlern, gebremstem Engagement sischen Kleinstadt Sebnitz der Auf- lich.“ der Fahnder, einer Mauer des Schweigens Estand der Anständigen losbrach. Weggeschaut wurde in Sebnitz fast drei- und einem fast fanatischen Recherche-Ei- Mit Emphase in der Stimme rief Oberbür- einhalb Jahre lang: fer der Mutter, die in der Ermordung ihres germeister Mike Ruckh (CDU) am vergan- Am 13. Juni 1997, einem warmen Früh- Sohnes den Schlusspunkt eines breit ange- genen Donnerstag seinen Bürgern zu: sommertag, ertrank ein sechsjähriger Jun- legten Komplotts gegen ihre Familie sieht. „Wer wegschaut, ist mitschuldig, nicht ge im Freibad. Mindestens zehn Minuten Die Aufklärung des Todes von Joseph lang trieb der leblose Körper im 1,35 Me- Abdulla ist auch eine Glaubensfrage. Vor * Am Donnerstag vergangener Woche vor dem Haus der ter tiefen Becken – keiner der 200 Gäste drei Jahren reichte die Vorstellungskraft Familie von Joseph Abdulla. des „schönsten Bades Sachsens“ (Eigen- vieler nicht aus, den Anklagen der Eltern zu

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sierte Jugendliche zum Stadtbild gehören, kann sich eine deutsch-ira- kische Familie schnell an den Rand gedrängt fühlen. Der Vater, der in Marburg studiert hat, wurde belei- digt („Lern erst mal Deutsch“), Jo- seph von älteren Kindern als „Apo- theken-Abdul“ verhöhnt. Der älte- ren Schwester Diana riet der Großva- ter, sich die Haare blond zu färben. Auch Gewalttaten gegen Minder- heiten sind in Sebnitz aktenkundig. An Neujahr 1997 traten der rechten Szene nahe stehende Jugendliche zwei Obdachlose zusammen. Die Kleinstadt gilt bei Verfassungsschüt- zern als Zentrum von Neonazi- Gruppen wie der „White Warrior Crew“; es gibt ein neonazistisches Fan-Magazin („Hass Attacke“) und einen rechten Musikverlag. Beim Stadtfest im Oktober kam es zu Aus-

S. DÖRING schreitungen von Skinheads. Auch im Schwimmbad sollen rechtsradikale Sprüche gefallen sein, Apotheke der Familie Abdulla ehe Joseph starb. Ein angeblicher Erbitterter Kleinkrieg Augenzeuge erzählte schon damals mit der Konkurrenz der Mutter von „einer Rotte von 50 oder 60 Skinheads im Schwimm- folgen. Zu ungeheuerlich schienen die Vor- bad“. Doch in diese Richtung ermit- würfe. Heute, Hunderte Nazi-Anschläge telten die Kripo-Beamten nie ernst- später, ist das politische Klima anders – haft. Am 7. Mai 1998 wurden die Ak- den braunen Schlägertrupps wird alles zu- ten geschlossen. getraut. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Doch bislang ist wenig bewiesen: Die Mutter längst selbst die Ermittlungen BILD ZEITUNG BILD Staatsanwaltschaft stützt ihre Mordthese ZEITUNG BILD übernommen. Sie suchte Zeugen, auf die Aussage dreier Zeugen, die, wie Tatverdächtige Maik H., Sandro R. schaltete einen Landtagsabgeordne- Oberstaatsanwalt Claus Bogner vorsichtig „Scheiß Ausländer“ ten ein, der bei Innenminister Klaus formuliert, „angeben, das Tatgeschehen Hardraht (CDU) intervenieren sollte, beobachtet zu haben“. Sebnitz sahen sich die SPD-Ratsfrau und und heuerte die für spektakuläre Strafsa- Andererseits belegen die Justizakten, ihr Mann, der gebürtige Iraker Saad Ab- chen berühmte Kanzlei des Münchner An- dass bei den Ermittlungen im Jahr 1997 dulla, Anfeindungen ausgesetzt – das Apo- walts Rolf Bossi an. eine ganze Reihe grober Schnitzer pas- theker-Ehepaar hatte sich mit der Konkur- Die Advokaten präsentierten drei mut- sierten: renz einen erbitterten Kleinkrieg geliefert, maßliche Täter, die damals minderjährig • Joseph war Nichtschwimmer. Ein in dem man sich wechselseitig mit Anzei- gewesen waren, und legten am 8. Juni 1998 Schwimmreifen, mit dem der Junge gen überzog. Beschwerde gegen die Einstellung des Ver- sonst immer im Wasser war, fehlte. War- In einer Stadt, in der die NPD bei der fahrens ein – vergebens. Die lapidare Ant- um, wurde nie geklärt; jüngsten Kommunalwahl 6,5 Prozent er- wort der Generalstaatsanwaltschaft: Die • mögliche Augenzeugen wie der Besitzer hielt, „Ausländer raus“-Gegröle an der Ermittlungsmöglichkeiten seien ausge- eines Kiosks wurden nicht befragt; Tagesordnung ist und martialisch kahl ra- schöpft, eine Beteiligung Dritter könne „si- • die Aussage von zwei Kindern, cher ausgeschlossen werden“. Über- die gesehen haben wollen, dass dies seien die angeblichen Tatver- Joseph untergetaucht wurde, ig- dächtigen „zum Tatzeitpunkt straf- norierten die Fahnder in ihrem unmündig“ gewesen. Abschlussbericht; Renate Kantelberg gab sich damit • die Leiche wurde in der Dresd- nicht zufrieden. Sie erwirkte die Ex- ner Gerichtsmedizin offenbar humierung der Leiche und beauf- nur ungenügend untersucht. tragte auf eigene Kosten den Gieße- Über den Verbleib der inneren ner Rechtsmediziner Günter Weiler Organe fehlten Aufzeichnungen. mit einer zweiten Obduktion. Des- Blutproben wurden nicht sach- sen Untersuchungen verstärkten die gerecht aufbewahrt. Verdachtsmomente erheblich. Die offensichtlichen Schlampe- Bei der ersten Leichenöffnung in reien wertete Josephs Mutter, die Dresden, monierte der Gießener Apothekerin Renate Kantelberg, als Experte, seien wichtige Dinge über- Indizien dafür, dass ein Verbrechen sehen worden – beispielsweise ein vertuscht werden sollte. Die Rede Hämatom am Ohr, das auf einen war von einem „Auftragsmord“. Schlag schließen lasse. In seinem Seit ihrer Umsiedlung 1995 nach Exhumierung von Josephs Leichnam: Wichtiges übersehen? Gutachten vom 17. Januar dieses

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Jahres kam Weiler zu dem Schluss, „dass wieder aufzunehmen“. Die Aussagen leg- eine Wiederaufnahme des Todesermitt- ten den „Anfangsverdacht einer vorsätzlich lungsverfahrens zur weiteren amtlichen rechtswidrigen Straftat nahe“. Ausermittlung des Falls angezeigt scheint“. Schott schickte im Sommer seine Ex- Der Mediziner hatte nämlich eine bri- pertise nicht nur an die Auftraggeberin, sante Entdeckung gemacht: In Josephs Blut sondern auch an das sächsische Innen- wies er Spuren des Wirkstoffs Methyl- ministerium. In Dresden sorgte das bri- phenidat nach. Die Substanz ist vor allem sante Papier für erheblichen Wirbel. Innen- in dem Medikament Ritalin enthalten. Ein minister Hardraht, sensibilisiert durch die Hinweis darauf, dass der Junge womöglich Rechtsradikalen-Debatte der vergangenen zuerst betäubt und dann ertränkt wurde? Wochen, sah jetzt eine neue Verdachtslage Ritalin ist ein weit verbreitetes Psycho- und informierte den Generalstaatsanwalt. pharmakon für hyperaktive und ver- Anfang September nahm die Staatsan- haltensgestörte Kinder. Pharmakologen waltschaft Dresden unter dem Akten- bemängeln seit langem, dass die Droge zu zeichen 414 Js 53329/00 neue Ermittlun- oft, zu schnell und ohne die vorgeschrie- gen wegen des Verdachts der Ermordung bene Aufsicht eines Therapeuten verab- von Joseph Abdulla auf. Auch richtete reicht wird. Doch Joseph wird als eher sich das Verfahren nicht mehr gegen Un- schüchtern und zurückhaltend beschrie- bekannt, sondern gegen die zwei Männer ben, was eine Medikation eher unwahr- und die eine Frau, die Kantelbergs Zeugen scheinlich macht. Zweifel an ihrer Mord-Komplott-These ließ die Mutter nie gelten. Bisweilen ging das selbst ihrem Anwalt zu weit. Sie solle sich nicht „in einen sinnlosen Kampf, so- zusagen gegen den Rest der Welt, ver- stricken“, heißt es in einem Schreiben der Kanzlei Bossi vom Februar 1999. Diese Mahnung galt aber vor allem dem Bestre- ben der Mutter, auch zivilrechtliche An- sprüche wegen des Todes des Kindes gel- tend zu machen. Solche Hinweise führten zu noch eifrige- rer Eigenrecherche. Bis zum Sommer sam- melte Renate Kantelberg mehr als ein Dut- zend Aussagen – auf Tonband und später auf Video. Den späten Zeugen, darunter viele Kinder, wurden die transskribierten Aussagen zur Unterschrift vorgelegt und als eidesstattliche Versicherungen deklariert. Joseph (M.), Mutter, Schwester Diana (1995) Stimmen diese Berichte, ist Joseph Ab- „Gegen den Rest der Welt“ dulla tatsächlich auf unvorstellbar grausige Art und Weise zu Tode gequält worden: als Täter benannt haben und die nun Der damals 17-jährige Maik H. schlepp- seit vergangener Woche in Untersu- te demnach gemeinsam mit einem weiteren chungshaft sitzen. Jungen Joseph vom Liegeplatz zur Imbiss- Aber waren sie auch die Täter? bude. Dort hat Maik H. dem Jungen aufs Sicher scheint nur, dass Joseph nicht ein- rechte Ohr geschlagen. Sandro R. hielt das fach so ertrunken ist, wie es die Polizei be- Opfer fest. Ute S. schüttete eine unbe- hauptete und es die Sebnitzer nur zu gern kannte Flüssigkeit in eine Limonade und weiter glauben möchten. Dagegen spre- zwang das Kind, die Mixtur zu trinken. chen inzwischen zu viele Indizien. Maik H. und Sandro R. packten den Jun- In Ermittlerkreisen wird eine Theorie gen in ein Handtuch, trugen ihn zum am meisten genannt: Danach hat es im Beckenrand und warfen ihn ins Wasser. Schwimmbad Gewalt gegen Joseph gege- Ute S. feuerte die beiden an und rief ben, womöglich wurde die auch von Ute S., „Scheiß Ausländer“. Daraufhin trampel- der Tochter eines Sebnitzer Apothekers, ten die beiden Älteren auf dem im Wasser initiiert. Dann sei die Aktion wohl aus dem liegenden Joseph herum – bis er sich nicht Ruder gelaufen – die Tatbeiträge Einzelner mehr rührte. aber seien noch unklar. Einer der Festge- Diese – immer noch unbewiesenen – nommenen gab am Freitag bei seiner Ver- Aussagen schickte Kantelberg mit den Ak- nehmung an, für die Tatzeit ein Alibi zu ha- ten des eingestellten Ermittlungsverfahrens ben. Bis in die Nacht zum Samstag dauer- nach Hannover an das Kriminologische te die Überprüfung an. Forschungsinstitut des designierten nie- In Sebnitz ziehen derweil die Kommu- dersächsischen Justizministers Christian nalpolitiker altbewährte Konsequenzen. Pfeiffer. Dort prüfte der gelernte Straf- Für den ersten Advent ist auf dem Markt- richter Tilmann Schott die Erklärungen auf platz eine Lichterkette für Zivilcourage und ihre Glaubwürdigkeit. Sein Fazit: Sie gäben gegen gewaltbereiten Extremismus vorge- „in jedem Fall“ Anlass , „die Ermittlungen sehen. Sven Röbel, Andreas Wassermann

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Mehdorn (r.) mit Verkehrs- minister Kurt Bodewig (l.) M. URBAN

DEUTSCHE BAHN Radikaler Abbau der Belegschaft ach Analysen der Unternehmensberatung McKinsey werbsfähige Tarifstrukturen“, also Arbeitszeitverlängerungen N(„streng vertraulich“) muss die Deutsche Bahn (DB) deut- und Regionalisierungen, „schwer durchsetzbar“. Die McKinsey- lich mehr Mitarbeiter abbauen als bisher bekannt. Das geht aus Experten haben noch zahlreiche weitere Risiken aufgezählt. So einer „Plausibilitätsprüfung“ der DB-Planungen durch McKin- sei die Neuverhandlung der Verträge mit den Bundesländern, sey von Anfang November hervor. Danach braucht die Bahn die den Nahverkehr mit über 13 Milliarden Mark jährlich sub- im Jahr 2015 nur noch 120000 Mitarbeiter; derzeit beschäftigt ventionieren, ohne Umsatzeinbußen „schwer umsetzbar“. die Bahn rund 240000 Menschen – nicht einmal halb so viel wie McKinsey rechnet mit einem Fehlbetrag von 700 Millionen vor zehn Jahren. Schon bis 2005 sollen über 51000 Beschäftig- Mark bis 2005. Im Fernverkehr seien Mehdorns Pläne für wei- te gehen: davon knapp die Hälfte durch natürliche Fluktuation, tere Streckenstreichungen mit einer „Reduktion Netz auf ca. 170 über 27000 aber durch „aktive Personalmaßnahmen“. Insge- Halte“ politisch „nicht durchsetzbar“. Die Berater haben ein samt drohen die Personalkosten bis 2005 pro Jahr um 2,5 bis 3 ehrgeiziges Sanierungsprogramm mit 20 Projekten aufgesetzt. Prozent zu steigen und der Bahn konzernweit ein „kumulier- Gemeinsame DB/McKinsey-Teams unter Mehdorns Vorsitz sol- tes Risiko“ von rund 1,1 Milliarden Mark zu bescheren, so die len Pläne ausarbeiten, mit den zum Beispiel allein im Einkauf Berater. Insbesondere im Regionalverkehr seien „wettbe- zwei bis drei Milliarden Mark jährlich gespart werden.

HOLZMANN neue Berufsbilder für die Elek- troindustrie geeinigt, um die Brüssel lässt prüfen künftigen Facharbeiter fit zu machen für die moderne Infor- m Auftrag der EU-Kommission ermit- mationstechnik. So sollte die Itelt die belgische Tochter der Wirt- bisherige bundesweit einheitli- schaftsprüfungsgesellschaft BDO, ob che Praxis-Prüfung durch eine der Baukonzern Holzmann die zugesag- betriebsinterne Lehrprobe er- te Staatshilfe von 250 Millionen Mark setzt werden. Dagegen wehrt erhalten darf. Bundeskanzler Gerhard sich der Deutsche Industrie- Schröder hatte vor einem Jahr dem an- und Handelstag (DIHT), die geschlagenen Konzern die Finanzspritze Spitzenorganisation der Kam- versprochen, doch Brüssel hat die Aus- mern, mit der Begründung, die

zahlung bisher nicht genehmigt, weil M. DUNSCHE / K. BOOTMANN traditionelle Zentralprüfung dies möglicherweise eine unerlaubte Elektro-Lehrwerkstatt müsse erhalten bleiben, um Subvention sei: Holzmann sei entgegen einheitliche Ausbildungsstan- den Aussagen des damaligen Manage- AUSBILDUNG dards zu sichern – für Bildungsexperten ments nicht sanierungsfähig gewesen, ein Vorwand. Denn die zentralen Prü- weil die von dem gefeuerten Chef Hein- Die Kammer-Blockade fungsaufgaben erstellt eine Tochter der rich Binder angeblich entdeckten Ver- IHK Stuttgart und kassiert dafür Ge- luste von 2,4 Milliarden Mark keines- ie Industrie- und Handelskammern, bühren von den Firmen. IG-Metall-Chef wegs „vertuschte Altlasten“ waren; viel- Dderen Existenzberechtigung zuneh- Zwickel hat jetzt den DIHT-Präsidenten mehr sind über 90 Prozent der Verluste mend in Frage gestellt wird, blockieren Hans Peter Stihl schriftlich belehrt, die erst 1999 entstanden. Ob Holzmann die eine Modernisierung der Berufsausbil- Vorbereitung auf moderne Berufe lasse 250 Millionen Mark erhält, hängt ab dung. Die IG Metall hatte sich mit dem sich „nicht mit am grünen Tisch kon- vom Ergebnis der belgischen Prüfer. zuständigen Industrieverband ZVEI auf struierten Aufgaben“ bewältigen.

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EURO n dieser Woche werden die Finanzminister der EU-Staaten Iin einer gemeinsamen Erklärung zum Euro und zur Ost- erweiterung die Bürger der Gemeinschaft beruhigen. Der Euro, Entwarnung so behaupten Ökonomen, sei auch deshalb so schwach, weil die voraussichtliche EU-Mitgliedschaft osteuropäischer Länder die Stabilitätskriterien aufweiche und so die Gemeinschafts- aus dem Osten währung belaste. Dies sei falsch, erklären die Finanzminister, darunter der Deutsche Hans Eichel und der Franzose Laurent Fabius, in ihrem Papier: Selbst wenn Länder wie Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei und Estland ab 2005 EU-Mitglieder werden, würden diese Staaten noch viele Jahre ihre nationalen Währungen behalten. Zum einen würden die Osteuropäer nicht die Kriterien für die Aufnahme in den Euro-Verbund schaffen; zum anderen läge es auch im Interesse dieser Länder, sich nicht der Disziplin der Europäischen Zentralbank zu un- terwerfen. Denn die osteuropäischen Schwellenländer müssten nach überdurchschnittlichen Wachstumsraten streben. Um Importe zu erschweren und Exporte zu er- leichtern, würden die Osteuropäer ihre Währungen von Zeit zu Zeit abwerten. Mit Hilfe flexibler Wechselkur- se ließen sich die bei raschem Wachstum zwangsläufig steigenden Löhne in den Exportbranchen zum Teil kom- pensieren, und so blieben die Ostfirmen wettbewerbs- fähig. Bei einer raschen Euro-Einführung hingegen

JARDAI / MODUS JARDAI wären sie der überlegenen Konkurrenz aus dem Westen Eichel, Fabius auf der Ratssitzung der EU-Finanzminister ohne Anpassungshilfen ausgeliefert.

STAATSVERSCHULDUNG DEUTSCHE BA sonal vertritt, will die Beschäftigten des- halb in den nächsten Wochen zur Urab- Eichel hört Piloten wollen streiken stimmung und zu unbefristeten Streiks aufrufen. Die DBA-Piloten gelten in der nicht auf Breuer eit Gründung des Unternehmens im Branche als besonders stark belastet, da SJahr 1992 drohen der Deutschen BA sie, anders als ihre Lufthansa-Kollegen, eutsche-Bank-Chef Rolf Breuer (DBA) die ersten groß angelegten überwiegend innerdeutsche Kurz- Dstößt mit seinem Vorschlag, Dollar- Streiks. Der bevorstehende Ausstand, strecken fliegen und bis zu sechs Starts reserven der Bundesbank zur Kursstüt- so glauben Branchenkenner, könnte für und Landungen pro Tag absolvieren zung des Euro zu verkaufen und mit die Muttergesellschaft British Airways müssen. Deshalb fordern sie kürzere den Erlösen Staatsschulden zu tilgen, Dienst- und längere Ru- im Bundesfinanzministerium auf Ab- hezeiten. Zunächst schien lehnung. „Der Vorschlag von Herrn die DBA-Führung kom- Breuer ist grundsätzlich verständlich“, promissbereit, doch am heißt es in einer Vorlage für Finanz- Donnerstag vergangener minister Hans Eichel, er „dürfte jedoch Woche präsentierte sie nicht realisierbar sein“. Die Beamten plötzlich neue Forderun- warnen vor allem vor dem schlechten gen: keine besseren Ar- Eindruck, den der Rückgriff der Regie- beitsbedingungen, viel- rung auf die Reserven der unabhängi- mehr sollen die Piloten gen Bundesbank machen würde. Der nun verpflichtet werden, Plan könne den falschen Schluss nahe möglichst nah am Einsatz- legen, „es handele sich bei den Devi- ort zu wohnen, die Kün- senreserven um eine Art ,Schatz‘, auf digung befristeter Ar-

den insgesamt seitens des Bundes zu- DPA beitsverhältnisse soll er- rückgegriffen werden könnte“. Nicht Boeing 737 der Deutschen BA leichtert und das Recht der Bund, sondern nur die Europäische auf Teilzeitjobs einge- Zentralbank sei befugt, Devisenreser- (BA) der letzte Auslöser sein, ihre ver- schränkt werden. Die harte Linie inter- ven zu verwalten und im Rahmen von lustträchtige deutsche Tochtergesell- pretieren Insider als den Versuch, sich Interventionen zu verkaufen. Die von schaft zu verkaufen. In der Nacht zum von dem deutschen Markt und dem ver- Breuer vorgeschlagenen Interventionen Freitag vergangener Woche scheiterten lustreichen Preiskampf mit der Lufthan- wären zudem „gleichbedeutend mit ei- die seit Monaten andauernden Ver- sa zurückzuziehen. Derzeit sucht die nem restriktiven geldpolitischen Kurs“. handlungen über einen Manteltarifver- BA einen Käufer für den Billig-Carrier Dem Markt würde Liquidität entzogen, trag für die Flugzeugführer. Die Piloten- „Go“, der in Deutschland die Strecke die Zinsen würden steigen. vereinigung Cockpit, die das Bord-Per- München–London bedient.

106 der spiegel 48/2000 Geld

ALTERSVORSORGE Trickreiche Banken NEUER MARKT it ihren Angeboten zur privaten Al- Kaufen oder warten? Mtersvorsorge führen die meisten Banken und Versicherungen ihre Kunden um ersten Mal in seiner Entwicklung am Neuen Markt hinters Licht. Das fand der Finanzwissen- ZGeschichte ist der Neue 1000 schaftler Friedrich Thießen von der Tech- Markt – trotz immer wieder Nemax 50 seit Januar 1998; Veränderung in Prozent nischen Universität Chemnitz heraus, als auftretender heftiger Schwan- er 17 Prospekte von Anbietern – darunter kungen – unter seinen Vorjah- 900 die größten deutschen Banken und Fonds reswert gefallen. Für Achim erstmals Unterschreitung des Vorjahreskurses – untersuchte. Freihändig wird mit Zins- Matzke, Charttechniker bei 800 sätzen und Ansparzeiten jongliert. Eine der Commerzbank, ist die 2000 Geldentwertung berücksichtigen nur 2 der Grafik eindeutig: Die Gefahr 400 17, obwohl sich die Kaufkraft der ange- ist keineswegs vorbei. „Die 700 sparten Rente bei einer nur zweiprozen- mehr oder weniger parallelen 350 tigen Inflationsrate mehr als halbiert. Wird Linien der vergangenen Jahre 600 die Geldentwertung berücksichtigt, müsste zeigen das typische Bild ei- 300 bei fast allen Modellen der monatliche ner Hausse. Jetzt aber ist der Sparbetrag um mindestens 100 Prozent Markt in einer Baisse.“ Anle- 500 über den Angeboten liegen, um zum glei- ger sollten deshalb unbedingt chen Vermögen im Alter zu führen. Uner- abwarten, bis die Börse wie- der dreht. Schließlich verlie- 1999 400 ren in Zeiten generell fallen- der Kurse 85 Prozent der Ak- 300 tien an Wert. „Wer jetzt im großen Stil investiert, spielt in der Baisse nach den Regeln ei- 1998 200 ner Hausse – und das kann nur ins Auge gehen“, so Matzke. 100 Er rät Anlegern, auf jeden Fall abzuwarten, bis sich ein Bo- Quelle: Datastream den gebildet hat, also die Kur- 0 Jan. Dez. HUBER / LAIF se auf niedrigem Niveau stabil Rentner sind. „Nur weil der Markt am Freitag mal um ein paar Prozent zugelegt hat, sollten die Anleger jetzt nicht klärlich fand Thießen auch die Schwan- anfangen zu hoffen – oder gar zu kaufen“, sagt Matzke. „Mit Bodenbildung hat kungsbreite bei der Verzinsung des ange- das gar nichts zu tun.“ Andere Analysten raten ihren Kunden dagegen, sich sparten Kapitals, die bei der Frankfurter ausgewählte Werte ins Portfolio zu legen. „Wer glaubt, dass der Tiefpunkt er- Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka Bank reicht ist, sollte vorsichtig wieder anfangen zu investieren“, meint Jan Herbst von zum Beispiel zwischen 5,5 und 10 Prozent Sal. Oppenheim, „jedenfalls gibt es zurzeit einige Qualitätswerte, die ausge- liegt. Die Deutsche-Bank-Tochter DWS sprochen billig sind.“ rechnet gar mit 11 bis 12 Prozent Zinsen.

INVESTMENTFONDS Fonds Julius Bär Special German Stock Fund, VMR Strategie Quadrat und Adig Neuer Markt mussten seit dem Höchst- Frische Mittel fehlen stand der jungen Hightech-Börse im März nahezu identische Kursverluste von über 50 Prozent hinnehmen. Beim von em scheibchenweisen Crash am Neuen Markt sind auch Ochner verantworteten Julius Bär Special sank das Fondsvo- Ddie Fondsmanager Kurt Ochner, Marian von Korff und lumen um rund 600 Millionen Euro. Am 31. März hatte der Kerstan von Schlotheim nahezu hilflos ausgeliefert. Ihre Fonds von Ochner, der gern als „Mr. Neuer Markt“ bezeich- net wird, noch 1,63 Milliarden Euro, zum 31. Ok- Aktienfonds tober waren es nur noch 1,06 Milliarden Euro. in Euro VMR Strategie Julius Bär Adig Ochner fehlten frische Mittel, um weiter die von 500 130 5500 Quadrat Special German Neuer Markt ihm favorisierten Unternehmen zu stützen. Korff 110 und Schlotheim, die oft zusammen mit Ochner 4500 400 in Unternehmen eingestiegen sind, konnten den 90 negativen Trend nicht aufhalten. Auch bei Schlotheims Fonds Adig Neuer Markt hat sich 3500 300 ab 13.3.2000; 70 vorher: das Fondsvolumen seit April etwa halbiert. Ehe- A.L.S.A. malige Favoriten der drei Fondsmanager wie 2500 Quelle: 200 Datastream 50 Neuer Markt EM.TV oder CE Consumer fielen bei dem Aus- verkauf am Neuen Markt besonders stark nach Jan.Juni Nov. Jan.Juni Nov. Jan.Juni Nov. unten.

der spiegel 48/2000 107 Wirtschaft G. TROTT (li.);G. TROTT (re.) REUTERS DaimlerChrysler-Chef Schrempp, Chrysler-Zentrale (in Auburn Hills bei Detroit): „Ich fürchte, wir haben das Ende noch nicht gesehen“

KONZERNE Das Daimler-Desaster Die Krise bei Chrysler droht den ganzen DaimlerChrysler-Konzern zu erfassen, der Kurssturz seiner Aktie könnte ihn sogar zum Objekt einer feindlichen Übernahme machen. Konzernchef Jürgen Schrempp muss kämpfen – um seine Vision einer Welt AG und um seinen Job.

elten zuvor in der Unternehmensge- Eine Szene wie aus einem schlechten dass Chrysler seine Planungen reduzierte: schichte waren die Führungskräfte Film, tatsächlich aber bittere Realität: „Ursprünglich sollte Chrysler im Jahr 2000 Svon Chrysler so gespannt auf ein so Schrempps Auftritt vor den versammelten 4,5 Milliarden Euro Profit erwirtschaften. genanntes Town Hall Meeting. Streng ab- Chrysler-Managern war der bisherige Im Juli wurden die Erwartungen auf geschirmt warteten am vergangenen Mon- Höhepunkt einer Krise, die nicht nur die 3,6 Milliarden reduziert, im Oktober auf tag in einem Konferenzraum der Zentrale Marke Chrysler, sondern den gesamten 2,5, und jetzt sprechen wir über weniger als in Auburn Hills rund 400 Top-Manager dar- DaimlerChrysler-Konzern ins Schleudern 2 Milliarden. Und ich fürchte, wir haben auf, dass Konzernboss Jürgen Schrempp bringen kann. das Ende noch nicht gesehen.“ ihnen das Unerklärliche erklärt: Warum Nachdrücklich versuchte Schrempp, Das fürchten offenbar auch Anleger in wurde der allseits geschätzte Markenchef dem Chrysler-Management den Ernst der aller Welt. Die Aktie des drittgrößten Au- Jim Holden gefeuert? Und: Wie schlimm Lage klar zu machen. „Während unsere tokonzerns stürzte vergangene Woche zwi- ist die Lage bei Chrysler? Wettbewerber gut verdienen, haben wir im schenzeitlich auf den tiefsten Stand seit Kurz nach 14 Uhr stieg Schrempp aufs dritten Quartal einen Verlust von über ei- der Fusion von Daimler-Benz mit Chrysler. Podium und begann nach kurzer Be- ner halben Milliarde Dollar gemacht“, sag- Unter der Führung von Schrempp, der den grüßung: „Am letzten Sonntag saßen Jim te der DaimlerChrysler-Chef. „Im Okto- Shareholder-Value zum obersten Unter- und ich zusammen. Ich fragte ihn: ,Was ber ging der Absatz von Chrysler-Fahr- nehmensziel erkoren hat, schrumpfte der würdest du machen, wenn du an meiner zeugen um neun Prozent zurück, und der Wert des Unternehmens in dieser Zeit von Stelle wärst?‘ Jim sagte: ,Ich würde genau November sieht nicht besser aus.“ 140 auf rund 95 Milliarden Mark. das tun, was du jetzt tun wirst.‘ Es war kein Bei jeder Vorstandssitzung seien die Ma- Sofort machen Spekulationen über eine Vergnügen für mich, aber wir sind alle Pro- nager davon überrascht worden, warf Ablösung Schrempps („Handelsblatt“: fis. Ich bat ihn zurückzutreten.“ Schrempp dem geschassten Holden vor, „Für den Daimler-Chef tickt die Uhr“),

108 der spiegel 48/2000 men, je länger die Aktie in ihrem Kurstal verharrt.“ Was für ein Sturz. Es ist noch nicht lan- ge her, da galt die Daimler-Aktie als Hoff- nungswert und der Konzernchef als Vi- sionär. Kaum jemand widersprach, wenn Schrempp davon schwärmte, mit seinen Marken Mercedes-Benz, Smart, Chrysler, Mitsubishi und Hyundai den „führenden Automobilkonzern des 21. Jahrhunderts“ aufbauen zu wollen, der vom Kleinwagen bis zum schweren Lastwagen alle Fahr- zeugklassen abdeckt, der in Europa, Asien und den USA mit eigenen Fabriken ver- treten ist. Kassensturz Chrysler 19,0 Quartalsergebnisse seit 18,0 der Fusion in Mrd. Euro 17,4 Umsatz 16,3 Gewinn/Verlust 15,3 15,2 15,2 +1,46 +1,47 +1,32 +1,35 +1,16 +1,03

III/00 –0,58 Chrysler-Produktion: „14 Prozent Marktanteil – Personal für 20 Prozent“ I/99 II/99 III/99 IV/99 I/00 II/00

über einen Verkauf von Chrysler – oder gar an Mitsubishi und an Hyundai zur „Welt Und nun gilt DaimlerChrysler eine feindliche Übernahme des gesamten AG“ machen will, wäre ein lohnendes für manche schon als Übernah- DaimlerChrysler-Konzerns durch Toyota Übernahmeziel. Allein die hochprofitable mekandidat – und Schrempp als Vor- die Runde. Und als „Bild“ am Mittwoch Marke Mercedes-Benz ist wohl mehr wert standsvorsitzender auf Abruf. titelte „Angst um Mercedes, Aktie im Kel- als das gesamte Unternehmen an der Bör- Von seinen Aufsichtsräten erhält ler – wird Daimler geschluckt?“ wurde dies se. Toyota oder Ford könnten die Luxus- Schrempp Rückendeckung. Auf der jüngs- in der Stuttgarter Zentrale keineswegs als marke nach einer feindlichen Übernahme ten Sitzung versicherten sowohl der Vor- völliger Unsinn abgetan, auch wenn Toyo- behalten und Chrysler wieder abstoßen. sitzende des Kontrollgremiums, Hilmar ta umgehend dementierte. Die seriöse „Börsenzeitung“ kommentier- Kopper von der Deutschen Bank, als auch Der Konzern, den Schrempp durch die te schon vor Wochen: „Die Gefahr ist vor- die Arbeitnehmervertreter, dass sie den Übernahme von Chrysler, Beteiligungen handen, und sie ist umso ernster zu neh- Kurs für richtig halten. Doch der Einfluss

Kratzer im Blech 17.11.1998 100 Aktienkurs Start der Daimler- Quelle: Datastream in der Ära Schrempp 22.01.1996 Chrysler-Aktie 15.11.2000 90 in Euro; bis 16.11.1998 Die Verluste für das Geschäftsjahr Daimler-Benz AG 1995 werden mit rund 6 Milliarden Es wird bekannt, dass Mark beziffert, die Unterstützung der für Chrysler zuständige 80 17.01.1996 der defizitären Tochter Fokker Vorstand James Holden wird eingestellt. abgelöst werden soll. Die Auflösung der Daimler-Toch- ter AEG wird bekanntgegeben. 70

24.05.1995 60 Jürgen Schrempp löst Edzard Reuter 50 als Vorstands- 26.10.2000 vorsitzender der 07.05.1998 Daimler-Benz DaimlerChrysler gibt die AG ab. Schrempp Zahlen für das 3.Quartal bekannt. 40 28.06.1995 kündigt Fusion Demnach machte Chrysler 579 Schrempp mit Chrysler an. Millionen Euro Verlust. kündigt empfind- 30 1995 1996 liche Verluste an. 1998 1999 2000

der spiegel 48/2000 109 der Kontrolleure ist be- sprechend billig produziert grenzt. Über die Zukunft wurden, fuhren höchste Pro- des Konzerns wird vor allem fite ein. Doch inzwischen ist an der Börse entschieden. der Markt überfüllt. Chrys- Auch die bislang treu ver- ler muss Rabatte geben wie bundenen Großaktionäre Ford und General Motors. Deutsche Bank (12 Prozent), Chryslers neue Modelle wie Kuweit (7 Prozent) und Kirk der gerade präsentierte Mi- Kerkorian (3 Prozent) kön- nivan aber sind technisch nen nicht hinnehmen, dass aufwendiger als ihre Vor- ihr Vermögen sich Milliarde gänger und entsprechend um Milliarde schmälert. Zu- teuer in der Produktion. Bei dem will die Deutsche Bank hohen Rabatten stürzt ihr DaimlerChrysler-Paket Chrysler schnell in die Ver- ab dem Jahr 2002 verkaufen, lustzone. wenn die dabei realisierten „Wir haben einen deutli- Gewinne nicht mehr ver- chen Kostennachteil ge- steuert werden müssen. genüber unseren Wettbe-

Die Krise bei Chrysler hat DPA werbern“, sagte Schrempp das Vertrauen vieler Anle- Chrysler-Chef Zetsche*: „Absolut dramatische Situation“ während des Town Hall ger in die Welt AG schwer Meetings. Doch die alte erschüttert – vor allem, weil alle, Schrempp gern nicht gelang, obwohl die ihre Märkte Chrysler-Führung wusste nicht, wie die eingeschlossen, von den Ereignissen über- und Unternehmen genauestens kannten. Kosten effektiv gesenkt werden könnten. rascht wurden. Jetzt zeigt sich, wie schwer Die Vorbehalte gegenüber den Deut- „Lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen: ein Konzern mit unterschiedlichen Mar- schen an der Spitze sind vor allem in De- Vielen Mitarbeitern das Handy zu strei- ken in Europa, Asien und den USA zu steu- troit groß. Zetsche versuchte sie in seiner chen, war sicher nicht die richtige Ant- ern ist. Jetzt muss auch Schrempp einräu- Rede vor der Chrysler-Führungsmann- wort.“ Doch wie kann die aussehen? men: „Das Bild war nicht klar und ist es schaft mit Ironie ein wenig abzubauen: Chrysler muss wohl viele tausend Ar- noch immer nicht.“ „Ich bin ein Deutscher, aber ich bin in Is- beitsplätze streichen. Die Firma habe „in In Frage gestellt wird nicht nur von An- tanbul geboren. Und wenn Sie es vorzie- den USA einen Marktanteil von 14 Pro- legern, sondern auch in der Stuttgarter hen, mich als Türken zu bezeichnen, dann zent, aber Personal für 20 Prozent“, sagte Konzernzentrale zunehmend die gesamte habe ich nichts dagegen.“ Schrempp. Das bedeutet, dass Chrysler bei Strategie des Kon- 128 000 Beschäftig- zernchefs. Richtig Mercedes-Benz Chrysler Nutzfahrzeuge Mitsubishi Hyundai ten rund 38000 Mit- war es, so ein Top- arbeiter zu viel hät- Manager, sich auf 5 Baureihen: 12 Baureihen: 6 Baureihen: 7 Baureihen: Pkw, 10 Baureihen: te. Der neue Chrys- das Autogeschäft zu Pkw und Pkw, Gelände- Transporter, Lkw Geländewagen Pkw und ler-Boss Zetsche konzentrieren, sich Geländewagen wagen, Pick-ups und Busse und Pick-ups Geländewagen nahm bereits Ver- von der AEG, von Jahresproduktion Jahresproduktion Jahresproduktion Jahresproduktion Jahresproduktion handlungen mit der über 1 Million 3,2 Millionen 560000 1,1 Millionen 1,55 Millionen der Luft- und Raum- Automobilarbeiter- 1 Baureihe Smart Fabriken in... Fabriken in... Fabriken in... 3 Baureihen fahrt und von der Jahresproduktion USA, Kanada, Deutschland, Niederlande, Gewerkschaft UAW Bahntechnikfirma Nutzfahrzeuge auf. Denn nach den 100000 Mexiko, China Frankreich, Spa- USA, Japan, Jahresproduktion Adtranz zu trennen. Fabriken in... nien, Türkei, USA, Taiwan, Thailand, 425000 geltenden Tarifver- Auch die Übernah- Deutschland, Kanada, Mexiko, Australien Fabriken in... trägen sind Entlas- me von Chrysler er- Frankreich, Öster- Brasilien, Argenti- 3 Baureihen Türkei, Südkorea sungen und Werks- scheint vielen noch reich, USA, Süd- nien, Indonesien, Nutzfahrzeuge schließungen bis sinnvoll. „Das Pro- afrika Südafrika Jahresproduktion 2003 kaum möglich. blem können wir lö- 380000 Die Lage könnte sen.“ Der Einstieg Mobile Welt AG Fabriken in... sich schnell zuspit- beim hoch verschul- Unternehmensbereiche, Japan, Taiwan, zen. Im Gegensatz deten japanischen Produktionsstätten und Beteiligungen Thailand, Indo- zu diesem Jahr, in Hersteller Mitsubi- nesien, Portugal dem der Autoabsatz shi Motors jedoch in den USA noch überfordere endgültig die Management- Doch viele Chrysler-Mitarbeiter wollen um vier Prozent stieg, muss 2001 und 2002 Kapazität des Konzerns. „Das ist nicht nicht akzeptieren, dass ein so abrupter nach Schätzungen von Marktforschern mit mehr zu steuern.“ Wechsel an der Spitze notwendig war. Sie einem Rückgang um drei und fast neun Besonders beunruhigend: Ausgerechnet strotzen vor Selbstbewusstsein, immerhin Prozent gerechnet werden. Der Druck jetzt hat der Stratege Schrempp, der nach galt Chrysler bis vor kurzem als profita- auf Chrysler wird weiter steigen. Zetsche eigener Aussage wie ein Schachspieler stets belster Massenhersteller der Welt. sagte bei seinem ersten Auftritt in Au- mehrere Züge im Voraus plant, keinen Nach der Krise Anfang der neunziger burn Hills: „Unser Unternehmen befindet Plan, wie die beiden Krisen in den USA Jahre hatte die US-Marke genau die rich- sich in einer absolut dramatischen Si- und Japan gelöst werden können. tigen Modelle zur richtigen Zeit, Minivans, tuation.“ Mit Rolf Eckrodt, der das operative Ge- Geländewagen und Pick-ups. Der Markt Nach weiteren Möglichkeiten zur Kos- schäft von Mitsubishi führen soll, und Die- für diese Autos wuchs schnell, es gab we- tensenkung soll der von Schrempp instal- ter Zetsche schickt Schrempp jetzt zwar nig Konkurrenz, und die technisch an- lierte Alliance Council suchen. In ihm zwei der fähigsten Manager zu den Sanie- spruchslosen Chrysler-Modelle, die ent- sollen die Chefs der Marken Chrysler, rungsfällen. Doch es ist völlig offen, wie Mercedes-Benz, Mitsubishi und Hyundai zwei Deutschen in Japan und den USA ge- * Bei der Vertragsunterzeichnung mit dem Motorenher- prüfen, in welchen Modellen sie gleiche lingen soll, was den einheimischen Mana- steller Caterpillar am vergangenen Dienstag. Motoren, Achsen und Getriebe verwen-

110 der spiegel 48/2000 Wirtschaft den könnten. Damit ließen sich, so die Zeiten der Globalisierung der Autoindu- Die Situation erinnert mittlerweile vie- Hoffnung, Milliarden einsparen. strie betrachtet werden. le an die letzte Phase von Schrempps Vor- Schnelle Hilfe für Chrysler aber kann das Längst zeigt sich, dass auch Mitsubishi gänger Edzard Reuter, der ebenfalls einer Gremium kaum bringen. Bis ein Motor auf Motors für die Welt AG auf absehbare Zeit großen Vision folgte und am Ende schei- ein anderes Fahrzeug abgestimmt ist, vergeht keine Verstärkung, sondern eine schwere terte. Reuter wollte den Autohersteller mehr als ein Jahr. Erschwert wird die Suche Last ist. Die Firma ist mit gut 30 Milliarden durch die Übernahme von AEG, Dornier, nach Synergien auch dadurch, dass die bei- Mark hoch verschuldet und wird im lau- MBB und Fokker in einen Technologie- den Marken ihre Fahrzeuge nach völlig un- fenden Geschäftsjahr voraussichtlich einen konzern verwandeln. Die Strategie klang terschiedlichen Grundsätzen Verlust von knapp drei Milliar- auch damals überzeugend. Allein, sie ließ entwickeln. Bei Chrysler spielt den Mark ausweisen. Gut ein sich in der Praxis nicht umsetzen. Der Kon- das Design eine entscheidende Drittel davon muss Daimler- zern war nicht zu steuern, die Einzelteile Rolle, bei Mercedes-Benz-Ent- Chrysler entsprechend seiner führten ein Eigenleben. Damals sorgten wicklern steht Sicherheit ganz Beteiligung an Mitsubishi in Verluste bei der AEG und schlimme Pro- oben auf der Prioritätenliste. die eigene Bilanz übernehmen. bleme bei Fokker dafür, dass Reuter von Chrysler-Techniker wollten Mitsubishi-Motors-Chef Ta- Schrempp abgelöst wurde. beispielsweise das bei Merce- kashi Sonobe aber will sich Der profilierte sich zunächst als Sanierer. des serienmäßige elektroni- trotz der schlechten Zahlen Er beseitigte nicht nur Reuters Problem- sche Stabilitätsprogramm ESP keineswegs auf die Rolle eines fälle, sondern auch seine eigenen. nicht verwenden, weil es ihre Ehrenvorsitzenden des Kon- Schrempp ließ den Flugzeughersteller Fok- Kunden kaum zu schätzen Manager Eckrodt zerns zurückziehen und dem ker, den er als Dasa-Chef einst übernahm, wissen. Noch nicht einmal Sanierung in Japan ab Januar für das operative in den Konkurs gehen. Er versenkte dabei ABS wollten die amerikani- Geschäft verantwortlichen mehrere Milliarden Mark und blieb den- schen Kollegen, so klagt ein Stuttgarter Eckrodt die Steuerung überlassen. Sonobe noch Konzernchef. Ein zweites Mal wird er Entwickler, serienmäßig einbauen. verkündet selbstbewusst: „Rolf Eckrodt be- eine solche Wende kaum überstehen. Den Die größten Einsparmöglichkeiten gibt richtet an mich. Ich bin der Präsident.“ Verkauf von Chrysler müsste wohl sein es sicher bei einer Kooperation zwischen Wenn Sonobe so weiter macht, wird er Nachfolger durchziehen. den beiden Massenherstellern im Konzern, das nicht mehr lange sein, drohen Daim- Machtmensch Schrempp hat erkannt, zwischen Chrysler und Mitsubishi. Zu- lerChrysler-Manager. Doch das Austau- dass es jetzt auch um seine Zukunft geht. mindest theoretisch. Denn ob es den bei- schen eines weiteren Spitzenmannes kann Vor den Chrysler-Managern legte er sich den deutschen Bossen Eckrodt und Zet- die Probleme kaum lösen. Die Äußerungen die rechte Hand auf die Brust und beteu- sche gelingt, Japaner und Amerikaner zur des Mitsubishi-Präsidenten zeigen nur, wie erte: „Mein Name und mein Ruf sind mit Zusammenarbeit zu bewegen, kann als ei- stark die auseinander strebenden Kräfte in dem Erfolg von Chrysler verbunden.“ nes der spannendsten Experimente in den der Schremppschen Welt AG sind. Dietmar Hawranek BÜNDNIS FÜR ARBEIT Substanzlose Hülle Verzweifelt sucht der Kanzler nach Themen für seine Kuschelrunde mit Arbeitgebern und Gewerkschaf- ten. Das nächste Treffen wird auf unbestimmte Zeit verschoben. enn es Ärger mit den Gewerk- schaften gibt, kann sich der Kanz- Wler auf einen Verbündeten ver- lassen: Stets springt ihm Chemie-Gewerk- M. URBAN schaftschef Hubertus Schmoldt zur Seite – Konsenspartner Henkel, Schröder, Schulte*: Ratlos, planlos, ziellos und ruft die Kollegen zur Ordnung. Vergangene Woche war es wieder so reden, hätten schließlich vor allem die Kol- werkschaften überein, die eigentlich für weit. Die Delegierten der Gewerkschaft legen „gewollt und beschlossen“. diesen Dezember geplante Bündnisrunde Handel, Banken und Versicherungen for- Doch die Zurechtweisung durch den auf das nächste Frühjahr zu verschieben. derten auf ihrem Kongress in Magdeburg Kanzlervertrauten konnte nicht verbergen, Für das Treffen, stellten die Konsenspart- den Ausstieg aus Gerhard Schröders Lieb- dass die Regierung inzwischen selbst den ner übereinstimmend fest, gebe es derzeit lingsprojekt, dem Bündnis für Arbeit. Der Glauben an das angeblich wichtigste Pro- kein vorzeigbares Thema. Nach zwei Jah- Vorschlag der Schwesterorganisation sei jekt ihrer Amtszeit verloren hat. Während ren Konsenskränzchen im Kanzleramt zei- „verrückt und nicht zukunftsbezogen“, unter den Arbeitnehmervertretern noch gen sich die Manager der Treffen ratlos, donnerte Schmoldt zurück. Dass die Spit- der Streit tobte, kam der Kanzler mit den planlos, ziellos. zen von Arbeitgeberverbänden und Ge- Chefs von Wirtschaftsverbänden und Ge- Selbst treue Bündnis-Verfechter wie werkschaften regelmäßig mit dem Kanzler DGB-Chef Dieter Schulte verlangen nun, über die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit * Am 10. Juli in Berlin. die Regierung müsse „mehr Druck“ ma- Wirtschaft

beraten – oder sie wurden von vornherein schläge schaffte es bislang ins Gesetzblatt. BÜNDNIS FÜR ARBEIT als nicht kompromissfähig aussortiert. Das Bündnis, klagt Ludolf-Georg von War- ˾ Kein Wunder: Die Regierung hatte dem tenberg, Hauptgeschäftsführer des Bun- Konzept Bündnis zuletzt selbst alles vorenthalten, desverbandes der Deutschen Industrie, Die Spitzen von Regierung, Arbeitgebern was ihr wichtig war. Die Rentenreform zum werde immer mehr „zu einer substanzlo- und Gewerkschaften beraten regelmäßig Beispiel nahm Schröder selbst von der Ta- sen Hülle“, die die Regierung „nach Bedarf über Initiativen für mehr Beschäftigung. gesordnung, weil er die Konfrontation mit zu nutzen versucht“. ˾ Aufbau den Gewerkschaftern fürchtete. Die Koali- Doch nicht einmal das klappt mehr nach tionsvorhaben zu Teilzeitarbeit und Mit- Wunsch. Als Gerhard Schröder bei der Die Runden werden von einer Steuerungs- bestimmung klammerte er wegen des Wi- jüngsten Runde im Sommer die Teilnehmer gruppe unter Leitung des Kanzleramtes derstandes der Arbeitgeberverbände aus. zu einem Plädoyer für die rot-grüne Steu- vorbereitet, Fachgremien und Wissen- Vortragen dürfen deren Vertreter ihre Be- erreform vereinnahmen wollte, wehrten schaftler arbeiten dem Bündnis zu. denken nun – ganz traditionell – Wirt- sich ausgerechnet die SPD-nahen Gewerk- ˾ Resultate schaftsminister Werner Müller. schafter. Auch Bündnis-Vorgaben für die Ebenso ergebnislos blieb, was das Bünd- Tarifpolitik, wie sie Schröder den Verbän- Die Teilnehmer einigten sich bislang unter nis selbst produzierte. Die rund hundert den noch Anfang des Jahres abtrotzte, wird anderem auf einen Ausbildungskonsens Experten in acht Arbeitsgruppen und sie- es künftig kaum noch geben. Nachdem die und über Leitlinien zur Tarifpolitik. ben „Branchen-Dialogen“ trafen sich zwar letzte Vereinbarung dazu fast einen Auf- Dutzende Male. Doch außer lange be- stand an der Gewerkschaftsbasis auslöste, kannten Verbandspositionen hatten sie sich will IG-Metall-Chef Klaus Zwickel eine chen. „Im kommenden Jahr brauchen wir dabei wenig mitzuteilen. Einigten sich die Wiederholung um jeden Preis verhindern. eine Beschäftigungs- und Qualifizierungs- Fachleute doch einmal auf einen Kompro- Im kleinen Kreis räumen deshalb so gut offensive“, und auch die Vermögensbil- miss, wurde der Konsens häufig in der Spit- wie alle Bündnispartner ein, dass die Er- dung gehöre „auf die Agenda“. Schulte: zenrunde wieder kassiert – und an die Ar- gebnisse der Treffen mittlerweile kaum Die Regierung müsse „dafür sorgen, dass beitsgruppen zurückverwiesen. noch messbar sind. Ganz aussteigen wollen die nächste Runde bald stattfinden kann“. Noch fruchtloser endeten die Bemühun- jedoch nicht einmal Hardliner wie BDI-Chef Leichter gesagt als getan. Verzweifelt gen der so genannten Benchmarking-Grup- Hans-Olaf Henkel. Zu verlockend ist die reisten Schröders Emissäre in den vergan- pe, eines vierköpfigen Wissenschaftler-Zir- Aussicht, die eigene Organisation mit dem genen Wochen von Verbandsführer zu Ge- kels, der für das Bündnis bislang ein halbes obligatorischen Handschlag unter schwarz- werkschaftschef, auf der Suche nach zün- Dutzend Studien und Empfehlungen lie- rot-goldenem Bündnis-Logo mal wieder in denden Bündnis-Offensiven. Das Ergebnis ferte. Doch was die Professoren auch vor- die Fernsehnachrichten zu bringen – und fiel ernüchternd aus. Entweder hatte das schlugen, die Einführung eines Niedrig- sei es mit der Drohung, die nächste Runde Bündnis die Vorhaben bereits ergebnislos lohnsektors etwa: Kein einziger ihrer Vor- platzen zu lassen. Michael Sauga Wirtschaft

Schwebebahn-Teststrecke (im Emsland) „Schneller springen als die anderen“

die ursprüngliche Idee, den Airport mit dem Zentrum zu verbinden, verfehlt wird, weil die Schwebebahn schon fünf Kilome- ter vorher an einem U-Bahn-Halt endet? Absurde Planungen gehören zum Trans- rapid wie Tiermehl zum Rinderwahn: Während in Schanghai Arbeiter mutmaß- lich schon Testlöcher bohren und 500 Fa- milien ihre Wohnungen für die Trasse räu-

F. ROGNER / NETZHAUT F. men, wissen die deutschen Anbieter noch nicht einmal, wie viel sie den Chi- nesen in Rechnung stellen wollen. 10 km Ja ng Zusätzliche Verwirrung entstand, TRANSRAPID tse Jiading Baoshan CHINA als der Waggonbauer Adtranz aus- gerechnet vergangene Woche das Aufgemotzte Transrapid-Konsortium verließ. Selbst den Abgabetermin für die Machbarkeitsstudie am vergange- nen Montag verpatzten die Deut- Straßenbahn Schanghai Flughafen schen: Nur technische Anhänge ha- Schanghai, München, Washington: Pudong ben sie, anders als berichtet, den Chinesen übergeben. Die Rech- Für den Transrapid gibt es neue nung wollen sie erst in 10 bis 14 Ta- Strecken, die Chinesen wollen als geplante Nanhui gen nachreichen. Schon am 15. De- Erste bauen. Hat der milliarden- Transrapidstrecke zember will Peking die Verträge un- teure Zug doch noch eine Chance? terzeichnen. Momentan sondieren deshalb Manager vor Ort hektisch ünchens Stadtplaner haben eine In heller Freude erklären sich zurzeit die Schmerzgrenze der Chinesen: 2,5 Mil- neue Leidenschaft: den Transra- Manager bei Thyssen, die den Zug mit liarden Mark für Technik und vier Züge Mpid. Vom Hauptbahnhof unterir- Siemens und anderen entwickelt haben, sind im Gespräch. disch parallel zur U1 zum Stiglmaierplatz die überraschenden Vorgänge im Land Ob der Bund mit einer Finanzspritze und die Dachauer Straße entlang soll der des Lächelns. Zum nationalen Volkskon- hilft, ist völlig offen. Im Wirtschaftsmi- Superzug zum Olympiastadion zuckeln. gress Anfang 2003, glaubt einer, „will der nisterium ist nicht einmal eine Voranfrage Und von da, via Ober- sowie Unterschleiß- Zhu den Transrapid als Denkmal“: Pe- wegen einer Hermes-Bürgschaft eingegan- heim, über 36,7 Kilometer Strecke zum kings Premier, früher Bürgermeister von gen. Fehlanzeige auch im Kanzleramt. Ver- Flughafen ins Erdinger Moos. Schanghai, wolle danach sein Amt an den kehrsminister Kurt Bodewig betont, sein Wahnsinn Transrapid: Deutschlands jetzigen Stadtchef abgeben – und mit ihm Ressort habe „nicht eine Aktie im Ge- hoch subventionierter Hightech-Schlitten, gemeinsam die Stelzenbahn in Betrieb schäft“. Die von der Koalition bereitge- ein Magnetzug, der Hamburg bei 430 km/h nehmen. stellten 5,1 Milliarden Mark dürften nur für Höchstgeschwindigkeit zum Vorort von „Wer zurückgeblieben ist, muss schnel- deutsche Projekte verwendet werden. Berlin machen und den Bahnverkehr ler springen als die anderen“, erklärt Auf dieses Geld macht sich auch Nord- weltweit revolutionieren sollte, aber aus Schanghais Bürgermeister Xu Kuangdi den rhein-Westfalen große Hoffnungen. Einen Kostengründen nie gebaut wurde – jetzt ist Run der Chinesen auf den deutschen gewaltigen Metrorapid will Ministerprä- er zur aufgemotzten Straßenbahn ver- Hightech-Zug. sident Wolfgang Clement mit aller Ge- kommen. Tatsächlich gilt die Kurztrasse als Test- walt neben das bestehende Schienennetz Und das nicht nur in Bayern. Auch in strecke für ein viel größeres Milliar- pflocken, er soll die Landesmetropolen im Nordrhein-Westfalen, in Washington und denprojekt – die 1300 Kilometer lange Kreisverkehr alle zehn Minuten bedienen China erlebt der totgeglaubte, mit über Hochgeschwindigkeitsverbindung bis nach und allein zwischen Düsseldorf und Dort- zwei Milliarden Steuer-Mark entwickelte Peking. Was kümmert es da, dass die Mini- mund jährlich 39 Millionen Menschen zum Magnetzug anscheinend eine strahlende strecke in der Hafenmetropole, so ein deut- S-Bahn-Tarif transportieren. Renaissance. Ausgerechnet im Nahverkehr, scher Projektmanager in China, „mit Wirt- Einziges Manko: Mit Baukosten von 83,5 wo er kaum schneller fahren kann als eine schaftlichkeit nichts zu tun hat“? Und dass Millionen Mark pro Kilometer wäre die moderne S-Bahn. Trasse noch teurer als die Ver- Eine Meldung aus China lässt Hafenmetropole Schanghai: Denkmal zum Volkskongress bindung Hamburg–Berlin, die die Verkehrsplaner schweben: wegen erwiesener Unwirtschaft- Vom Airport Pudong nach lichkeit gestrichen wurde. Schanghai, eine 35 Kilometer Nicht einmal alle beteiligten lange Strecke, soll der Transra- Städte wollen das Geschenk. pid schon in zwei Jahren fahren. Für den Transrapid, sagt Düs- „Die Entscheidung ist gefallen“, seldorfs Oberbürgermeister Jo- berichteten deutsche Zeitungen achim Erwin, sei Schanghai eine dem verblüfften Publikum. bessere Referenz als eine „Ruhr- Nicht einmal verbilligte Export- gebietbimmelbahn mit einer kredite wollten angeblich die Durchschnittsgeschwindigkeit Asiaten: „Die Chinesen finan- von 105 km/h“.

zieren das selbst.“ R. NOBEL / VISUM Petra Bornhöft, Frank Hornig 114 Werbeseite

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Ich bin kein Frühstücksdirektor“ Telekom-Chef Ron Sommer über den Kurssturz der T-Aktien, die Personalprobleme bei T-Online und den globalen Konkurrenzkampf

SPIEGEL: Herr Sommer, noch vor wenigen Monaten haben Sie den Anlegern den Mund wässrig gemacht mit Versprechun- gen wie: „Wer jetzt bei der T-Aktie ein- steigt, kann sich auf ein fantastisches Po- tenzial freuen.“ Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Wie reagieren die Aktionäre? Bekommen Sie waschkörbeweise Briefe von enttäuschten Kleinanlegern? Sommer: Nein, weil ich gleichzeitig gesagt habe: Wir arbeiten nicht für Spekulanten, sondern für langfristig orientierte Anleger. SPIEGEL: Wer bei der jüngsten Emission ein- gestiegen ist, steht gewaltig im Minus. Sommer: Das ist leider richtig. Aber dass die Märkte sich so dramatisch entwickeln würden, konnte keiner ahnen. SPIEGEL: Warnungen gab es doch genug. Sommer: Aber selbst Finanzexperten hatten nicht erwartet, dass dieser Rückschlag so gewaltig würde. SPIEGEL: Meinen Sie, die Reaktion der Bör- se ist übertrieben? Sommer: In beide Richtungen. Als unsere Aktie bei 70 Euro war, habe ich mich ganz wohl gefühlt. Als sie dann aber nur auf- grund von Gerüchten auf 100 Euro hoch- schoss, wurde mir klar, dass dieser Markt dramatisch überhitzt ist. Der Vorteil der

jetzigen Baisse ist jedenfalls, dass die An- S. SUDEK Konzernchef Sommer Der Telekomkonzern Die vier Hauptbereiche „Catch as catch can“ im 1. Halbjahr 2000 Umsatz 14,89 7,93 in Milliarden 3,19 Mark Gewinn/Verlust +1,72 –2,07 +0,19 vor Steuern 0,69 –0,14 in Milliarden Mark Anschlüsse: Kunden: Kunden: Festnetz 48,5 Mio. Mobilfunk 22,6 Mio. Datenkommunikation T-Online 6 Mio. CHANCEN hervorragende Infrastruktur hohe Kundenbasis durch Debis zweitgrößter größter Internet-Dienst Europas in Deutschland in Deutschland Anbieter Europas Marketingvorteile durch Kombi- hohe Wachstumspotenziale starker Marktauftritt hohes Wachstumspotenzial durch nation mit anderen Telekom- im Breitband in Osteuropa Dienstleistung für Großkunden Produkten wie ISDN fast Monopolstellung große Angebotspalette durch schnelle Zugänge durch ADSL im Ortsnetz Komplettlösungen oder TV-Kabel RISIKEN geringe Gewinnspanne hohe Belastung durch hohe Kosten durch notwendige großer Managerbedarf starke internationale UMTS-Kosten Firmenzukäufe im Ausland wenige attraktive Inhalte Konkurrenz keine Präsenz in Kernländern keine Präsenz in USA geringe internationale unkalkulierbare Einflüsse wie Frankreich, Italien, Spanien schwierige Verschmelzung der Ausrichtung durch Regulierungsbehörde riskantes US-Engagement über beiden unterschiedlichen Firmen- Voicestream kulturen von Debis und Telekom

116 der spiegel 48/2000 leger ihr Investment genauer prüfen. Sie Sommer: … sind wir deutlich besser als die setzen nicht mehr auf jede Luftblase, und anderen. Keiner unserer Wettbewerber hat davon werden wir profitieren. aufs Internet gesetzt. Die Amerikaner ha- SPIEGEL: Im Moment sieht es eher so aus, ben es Spezialisten wie America Online als hätten Sie gute Chancen, zum Verlierer oder die Yahoos dieser Welt machen lassen. des Jahres gewählt zu werden. Meine europäischen Wettbewerber haben Sommer: Dass sich keiner freut, wenn sei- uns Jahre später kopiert, und deshalb ist ne Aktie im Wert verliert, ist klar. Aber ich T-Online heute die erfolgreichste und größ- kenne die Reaktion der Anleger, denn wir te Internet-Firma Europas und die zweit- verbringen viel Zeit mit ihnen. Vor allem größte der Welt … bei den institutionellen Anlegern wird un- SPIEGEL: … die seit drei Monaten führungs- sere Strategie heute besser los dahindümpelt. verstanden als je zuvor. Sommer: Das Unternehmen läuft bestens, SPIEGEL: Für Kleinanleger, die denn wir haben dort ein hervorragendes Ihnen ihr Erspartes anvertraut Team. haben, klingt das wie Hohn. SPIEGEL: Ist es nicht eher angebracht, von Sommer: Ich gebe zu, dass wir Chaos zu reden, wenn bei einer Firma kurz gegenüber den Kleinanlegern nach dem Börsengang fast die gesamte eine besondere Verantwor- Führungsspitze ausgewechselt wird? tung haben, denn wir haben Sommer: Von Chaos kann keine Rede sein. die Aktie in Deutschland hof- Der einzige Vorwurf, den ich mir mache, fähig gemacht. Aber der Ge- ist, dass ich nicht von Anfang an die rich- samtmarkt hat dramatisch ver- tige Führungsmannschaft für T-Online ein- loren, und ich kann nur beto- gesetzt habe. nen: Wir haben im- SPIEGEL: Aber Sie haben offen- mer um den lang- sichtlich Schwierigkeiten, jetzt fristigen Investor ge- „Es kommt einen neuen Spitzenmann für worben. nicht auf den T-Online zu benennen. SPIEGEL: Die Anle- Tageskurs Sommer: Glauben Sie mir: Das ger müssen ja nicht an, sondern Problem ist nicht, den Mann nur den Sturz der auf die oder die Frau zu finden, sondern T-Aktie verkraften. sich für die Frau oder den Mann T-Online steht acht langfristigen zu entscheiden. Es ist nicht so, Monate nach dem Perspektiven“ wie es kolportiert wird: Die wol- Börsenstart sogar len nicht. Oder: Die können deutlich unter dem Ausgabe- nicht genug bezahlen. Die Telekom ist heu- kurs. te ein Traumplatz für gute Leute. Sommer: Es kommt nicht auf SPIEGEL: Es heißt aber auch, gute Manager den Tageskurs an, sondern meiden die Telekom, weil der Vorstands- darauf, wie wir im Vergleich Chef bis ins Detail in alles hineinregiert. zur Konkurrenz dastehen und Sommer: Das ist doch Unsinn. Ich brauche welche langfristigen Perspek- eine Mannschaft, die ich an der ganz lan- tiven das Papier bietet. gen Leine führen kann. Aber ich bin auch SPIEGEL: In den Augen vieler Branchen- kein Frühstücksdirektor, ich führe das Un- kenner steht die Deutsche Telekom alles ternehmen. andere als glänzend da. SPIEGEL: Aber nicht die T-Online AG. Sommer: Ich meine, wir stehen heute sehr Sommer: Ich führe den Konzern und habe gut da. Ich bin jetzt rund fünf Jahre im eine Verantwortung für den ganzen Kon- Amt, und ich erinnere mich noch, welche zern, die ich wahrnehme. berühmten Unternehmen der Telekom- SPIEGEL: Analysten sagen: Solange das Per- munikation, die schon weit über ein Jahr- sonalproblem nicht gelöst ist, wird sich der zehnt privatisiert und liberalisiert waren, Kurs von T-Online nicht erholen. man uns damals als Vorbild hingestellt hat. Sommer: Ich lasse mich da nicht unter Es hieß: Vergleicht euch mit denen, und Druck setzen. Ich will dafür sorgen, dass dann springt ihr aus dem Fenster, weil ihr wir die richtige Entscheidung treffen, auch seht, dass ihr das nie packen werdet. wenn es etwas länger dauert. SPIEGEL: Jetzt haben Sie keinen Grund SPIEGEL: Neben dem T-Online-Chef müssen mehr, aus dem Fenster zu springen? Sie auch noch den Multimedia-Vorstand Sommer: Nein. Weil die sich alle mit uns bei der Telekom besetzen. vergleichen, und wir haben bewiesen, dass Sommer: Nein, dafür wird auch der T-On- wir auf dem richtigen Weg sind. Wir haben line-Chef zuständig sein. Der Telekom-Vor- schon 1995 eine Vier-Säulen-Strategie ent- stand ist komplett, und er wird auch den wickelt, die damals kaum verstanden wur- künftigen Holding-Vorstand bilden. Wir er- de. Die Rolle des Mobilfunks hatten schon gänzen uns bestens, und wir können uns viele erkannt, aber wir haben auch aufs aufeinander verlassen – insofern haben wir Internet und auf Systemlösungen gesetzt. ein ideales Team. Das gilt ja längst nicht für SPIEGEL: Sie hatten vielleicht früh die rich- jeden Vorstand eines Dax-Unternehmens. tigen Ideen, aber in der Realisierung der SPIEGEL: Außer den Personalien haben Sie Strategie … noch ein paar andere aktuelle Probleme,

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und aus der damaligen Erwar- tung, wie Wettbewerb entste- hen wird. Wir werden auch weiter offen und konstruktiv mit der Behörde zusammen- arbeiten. Wir haben heute den offensten Markt der Welt: Catch as catch can! Alles, was erfunden wurde, um Märkte zu öffnen gegen einen über- mächtigen Ex-Monopolisten, ist in Deutschland seit Januar 1998 möglich. SPIEGEL: Damit wurde nur ein Beschluss der EU verwirklicht. Sommer: Aber die anderen Länder haben sich deutlich mehr Zeit gelassen, und viele Dinge, die in Deutschland selbstverständlich sind, gibt es Flaue Volksaktien in Frankreich, Spanien oder England heute noch nicht. In 90 in Euro Deutschland hat der Regulie- 80 rer seine Aufgabe also weitge- hend erledigt, nun ist die Poli- 70 tik wieder an der Reihe.

60 AFP / DPA SPIEGEL: Was sollte der Ge- Börsenstart von T-Online 24. Nov. setzgeber tun? „Traumplatz für gute Leute“ 50 40,10 Sommer: Wir haben zwei Probleme. Das 40 eine heißt: Wenn der Markt offen ist, wie etwa die Flatrate, die Ihnen die Regulie- baut man dann die Regulierung ab und wie rungsbehörde jetzt beschert hat. Werden 30 Börsen- 18,95 überträgt man die Aufsicht in das allge- start Sie bis Februar allen Konkurrenten den 20 14. April meine Wettbewerbsrecht? Zweitens geht Zugang zum Internet zu einem Pauschal- es darum, für gleiche Wettbewerbsbedin- preis anbieten? 10 Jan. Nov. gungen zu sorgen. Es kann nicht angehen, Sommer: Was die Behörde genau fordert, dass mich das deutsche Telekommunika- ist mir noch nicht ganz klar. Aber wenn Quelle: Datastream tionsgesetz zwingt, einem Wettbewerber meine Befürchtungen zutreffen, geht es wie British Telecom oder France Télécom quasi um eine Enteignung der Deutschen wie absurd das ist. Wenn ein Konkurrent etwas unter unseren eigenen Kosten zur Telekom, und dagegen würden wir massiv wie America Online eine ähnlich populis- Verfügung zu stellen, und sich nicht darum vorgehen. tische Forderung für die Benutzung des In- kümmert, dass ich in England oder Frank- SPIEGEL: Inwiefern Enteignung? ternets aufstellt, wundert sich keiner. reich die gleiche Leistung überhaupt nicht Sommer: Lassen Sie es mich an einem Bei- SPIEGEL: Kritiker werden Ihnen entgegnen: bekomme oder nur zu deutlich höheren spiel verdeutlichen. Wenn ich mich heute Das sind gar nicht die Netze der Telekom. Preisen. Das ist extrem unfair. auf die Straße stelle und verkünde, ich Die haben Sie bei der Privatisierung quasi SPIEGEL: Meinen Sie nicht, dass die rasche würde gerne jeden Deutschen mit einem als Mitgift erhalten. Deregulierung dazu beigetragen hat, dass Mercedes-Benz für 5000 Mark beglücken, Sommer: Wenn heute jemand noch immer die Telekom schneller wettbewerbsfähig dann würde ich viel Applaus kriegen. Dann behauptet, das sind vom Steuerzahler be- wurde als andere Monopolisten? sage ich: Vorausgesetzt, Jürgen Schrempp zahlte, seit hundert Jahren abgeschriebene Sommer: Schon, aber ich bitte ja auch nicht verkauft sie mir für 1000 Mark, und wenn Netze, dann versteht er wenig von der Ma- um Schonung, sondern fordere nur glei- er das nicht kann, muss der Staat ihn dazu terie. Wir haben in den letzten zehn Jah- che Wettbewerbsbedingungen zumindest zwingen. Beim Auto erkennt jeder sofort, ren 150 Milliarden Mark in die Netze inves- in der EU, gar nicht zu reden von Ameri- tiert. Wir haben die modernsten Netze der ka. Unser Börsenwert wäre dramatisch Sommer, SPIEGEL-Redakteure* Welt, aber für Millionen von Internet-Sur- höher, wenn wir faire Verhältnisse hätten. „Der Markt war dramatisch überhitzt“ fern, die ständig online sind, reicht die Ka- SPIEGEL: Der Kurssturz hat doch ganz an- pazität bald nicht mehr. Dann könnte es dere Gründe, zum Beispiel die hohen Kos- passieren, dass Sie demnächst den Notruf ten für die UMTS-Lizenzen oder der als nicht mehr erreichen. Dann möchte ich se- völlig überhöht angesehene Preis von 100 hen, was in Deutschland los ist. Milliarden Mark für den Kauf der kleinen SPIEGEL: Erwarten Sie, dass die Telekom amerikanischen Handyfirma Voicestream. nach dem Rücktritt von Klaus-Dieter Sommer: Die Kritik am Kaufpreis von Scheurle als Chef der Regulierungsbehör- Voicestream ist längst einer realistischeren de weniger hart angefasst wird? Betrachtungsweise gewichen. Wenn ich Sommer: Ich meine, dass die Regulie- heute mit Investoren rede, wird die Strate- rungsbehörde einen guten Job gemacht gie gelobt und der Preis für fair gehalten, hat, zumindest aus Sicht der Jahre 1996/97 weil wir mit Voicestream bis zu 270 Millio- nen Kunden in Amerika erreichen können. * Klaus-Peter Kerbusk, Frank Dohmen in der Hauptstadt- SPIEGEL: Früher wurde ein Unternehmen

S. SUDEK Repräsentanz der Telekom. nach dem Umsatz oder dem Gewinn be-

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wertet, dann richtete sich der Kaufpreis nach der vorhandenen Kundenzahl. Jetzt berechnen Sie ihn nach den potenziellen „Fatales Signal“ Kunden. Ist das nicht eher Metaphysik? Sommer: Nein. Durch die Voicestream- Der Präsident der Regulierungsbehörde Klaus-Dieter Scheurle Akquisition sind wir das einzige Unter- wechselt nach monatelangen Querelen entnervt in die Wirtschaft. nehmen der Welt, das fast die ganzen Ver- einigten Staaten mit der gleichen Techno- ut drei Monate ist es her, da war Scheurles sogar mit zweifelhaften juristi- logie abdecken kann, die auch überall in Klaus-Dieter Scheurle der strah- schen Finessen über dessen Bedenken Europa verbreitet ist. Dabei können wir Glende Held der Nation. Stolz hinweg. nur gewinnen. Abgesehen von den enor- posierte der Präsident der Regulie- Dabei ging es der SPD weniger um die men Wachstumsmöglichkeiten in Ameri- rungsbehörde für Telekommunikation Person des Chefregulierers. An dem seit ka, telefoniert demnächst auch jeder Eu- und Post mit seinem Auktionshammer Monaten schwelenden Streit wird viel- ropäer, der mit seinem Handy in Amerika im Blitzlichtgewitter der Fotografen. mehr ein grundsätzlich anderes Ver- erreichbar sein will, über unsere Leitungen, Knapp 100 Milliarden Mark hatte der ständnis von Wettbewerb deutlich. Die und bei uns läuft der Umsatz auf. spröde Jurist bei der perfekt organisier- Sozialdemokraten wollen Post und Tele- SPIEGEL: Aber erst einmal kostet der Aus- ten UMTS-Auktion für die Bundesre- kom – auch mit Blick auf den Aktien- bau der Netze gewaltig viel Geld, und gierung eingenommen – mehr als jedes besitz des Bundes – zu international T-Mobil wird auf absehbare Zeit keine andere Land Europas. führenden Großkonzernen aufbauen. schwarzen Zahlen schreiben. Wenn Scheurle, 46, Anfang der Wo- Konkurrenten, die den beiden Platzhir- Sommer: Investitionen sind nichts Neues che vor die Mitarbeiter der Regulie- schen Marktanteile in Deutschland abja- für die Deutsche Telekom. Wir haben in rungsbehörde und Journalisten tritt, gibt gen, sind da eher lästig. den letzten zwei Jahren 100 Milliarden es für den CSU-Mann weniger Euro investiert. Ohne Inves- Grund zur Freude. Da nämlich titionen haben Sie im Mobil- wird er verkünden, dass er ei- funkgeschäft keine Chance. nen Aufhebungsvertrag unter- SPIEGEL: Aber für eine UMTS- schrieben hat, sein Amt Ende Lizenz in Frankreich scheint des Jahres zur Verfügung stellt das Geld nicht mehr gereicht und zur Investmentbank Cre- zu haben. Auch Spanien und dit Suisse First Boston nach Italien fehlen immer noch auf London wechselt. Ihrer Landkarte. Der Abgang Scheurles be- Sommer: Wir haben uns da deutet für die deutsche Wirt- ganz bewusst zurückgehalten. schaft einen herben Rückschlag. Wenn Sie die Wahl haben, in Zwar ist Scheurle nicht unum- Frankreich oder Italien der stritten: Mit seiner Art, sich öf- Fünfte zu sein oder sich auf fentlich selbst zu inszenieren, die USA zu fokussieren und und seiner wenig diplomati- mit einem Schlag 270 Millio- schen Konfrontationspolitik hat nen Amerikaner zu bekom- er sich in der eigenen Behörde men, dann ist doch klar, was

nicht nur Freunde gemacht. AP Sie als Unternehmer machen. Viel schlimmer aber wiegt Regulierer Scheurle*: Extrem behindert SPIEGEL: Heißt das, Sie geben für die Industrie, dass sich mit den Versuch auf, in allen dem Abgang des Juristen endgültig ein Das seit Jahren geschickt vorgetragene wichtigen europäischen Ländern mitzu- Wechsel in der Liberalisierungspolitik Jammern und die massiven Beschwer- mischen? auf dem wichtigen Telekommunikations- den von Postchef Klaus Zumwinkel und Sommer: Nein, aber wirklich global in ei- und Postmarkt zu vollziehen droht. Dass Telekom-Chef Ron Sommer über unfaire ner, geschweige denn in allen vier Säulen Scheurle nämlich auf dem vermeintli- Behandlung durch Scheurle (siehe SPIE- der Telekom zu sein ist ein Projekt von chen Höhepunkt seiner Karriere dem GEL-Gespräch) findet bei ihnen deshalb vielen, vielen Jahren. Wenn man da nicht Lockruf des Geldes folgt, wie die Bun- immer mehr Gehör. Selbst längst ver- aufpasst und sich sauber finanziert, dann desregierung kolportiert, ist nur die eine worfene Pläne, die Regulierungsbehörde kann auch aus einem Big Boy schnell ein Hälfte der Geschichte. komplett abzuschaffen und die Aufgaben Sanierungsfall werden. Mit der Globalisie- Tatsächlich wurde der Chefregulierer dem Bundeskartellamt zu übertragen, rung wird auch noch mein Nachfolger zu von der rot-grünen Koalition bei seinen werden wieder diskutiert. tun haben. Bemühungen, die ehemaligen Monopol- Für ausländische Investoren, befürch- SPIEGEL: Wollen Sie damit andeuten, dass märkte in einen geordneten Wettbewerb tet der Präsident des Verbandes privater Sie amtsmüde sind? zu überführen, in den vergangenen Mo- Netzbetreiber, Joachim Dreyer, könnten Sommer: Keineswegs. Es gibt sicher viele naten extrem behindert: keine Ent- solche Schritte ein „fatales Signal“ be- Leute, die es gerne hätten, dass ich zurück- scheidung, keine Anordnung und keine deuten. Die Bereitschaft von immerhin trete, und die sich selbst ins Gespräch brin- Äußerung, die nicht vom Finanz- oder fünf ausländischen Handy-Firmen in gen. Für mich ist aber wesentlich: Was mei- Wirtschaftsministerium sofort torpediert Deutschland mehr als 130 Milliarden nen meine Mitarbeiter, und was meint der wurde. Mark in UMTS-Lizenzen und neue Net- Aufsichtsrat? Und die scheinen mit mir zu- Bei der Verlängerung der Portopreise ze zu investieren, hat neben Gewinn- frieden zu sein. der Post setzte sich Wirtschaftsminister erwartungen auch viel mit Vertrauen in SPIEGEL: Und Sie selber? Werner Müller als offizieller Dienstherr sichere Rahmenbedingungen zu tun, für Sommer: Ich werde mich weiter mit aller die Scheurle in den vergangenen Jahren Kraft für das Unternehmen einsetzen. * Nach der UMTS-Auktion in Mainz am 17. August. ein Garant war. Frank Dohmen SPIEGEL: Herr Sommer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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Werbeseite Kranführer in Müllverbrennungsanlage Drohender Bankrott

120000 Tonnen Müll per an- num an die Braunschweigi- schen Kohle-Bergwerke zu lie- fern und dafür 300 Mark pro Tonne zu überweisen. Das Un- ternehmen versprach, den Un- rat in einer neu errichteten Müllverbrennungsanlage zu verfeuern und die Überreste anschließend in leeren Kohle- stollen zu verstauen. Der Auf- tragswert insgesamt: reichlich eine Milliarde Mark. Auch hier gefiel einem Öko- Politiker die ganze Richtung nicht. Er meldete den Vorgang der EU-Kommission. Jahre vergingen, jetzt zeigt der Grünen-Aufstand Wir- kung. Auf Antrag des nieder-

R. FROMMANN ländischen Binnenmarktkom- missars Frits Bolkestein zerrt die Kommission die Bundesregierung, die EU sich völlig unschuldig fühlt und von den Gesetzesverstößen lange Zeit nichts wuss- te, vor den Europäischen Gerichtshof in Brüsseler Prinzipien Luxemburg (EuGH). Welche Folgen das für die föderale Struk- Weil deutsche Kommunen Aufträge nicht europaweit tur der Bundesrepublik, für die Budgets und für das deutsche Zivilrecht haben wird, ausschreiben, muss sich die Bundesregierung mögen sich die Experten von Finanzmi- vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten. nister Hans Eichel und Wirtschaftsminister Werner Müller noch gar nicht ausmalen. er grüne Ratsherr Wolfgang Janßen pflichtete sich, die Bockhornschen Abwäs- Nur eines glauben sie schon zu wissen: Es aus der Gemeinde Bockhorn in der ser künftig über eine Druckwasserleitung wird schrecklich. Dniedersächsischen Provinz griff zum zur benachbarten Kläranlage in Varel zu Verklagt wird die Bundesregierung, weil letzten Mittel: Er verpetzte seine Rats- schaffen, dafür bekommt die EWE zwei sie alleiniger Ansprechpartner der Kom- kollegen aus den anderen Parteien bei der Millionen Mark jährlich. Auf 30 Jahre ban- mission in allen juristischen Querelen zwi- EU-Kommission in der Europa-Kapitale den sich Gemeinde und Versorger mit ei- schen Union und Deutschland ist, egal, auf Brüssel. nem Dienstleistungsvertrag aneinander. welcher föderalen Ebene der Rechtsver- Das Delikt: Die Kläranlage der Ge- In Bockhorn seien bindende europäi- stoß stattfand. Sowohl Eichel als auch Mül- meinde hatte ihre Kapazitätsgrenze er- sche Regeln über die Vergabe öffentlicher ler gestanden eilfertig den Gesetzesbruch. reicht, also entschloss man sich 1997, sie Aufträge missachtet worden, klagte der Es blieb ihnen keine Wahl. Aufträge mit samt Kanalnetz für fünf Millionen Mark Grüne Janßen. einem Wert von über 139312 Euro, so die an die EWE (Energieversorgung Weser- Nicht weit entfernt, in Braunschweig, EU-Vorschrift, müssen europaweit ausge- Ems) zu verkaufen. Das Unternehmen ver- hat sich die Stadt verpflichtet, 30 Jahre lang schrieben werden. Sowohl Braunschweig Wirtschaft als auch Bockhorn aber haben nur mit ei- schen Vorschriften über die Vergabe öf- nem Partner verhandelt. Die örtlichen fentlicher Aufträge ist fast ein Massenphä- Rechtfertigungsgründe, alles habe schnell nomen. Inzwischen liegen in Berlin An- gehen müssen, und die Konditionen seien fragen der Kommission zu ungefähr 40 so einzigartig günstig gewesen, wurden in ähnlichen Fällen vor – mit steigender Ten- Berlin wie in Brüssel beiseite geschoben – denz in den vergangenen Monaten. es geht ums Prinzip. Auch in den anderen Mitgliedstaaten ist Ob die Kommunen gute Argumente ha- die Vergabemoral ähnlich lax. Dabei geht ben, einem ihnen bekannten Unternehmen es aus Sicht der Kommission nicht um Aufträge zu erteilen, oder nicht, das spielt Petitessen. Die europaweite Ausschreibung in Brüssel keine Rolle: Für Bolkestein von Gemeindeprojekten soll die üblichen haben die beiden Fälle strategische Be- Kungeleien auf örtlicher Ebene beenden deutung. und endlich Wettbewerb erzeugen. Sie ist „Wenn wir so etwas hinnehmen“, sagt für Bolkestein ein Kernelement des Bin- sein Kabinettsmitglied Ben Smulders, nenmarktes. „würde das unsere Regeln inhaltsleer ma- Offiziell hüten sich Kommissionsexper- chen.“ Die Kommission dürfe niemals dul- ten zu spekulieren, was das Gericht ent- den, dass europäisches Recht folgenlos ge- scheiden wird. Der EuGH könnte sich da- mit begnügen, schlicht festzustellen, dass die Verträge rechtswidrig sind. Er könnte Berlin aber auch Vorschriften machen, wie das Unrecht zu beseitigen sei.

JARDAI / MODUS JARDAI Natürlich hoffen die Eurokraten, das EU-Kommissar Bolkestein Gericht werde formal bestätigen, dass Eu- Begrenztes Verständnis ropa-Recht auch in diesem Fall nationales Zivilrecht bricht. Ein Verstoß gegen die Bund zahlen – 30 Jahre lang, EU-Vergaberegeln würde dann solche Ver- Tag für Tag. In einem lang- träge nichtig machen – egal, was die Fol- wierigen Prozess könne Ber- gen für Auftraggeber oder Auftragneh- lin dann – vielleicht – die mer wären. Länder dazu bewegen, Bun- Aber die Brüsseler Juristen wären auch destreue zu üben und dieses zufrieden, wenn der Gerichtshof den Mit- Bußgeld bei den Tätern, den gliedstaat Deutschland verurteilt, sein Zi- Gemeinden, einzutreiben. vilrecht so zu ändern, dass flagrante Rechts-

F. STOCKMEIER / ARGUM STOCKMEIER F. Das Ergebnis wäre aber verletzungen künftig nicht 30 Jahre fort- Europäischer Gerichtshof in Luxemburg auch nicht zufrieden stel- gelten, sondern beendet werden können. Vorschriften für Berlin? lend. Den Kommunen droh- Berlin zeigt bereits Entgegenkommen. te der Bankrott. Sie hätten Bald schon soll im deutschen Gesetz ste- brochen werde. Deshalb müsse der EuGH keine Möglichkeit, die Verträge zu kündi- hen, dass nach Abschluss jedes größeren die Bundesrepublik dazu verpflichten, die- gen und so den Schaden gutzumachen. Im Vertrages eine Frist von 14 Tagen gilt. In sen Unrechtstatbestand zu beheben. deutschen Zivilrecht ist ein Verstoß gegen dieser Zeit können zu kurz gekommene Das würden Eichel und Müller nur zu europäische Vergaberichtlinien kein Nich- Konkurrenten Europarechtsverstöße mel- gern tun, auch ohne Richterspruch. Das tigkeitsgrund, der es erlauben würde, den den und das Projekt vorläufig stoppen. Dumme ist nur: Sie wissen nicht, wie. Ber- Vertrag rückgängig zu machen, ohne dass In den anhängigen Fällen hilft diese lin, so argumentieren sie, habe keine Mög- es zu Schadensersatzforderungen käme. Beflissenheit jedoch nichts. Mögliche lichkeit, die Gemeinden anzuweisen, ir- Die Kommission hat für diese Zwick- Konkurrenten in Mailand, Helsinki oder gendetwas zu tun, was die nicht wollten. mühle nur begrenzt Verständnis. Ihr geht Bordeaux hätten von den inkriminierten Sollte das Gericht dennoch ein tägliches es darum, die eigene Durchsetzungsfähig- Abschlüssen ja niemals etwas erfahren – Millionen-Bußgeld gegen die Bundesre- keit und Reputation zu beweisen. Die jedenfalls nicht, bevor es zu spät zum Ein- gierung verhängen, müsse der unschuldige großzügige Vernachlässigung der europäi- spruch war. Winfried Didzoleit Wirtschaft

risierung, die Callcenter und das Internet dere ändern ihre Systemeinstellungen, UNTERNEHMEN sind immer mehr Firmen auf den ständi- ohne Comdisco zu informieren. „Dann gen Kontakt mit ihren Kunden angewie- können wir nur noch zusammen beten“, Sanitäter sen“, erklärt Goulbourn das Wachstum sagt Goulbourn. der 3,3-Milliarden-Dollar-Branche, die sich Üblicherweise kennt Comdisco die Sys- Comdisco mit den Hauptkonkurrenten temeinstellungen. In Wood Dale stehen für Notfälle IBM und SunGard teilt. „Wer den Kon- Duplikate aller Kundenrechner, vom anti- takt zum Kunden verliert, hat oft den Kun- ken IBM-Mainframe bis hin zu neuesten Naturkatastrophen oder Com- den verloren.“ Modellen, allesamt notfalls betrieben von Bislang ist Comdisco jede Wiederbe- zwei haushohen Notstromaggregaten mit puterviren können ganze lebung havarierter Firmen geglückt, wie Dieselmotoren. Doch weil sich meist meh- Unternehmen lahm legen. Das ist ein skurriles Schild im Haupthaus Wood rere Firmen die Rechner teilen, müssen die Stunde der Geisterbüros Dale bei Chicago verkündet: Willkom- im Ernstfall die Programme erst geladen und der Firmen, die diese betreiben. men bei Comdisco – 412 Unglücke in werden. 4398 Tagen. Nur wenige der weltweit über 4000 Kun- ormalerweise freut sich jeder Fir- Eines davon ereilte am 28. März das Öl- den, meist Finanzunternehmen, leisten sich menchef über Hochbetrieb in sei- und Gasunternehmen Union Pacific Re- die teure Echtzeitübertragung ihrer Daten Nnem Büro. Doch Martin Goul- sources Group (UPR) aus Forth Worth zu Comdisco. In Minnetonka, einem Vor- bourn, Manager der im US-Staat Illinois (Texas). Um 18.30 Uhr zerschmetterte ein ort von Minneapolis, steht Klein-Wall- ansässigen Firma Comdisco ist glücklich, Tornado die Fenster des Firmensitzes. So- Street bereit: ein mit den Börsen vernetz- wenn Tausende seiner Arbeitsplätze ver- fort liefen im Notfallbüro in Grand Prairie ter, gottverlassener Trading-Floor. waist sind. Dann schreitet er zufrieden (Texas) die Rechner an. Comdisco konfi- Seit kurzem spezialisiert sich die Firma durch menschenleere Flure, betrachtet gurierte 25 Plätze und loggte sich ins Da- zunehmend auf die Absicherung von Web- ULLSTEIN BILDERDIENST (li.); BILDERDIENST ULLSTEIN (re.) / SABA R. HESTOFT Tornado in Salt Lake City (im August 1999), Comdisco-Eingangshalle: „Dann können wir nur noch zusammen beten“

Computermonitore, die blind ins Leere tennetz des Kunden ein. Am nächsten Seiten. Nicht Attentate oder Naturka- starren, und Telefone, die nicht klingeln. Nachmittag wurde der Betrieb aufgenom- tastrophen sind dort die Gefahr, sondern Die grauen Arbeitswaben sind verlassen, men, und wenige Tage später führte UPR Hackerangriffe, Viren oder technische Feh- die Faxmaschinen dösen, und die Printer vom Notlager aus eine Firmenfusion durch. ler. „Beim schnelllebigen E-Commerce ist sind verstummt. Ins Schwitzen kam Goulbourn, als im es fatal, für 24 Stunden nicht verfügbar zu Goulbourn liebt die Ruhe. Wenn nichts vergangenen Jahr der Hurrikan Floyd sein. Und nur 14 Prozent der Firmen haben los ist in seiner Welt, ist draußen in der durch die Finanzzentren der Ostküste feg- wirksame Vorsorgepläne“, sagt Allan Gra- richtigen alles in Ordnung. Nur wenn Un- te. 35 Kunden meldeten Katastrophen- ham, Kopf der Comdisco-Web-Abteilung. heil naht, erwachen seine Geisterbüros alarm, 25 davon zeitgleich. Bei Naturkata- „Als der Auktionsdienst EBay für mehre- zum Leben – auf Alarmstufe Rot. strophen fallen neben technischen und re Stunden ausfiel, verlor er rund sechs Comdisco ist ein Rettungssanitäter für logistischen auch menschliche Aufgaben Millionen Dollar, die Aktie sackte um etwa Firmen im Katastrophenzustand. Wenn At- an. „Die Mitarbeiter bringen oft ihre Fa- 20 Prozent ab.“ tentate, Naturkatastrophen, Stromausfälle milien und Haustiere mit“, erzählt Goul- E-Commerce-Firmen verloren laut oder schlichte Computersystemstörungen bourn. Einmal kam eine Frau aus Atlanta Lloyd’s of London 1999 rund 20 Milliarden den Geschäftsbetrieb eines Comdisco-Kun- samt ihrem Pferd. Das stand dann vor dem Dollar durch Computerausfälle. Comdis- den lahm legen, stellen weltweit 50 zum Büro. Auch psychologische Betreuung ist co verspricht Abhilfe – durch bessere Fire- Teil mobile Technologiezentren Ersatzar- manchmal notwendig, etwa nach dem walls, Hacker-Früherkennung, elektroni- beitsräume bereit – was sich Comdisco mit Bombenattentat auf das New Yorker World sche Spurensicherung und eine ständige jährlichen Gebühren von 400 bis 800 Dollar Trade Center. Überwachung des technischen Zustands. pro Arbeitsplatz bezahlen lässt. Damit im Notfall aber alles klappt, muss Graham sieht sich schon als Retter Innerhalb weniger Stunden werden ständig geübt werden. Zweimal jährlich sol- der Offline-Opfer: „Wir werden die Not- ganze Geschäftsbereiche in Notfallauf- len die Kunden zu Testläufen erscheinen, fallaufnahme der New Economy wer- nahmen verlagert. „Durch die Compute- doch etwa zwölf Prozent kommen nie. An- den.“ Michaela Schießl

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Werbeseite Trends Medien AP Fernsehsendung von National Geographic, Zeitschriftentitel

TV-DOKUMENTATIONEN National Geographic plant eigenen Kanal ie National Geographic Society aus Washington, die in und das US-Network NBC (25 Prozent) beteiligt sind, hat gute D110 Ländern Fernsehen macht, denkt nun auch an einen Chancen auf begehrte Frequenzen. „Das ist sicher vom Pro- deutschen TV-Kanal für Dokumentationen. Geplante Anlauf- grammtyp her von Interesse“, sagt Schneider angesichts des kosten: über 100 Millionen Mark. Jüngst signalisierte Europa- meist flachen Privatfernsehens. Der Erfolg ihres im Herbst chef John O’Loan hohes Interesse bei Norbert Schneider, dem 1999 zusammen mit dem Verlag Gruner+Jahr gestarteten deut- Chef der nordrhein-westfälischen Landesmedienanstalt. Die schen Printmagazins (Auflage: knapp 300000) hat die Ameri- US-Gesellschaft, an der neben der Washingtoner Stiftung (25 kaner ermutigt. Deutschland sei „im Blickfeld“, bestätigt der Prozent) noch Medientycoon Rupert Murdoch (50 Prozent) deutsche Chefredakteur Klaus Liedtke die TV-Pläne.

FERNSEHEN Filz beim MDR“, sagt der medien- politische Sprecher der PDS- Kleine Amtshilfe Landtagsfraktion, Heiko Hilker. In einer Sondersitzung zur Novel- ei der Berufung von Sabine Scharnagl, 34, der- lierung des Rundfunkstaatsver- Bzeit stellvertretende Leiterin bei „Aspekte“ im trags will die PDS die Affäre rund ZDF, zur Kulturchefin des Bayerischen Rundfunks um Boetzkes, der mit MDR-Spit- (BR) war ZDF-Intendant Dieter Stolte hilfreich. zenkräften gut vertraut ist, thema- Rundfunkratsmitglieder des BR hatten an der Quali- tisieren. Hilker: „Vor diesem Hin- fikation der Tochter von Wilfried Scharnagl, dem tergrund wird die Zustimmung zu Chefredakteur des CSU-Organs „Bayernkurier“, ge- einer Gebührenerhöhung noch zweifelt. So hatte die ehemalige bayerische SPD- einmal neu diskutiert.“ ARD- Chefin Renate Schmidt dem BR-Intendanten Albert Mann Boetzkes räumt ein, seiner Scharf sogar vorgeworfen, dem Rundfunkrat eine Frau Tipps gegeben zu haben (wie

geschönte Vorlage präsentiert zu haben. Anders als ARD „unter Eheleuten üblich“), er lebe behauptet habe Frau Scharnagl beim ZDF keine „be- Boetzkes mit ihr aber in Gütertrennung und sonderen Zuständigkeiten“ gehabt. Auch „Aspek- könne nicht über das Konto von te“-Leiter Wolfgang Herles hatte Teile des berufli- AFFÄREN Mondo Media verfügen. Auf das chen Lebenslaufs seiner Stellvertreterin auf Anfrage flossen allein laut Vertrag 285000 als „frei erfunden“ bezeichnet – ein Eklat. Weil Teure Musik Mark für die Erstellung einer Liste aber im CSU-dominierten Rundfunkrat schließlich mit 500 bis 1000 Musiktiteln – eine Scharfs Versicherung Eindruck machte, Frau it der Affäre um den „Tages- Arbeit, die bei vielen Sendern Scharnagl habe laut ZDF-Chef Stolte doch Mschau“-Moderator Claus- von Musikredakteuren übernom- Führungsaufgaben wahrgenommen, wurde der nur Erich Boetzkes wird sich jetzt men wird. Weitere 150000 Mark knapp vier Jahre währende Aufstieg von der Prakti- auch der sächsische Landtag be- wurden für „Konkurrenzanaly- kantin zur Herrin über jährlich rund 1400 Sendeplät- fassen. Der öffentlich-rechtliche sen“ vereinbart – etwa die Beob- ze und einen Etat von 100 Millionen Mark am Ende MDR in Leipzig hatte vor zwei achtung des Kleinsenders Wirklichkeit. Für Stolte, 66, könnte sich die kleine Jahren einen über rund 600000 Oldie.fm. Der MDR rechtfertigt Amtshilfe auszahlen: Zur angestrebten Wiederwahl Mark dotierten Beratervertrag mit den Vertrag mit den gestiegenen im Jahr 2002 benötigt er in seinem Fernsehrat die der Firma Mondo Media von Quoten beim Radiokanal MDR Unterstützung von Papa Scharnagl, der in diesem Boetzkes Ehefrau Viktoria ge- life, der allerdings am 1. Januar Gremium die Konservativen organisiert. schlossen. „Ein Beispiel für den von MDR JUMP abgelöst wurde.

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Medien, um einen anachronistischen Blick zu vermeiden. Aber das ändert Quiz, Quiz, agis nichts: Das Herausragende wird immer seltener. Es fehlt an Stoffen und Stü- ash“, „Wer wird Millio- cken, die soziale Realität widerspie- Cnär?“, „Die Quiz Show“ – geln. Ich glaube, der Qualitätsverlust nichts ist im Fernsehen derzeit hängt mit den immer kürzeren Produk- tionszeiten zusammen. Da leidet die so erfolgreich wie diese Forma- Sorgfalt. te. Altlateinische Weisheiten SPIEGEL: Immerhin werden in keinem müssen umgeschrieben werden: Land Europas so viele fiktionale Eigen- „Quiz, quiz agis, prudenter produktionen hergestellt wie in Deutschland. Stellt das keinen kulturel- agas, et respice finem“ – was, len Wert da? frei übersetzt, heißt: Wenn du Spies: Doch. Aber er wird von immer keine Quizsendung hast, bist du weniger Zuschauern wahrgenommen. so bescheuert wie die ARD. Heute zählen im Fernsehen Skandale

K. LAUBER wie Beckenbauers uneheliches Kind. Aber warum ist Quiz so erfolg- Grimme-Referent Spies Damit beschäftigt sich das Fernsehen reich? Hier hilft nur ein Quiz. über Gebühr. Das bleibt nicht ohne Wir fragen: Quiz ist TV-QUALITÄT Wirkung auf die Zuschauer. erfolgreich a) weil es SPIEGEL: Sollte sich das Grimme-Institut „Das Herausragende bei der Vergabe der Auszeichnungen seit Old Lembke und diesen Tendenzen nicht öffnen? Old Maegerlein ein wird seltener“ Spies: Es gibt diesen Ruf, das laufende altvertrautes Stück Programm stärker bei den Preisen zu Ulrich Spies, 52, seit 20 Jahren Refe- berücksichtigen. Aber ich halte das Fernsehen darstellt; b) rent des Adolf-Grimme-Preises, über nicht für notwendig. Es gibt Hunderte weil das menschliche den Qualitätsverfall im Fernsehen Medienpreise in Deutschland, warum Gehirn als Wissens- soll da unser Preis nicht an seinen Stan- speicher vor seiner Er- SPIEGEL: Herr Spies, Sie haben erklärt, dards festhalten? es gebe immer weniger preiswürdige SPIEGEL: Ihr Konkurrent, der „Deutsche setzung durch den TV-Movies. Woran stellen Sie das fest? Fernsehpreis“, hatte „Big Brother“ no- Computer zum Spies: Heute sind nach der Prüfung miniert. Für Grimme undenkbar? letzten Mal seine durch die Vorjurys von 100 Vorschlägen Spies: Das war eine reine Provokation, Stärke zeigen will; nur noch zwischen 10 und 15 für die um Resonanz bei der Presse hervorzu- Endjurys empfehlenswert. Früher war rufen. Ansonsten ist denen in Köln c) weil die Moderatoren so toll das Verhältnis besser. Es gibt einfach nicht viel aufgefallen. Die meisten der sind; d) weil es in unübersicht- immer weniger überdurchschnittliche mit dem Deutschen Fernsehpreis Aus- licher Welt so beruhigend wirkt, Fernsehleistungen. gezeichneten hatten auch den Grimme- SPIEGEL: Sind Ihre Jurys zu streng und Preis bekommen. „Big Brother“ würde dass eine Antwort im Multiple- urteilen zu abgehoben? bei uns, soweit ich die Diskussionen der Choice-Schema immer die Spies: Nein. Wir verjüngen die Gremien Jurys kenne, wohl kaum mit einem Wahrheit darstellt; oder schließ- dauernd und holen Vertreter aus neuen Preis gewürdigt. lich e) weil Wissensfragen eine klarere Angelegenheit sind als

all das in Talks geäußerte Be- QUOTEN/BUCHMARKT ziehungsweise Taschenbuch (22000) ab- findlichkeitsgeschwafel. Wir ra- gesetzt, vom Weihnachtsgeschäft erwar- ten: a) kann nicht sein – Fern- Schub für Johnson ten sich die Frankfurter noch weiteren Schub für Johnson. sehen ist immer Wiederholung er von Pessimisten erwartete Quo- des Immergleichen. b) ist auch Dteneinbruch für die Verfilmung der 12,4 falsch – der moderne Mensch Roman-Tetralogie „Jahrestage“ von 12,2 Uwe Johnson ist ausgeblieben. Trotz re- verdrängt die Zukunft. c) die lativ späten Beginns im Hauptabend- Moderatoren? – Quatsch, programm (21.00 Uhr) sahen im Schnitt Marktanteile 10,8 10,8 Dackelgesicht Jauch vielleicht, 3,32 Millionen Zuschauer die vier Teile, in Prozent aber Ulla Kock am Brink allein was einem Marktanteil von durch- schnittlich 11,6 Prozent entspricht. Da- „Jahrestage“ kann selbst Millionen Fliegen 14. bis 22. Nov. 2000 mit lag der historische Stoff deutlich Matthias Habich nicht mobilisieren. Bleiben e) über der Verfilmung der Klemperer-Ta- 9,0 und d). Was von beiden richtig gebücher. Sehr zufrieden ist auch der „Klemperer“ 8,5 ist, erfahren Sie gleich – nach Suhrkamp Verlag: 32000 Exemplare des 9. bis 18. Nov. 1999 schwierig zu lesenden Romans wurden Folge 9 bis 12 der Werbung. 7,5 durch die Fernsehausstrahlung in den 7,3 letzten Tagen als Hardcover (10000) be-

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Vorschau sich nicht wieder ein Mann der Fami- lie nähert, der es nur auf das Geld ab- gesehen hat. Ausgerechnet bei der Die Rückkehr des Schwarzen Schwester Miriam (Cornelia Saboro- Buddha wski) scheint diese Gefahr zu drohen. Montag, 20.15 Uhr, ZDF Denn an die dickliche junge Frau ist … bedeutet zugleich die Rückkehr ei- der vermeintliche Gigolo Kai (Seba- nes seltener werdenden Genres: des stian Ströbel) geraten. Der angehende guten alten Abenteuerfilms. Der Mediziner erscheint wie ein rechter Werbefilmer Ron Eichhorn schrieb Partyveranstalterin Kanja Tunichtgut mit vielen Geliebten und und inszenierte diese wegen der be- Geldnöten. Vergebens versucht Mi- eindruckenden Bilder chinesischen Menschen Hautnah: Prinzessinnen riams Vater, das Problem Kai mittels Lebens sehenswerte Geschichte der Montag, 22.30 Uhr, West III Scheck aus dem Weg zu schaffen, ungleichen Zwillingsbrüder Nick und Mit Wittgenstein lässt sich sagen: Die denn der junge Mann liebt die Toch- Max (in beiden Rollen: Sebastian Welt des TV ist alles, was der Knall ist. ter wirklich. Das hätte alles gut enden Koch). Nick lebt als Abenteurer seit Einen leichten Knall jedenfalls scheinen langem im Reich der Mitte und hat alle vier Frauen zu haben, die diese Do- Verbindungen zu einem Syndikat, kumentation von Anja Brendle und Ge- das kostbare Antiquitäten wie einen org Piller (Kamera: Michael Schehl) vor- aus dem Kloster geklauten Schwar- stellt. Die 50-jährige Partyveranstalterin zen Buddha an deutsche Sammler Britt Kanja gleitet auf Rollschuhen durch verkaufen will. Der Abenteurer Berlin und redet unerbittlich schlicht schlägt schließlich auf eigene Faust von der Macht der Schönheit, eine Kos- zu und reißt die heilige Figur an sich. tümdesignerin hält sich für Dornröschen, die polnische Dolmet- scherin Julia glaubt, dass ihre Seele betrun- ken gewesen sein müs- Ströbel (M.) in „Die Hässliche“ se, als sie sich ent- schloss, ausgerechnet können, hätten die Autoren nicht im im stalinistischen Polen Alten Testament nachgeschlagen und den Körper der Julia festgestellt, dass Miriam die unglückli- zu bewohnen. Anja che Halbschwester von Mose gewesen verträumt ihr Leben ist. Also plagen die Heldin Kopf- auf Kosten der Sozial- schmerzen, die sich als Anzeichen ei- hilfe. Alle diese knall- nes tödlichen Gehirntumors erweisen. harten Damen halten Miriam muss sterben, auch wenn der sich allen Ernstes für Vater mit Kipa und Gebetstuch in den Prinzessinnen, und die strömenden Regen läuft – der Dreh- Autoren dieses Films buchgott lässt sich nicht umstimmen. lassen ihnen ihren Dass in diesem Movie (Regie: Käthe Glauben nach der De- Niemeyer) die Peinlichkeit regiert, vise, dass das Hautnah liegt vor allem an der Hölzernheit der Koch, Fu Chong in „Die Rückkehr des Schwarzen Buddha“ der Sendereihe nicht Texte, die die Schauspieler zu spre- Entblößung bedeutet. chen haben. Nun jagen ihn die geprellten Betrü- ger, und Nick kann seinen Verfolgern Die Hässliche Schimanski muss leiden nur dadurch entkommen, dass er sei- Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL Sonntag, 20.15 Uhr, ARD nen Zwillingsbruder Max, der recht- Wie beruhigend, dass in unseren neu- … und der Zuschauer auch. Der von schaffen in Deutschland als Arzt ar- heidnischen Zeiten das RTL-Movie die Quotenhäme überzogene Götz Geor- beitet, mit einer falschen Meldung Welt des Numinosen hochhält. Ob hei- ge – seinen Bildschirmauftritt bei über seinen Tod ins Land lockt. Jetzt lige Huren oder in Anfechtung ver- Sat.1 wollten nicht viel mehr als drei wird Max zum Verfolgten, gerät aber strickte Pfarrer – immer noch gern Millionen Zuschauer sehen – tut es in zum Glück an die schöne Su (Fu blickt der Kölner Sender über die Gren- diesem wirren Spiel dem Zuschauer Chong). Am Ende ist alles in Buddha: zen dieser Welt. Diesmal entführt „Der gleich: Er versucht verzweifelt, einen Der böse Bruder findet im Kloster große TV-Roman“ (Genrebezeichnung roten Faden in all den Rätseln der den Weg zu innerer Einkehr, der von RTL) den Zuschauer in die religiö- Handlung zu finden. Schimi macht, deutsche Arzt lernt, dass chinesische sen Sphären des Judentums: Die Co- was er kann: Er zieht die Anzugjacke Medizin der westlichen nicht unterle- hens sind ein wohlhabender jüdischer aus und den Parka an, er schläft mit gen ist, und der Zuschauer verzeiht Clan. Vater Heinrich (Dietrich Hollin- der Architektin (Christiane Hörbiger), die Wirrnisse der Handlung, weil er derbäumer) arbeitet erfolgreich als An- und er beweint den Tod seines alten der schönen Su in schöner Land- walt, seine Tochter Sophie (Anja Schil- Vorgesetzten, aber die Geschichte um schaft ganz tief in die Augen blicken ler) wacht nach schlechten Erfahrungen ihn herum scheint kaum Notiz von durfte. mit einem Partner streng darüber, dass dem alten Raubein zu nehmen.

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PRESSE Wider den „Zeit“-Geist Die Dauerkrise bei der Wochenzeitung „Die Zeit“ hält an. Nach dem Rausschmiss des Chefredakteurs sollen nun zwei geschäftsführende Herausgeber, Josef Joffe und Michael Naumann, das Blatt wieder zu einem allseits geschätzten Meinungsführer machen.

och kümmert sich So- zialdemokrat Michael NNaumann, 58, in höchs- tem Auftrag um die deutsche Kultur – doch seine Lust am Besserwissen gilt bereits der nächsten Wirkungsstätte sei- ner schillernden Karriere, dem Wochenblatt „Die Zeit“. Dort hatte der Staatsminis- ter für Kultur und Medien be- reits Anfang November eine Bombe gezündet. Der Noch- Politiker und Noch-Nicht- Journalist rechnete mit der „Kulturhoheit der Länder“ ab: „Der barocke Begriff der ‚Kul- turhoheit‘ taucht im Grundge- setz nicht auf. Er gehört zur Verfassungsfolklore.“ Darüber echauffierten sich Politiker aus allen Lagern. Der Autor aber erregte sich vor al- lem über seine künftige Redak- tion. Die Überschrift („Zentra- lismus schadet nicht“) sei nicht mit ihm abgesprochen, die Un- terzeile („Die Kulturhoheit der Länder ist Verfassungsfolk- lore“) nicht stimmig: „Die Re- daktion der ‚Zeit‘ platziert eine reißerische Überschrift über meinen Text und ergänzt sie durch eine ebenfalls ungenaue Unterzeile“, hadert Naumann in einem jetzt abgedruckten Leserbrief an die „Zeit“. Freunden gegenüber mo- kierte er sich, der Text habe

wochenlang in der Redaktion / OSTKREUZ RÖTZSCH J. gelegen – offenbar fehle es an Presseprofi Naumann: „Reißerische Überschrift über meinen Text platziert“ Gespür für brisante Stoffe. Hier meldete sich ein Zeitungspatron in litiker vorgehen will: meinungsstark, sam bei der „Zeit“ das Ressort „Dossier“ spe, der es genau wissen will. Es sei einer machtbewusst, detailversessen. Ihm zur aufbauten. Damals war das Blatt aus Ham- der Vorteile, dass er sich als künftiger Her- Seite steht sein langjähriger Freund Josef burg eine Institution im Land, und die se- ausgeber auch um solche Unterzeilen küm- Joffe, 56, der bereits voriges Jahr von minarreifen Leitartikel galten als Pflicht- mern könne, erklärte Naumann fröhlich der „Süddeutschen Zeitung“ zum Heraus- lektüre für die politische Elite. vergangene Woche auf einer von Bundes- gebergremium der „Zeit“ gestoßen war. Noch nicht entschieden ist, wer unter kanzler Gerhard Schröder anberaumten Zusammen sollen sie im labilen Markt den beiden geschäftsführenden Heraus- Pressekonferenz zu seiner Demission. der Wochenzeitungen ein kleines Wunder gebern als „managing editor“ die Chef- Schröder: „Ein Traumjob.“ Vor allem bes- vollbringen: die „Zeit“ wieder zum allseits redaktion macht. „Wer hat schon Lust, un- sert sein Freund damit das Salär kräftig auf geschätzten Meinungsführer zu machen, ter den beiden zu arbeiten?“, fragt sich ein – auf nunmehr rund 500000 Mark. mit kantigen Debattenbeiträgen und ge- „Zeit“-Redakteur. Als Kandidat gehandelt Naumanns Auftritte machen klar, wie schärften Kommentaren. Alles so, wie An- wird derzeit „Woche“-Herausgeber Man- der Politologe, Journalist, Manager und Po- fang der Achtziger, als die beiden gemein- fred Bissinger. Doch sicher ist nur: Der bis-

130 der spiegel 48/2000 herige Chefredakteur Roger de Weck, 47, verlässt zum Jahresende das Haus. Der Schweizer Bankierssohn hatte vor drei Jah- ren eine heiß diskutierte Reform des Tra- ditionsblatts angestoßen – und sich dann im Minenfeld zwischen einer teils struktur- konservativen Redaktion und einem er- wartungsfrohen Verleger verstolpert. Der abrupte Führungswechsel ist Sym- ptom für die unbewältigte innere Krise der bei Studienräten, Zahnärzten und Grünen beliebten Publikation, die der Hamburger Jurist und CDU-Politiker Gerd Bucerius 1946 gegründet hatte. Nach dessen Tod im September 1995 fiel die Zeitung einige Monate später an den

498 476 „Die Zeit“ 500 000

Verkaufte 450 139 K. KALLABIS Chefredakteur de Weck (2. v. l.)*: „Neue Themen stießen oft auf Skepsis“ 450 000 Auflage gesamt 445 389 Nicht zeitungen und große re- traulichen Plan als Ziel vor, die 50- bis 59- 400 000 415 014 gionale Blätter seien in jährigen „Zeit“-Leser seien „stark überre- zeitgemäß? den Markt der Wochen- präsentiert“. Auch sollten mehr Frauen so- Auflage und Brutto- titel eingebrochen, analy- wie Manager und Unternehmer angespro- werbeumsatz 350 000 siert de Weck. Die Eli- chen werden: „Einige Entscheidungsträger Werbeumsatz ohne 60,1 te in der jüngeren Ge- in der Wirtschaft blieben auf Distanz.“ Rubrikanzeigen bei der neration verfolge zwar In den folgenden Wochen und Monaten 300 000 Wochenzeitung „Die Zeit“* die gesellschaftliche Ent- ging der Reformer ans Werk. Das defizitä- 54,2 52,0 51,7 Millionen wicklung neugierig, su- re „Zeit-Magazin“ wurde zu Gunsten der 250 000 Mark Jan. bis che aber „auch für sich in Berlin produzierten Lifestyle-Beilage 208 576 Okt. selbst nach Chancen, „Leben“ entsorgt, der Reiseteil bekam Far- 45,5 2000 neuen Inhalten und nach be, das Ressort Wirtschaft bot ein bisschen 200 000 1990 19931996 1999 Werten“. Die „Zeit“ mehr Geld-Service, plötzlich waren auch Einzelverkauf *ohne „Zeit-Magazin“/„Leben“ 150 415 habe dies „teils ungern“ die einst abgeschafften Medien- und Com- 150 000 registriert, „neue The- puterseiten wieder im Blatt. Und dem- men und Blickwinkel stießen oft auf nächst werden in Kooperation mit „TV 2000 Skepsis“. Spielfilm“ auf zwei Seiten sogar Fernseh- 100 000 Tatsächlich hatten Marktforschungen er- Tipps für Qualitätssendungen aller Art prä- 1. 2. 3. 1991 1993 1995 1997 1999 geben, dass die Wochenzeitung zwar als sentiert. De Weck: „Wertbewusster Re- Jahresdurchschnitt Quartal Durch- „Bastion“ gegen den Zeitgeist geschätzt formkurs.“ Quelle: IVW, A.C. Nielsen S+P schnitt werde, andererseits aber nicht viel zu sagen Doch dann kam Josef Joffe – der intel- habe, da sie nicht mit der Zeit gegangen lektuell brillante, menschlich aber umstrit- Stuttgarter Verleger Dieter von Holtzbrinck, sei. Out of time? Eine Umfrage über das tene Journalist, über dessen Umgangsfor- dem vor allem Buchverlage, Wirtschafts- Image deutscher Presseprodukte bestätig- men der damalige „Zeit“-Chef Theo Som- blätter und einige Tageszeitungen gehören. te: Nur 20 Prozent sahen die „Zeit“ als mer bereits vor 20 Jahren öffentlich sagte, Gegen den wachsenden Bedeutungsverlust Blatt mit Zukunft. man habe ihm nur mit Mühe „das Essen der „Zeit“-Granden, die bevorzugt in lan- „Priorität hat die weitere Verjüngung mit Messer und Gabel beibringen können“. gen bildungsgeschwängerten Artikeln über der Leserschaft“, gab de Weck in dem ver- Lange dauerte es nicht, bis Joffe und de die Weltlage räsonierten, setzte der Neu- Weck lautstark aneinander gerieten. eigentümer frische Ideen des 1997 aus der In dem Machtkampf aber hatte der neue Chefredaktion des Züricher „Tages-Anzei- Herausgeber, der jüngst in der „Zeit“ über ger“ geholten Journalisten de Weck. „Lust auf Leit“ räsonierte, eindeutig die Der Schweizer, der zuvor lange bei der besseren Karten. Ihn verbindet ein enges „Zeit“ gearbeitet hatte, beschrieb vor gut Verhältnis mit Holtzbrincks Zeitungschef einem Jahr in einem internen Papier Michael Grabner, beide haben an der US- („‚Zeit‘ im Jahr 2000“) ohne jede Scho- Eliteuniversität Harvard studiert. nung die Lage. Seit 1991 habe die „Zeit“, Grabner reagierte umgehend. Alarmiert heißt es da etwa, „fast kontinuierlich an von dem Krach bei seinem Prestigeobjekt, Auflage verloren“; sie habe sich „äußerst reiste er immer öfter an – zuletzt einmal vorsichtig erneuert“ und auf Veränderun- pro Woche. Bei anderen Blättern lässt er gen des Marktes, des geistigen Klimas und sich alle zwei Monate sehen. „Das waren des Leseverhaltens „zu wenig reagiert“. schon sehr muntere Diskussionen“, sagt Es ist eine Bestandsaufnahme des Zö- der Holtzbrinck-Mann, der de Weck nach gerns und Zauderns. Überregionale Tages-

* Mit „Zeit“-Geschäftsführer Rainer Esser, Verleger Die- „Zeit“-Gründer Bucerius, Naumann (1978) ter von Holtzbrinck und Holtzbrinck-Manager Michael

Einst eine Institution im Land K. KALLABIS Grabner in einer Redaktionskonferenz der „Zeit“. 131 wie vor als „hoch ehrlichen, seriösen, ge- scheiten Mann“ lobt. Und doch verlor der Schweizer immer stärker in der Stuttgarter Holtzbrinck-Zen- trale an Rückhalt. Seine Neugestaltung des Reiseteils wurde als halbherzig empfun- den, auch die Innovation „Leben“ habe qualitativ nachgelassen. Ernst wurde es, als sich de Weck an den Wirtschaftsteil heranwagte – für Holtz- brinck („Handelsblatt“, „Wirtschaftswo- che“) das zentrale Kompetenzfeld. Als de Weck schließlich vor sieben Wochen auf ei- ner eigens einberufenen Pressekonferenz den (gar nicht so) neuen Wirtschaftsteil präsentierte, war für die Stuttgarter der kritische Punkt erreicht. Der Chefredak- teur hatte etliche Änderungen gegen den erklärten Willen der Konzernzentrale vor- genommen, etwa eine Finanzkolumne, die

Aus einem sorgsam geplanten Übergang wurde ein PR-Desaster mal aus Hongkong, mal aus London, mal aus New York kommt. Zum Schluss halfen Grabner und sein Freund Joffe sogar bei der Berichterstat- tung zur US-Präsidentenwahl aus. „Die hätten sonst wieder die Überschrift: ‚Ame- rika hat gewählt‘ gedruckt“, hämt ein Holtzbrinck-Vertrauter. In kleinem Kreis verkündete Joffe kürzlich bereits, er wolle sich als Erstes um „Leben“, den Reiseteil und eine attraktivere Seite eins kümmern. Selbst Freunde konstatierten bei de Weck, der noch ganz in seiner anspruchs- vollen Konzeptwelt zu Hause war, ei- nen zunehmenden Realitätsverlust: „Seine Selbstbeurteilung und die Außenwahrneh- mung klafften am Ende auf beängstigende Weise auseinander“, sagt ein Vertrauter. De Weck habe noch von seinem publizis- tischen Durchbruch gesprochen, als Insider längst davon ausgingen, dass seine Tage gezählt seien. Bereits Mitte November, vor über zwei Wochen, habe ihm Verleger Holtzbrinck persönlich mitgeteilt, dass man sich im Frühjahr voneinander trennen wolle, heißt es in der Stuttgarter Zentrale. Dabei sei de Weck eine weiche Landung angeboten worden – das übliche „Zeit“-Abschieds- paket für abgehalfterte Hierarchen: ein net- ter Korrespondentenposten oder ein at- traktiver Buchauftrag. Doch aus dem sorgfältig geplanten Über- gang wurde ein PR-Desaster, als zuneh- mend Gerüchte über einen bevorstehen- den Wechsel an der Spitze der „Zeit“ kursierten. In der Öffentlichkeit wirkten nun auf einmal die Holtzbrinck-Leute als hin- tertriebene Intriganten. Der Verleger rea- gierte schnell – schneller als eigentlich ge- plant. Konstantin von Hammerstein, Hans-Jürgen Jakobs

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tungshaus aufgebaut, doch nun litt der Verleger aus Al- tona an naiver Selbstüber- schätzung. Gegen den Rat Konrad Adenauers war er nach Moskau geflogen, um Nikita Chruschtschow die deutsche Einheit abzuringen. Springer hatte das Treffen sorgfältig vorbereitet – mit Hilfe seiner Astrologin. Doch der sowjetische KP-Chef scherte sich nicht um opti- male Sternenkonstellationen. In nur wenigen Minuten wurde der Besucher aus Hamburg abgefertigt. Für Springer eine schwere Nie- derlage, die den eher unpoli- tischen Verleger zum erbit- terten Antikommunisten werden ließ. Lauterbach legt die Beine über die Armlehne und

ZIEGLER FILM ZIEGLER schließt die Augen für ein Springer-Darsteller Lauterbach: „Er hatte mehr als zwei Freundinnen – so wie ich“ Nickerchen. Kurze Pause. Regisseur und Kameramann diskutieren über die richtige Kameraposi- FERNSEHSPIELE tion. So viel Zeit muss sein bei einem Pro- jekt, dessen Vorbereitung allein schon drei Jahre gedauert hat. Ein Leben wie im Film Bereits 1997 hatte Regina Ziegler für 50000 Mark die Rechte an der Springer- Mit großem Aufwand lässt die ARD die Biografie Axel Springers Biografie des früheren „Stern“-Chefre- dakteurs Michael Jürgs gekauft. Für die verfilmen. Für die Berliner Produzentin Regina Ziegler Berliner Produzentin („Solo für Klarinet- ist das Projekt der erste Teil einer Reihe über große Deutsche. te“) steht der Zweiteiler über den Ham- burger Verleger am Beginn einer ganzen mmerhin liest er die „Bild“-Zeitung. „Der Verleger“, der im Herbst nächsten Reihe filmischer Biografien großer Deut- Seit seiner Installateurslehre vor über 30 Jahres in der ARD im Hauptabend- scher: Für den NDR will sie das Leben Wil- IJahren. Damals demonstrierten in Ber- programm gezeigt werden soll: Axel Sprin- ly Brandts verfilmen, ein Kinofilm über lin die Studenten gegen Axel Springer, und ger im Januar 1958 auf dem Rückweg aus Beate Uhse soll folgen. der angehende Klempner Heiner Lauter- Moskau. Ziegler war 24, als Demonstranten im bach las „Bild“. Am liebsten den Sportteil. Mit „Hörzu“, „Bild“ und dem „Ham- April 1968 nach dem Attentat auf Rudi Das verbindet. Und nicht nur das. burger Abendblatt“ hatte Springer inner- Dutschke versuchten, das Springer-Hoch- „Axel Springer verkörpert vieles, was ich halb weniger Jahre Europas größtes Zei- haus in Berlin zu stürmen. „Ich habe das ganz gut leiden mag“, sagt mitbekommen“, sagt sie, Lauterbach, „Springer war „aber es hat bei mir keine be- Patriot, er wollte Unrecht sonderen Gefühle erzeugt.“ wieder gutmachen, und er Die Mutter einer zweijähri- hatte mehr als zwei Freun- gen Tochter arbeitete für 25 dinnen – so wie ich.“ Mark am Tag als Redaktions- Jetzt darf er ihn spielen. Er assistentin beim SFB („Das sitzt in einer ausrangierten war noch weniger als eine Se- Boeing 707 auf dem Hambur- kretärin“) und brachte den ger Flughafen und soll schwei- Autoren des Senders deren gend aus dem Fenster se- Honorar nach Hause. Für hen. „Guter Blick, Heiner“, Politik hatte sie keine Zeit. ruft Regisseur Bernd Böhlich, Die „Leidenschaftlichkeit, „halt ihn so.“ Die Kamera den Zweifel, die Zwiespältig- zoomt sich langsam heran, keit dieser ungewöhnlichen eine Stewardess reicht Co- Persönlichkeit“ Axel Springer gnac, ein Lauterbach spielt faszinierte sie erst richtig, streng nach Drehbuch: „Der nachdem sie die Jürgs-Bio- Verleger schaut gedankenver- grafie gelesen hatte. loren über das Wolkenmeer.“ Keine Frage, dass die Le- Klappe: „206, drei, die drit- bensgeschichte des milliar-

te“. Eine Schlüsselszene in GLASER P. denschweren Verlegers Film- dem zweiteiligen Fernsehfilm Verleger Springer, Ehefrau Friede (1979): Größenwahn und Depression qualität besitzt: seine fünf

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erst, als Ziegler ihm vor einem knappen Jahr den Auftrag erteilte. „Ich finde Menschen spannend, die so stark polarisieren“, sagt Böhlich über den Mann, der in der DDR ähnlich wie Franz Josef Strauß nur „als Schablone eines Kal- ten Kriegers“ dargestellt worden sei. Der Regisseur kürzte Hengges Vorlage radikal. Kindheit und Jugend wurden gestrichen: „Bereits in den ersten fünf Minuten muss deutlich werden, dass da jemand ist, der unbedingt eine Zeitung machen will.“ So beginnt der Film erst in der Nach- kriegszeit, als der junge Springer mit der „Hörzu“ seinen ersten Erfolg erzielt. Und er endet fünf Jahre vor seinem Tod mit dem Selbstmord seines Sohnes, der den Vater als gebrochenen Mann hinterlässt. Immer wieder wurden die Drehbücher umgeschrieben – bei Projekten dieser

HOGREVE / T & Größenordnung eher der Normalfall. 13 Produzentin Ziegler Millionen Mark muss die ARD für den Für Politik keine Zeit Film bezahlen, der vom federführenden NDR gemeinsam mit WDR und MDR Ehen und zahllose Geliebte, der Selbst- produziert wird. mord des Sohnes, sein unbeirrter Kampf Mit großem Aufwand hatte Regina Zieg- für die deutsche Wiedervereinigung, der ler recherchieren lassen: Zeitzeugen wur- ihm den Spott seiner Gegner einbrachte den befragt, mehrere Ehefrauen Springers, („Der Brandenburger Tor“), sein Hang zu seine engsten Mitarbeiter. Nur seine Wit- Mystik und Astrologie, seine Frömmigkeit, we Friede Springer, die immer noch die sein Größenwahn, seine Eitelkeit und seine Mehrheit an dem Verlagshaus hält, hatte Depression. bereits 1997 die Mitarbeit an dem Projekt Springer hatte im Herbst 1945 auf die abgelehnt. „Ich möchte Abstand halten, genervte Frage eines britischen Besat- weil mir die ganze Geschichte noch zu zungsoffiziers, wer ihn denn eigentlich im nahe ist und mir zu Herzen gehen würde“, Dritten Reich verfolgt habe, geantwortet: ließ sie die Nachrichtenagentur dpa wissen. „Eigentlich nur die Frauen.“ Doch er litt Dreharbeiten in den Verlagshäusern wur- unter der Schuld der Deutschen und be- den abgelehnt. mühte sich sein Leben lang um die Aus- Das Projekt ist auch juristisch sensibel, söhnung mit den Juden. weil es die Persönlichkeitsrechte von noch Israel wurde zunehmend zu seiner lebenden Menschen betrifft. So wurde auf neuen Heimat. Im eigenen Land fühlte Rat der Anwälte Springer-Freund Max sich der nationalkonservative Verleger Schmeling im Drehbuch durch einen fik- fremd und unverstanden. Die „Bild“-Zei- tiven Fußballer ersetzt. Andere Szenen tung verkam zum Hetzblatt, das gegen wurden sicherheitshalber verändert oder die demonstrierenden Studenten geiferte, gestrichen. Viele Personen tauchen unter vergebens ließ er seine Blätter gegen die erfundenen Namen auf. Andere, wie Ostpolitik Willy Brandts anschreiben. Springers früherer Generalbevollmächtig- Springer, den sein untrügliches Gespür ter Christian Kracht, haben sich inzwi- für die Bedürfnisse seiner Leser groß ge- schen schriftlich einverstanden erklärt, mit macht hatte, erkannte die Zeichen der Zeit ihrem Namen genannt zu werden. nicht mehr. Bewusst haben die Macher darauf Noch heute, 15 Jahre nach seinem Tod, verzichtet, Schauspieler auszuwählen, die ist seine Biografie in der Lage zu polari- so aussehen wie die Personen, die sie sieren. Das hat auch Ziegler erfahren müs- verkörpern. Nur Adenauer ist mit einem sen, die mehrfach die Drehbuchautoren Darsteller besetzt, der ihm täuschend ähn- wechselte. Die ersten Entwürfe reduzierten lich ist. Eine große Rolle für den weit die vielschichtige Persönlichkeit des Verle- gehend unbekannten Schauspieler Wer- gers auf einen intriganten politischen Eife- ner Dissel, der bisher vor allem Leichen rer und Frauenhelden. spielen durfte. Erst Bernd Böhlich gelang es nach einer Lediglich die Besetzung der Hauptrolle Vorlage von Paul Hengge („Das Urteil“), ist umstritten. „Den Lauterbach als Sprin- die Lebensgeschichte Springers so umzu- ger kann man sich nur schwer vorstellen“, setzen, dass schließlich auch Biograf Jürgs heißt es im Verlag. Doch Regisseur Böhlich sein Einverständnis erklärte. Regisseur schwört auf seinen Star: „Der gibt dieser Böhlich („Sturmzeit“) konnte unbefangen Figur eine größere Ernsthaftigkeit, als an die Arbeit gehen: Aufgewachsen in Springer sie möglicherweise tatsächlich Dresden, interessierte er sich für Springer hatte.“ Konstantin von Hammerstein

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UNTERHALTUNG Eine Rakete namens Harry Der Oberzyniker der Nation feiert Jubiläum: Anfangs böse verrissen, hat die „Harald Schmidt Show“ nun fünf Jahre glänzend überstanden. Der Entertainer Schmidt veränderte die Republik – und muss doch bangen: Frisst die neue deutsche Lachkultur ihren Meister? Von Reinhard Mohr

Der Mann könnte Leiter der Volkshoch- schule von Bad Cannstatt sein, und tat- sächlich thematisiert er immer wieder den Kulturverlust des Abendlandes auf dem dramatischen Abstieg von Nietzsche zu Naddel – doch im Hauptberuf ist er Deutschlands Oberzyniker, Doyen der Spaßgesellschaft, lebende Großmetapher des Zeitgeists, eine deutsche Leitfigur: „Dirty Harry“, der Fernseh-Mephisto. Ein Geist, der stets verneint und doch das Gute in uns allen meint. Ein Jasager aus Bosheit, der täglich seinen süffisanten Bericht zur Lage der Nation abliefert, ir- gendwo zwischen Wahnsinn und Vernunft. „In dem Sinn“, würde Ex-„Big Brother“- Franken-Dani sagen. Harald Schmidt ist ein Phänomen. Selbst die, die ihn nie gesehen haben, kennen ihn. So wird auch Friedrich Merz ihn ken- nen, der unverwechselbare Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bun- destag. Er ist groß und schlaksig wie Ha- rald Schmidt und genauso alt – ein Ver- treter jener 78er-Generation, die zu jung

S. WALLAUER / BISCHOFF S. WALLAUER war für die Revolte von ’68 und zu alt für Schauspielerin Barbara Schöneberger, Gastgeber Schmidt: Geröll besinnungsloser Witzischkeit die New Economy der Start-ups. Was ihnen blieb, war Kabarett & Steuerrecht. ieder einmal hatte der beken- Gern liest Schmidt auch intellektuelle Doch an seinen berühmten Genera- nende Hypochonder, der seinen Verschrobenheiten aus dem neuesten Gen- tionsgenossen hat Steuerexperte Merz aus W„Pschyrembel“, das medizinische Nano-Roboter-Feuilleton der „FAZ“ vor, dem Sauerland sicher nicht gedacht, als er Handbuch aller bekannten Krankheiten, zitiert Heidegger und Houellebecq, stellt die „deutsche Leitkultur“ beschwor. Das ehrt wie gläubige Christen die Bibel, tap- klassische Dramen der Weltliteratur im war ein schwerer Fehler, denn Harald fer eine Magen-Darm-Infektion hinter sich Sandkasten nach und räsoniert am Beispiel Schmidt ist deutsche Leitkultur par excel- gebracht. Frisch genesen, aber noch et- von Picasso und Cézanne über deutsche lence, ihr Inbegriff und idealtypische was geschwächt, sitzt Harald Schmidt, 43, Leitkultur, die „Synchronität des Inkom- Verkörperung. Schon 1997 beging der im Mai 2000 an seinem Schreibtisch im mensurablen“ und die „Paralipomena“ der gebürtige Schwabe in Anlehnung an die Kölner Fernsehstudio 449 und verzehrt in Spätromantik. heimische „Kehrwoche“ eine nachdenkli- aller Ruhe Zwieback. So viel Zeit muss che „Werte-Woche“ und wieder- sein. Trockener Humor live, extra dry. Es holte immer wieder sein auf- wird gelacht. richtiges Bekenntnis zur deut- In einer anderen Ausgabe der einzigen schen Trinkkultur: „Ich sage Ja deutschen Late Night Show (dienstags bis zu deutschem Wasser.“ Der be- freitags auf Sat.1) widmete er sich jüngst geisterte Hobbypianist ist stets dem Phänomen der „Fibrome“, kleinen, anständig gekleidet, fährt ein ebenso hässlichen wie harmlosen Haut- deutsches Auto und spielt in der läppchen, von denen er gerade einige bei Freizeit Bach und Haydn. sich selbst hatte entfernen lassen. Zu De- Schmidt, hoch begabter Sohn monstrationszwecken öffnete er Krawatte eines Verwaltungsangestellten und Hemdkragen, so dass rund eine Mil- und einer Kindergärtnerin, der lion Fernsehzuschauer vor den heimischen eigenen Angaben zufolge auf Geräten in den Genuss dermatologischer dem Schulhof entschieden zu Fortbildung am lebenden Objekt kamen, wenig Beachtung durch das an- Heftpflaster am ausrasierten Hals inbegrif- dere Geschlecht fand, war in zar-

fen. Und wieder kichert die Belegschaft PRESS / ACTION H. GALUSCHKA tem Alter Organist und Chor- am Krankenstandort Deutschland. Talk-Star Schmidt 1995: Jasager aus Bosheit leiter. Nach dem Abitur leistete

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Werbeseite Medien FOTOS: DPA FOTOS: 1995 Mit Grace Jones 1996 Mit Bettina Böttinger 1997 Mit den „Playmates des Jahres“ er Zivildienst und legte an der Kirchenmu- Johnny Carson – Legenden des amerika- Zeitung“ wie immer endgültige Wahrhei- sikschule Rottenburg/Neckar die C-Prüfung nischen Entertainment – und nebenher ten: „Witzeln ersetzt nicht Witz, und der für Kirchenmusik mit Orgeldiplom ab, be- noch den Humorstandort Deutschland fit Tusch nicht die Pointe.“ vor er drei Jahre an der Schauspielschule machen fürs dritte Jahrtausend. Schon im Februar 1996 fragte die Münch- Stuttgart studierte. Es kam, wie es kommen musste: Die Kri- ner Boulevardzeitung „AZ“ moralisch tief Aus diesem explosiven biografischen tiken waren verheerend. besorgt: „Wie lange darf Harald Schmidt Gemisch musste Ungewöhnliches entste- „Schon wieder eine misslungene Let- noch schmuddeln?“ Von „Ekel-Fernsehen hen. Als Schmidt am 5. Dezember 1995 terman-Kopie“, urteilte ironiefest „Das um Mitternacht“ sprach das Ethik-Organ zum ersten Mal in feinem Zwirn auf die Sonntagsblatt“, während die flotte „Wo- „Bild am Sonntag“ und prophezeite den Late-Night-Bühne sprang, hatte er schon che“ gleich die „Ausschaltquote“ empfahl. „schnellen Abstieg des schmutzigen Ha- mehrere Karrieren hinter sich: als erfolg- In der „Zeit“ fragte Barbara Sichtermann: rald“, und die sensible Zeitgeist-Kritike- reicher Solo-Kabarettist, als Fernseh-Sati- „Was reitet diese Jungs, von Hape Kerke- rin Barbara Eligmann, Moderatorin des riker („MAZ ab!“, „Pssst“, „Schmidtein- ling bis Harald Schmidt, was reitet sie zu RTL-Magazins „Explosiv“, fand es einfach ander“) und TV-Entertainer („Verstehen glauben, dass sie, nur weil ihr Gehalt ex- nur „geschmacklos, wenn er sich in Sket- Sie Spaß?“). Doch nun betrat er Neuland. plodiert, auch gleich selbst zu komischen chen übergibt“. Er wollte der deutsche Letterman werden, Raketen werden?“ Der Satire-Experte Jo- Ein gutes Jahr später wurde der so Ge- der deutsche Jay Leno, der deutsche sef Joffe formulierte in der „Süddeutschen schmähte mit Preisen geradezu überhäuft: 1999 Mit Verona Feldbusch 2000 Mit „Big Brother“-Zlatko

FOTOS: ACTION PRESS ACTION FOTOS: Plötzlich wurde aus Ekel „Kult“, aus Er besitzt seine eigene Produktionsfirma 1998 In einem Sketch Schmuddel Glamour, aus Zoten und mit rund 80 Mitarbeitern, die nebenher ei- Moderator Schmidt mit Show-Gästen Kalauern Esprit und Sprachkunst. Das genständig Werbespots produziert. Er hat „Phase der Unsterblichkeit“ deutsche Feuilleton hat ihn zum Fern- eine aufwendig gemachte Website „www. seh-Aristokraten der ironischen Weltan- harald-schmidt-show.de“ inklusive Web- Grimme-Preis, Goldener Löwe, Telestar. schauung geadelt, dem Zynismus und cams „hinter den Kulissen der Show“, die Die Frauenzeitschrift „Brigitte“, Schmidts Sarkasmus zum Lebenselixier geworden eingefleischten Fans die Rund-um-die-Uhr- natürlicher Feind in der freien Wildbahn, sind, und „Bild“ druckt täglich seine Beobachtung des Getränkeautomaten oder jubelte pflichtvergessen: „Die neunziger besten Sprüche. des Autorenzimmers erlauben („Wahn- Jahre gehören Harald Schmidt.“ Längst sieht sich Harald Schmidt wie sinn!“) – und er bestreitet sorgsam ausge- Kurz darauf erhielt er den renommierten Claudia Schiffer, die derzeit mit ihrer Des- wählte Gastauftritte bei anderen Medien- „Medienpreis für Sprachkultur 1998“ für sous-Reklame die Straßen und Bushalte- giganten wie Thomas Gottschalk, Erich seine „respektlose Art, sein ständiges Spie- stellen der Republik unsicher macht, als Böhme und Günther Jauch. Motto: Auf die len mit Vorurteilen und Klischees in der etablierte Premium-Marke, als Spitzen- Benutzeroberfläche kommt es an. Wich- besten Nonsens-Tradition seit Ringelnatz produkt im weltweiten Wettbewerb – und tigstes Ziel: „Ich muss zitierfähig bleiben.“ und Morgenstern“. Die Laudatio hielt Ali- als erfolgreicher Geschäftsführer der Zeit- Selbstverständlich ist er auch ein be- ce Schwarzer. geist GmbH & Co. KG. gehrter Werbeträger. Der Fachzeitschrift Werbeseite

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„Horizont“ sagte er unlängst in gewohnter am deutschen Comedy-Himmel mit Hang hat, mit Licht und Luft, Leben und Le- Schüchternheit: „Weltmarktführer, die al- zum Stabreim. O-Ton Merkel: „Öde, öder, benlassen: „Sach, dat de geil bist, dann lein Schwierigkeiten hätten, sich in der Schröder!“ Ö je. verzeih isch dir!“ dschungelhaften Welt der Werbung zu- Im Sabine-Christiansen-Zeitalter des In ihren besten Augenblicken ist die rechtzufinden, können in mich investie- Schwindel erregenden Dauerschwurbelns „Harald Schmidt Show“ ein ziviler Ort, ren.“ Auf die Frage, was heute für ihn Er- ist Harald Schmidt der letzte Gesell- wo kleines Leben groß und großes klein ge- folg sei, antwortete er: „Wenn ich Konkur- schaftsinterpret ohne Absicht und jenseits macht wird, wo für Sekunden kleine und renten untergehen sehe.“ politischer Ideologie, ein Musilscher Mann große Wahrheiten eine Chance haben in Er selbst, so Schmidts vorläufige Selbst- ohne Eigenschaften: „Er ist es, der den den Fluten von Dummheit, Lächerlichkeit einschätzung, sei nun dabei, in die „Phase neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und und Anmaßung. der Unsterblichkeit“ einzutreten. ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie.“ Hilfreich sind dabei jene Kunstfiguren Gewiss doch, aber haben fünf Jahre Er ist ein Mediator, ein echtes Medium. von „Vatter Teresa“ bis zur „Nazi-Panse“, „Harald Schmidt Show“ sonst noch was Ein Katalysator. Ein postmoderner Anti- vom Fahrer „Üzgür“ bis zum austausch- bewirkt? Womöglich die Republik verän- held. Durch ihn geht die Zeit hindurch. Er baren Abgeordneten „Dr. Udo Brömme“, dert, wenigstens „ein Stück weit“? Oder benutzt alles, und er hält immer wieder vom angeketteten „Ossi“ im Heizungs- frisst die Spaßgesellschaft am Ende ihre zusammen, was (nicht) zusammengehört. keller bis zum versauten Puppen-Duo Kinder – samt ihrem Herrn und Meister? Ob Susan „Stänkie“ Stahnke, Ex-„Tages- „Bimmel & Bommel“ und ihrem „guten Die neue deutsche Lockerheit, die schau“-Sprecherin mit Hollywood-Ambi- A“: Sie treiben die Dinge auf die Spitze, flächendeckende Rundum-Ironisierung der wo sie, wenn es funktio- neuheidnischen Lachkultur, so scheint es je- niert, krachend zusam- denfalls, ist total normal geworden, so nor- menbrechen. mal, dass es einigen schon wieder langwei- Manchmal aber ist die lig wird. Schluss mit lustig. Wo bleibt der „Harald Schmidt Show“ Biss?, fragen die Satiresüchtigen und Ironie- Teil der Krankheit, zu de- Junkies. Harald Schmidt also ein angepass- ren Linderung sie beitra- ter Renegat, gar ein Joschka Fischer der gen soll. Zum Beispiel Late Night? Steckt er in der Opportunis- dann, wenn die Endmorä- musfalle – Genschman statt Letterman? ne der Spaßkultur, das „Die Schmidt-Show ist vorhersehbar ge- Geröll der besinnungslo- worden wie eine Jeckensitzung“, be- sen Witzischkeit, völlig schwerte sich Anfang des Jahres ein ent- ungebremst ins Studio ein- täuschter Redakteur und Liebhaber des bricht und alles unter sich gepflegten Bösen im „Stern“: „Ach, welch begräbt. Wenn die letzte

Jammer. Eine Ikone, seit vier Jahren unser AP Blondmaus von „Bravo Grundversorger mit poli- Late-Night-Talker Carson (r.), mit Alice Cooper (1977) TV“ die nichtigste Nichtig- tisch unkorrektem Witz- keit in den Äther piepst, gut, geht den Bach run- wenn die Gag-Lage so labbrig ist wie abge- ter.“ Und schließlich der standenes Bier und die Stimmung zäh vor Appell an den Geliebten: sich hin kalauert wie in den Komik-Ruinen „Steig zurück in den Ring der „Wochenshow“ nach dem Abgang von und kämpfe. Du wirst noch Anke Engelke. gebraucht.“ Dann zeigt sich, dass Harald Schmidt Aber wozu? Dr. Jekyll und Mr. Hyde ist, Adler und Gei- Harald Schmidt hat in er, Angreifer und Mitmacher, cool und op- den vergangenen Jahren, portunistisch, stark und schwach, genial und das macht seinen ein- und gemein – eben einer von uns. zigartigen Status aus, ei- Doch am nächsten Tag lädt er dann zum nen neuen Ton von Ironie Beispiel Gottfried Preller ein, Kirchenmu- etabliert, der nicht mit sikdirektor aus der thüringischen Bach-Me-

der allgegenwärtigen Co- REUTERS tropole Arnstadt, der eine mobile Orgel medy-Dröhnung zu ver- Late-Night-Talker Leno (r.), mit Arnold Schwarzenegger (1998) auf die Bühne schiebt und ein paar Minu- wechseln ist. An guten Ta- Schmidt-Vorbilder aus dem US-Fernsehen: Nur eine Kopie? ten lang mit mächtigem Klang die berühm- gen entfaltet Schmidts sa- te Toccata in d-Moll anspielt – und schon tirische Travestie des aktuellen Geschehens tion, Jenny „der Bauch“ Elvers, Roland entsteht ein weltentrückter Augenblick: nach wie vor so etwas wie kathartische „Rolli“ Koch, Roger Willemsen, Peter Maf- strenge Barock-Polyphonie im Reich der Heilwirkung in den Seelen strapazierter fay oder die zweibeinige Edelschmalz- deutschen Lachkultur. Zeitgenossen. trompete André Rieu – worüber man nicht Aus solchen Konfrontationen, dem clash Sein affirmativ süffisanter Zynismus, sei- mehr ernsthaft reden kann, darüber soll of civilizations, schöpft Harald Schmidt ne parodistischen Zitate aus dem täglichen man wenigstens lachen. auch ganz persönlich. Seine eigene Bio- Wahnwitz der Mediengesellschaft schaffen Wenn er sich, unterstützt durch sein be- grafie ist sein bester Fundus. Er gehört zu immer wieder Augenblicke der spontanen trächtliches mimisches wie gestisches Re- den wenigen glücklichen Menschen, deren Übereinkunft mit den Beladenen und Be- pertoire, Abend für Abend an die blitz- Beruf die Fortsetzung ihres Privatlebens leidigten draußen im Lande, die auf das schnelle Collage der flottierenden Ele- mit anderen Mitteln ist. befreiende Wort hoffen, auf den rhetori- mentarteilchen macht, dann wird daraus Wird er dafür nach Bambi und Grim- schen Volltreffer, auf den Blattschuss. Ja, ja, auch eine Haltung zur Welt. Es ist eine mal me-Preis auch noch das Bundesverdienst- gib ihm! Bingo. angloamerikanisch, mal italienisch, mal kreuz bekommen? Dann ist der Kaiser splitternackt. rheinisch gefärbte Mischung aus Sarkas- Keine Frage: Er hat sich um die Republik Auch dann, wenn er mal Angela Merkel mus, Stil und Freundlichkeit, die viel mit verdient gemacht. Andererseits: Er wird ja heißen sollte, der aufgehende Ossi-Stern Aufklärung nach aller Aufklärung zu tun noch gebraucht – als deutsche Leitfigur. ™

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Schon zur ersten Staffel sei ihnen das Million Mark bezahlt – trotz meist mauen MERCHANDISING Heft „aus den Händen gerissen worden“, Anzeigengeschäfts. freut sich das RTL-Merchandising, das die Bei den Verlagsleuten sind Seifenopern Strategien Container-Gazette neuerdings vom Hein- besonders beliebt, weil sie Wiedererken- rich Bauer Verlag („Bravo“) produzieren nung versprechen und damit dauerhaften lässt. Der wiederum ist an RTL II betei- Gewinn. Zielgruppe im „GZSZ“-Fall: vor zum Abmelken ligt, das zur neuen Serie „Popstars“ auch allem junge Mädchen, die das Leben – mit- gleich ein Magazin präsentiert. unter sogar die erste Zahnspange – noch Zeitschriften zu Fernseh- Allein um den RTL-Seifen-Klassiker vor sich haben und bonbonfarbene Foto- „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ wuchert romane zur Serie ebenso goutieren wie formaten haben einen schlechten mittlerweile ein kaum noch überschauba- den eingeschweißten Lipgloss-Batzen „für Ruf, bringen aber viel Geld. rer Blätterwald aus Rätselheftchen, Spe- deinen süßen Kussmund“. Ab Januar soll es sogar „TV Total“ „Zielgruppen-affin“ heißt derlei in der am Kiosk geben. Fachwelt, was so viel bedeutet wie: Für Kinder muss man kindische Heftchen tefan Raab alberte seine neue Kon- produzieren. Von journalistischer Qualität kurrenz in Grund und Boden: „Wie spricht ohnehin niemand. Soft hattet ihr eigentlich schon Pame- So lockt das „Marienhof“-Magazin zur la Anderson auf dem Titel?“, fragte er die 1500. TV-Folge mit einem vierseitigen TV-Programm-Presse, die sich jüngst in Bericht über die „Ultra-Mega-Jubi-Fete“. einem Hamburger Hinterhof einfand, um „Top of the Pops“ enthüllt die schönsten Neues von „TV total“ zu erfahren. Seiten des C-Klassen-Seifenstarlets Jea- Eigentlich ging es zwischen Sekt und nette Biedermann („sexy Power-Girl“) und Tartar-Häppchen darum, dass Raabs Pro- im „GZSZ-Liebes-Alphabet“ wird unter Sieben-Format ab Mitte Januar von Mon- „K wie Küssen“ aufgeklärt: „Küssen, tag bis Donnerstag täglich präsentiert wird. Kuscheln, Knutschen – was gibt es Schö- Aber rechtzeitig zur TV-Expansion soll neres?“ dann auch das Heft zur Show jede Woche „Schlecht gemacht sind die alle“, sagt frisch am Kiosk liegen. Er wolle, grinst Claus-Dieter Grabner, der es als Marke- Raab, endlich mal mitentscheiden, welche ting-Vorstand der TV-Produktionsfirma Blondine auf die Titelseite kommt. Brainpool mit Stefan Raab nun besser ma- Dafür allein hätte seine Produktionsfirma chen will. Natürlich sei das Ganze ein Brainpool kaum über zehn Millionen Mark „emotionsloses Geschäft“, in dem „Ab- Entwicklungshilfe spendiert. „TV total“ ist melkstrategien“ regierten. Mit dem „TV dank anhaltenden Quoten- und Imageer- „TV total“-Nullnummer total“-Heft will Grabner auch qualitativ folgs das geworden, was man eine Marke Neues aus dem Hinterhof Neuland betreten. nennt: Raab erreicht rund die Hälfte aller Michael Hopp, Ex-Chef von „TV Mo- 14- bis 29-Jährigen, die Montagabends vor cials und Büchern, in dessen Zentrum sich vie“, arbeitet derzeit mit 30 Leuten in der Glotze sitzen. Raab hat eine gut be- das „GZSZ“-Fanmagazin der Stuttgarter Hamburg eifrig an Nullnummern, die zu je suchte Internet-Seite. Raab schafft es, mit Dino Entertainment AG behauptet. Aufla- einem Drittel TV-Programm, Comedy und dem Kanzler-Satzfetzen „Ho mir ma ne ge: 635000 Stück monatlich. Über 350000 Kultur-Infos liefern möchten. Rund 300000 Flasche Bier“ die Charts zu stürmen. Raab davon werden sogar verkauft. Käufer soll das Heft zum Kult finden. Vor- ist also eine Menge Geld wert, mit dem Generell sei „der Printbereich neben wiegend unter den 14- bis 29-jährigen man noch mehr Geld verdienen kann. Musikkooperationen die stärkste Umsatz- Raab-Stammkunden. So war es nur konsequent, auch über quelle“ des Merchandising-Geschäfts, sagt Auf Probetiteln ist bislang nicht mal eine „TV total“-Zeitschrift nachzudenken, Holger Strecker von RTL Enterprises. Zwi- der übliche Blondinenwitz zu sehen wie zumal dieses Begleitgeschäft zurzeit eine schen 13 und 17 Prozent vom Ladenpreis bei der Konkurrenz. Stattdessen ein au- Renaissance erlebt: Die Verlagsunion Pabel jedes Heftchens schöpft beispielsweise RTL genzwinkernder Raab mit breitem Hack- Moewig präsentiert alle zwei Monate „Das ab. Mitunter werden schon im Vorfeld Ga- fleisch-Grinsen. Nullnummer eben. offizielle Magazin“ zur ARD-Seife „Ma- rantiesummen zwischen 500000 und einer Thomas Tuma rienhof“. RTL verdient an Li- zenzen für die Musikshow „Top Serien-Hefte of the Pops“ ebenso wie an denen für Hans Meisers Am- bulanz-Schrulle „Notruf“ und „Big Brother“. „Gewinnt das Bett des No- minators“, kreischt es einem auf dem Titel des 52-Seiten-Heft- chens („Wir zeigen, was Sie nicht im TV sehen!“) entgegen, in dem nur die wirklich wichti- Gute Zeiten, Big Top of gen Fragen der Menschheit de- schlechte Brother the Pops Marienhof battiert werden: „Ebru wird ir- Zeiten gendwann kapieren, dass Wal- 260000 153000 63000 ter nichts für sie empfindet. 357600 verkaufte Auflage, verkaufte Auflage verkaufte Auflage Daraufhin wird die emotionale verkaufte Auflage angestrebt Quelle: Verlag Quelle: Verlag Türkin den Ösi-Prinz endgültig Quelle: IVW Quelle: Verlag aus ihrem Herzen verbannen.“

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MILITÄR Faltbare Kneipen iertrinken gehört zum britischen Le- Bbensstil. Das bezeugte erst kürzlich der englische Oppositionsführer Wil- liam Hague mit seiner Behauptung, er habe als Teenager schon mal 14 Pints pro Tag gebechert. Während der Blair- Herausforderer in der heimischen Pres- Filmszenen mit Telefon (Denise se als „Billy der Lügner“ bezeichnet Richards, Anthony Hopkins) wurde, kann sich Bundeskanzler Ger- hard Schröder einer größeren Akzep- und erotisches Problem“. Mehrere tanz seiner Trinkgewohnheiten erfreu- Kapitel sind dem Weg des „spre- en: Die Stefan-Raab-Single mit den chenden Knochens“ vom Alltag in Schröder-Worten „Ho mir ma ne Fla- die Kunst gewidmet: Rauschfrei sche Bier“ ist ein kommerzieller Erfolg. hingehaucht avancieren beispiels- Wenn es ernst wird, sind es allerdings weise die Telefonsätze in Ingeborg wieder die Briten, die in Sachen Bier Bachmanns Roman „Malina“ zur vorn liegen. Selbst in Krisengebieten eigenen literarischen Gattung. Im wie dem Kosovo wollen sie nicht auf Film, in dem die bewährte Face-to- ihren halben Liter „Lager“ verzichten. face-Kommunikation immer mehr

So hat die Naafi, Versorgungseinheit CINETEXT FOTOS: durch Handy-Dialoge ersetzt wird, der britischen Armee, Pläne zum Bau klingelt’s besonders schrill, wenn faltbarer Kneipen für die Bier-Pipeline KOMMUNIKATION Horror droht. Das beweist auch die entwickelt. Die so genannten „Pop-Up- derzeitige Ausstellung „Mensch Telefon“ Pubs“ sollen schon in diesem Winter im Frankfurter Museum für Kommu- bei Einsätzen des britischen Militärs Sinnliche nikation. Hier kann sich der Besucher voll zum Zuge kommen. Sieben Stun- anhand von rund hundert Filmbildern davon überzeugen, wie Regisseure am Gespräche Klischee des geschlechtsspezifischen Un- terschieds im Umgang mit dem Telefon as Telefon ist ein tückischer Ge- mitarbeiteten. Man sieht es: Männer te- Dnosse. Mal wartet man endlos auf lefonieren kurz, ernst und energisch, einen ersehnten Anruf – und das Gerät Frauen aufgeregt und sinnlich. rührt sich nicht. Dann wieder wird man aufgeschreckt von entnervendem Ge- klingel zur Unzeit. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat sich dieses Kommunika- tionsmittel dennoch durchsetzen kön- nen. Nun wird der „Mobilisierung der Modellskizze des „Pop-Up-Pub“ Telefonie“ nachgespürt: In ihrer „Kul- turgeschichte des Telefons“ (Edition den dauert der Aufbau, zehn Soldaten Suhrkamp) beschreiben Stefan Münker werden dafür benötigt. Der gut 14 Qua- und Alexander Roesler nicht nur die his- dratmeter große Container bietet Platz torische Entwicklung vom Wandapparat für 120 durstige Soldaten, inklusive über den Münzfernsprecher zum Desi-

Kühlschränken, Bar, Mobiliar, Dartspiel gnerobjekt, sondern beschäftigen sich / ARGUM STOCKMEIER F. und natürlich mehrerer Fässer des be- auch mit dem Telefon „als theologisches Tischtelefon von 1904 liebten Getränks.

KÖRPERPFLEGE Fun“ (Berlin) oder „Megadent“ (Düsseldorf, Nürnberg, Bamberg). Neben Designerzahnbürs- Ayurveda für die Zunge ten bieten die Läden Hightech-Mundduschen und ultraschallunterstützte Elektrozahnbürsten, jede eit die Krankenkassen ihre Zuschüsse zum Menge Zahnseiden und Zahnzwischenraumbürst- SZahnersatz und zur Zahnpflege zusammen- chen, Zahnpasta für Hunde, aber auch Exoti- gestrichen haben, gelten schöne Zähne als Prestige- sches: Die Idee zu den ayurvedischen Zungen- objekt. Der Patient muss sich zum Kunden eman- reinigern stammt aus Indien, Kau- und Putzhöl- zipieren und selbst das Beste für sein Gebiss aus- zer kommen aus Afrika. Wer seine Zähne liebt, findig machen. Die Nachfrage ist da, ein Zahn- der gönnt ihnen öfter mal was Neues. Geht’s

pflegefachgeschäft nach dem anderen öffnet mit / OSTKREUZ M. TRIPPEL schief, gibt es ja immer noch den Zahnarzt. Artikeln rund um den Zahn. Sie heißen „Die Zahn- bürste“ (München, Ulm, Leipzig) oder „Zahn & Neue Designerzahnbürsten 151 Gesellschaft

PARTNERSCHAFT Geliebte Jungs Ältere Männer mit jungen Gefährtinnen entsprechen dem hergebrachten Beziehungsmuster. Kehren nun Frauen, die sich offen zu jüngeren Partnern bekennen, einfach die Geschlechterrollen um? Tatsächlich erwarten ältere Frauen vom jüngeren Mann eine reifere Partnerschaft. CORBIS SYGMA Edith Piaf, Théo Sarapo (1962)

Paare mit jüngeren Männern Vorbehalte, „weil Frauen nicht dürfen, was Männer als Pflicht empfinden“

und Kollegin von Maurice Chevalier, Yves Montand, Charles Aznavour und Ed- die Constantine – gegenüber dem unbekannten Sohn ei- nes Friseurs empfand. „Ich hatte das Gefühl, dass mir die Fähigkeiten fehlten, um eine gute Ehe- frau abzugeben. Ich habe es nie verstanden, mich um den Haushalt zu kümmern.“ Die Piaf wird ihren Théo

BULLS PRESS BULLS heiraten. Doch noch Stun- Guy Ritchie, Madonna den vor der Hochzeit will sie alles hinschmeißen. Die Fo- ie war der größte Star ihres Landes zum griechischem Beau Théo Sarapo stim- tos des Ereignisses sprechen eine eindeu- und bekannt in aller Welt. Sie war men, er behandelt sie gut. Wenn, ja wenn tige Sprache: Sichtlich verschreckt lässt sich Sverliebt. Der Mann war jung, er war diese beiden Zahlen nicht wären: „47…27, die Braut am 9. Oktober 1962 trauen. schön, er wollte sie heiraten. Die perfekte mein Alter und das von Théo, 47…27“. Die Ehe sollte nicht lange halten, doch Liebesgeschichte? Keineswegs. Sie, für allerlei gesellschaftliche Tumul- dafür konnten die frisch Vermählten nichts: Edith Piaf quälte sich. Soll sie, soll sie te berüchtigt, zittert und bibbert nun vor Die Piaf hatte nur noch ein Jahr zu leben. nicht? Seite um Seite schildert die franzö- einem „Skandal“. Und sie zählt gerade- Im Herbst 2000 hat die Klatschpresse sische Chansonette in ihren Memoiren zu peinlich genau die Komplexe auf, die ähnlich beziehungsreichen Stoff üppig („Mein Leben“) ihre Zweifel: Die Gefühle sie – die Berühmte, ehemalige Gefährtin im Angebot. Die bunten Nachrichten der

152 der spiegel 48/2000 vergangenen beiden Wochen: Die Schau- mal zweifeln, wenn etwa die Schauspiele- legin Francesca Annis, 54, von seiner spielerin Hannelore Hoger, 59, hat einen rin Ingrid van Bergen, 68, ihre Verlobung gleichaltrigen Ehefrau scheiden. neuen Freund, Siegfried Gerlich, süße 34. mit dem 36-jährigen Kunstmaler Johannes Als Dauer-Seller gilt die Verbindung „Bo Derek liebt jetzt voll im neuen Trend: Adamski per „Bild“ mit so kostbaren Wor- zwischen Tina Turner, 61, und dem Deut- reife Frau und junger Mann“, verkün- ten wie „Hase ist goldig“ kommentiert. schen Erwin Bach, 44. Die beiden lernten det „Bild“. Die 44-Jährige „zeigt sich oft Doch nichtsdestoweniger ärgern sich Da- sich Mitte der achtziger Jahre kennen, als und gern mit dem jungen Anthony Pinson, men, die einen Jüngeren lieben, heftiger er Marketing-Chef ihrer Plattenfirma war. 34“. Die Sängerin Cher, 54, tat sich wieder über die Misstrauensvoten der Gesellschaft Ihm zuliebe zog die Diva nach Europa. mit einem bereits abgelegten Liebhaber als gleichaltrige Sugardaddys – der Schau- Der US-Star Bette Midler, 54, liebt es zusammen, dem Ex-Kellner Rob Camilet- spieler Michael Douglas, 56, scherte sich auch jung, teutonisch und haltbar: Sie führt ti, 34 – und ließ sich mit dem Seufzer zi- kein bisschen um zweideutige Bemerkun- seit 16 Jahren mit dem fünf Jahre jüngeren tieren: „Ich hatte seit sechs Jahren keinen gen angesichts seiner Eheschließung mit Fotografen Martin von Haselberg, 49, eine Sex mehr.“ der 31-jährigen Catherine Zeta-Jones. Ehe ohne Skandale. FACE TO FACE TO FACE ACTION PRESS ACTION SABA / ACTION PRESS / ACTION SABA Cher, Rob Camiletti Tim Robbins, Susan Sarandon Siegfried Gerlich, Hannelore Hoger

Auch wenn diese Paare in den Verkün- Hannelore Hoger indes sagt, sie sei in Oscar-Preisträgerin Susan Sarandon, 54, digungsinterviews ein viel größeres Selbst- der Tat auf Ressentiments vorbereitet, ist seit 12 Jahren mit dem 12 Jahre jün- bewusstsein markieren als die Probandin „weil Frauen ja nicht dürfen, was Männer geren Film-Star Tim Robbins liiert, das Piaf (Hannelore Hoger etwa sagt, der Al- im gesetzten Alter geradezu als Pflicht Paar hat zwei Kinder: Ziemlich wütend pa- tersunterschied sei für sie kaum ein Pro- empfinden. Nämlich in der Drittehe eine riert Sarandon Fragen über ihre Liebe zu blem), ist das Misstrauen gegenüber diesen möglichst junge Frau zu heiraten“. dem jüngeren Mann: „Wie kann es bloß Beziehungen groß. Doch dass es sich bei den Beziehungen angehen, dass es für viele Männer fast ein Die „Bunte“ führt ein scheinbar be- zu jüngeren Männern nicht immer nur Tabu ist, mit einer erwachsenen Frau zu sorgtes Interview mit Cleo Kretschmer, 49, um Schmuck- und Stückwerk handelt, schlafen, die Krähenfüße um die Augen die mit einem 22 Jahre jüngeren Dressman dafür liefern selbst die als flatterhaft ver- hat, während sie kaum Gewissensbisse liiert ist: „Ein so attraktiver Mann zieht schrienen Showbusiness-Wesen reichlich plagen, wenn sie mit einer 14-Jährigen ins Mädchen an wie das Licht die Motten“, Belege: Popstar Madonna, 42, hat ein Kind Bett gehen.“ mahnt das Blatt und warnt die Schauspie- mit dem zehn Jahre jüngeren Regisseur Dass Frauen auf das Gerontofach des lerin davor, ausgenutzt zu werden: Die Be- Guy Ritchie, sie behauptet unentwegt, dass notorisch älteren Mannes festgelegt sind, ziehung werde womöglich nur gut gehen, er der Mann sei, auf den sie ein Leben daran sind sie allerdings nicht ganz un- „bis er erfolgreich ist und sie verlässt“. lang gewartet habe, dass sie ihn womög- schuldig. Verhaltensforscher haben her- „Kann das gut gehen?“, fragt die gleiche lich heirate. Das muss nicht stimmen, für ausgefunden, dass weibliche Wesen bei ih- Zeitschrift mit Blick auf die Schauspielerin einen Funken Substanz in Madonnas rer Partnerwahl auffällig oft nach Ansehen Karin Baal, 60: „Sie heiratete einen Kur- Schwärmerei spricht aber, dass sie bei Rit- und Reichtum Ausschau halten – und wann den. Er ist 30 Jahre jünger.“ chies Vorgänger, dem ebenfalls jüngeren hat der Mann Macht und Mäuse? So leid es Die Promi-Frauen, so lautet der mal Carlos Leon, immer zugegeben hat, dass ihm selbst oft tut: erst, wenn er älter ist. implizit, mal explizit geäußerte Vorwurf, sie ihn nur für eine Übergangsphase vor- Die Fixierung auf die grauen Wohl- imitierten lediglich das unselige Macho- gesehen habe. standsschläfen ist historisch antrainiert: Im Muster ihrer männlichen Kollegen: Sie Ebenfalls Eltern und Verkünder großer Mittelalter etwa herrschte strammes Stän- schmückten sich im gesetzten Alter mit Zukunftshoffnungen sind die Moderatorin de- und Zunftwesen. Junge Gesellen muss- etwas Hübschem – und die Hübschen sä- Birgit Schrowange, 42, und ihr RTL-Kolle- ten ihren Meister um Erlaubnis fragen, hen eine prima Gelegenheit, ihre eigene ge Markus Lanz, 31. wenn sie heiraten wollten: Die Erlaubnis Karriere zu fördern. „Der englische Patient“-Darsteller erhielten sie in der Regel nur, wenn sie Tatsächlich könnten Klatschspaltenleser Ralph Fiennes, 37, scheint es auch ernst zu nachwiesen, dass sie für die Frau auch sor- an der Seriosität dieser Beziehungen schon meinen: Er ließ sich wegen der älteren Kol- gen konnten. Bis es so weit war, hatten sie

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niederen Dienstgrad an. Der Gastgeber ar- beitete ausgerechnet auch bei der Marine, war ein ziemlich hoher Offizier. Susannes Freund fühlte sich unterlegen und bockte den ganzen Abend – der Horror für seine Freundin. Auf dem Nachhauseweg gab es Krach, beide schämten sich: sie sich für ihn und er sich für sich. Bei einem umgekehrten Geschlechter- verhältnis (älterer Mann stellt seine jun- ge Frau vor) wäre der Streit wahrscheinlich ausgeblieben. Dass eine jüngere Frau schüchtern ist, wenn sie einer älteren Vor- gesetzten begegnet, wird nicht selten sogar erwartet, einem Kerl verlangt man mehr Mumm ab. Susanne und ihr Freund gaben nicht auf. Sie ist zu seinen Freunden mitgekommen, er zu ihren. Beide verhalten sich heute bei diesen Anlässen, wie sie nun einmal sind – reine Trainingssache. Der Lauf der Zeit spielte in diesem Fall eher für das Paar: Der Mann ist inzwischen Polizist und glücklich in seinem Job, zumindest inner- halb der Beziehung gibt es kein Statusge-

M. WITT fälle mehr. Paar Dencker, Schmidt: „Jüngere Männer vermeiden Mami-Mechanismen“ Gut für sie, denn einem konsequenten Tausch traditioneller Rollenmuster (ältere bereits etliche Arbeitsjahre auf dem fest, dass Frauen häufig keine feste Bezie- Frau liebt Mann, der im Job dauerhaft un- Buckel. Die Erwählte dagegen sollte bei hung, sondern lediglich eine Affäre mit terlegen ist) halten viele Paare nicht stand ihrer Trauung tunlichst jung sein, um dem jüngeren Mann wollen*. Wenn aus – Emanzipation hin oder her, noch sitzen möglichst viele Kinder zu bekommen. Kin- dem vagen Techtelmechtel dann doch Lie- die Muster tief. der sicherten das Erbe und die Pflege der be wird, sind sie es, die arge Probleme ha- Die 29-jährige Verlagsangestellte Jessica Alten. Je länger die Phase der Fruchtbar- ben, den properen Kerl den Freunden vor- hatte unlängst eine Affäre mit einem 19- keit, so hoffte man, desto zahlreicher die zustellen: Sie finden ihn nicht repräsenta- Jährigen. Sie fing diese Amour aus Grün- Brut. Wirtschaftliche Erwägungen erlaub- tiv genug. den an, die älteren Männern wohlbekannt ten auch mal das umgekehrte Altersgefäl- Die Stewardess Susanne, heute 40, erin- sind: „Ich fand ihn wunderschön, und er le: Die Meisterswitwe nahm den frischen nert sich noch, wie sie vor fünf Jahren das hat mich in seiner Jugend irgendwie Gesellen, damit der Betrieb erhalten blieb. erste Mal ihren damals 24-jährigen Freund gerührt, er war noch so begeisterungsfä- Dem Ideal entsprachen diese Verbindun- zu einem Essen im größeren Kreis mit- hig. Ich habe in ihm mein eigenes, jünge- gen aber nicht. nahm – da war das Paar ein halbes Jahr zu- res Ich gesehen.“ An diesen Mustern änderte sich nicht sammen. Ihr Freund war bei der Marine, Als der junge Mann merkte, dass die Ge- viel, als das Bürgertum im 18. und 19. Jahr- gehörte einem (dem Alter entsprechenden) liebte mehr an den Insignien seiner Jugend hundert die Liebe als Voraussetzung der interessiert war als an seiner Person, dass Ehe erfand und empfahl. Gemeint war im- sie vieles, was er sagte, eher niedlich als er- mer noch die Liebe des reifen Mannes zum heblich fand, hat er, zutiefst verletzt, die lieblichen Fräulein. Affäre beendet. Die Geliebte: „Ich war ein Frauen, die gegen dieses ungeschriebe- weiblicher Macho und er das Objekt mei- ne Gesetz verstießen – die Dichterin ner Begierde, das hat er nicht ertragen.“ Er George Sand etwa, die zehn Jahre lang den kehrte schnurstracks zu seiner drei Jahre sechs Jahre jüngeren Komponisten Fré- jüngeren Freundin zurück und markierte déric Chopin liebte –, galten als Mannwei- vor ihr den ganzen Kerl. ber und Lotterwesen. Die Lästerei war Den traditionell weiblichen Part – finan- groß, ganz nach dem Motto: Erlaubt ist ziell und erfahrungsmäßig unterlegen – nur, was den anderen gefällt. empfinden Männer offenbar als demüti- Es liegt wohl an dieser Mischung aus gend. Paare, bei denen die Frauen älter bravem Anpassungswillen und eiskaltem sind als die Männer, vollziehen also – an- Wohlstandkalkül, dass Frauen in den ver- ders als das Klischee es will – lieber keinen gangenen Jahrhunderten offenbar den Rollentausch. Im Gegenteil: Die Männer Tunnelblick trainiert haben. Jüngere Män- bestehen auffällig oft darauf, sich ganz und ner, die sich durchaus für ältere Frauen in- gar nicht jünger zu fühlen als ihre älteren teressieren, beklagen, dass sie von diesen Partnerinnen. kaum beachtet würden. „Eigentlich müsste ich die Mütterliche in Das wissenschaftliche Interesse an der unserer Beziehung sein und Sigi wie der Partnerschaft zwischen älteren Frauen und Sohn, den ich nie hatte. Aber es ist umge- jüngeren Männern ist auffallend gering. Zu

den wenigen, die sich mit dem Thema be- PRESS ACTION * Ursula Richter: „Wenn Frauen jüngere Männer lieben“. schäftigt haben, zählt die Soziologin Ursu- Paar Douglas, Zeta-Jones Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M.; 236 Seiten; la Richter. In einer Publikation stellt sie Aufs Gerontofach festgelegt 16,90 Mark.

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Werbeseite Gesellschaft kehrt. Ich bin eher seine Kleine. Und der nachlässigen, sind sie anscheinend oftmals mütterlichen Seiten zu appellieren. Sie be- Sigi ist der Paps“, sagt Hannelore Hoger im fürsorglicher als ihre älteren Mitstreiter. klagten sich über Krankheiten, wollten mit „Bunte“-Interview. Und wer sich kümmert, punktet. ihr zusammen Kücheneinrichtungen aus- Der 37-jährige Bauunternehmer Peter Eine 45-jährige Ärztin, die eine Ehe suchen – und lockten mit dem wenig ver- ist seit zehn Jahren mit einer sieben Jah- mit einem 15 Jahre älteren Mann geführt lockenden Argument: „Vielleicht magst du re älteren Frau liiert, inzwischen auch ver- hat und nun einen 38-jährigen Kollegen dich in die neue Küche ja bald selbst rein- heiratet. Sie hat aus erster Ehe drei Kin- liebt: „Es ist ja auch klar, was mich gera- stellen.“ Jüngere Männer hingegen bemüh- der, mit Peter zusammen keinen Nach- de beschäftigte, hatte mein Mann hinter ten sich, so Dencker, die Mami-Mechanis- wuchs. Als sie sich kennen lernten, war er sich. Von meinen Ängsten beim Berufs- men zu vermeiden – vielleicht um bloß ein 24-jähriger Student, sie eine 31-jähri- anfang wollte er nichts wissen. Ich glau- nicht als Sohnersatz, Gigolo (oder was die ge Mutter. Dennoch behauptet er, sich „zu be, er wollte nicht an seine eigenen Gesellschaft sonst an Stereotypen bereit- keinem Zeitpunkt der Beziehung jünger Anfänge erinnert werden. Für meinen hält) dazustehen. gefühlt zu haben als sie“. Allerdings, so jüngeren Freund ist vieles, was ich zu er- Auch Denckers 33-jähriger Freund gibt er zu, mag die Beziehung zu der äl- zählen habe, spannend. Das genieße ich.“ Marc Schmidt sieht Unterschiede zur äl- teren Frau ihn angetrieben haben, teren Männergeneration: „Unsere seine Karriere voranzubringen. Väter haben sich doch nur um die Er baute schnell und erfolgreich ein Karriere gekümmert, darunter haben Unternehmen auf, wurde der Ver- die Ehen sehr gelitten. Viele von uns sorger in der Beziehung. Er ver- haben gesehen, wie hoch der Preis pflichtete sich im Ehevertrag, für die ist, und kümmern uns mehr um un- Ausbildung ihrer Kinder aufzu- ser sonstiges Leben“, sagt der 33- kommen. Kein Zweifel also, wer hier jährige Co-Pilot, der aber darauf die traditionelle Rolle übernom- besteht, in seinem Job zufrieden zu men hat. sein. Schon Edith Piafs Théo, künstle- Frauen, die ihre Ansprüche erwei- risch eher minderbegabt, bemühte tern, zu Ungunsten der Älteren sich, die Rolle des Überlegenen ein- wählen, und das nicht aus Unver- zunehmen. Als er bei der Hochzeit nunft, sondern aus schlauem Bezie- männerbündlerisch befragt wurde, hungskalkül, die dann noch frech die

warum er um Gottes Willen eine so S. BRAUER Jüngeren zu Reiferen erklären – bei alte Frau eheliche, sagte er altklug: Paar Schrowange, Lanz: Verkünder großer Hoffnungen solcherlei Affronts ist es kein Wunder, „Edith hat einen Charakter wie ein dass sich die älteren Männer in den Kind.“ Die Antwort hatte ihm die Piaf Spott und in die väterliche Mahnung selbst eingeflüstert. retten. Auch in der Literatur sind solcher- Kein Trost für sie: Frauen leben im lei Umkehrungen dokumentiert. Tho- Schnitt länger, der ältere Partner stirbt mas Mann etwa malt sich in seinem bisweilen allzu früh, der jüngere Josephs-Roman das Verhältnis des Jo- bleibt länger dabei. seph zur deutlich älteren Frau seines Doch bei aller Liebe: Die offiziellen Herrn aus: Mut-em-enet, die Frau Po- Zahlen über Eheschließungen von tiphars, stellt Joseph rasend vor Lie- Frauen mit jüngeren Männern sind be und ziemlich töricht nach. Joseph nicht überwältigend. Bei nur einem redet beschwichtigend auf sie ein: Fünftel aller 1999 geschlossenen Ehen „Liebes Kind“, nennt er sie. war der Mann jünger. Wenn die Frau schon älter ist, muss Auch der weltweise Zeitgeist er- der Mann wenigstens dem gefühl- weist sich als störrisch. Der amerika-

ten Alter nach gleichziehen – sonst PRESS ACTION nische Psychologie-Professor David wäre die Irritation für alle Beteilig- Paar Adamski, van Bergen: „Hasi ist goldig“ Buss hat sich in 37 Kulturen ver- ten zu groß. schiedener Kontinente nach Partner- Frauen scheinen sich nicht, wie umge- Die 40-jährige Hebamme Birgit Den- wünschen erkundigt. Die sexuellen Strate- kehrt Männer sehr oft, durch die Bindung cker meint mit Blick auf die Generation gien seien überall gleich, stellte Buss fest. an einen Jüngeren selbst verjüngen zu wol- der 20 Jahre älteren Männer: „Die sind im Auf der ganzen Welt herrscht immer noch len. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Krieg geboren, wurden überwiegend allein die alte Vorstellung von der Musterbezie- Sie suchen – paradoxe Logik der Liebe – von Frauen erzogen. Meine Erfahrung ist: hung, nämlich dass Frauen sich drei bis bei dem jüngeren Mann die reifere Bezie- Sie wissen – auch wenn sie sehr klug sind vier Jahre ältere Männer wünschen, Män- hung. – nicht gut über Beziehungen Bescheid. ner mit zunehmendem Alter aber immer Frauen mit jüngeren Männern haben Die Vorbilder fehlten.“ jüngere Frauen. nicht selten eine Bindung zu einem sehr Sie sei überrascht gewesen, als sie fest- Mögen die Damen noch so von Milch- viel älteren Partner hinter sich und äußern stellte, dass jüngere Männer in Bezie- gesichtern schwärmen – zum Ideal wird sich darüber eher genervt. Auffällig oft hungsfragen bewusster und artikulations- der superjunge Bubi an ihrer Seite noch schreiben sie den Daddys Attribute zu fähiger seien als ihre erheblich älteren lange nicht. wie: „war zu sehr mit sich beschäftigt“, Geschlechtsgenossen. Die Jüngeren sind Die Chancen aber, mal einen auszutes- „hört nicht zu“ . Das Verhältnis zum Jün- mit den unendlichen Psycho-Diskussio- ten, die werden immer besser: Im Gegen- geren schildern sie beinahe stereotyp mit nen der siebziger und achtziger Jahre auf- satz zu den Nachkriegsjahren gibt es heu- Sätzen wie: „Ich fühle mich besser wahr- gewachsen – irgendetwas musste da ja te einen Männerüberschuss in der jüngeren genommen.“ hängen bleiben. Bevölkerung. Auch wenn jüngere Männer – um Rol- Dencker hat noch andere irritierende Die Möglichkeit zur Damenwahl besteht lenkonflikte zu vermeiden – selten ihre Erfahrungen gemacht: Ältere und gleich- also – fragt sich bloß: Ist sie Lust oder Karriere zu Gunsten der älteren Frau ver- altrige Männer schienen dauernd an ihre Qual? Susanne Beyer

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Künast, selbst Berlinerin. Beim Aufeinandertreffen ver- schiedener Kulturen müssten von allen die „Grundregeln des Zusammenlebens“ einge- halten werden. Was gefährdet den gesell- schaftlichen Frieden in „sozi- al belasteten“ Bezirken, wie

FOTOS: A. PEIN FOTOS: es im Amtsdeutsch heißt,

HAUPTSTADT

„Schmerzgrenze erreicht“ Weddinger Leopoldplatz, Bettler Herrschaft über die Straße Das Arbeiterviertel Wedding, lange ein vitaler Multikulti-Kiez, wirklich – eine hohe Ausländerquote oder droht zu kippen. Eine Initiative von Anwohnern, die Armut? Polizei und Bezirk begegnet der Verslummung mit Law and Order. Der Wedding zeigt, dass zumindest die Mischung brisant werden kann: Neben ei- uerst beobachtete die Biotechnolo- te im Wedding nach vier Jahren Pause er- nem Ausländeranteil von über 30 Prozent – gin Anja Kühl den Fahrer eines neut den Sprung ins Bezirksparlament. im übrigen Berlin sind es durchschnittlich 13 ZKleinlasters, wie er mitten auf ihrer Aus Furcht vor künftigen Stimmenver- Prozent – und einer Vielzahl verschiedener Anwohnerstraße ein halbes Wohnzimmer lusten wollen inzwischen sogar die Grü- Ethnien verfügt das Viertel über die extrem entsorgte: Sofa, Schrank, Eichentisch. nen ihren Begriff von einer „funktions- hohe Arbeitslosenquote von rund 20 Pro- Bald mochte die junge Mutter ihren 18 fähigen multikulturellen Gesellschaft“, wie zent und eine auffällig große Zahl von So- Monate alten Sohn Lennart nicht mehr auf es noch im 98er Wahlprogramm stand, re- zialhilfeempfängern, fast 17 Prozent. Der den Spielplatz lassen: Sand und Gebüsch vidieren. Das Konzept habe „zu kurz ge- Stadtteil ist in den letzten Jahren deutlich är- waren täglich neu mit Kot verschmutzt, es griffen“, erklärte Grünen-Chefin Renate mer geworden. Viele Bürger, die lange und stank nach Urin. Zwei Dutzend Freiluftze- gern hier lebten und nun regelmäßig zu den cher, die von morgens sieben bis spät Wedding Berlin gesamt Kiezgruppen-Treffen erscheinen, fühlen sich nachts ganz in der Nähe ihre Stütze ver- inzwischen nicht mehr sicher. tranken, benutzten den Kindertreff für ihre Ausländeranteil 31,1 % 13,0 % Juni Jenneke Johnsen, 43, sechsfache Mutter Notdurft. Schließlich fuhr einer die Frau 2000 und gelernte Familienpflegerin, hat täglich Oktober an: „Hau ab, du Fotze.“ Arbeitslosenquote 20,4 % 15,2 % 2000 Angst um ihre halbwüchsigen Kinder. Da- „Da war die Schmerzgrenze erreicht“, Anteil der Sozial- Ende niel, 18, wie seine Geschwister in der Ju- sagt Anja Kühl, 30. hilfeempfänger 16,9 % 8,3 % 1999 gendarbeit der Nazareth-Kirche engagiert, Sie gründete im Sommer mit weiteren wird auf dem Heimweg immer wieder von ohne Berufs- 1998 Anwohnern die so genannte „Kiezgrup- abschluss 30,9 % 20,8 % Gleichaltrigen bedroht. „Ich prügel mich pe“, um die Verslummung in dem traditio- monatl. Haushalts- jetzt mit denen“, verkündete der Junge 2350 2800 1999 nellen Arbeiterviertel zu stoppen. In ei- nettoeinkommen Mark Mark unlängst verzweifelt, „ich kann doch nicht nem Bündnis mit der Bezirksverwaltung immer Umwege gehen.“ Sohn Jan-Philipp, und der Polizei organisieren die Bürger 13, erhält Schutz durch einen in der Clique ihre Gegenwehr. Die neue Allianz begeg- ehemaliger angesehenen Jungen und glaubt: „Solan- net dem Niedergang des einst so vitalen Mauer- ge ich mit dem befreundet bin, passiert Multikulti-Kiezes inzwischen erfolgreich verlauf mir nix.“ mit einer Mischung aus Law-and-order- Wedding Prenzlauer Der Maschinenbautechniker Dietmar La- Berg Strategie und Bürgerpower. „Wir haben Tier- win, 44, dokumentiert die Vermüllung und die Toleranzschwelle neu definiert“, erklärt garten Mitte Verwahrlosung seines Hauses in der Ut- Jörg Wuttig, 40, Leiter der Polizeiwache. rechter Straße inzwischen fotografisch. Über die Ursachen des Abstiegs streiten Die immer wiederkehrenden Mo- derzeit Bürger und Politiker. Schon sehen BERLIN tive: „Monatsbinden, angefutterte sich die Republikaner mit ihrem straffen Döner, Kackhaufen im Flur“. Ordnungs- und Anti-Ausländerprogramm Eine Anwohnerin, die morgens bestätigt: Die rechtsnationale Partei schaff- um halb zwei in ihrem Treppenhaus

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Werbeseite Arbeit haben und von Sozialhilfe leben. Die Polizei zeigt nun ständig Präsenz und macht konsequent vom Berliner Straßen- gesetz Gebrauch, das öffentliches Trinken außerhalb von Schankwirtschaften verbie- tet. Wiederholte Verstöße gegen die Wed- dinger Prohibition, eigentlich eine Ord- nungswidrigkeit mit zehn Mark Verwar- nungsgeld, können schnell teuer werden. Um die 35-mal haben Beamte inzwi- schen Anzeige erstattet, 28 Platzverweise ausgesprochen, und das zuständige Tief- bauamt schrieb zwei Dutzend Bußgeldbe- scheide – in Höhe von bis zu 239 Mark in- klusive Bearbeitungsgebühr. „Wer die Grenzen überschreitet, spürt sofort Kon-

FOTOS: A. PEIN sequenzen“, erklärt Bernd Wickmann, 48, Weddinger Sexshop: „Wir haben die Toleranzgrenze neu definiert“ vom Tiefbauamt. Der Wunsch nach härterem Durchgrei- zwei Drogenabhängige traf, die Heroin bleibt die Kundschaft aus. Viele der neuen fen der Polizei kommt ebenfalls von den über einer Alufolie erhitzten und inhalier- Anwohner kaufen lieber bei Aldi ein, ge- Bürgern. Unterstützend wirkt ein „Sicher- ten, kündigt an: „Wenn das so bleibt, bin ich treu dem alten Zecher-Motto: „Sieben Do- heitsbeirat“. In dem Bezirksgremium sind hier bald weg.“ Bei ihrem Einzug vor vier sen Billig-Pils ersetzen eine Mahlzeit.“ Polizei, Vertreter der Stadt und aller ge- Jahren, sagt die 48-Jährige, sei das Viertel Die Bürger wollen ihren Alltag jedoch sellschaftlichen Gruppen versammelt. noch bunt, lebendig und begehrt gewesen. nicht länger von einer Minderheit domi- Die konsequente Wehrhaftigkeit zeigt Die soziale Balance in dem alten Arbei- nieren lassen. Mit der Kiezgruppe – ein Wirkung. Die Trinkerclique von bis zu 30 terkiez war immer schon fragil. Nach dem eher loser Zusammenschluss von Bürgern Leuten, die sich „die Familie“ nennt und Mauerfall erlebte der Wedding, endlich aus wie Kühl, Johnsen oder Lawin – versuchen sich an schönen Tagen mit Ghettoblaster, seiner Randlage befreit, einen kurzzeiti- sie nun, die Herrschaft über die Straße Grill und Sessel stets am selben Platz ver- gen Aufschwung. Doch je attraktiver sich zurückzugewinnen. Dazu treffen sich die sammelte, hat sich vorerst zurückgezogen. der angrenzende Osten zeigte, desto mehr Der Sperrmüll, der zuletzt wurde das Viertel zwischen Reinickendorf so selbstverständlich zum und Tiergarten zum Verlierer der Einheit. Straßenbild gehörte wie die Studenten und Kreative zogen vielfach defekte Laterne, ist vom Bür- weiter nach Mitte, Prenzlauer Berg und Pan- gersteig geräumt. Die Berli- kow, junge Familien bauten ihr Häuschen im ner Stadtreinigung bemüht Grünen. Rund vier Fünftel der ursprüngli- sich jetzt, die Vermüllung auf chen Bevölkerung wechselten zwischen Straßen, in Hausfluren und 1994 und 1998 den Stadtteil, von 160000 Hinterhöfen in den Griff zu Menschen zogen rund 70000 fort, 90000 bekommen. Neu-Weddinger kamen hinzu. So wurde der „Ich lass mir meine Ge- Wedding, was er schon vor dem Mauerbau gend nicht kaputtmachen“, war: ein Einstiegs- und Durchgangsbezirk sagt Wickmann, dessen Fa- für Menschen, die Arbeit, günstige Mieten milie in der dritten Genera- und einen Neuanfang suchen. tion im Wedding lebt. Der Wo das Milieu schließlich kippte, zogen Alt-68er mit linksliberaler angestammte Bewohner und Unternehmer Vergangenheit ist Vater ei- weg, die für Stabilität gesorgt und jene fas- Wedding-Aktivistin Kühl*: Gegenwehr organisiert ner 18-jährigen Tochter und zinierende Mischung in den Straßenzügen hat sich in seinem priva- garantiert hatten. Mitunter lassen sich zwar Anwohner alle vier Wochen, um die Situa- ten Wohnumfeld inzwischen selbst zum noch die früheren Anstrengungen liebe- tion im Viertel zu erörtern. Ihre Lösungs- „Hauspolizisten“ erklärt. Mit deutlichen voller Stadtteilarbeit besichtigen: Spiel- vorschläge werden mit den Behörden Worten und Anzeigen geht er rigoros ge- straßen, Bäume, Parkbänke und einladend abgestimmt und schließlich gemeinsam um- gen Junkies, illegale Prostituierte und Dea- gestaltete Plätze, ein Kinderladen und vie- gesetzt – etwa eine schnelle Müll- ler vor: „Ich habe kein Problem damit, ei- le kleine Geschäfte – doch den schleichen- entsorgung, die Neugestaltung von Plätzen nem Jugendlichen, der in der U-Bahn an den Niedergang überdeckt all dies nicht. oder die Organisation eines Straßenfestes. die Scheibe spuckt, zu sagen: ,Wenn du das Der Spielplatz ist gesperrt, weil er mit Noch sei die Initiative „eine zarte Pflan- noch mal machst, fliegst du raus.‘“ Glassplittern der Fuselflaschen der Zecher ze“, erklärt Polizist Wuttig. Doch nur die Bis ein Quartier wieder sein Gleichge- kontaminiert ist, Dealer treffen ihre Kun- Anwohner und effektive Sozialarbeit könn- wicht findet, braucht es jedoch mehr als die den auf offener Straße. Viele Läden stehen ten auf Dauer etwas bewegen: „Wir verla- Initiative einer Hand voll Gutwilliger und leer – Nachmieter dringend gesucht. gern den Brennpunkt doch nur ein paar den Kontrolldruck durch das Gesetz, weiß Der Inhaber der gemütlichen „Trattoria hundert Meter weiter.“ der gelernte Sozialwirt Bernhard Neitzsch, Romantica“ am Eck von Malplaquet- und Tatsächlich wandern die – überwiegend 44. Seit vier Jahren engagiert er sich in der Utrechter Straße wechselte kürzlich in eine deutschen – Freilufttrinker nach einer Po- Oberen Koloniestraße, ebenfalls ein pro- bessere Gegend. Geblieben ist dagegen die lizeikontrolle mitunter nur zum nächsten blematischer Kiez im Wedding. Spelunke „Da Bianca“, die den Gästen Spielplatz. Die meisten sind keineswegs Eine Straße, erklärt Neitzsch, sei wie ein „Spaghetti Mafioso“ für zehn Mark ser- Obdachlose, sondern Nachbarn, die keine „Patient“, um den man sich laufend küm- viert. Der einzige Bioladen am Eck, „Va mern müsse: „Schnell erleidet er einen bene“, will schließen – seit einiger Zeit * Mit Sohn Lennart. Rückfall.“ Susanne Koelbl

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LEICHTATHLETIK Gehetzt, aber nie schnell genug Nils Schumann, als Sieger im 800-Meter-Lauf der strahlende deutsche Olympiaheld von Sydney, setzt sich bei der Sponsorensuche stark unter Druck. Im Bemühen, es allen potenziellen Geldgebern recht zu machen, verliert der kürzlich noch so hoch gepriesene Thüringer die Übersicht.

ittags vor dem Aufbruch zum lich stimmt“ zwischen Vermarkter und an- Sektor vom Stuttgarter Vermarktungspro- zweitägigen Fotoshooting auf gehendem Werbestar. Man müsse auch mal fi Klaus Kärcher betreut. MMallorca hat ihm Anfang vorver- Geduld haben mit seinen Agenten, ihnen Was menschlich stimmt, muss nicht im- gangener Woche die Sekretärin seines „Zeit geben, ein Konzept auszuarbeiten“, mer geschäftlich passen. Im Fall des Olym- Werbemanagers noch schnell ein Kotelett damit sie anschließend „einen ordentlichen piasiegers Nils Schumann schwanken die auf den Tisch gestellt und auf besonderen Vertrag an Land schleifen“ könnten. Dinge zurzeit, als sei seine Meinung ver- Wunsch eine Extraportion Senf nachge- Drei Tage später, nach der Rückkehr lässlich wie ein Aktienkurs. Schumann ge- reicht. Dann hat ihn der Manager von Er- vom Fototermin auf Mallorca, war die Ge- wann in Sydney die Goldmedaille über 800 furt zum Frankfurter Flughafen gefahren, duld des Athleten schlagartig aufgebraucht. Meter. Er war der strahlendste Olympia- und der umsorgte Klient war zufrieden. Unangemeldet erschien Schumann, 22, sieger der deutschen Mannschaft. Er war Wichtig fand es da der Olympiasieger nach dem Training zu „einem der schwie- die einzige deutsche Sensation. Die Stra- Nils Schumann, der die paar hundert Me- rigsten Gespräche“ seiner Laufbahn an der tegen vom Marketingfach sagten, er werde ter von seiner Wohnung im Erfurter Dich- Böcklinstraße. ein Selbstgänger. Das war vor zwei Mona- terviertel zu Fuß zur Agentur in der Böck- Der schnelle Mittelstreckenläufer kün- ten, und jetzt weiß Nils Schumann nicht linstraße gekommen war, dass „es mensch- digte am Donnerstag vorvergangener Wo- mehr, wo er hinlaufen soll. Sicher ist nur, che Peter Rüberg, dem Geschäftsführer der dass er nie schnell genug unterwegs ist. Rübe Marketing GmbH, und seinem Kum- Dem kessen Thüringer mit den stets ak- pel „Hirschi“, dem Agentur-Mitarbeiter tuellen Lederkettchen und dem fast flä- Jens Hirsch, die Zusammenarbeit auf. Ab sofort, eröffnete er den entgeisterten Part- * Unten: am Kyffhäuser-Denkmal nahe seiner Heimat- nern, werde er auf dem kaufmännischen stadt Bad Frankenhausen.

Olympiasieger, Thüringer Held Schumann*: „Symbolfigur einer Generation“ SVEN SIMON (kl.);SVEN 4 (gr.) S. FROMM / CAMERA chendeckend tätowierten linken Oberarm früher, als Opa Kurt seine Rundenzeiten im war wegen seiner Unverkrampftheit von Gesamtdeutsche Helden Frankenhausener Stadtpark stoppte. Aber Marketingexperten eine Zukunft als „Sym- geht das jetzt noch, da sich die Öffentlich- bolfigur einer Generation“ in Aussicht ge- keit ein Bild von ihm eingeprägt hat? stellt worden. Sie sahen in ihm den Mensch Eigentlich möchte er ohne Selbstbe- gewordenen Zeitgeist, Journalisten be- schränkung drauflosreden wie unter Freun- klatschten die „neue Lichtgestalt der den. Doch darf er jetzt noch dauernd Leichtathletik“ („Welt am Sonntag“) oder „Mann, eeej“ sagen, wie er noch vor zwei den „deutschen Märchenhelden“ („Süd- Jahren etwas zu halbstark fast jeden drit- deutsche Zeitung“). ten Satz begann – damals, als er sich rem- Doch je verbissener sich der designierte pelnd in Budapest zum Europameistertitel Werbekönig müht, er selbst zu blei- nach vorn gearbeitet hatte? ben, um die eigene Lockerheit Mit Bedacht beklagt sich der „Schumi zu vermarkten, desto schwie- Franziska der Tartanbahn“ („Kicker Sportmagazin“) riger wird es, locker zu blei- van Almsick auch nicht mehr, vor lauter Laufen komme ben. Er hat Angst, etwas Wurde bei den Spielen in „der Kopf zu kurz“, also die Bildung. Jam- falsch zu machen in der un- Barcelona zum Star; in- mern, hat er erfahren, schade dem Anse- bekannten Welt der Talk- klusive Werbung soll sie hen. Also findet er jetzt „das Leben als shows und Galaauftritte, seither rund 20 Millionen Sportler ziemlich facettenreich“, man ler- und verkrampft. Und weil er Mark verdient ne da mehr als genug. Einen Privatlehrer es außer dem eigenen Image haben. für Englisch hat er außerdem engagiert. auch noch allen anderen recht Als er Olympiasieger wurde, stand in machen will, wirkt er nicht mal der Zeitung, er sei ein „bekennender Bier- mehr frech, sondern angepasst. trinker“. Heute sagt er, das mit dem Bier- Ist ihm das vorzuwerfen? Hat er mit dem trinken, das müsse er „gleich relativieren“. Anspruchsdenken etwa angefangen? Kaum Einmal die Woche vielleicht ein, zwei Gläs- war die Hymne zu seinen Ehren im „Stadi- chen – mehr sei nie gemeint gewesen, als um Australia“ verklungen, entdeckte „Bild“ er von seiner Leidenschaft redete. Okay, bei „Gold-Schumi“ die „gleiche mentale geschadet haben ihm die Zeitungsartikel Stärke“ wie bei Boris Becker. So dauerte es nicht: Der Deutsche Brauerbund schickte nicht lange, bis sich Schumann selbst vor- ein Glückwunsch-Fax nach Sydney, und nahm, dereinst zur „Legende des Laufens“ seither kann sich Schumann auch einen aufzusteigen. Und als die angekündigten Sponsor aus der Branche („für Alko- Werbegelder in siebenstelliger Dimen- holfreies vielleicht“) gut vorstellen. sion nicht gleich anrollen wollten, Nur, aus Imagegründen sei Vorsicht ge- war der fürs Sammelalbum Heike boten: Fotos, die ihn mit Pilsglas zeigen, gesamtdeutscher Sporthelden Drechsler möchte Schumann tunlichst vermeiden. nominierte Twen „ein biss- Bei der nächsten Wettkampfniederlage, Gewann in Sydney zum chen enttäuscht“ und glaub- weiß er, könnten die schnell aus den Ar- zweiten Mal Olympiagold; te, dass „die Leistung als chiven in die Zeitungen rutschen. sie konnte dadurch ihr Olympiasieger doch für So leidet die „jugendliche Unbeküm- Antrittsgeld bei Werbe- sich“ spreche. mertheit“, die er sich eigentlich sehr gern auftritten ver- So tappte er in die Falle – attestiert, beim aufgezwungenen Rollen- doppeln. ein Gefangener der Verheißun- spiel. Aus Marketinggründen glaubt Schu- gen, die die Vermarktungsmenschen mann, bald „auch wieder Leistung brin- durchs Land geblasen hatten. Und an die er gen“ zu müssen – aber bevor er eine irgendwann selbst glaubte. Freund Hirschi schlechte Leistung abliefert, bringt er lieber von der Rübe-Agentur, der ihn vor zwei gar keine. Platz vier oder fünf bei einem Jahren im Urlaub kennen lernte, hat die Meeting wäre ihm jetzt „sehr unange- Kündigung so verstanden: „Herr Schu- nehm“. Die Hallen-Weltmeisterschaften im mann denkt, dass sich bei Werbeverträgen März lässt er daher vorsorglich aus. zu wenig getan hat.“ Wer sich dermaßen von Zwängen um- Soll das etwa heißen, dass der Olympia- stellt sieht, braucht Helfer, die die Dinge sieg aus dem Einser-Abiturienten ei- von Berufs wegen schlichter sehen. „Sein nen überspannten Schnösel ge- Image definiert sich hundertprozentig aus macht hat? Vater Peter, Sport- Frank seiner Persönlichkeit“, meint der neue PR- lehrer am Gymnasium Bad Busemann Manager Kärcher, der vergangene Woche Frankenhausen, meint, die Silber in Atlanta machte zur Geschäftsübergabe nach Erfurt kam. Umstände seien eben so: ihn zum Liebling der Na- Er hält seinen Klienten für „jung, frisch“ „Man muss nach den Ge- tion; er bekam Werbever- sowie für „eckig und kantig“. setzen leben, die in diesem träge etwa von einer Da hat er vermutlich noch die Bilder Staat gelten – es ist nun mal Sparkasse und einer und Töne aus Sydney im Sinn. Längst hat- eine Marktgesellschaft.“ Und Software-Firma. te der neue Held der Nation den Adler auf auf dem Markt, das hat der Soh- seinem Trikot geküsst, da fanden die Fern- nemann mit dem verwegenen Ba- sehreporter das Gezeigte immer noch „un- ckenbart und dem blonden Kurzhaar ge- begreiflich“. ZDF-Kommentator Wolf-Die- lernt, muss man ein Image verkaufen. ter Poschmann war noch beim abendlichen Eigentlich sollte er – gegen „die Migrä- Zusammenschnitt so aufgeregt, dass er Sät-

K + C FOTO; W. EIFRIED / GES; W. K + C FOTO; DPA neanfälle“ – wieder eine Brille tragen wie ze sagte wie den: „Dann spielte er seinen

der spiegel 48/2000 169 Die Freundin finde das „nervig“. Die ero- tischen Bilder, die Starfotografin Gabo für die Zeitschrift „Max“ vom Athletenpaar auf Mallorca schoss, finden dagegen bei- de schön. Allmählich führt das Bemühen, nach allen Seiten offen zu bleiben, zu einem gehörigen Profilverlust. Insofern wird Läu- fer Schumann tatsächlich dem Zeitgeist ähnlich: Auch der hat ja wenig Konturen. Einerseits hat er keine Lust mehr „auf Smalltalk bei Bällen und Empfängen“, und er kokettiert mit seinen Absagen bei „Stern TV“ oder Vereinsjubiläen: „Immer im Mit- telpunkt zu stehen ist sehr anstrengend.“ Andererseits legt er „aus Marketinggrün- den“ Wert auf Medienpräsenz. Er ließ sich mit „Thüringer Qualitäts-

GABO FÜR MAX produkten“ auf dem Erfurter Domplatz Paar Mensah, Schumann beim „Max“-Fotoshooting: „Schwarz-weiße Sportfusion“ fotografieren, trat mit Heidi Klum bei „Wetten, dass…?“ auf, mit Joey Kelly beim größten Triumph aus.“ Bei Moderator Ker- zog, sein Abitur doch lieber daheim in Sportpresseball, mit Franz Beckenbauer ner auf der „MS Deutschland“ sagte Schu- Frankenhausen zu machen. bei der ARD-Sportgala. Er war bei der mann zweimal „Mann, eeej“ und fragte Er ist weder Ossi noch Wessi. Er ist der Verleihung der „Goldenen Henne“ in sich noch am Tatort, „wie die Wirtschaft erste echte gesamtdeutsche Star und des- Berlin und bei Harald Schmidt, und er mich positionieren möchte“. halb frei von Argwohn. Anders als die geht zu „Menschen 2000“ bei RTL. Die Alle Voraussetzungen für die Helden- manchmal schnippische Franzi und die an- Kölner Firma Sport + Markt hat ermittelt, rolle der Werbeindustrie schienen erfüllt. fangs spröde Heike, anders auch als der dass ihn 52 Prozent der Deutschen ken- Der „Mann mit der rätselhaften Tätowie- 1996 in Atlanta voreilig zum Werbemil- nen. Er hält das für „eine Sensation“, rung und der seltsamen Sprachfärbung“, lionär ausgerufene Zehnkampf-Sympathi- glaubt aber, man könne diesen Wert „noch über den der Schweizer Schriftsteller Peter kus Frank Busemann aus Recklinghausen verbessern“. Zeindler an jenem 27. September staunte, gilt der Sportkaiser vom Kyffhäuser vor Nils Schumann wirkt dabei nicht sehr war apart, mutig und zeitgemäß lässig. allem als cool. entspannt, er hat es immer irgendwie eilig. Kam er nicht ähnlich entschlossen daher Cool ist es etwa, eher talentiert als fleißig Seine Erfurter Agentur hatte ihm nur wie Dieter Baumann bei seinem Olympia- zu sein. Weil das gut klang, kamen die Le- Sponsorenangebote im sechsstelligen Be- sieg 1992? Boris Beckers Berater Robert Lü- genden schnell in Umlauf. Etwa die vom reich, Sparte Computerchips und Gesund- benoff empfahl Werbung für Piercing, und trainingsfaulen Triumphator, der sich we- heitsnahrung, besorgen können und erhielt die Liebesbeziehung zu der in Ghana ge- gen grober Versäumnisse im Winter fast dafür den Laufpass. Nun hält aber auch borenen Berliner Hochspringerin Amewu um die Endlaufchance in Sydney gebracht Vermarktungsnachfolger Kärcher Behaup- Mensah machte Schumann zum Bestand- hätte. Coach Dieter Hermann, der ihn seit tungen, wonach es mit der Akquisition teil der „schwarz-weißen Sportfusion“ sechs Jahren betreut, weiß von Trainings- schneller gehen müsse, für „unseriös“. („Handelsblatt“). Ein Turnschuh-Traum- einheiten zu berichten, bei denen sich der Der gehetzte Olympiasieger will jedoch paar, hieß es. Schumanns niederländischer Musterschüler aus Ehrgeiz zu sehr belaste. nichts verpassen. Rund 50000 Mark Start- Sportmanager Jos Hermens, für Startgelder Auch wenn es die Fangemeinde als gage sind künftig pro Meeting zu erwarten, und Ausrüster zuständig, prophezeite Spon- spießig empfindet: Der junge Held hat – eine viertel Million vom nächsten Ausrüs- soreneinnahmen in Millionenhöhe. weil der Trainer meinte, man könne ja „ein tervertrag. Mit einem sechsstelligen Betrag Er hat ja etwas Besonderes. Der Mann Formel-1-Auto auch nicht mit Russen-Ben- wird wohl künftig pro Jahr allein seine aus Frankenhausen ist der erste olympisch zin betanken“ – einen Ernährungsberater, Vereinszugehörigkeit vergütet. Das Zie- erfolgreiche Ossi, der als Zögling des ge- der den Verzicht auf Milchprodukte emp- gelwerk, das seinen bisherigen Club SV samtdeutschen Sports gelten darf. Anders fahl. Schumann erwägt einen Umzug, weil Großengottern sponsert, hat noch einmal als die Badenixe Franziska van Almsick es ihm in der Wohnung „zu laut“ ist. nachgelegt, um mit der LG Nike Berlin oder der immergrüne Weitsprungstar Hei- Wer ihn als Weltverbesserer einspannen konkurrieren zu können. In jedem Fall darf ke Drechsler reifte Schumann nicht im wollte, wurde ebenfalls enttäuscht. In öf- er weiter am Olympiastützpunkt in Erfurt DDR-Fördersystem. fentlichen Diskussionen gemeinsam mit trainieren. Als ihn der Vater auf die Kinder- und der dunkelhäutigen Freundin, die in Köln Alle Überlegungen münden in Image- Jugendsportschule (KJS) nach Erfurt schi- Chemie studiert, gegen Fremdenfeindlich- fragen. Der Sohn Thüringens ist ja schon cken wollte, hielt die Wende dort Ein- keit zu Felde zu ziehen lehnte er ab. ein bisschen stolz auf seinen heimatlichen zug: Die KJS hieß plötz- Status: Trainer Hermanns Nachwuchsriege lich Sportgymnasium, auch Preisträger Schumann*: „Lichtgestalt der Leichtathletik“ habe ihn „als kleines Vorbild auserkoren“. Nichtsportler waren zuge- Dabei sieht er sich andererseits „von der lassen. Persönlichkeitsstruktur noch nicht so Es wurde „dort sogar ge- weit“; für ein Vorbild, sagt er, unterliefen raucht“, erinnert sich Schu- ihm zu viele Fehler. mann, der es daraufhin vor- Welche zum Beispiel? „Strafzettel. Ich bekomme zu viele als Falschparker.“ * Mit Trompeter Ludwig Güttler, den Strafzettel sind schlecht fürs Image. Es Olympiasiegern Robert Bartko und wäre nämlich „eine Riesensache“, sagt Nils Isabell Werth bei der Verleihung der „Goldenen Henne“ am 19. Oktober in Schumann, wenn er demnächst für schicke

Berlin. PRESS KRUG / ACTION Automobile werben könnte. Jörg Kramer 170 Werbeseite

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Franz der Schwatzbude Bundesliga „nur den Spiegel vorhalten“. Doch in Wahrheit lieferte er eine publizistische Steilvorlage. „Kaiser oje“, titelte vorigen Montag der Kölner „Express“ und präzisierte mit Ver- weis auf den „Mannheimer Morgen“ in Mundart: „Berichte über Mallörche von Beckenbauer aufgetaucht“. Die Münchner „Abendzeitung“ raunte auf Seite eins: „Beckenbauer: Uneheliches Baby?“ Nur die „Bild“-Zeitung, in der Ver- dachtsberichterstattung sonst gern vorne- weg, schwieg eisern weiter – und präsen- tierte erst tags darauf, dafür aber exklusiv, Beckenbauers Geständnis. Ja, es gebe ihn, den kleinen Kaiser, enthüllte der Vater und schob nonchalant hinterher: „Ich hätte auch nicht gedacht, dass das Leben für

FOTOS: RAUCHENSTEINER FOTOS: mich noch so eine Überraschung bereitet.“ Beckenbauers Baby- Beichte war eine Flucht nach vorn. Die ersten Mel- dungen hatte sein Manager Robert Schwan noch höchst merkwürdig zurückgewie- sen: „Franz Beckenbauer Ehepaar Beckenbauer, Kurzzeitpartnerin Heidrun B.: Ja zum kleinen Kaiser und die verleumdete Da- me, die so genannte Mut- ern München 1999. Etwas ter, die es gar nicht gibt, AFFÄREN unvermittelt hieß es dann werden das beide demen- ab Zeile 33: „Ganz so un- tieren.“ Vergebens. Denn Johann, das befleckt kann die Emp- da war „die Sache“, wie fängnis, pardon Begeg- „Bild“-Chefredakteur Udo nung, nicht gewesen sein, Röbel erläutert, „nicht Mallörche denn vor wenigen Wochen mehr steuerbar“. erblickte ein kleiner Kaiser Auf die Volte des großen Über Wochen verschwiegen das Licht der Welt.“ Kaisers musste die „Bild“- Lichtgestalt. Kleiner Kaiser. Aus einem Redaktion am Montag indes stundenlang Deutschlands Sportredaktionen, Gerücht war eine Nachricht geworden: warten. Wie aus der Springer-Zentrale ver- dass Franz Beckenbauer Vater Franz Beckenbauer, Vater eines uneheli- lautete, hatte sich Beckenbauer Bedenk- eines unehelichen Kindes ist. Erst chen Kindes. Verthein hatte die delikate zeit erbeten – er habe den Vorgang erst ein Provinzblatt brach den Bann. Geschichte beim Länderspiel der DFB- Gattin Sybille erläutern müssen. Auswahl in Kopenhagen Mitte vorvergan- Die Zurückhaltung des Blatts in der om Schaffen des Redakteurs Ulrich gener Woche aufgeschnappt. schlüpfrigen Angelegenheit erstaunt nur Verthein, 49, hatte die Welt des Seit Monaten schon war der Tratsch von mäßig. Beckenbauer ist als Kolumnist und VSports bisher vornehmlich im einem folgenreichen Seitensprung Becken- Informant die wichtigste Säule der „Bild“- Rhein-Neckar-Raum und dem Odenwald bauers durch die Branche gegangen. In al- Sportberichterstattung. Doch nicht etwa Kenntnis bekommen: dem Verbreitungs- ler Diskretion, versteht sich, hatten selbst Rücksicht auf den heimlichen Sportchef gebiet des „Mannheimer Morgen“. Angestellte des FC Bayern befreundeten habe seine Leute zum Stillhalten bewogen, Am Montag voriger Woche indes brach- Journalisten das Ondit gesteckt. meint Boulevard-Profi Röbel, sondern al- te es Verthein unverhofft zu überregio- Doch sämtliche Blätter hielten zunächst lein der hehre Anspruch. „Wir leben leider nalem Ruhm. Radiostationen, Nachrich- still. Weil Beckenbauer den Klatsch „noch in einer Zeit des Gerüchtejournalismus.“ tenmagazine und Zeitungsredaktionen ned amal ignorierte“, mieden Deutschlands Wie auch die Konkurrenz von „Express“ verlangten nach dem Mann, der dem Großverlage in seltener Einigkeit den jour- und „Abendzeitung“ hatte „Bild“ seit Wo- Sportressort des Regionalblatts vorsteht. nalistischen Erstschlag – sie fürchteten den chen alles Wissenswerte ausrecherchiert in Der RTL-Nachmittagsplauderer Hans juristischen Konter des Kaisers. So blieb es der Schublade liegen. Name der Mutter: Meiser wollte den Kollegen gar zu seiner bei süffisanten Fingerzeigen. Dieter Ha- Heidrun B. Alter: 36. Geburtstag des Kin- Talkshow nach Köln einfliegen lassen. nitzsch etwa, Karikaturist der „Süddeut- des: 17. August. Sein Name: Johann. Bloß: Doch Verthein ging lieber in Deckung. schen Zeitung“, legte Beckenbauer in einer Der Kaiser dementierte alles. „Das Ding“, „Für einen Tag“, resümierte der ehemali- Zeichnung einen Schnuller zur Seite. sagt Röbel, „war nicht zu knacken.“ ge Geschäftsführer des Sportjournalisten- Ein Jammer, wäre die Chose für alle Zeit Jedenfalls nicht mit herkömmlichen Mit- Vereins Baden-Pfalz hernach, „war ich der im Dunkeln geblieben. Doch dann kam der teln. Ulrich Verthein, der Postillon d’Amour meistgefragte Journalist Deutschlands.“ Kolumnist aus Nordbaden. Wie schon im aus Mannheim, wird in ähnlichen Fällen Auslöser der nationalen Aufregung war Fall des verkoksten Daum musste auch im künftig nicht mehr helfen. In den Tagen, da eine Glosse, die Verthein ein paar Tage zu- Fall des fidelen Beckenbauer irgendjemand seinem Verlag wegen des kleinen Beitrags vor gefertigt hatte. Auf einer halben Spal- her, der aus Gerüchten, die durchs Land eine Verleumdungsklage drohte, fasste er te fabulierte er vom Treff einer „blonden wehen, ohne großes Aufheben Fakten einen Entschluss: „Ich will mich wieder Sekretärin“ mit einer „Lichtgestalt“ schafft. Zwar wollte Verthein, wie er ver- dem reinen Sportjournalismus zuwen- während der Weihnachtsfeier des FC Bay- sichert, mit seinem Stück vom fruchtbaren den.“ Oliver Gehrs, Michael Wulzinger

der spiegel 48/2000 179 Titel

HIPHOP DER HORMONE Wohin entwickelt sich das Liebesleben im 21. Jahrhundert? Sexualität und Fortpflanzung rücken immer weiter auseinander. Die sexuelle Revolution hat nicht die große Befreiung, aber etliche Freiheiten gebracht: Der Mensch der Zukunft wählt zwischen vielen Rollen- und Sexspielvarianten.

it großer Gelassenheit bewegt gelassen gewesen: Der wilhelminische schers Gunter Schmidt hält er die beiden sich der Zeitgenosse durch die Mann hätte vermutlich die Kontrolle ver- Bereiche – einerseits den entgrenzten Sex- mit Reizen hoch gesättigte Sphä- loren, die Gattin sich von dem Schock Kosmos mit seiner wahnsinnigen Vielfalt M re des öffentlichen Sex. Auf der kaum erholt. Der moderne Typus des von Körpern und Vorlieben, andererseits Straße begegnet er Gestalten, die sich sexy Flaneurs ist eher gelangweilt, vielleicht das bescheidene eigene Kämmerlein – inszenieren, die Werbung konfrontiert ihn auch dazu animiert, nach anderer Erre- recht sorgfältig getrennt, sonst würde er mit raffiniert präsentierten Körpern, in den gung zu suchen. verrückt werden. Und dann ist da noch der visuellen Medien konsumiert er schamlo- Er ist der Erbe einer sexuellen Revolu- Typus des Lustlosen, eine in der westli- se Bekenntnisse und Schaustücke. tion, die Generationen vor ihm erkämpft chen Industriegesellschaft wachsende Ka- Beim Anblick eines Softpornos im und durchlitten haben. Nach der Zwei-Wel- tegorie: Er reagiert gar nicht, klagt darüber Fernsehen wären seine Vorfahren nicht so ten-Theorie des Hamburger Sexualfor- oder hat klaglos keinen Sex.

180 der spiegel 48/2000 sich dassexuelle Verhalten vermutlich stär- turelle Szenarien eingebettet sichvollzieht. Identität ausundaufihren Sex, derinkul- bensläufe derMenschen, wirkt aufihre sich Ken Plummer. Wandel durchzieht dieLe- derbar“, soderbritischeSoziologieprofessor den. Sexualität erscheint„flüssigundverän- auch alseinesozialeKonstruktion verstan- nicht mehralsbloßnaturgegeben, sondern Im denkommenden Jahrzehnten wird Am Beginndes21. Jahrhunderts wird Sex

Z 2000 / P. WYRZYKOWSKI Maschinen-Sex, Liebespaar, Internet-Sex*: es imGehirn, demübergeordneten Sexual- sagen. mitGewissheitkann niemand obessoistodernicht, Aber zwar immerwiederspekuliert. Epochen zieht,darüberwird von derSteinzeit durch alle ahistorische Konstante, diesich existierte, alseine gleichsam Moden dieSexualität suigeneris seelenlosen Sexmaschine? gewinnler, sinktergar abzur kunft zumhemmungslosenLust- einander. Wird soderMensch inderZu- undFortpflanzunglität immerweiter aus- vom geklonten Menschen –rücken Sexua- weilen nochnichtrealisierbaren) Vision pulation desErbgutes bishinzur(einst- BefruchtungüberdieMani- künstlichen niken dermodernen Biologie–von der delnden Zeitströmungen zuvor: DieTech- ker verändern alsjemalsinallensichwan- Stripperin vor einerWeb-Kamera. schen Künstlers PiotrWyrzykowski; Postkarte um1920; * Von nachrechts: links Computeranimation despolni- Die Neurobiologie geht davon aus,dass Dass hinter allenwechselnden der spiegel

AKG 48/2000 Lebensläufen Wandel inden bestimmt vom veränderbar“, „flüssig und erscheint Sexualität Vielfalt von und Körpern Vorlieben einer Abhandlung überhysterische Krank- Homo sapiensübertragen wurde: 1889 in ein ganzes Jahrhundert, biseraufden logie undZoologieauf.Dann verging fast phänomen. Um 1800tauchte erinder Bio- Hormone. Nichtvon den Geschlechtsor- Signalsubstanzen unddemHipHop der menspiel mitderChemieHunderter von den Nervenzellen, unddasimZusam- keiten imNetzwerk derhundert Milliar- hinzukommt, sindunzähligeMöglich- ren werden. Was aberimLaufe desLebens schon wenn Jungen undMädchengebo- organ, gewisse Programmschaltungen gibt, Schon derBegriff Sexualität ist einZeit- dern schafft“. des Sexes‘ nicht abbildet,son- bedenken gab,„die ‚Wahrheit Philosoph MichelFoucault zu me, die,wiederfranzösische eine riesig angewachsene Sum- ihren Mitteilungen erschließen – lässtfinden, sich allenfallsaus xuellen Höhepunkt. pulsen gestaltet dasHirn dense- macht, sondern ausihren Im- ganen wird derOrgasmus ge- Was allerdings die Leute emp- 181

ACTION PRESS Titel

Potenzpille Viagra, Sex in der Werbung, weibliches Sexhormon* Leuchtend stieg der „Blaue Diamant“ als Männertröster auf DPA A. PASIEKA / SPL / AGENTUR FOCUS / SPL AGENTUR A. PASIEKA

heiten von Frauen, als deren Ursache die stellung, eine Perversion, ein Besitz, ein Spaß“ auf, genossen als „beste Unterhal- weibliche „Sexualität“ angesehen wurde. Drehbuch, eine traumatische Erfahrung, tung“ oder gar als „unvergleichliche Inspiriert von dem Psychopatriarchen eine Therapie, eine Methode der Grenz- Glücksgefühle“, aber leider nicht immer Sigmund Freud, sahen weite Teile der Ge- überschreitung, eine Form von Gewalt, zu haben „wie ein Luxus“ oder noch sel- sellschaft die größten Kulturleistungen – eine Form von Arbeit, eine Art Krieg.“ tener: „wie Schnee am 24. Dezember“. seien es die vornehmen Klänge einer Sym- Dagegen erfuhren die Triebe einen epo- Ernüchterung ist eingetreten. Der Same, phonie oder bedeutende Gemälde – als chalen Niedergang. Das Modell vom einst Inbegriff des geheimnisvollen Vor- Ausdruck sublimierter Sexualität an. Alles Dampfkessel, der sich durch Reize auflädt gangs der Prokreation, kann im Versand- falsch: Das ist jedenfalls heutzutage die und regelmäßig Druck durch das Ventil der handel bestellt werden. Der von Klassikern vorherrschende Linie der professionellen Triebentladung ablassen muss, hat keine wie Shakespeare bis in die Sphäre der Ent- Sexbetrachter. Chance im 21. Jahrhundert. Die zivilisierte rückung hochgepuschte Liebesbund ist ab- Sie glauben lieber an einen vitalen Elan, Mehrheit weiß, dass Gelüste kommen und gestürzt in schale Tristesse: Zum Kultautor der sich vielfältig ausdrücken kann: unter gehen, aufschiebbar und verdrängbar sind. steigt auf, wer, wie der Franzose Michel Umständen in großer Kunst – und unter Dass ein Pärchen unter einem Muss-Diktat Houllebecq, den Sex zur bloßen Ware her- anderen Umständen im Bett. In der post- in die nächste Ackerfurche fällt, mag in länd- abstuft, die man sich am besten bei thailän- modernen Deutung schrumpelt lichen Regionen noch vorkom- dischen Prostituierten holt (siehe Seite 198). die kolossale Kraft, die einst men. Der in die Zukunft weisen- Die transformative Kraft der Sexualität, Freud am Werk sah, zu einer Sind die de Designer-Sex ist dagegen sorg- wie sie der Sexpapst der Apo, der Psycho- „fusseligen Matrix“ zusammen, vornehmen fältig inszeniert – als besonderer analytiker Wilhelm Reich („Die Funktion wie der Sexualforscher Schmidt Thrill für den übersättigten Groß- des Orgasmus“), einst herbeisehnte, ist aus- sagt. Klänge einer stadtmenschen, vielleicht auch geblieben. Herausgekommen ist nicht die Der Soziologieprofessor Plum- Symphonie der mal in der Ackerfurche, aber große Befreiung, sondern eine kleine Frei- mer von der University of Essex überwiegend in komfortabler heit, die der postmoderne Mensch ins neue beschreibt die für die westliche Ausdruck Umgebung, die sich den Errun- Jahrtausend mitnimmt. Kultur typischen vielfältigen Ka- sublimierter genschaften der hoch industriel- Und dann kam auch noch die Chemie zu tegorien, die heutzutage an die- Sexualität? len Gesellschaft verdankt. Hilfe und brachte die Kehrseite des mo- ser Matrix haften: „Sex ist, unter Als die Soziologen Arne Dek- dernen Leistungssex ans Licht. Leuchtend anderem, eine Leistung, ein Akt, ker und Silja Matthiesen für ihre stieg der „blaue Diamant“, die Viagra-Pil- eine Aggression, eine Langweiligkeit, eine Diplomarbeit die sexuellen Konzepte von le, als Männertröster auf und brachte die Körperlichkeit, eine Jagd, eine Ware, eine Studenten analysierten, fanden sie trieb- Impotenz aus kultureller Verdrängung in Form von Beschmutzung, ein Ausdruck orientierte Vorstellungen („Abreaktion den öffentlichen Diskurs: Acht Millionen von Liebe, ein Gefühl, ein Spiel, eine Ge- körperlicher Gelüste“) auf der absteigen- deutsche Männer sollen darunter leiden. schlechtlichkeit, ein Hormon, eine Iden- den Linie. Auch die Verknüpfungen von Mit dem chemischen Verstärker begann tität, eine Verfolgung, ein Hobby, ein me- Eros mit Rausch und Ekstase haben sich die Zukunft der Designerdrogen für den dizinisches Problem, ein Mikrobild, eine verflüchtigt. Das bürgerliche Drama von verbesserten Sex von Mann und Frau. Pathologie, ein Schauspiel, eine Selbstdar- Verheißung und Verderbnis steht nicht Mit unzähligen Stimmen und Auftritten mehr auf dem Spielplan. Dagegen stieg als hat sich der Sex in den Medien hören und * Östradiol-Kristalle unter dem Mikroskop. Metapher für den Neosex der „große sehen lassen: Davon, wie es das erste Mal

182 der spiegel 48/2000 Werbeseite

Werbeseite Titel D. KRÜLL / LAIF D. KRÜLL Besucher einer Sexmesse (in Köln): Was wählt der heterosexuelle Mensch von heute aus dem Überangebot? war und wie es im Alter sein wird, war die sei denn, dem Single gelingt nach frustrie- ner schlafen überwiegend mit Frauen, die Rede, von sagenhafter Lust und unerträg- render Suche eine feste Beziehung, ohne auch als längerfristige Partnerinnen in Fra- lichem Leid; die ganze Palette der Proble- die beiden Haushalte gleich zusammenzu- ge kämen, und nicht mit von vornherein me wurde durchbuchstabiert. Das Fernse- schmeißen. deklassierten Sexualobjekten wie ihre Vor- hen lieferte die Freakshow, das Kuriositä- In allen Untersuchungen zeigt sich der fahren um die Jahrhundertwende. So wird tenkabinett und Revue der Exoten. Die aufsteigende Wert von Treue. Sie wird aber aus allen Untersuchungen deutlich, dass zwölfjährige Mutter hat gesprochen, die nicht als moralisches Konzept gewählt, son- Überwältigungsstrategien bei der Partner- Hure, die gern Hure ist, und die dro- dern aus pragmatischen und praktischen wahl mega-out sind. Der aggressive Teil gensüchtige Kinderprostituierte, die ihren Überlegungen eingehalten. Der gut infor- der Sexualität ist nicht zuletzt durch die Selbstekel herausschreit. mierte und erfahrene Mensch Emanzipationsdebatte der ver- Und was wählt der heterosexuelle kann sich ausrechnen, dass die gangenen Jahrzehnte abgeklun- Mensch von heute aus diesem kakophoni- anderen auch nicht viel besser Sex ist der gen – jedenfalls beim sexuellen schen Überangebot? Vorzugsweise die se- sind. Auch spielt ein gewachse- große Spaß, Normalbürger. rielle Monogamie, eine Beziehung nach ner Anspruch auf Offenheit, Die feministischen Schauerge- der anderen mit zeitlich mehr oder minder Vertrauen und Loyalität dem aber nicht im- schichten vom Elend unter dem langer Überlappung. Seitensprung entgegen. mer zu haben Rollendiktat des Patriarchats ha- Minderheiten weichen von diesem Sche- Mehr noch und stärker ist un- ben den Jahrhundertprozess der ma ab. Umfragen ist zu entnehmen, dass in ter Jugendlichen die Verbindung – ein Luxus Auflösung starrer Muster sicht- festen Beziehungen, egal ob mit oder ohne von Sex mit Liebe und Treue an- wie Schnee am lich vorangetrieben. Trauschein, 29 Prozent der Frauen und 41 gewachsen. Im Vergleich zu den 24. Dezember Aus den biologischen Wissen- Prozent der Männer zu Affären neigen, jetzt 50- bis 60-Jährigen, die ihre schaften kam Unterstützung: In mit dem Unterschied, dass die Frauen eher ersten Erfahrungen zur Zeit der den Persönlichkeitseigenschaften innigere und längere Beziehungen zu ei- Studentenbewegung Ende der sechziger von Männern und Frauen gibt es sehr viel nem Geliebten bevorzugen, die Männer Jahre machten („Wer zweimal mit dersel- mehr Ähnlichkeiten als Differenzen. In ein sporadisch mit mehreren Bekanntschaften ben pennt, gehört schon zum Establish- und demselben Individuum können sowohl fremdgehen. ment“), sind vor allem die jungen Männer Femininität als auch Maskulinität stark aus- Das alles geschieht zumeist mit großer romantischer geworden und unterscheiden geprägt sein, in einem anderen Individuum Heimlichtuerei und führt zu Dramen, wenn sich kaum noch von den Mädchen. Eine können beide Kategorien nur schwach vor- es herauskommt. Aber die Bereitschaft, zu Liebe nach der anderen zu haben ist für die kommen. Daher setzte sich in der Wissen- verzeihen, ist gewachsen. Offene Bezie- Jugend normal, nur nicht nebeneinander, schaft ein mehrdimensionales Modell durch. hungen ohne sexuelle Besitzansprüche an sondern nacheinander. Mit einer zunehmenden Verwirrung der den Partner (nach Schätzungen maximal 10 Nach wie vor gibt es im sexuellen Ver- Rollen, aber auch mit aufregenden Chan- Prozent) erwiesen sich als brüchig und gin- halten Unterschiede zwischen den Ge- cen, das individuell richtige Muster zu gen vorüber: Meist trennte man sich, schlechtern, aber die Ähnlichkeiten werden finden, geht die Gesellschaft ins 21. Jahr- manchmal bekannte man sich zueinander immer größer und überwiegen. Die Eman- hundert. Mit der sozialen Konstruktion mit sexueller Exklusivität. Auch das aufre- zipation der weiblichen Lust und die Zivi- der Geschlechter und des Geschlechtli- gende Sexleben von „Swinging Singles“ lisierung der männlichen Sexualität sind chen wird sie auch weiterhin beschäftigt erwies sich als Mär: Es soll trostlos sein, es entschieden vorangekommen. Junge Män- sein. Ariane Barth

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Werbeseite Titel

Porno-Website, „Cyber Striptease“ vor einer Web-Kamera „Freu, grins, knuddel – schlag mich, fessel mich, ooooh“ R. OBERHÄUSER / DAS FOTOARCHIV R. OBERHÄUSER / DAS Herstellung eines Pornofilms: Die Forderung „Genießt!“ wurde zum kategorischen Imperativ KOSMISCHER ORGASMUS „Wetlady“, „Kittycat“, „Schokomuschis“ – alles ist auf dem längsten Strich der Welt, der Daten- autobahn, zu haben. Gleichzeitig wird das Internet zum letzten Zufluchtsort für Intimität: Die Liebenden sind einander von ferne nahe. Avantgardisten sehen darin eine Beziehungsform der Zukunft.

m Beginn des 21. Jahrhunderts sind morph-perversen Zukunft, da man im Alles, alles ist auf dem längsten Strich alle Geheimnisse des Liebeslebens er- „Fortpflanzungsrestaurant“ sein Kind à la der Welt, der Datenautobahn, zu haben: Aschöpft. Grell brennt das Schlafzim- carte bestellt, um endlich völlig losgelöst „Wetlady“ für die Wasserratten. „Kittycat“ merlicht, wenn der Mann mit der Peitsche seinem Triebe zu folgen mit jedem belie- für die Schmusetiere. „Schokomuschis: die zum Weibe geht; in allen Nachttischen ruht bigen Partner. süßesten Muschis wo gibt“ – vermutlich die Sex-Hardware, vom Vibrator bis zur Kein Problem dank Viagra und dank der für die Analphabeten. Gameboy trifft Su- Penispumpe. Die ewig Verhemmten üben neuen, verbesserten Aphrodisiaka aus perwoman im Chatroom, und nach dem in Wochenendseminaren Tantrasex und Apomorphinen (die ursprünglich als Brech- Austausch einiger Höflichkeiten – „freu, Partnermassage, bis alle Dämme brechen, mittel Verwendung fanden). grins, knuddel“ – geht es ab ins Séparée, oder am besten, man schlägt gleich die Doch vielleicht macht die fröhliche Klo- wo man, unbehelligt von anderen Schnat- „Bild“-Zeitung auf: Lernen Sie rückwärts nerie den Sekret-Austausch überflüssig, lie- terern, seine Phantasien austauscht: ejakulieren! Kaum ein Tag vergeht, da ber alles auf die Samenbank tragen. Schon „Schlag mich, fessel mich, stöhn, ooooh“. nicht ein neuer Gummi-Mensch sich durch jetzt gibt es No-Sex-Bewegungen: die Hier findet die neue sexuelle Revolution die Privatkanäle windet. „True Love Waits“-Jungfern in den USA, statt, meist nicht ganz umsonst, sondern Lauter glückliche schräge Vögler überall, die wie die Popsängerin Britney Spears mit für 3,63 die Minute im „Amorchat“. Hier geknebelt und gefesselt. Nur die Nörgler dem Sex bis zur Ehe warten wollen, oder wird er Wirklichkeit, Nacht für Nacht, der und Zweifler fragen sich manchmal noch, jene, die sich ganz einfach von der sexuel- „kosmische Orgasmus“, von dem der Sex- ob die öffentlich-rechtliche Erörterung se- len Fron verabschiedet haben. Und vor al- papst Wilhelm Reich einst träumte. Nur xueller Angelegenheiten nicht bloß ein lem gibt es das Internet. Wozu noch im die alte Handarbeit ist immer noch nicht Scherz so genannter freier Geister sei, die Restaurant in Hummerschwänze und Och- abgeschafft, solange der Neopren-Anzug alles enthüllen, um ihre Heuchelei zu ver- senlendchen investieren, wenn man die mit Elektroden, garantiert gefühlsecht, bergen. Maus zu Hause hat? Wozu auf Stöckel- noch auf seine Zulassung wartet und der Aber es soll ja noch schöner, noch viel- schuhen den Männern hinterherrennen, Teledildo eher ein Wackelkontakt ist. fältiger werden, unken die professionellen wenn Nacht für Nacht einer ins Netz geht; Ist aber die „neosexuelle Revolution“, Kassandras wie der britische Biologe Robin und nie wieder muss man ihm ein weiches wie sie der Doyen der Sexualwissenschaft Baker: in jener nicht allzu fernen poly- Ei zum Frühstück bereiten. in Deutschland, Volkmar Sigusch, nennt,

186 der spiegel 48/2000 ACTION PRESS ACTION ACTION PRESS ACTION RTL Telefonsex-Anzeige im Fernsehen: „Tyrannei der Lust“

nicht in der Tat bloß ein Aufstand der Pu- verändern, aber vor allem um der Gesell- „Kommt von Hysterie oder so“, mutmaß- ritaner? Aus dem alten Triebtier jedenfalls schaft der Nachbarin willen, schon ein ten die Surrealisten in ihren Gesprächen ist ein „Geständnistier“ (Michel Foucault) Feuilletonistenmythos. Jedenfalls hatte sie über Sexualität; sei aber „nicht nur wün- geworden, das hinter der Maulhurerei sein wenig zu tun mit jener Schwärmerei eines schenswert, sondern völlig unerlässlich“. gewöhnliches sexuelles Elend zu verbergen russischen Schriftstellers anlässlich der Er- Kaum jemand klagt mehr über die se- hat. Dabei wechseln auch die statistischen eignisse im Oktober 1917: „Ich spüre, dass xuelle Ausbeutung in der Werbung und in Erhebungen allwöchentlich: Mal wird der die gesamte Revolution nach Geschlechts- Magazinen. Frauen geben heutzutage ihre zunehmende Fleiß in deutschen Betten ge- organen riecht.“ Aktfotos ab wie Passbilder in Bewer- lobt, mal der Trend zur Impotenz beklagt. Die sexuelle Revolution, die sich dann in bungsschreiben. Die ewigen Objekte des Nur die Erklärungen gleichen sich im- den siebziger Jahren bei uns abspielte, war Mannes, die nur nach seiner Vorstellung mer wieder: Die Revolution frisst ihre Kin- ein bisschen „verschmockt“ (Sigusch); viel- existieren sollten – mal zu Huren ver- der, jener erste Umsturz von vor 30 Jahren, leicht war das Wichtigste dabei, dass dammt, mal zu Madonnen verklärt –, sind und wir befinden uns in der Zeit des „Ter- einige obsolet gewordene Normen und Ge- heutzutage ausgezogen, Macht und Stärke reur“. Es herrscht die „Tyrannei der Lust“, setze wie die Idee von der glücklichen zu demonstrieren, lauter Sexgöttinnen von wie der französische Journalist Jean- Familie oder der alte Kuppeleiparagraf ver- Gnaden der Natur oder des Chirurgen; ihre Claude Guillebaud in seinem gleichnami- schwanden. Und natürlich, so der Nacktheit tragen sie wie eine gen Buch behauptet: Schuld daran sind Sexualforscher, „setzt sich Se- Rüstung. Oder puschen sich we- jene, die einst forderten „Genießt!“, wor- xualität heute anders zusammen „Unsere nigstens auf in verdächtiger Wä- aus inzwischen ein kategorischer Impera- als zu Zeiten Freuds oder Ade- Gesellschaft sche und bar aller Vernunft beim tiv geworden ist – „Enjoy!“ Noch nie wur- nauers“. ist vielleicht täglichen Hausfrauen-Strip im de so viel über Sex geredet, aber die Lust Verändert hat sich vor allem örtlichen Sex-Sender. Mussten wird unter dem diätetischen Regime ge- die Rolle der Frauen, die nicht die am Männer früher bangen, wie sie normter Körper und Leistungsanforderun- länger mehr nur „das Negativ wenigsten ihr an die Bluse kommen konn- gen guillotiniert. des Mannes“ sind, sondern auf ten, so dürfen sie nun allenfalls „Unsere Gesellschaft“, heißt es bei Guil- ihrer Sexualität beharren und in- erotische, die hoffen, dass sie diese anbehält, lebaud, „ist vielleicht die am wenigsten zwischen sogar selber öfter die es gibt“ wenigstens im Restaurant. erotische, die es gibt.“ So dass als letztes Initiative ergreifen. Oder die Frauen tragen ihr Spaßideal den Schamlosen die Autoerotik Außerdem sind im Zuge der Fleisch gleich auf den Kunst- bleibt: Jahrelang hat man sich mit neuen „Zerstreuung oder Dispersion markt. Und schreiben am Ende Techniken abgemüht, nun hat man lieber der Lust“ Spielarten, die der Bücher, ihre sexuelle Biografie, gleich Sex mit der allerneuesten Technik. Volksmund früher gern pervers die tapferen Tabubrecherinnen, Die Sprache der Liebe, hatte schon der nannte, inzwischen kulturell ak- die Kinsey-Rekordlerinnen, die französische Philologe Roland Barthes ge- zeptiert – auch wenn es sich vor am liebsten schon auf dem Cover sagt, ist heute von extremer Einsamkeit. allem um den Voyeurismus und alles enthüllen: Ich bin Masochis- Aber wann ist Masturbation je etwas ge- sein notwendiges Pendant, den tin/Leder-Fetischistin/Domina –

wesen, dessen man sich rühmte? Exhibitionismus, handelt. FOLEY / OPALE J. vielleicht haben sie sogar noch Beinahe ist die sexuelle Revolution, bei Dabei scheint dies ein vorwie- Guillebaud einen kleinen Inzest zu bieten? der man vögelte, um die Gesellschaft zu gend weibliches Laster zu sein. Oder sie greifen, wie Natacha

der spiegel 48/2000 187 Titel GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA J. HAUFE / BERLIN-PHOTO.COM J.

Popsängerin Britney Spears mit Tanzpartner, altindische Sexdarstellung Abschied von der sexuellen Fron?

Merritt, gleich zur Kamera, um ihre Or- zart und einfühlsam, vom Inzest zwischen Die angebliche Schamlosigkeit beweist gasmen zu dokumentieren, und stellen wie Mutter und Sohn erzählt wird, heute nicht nur, dass, wie manche Soziologen glauben, Tracey Emin ihr Bett ins Museum. mehr möglich. Teilweise hysterisch wird, die Scham eher zunimmt oder, wie der Aa- Nichts haben diese Body-Artistinnen was jahre-, jahrhundertelang übersehen, chener Psychoanalytiker Micha Hilgers lie- mehr gemein mit den Performance-Künst- geduldet, verschwiegen wurde, nunmehr ber sagt, dass „ihre Ursachen und Quellen lerinnen früherer Jahre, die gerade die verfolgt: Inzest und Missbrauch. Das sich verändern“. Was gestern noch als wechselnden Masken und Verkleidungen schließt die Kommerzialisierung der Moral obszön galt, wird heute ausgesprochen – von Weiblichkeit entlarven, die Spuren von in Büchern und Filmen keineswegs aus; die und damit neutralisiert. Dafür wächst die Verletzung und Vergänglichkeit zeigen Produzenten dürfen sich sogar noch als Angst vor Intimität. „Tabuisiert ist heute wollten. Allenfalls erinnern die Werke ih- Aufklärer und Warner darstellen. die Vergänglichkeit, Liebe aber hat mit Ver- rer jugendlichen Nachfolgerinnen den Voy- Wie nie zuvor ist Sex mit Gewalt assozi- gänglichkeit und Scham zu tun“, so Hil- eur an die traurige hoffnungslose Realität iert – auch wenn in Europa die Debatten um gers, „und Scham will toleriert werden.“ der Körper und des Sex jenseits der Hoch- Sexual Harassment oder um Pornografie „Wenn die Scham verschwindet“, sagt glanzmagazine und Hollywood-Filme; in- niemals so heftig geführt wurden wie in den auch Sigusch, „dann ist die Erotik, wie wir zwischen erregt ein Close-up auf eine Va- USA, wo Feministinnen die These aufstell- sie bisher kannten, historisch begraben.“ gina weniger Empörung als „Big Brother“. ten, jeder Mann sei ein potenzieller Jedenfalls aber sei eine Ent- Vergessen scheint, was die Libertins des Vergewaltiger. Und Verführung be- wicklung kaum aufzuhalten: ausgehenden 18. Jahrhunderts stets wuss- deute nichts anderes, als dass er vor- In den Labors „Die Sphäre des sexuellen Er- ten, dass Sex gut fürs Denken ist. Die Ro- her eine Flasche Wein kauft. werden an- lebens und der körperlichen mane jenes „goldenen Zeitalters der Por- Foucaults Mahnung, dass Sex mit Reaktion trennen sich immer nografie“, all die „Thérèse philosophe“ Macht zu tun habe, scheint indes hand von Tier- weiter voneinander.“ oder „L’education de Laure“, dienten im- nur mehr in den SM-Reservaten be- körpern die Dank der medizinischen mer auch der Aufklärung, vor allem der herzigt zu werden. Und auch dort und biotechnischen Fort- Frauen. Selbst de Sades „Theater der Grau- gilt: „Takt, Stil und Respekt sind die Prozesse der schritte nimmt der protheti- samkeit“ ist in dieser Tradition zu sehen: Schlüsselworte für den Umgang sexuellen Erre- sche Sex zu, bei dem sich ein Versuch, das Denken zu retten, das sich miteinander“ – so zu lesen auf den gung studiert Erektionen und Orgasmen über sich selbst entsetzt. Internet-Seiten der SM und Fetisch künstlich herstellen lassen; für Der Sex ist, den pseudoperversen In- Community „Lustschmerz“. die Männer leichter als für die szenierungen zum Trotz, vor allem banal Nicht nur Baudelaire hatte einst be- Frauen. In den Labors werden anhand von geworden. „Die öffentlichen Geständnis- merkt, dass „die einzige und höchste Lust Leichenteilen oder Tierkörpern – oder, wie se“, so Sigusch, „töten das Begehren mehr, der Liebe in der Gewissheit ruht, das Böse die Forscher sagen, von „Klitoris-und Vagi- als Verbote und Tabus dies vermochten, zu tun“; dass zum Sex Verbot und Angst, na-Ernten“ – die Mikroprozesse der sexu- an die nur noch der Vatikan glaubt.“ Grenzüberschreitung und Macht gehör- ellen Erregung studiert. Bei den Männern Nostalgisch und sentimental aber wäre es, ten, das wussten alle, die darüber groß jedenfalls, hat man herausgefunden, ist der schon wieder nach neuen Kontrollen zu dachten, Freud und Bataille oder Reich. G-Punkt im Hirn; wer hat je behauptet, dass rufen. Selbst Feministinnen wie Camille Paglia sie etwas anderes als Sex im Kopf hätten? Nur wären Filme wie Louis Malles forderten, der Sex müsse wieder schärfer Und dabei kann es in Zukunft auch blei- „Herzflimmern“ von 1970, in dem, ganz werden. ben: Wenn die Frauen sich endgültig zur

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Werbeseite Titel G. MENN / AGENTUR FOCUSG. MENN / AGENTUR

SM-Inszenierung, Marquis de Sade Ein Versuch, das Denken zu retten, das sich über sich selbst entsetzt AKG unbefleckten Empfängnis bekehrt haben ce“ mit nach Hause nehmen. Oder er nahm Konfektion verlangen, den Cindy-Craw- und ihre Eizellen, ihr Start-up-Kapital, am Geschwindigkeitswettbewerb teil: ford- oder Brad-Pitt-Schnitt. Aber schwit- gleich auf spezielle Banken legen, um sich Schließlich sei „die Beweglichkeit der be- zen sie nicht auch? Fürchten sie sich nicht mit 50, wenn die Karriere gemacht ist, aus geißelten Boten immer wieder Grund für auch beim ersten Mal? dem Depot zu bedienen. Darum müssen Diskussion und Sorge“. Nicht erst seit die Frauen in die Orgas- sie noch lange keine Heiligen werden, im Aber auch die Lahmen sollen nicht vom muspflicht genommen wurden, kommt es Gegenteil, so Biologe Baker, in Zukunft Fortschritt ausgeschlossen bleiben. In Zu- bei der Begegnung zweier Körper vor al- können sie sich mindestens drei Männer kunft wird sich der Mensch, den Regen- lem auf die Messlatte an. Der Designer- leisten, einen für die Seele, einen für die würmern gleich, selbst fortpflanzen, so der oder Lean Sex, den die Frauen- (und Män- Spermien und den dritten für den Sex; denn Cybersex-Avantgardist Stahl Stenslie: Der ner-) Zeitschriften einfordern, dient nicht der wird keineswegs kalt und klinisch sein, Mensch werde das Internet zur Zeugung mehr allein der Selbstverwirklichung, son- vielmehr werde „die Leine, an der sie das seiner Abkömmlinge nutzen und mittels dern der Selbsterfindung: Wir müssen an Tier im Menschen herauslassen können, so DNA-Synthese seinen Nachwuchs aus den unserem (gesunden) Sexleben arbeiten, lang sein wie seit Jahrhunderten nicht“. einzelnen Komponenten einer Vielzahl von heißt die Botschaft. Lauter Stachanows des Selbst für die gute alte Prostitution gibt es Menschen konstruieren – „oder es vom Hedonismus. bei Baker ein Morgen: Statt sich die Beine DNA-Jockey samplen lassen“. Die unendliche Öffentlichkeit des Inter- in den Bauch zu stehen, verkauft Nichts mehr hat der Sex der net wird so zum letzten Zufluchtsort von die moderne Hure diesen lieber Zukunft mit dem „horizontalen Intimität. „Die Befreiung von der Körper- gleich an die Leihmutteragentur „Die Befreiung Handshake“ (Doris Lessing) von lichkeit führt, und das ist die Ironie, un- oder geht, wenn sie nur hübsch von der einst zu tun, auch nichts mit den mittelbar zu größerer Intimität“, sagt die und jung genug ist, in den Eier- Romantiker-Phantasien vom ehemalige Herausgeberin des Magazins Handel. Via Internet kann sich je- Körperlichkeit künstlichen Menschen. Eher „Future Sex“, Lisa Palac. der ein Bildnis seines Gameten- führt unmittel- schon scheint er den Fieber- Wo Alter, Aussehen und Lebensge- Partners machen: Zu groß? Zu träumen französischer Struktu- schichte gleichgültig sind, kann man sich hässlich? Zu teuer? Hauptsache, bar zu ralisten entsprungen: Sex wird, endlich gefahrlos seiner Phantasie hin- er spielt anständig Tennis; jeden- größerer so Stenslie, zur „Life Art“, zu geben, dem immer noch größten Sexual- falls muss in Zukunft keiner mehr Intimität“ einem rein ästhetischen Pro- organ. Selbst auf das Geschlecht kommt das Gen im Sack oder das Ei ohne blem, da ein jeder als „mytho- es hier nicht mehr an, jede Identität lässt Gütegarantie kaufen. logisches Wesen mit vielkno- sich borgen, davon schwärmen die Apolo- Auf der diesjährigen „Ars electronica“ in tigen, rhizomatischen Netzwerkverbin- geten des Net wie Sherry Turkle, die den Linz, die dem „Next Sex“, dem Sex im dungen“ mit jedem verlinkt ist in einer Computer eine „intime Maschine für un- Zeitalter seiner reproduktionstechnischen unendlichen Orgie; „Der kreative Orgas- sere eigenen Dramen“ nennt, oder die Überflüssigkeit, gewidmet war, wurde mit- mus ist das Ziel.“ Wollust ward dem Wurm Gender-Feministinnen, die den biologi- ten in der Stadt ein Container installiert: gegeben. schen Unterschied zwischen Mann und eine Sammelstelle für Spermaproben. Der Die den Rausch ohne Kater wollen, ha- Frau am liebsten kulturell verschwinden Spender konnte seine frischen Samenzel- ben in den Fitness-Studios ihren Körper lassen wollen. len unterm Mikroskop betrachten und so- eisengeil designt, oder sie lassen gleich Die aus den stilisierten Körperwelten gar ein Foto seiner „nicht genutzten Chan- maßschneidern, auch wenn sie zumeist des Alltags entfliehen, können sich einen

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Sex-Künstlerin Natacha Merritt Den eigenen Orgasmus mit der Kamera dokumentiert FOTOS: N. MERRITT FOTOS:

virtuellen Körper borgen, einen Avatar à la eine Bewerbung bei Claudia Püschel-Knies nation des guten alten Billet doux“, Lara Croft, wenn sie die Darkrooms der und anderen Profi-Kupplern; und mit ei- schreibt er und fühlt sich erinnert an die Zukunft, die Chatrooms, durchstreifen; es nem Klick ist der falsche Kandidat wieder „leidenschaftlichen Ergüsse von Abélard gibt die Bildschirm-Püppchen sogar zum weg. In den USA gibt es bereits Agenturen, und Eloise“; Abélard wurde, wie man Selberbasteln. Doch gleichen sie eher Co- die sich auf eine bestimmte Klientel kon- weiß, kastriert. micfiguren, und der Traum, es mit Marilyn zentrieren, zum Beispiel „right stuff Da- „Aber vielleicht werden in der Tat unse- Monroe zu treiben, ist noch weit. Die meis- ting“ für diejenigen, welche die „richti- re Sinnlichkeitsstrukturen umgeschrieben“, ten User begnügen sich sowieso mit einem gen“ Universitäten besucht haben. Hier sagt Volkmar Sigusch, „und wenn Phanta- Nickname. Die Wirklichkeit, auch die vir- lohnt es sich also nicht, Geschichte und sien miteinander kommunizieren, tritt der tuelle, ist wie fast immer banal. Identität umzulügen. Die erste Frage ist Körper zurück.“ Gelegentlich treibt die SMler oder Fetischisten organisieren ohnehin die „f-or-m“-Frage, female or neue Innerlichkeit ja in der Tat eine roman- sich hier wie Kleingartenvereine, um ihre male, und die meisten, sagt die Internet- tische Blüte: „Du riechst wie eine frische Triebe zu kultivieren, mit Kontaktanzei- Psychologin Nicola Döring, bleiben bei der Sommerbrise an einem herrlich sonnigen gen und Selbsterfahrungsberichten, mit Wahrheit. Morgen, du schmeckst wie ein Eistee, mit Hinweisen auf passende, für den Besuch Offener, herzlicher und muti- dem man am Morgen nach einer der Schwiegermutter stets tarnbare Möbel ger könne man im Netz sein, we- wahnwitzig saufreichen Party sei- und Stammtische. Ohnehin wird der E- niger oberflächlich ohne die üb- „Im Internet nen Brand stillt … Aber ich Sex überschätzt: Obwohl manche porno- liche Zensur nach Kleidung, Al- erfordert es lösche den Brand nicht, ich ent- grafischen Websites, wie die Computer- ter, Aussehen. Aber es erfordere fache ein neues Feuer.“ Es sind Spezialisten meinen, die innovativsten im Zartgefühl, „eine subtile Feinab- Zartgefühl, vorwiegend die Jungen, die sich Netz sind, obwohl es Net-Sex-Milliardäre stimmung“, so Döring, „um sich sich ein ge- solche Mini-Melodramen schrei- gibt wie den Amerikaner Steve Cohn, der ein gemeinsames Szenario aus- ben; und wenn sie einander zum kürzlich sich sogar die Las-Vegas-Legende zumalen“. Wenngleich die In- meinsames ersten Mal treffen sollen, haben „Caesar’s Palace“ kaufen konnte, vermel- szenierungen, die ins Erotische Szenario sie Furcht zu erröten: „Lass uns den die Suchmaschinen auf das entspre- spielen, einander stets gleichen: auszudenken“ vorher unbedingt einen trinken.“ chende Stichwort allenfalls ein Viertel so Da träumt „HexenKuss“: „… Nicht zu lange warten bis zur viele Treffer, wie sie unter „Musik“ an- Ich möchte dir gern die Augen ersten Begegnung, rät die Inter- zeigen. verbinden, dich an den Armen festbinden, net-Psychologin. Natürlich gibt es Ge- Für die meisten ist die angebliche Sex- ich möchte es dir irgendwie einfach so …“ schichten von glücklichen Paaren, die sich maschine vor allem eine Flirtmaschine, Auch in der virtuellen Realität ist das Re- im Netz fanden, und genauso oft wird er- eine Kontaktbörse: Statt der gefährlichen pertoire an sexuellen Möglichkeiten be- zählt von Enttäuschungen mit dem elektro- Liebschaften hat man elektronische Af- grenzt. nischen Cyrano. Lisa Palac machte es dar- fären, immer öfter. Und denkt dabei wie so Selbst Rufus Griscom, Herausgeber von um lieber gleich im Dunkeln, als sie ihren E- oft bloß an das eine: die Ehe. „Nerve“, dem Online-Sex-Magazin für den Lover zum ersten Mal traf. Wie Karl Kraus Wer sich erst gar nicht mühsam durch gehobenen Geschmack, schwärmt von E- einst sagte: „Nicht die Geliebte, die entfernt die Chatrooms klicken will, kann eine Da- Mails for you: „Keine Internet-Anwendung ist, sondern die Entfernung ist die Geliebte.“ ting-Agentur beauftragen, das ist jünger hat das Sexleben so vieler Spieler so stark Dafür gedeihen schon wieder die My- und cooler als die „Zeit“-Anzeige oder beeinflusst wie die elektronische Reinkar- then und Legenden. Wie die Geschichte

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Cybersex-Verkleidung „Der kreative Orgasmus ist das Ziel“ M. MASONI / STERN / PICTURE PRESS / PICTURE / STERN M. MASONI von dem 28-jährigen Engländer, der seine Kliniken für Sexsüchtige gibt – Psycholo- etwa gleichaltrige amerikanische E-Mail- gen für diejenigen, die schon beim An- Braut zwecks Heirat in Ohio aufsuchte; blick einer Maus vor Erregung zittern. sie war über 60, in ihrer Tiefkühltruhe lag Aber gibt es den virtuellen Scheidungs- seit einem Jahr die Leiche ihres ehemali- grund? gen Gefährten, eines 70-jährigen Alkoho- Ohnehin dauert das Zusammenleben in- likers. zwischen viel zu lange, früher machte man Oder die allerdings wahre und weniger sich rechtzeitig vom Acker, zumeist gleich komische Geschichte des früheren Disney- auf den Gottesacker; heute kann man nach Angestellten Patrick Naughton, der sich 70 Jahren Gnadenhochzeit feiern. mit seiner minderjährigen Chat-Partnerin Warum also nicht die ganze Gleit-Kultur verabredete; zum Rendezvous kam eine abschaffen? Sich emanzipieren von den FBI-Agentin. Er verteidigte sich vor Ge- atavistischen Trieben? Wir möchten ein- richt damit, dass er alles für sexuelle Phan- ander von ferne nahe sein, darin sehen tasie gehalten habe und nicht Avantgardisten die Beziehungs- wirklich glaubte, mit einem Kind form der Zukunft. „Die Gegen- zu sprechen; der Gefängnisstrafe So währet wart der Liebe ist schon im entging er, indem er für das FBI die Liebe, Netz“, sagt die Internet-Psycho- Programme gegen Kinderschän- login. So währet die Liebe, kos- der im Internet entwickelt. kosmisch und misch und körperlos, am Ende Kein Gatte aber braucht nun körperlos, doch noch ewiglich, auf der mehr Furcht vor den Lippenstift- Raumstation Mach’s mir. flecken auf seinem Hemd zu ha- am Ende Aber Körper sind träge. Und ben, allenfalls die Telefonrech- doch noch warum sollte ausgerechnet in nung muss er vor seiner Frau ver- ewiglich Liebesdingen ein Fortschritt bergen, die sich, nicht minder auf möglich sein? Das sexuelle Un- Draht, gerade nach 20 Jahren glück, hat Peter Sloterdijk ein- Ehe in ihren Traummann verliebt hat, ihren mal gemeint, sei ja nicht neu, sondern alt; Mister Tausend Volt; am besten man zieht vor allem für die Männer. Fast so alt sind ihr den Stecker raus. die Maschinenträume. Es könnte ja eine Früher legte man sich ganz einfach hin Gegenbewegung entstehen, zurück zum und dachte an Burt Lancaster oder Sophia Leiblichen. Loren. Heutzutage braucht auch die Phan- Oder wie einer, der sich damit noch aus- tasie eine Prothese. Inzwischen gibt es kannte, Autor der „Lady Chatterley“, D. Studien, wonach Zufalls-Testpaare einan- H. Lawrence, einst sagte: „Eine Tragödie der virtuell mehr schätzten denn in der ist es dann, wenn man Sex im Kopf hat an- Realität. Es gibt Online-Selbsthilfegrup- statt zwischen den Beinen, wo er hin- pen für Internet-Süchtige und – so wie es gehört.“ Annette Meyhöfer

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Werbeseite Titel JB PICTURES / AGENTUR FOCUS / AGENTUR JB PICTURES Sexclub in Thailand: „Da kann man hinreisen, das ist doch eine gute Lösung“

SPIEGEL-GESPRÄCH „ES GEHT AUCH IM JANUAR“ Sex ist schwer zu kriegen und richtig schön nur bei gutem Wetter. Das weibliche Geschlecht, meint der französische Kultautor MICHEL HOUELLEBECQ, bleibt die einzige beruhigende Antwort auf die Ängste der Männer. Aber die Liebe verkommt zur Ware, Profis müssen ran.

SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, in Ihren SPIEGEL: Was bedeutet Sexualität dann für meisten haben aber weder solch einen Job Romanen entwerfen Sie ziemlich hoff- Sie – geht es um die Lust am Leiden? noch eine funktionierende Familie – die nungslose Bilder: Lust und Liebe gibt es Houellebecq: Bis vor kurzem brauchte man klassische Familienstruktur löst sich ja so- nicht ohne Selbstmord, Verzweiflung und Sex noch, um sich fortzupflanzen. Sex war wieso rapide auf. Also bleibt nur noch eins, Qual. Ist Sex wirklich eine so deprimie- eine der wichtigsten Aufgaben, die der um die fundamentale Sehnsucht nach Be- rende Angelegenheit? Mensch im Leben erledigen musste: Die gegnungen mit anderen zu stillen: Sex. Houellebecq: Die Menschen leiden vor al- Zusammensetzung künftiger Generationen SPIEGEL: In Ihren Romanen scheitern die lem daran, dass es so schwer ist, an Sex hing davon ab und damit auch der Gang der Menschen auf der Suche nach Nähe. Statt- zu kommen. Haben sie mal welchen, Weltgeschichte. Außerdem ist Sex, trotz al- dessen verkommen sie zu Sozialkrüppeln, kann er sie – manchmal wenigstens – für ler Qual, natürlich ein außerordentliches onanieren einsam vor sich hin und befrie- kurze Augenblicke schon glücklich ma- Vergnügen. Man kann es mit nichts auf der digen sich in Nudisten-Camps. chen. Ob alle Menschen das Welt vergleichen. Manchmal Houellebecq: Ja, das sind, genau wie die Problem haben, weiß ich nicht. macht er sogar Beziehungen zwi- Pornografie, Kompensationsstrategien, die Aber bei den Franzosen der „Momentan, schen Menschen möglich. hoch im Kurs stehen, obwohl sie alles noch etablierten Mittelschicht – global SPIEGEL: Nun schlafen nicht alle viel schlimmer machen. Pornografie etwa Wissenschaftlern, Lehrern, An- Menschen gleich miteinander, hat die unangenehme Nebenwirkung, dass gestellten – ist es so. Die haben betrachtet, die sich in irgendeiner Bezie- sie Wahnvorstellungen auslöst. Mit der mehr Verlangen und Begierde, sind Frauen hung zueinander wähnen. Zeit wirkt dann jeder reale Sex schal; man als sie befriedigt bekommen kön- Houellebecq: Es gibt kaum wirk- will nur noch erleben, was man in den nen. Und darunter leiden sie die liebens- liche Beziehungen. Vielleicht in Pornos gesehen hat. Und das ist meist fürchterlich. werteren der Familie oder im Beruf – aber ziemlich schwer zu finden im wirklichen Menschen“ nur, wenn man im Team an einer Leben. Das Gespräch führte die Redakteurin Katja interessanten Sache arbeitet und SPIEGEL: Sie selbst gelten als Sex-Maniac, Thimm. alle gleich motiviert sind. Die der Swinger-Clubs besucht und Frauen am

198 der spiegel 48/2000 ARCHIVE PHOTOS FOCUS / AGENTUR / MAGNUM S. MCCURRY Sexidol Marilyn Monroe (1955), Nudisten-Camp: „Wir haben uns dem Konsummodell verschrieben, in dem Sexualität die Ware ist“

liebsten empfängt, wenn sie durchsichtige Houellebecq: Ich meine, es ist das Einzige, Wenn man da einmal pro Woche hingeht, Blusen tragen. was wirklich funktioniert, wenn man Käl- man macht das ja meist samstagabends, Houellebecq: Nun, ich mag Sex schon sehr. te und Einsamkeit entfliehen will. Alkohol wird auch der Sex mit dem Partner besser. Ich denke bestimmt nicht öfter daran als hilft natürlich auch, allerdings weniger Das Bedürfnis nach etwas Neuem in ei- der Durchschnitt der Bevölkerung, na ja, gründlich. Das weibliche Geschlecht ist die nem organisierten Swinger-Club zu stillen vielleicht doch. Es hängt vom Tag und von einzige beruhigende Antwort auf die Ängs- ist doch viel fairer als das alte bürgerliche der Jahreszeit ab. In den Ferien, im Som- te der Männer. Das ist schon enorm. Modell, wo sich der Mann eine Jüngere mer, bin ich freier, da hat man mehr Zeit SPIEGEL: Was finden Sie so faszinierend an nimmt und die andere, von Vergänglichkeit für Sex. Aber es geht auch im Januar. Swinger-Clubs? gezeichnete Frau zurücklässt, die sexuell Wichtig ist nur, dass das Wetter schön ist. Houellebecq: Sie sind eine großartige Ein- kaum mehr einen Marktwert hat. Das SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, Sex sei richtung, Lust mit möglichst viel Ab- Mätressen-Modell ist genauso katastrophal: einer der wenigen Gründe, sich nicht um- wechslung zu haben, ohne gleich die Exis- Da schläft der Mann nämlich nur noch mit zubringen. tenz einer Familie aufs Spiel zu setzen. seiner Geliebten, aber garantiert nicht mehr mit seiner Ehefrau. SPIEGEL: Solche Männer nehmen aber für sich in Anspruch, die Frauen zu lieben, mit denen sie schlafen. Zumindest behaupten sie das in der Regel. Im Swinger-Club spielt Liebe keine Rolle. „Sex ist, Houellebecq: Warum auch? Wenn man Lust trotz hat, mit jemandem zu schlafen, möchte man noch lange nicht mit ihm leben. Das aller Qual, möchte man aber, wenn man jemanden natürlich liebt – und das ist dann ein Schock. Da werden andere Formen von Sex plötzlich ein außer- wichtig: Ein Frauenkörper neben mir im Bett, an den ich gewöhnt bin, lindert mei- ordent- ne nächtlichen Einsamkeitsängste. Das ist liches die größte Macht, die Sex hat: Er nimmt ei- nem die existenzielle Angst vor dem Le- Vergnü- ben. Zärtlichkeit schafft das genauso wie gen“ eine Orgie im Swinger-Club … SPIEGEL: … oder Sadomaso? Houellebecq: Sadismus hat mit Sexualität gar nichts zu tun, weil die eigene Lust vom Leid des anderen abhängt. Für mich ist Sa- W. SCHMIDT / NOVUM SCHMIDT W. Michel Houellebecq, 42, wurde bekannt durch seinen Roman „Elementarteilchen“. dismus nur eine Spielart ganz normaler menschlicher Grausamkeit. So wie man

der spiegel 48/2000 199 Titel CINETEXT Rocksänger Presley (1966): „Ursprung des freizügigen Sex“

Sexfotografen bei der Arbeit: „Pornografie hat die Nebenwirkung,

Gefangene foltert oder Tiere quält. Aber SPIEGEL: Sie reden von einer neuen Zwei- haben, sondern sich nur auf die andere natürlich ist der menschliche Gewalttrieb Klassen-Gesellschaft, in der Attraktivität Seite des Ehebetts rollen. mindestens so groß wie der Sextrieb, zu- das Geld ersetzt? Houellebecq: Das mag ja sein, aber meine mindest bei Männern. Houellebecq: Geld braucht man vor allem Prognose ist, dass Sex bald nur noch als SPIEGEL: Sie wollen jetzt nicht sagen, dass im Alter. Je älter man wird, desto schwie- Ware erhältlich ist. Die moderne Repro- Frauen die besseren Menschen sind? riger wird es, einen Sexualpartner zu fin- duktionsmedizin braucht ihn auch schon Houellebecq: Momentan, global betrachtet, den, ohne dafür zu zahlen. Die 20-Jährigen nicht mehr. Weil wir dem Ideal von Schön- sind Frauen noch die liebenswerteren Men- haben weniger Probleme damit als die 40- heit und Jugend in unserer hypersexuali- schen. Das kann sich natürlich ändern. Jährigen, die immerhin noch mit ihren sierten Welt nicht entkommen, werden Frauen haben über Generationen die Er- Partnern in Swinger-Clubs gehen können: bald Bilder unsere Vorstellungen von Sex fahrung gemacht, dass sie mit Verführung Man probiert neue Praktiken aus, und bestimmen, die nichts mehr mit der Rea- weiter kommen als mit Gewalt. Wenn eine während man sich noch amüsiert, erlischt lität zu tun haben: mit dem schleichenden tödliche Krankheit alle Männer ausrotten auch schon die Lust. Am besten, man lässt körperlichen Verfall, den Figur- und Hor- würde, würden die übrig gebliebenen Frau- den Gedanken an Sex frühzeitig fallen. monproblemen. Also wird man zu profes- en friedlich zusammen weiterleben. An- Zum Glück erlahmt das Verlan- sionellen Sexarbeitern gehen, ders herum ist das undenkbar: Wären die gen mit dem Alter. Zumindest um zu bekommen, was man für Frauen tot, würden sich die Männer ziem- hoffe ich das. „Die Mädchen, Realität hält. Man wird Porno- lich schnell gegenseitig massakrieren. SPIEGEL: Ist demnach ab 50 Ent- die nur ihre filme gucken oder sich vorm In- SPIEGEL: Die Hauptfiguren Ihrer Romane – haltsamkeit angesagt? ternet einen runterholen. Wir Männer – kranken vor allem am Narziss- Houellebecq: Es gibt die armen eigene Wir- werden nicht mehr aus Liebe mus. „Elementarteilchen“ etwa lässt sich Länder mit ihrer Prostitution, da kung im Kopf miteinander schlafen. Den Opti- auch als Abrechnung mit der 68er Bewe- kann man hinreisen. Das ist mismus habe ich verloren. gung lesen: Deren Selbstverwirklichungs- doch eine gute Lösung. hatten, waren SPIEGEL: Michel, der Wissen- Exzesse hätten dazu geführt, dass die Men- SPIEGEL: Man kann es auch Aus- immer die schaftler aus „Elementarteil- schen bindungs- und liebesunfähig gewor- beutung nennen. falschen“ chen“, klont Menschen, die, als den seien. Houellebecq: Ich finde das sym- identische Wesen, nicht um Ju- Houellebecq: Angefangen hat das viel pathisch. Es sollte wirklich mehr gend, Schönheit und Attrakti- früher. Es hätte die 68er, und vor allem in den Sextourismus investiert werden. Ab vität konkurrieren müssen. Wäre eine von ihren freizügigen Sex, nicht gegeben ohne einem bestimmten Alter bleibt einem gar Klonen bevölkerte Welt eine bessere? Elvis Presley oder Marilyn Monroe. Wir nichts anderes mehr übrig, als nach Thai- Houellebecq: Auf jeden Fall. Der Kampf Europäer haben uns seit den fünfziger Jah- land, Bali oder Kuba zu fahren. Wenn man um Attraktivität würde aufhören, wenn ren dem amerikanischen Konsummodell alt ist, hat man ja auch Zeit zum Reisen. man zu Sex genauso leicht Zugang hätte verschrieben, in dem Sexualität die Ware Oder man verlegt sich auf die Gastrono- wie etwa zur Luft. Doch im Grunde will und Attraktivität die Währung ist. Über- mie. Die Franzosen essen umso besser und kein Mensch diesen friedlichen Zustand. all, in Filmen und in der Werbung, wird uns lieber, je älter sie werden. Niemand möchte wirklich auf den Teu- das eingebläut. Was zählt, sind ein guter SPIEGEL: Eine Menge Leute werden Ihnen felskreis aus Sexualität, Bestätigung und Körper, Schönheit und Jugend. Diese Ten- widersprechen: die 50-, 60-Jährigen, die Selbstverliebtheit verzichten. Dazu sind denz wird zunehmen. sich nicht in den Flieger setzen, um Sex zu wir Menschen zu narzisstisch. Dumm

200 der spiegel 48/2000 S. PIELOW / AGENTUR FOCUS / AGENTUR S. PIELOW dass sie Wahnvorstellungen auslöst“

nur, dass Narzissmus und Liebe sich ei- gentlich ausschließen. Ein Narzisst ist un- fähig, jemand anderen als sich selbst zu lieben. Er kann sich aber auch nicht lieben lassen, weil ihm keiner dafür auserwählt scheint. Das habe ich schon als Jugendli- cher in der Disco begriffen: Die Mädchen, die nur ihre eigene Wirkung im Kopf hat- ten, waren immer die falschen. Wer zu verliebt ist in seinen eigenen Körper, kann ihn nicht hingeben. SPIEGEL: Als das Buch erschien, wurden Sie über Nacht zum Skandalautor, der das Heil im Genlabor sucht und das Klonen ver- herrlicht. Houellebecq: Natürlich verbringe ich meine Tage nicht damit, den neuen Menschen zu konstruieren. Doch ich habe nichts gegen das Klonen. Allerdings finde ich das Klo- nen von Stammzellen abstoßend. Die Idee, dass man einen menschlichen Embryo als Ersatzteillager zeugt, ist doch moralisch ziemlich daneben. Aber wenn ich mich morgen klonen lassen würde, wäre das schon ein Spaß. Außerdem kämen dabei Wesen heraus, die weder mein Alter noch meine Erfahrungen hätten. Wir wären also nicht ein und dieselbe Person. Ich verste- he gar nicht, warum die Leute sich da so er- eifern können. SPIEGEL: Immerhin würden diese Wesen alle so aussehen wie Sie. Houellebecq: Ja und? Ich finde es amüsant, mir vorzustellen, dass eine Stadt wie Paris von lauter Menschen bevölkert ist, die alle so aussehen wie ich. SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, wir dan- ken Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 48/2000 201 Werbeseite

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ESSAY EROTIK IN DER CYBERWELT

Lässt sich das sexuelle Vergnügen steigern? Kommt Genetic Engineering groß in Mode? Der Berliner Molekularbiologe JENS REICH über die Möglichkeiten, mit technischen Hilfsmitteln die menschliche Fortpflanzung immer weiter vom traditionellen Zeugungsakt zu entkoppeln.

as Menschengewimmel auf den Boulevards dieser Welt: Alle denen Molekülen verleihen der Zelle ein elektrisches Potenzial, diese Ameisen sind überzeugt, frei zu entscheiden, was sie das sich schlagartig entladen kann, wenn chemische Substanzen D gerade vorhaben. Der Humanbiologe aber mag sie für wan- oder elektrische Reize einen Kurzschluss erzeugen. Das ist das ba- delnde Maschinen mit eingebautem Programm halten: Nur ihr Be- nale Prinzip aller Nerventätigkeit. Durch elektrische Reizung wusstsein gaukelt ihnen freie Willensentscheidungen vor. kann nun auch der Entladungssturm, der mit der sexuellen Tätig- In dem Drüsen- und Nervengewitter in uns, das wir Sexualität keit einhergeht, ausgelöst werden. Auch das ist ein Holzham- nennen, wird die Paradoxie zwischen subjektiver Wahrnehmung mereingriff – die Steigerung der Lust ist rein quantitativ und und objektivem Sachverhalt noch zugespitzt. Wir sind Marionet- schlägt schnell in schmerzhaften Kollaps um. Nicht umsonst zählt ten unserer Hormonchemie. Am tierischen Brunftverhalten be- elektrische Reizung der Brustwarzen oder der Unterleibsorgane obachten wir das Wirken dieser „Triebe“: beim Hengst, dem alle zu den schlimmsten Foltermethoden. Säfte schwellen mit dem einen Ziel, sein sperriges Glied in die ros- Ob in Zukunft eine Steigerung durch eine feinere Integration sige Stute einzuführen. Ähnliches muss in uns vorgehen, wenn wir von inneren und äußeren Reizabläufen zu erreichen wäre, zum sexuell erregt sind – aber erlebt wird es von uns in eingebildeter Beispiel durch detaillierte Verschaltung von Computerprogram- Bewusstheit und Sublimation. men mit dem neuronalen Pro- Was wir als individuelles Erlebnis gramm unserer sinnlichen und ge- konstruieren, ist nichts als die Er- hirnlichen Verarbeitungsprozesse füllung des vom Hormonspiegel – ich kann es nicht vorhersagen. Vorgeschriebenen. Meine Vermutung ist, dass die Wird die gegenwärtige techno- Cyberwelt nicht aufregender, son- logische Revolution das Erleben dern steriler wird als die vorhan- der Sexualität und unseren Um- dene, und so wird es wohl auch gang mit der Fortpflanzung ent- mit dem emotionalen Lustgewinn scheidend verändern? Wird es aus solchen Erlebnissen sein. Der technisch erreichbare Steigerun- Sex im 21. Jahrhundert wird also gen geben? Wie wird sich dadurch kaum das erreichen, was die unsere Gesellschaft wandeln? Techno-Fetischisten davon er- Traditionell intensivieren äuße- warten: neue Welten. re Reize die sexuelle Performance Was aber gewiss eine Steige- unseres Körpers: Wer sich einen rung erfahren könnte, ist die Auf- raffinierten Porno reinzieht, sti- spaltung unseres Evolutionserbes: muliert licht- und schallempfind- die Trennung der funktionellen

liche Rezeptoren in Auge und STONE / TONY C. GUILLAUMIN Verschränkung von Sexualität Ohr. Das setzt Nervenentladun- Paar beim Liebesspiel: Marionetten der Hormonchemie und Reproduktion. Zeugung im gen frei, die in die entsprechen- Sinne der Herstellung einer be- den Regionen des Thalamus und des Großhirns gelangen, dort zu fruchteten menschlichen Eizelle, die die Potenz hat, ein voll ent- strukturierten Empfindungen synthetisiert und von „Gefühls- wickelter Mensch zu werden – das ist ja bereits heute im Rea- zentren“ im limbischen System emotional verstärkt werden. Die genzglas möglich. Eine einzelne, von einem Spender stammende Phantasie wird angeregt, aber Erregung und Entladung kommen Samenzelle, die sogar gewisse Defekte wie Bewegungsunfähigkeit der natürlichen, im erotischen Erlebnis über alle Sinne vermit- aufweisen kann, lässt sich in eine einzige Eizelle injizieren, die ei- telten, nicht gleich. ner Spenderin entnommen wurde – für einige Spezialisten der Re- Wirkliche Reizsteigerung soll sich, so höre ich immer wieder, produktionsmedizin ist das bereits Routine. Tausende Paare, die über chemische Agenzien erreichen lassen: seit Jahrtausenden in sonst unfruchtbar wären, benutzen technische Hilfsmittel: künst- allen Kulturen als bewusstseins- und gefühlssteigernde Drogen be- liche Insemination mit anschließender Einnistung des Keims in die nutzt und durch das moderne Angebot mitunter verfeinert, meist Gebärmutter der Spenderin. Den aus solchem Eingriff entste- jedoch brutalisiert, verschärft. Ich glaube nicht, dass sich das ero- henden Kindern merkt man die künstliche, sexfreie Zeugung auf tische und sexuelle Erleben durch Chemie entscheidend verändern keine Weise an – sie wissen oft selbst nicht einmal, wie hightech- lässt, dafür ist der Zugriff zu wenig spezifisch – eine chemische nologisch sie entstanden sind. Gießkanne in einem sehr empfindlichen Systemgeschehen. Übrigens wird nicht nur die Zeugung, sondern auch die darauf Gleiches gilt wohl für die elektrische Reizart. Unsere Nerven- folgende Entwicklung technisch verfügbar werden. Zellbiologen zellen bauen chemische Konzentrationsunterschiede, Gradien- arbeiten an Verfahren, Embryonen (tierische bislang) in künstli- ten, über die Zellmembranen hinweg auf: Gradienten von gela- chen Gebärmuttermedien anzuzüchten. Ein führender Embryo-

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loge teilte mir neulich bei einem Glas Elsässer im Vertrauen mit, von sportlichen Folterwerkzeugen, kosmetischer Ölbehandlung dass die Frustration vieler Frauen, als Gebärmaschine instru- und aufmunternden Hormontabletten erzielen? mentalisiert zu werden, bald vorbei sein könnte. Schon heute Selbst wenn es schließlich gelänge, so komplexe Merkmale wie kann man Säugerembryonen bis in weit fortgeschrittene Teilungs- absolutes Tongehör oder extremes Zahlengedächtnis genetisch zu und Differenzierungsstadien im Glas halten. determinieren (woran ich erhebliche Zweifel habe) – was nützt uns Auch vom anderen Ende her ist Fortschritt zu melden: Im Brut- das, wenn das entstandene Kind von seiner Willensfreiheit bockig kasten mit allen technischen Gadgets überleben bereits Föten im Gebrauch macht, auf Musik und Mathematik pfeift und lieber fünften und sechsten Monat, die früher hoffnungslos verloren ge- Modedesigner oder Drogenhändler wird? Mit den eigenen Anla- wesen wären. Eines Tages wird die künstliche Gebärmutter die gen Schindluder treiben, in den Einflusskreis schlechter Gesell- natürliche ersetzen. Dies würde eine totale Neukonstruktion der schaft geraten, sich dem gesellschaftlichen Zwang und den Wün- biologischen Funktion der Geschlechter bedeuten. schen der Erzeuger aufs Undankbarste verweigern – das alles Wäre das tatsächlich gesellschaftlich und moralisch unerträglich? sind keine genetischen, sondern kulturell determinierte Merk- Ich weiß nicht, ob ich das als Katastrophe sehen will oder als fol- male. Das Genetic Engineering der menschlichen Nachkommen gerichtiges Ergebnis eines ohnehin ablaufenden Prozesses der zi- könnte sich als ebendas Lotteriespiel erweisen, das die Herstel- vilisatorischen Emanzipation. Beides ist denkbar. Frauen müssen lung von Nachkommen auch heute bereits ist. keine Kinder mehr empfangen, Den zweiten Nebeneffekt er- keine austragen, keine nähren – warte ich aus den inneren Pass- bedeutet das die Auflösung aller unfähigkeiten der technischen Familien- und Gemeinschafts- „Eine zahnärztliche Wurzelbehandlung ist Beeinflussung von Sex und Zeu- strukturen, aller menschlichen gung. Es ist die Kälte des voll- Kultur, das Ende der herausge- ein Vergnügen gegen all das, was technikgläubige endeten technischen Vorgangs, hobenen Stellung der Frau im die ihn unattraktiv macht. Alle Prozess der Reproduktion der Zeugungspartner durchzustehen haben“ künstliche Fertilisation beinhal- Art? Bedeutet das den endgülti- tet heutzutage eine elend unbe- gen Übergang in eine ge- queme und dabei nicht unge- schlechtslos sterile Cyberwelt, in fährliche medizinische Opera- der die Unterscheidung der Geschlechter sich auf die binäre Ge- tion. Die Frau muss wochenlang Hormontabletten zur Stimulierung genüberstellung von Schwert und Scheide reduziert, von eckig der Eireifung schlucken und sich auf dem gynäkologischen Fol- und rund? Oder ist es nur die Vollendung dessen, was kostümge- terstuhl hässlichen Prozeduren unterziehen. Der Mann muss Sa- kleidete, kosmetikgestählte Powerfrauen ohnehin in allen fort- men in eine Petrischale masturbieren, und wenn ihm das nicht ge- schrittlichen Metiers vorführen, in der Wirtschaft, in der Verwal- lingt oder das Produkt nicht den Qualitätsanforderungen genügt, tung, im Marketingsektor? Eine Lebensweise übrigens, die bei ad- dann kommt der Doktor mit der langen Nadel, piekt in die Ho- ligen Frauen im 19. Jahrhundert durchaus üblich war – Alexander den und holt sich dort die unreifen Vorläuferzellen heraus, um sie Puschkin kannte seine Kinderfrau besser und liebte sie mehr als der gentechnisch kontrollierten Nachreifung zu unterwerfen. die leibliche, in gesellschaftlicher Konvention verhaftete Mutter. Solange noch eine Frau zur Austragung eines optimierten Der technische Zugriff zur Reproduktion mag sich eines fernen Frühembryos benötigt wird (ich erwähnte schon, dass das viel- Tages nicht nur auf den Prozess selbst erstrecken, sondern zudem leicht umgangen werden kann), muss sie weiter unter Hormonen noch auf die Auswahl des Produkts. Man wird bei der fertilisa- bleiben und erneut auf den Folterstuhl, wo der Arzt ihr dann die tions- und reproduktionstechnischen Beratungsstelle „Famili- Frucht einpflanzt. Von notwendigen Kontroll- und Nachunter- englück“ vorsprechen, seinen genetischen Pass vorlegen, auf dem suchungen will ich gar nicht reden. Eine zahnärztliche Wurzel- alle individuellen Besonderheiten des Genoms verzeichnet sind, behandlung ist ein Vergnügen gegen all das, was die technik- der Computer wird die Passfähigkeit der Genome der beiden gläubigen Zeugungspartner durchzustehen haben. Ich schaue Partner berechnen, und anschließend wird die genetische Aus- mich mitunter im Hörsaal voller Studentinnen und Studenten stattung des zukünftigen Kindes entworfen und bestellt, wie man um und bitte um Handzeichen, wer gern diese Reise durchmes- eine neue Einbauküche entwirft, vermisst, durchdenkt und sen möchte. Ob nun Schüchternheit oder Feigheit oder bessere schließlich kauft. Unnötig hinzuzufügen, dass die Partner nicht un- Einsicht oder Bequemlichkeit die Antwort diktiert: Alle bleiben bedingt verschiedenen Geschlechts sein müssen wie bei der alt- grinsend bei der Bevorzugung der von der Natur eingerichteten modischen Form der stochastischen (durch Genomwürfeln be- Art, zu neuen Menschen zu kommen. werkstelligten) Zeugung. Kinder jedes gewünschten Geschlechts Noch sehe ich nicht, wie all die neue Technologie es fertig werden sich aus jeder Kombination von Partnern herstellen las- bringen will, Vergnügen zu bereiten. Ohne Vergnügen in einer Ge- sen, lediglich ein Lesbenpaar wird Schwierigkeiten bekommen, sellschaft, in der Kinderzeugung keine Notwendigkeit von Al- wenn es sich (was nicht sehr häufig vorkommen dürfte) auf einen tersvorsorge und Erbfolgeregelung darstellt? Das soll sich durch- Jungen als Nachkommen kapriziert hat. Die beiden Partnerinnen setzen? Ich bin zu altmodisch, um mir das vorstellen zu können. müssten sich irgendwo das fehlende Y-Chromosom besorgen. Vielleicht wurde dieser Essay beim falschen Autor bestellt: Ich Die technisch-kommerzielle Gestaltung von Sex und Fort- jedenfalls prophezeie, dass es in den absehbaren Jahrzehnten pflanzung, ihre Entkopplung eingeschlossen, geht mit einigen Ne- zwar allerlei Techno-Sex-Idioten und Nachkommen-Selektions- benbedingungen einher, von denen noch nicht absehbar ist, ob sie Narren geben wird, aber das natürliche Zusammenspiel von Se- das ganze Vorhaben unattraktiv machen werden. xualität und Fortpflanzung ist durch Millionen Jahre Evolution so Ein solcher unerwünschter Nebeneffekt resultiert aus der Kom- weit designoptimiert, dass Engineering keine Chance auf weite- plexitätsfalle. Es wird wohl möglich sein, die Augenfarbe eines an- re Optimierung haben gehenden Kindes einigermaßen genau zu bestimmen, ebenso die wird. Ich wette eine Kiste Jens Reich, 61, Mole- Haarfärbung. Aber da bleibt ein Rest von zufallsbedingter Champagner darauf und kularbiologe, Arzt Störung. Außerdem: Leisten nicht Haftschalenphysik und die Fär- hoffe, in 30 Jahren noch und Bürgerrechtler, bemittelchemie längst das Gewünschte? Noch dazu in rückhol- Rede und Antwort bei ist Professor an der barer, veränderbarer Form? Lässt sich griechische Schönheit des der Auswertung der Wet- Humboldt-Universität

eigenen Torsos nicht viel zuverlässiger durch eine Kombination te stehen zu können. zu Berlin. / THEMA KNAPP + BELLO

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„Wenn Sie ein Kind haben wollen, egal ob mit 25 oder mit 50, müssen Sie von der Samenbank nur abheben, was Sie brauchen“

Carl Djerassi, 77, gebürtiger Wie- ner, lehrt als Chemiker an der Stanford University und schreibt Theaterstücke. SPL FOCUS / AGENTUR Antibabypillen: „Früher halfen sich die Frauen mit Zitronenscheiben“ M. APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR M. APPELT

FORTPFLANZUNG „KÜSS DIE HAND, GNÄDIGES EI“ Weltweit wurden schon mehr als 300 000 Retortenkinder geboren. Dass künstliche Befruchtung künftig zur Regel wird, prophezeit CARL DJERASSI, der Erfinder der Antibabypille: Frauen könnten in Zukunft das Kinderkriegen auf die Zeit nach der Karriere verschieben.

SPIEGEL: Professor Djerassi, früher war seine Rolle bei der Fortpflan- Machtverhältnis zwischen Mann Fortpflanzung eine ziemlich einfache Sa- zung eher unwesentlich war. „Gewundert und Frau ist es aber mindestens che, und auf die Frage, wie das geht, gab Sie beschränkte sich auf den genauso wichtig, dass sich die es nur eine Antwort. Wie kam es in unse- kurzen Moment, wenn eines hat mich vor Befruchtung nunmehr vom Bett rer Zeit zur Trennung von Sexualität und der 100 Millionen Spermien, die allem, dass die unters Mikroskop verlagert. Fortpflanzung? sich in seinem Ejakulat tum- SPIEGEL: In Ihrem Theaterstück Djerassi: Das war wohl ein unvermeidlicher meln, die Eizelle befruchtet. Nun Pille von den „Unbefleckt“ erklären Sie des- Schritt der Evolution. Die meisten Säuge- kann die Frau die Folgen des Frauen so halb das 21. Jahrhundert zum tiere kopulieren ausschließlich zur Brunft- Geschlechtsverkehrs kontrol- „Zeitalter der assistierenden Re- zeit – mit dem eindeutigen Ziel, sich fort- lieren. schnell akzep- produktionstechniken“ (ART). zupflanzen. Den meisten Menschen in west- SPIEGEL: Hat die Pille, deren tiert wurde“ Was meinen Sie damit genau? lichen Gesellschaften geht es heute beim Wirkstoff Sie gefunden haben, Djerassi: In einer Szene mei- Sex nicht um Arterhaltung, sondern um also den Mann entmachtet? nes Schauspiels deponieren Spaß: Wir machen Sex for Fun, und unse- Djerassi: Schon zu Casanovas Zeiten, im 18. junge Männer und Frauen in Repro- re gesamte Kultur – die Werbung, die Fil- Jahrhundert, wussten sich die Frauen zu duktionsbanken ihre Spermien und Ei- me, die Zeitschriften – ist voll davon. Sex helfen. Da haben sie aus Zitronenscheiben zellen. Wenn sie ein Kind haben wollen – ist ein Sport, und die Leute sehen es als ei- eine Art Diaphragma gebastelt. Allerdings egal ob mit 25 oder 50 Jahren –, müssen nen Gradmesser ihrer eigenen Attraktivität hat es der Mann damals immer gemerkt. sie von der Bank nur abheben, was sie an, wie oft sie es in der Woche machen. SPIEGEL: Waren Sie eigentlich überrascht brauchen. Haben sie erst einmal so ein SPIEGEL: Welche Folgen hat Ihre Erfindung von den sozialen Folgen Ihrer Erfindung? Konto, können sie sich auch sterilisieren der Antibabypille für das Verhältnis zwi- Djerassi: Das kann man wohl sagen. Ich lassen. schen Mann und Frau? glaube, dass alle Wissenschaftler sich ge- SPIEGEL: Ist das nicht eher eine Fiktion? Djerassi: Seit jeher besaß der Mann die wundert haben, dass die Pille von den Frau- Djerassi: Das glaube ich nicht. In vielen reproduktive Macht, und das, obwohl en so schnell akzeptiert wurde. Für das Ländern wie den USA oder China ist Ste-

210 der spiegel 48/2000 G. GERSTER / STERN / PICTURE PRESS / PICTURE / STERN G. GERSTER

Elternpaar Della Corte mit Sohn Riccardo, künstliche Befruchtung,

C. KELLER / PLUS 49 / VISUM / PLUS C. KELLER Mit 62 noch einmal Mutter

rilisierung schon jetzt die populärste Ge- Mann entweder zu wenige oder zu langsa- gang der Befruchtung wäre dann viel kon- burtenkontrolle bei Ehepaaren. Die künst- me Spermien hat. Doch genauso gut könn- trollierter: Nicht Millionen Spermien tref- liche Befruchtung, bei der nur ein Spermi- ten Frauen auf ICSI zurückgreifen, wenn fen auf eine Eizelle, sondern nur eine ein- um in die Eizelle eingespritzt wird, die so sie ein Kind nach der Menopause haben zige – und wenn die im Zellkern ankommt, genannte ICSI-Methode, wurde eigentlich wollen: Sie müssten nur zur Reproduk- muss sie nur noch sagen: Küss die Hand, für Paare entwickelt, die auf natürlichem tionsbank gehen und eine eingefrorene Ei- gnädiges Ei. Weg kein Kind zeugen können, weil der und Samenzelle abheben. Der ganze Vor- SPIEGEL: Frauen werden dann problemlos ihre Karriere verfolgen und, wenn sie Ende 40 sind, in Ruhe gebären können. Die Ita- lienerin Rosanna Della Corte hat schon LEBEN IN ACRYL 1979 auf diese Weise, um sich über den Tod ihres Erstgeborenen hinwegzutrösten, n der trüben Flüssigkeit einer Acrylwanne liegt ein Ziegenfötus, schluckt mit 62 noch einen Sohn bekommen. Iund strampelt mit den Beinen. Sie verheddern sich in Drähten und Schläu- Djerassi: Ich denke schon, dass diese Tech- chen, darunter eine Art Nabelschnur, über die Sauerstoff und Nahrung zuge- nik breitflächiger eingesetzt werden wird, führt werden. Die künstliche Gebärmutter, entwickelt von Medizinern der hauptsächlich in reicheren Ländern. Schon Universität Tokio, befindet sich noch im Experimentierstadium; immerhin ist heute gibt es 10 000 so genannter ICSI- es bereits gelungen, einen fast geburtsreifen Ziegenfötus damit über drei Wo- Babys. Natürlich muss die für Frauen noch chen am Leben zu erhalten. Als das Tier danach aus dem Wasser gehoben immer komplizierte und wegen ihrer ho- und der Katheter zur künstlichen Plazenta abgenommen wurde, offenbarten hen Hormondosen unangenehme Proze- sich Konstruktionsschwächen des Ersatz-Uterus. Das Tier konnte weder lau- dur vereinfacht werden. Dann wäre es fen noch selbständig atmen und starb nach kurzer Zeit. Der Gynäkologe No- allerdings schon ganz schön intelligent von buya Unno und seine Kolle- den Frauen, ihre jungen Eier tiefgefroren gen halten die Probleme für aufzubewahren, um später ihre Kinder zu lösbar: „Technisch ließe sich bekommen – ein wahrer Gewinn an Un- das Konzept dann auch auf abhängigkeit. menschliche Föten übertra- SPIEGEL: Die Fortpflanzung mit der Injek- gen.“ Die Gebärmutter aus tion kostet pro Versuch derzeit rund 10 000 Plastik soll künftig frühgebo- Mark. Wer wird sich das leisten können? renen Babys in der 25. oder Djerassi: Ethisch betrachtet ist das die wich- 26. Woche überleben helfen, tigste Frage. Zunächst werden nur die oder Föten sollen, zur Be- Reichen Sex und Befruchtung in dieser handlung von Krankheiten, Weise trennen können. Es wird in Kali- aus der natürlichen Gebär- fornien anfangen und dann auf andere mutter in die Acrylwanne westliche Industrieländer übergreifen. In

T. WAGNER / SABA WAGNER T. verpflanzt und hinterher wie- Zentralafrika jedenfalls hat man ganz Ziegenfötus in künstlicher Gebärmutter der eingesetzt werden. andere Probleme, nämlich Überbevölke- rung und Aids.

der spiegel 48/2000 211 Titel L. NILSSON /L. NILSSON A. BONNIERS

Befruchtete Eizelle, Frühgeborenes im Brutkasten „Es muss Grenzen geben“ J. RÖTTGER / VISUM RÖTTGER J.

SPIEGEL: Bevor das durch ICSI befruchtete Willen zu äußern. Aber Föten in der 15., 16. netische Vielfalt ist verheerend. Schon heu- Ei in die Gebärmutter implantiert wird, oder 22. Woche können ihren Willen auch te droht bei der gängigen Praxis in den kann man es künftig genetischen Tests un- nicht äußern. Spermienbanken, dass Nachwuchs, ohne terziehen. SPIEGEL: Erscheint es denkbar, dass auch dass es den Eltern bewusst wäre, inzestuös Djerassi: In Zukunft werden immer mehr das Klonen zum Standardrepertoire der gezeugt wird. fruchtbare Paare ICSI benutzen, weil sie Reproduktionsmedizin werden könnte? SPIEGEL: Parallel zur rasanten Entwicklung auf diesem Weg sicherer sein können, ein Djerassi: Rein technisch, da habe ich über- der Fortpflanzungsmedizin ist die traditio- gesundes Kind auf die Welt zu bringen als haupt keine Zweifel, wird es künftig möglich nelle Kernfamilie dabei auszusterben. Se- etwa nach einer traditionellen Fruchtwas- sein. Wenn Sie Menschen anonym fragen hen Sie da einen Zusammenhang? ser-Untersuchung. Sie werden sich Em- würden, könnten sich die meisten Situatio- Djerassi: Einige Idioten behaupten tatsäch- bryonen, die genetische Defekte wie ein nen vorstellen, in denen sie es befürworten lich, die Erfindung der Pille sei daran Down-Syndrom oder die Huntington- würden. Ein einfaches Szenario: Sie haben schuld, genauso wie an den vielen Schei- Krankheit aufweisen, erst gar nicht ein- ein Kind, das Sie abgöttisch lieben. Doch mit dungen. Aber das sind doch eher Folgen pflanzen lassen. Allerdings muss es Gren- drei Jahren stirbt es bei einem Unfall. Und des sozialen Wandels: Der Hauptgrund ist, zen geben, wie weit diese Untersuchung mittlerweile hat sich herausge- dass Frauen für ihre Gleich- gehen darf. stellt, dass Sie keine Kinder mehr berechtigung gekämpft und sich SPIEGEL: Immer mehr Teile des Fortpflan- natürlich zeugen können. „Rein tech- völlig selbstverständliche Rechte zungsprozesses werden aus dem Körper SPIEGEL: Viele Menschen ängstigt nisch, da habe im Beruf erschlossen haben. Die ausgelagert. In Japan gibt es bereits Pro- allerdings die Vorstellung, dass meisten Frauen werden nun in totypen einer künstlichen Gebärmutter – ein und dieselbe Person wieder- ich keinen ihren späten Dreißigern schwan- wenn auch im Moment nur für Ziegenfö- geboren wird. Zweifel, wird ger, assistierende Reprodukti- ten (siehe Kasten Seite 205). Ist auch das Djerassi: Da herrscht ein Miss- onstechniken werden möglich eine Technik für eine schönere, neue Welt? verständnis vor. Der Nachwuchs Klonen beim machen, sich sogar noch später Djerassi: Ich denke nicht, dass Föten in der wird genetisch identisch sein, Menschen einen Kinderwunsch zu erfüllen. Zukunft in Acrylwannen mit Nährflüssig- aber eine andere Persönlichkeit möglich sein“ Ich sehe diese Entwicklung po- keit statt in Gebärmüttern heranwachsen. haben – insbesondere wenn so sitiv: Paare, egal ob Mann und Die Japaner versuchen momentan nur, ex- jemand in meinem Alter, als stol- Frau oder zwei Männer oder treme Frühchen, die im Brutkasten keine zer Mittsiebziger, geklont würde: Das wür- zwei Frauen, werden in diesem Alter ihre Chance hätten, in einem der Gebärmutter de kein zweiter Carl Djerassi. Er hätte eine Kinder lieben, weil es innig erwünschte verwandten Milieu durchzubringen. Aller- andere Persönlichkeit, weil er nicht das Babys sind. So könnte ein stabiles Fami- dings frage ich mich, ob es wirklich sein gleiche Leben, die gleiche Umwelt und die lienleben entstehen, eines, für das der muss, solch ein junges Leben künstlich zu gleichen Erfahrungen machen würde wie Trauschein völlig unwichtig ist. erhalten, das unter normalen Umständen ich. Allerdings ist es seelisch schwer zu ver- SPIEGEL: Und der Sex? Wird der besser sein gar keine Chance hätte. Wir diskutieren kraften, einen Doppelgänger zu haben. ohne den ganzen Reproduktionsdruck? über Sterbehilfe und plädieren dafür, bei Was mir aber wirkliche Angst bereitet, ist Djerassi: Für den gilt noch immer die Weis- Koma-Patienten die Geräte abzuschalten. die Vorstellung eines verrückten Men- heit: Der großartigste und lustvollste Sex ist Wir argumentieren, dass diese Patienten schen, der sich 50- oder meinetwegen auch der, bei dem man den Partner liebt. nicht mehr in der Lage sind, ihren freien 10000-fach klont. Der Schaden für die ge- Interview: Katja Thimm, Gerald Traufetter

212 der spiegel 48/2000 Werbeseite

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Werbeseite Titel FOTOS: R. FROMMANN R. FROMMANN FOTOS: Firmensitz der Cryos-Samenbank in Aarhus: Mit zwei Millionen Mark gegen Diebstahl versichert

BEFRUCHTUNG BLONDER NACHSCHUB Die dänische Universitätsstadt Aarhus wurde zu einem Zentrum des globalen Spermahandels. Das dort ansässige Unternehmen Cryos exportiert Spendersamen in 30 Länder der Erde und hat schon über 4000 Kindern zu ihrer Existenz verholfen.

as Firmenlogo zeigt zwei Spermien, Student der Betriebswirtschaft eines Mor- nahm Kontakt zu erfahrenen dänischen zu lustigen Smiley-Gesichtern ver- gens mit „einem lustigen Traumbild im Fortpflanzungsmedizinern auf und analy- Dfremdet: „Wir halten den Klapper- Kopf aufgewacht“, auf das er sich „keinen sierte den weltweiten Spermamarkt. Der storch auf Trab.“ Reim“ machen konnte: Hunderttausende Markt weitete sich vor allem in den Verei- Das Motto ziert den weltgrößten Sper- von Spermien, bewegungslos eingefroren nigten Staaten aus, wo Anfang der achtzi- mienlieferanten, die im dänischen Aarhus in dicken Eisblöcken, waren ihm im Schlaf ger Jahre zwei zentrale Samenbanken ge- ansässige Cryos International Sperm Bank erschienen. gründet wurden. Ltd. Dem Dienstleistungsunternehmen mit Noch am selben Morgen ging Schou in Versehen mit einem Darlehen seiner der Firmenbezeichnung „Biologischer De- die Kopenhagener Staatsbibliothek und Mutter in Höhe von umgerechnet 25000 ponierungsservice“ verdanken mehr als erbat, verschämt und „mit roten Ohren“, Mark, gründete Schou 1990 die Cryos Sa- 4000 im letzten Jahrzehnt geborene Kinder wie er sich heute erinnert, von einer menbank. Zur Erstausstattung gehörten ihre Existenz. „schönen Bibliothekarin alles, ein Mikroskop, eine Apotheker- Die meisten von ihnen, etwa 2500, ka- was zum Thema gefrorener Sa- waage, eine Tiefkühltrommel men in Dänemark zur Welt, der Rest in men vorrätig war“. Ein rigoroser zur Einlagerung von Sperma bei weiteren 30 Staaten, darunter Australien Während seine Kommilitonen Eignungstest minus 196 Grad Celsius in flüs- und Nordamerika, Island, Singapur und in ihrer Freizeit Fußball oder sigem Stickstoff und jede Men- Uruguay. Auch nach Dubai exportiert Tischtennis spielten, erkor BWL- der Spender ge Strohhalme aus Plastik, in Cryos, allerdings im Geheimen, weil im Student Schou das bizarr anmu- sichert durch- die der Spendersamen aufgezo- arabischen Emirat dem Inseminator – dem tende Gefrierthema zu seinem gen wird. Arzt, der das Sperma an den Bestim- Hobby, das er nach dem Examen gehend hohe „Ich hatte in einer Marktni- mungsort bringt – die Todesstrafe droht. – und nach Jobs als Motorrad- Qualität des sche einen Volltreffer gelandet“, Herr über den globalen Schwanger- verkäufer und Industrieberater – erinnert sich Schou. Schon am schaftsdienst ist Firmengründer Ole Schou. zum, wie er findet, „schönsten Spermas ersten Geschäftstag erschienen Vor mehr als zwei Jahrzehnten war er als Beruf der Welt“ ausbaute. Schou zehn Aarhuser Studenten in

216 der spiegel 48/2000 Tiefgekühlte Samenspenden bei Cryos: Gelbe Halme für farbige Spender dem damals nur neun Quadratmeter tät) der Samenfäden bewertet. Danach wird großen Cryos-Büro, mit der Absicht die Spende für kurze Zeit im Cryotank ein- „schnell und ohne große Mühe ihr Ta- „Ich habe in einer Marktnische gefroren, was erfahrungsgemäß nur etwa schengeld aufzubessern“ (Schou). Die 40 Prozent der Samenzellen überstehen. Spendewilligen erhielten vom Firmenchef einen Volltreffer gelandet“ Die aufgetaute Probe wird erneut aus- ein filmdosengroßes Behältnis und wurden gezählt und bewertet; enthält sie mindes- zur Toilette auf dem Flur gewiesen. tens 25 Millionen bewegliche Spermien pro Heute misst das Cryos-Hauptquartier, Milliliter, hat der Kandidat „die Eingangs- in einem renovierten Lagerhaus in der Aar- prüfung bestanden“ (Schou). Es folgt eine huser Altstadt, 240 Quadratmeter. „Gemüt- eingehende medizinische Untersuchung, lich“ nennt Schou das Ambiente mit Par- HIV-Test inklusive. kettboden, sanften Wandfarben, dimm- Im Gespräch mit einem Psychologen baren Deckenleuchten und bequemem Ge- muss der Spender die Motive seiner stühl im Wartebereich. Dienstleistung darlegen, und er wird auf Stehlampe und Grünpflanze zieren den die Probleme hingewiesen, die seine Frau Masturbationsraum mit einer über der Tür oder Freundin möglicherweise damit ha- angebrachten roten Besetzt-Leuchte. Die ben werde, „dass ihr Partner nebenbei Va- mit einer Papierbahn bedeckte schmale ter Dutzender von Kindern sein kann“, blaue Plastikliege aus dem Behandlungs- wie der Firmenchef erläutert. zimmer einer medizinischen Praxis, die Entsprechend dänischen Rechtsvor- umherliegenden Pornomagazine und das schriften muss jeder Bewerber schriftlich Gerät zum Abspielen von Hardcorevideos versichern, dass er weder homosexuell dienen auf sachliche Weise dem Zweck des noch drogensüchtig ist. Nur jeder Zehnte Unternehmens. übersteht am Ende das Ausleseverfahren. Mehr als 200 junge Männer, die meisten Gleichwohl ist die Spermadeponie von von ihnen in der Altersgruppe zwischen Aarhus bislang nie in Lieferschwierigkeiten 24 und 28 Jahren, gehören zum festen geraten. Spenderstamm von Cryos; gemeinsames Als Hauptgrund nennt Schou – neben Merkmal, so Schou, sei „die durchgehend dem traditionell chronischen Geldman- hohe Qualität ihres Spermas“. gel aller Studenten – die „totale Anony- Um den Standard zu sichern, hat Schou mität, die wir jedem unserer Lieferanten ein rigoroses Ausleseverfahren entwickelt. zusichern“. Kein Spender wird namentlich Der potenzielle Spender liefert bei seinem erfasst. Er identifiziert sich jeweils nur ersten Besuch eine Samenprobe ab. Sie durch eine Ausweiskarte mit Passfoto und wird gewogen (Durchschnittsgewicht: drei Pin-Code. Gramm), sodann wird unter dem Mikro- Ole Schou, 46, Gründer der Spermabank Unter dieser Personennummer finden skop die Spermienmenge ausgezählt und in Aarhus sich in der Cryos-Kartei jene Spenderda- die „zielgerichtete Beweglichkeit“ (Motili- ten, die bei jeder Lieferung dem Empfän-

der spiegel 48/2000 217 Werbeseite

Werbeseite Titel

Spermaprüfung, Masturbationsraum bei Cryos „Gemütliches Ambiente“ FOTOS: R. FROMMANN FOTOS: ger mitgeteilt werden. Dazu gehören An- gen und Odense tiefgekühlt auf Lager. Mit Am weltweiten Boom mit Spermaspen- gaben über Augen- und Haarfarbe, Größe, zwei Millionen Mark ist das wertvolle Ge- den (geschätztes Exportvolumen: rund 100 Gewicht und Blutgruppe und die ethni- friergut derzeit gegen Verderben und Dieb- Millionen Dollar) will der dänische Spe- sche Zugehörigkeit des Spenders. Um stahl versichert. zialist kräftig mitverdienen. Sein Firmen- Überraschungen oder Verwechslungen Umgerechnet 65 Mark erhält der ziel: „Ich möchte mit Cryos zum McDo- vorzubeugen, wird das Sperma nicht- Spender für jedes Ejakulat, das im Durch- nald’s der Sperma-Branche werden.“ weißer Spender in gelbe Halme abgefüllt. schnitt dazu ausreicht, sechs Hal- Nach dem Franchise-Konzept Verweigert wird jede Auskunft über den me zu füllen. Für die erfolgreiche der amerikanischen Fleisch- Intelligenzquotienten der Spender, nach Einleitung einer künstlichen „Mit Cryos klopskette will Schou die Welt dem beispielsweise amerikanische Kunden, Schwangerschaft sind – je nach möchte ich mit einem Netz von Cryos-Sa- so Schou, „immer als erstes fragen“. Die gewählter Befruchtungsmethode zu einem menbanken überziehen. Als mit Cryos-Hilfe gezeugten Kinder sollten – zwischen einem und sechs Standort der ersten Filiale bö- „nicht besser und nicht schlechter werden“ Spermahalme nötig; jeder Halm McDonald’s ten sich die USA an: Dort, auf als konventionell gezeugte Nachkommen. kostet 130 Mark. Der Versand in der Sperma- dem weltgrößten Spermamarkt, Positive Eugenik, wie sie im amerikani- erfolgt in Spezialbehältern, die werde der Handel mit Samen- schen Befruchtungsbusiness betrieben mit flüssigem Stickstoff oder Tro- branche zellen besonders freizügig be- wird, lehnt Schou ab. ckeneis gekühlt werden. Kun- werden“ trieben. Insgesamt 40000 Halme mit Sperma der den in „zivilisierten Ländern“ Vor allem aber hat Schou „im Qualität „Standard“ (20 bis 25 Millionen (Schou) werden innerhalb von amerikanischen Mischmasch der motiler Zellen pro Milliliter) und „Extra“ 48 Stunden beliefert, zu „entlegenen Rassen“ eine Bedarfslücke ausgemacht: (40 Millionen Zellen) hält das Unterneh- Destinationen“ sei die kühle Fracht aus „Die Nachfrage nach Sperma von blonden men in seiner Aarhuser Zentrale und bei Aarhus höchstens einen Tag länger unter- und blauäuigen Spendern aus Nordeuropa den Cryos-Niederlassungen in Kopenha- wegs. ist dort groß.“ Rainer Paul

IM NÄCHSTEN HEFT: • 9.3. Lebenspläne für morgen

Gesellschaft: Was kommt nach der Kleinfamilie? Essay: Langes Leben bringt Verdruss SPIEGEL-Gespräch: Ethnologe Hans Peter Duerr über soziale Kälte

Sport: Wie Adidas die Zukunft plant FOTOARCHIV / DAS BABOVIC T. Großmutter, Enkel DIE KAPITEL IN DER ÜBERSICHT: 1. Medizin von morgen 2. Bevölkerungswachstum und knappe Ressourcen 3. Das Informationszeitalter 4. Planet Erde – gefährdeter Reichtum 5. Die Zukunft der Wirtschaft 6. Technik: Werkstätten der Zukunft 7. Globale Politik 8. Die Zukunft der Kultur 9. Künftige Lebenswelten 10. Die Grenzen der Erkenntnis

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Werbeseite Panorama Ausland

KOSOVO Angriff in der Pufferzone ie um ihre Unabhängigkeit Dkämpfenden Kosovo-Albaner fürchten, dass sie der Sturz des Serbendespoten Slobodan Milo- ∆eviƒ am 6. Oktober in eine poli- tische Sackgasse katapultiert hat. Alle Versuche, den neuen jugosla- wischen Präsidenten Vojislav Ko∆tunica als nationalistische Ko- pie seines Vorgängers zu diffa- mieren und ein Treffen mit ihm zu vermeiden, stoßen bei der in-

ternationalen Gemeinschaft auf DPA wenig Verständnis. Der ehemali- Von einer Bombe zerstörter Sitz des jugoslawischen Vertreters in Pri∆tina ge UÇK-Kommandant Hashim Thaçi, dessen Partei bei den Kommunalwahlen eine schwere Südserbien geortet zu haben (was Kfor-Sprecher Mark Whitty Niederlage gegenüber dem gemäßigten Albanerführer Ibrahim dementierte), waren zudem schwer bewaffnete Kämpfer der Rugova einstecken musste, will nun die Notwendigkeit des be- „Befreiungsarmee von Pre∆evo, Bujanovac und Medvedja“ in waffneten Befreiungskampfes erneut unter Beweis stellen. Ein südserbisches Territorium eingedrungen. Bei dem Angriff auf böses Signal: Vorigen Donnerstag starb Rugovas Chefberater eine Polizeistation in Koªculj wurden 4 serbische Polizisten Xhmail Mustafa in Pri∆tina nach einem Attentat. Einen Tag zu- getötet und 13 verletzt. Kfor-Soldaten beschlagnahmten dar- vor hatten Unbekannte das Haus des jugoslawischen Vertreters aufhin Raketenwerfer, Maschinengewehre und Munition. Prä- in Pri∆tina zerstört. Mit der Begründung, „Bewegungen der ju- sident Vojislav Ko∆tunica zeigte sich in einem Brief an Nato-Ge- goslawischen Armee“ in der Pufferzone zwischen Kosovo und neralsekretär Robertson enttäuscht, „dass trotz des Sieges der Demokratie in Serbien die Internationale Ge- meinschaft ihre Pflichten nicht erfüllt“. Freitag- abend stellte die serbische Regierung der Kfor ein dreitägiges Ultimatum: Die Friedenstruppe müsse die Übergriffe militanter Albaner in der Grenzzone auf jeden Fall eindämmen – an- dernfalls würde Polizei in das Gebiet einrücken. „Sollten wir zwischen der Achtung der Uno- Kosovo-Resolution und dem Schutz unseres Ter- ritoriums sowie unserer Bürger wählen müssen, werden wir uns für Letzteres entscheiden“, sagt Oppositionsführer Zoran Djindjiƒ, der sich bei AFP / DPA REUTERS den Dezemberwahlen in Serbien um den Posten Haus des ermordeten Rugova-Beraters nach dem Attentat, Opfer Mustafa des Premierministers bewirbt.

TSCHETSCHENIEN zugespielt, sieht seinen liner wie General Gen- eigenen Rücktritt als nadij Troschew wollen Vage Friedenssignale Tschetschenen-Präsident Gespräche mit Mas- vor. Eine Kompromissfi- chadow nicht mehr räsident Aslan Maschadow hat dem gur, die von beiden Sei- ausschließen. Der Re- PKreml aus dem kaukasischen Unter- ten akzeptiert wird, soll bellen-Präsident, so grund ein detailliertes Verhandlungsan- dann freie Wahlen, eine Troschew, sei zwar gebot zukommen lassen. Die Zeit Autonomie Tschetsche- „zweifellos ein Feind“. scheint günstig für Friedenssondierun- niens innerhalb Russ- Doch habe er während gen: Auch Präsident Wladimir Putin lands und eine Ankurbe- des ersten Tsche-

gab seinen Militärs vorige Woche zu lung Moskauer Wieder- REUTERS tschenienkrieges bei verstehen, über den „formalen Status aufbauhilfe organisie- Rebellenpräsident Maschadow gegenseitigen Abma- der Tschetschenischen Republik“ lasse ren. Im Gegenzug wür- chungen stets „Wort Moskau mit sich reden. Maschadows den sich die Tschetschenen zu Maßnah- gehalten“ und „den Mut gehabt, Ver- Stufen-Szenario zur Beendigung des men gegen islamische Extremisten handlungen über die Beendigung des Krieges, dem russischen Sicherheitsrat verpflichten. Selbst militärische Hard- Krieges anzubieten“.

der spiegel 48/2000 223 Panorama

PORTUGAL Großzügige AFGHANISTAN Verjährung Koalition für Vergeltungsschlag ach einer Entscheidung des Obers- ie USA drängen Russland und seine Verbündeten in Zentralasien zu gemeinsamen Nten Gerichtshofs wurden mit einem DLuftschlägen gegen Ausbildungslager des Terroristen Ussama Ibn Ladin. Das Bom- Federstrich mehr als 45000 Prozesse bardement der „Banditen-Höhlen“ in Afghanistan soll Vergeltung für den Anschlag auf niedergeschlagen, die in den letzten den US-Zerstörer „Cole“ sein, bei dem am 12. Oktober im jemenitischen Aden 17 Ma- fünf Jahren eröffnet worden waren. Das trosen starben. Das Pentagon hat mehrere Trainingslager in der Nähe der nordafghani- Gericht befand, dass Vernehmungen schen Städte Masar-i-Scharif, Kundus und Taloqan ausgemacht – der Angeklagten keine aufschiebende sie befinden sich alle unter Kontrolle der Taliban. Vergebens hat- Terrorist Ibn Ladin Wirkung bei der Verjährung haben. Da die Justizmühlen in Portugal besonders mögliche Luftangriffe langsam mahlen, erfahren nun auch die auf Terroristen-Lager Taschkent KIRGISIEN Beschuldigten zahlreicher Aufsehen in Afghanistan erregender Korruptionsskandale, die in der Zeit der konservativen Regierungen unter Aníbal Cavaco Silva zwischen USBEKISTAN CHINA 1985 und 1995 ruchbar wurden, eine Art TADSCHIKISTAN Amnestie. Kritiker halten die Mega-Ab- TURK- solution durchaus für keinen Zufall – MENI- Duschanbe die Parteifreunde der Begünstigten hät- STAN ten es bei ihrer Strafprozess-Reform Termes 1988 unterlassen, Verjährungen zu ver- Masar-i- hindern. Zu den nunmehr begrabenen Scharif Kundus Fällen gehört der möglicherweise betrü- Taloqan gerische Bankrott der Sparkasse CEF im Jahr 1986, bei dem Tausende Sparer CHINA ihre Einlagen verloren. Auch der Miss- AFGHANISTAN brauch der Zuwendungen aus dem Eu- INDIEN ropäischen Sozialfonds, die für die Be- 200 km Kabul DPA

KANADA damals in der Mainmetropole schnellt die Anzahl der Drogentoten in und um Neuer Umgang Vancouver steil nach oben – Jenny Kwan, Ministerin für kommunale Ent- mit Süchtigen wicklung von British Columbia, regi- strierte einen Anstieg der Todesfälle ine radikale Kehrtwende in der Dro- aufgrund von Überdosierung um „mehr Egenpolitik geht auf einen deutschen als 700 Prozent“ seit 1990. Anstatt Jun- Berater zurück. Vergangene Woche ver- kies wie bisher als Kriminelle zu behan- kündete der Oberbürgermeister der ka- deln, will Vancouver nach dem Vorbild nadischen Metropole Vancouver einen von Frankfurt versuchen, die Süchtigen 31-Punkte-Plan, um das Drogenproblem aus dem Elend der Szene herauszulösen in der 600000-Einwohner-Stadt an der – mit Fixerstuben, szenenahen Kran- Westküste zu bekämpfen. Die Provinz kenstationen und kontrollierter Vergabe British Columbia unterstützt das Vorha- von Heroin an Süchtige.

AP ben, mit dem sich Vancouver als ers- Ex-Premier Silva te Großstadt Nordamerikas vom US- amerikanischen Konzept des „Krie- rufsausbildung bestimmt waren, bleibt ges gegen Drogen“ verabschiedet ungesühnt. Im Fall der fahrlässigen Tö- und sich nun am so genannten tung zweier Kinder, die vor sieben Jah- Frankfurter Weg orientiert: Hilfe für ren in einem Freizeitpark von den Was- Süchtige, Verfolgung der Dealer. serrohren eines Schwimmbads einge- Vorbereitet wurde die Wende vor al- saugt worden waren, haben die seit lan- lem durch den langjährigen Leiter gem auf Entschädigung wartenden El- des Drogenreferats von Frankfurt tern jetzt den Europäischen Gerichtshof am Main, Werner Schneider. „Die für Menschenrechte angerufen. Der soll gewaltigen Probleme, die Vancouver den portugiesischen Staat anklagen, heute hat, sind denen in Frankfurt

weil er keine fristgerechten Urteile si- zu Beginn des letzten Jahrzehnts B. MOSS cherstellen kann. ganz ähnlich“, sagt Schneider. Wie Drogenszene im Zentrum von Vancouver

224 der spiegel 48/2000 Ausland

BÜCHER te der US-Botschafter in Pakistan versucht, die Gotteskrieger mit Lockangeboten zur Aus- lieferung Ibn Ladins zu bewegen. Nun sollen die Waffen sprechen. Wasserfolter Die Ex-Sowjetrepubliken Usbekistan, Kasachstan und Kirgisien haben offenbar Hilfe zugesagt – in der Hoffnung, ein Militärschlag werde gleichzeitig Islamisten aus den in der Hofburg eigenen Reihen einschüchtern, die ebenfalls in Afghanistan ausgebildet werden und von dort aus Überfälle Richtung Usbekistan und Kirgisien starten. Usbekistan könnte ameri- eit Wolfgang Schüssel sein Credo kanischen Flugzeugen Basen bei Taschkent und in der Grenzstadt Termes bereitstellen. Svon Österreich als erstem Opfer der Soldaten aus den drei zentralasiatischen Staaten werden derzeit bereits in den US- Nazi-Diktatur offenbart hat – um dann Bundesstaaten Montana und Alaska trainiert. Russland schweigt noch zu den amerika- hinzuzufügen, die eigenen Landsleute nischen Plänen, droht aber seinerseits Kabul schon mit Vergeltung – im Zuge der Taliban- hätten auch Schuld auf sich geladen –, Offensive gegen die Opposition explodieren zunehmend Granaten und Minen auf steht das Geschichtsbild des Bundes- dem von Russen bewachten Territorium Tadschikistans. Nach Auskunft von Experten kanzlers zur Diskussion. Ein Aspekt könnte Moskau sich mit blieb dabei bislang den strategischen Bom- unbeachtet: Schüs- bern Tu-96 und Tu-160 sels Vater war un- an einem Luftschlag ter Mitgliedsnum- beteiligen. Einschlägige mer 1085856 be- Erfahrungen liegen aus reits ab 1932 in der der Zeit der Sowjet- NSDAP. Der Invasion in Afghanis- Sportjournalist tan vor. Damals hatte Ludwig Schüssel ein Bomberregiment un- galt laut Gauakte ter Befehl des späteren als „Anführer der tschetschenischen Präsi- Illegalen“ in seiner denten Dschochar Duda- Redaktion, also als jew die Mudschahidin im Aktivist der verbo- Pandschir-Tal attackiert – tenen Nazi-Partei. Am Tag des deut- freilich nicht besonders schen Einmarsches erschien er Zeugen

AP zielgenau. zufolge „mit Hakenkreuzbinde im Be- trieb und begann zu säubern“. Das bis- Beschädigter US-Zerstö- her unbekannte Kapitel aus der Fami- rer „Cole“ in Aden liengeschichte des Regierungschefs hat der Wiener Journalist Joachim Riedl in seinem biografischen Essay „Der Wen- de-Kanzler“ verewigt*. Riedl leitet aus seiner Trouvaille die Frage ab, warum SCHWEIZ Schüssel junior sein braunes Erbteil spä- ter nicht als Auftrag verstanden habe – Opfer müssen warten in dem Sinne, die Finger von einer Koalition mit Jörg Haider zu lassen – ehr als zwei Jahre nach dem und tippt mutig auf Milieuschädigung. MVergleich der Schweizer Ban- Riedls Essay hat Stärken da, wo Wegge- ken mit jüdischen Organisationen fährten den Aufstieg des „kleinen Prin- sollen die Holocaust-Entschädigun- zen“ Schüssel zum machtbewussten gen endlich ausgezahlt werden. Principe skizzieren, zum Großmeister Experten warnen jedoch, das kom- der „chinesischen Wasserfolter“. plizierte und kostspielige Vertei- Kaltschnäuzigkeit gepaart mit Zocker-

lungsverfahren werde fünf bis zehn AP blut, dafür steht Schüssel spätestens, Jahre dauern – für viele der hoch- NS-Opfer vor New Yorker Gericht seit er 1994 die verfahrenen EU-Bei- betagten Nazi-Opfer sicher zu lang. trittsverhandlungen zum Erfolg führte. Andere NS-Verfolgte und deren An- Dollar für Personen vorgesehen, die Und endgültig, seit er den laut Riedl gehörige fürchten zudem, dass die für selbst oder deren Angehörige einst ein von Helmut Kohl erteilten kamerad- sie bestimmte Summe zu gering ausfal- Konto bei Schweizer Banken eröffnet schaftlichen Rat zum Bruch mit den len könnte. Bisher ist – bis auf einen hatten – nach dem Krieg behielten viele Roten beherzigt und mit Haider eine Bruchteil – keinerlei Entschädigung an Institute Gelder der NS-Opfer ein. Die Koalition gebildet hat. Unter dem die Zehntausenden Berechtigten gezahlt restlichen 450 Millionen Dollar aus dem Druck, bis hin zur laufenden Spitzel- worden. Das Geld, insgesamt handelt es Banken-Vergleich sollen NS-Zwangsar- Affäre alles im Buch unterbringen zu sich um 1,25 Milliarden Dollar der beitern, Flüchtlingen und bedürftigen müssen, ächzt das sprachliche Gebälk Großbanken UBS und Credit Suisse, Nazi-Opfern in Osteuropa zugute kom- des Essays. Der zentrale Befund über liege „noch auf einem Sperrkonto“, be- men. Nichtjüdische Verfolgte des NS- Schüssel aber ist unmissverständlich: tont der Exekutivdirektor des Jüdischen Regimes wie Sinti und Roma oder Zeu- Fast allen seinen Gegnern „fühlte er Weltkongresses (WJC), Elan Steinberg: gen Jehovas beklagen jetzt, nicht genü- sich überlegen – und war es zumeist „Der WJC hat davon keinen einzigen gend berücksichtigt zu werden. Auch auch tatsächlich“. Dollar erhalten.“ Der New Yorker Rich- die krassen Forderungen verschiedener ter Edward Korman, der für die Vertei- Opfer-Anwälte nach Honoraren in Mil- * Joachim Riedl: „Der Wende-Kanzler“. Czernin Verlag, lung zuständig ist, hat 800 Millionen lionenhöhe lösten Verbitterung aus. Wien; 112 Seiten; 28,50 Mark.

der spiegel 48/2000 225 Ausland

NAHOST Vor dem Tor zur Hölle Vergeltung oder Verhandlungen? Nach den massiven Raketenschlägen der Israelis setzt Palästinenserführer Arafat auf internationale Hilfe. „Pufferzonen“ zwischen den erbitterten Gegnern sollen das Blutvergießen stoppen.

hr guter Wille wurde ihnen zum Ver- „Wir haben die ernste Sorge, dass der hängnis. Auch inmitten des umkämpf- Konflikt außer Kontrolle gerät“, formu- Iten Gaza-Streifens hatten die israeli- lierte US-Verteidigungsminister William schen Soldaten den Kontakt zu ihren pa- Cohen nach einem Treffen mit Barak di- lästinensischen Sicherheitspartnern nicht plomatisch seine Kritik. Anders als von kappen wollen. den Strategen des Premiers erwartet, Kaum war das Treffen im Verbindungs- dämmte die harte Faust des israelischen büro nahe der jüdischen Siedlung Newe De- Militärs den palästinensischen Aufstand kalim beendet, da explodierte ein Spreng- nicht ein, sondern stachelte ihn ganz satz. Ein Offizier starb, zwei Soldaten sowie offensichtlich weiter an. Uno-General- palästinensische Polizisten wurden verletzt. sekretär Kofi Annan, der im Oktober vol- Mit dem Bombenanschlag vom letzten ler Hoffnung zu vermitteln suchte, sprach Donnerstag sei, so ein Militärsprecher, der in New York tief niedergeschlagen von ei- letzte Rest von Vertrauen „weggesprengt“ nem „Kriegszustand“ im Nahen Osten. – weitere zwei Israelis und vier Palästinen- Könnte sich die Intifada, der Aufstand ser wurden Freitagnacht erschossen. der Palästinenser gegen die israelischen In der Tat schien es nach acht Wo- Besatzer und Siedler, doch zu einem neu- Autonomie-Präsident Arafat* chen von Terror und Gegenterror, als sei en Krieg ausweiten? Sollten die längst ab- Angriffe auf die Leibgarde die Gewalt nicht mehr aufzu- halten. Gleich zwei Anschläge hatten in den vergangenen sieben Tagen israelische Bus- se getroffen. Dabei starben 4 Menschen, über 70 wurden verletzt. Im gleichen Zeitraum töteten israelische Soldaten zahlreiche Palästinenser, dar- unter in einer gezielten Ak- tion vier mutmaßliche Fatah- Aktivisten. Israels Premier Ehud Barak holte nach dem ersten An- schlag zu massiven Vergel- tungsaktionen aus. Dutzende von Raketen zerstörten die Trainingsräume der persönli- chen Garde von Palästinen- serführer Jassir Arafat, schlu- gen in die Büros seiner Fatah ein und in die Gebäude paläs- tinensischer Rundfunkstatio-

nen, die aus israelischer Sicht DPA FOTOS: ihre Hörer aufhetzen. Gaza- Bombenanschlag in Hadera, Premierminister Barak*: „Den Tod in jede Stadt bringen“ Stadt fiel in Dunkelheit, unter der Bevölkerung breitete sich Panik aus. geschriebenen Hardliner unter den ara- Über hundert Menschen wurden verletzt. bischen Staaten mit ihren Forderun- Erstmals trafen die Raketen auch Ein- gen nach einem „Heiligen Krieg“ gegen richtungen der von Mohammed Dahlan ge- den verhassten Judenstaat wirklich noch leiteten „Präventiven Sicherheitskräfte“. Gehör finden? Oder können der innen- Dahlan galt bisher als enger Kooperations- politisch angeschlagene Barak und der partner. Nun wollen die Israelis „harte Ge- von militanten Islamisten bedrängte Ara- heimdienstinformationen“ besitzen, nach fat die Spirale der Gewalt wieder zurück- denen Dahlans Agenten etwa an dem An- drehen? schlag auf den Schulbus im Gaza-Streifen beteiligt waren. * Bei Krankenbesuchen verletzter Landsleute.

226 der spiegel 48/2000 Zum Wochenende zeichnete sich zu- Auch Russland, stets auf der Suche nach en die Luftangriffe der israelischen Armee mindest ein Hoffnungsschimmer ab. Arafat neuen Einflussmöglichkeiten, hatte bereits – die bisher schwersten seit Beginn der Un- wolle wieder verhandeln, richtete US- angedeutet, Soldaten für eine Friedens- ruhen – „nicht der richtige Weg“. Außenministerin Madeleine Albright den truppe bereitzuhalten. Am Freitag empfing Aufgeschreckt hat Amerikaner wie Is- Israelis nach einem Gespräch mit dem der russische Präsident Wladimir Putin den raelis auch der Protest der Ägypter, die als Palästinenser-Chef aus. In einem Telefo- Autonomie-Chef. Erster Erfolg: Putin ver- stärkste Verbündete für den Friedens- nat mit dem israelischen Außenminister mittelte ein Telefonat zwischen Arafat und prozess im arabischen Lager galten. Nach Schlomo Ben-Ami regte Albright „Puffer- Barak. den Raketen auf Gaza-Stadt zog Kairo sei- zonen“ in den Zentren der Unruhen an. Die Palästinenser fordern eine 2000 nen Botschafter aus Israel ab. Die Entsendung von Uno-Beobachtern, Mann starke Blauhelm-Einheit, „um unse- Mubaraks Entschlossenheit ist auch eine die immer mehr Vermittler als letzten Aus- re Zivilisten zu schützen“. Durch den Ap- Reaktion auf die beachtlichen Erfolge der weg ansehen, könnte den Weg aus der Kri- pell an die Weltorganisation möchte Ara- Islamisten bei den jüngsten Parlaments- se ebnen. „Die Uno muss uns schützen“, fat, der den USA zu große Parteilichkeit für wahlen. Überdies hatten Studenten in der verlangt Arafat (siehe Interview Seite 230). die Israelis vorwirft, den Friedensprozess ägyptischen Hauptstadt schon mehrmals In New York bemüht sich Annan derzeit auf eine internationale Ebene ausweiten. gegen Israel und auch gegen den Vermitt- um eine Friedensmission, der auch die Is- Die Israelis jedoch sehen eine solche lungskurs der eigenen Regierung demon- raelis zustimmen können. Mission als unzulässige Einmischung, die striert. Sämtliche Berufsvereinigungen des Neben Großbritannien und Norwegen ihre Souveränität einschränkt. Sie können Landes, und nicht nur das von der islamis- gilt vor allem Frankreich als Befürwor- sich Beobachter allenfalls nach einem Frie- tischen Muslimbruderschaft dominierte ter zumindest einer kleinen Zahl unbe- densabkommen mit den Palästinensern Ärztesyndikat, beschlossen, ein Wochen- waffneter Beobachter. Nach ihren ernüch- vorstellen. In der jetzigen Lage, so Baraks einkommen ihrer Mitglieder der Autono- ternden Erfahrungen mit den Kfor-Trup- Büroleiter Gilad Scher, würde damit nur mie-Regierung zu überweisen. pen im Kosovo sehen die Europäer in „die Gewalt der Palästinenser belohnt“. Auch Jordanien, das andere arabische einem Uno-Einsatz weniger ein konkretes Doch die Vergeltungspolitik – Auge um Land, mit dem Israel einen Friedensver- Instrument gegen die Gewalt als eine Mög- Auge, Wahn um Wahn – fällt immer deut- trag abgeschlossen hat, bemüht sich in- lichkeit zur Überwindung der politischen licher auf Israel selbst zurück. In un- zwischen um deutliche Distanz. Aus Pro- Blockade. gewöhnlich deutlicher Sprache warf das test bleibt der vakante Botschafterposten in US-Außenministerium dem israelischen Tel Aviv vorerst unbesetzt. Nur mit Mühe Umkämpfte Nachbarschaft Schützling erstmals „übermäßigen Mi- kann der junge König Abdullah in seinem Juden und Palästinenser litäreinsatz“ vor. Obgleich Washington den eigenen Land die teilweise gewalttätigen LIBANON Terroranschlag auf den israelischen Schul- Demonstrationen gegen Israel unter Kon- im Gaza-Streifen und im bus bei Kfar Darom scharf verurteile, sei- trolle halten. Der Herrscher muss auf die Westjordanland 2

1 GAZA-STREIFEN 2 WESTJORDANLAND palästinensische Zivil- 1 verwaltung, israelische jüdische Siedlungen jüdische Siedlungen Sicherheitshoheit 5 israelische Zivilverwaltung ISRAEL israelische Zivilverwaltung palästinensische und Sicherheitshoheit und Sicherheitshoheit Selbstverwaltung palästinensische Zivil- Grenzüber- verwaltung, israelische gang Erez Sicherheitshoheit, JORDANIEN Gaza- Nutzungsbeschänkung ÄGYPTEN 50 km Stadt Mittel- meer 4 palästinensische Sicher- heitshoheit, Nutzungs- Hadera WESTJORDANLAND beschänkung palästinensische Selbstverwaltung GAZA- STREIFEN Nablus ISRAEL Tel Aviv Kfar Darom 1

Mittelmeer 2 Panzer- Gewalttaten in der letzten Woche sperre Newe 1 MONTAG Gaza-Streifen: Anschlag auf einen Dekalim 6 Gusch Katif Schulbus nahe der Siedlung Kfar Darom Ramallah Chan 2 DIENSTAG Gaza-Streifen: Ein israelischer Jericho Junis Siedler wird bei Gusch Katif von einem Jerusalem JORDANIEN Palästinenser erschossen 3 ISRAEL Morag 3 MITTWOCH Gaza-Streifen: Israelische Armee erschießt vier Palästinenser in ihren Autos bei der Siedlung Morag Totes Meer Rafah 4 Israel: Anschlag auf einen Autobus in Hadera 5 DONNERSTAG Gaza-Streifen: Bei Erez wer- Hebron den ein Palästinenser und ein Israeli bei einer Schießerei getötet ÄGYPTEN 6 Gaza-Streifen: Anschlag auf israelisch- palästinensisches Verbindungsbüro bei 10 km Newe Dekalim 10 km

der spiegel 48/2000 227 A. BRUTMANN (li.); DPA (re.) (li.); DPA A. BRUTMANN Jüdische Siedler im Gaza-Streifen, palästinensische Kämpfer in Ramallah: Warnung aus Washington

Stimmung jenseits der Grenze schon um Guerrilla-Krieg der Palästinenser, versucht nenser nicht weit weg sind.“ Doch der des eigenen Machterhalts willen Rücksicht auch die liberale Zeitung „Haaretz“ zu Autonomiechef weiß auch: Wenn er die nehmen: Etwa 60 Prozent der Jordanier mäßigen, helfe „kein Blitzkrieg und keine Terroranschläge und die Schüsse seiner Fa- sind Palästinenser, die sich mit ihren Brü- schiere Militärmacht“. tah-Milizen auf israelische Soldaten und dern im Westjordanland und im Gaza- Doch sowohl Arafat als auch Barak ste- Zivilisten nicht stoppt, verliert er jede Streifen weitgehend solidarisieren. Die is- hen unter wachsendem Druck der Radika- internationale Unterstützung für seinen raelfeindliche Opposition setzt bereits Fir- len im eigenen Lager. Die islamistische Ha- Staat. men, die mit dem Judenstaat Geschäfte mas drohte in einem Flugblatt bereits da- Auf der anderen Seite gießen jüdische machen, offen auf eine schwarze Liste. Der mit, das „Tor zur Hölle“ zu öffnen: „Wir Hardliner ihrerseits Öl ins Feuer. Die isra- mächtige Vorsitzende des „Komitees zur haben geschworen, den Tod in jedes Haus, elische Rechte, angeführt von den Sied- Bekämpfung der Normalisierung mit Isra- jede Stadt, jede Siedlung zu bringen.“ lern, fordert immer lauter einen ver- el“, der Rechtsanwalt Salih al-Armuti, ver- Selbst Arafats Minister wie Hassan As- nichtenden Militärschlag. Zehntausende langt von der Regierung in Amman den fur feuern inzwischen die Gewalttäter an: demonstrierten vergangene Woche in Je- „Abbruch sämtlicher Beziehungen“. „Wenn Gaza so gut erreichbar ist für die rusalem gegen Barak unter dem Motto Vorläufiger Höhepunkt der Anti-Israel- israelischen Panzer, Kampfhubschrauber „Lass die Armee gewinnen“. Viele Israelis Kampagne: Vorvergangenen Sonntag wur- und Waffen, kann ich nur sagen, dass Je- meinen, die Armee gehe zu zögerlich vor. de der israelische Vizekonsul beschossen, rusalem und Tel Aviv auch für Palästi- Der innenpolitische Druck schränkt den als er vor seinem Haus in Amman gerade Spielraum des ohnehin angeschlagenen Pre- in sein Auto gestiegen war. miers weiter ein. Doch pikanterweise er- In der islamischen Welt schuf der ge- Arafats Waffen-Gewalt mutigt seine Regierung die rechten Natio- meinsame Wille, die Regierung Barak für Allgemeiner Sicherheitsdienst nalisten – indem sie Arafat als Friedens- ihre harten Reaktionen abzustrafen, selte- Dachorganisation der offiziellen partner bereits aufgegeben hat. „Unser ne Koalitionen. Die prowestliche Erdöl- palästinensischen Einheiten Nachbar ist das palästinensische Volk“, ver- monarchie Saudi-Arabien und die amerika- Nationale Sicherheitskräfte kündet Baraks Büroleiter Sher, „die paläs- feindliche Islamische Republik Iran prob- mehr als 14 000 Mann überwachen die Gren- tinensische Führung ist nicht willens oder in ten gegen Israel ebenso den Schulterschluss zen der palästinensischen Autonomiegebiete der Lage, sich mit uns zu verständigen.“ wie die Maghreb-Staaten Marokko und Al- und sind für die Sicherheit in den Städten ver- Während sich Palästinenser-Präsident gerien, die sich sonst über die Westsahara antwortlich Arafat derzeit von Kairo bis Moskau in- streiten. Polizei ternationaler Solidarität erfreut, wartet auf Auf den Gipfeln von Kairo und Katar über 10 000 Ordnungshüter Barak der nächste Tiefschlag: Die Opposi- vereinbarten die Teilnehmer zudem, ihre Allgemeiner Nachrichtendienst tion hat einen Antrag zur Auflösung der gerade langsam und mitunter auch noch etwa 3000 Agenten Knesset vorgelegt, der Israel einen Schritt klammheimlich angelaufenen Handelsbe- Präventive Sicherheitskräfte näher zu Neuwahlen bringen könnte. Noch ziehungen mit Israel wieder einzufrieren. fast 5000 Agenten nicht einmal die Stimmen der säkularen größter Geheimdienst der Palästinenser Immerhin hatten 13 der 21 Mitgliedstaaten Schinui-Partei sind Barak sicher. Küstenwache der Arabischen Liga schon entsprechende ungefähr 1000 Mann mit fünf mit Maschinen- Auch die anhaltenden Gespräche mit Kontakte eingefädelt. gewehren ausgerüsteten Motorbooten dem Hardliner Ariel Scharon über die Bil- Der internationale Druck auf Barak, vor dung einer Notstandsregierung blieben allem aus den USA, scheint Wirkung zu Zusätzliche Institutionen Ende vergangener Woche ergebnislos. zeigen. Nach dem verheerenden Bomben- unter Kontrolle Arafats Scharon beharrt darauf, dass er einer Re- anschlag am Mittwoch in Hadera, mitten Spezielle Sicherheitskräfte gierung nur beitrete, wenn Barak die beim im israelischen Kernland, beschloss das Si- streng abgeschirmte Sondertruppe zur Überwa- Gipfel von Camp David diskutierten Kom- cherheitskabinett erstmals keine sofortigen chung der anderen Geheimdienste, versorgt promisse aufkündige. Vergeltungsschläge. Arafat mit Hintergrundinformationen aus dem Wohin allerdings eine militärische Lö- Einige Minister plädieren inzwischen Behördenapparat sung führt, glaubt der Leiter des norwegi- dafür, den tödlichen Automatismus von Sicherheitsdienst des Präsidenten schen Ärzteteams im Gaza-Streifen zu wis- 3000 Gardisten (geschätzt) als Leibgarde Schlag und Gegenschlag zu durchbrechen. Arafats und hoher Funktionäre, werden auch zur sen, das seit Wochen in pausenlosem Ein- „Militärische Vergeltung bringt kein Ende Terrorismusbekämpfung eingesetzt satz die Opfer der israelischen Gummi- der Gewalt“, glaubt der Zentrums-Minister Flugbereitschaft mantelgeschosse behandelt: „Israel wird Amnon Lipkin-Schahak, der bereits mehr- kleine Sondereinheit mit fünf Hubschraubern sich noch zu Tode siegen.“ mals mit Arafat zusammentraf. Gegen den zur Personenbeförderung Dieter Bednarz, Annette Großbongardt

228 der spiegel 48/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland „Die Uno muss uns schützen“ Palästinenser-Präsident Jassir Arafat über die Spirale der Gewalt im Nahen Osten, die Bedingungen für ein Ende der Intifada und die Zukunft des Friedensprozesses

SPIEGEL: Seit Ihr israelischer Friedenspart- und die israelische Armee erschießt die ner Jizchak Rabin vor genau fünf Jahren Protestler. Die Zahlen sprechen doch für ermordet wurde, stockt der Friedenspro- sich: Wir haben bereits an die 300 palästi- zess. Jetzt geht er in Blut und Terror unter. nensische Todesopfer zu beklagen und vie- Sehen Sie tatenlos zu? le tausend Verletzte, die zum Teil durch Arafat: Was passiert ist doch nicht unsere die international geächteten Dumdum-Ge- Schuld. Israel greift unser Volk mit Panzern schosse zu Krüppeln wurden. Die Uno- und Raketen an und behauptet gleichzeitig, Hochkommissarin für Menschenrechte hat mit uns Frieden schließen zu wollen. Israel sich in diesen Tagen persönlich davon bombardiert unsere Städte und Dörfer, er- überzeugen können. Beinahe wäre sie da- mordet Kinder und Frauen und riegelt un- bei selber den israelischen Attacken zum sere Siedlungsgebiete mit Panzern ab. Die Opfer gefallen. israelische Regierung unterbindet die Ver- SPIEGEL: Premier Ehud Barak wirft Ihnen sorgung der Bevölkerung mit Nahrungs- vor, islamistische Gewalttäter der Hamas- mitteln und Medikamenten, verwehrt Hoch- Organisation freigelassen zu haben. schwangeren und Schwerverletzten die Ein- Arafat: Kein einziger Gewalttäter ist frei- lieferung in Krankenhäuser und will der gekommen. Das stimmt einfach nicht. Un- Welt gleichzeitig weismachen, dass es nichts sere Intifada ist und bleibt der friedliche, als Frieden im Sinn hat. Da bleibt zwangs- wenn auch energische Protest eines Volkes, Autonomie-Führer Arafat läufig nicht nur die Glaubwürdigkeit auf der das nicht länger um seine Rechte betrogen „Krieg ist keine Lösung“ Strecke, sondern auch der Friedensprozess. werden will. Doch die eskalierende Ag- SPIEGEL: Israel wiederum beschuldigt Sie gression der Israelis und die immer härte- Arafat: Das ist nicht zu fassen: Barak er- und vor allem die von Ihnen geleitete Fa- ren Abschnürungspraktiken dürfen nicht laubt dem israelischen Rechtsaußen Ariel tah-Organisation, Terroraktionen durch- länger hingenommen werden. Wir müssen Scharon einen provozierenden Besuch auf zuführen oder zumindest zu dulden. für unser Volk internationalen Schutz dem Vorhof der Aksa-Moschee in Jerusa- Arafat: Ich und die gesamte palästinensi- durch die Uno bekommen. Deshalb sollten lem, die jedem Muslim heilig ist – und sche Führung lehnen jeden Angriff auf Zi- im Auftrag des Weltsicherheitsrates Uno- dann wundert er sich über die Proteste vilisten ab. Und das nicht erst seit einigen Beobachter entsandt werden. Auch soll der Gläubigen in Palästina und der gan- Tagen, sondern von Anfang an. Es sind eine internationale Kommission die Ursa- zen islamischen Welt. Damit nicht genug, doch die israelischen Siedler und Soldaten, che der Unruhen untersuchen. lässt Barak auch noch scharf schießen und die gezielt auf palästinensische Zivilisten SPIEGEL: Die israelische Regierung ist vom glaubt, dass wir dann nach seiner Pfeife schießen. Von dem Territorium, das wir Ausmaß der Intifada ziemlich überrascht. tanzen. kontrollieren, das habe ich im- mer wieder betont, dürfen kei- Intifada-Aktivisten auf der Flucht vor israelischen Gegenangriffen: „Unmenschliche Hetzjagd“ ne Schüsse abgefeuert werden. SPIEGEL: Dennoch ist es passiert – und nicht nur einmal. Arafat: Vergessen Sie nicht, dass die Umstände der Aktio- nen noch ungeklärt sind. Es liegt doch auf der Hand, und jeder neutrale Zeuge bestätigt es, dass es sich hier keineswegs um einen Schlagabtausch zwi- schen gleich starken Armeen handelt. Wir sehen eine un- menschliche Hetzjagd der Isra- elis auf unbewaffnete Palästi- nenser, die im Grunde nur Stei- ne werfen. SPIEGEL: Nun verharmlosen Sie aber den palästinensischen Wi- derstand. Arafat: Zumindest herrscht keinerlei Gleichwertigkeit. Das palästinensische Volk protes- tiert friedlich gegen die nicht

enden wollende Besatzung, REUTERS FOTOS: 230 SPIEGEL: Wenn Sie die Intifada einstellen, könnten Sie damit auch den Friedensge- sprächen eine neue Chance geben. Arafat: Es ist falsch, die Steine werfenden Palästinenser, die gegen eine rücksichtslos vorgehende Besatzungsmacht demonstrie- ren, als gefährliche Friedensfeinde einzu- stufen, wie Barak das tut. In unseren Au- gen sind die Jugendlichen eher mit den Freiheitskämpfern der französischen Ré- sistance vergleichbar. Und die werden als Helden gefeiert, obwohl sie Schlimmeres getan haben, als mit Steinen zu werfen. SPIEGEL: Aus Solidarität mit dem palästi- nensischen Volk hat Ägypten seinen Bot- schafter in Tel Aviv bis auf weiteres nach Kairo zurückbeordert. Jordanien weigert sich, einen neuen Botschafter nach Israel zu entsenden. Erwarten Sie noch schärfe- re Maßnahmen Ihrer arabischen Bruder- länder? Arafat: Das ist den Verantwortlichen in Kairo und Amman überlassen, doch die Aktionen zielen in die richtige Richtung. Israel muss erkennen, dass es sich nicht alles erlauben kann, ohne in irgendeiner Form zur Rechenschaft gezogen zu werden. SPIEGEL: Wie lange wird die Intifada noch weitergehen? Arafat: Die Intifada ist von mir nicht anbe- fohlen worden, sondern eine spontane Re- aktion unseres Volkes auf eine ganze Ket- te von Enttäuschungen und Demütigungen durch die israelischen Besatzer. Wie lange die Intifada noch anhält, hängt davon ab, wie sich Israel uns gegenüber verhält. SPIEGEL: Welche Forderungen stellen Sie an Ehud Barak? Arafat: Barak soll das in die Tat umsetzen, wozu er und seine Vorgänger sich in den mit uns getroffenen Vereinbarungen ver- pflichtet haben. Das wäre schon ein großer Schritt. Außerdem muss Barak die Ag- gression gegen uns beenden und die Belagerung der paläs- tinensischen Städte und Land- gemeinden aufheben. Natür- lich muss die Regierung auch den Siedlungsbau stoppen, worauf ich mich mit Jizchak Rabin schon vor fünf Jahren geeinigt hatte. SPIEGEL: Glauben Sie wirklich noch an die Möglichkeit eines Friedens nach all den Strömen von Blut? Arafat: Wir haben alle keine Al- ternative. Krieg und Gewalt, Panzer und Raketen, die Ver- wüstung von Ackerland und Olivenhainen sowie das stän- dige Hinausschieben von längst getroffenen Vereinbarungen lö- sen das Palästinaproblem nicht. Die Israelis sollten endlich den Mut haben, den Frieden zu wagen. Interview: Volkhard Windfuhr

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„könnten wir auf eine Verfassungskrise zu- schlittern“, glaubt Frank Wu, Rechts- USA professor an der Howard Universität in Washington. „Jetzt soll das höchste Ge- richt des Landes die Rolle übernehmen, Krieg im Kongress die eigentlich dem Wähler zugedacht ist.“ Während die Demokraten nach wie vor Nach Klagen und Gegenklagen der Parteijuristen droht im Streit Schwierigkeiten damit haben, dass ihr Kan- didat im Wahlmännergremium verlieren um den Einzug ins Weiße Haus eine Verfassungskrise. könnte, obwohl er landesweit die Stim- Keiner der Kontrahenten will sich dem Ergebnis von Florida fügen. menmehrheit erhielt, unterstellen die Re- publikaner ihren Gegnern den ür Touristen tut der Sonnenstaat al- Versuch, das Wahlergebnis im les: Seit im Hurrikan-Zentrum von entscheidenden Bundesstaat Flo- FPalm Beach die Handauszählung der rida nachträglich zu verändern. Stimmkarten vom 7. November begonnen „Die Demokraten führen ei- hat, bietet die Kreisverwaltung geführte nen Krieg gegen faire, freie Touren an: Bis zu sechsmal am Tag dürfen Wahlen“, behauptet etwa Tom je 15 Besucher, darunter viele aus Übersee, DeLay, Fraktionsgeschäftsführer „Demokratie vor Ort“ erleben. Die War- der Republikaner im US-Reprä- tezeit beträgt – wie bei besseren Disney- sentantenhaus. Seine Partei- Attraktionen – bis zu drei Stunden. freunde betrachten das Urteil der Zuweilen bekamen die Gäste allerdings Richter von Tallahassee – die, bis mehr zu sehen als Zähler, die Wahlkarten auf einen, ihr Amt noch einem gegen das Licht halten. Sie konnten empör- Gouverneur der Demokraten ten Republikanern zuhören, die den Wahl- verdanken – als kaum verhüllte vorstand des Stimmenklaus beschuldigten, Aufforderung zur Stimmenmani- oder Anwälten, welche die sofortige Un- pulation. Denn die Entscheidung

terbrechung der Zählung verlangten. Zu- REUTERS über die Wertung nicht korrekt weilen mussten in Palm Beach, wo bis zum Demokrat Gore, Ehefrau Tipper*: Truthähne verteilt ausgestanzter Stimmkarten liegt Wochenanfang Amerikas nächster Präsi- nun bei den lokalen Wahl- dent ermittelt werden sollte, Sheriffs die Baker, das einstimmige Urteil als „par- ausschüssen – und die sind mehrheitlich Sicherheit der Wahlhelfer garantieren. teiische Entscheidung eines voreingenom- von Demokraten besetzt. Denn obgleich sich die Amerikaner noch menen Gerichts“. Doch die Angriffe auf Al Gore und sei- immer über das Wahlchaos von Florida Verbittert zogen die Republikaner vor ne Demokraten schießen über jedes Maß amüsieren (siehe Kasten Seite 236), ist zwi- die höchste juristische Instanz des Landes, hinaus. „Die Clinton-Gore-Ära gipfelt in schen den Parteien ein Streit von einer das Oberste Bundesgericht in Washington. einer Wahl so befleckt wie das blaue Kleid“, Schärfe entbrannt wie zuletzt während des Ihr Vorwurf: Die chaotische Nachzählung schimpfte Kolumnist George Will in An- gescheiterten Versuchs, Präsident Bill Clin- in wenigen, mehrheitlich demokratischen spielung auf das legendäre Beweisstück in ton des Amtes zu entheben. Wahlbezirken Floridas habe das Recht der der Lewinsky-Affäre des Noch-Präsiden- Kaum hatten die sieben Richter am Bürger auf Gleichbehandlung verletzt. ten. Schon im vorhinein gilt es, den mögli- Obersten Gerichtshof von Florida die Mit dem Appell an die Verfassungsrich- chen Thronfolger zu desavouieren. Handnachzählung in einigen Wahlbezir- ter, den diese überraschenderweise am vo- Da mischt sich Enttäuschung über einen ken zugelassen, da rügte der Statthalter rigen Freitag zur Verhandlung annahmen, Wahlausgang, der in ihren Augen als repu- des republikanischen Kandidaten George blikanischer Erdrutschsieg hätte enden müs- W. Bush, der frühere Außenminister James * Bei einer Thanksgiving-Feier in Washington. sen, mit abgrundtiefer Verachtung für den DPA AFP / DPA Republikaner Bush, Wahlprüfer in Florida „Parteiische Entscheidung“ 234 Werbeseite

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Vizepräsidenten. „Sollte Gore die Wahl verfehlen. Noch während die beiden Kon- Vor Ort verfügt Bush über einen weite- stehlen, gibt es den Dritten Weltkrieg im trahenten das Thanksgiving Dinner im Fa- ren Heimvorteil: Floridas mehrheitlich re- Kongress“, warnt der moderate republika- milienkreis feierten oder Truthähne an publikanische Abgeordnete könnten kraft nische Gouverneur John Rowland. Arme verteilten, legten ihre Stäbe die nächs- ihres Amtes am 12. Dezember eine eigene In einem solchen Polit-Biotop blühen ten Schritte fest – die Anfechtung des offi- Wahlmänner-Riege aus Bush-Anhängern Verschwörungstheorien: Ganz gleich wer ziellen Wahlergebnisses vor den Gerichten. zusammenstellen, um dem Parteifreund die zum 43. Präsidenten der USA gekürt wird, Falls Gore die erforderliche Stimmen- Tür zum Weißen Haus zu öffnen. der Verlierer fühlt sich um den Sieg betro- mehrheit bis Anfang dieser Woche nicht er- Das würde mit Sicherheit einen neuen gen und wird das Ergebnis anfechten. reicht hat, könnten sich die Demokraten ei- Verfassungsstreit provozieren. „Solch ein Demokraten behaupten schon jetzt, der ner Bürgerklage gegen das angeblich irre- Wahl-Hijacking würde gerade jene demo- Vizepräsident werde in Florida durch Gou- führende „Schmetterlingsdesign“ der kratischen Verfahren verletzen, in deren verneur Jeb Bush, den Bruder des Kandi- Stimmzettel von Palm Beach anschließen. Namen es unternommen würde“, kom- daten, um den Erfolg gebracht. Dessen Hel- Auf jeden Fall will der Demokrat dann das mentierte die „Washington Post“. fer hätten dafür gesorgt, dass Tausende von amtliche Wahlergebnis von Miami anfech- Dann müssten die Abgeordneten des Stimmkarten in überwiegend demokrati- ten, wo vorige Woche eine Handzählung neu gewählten US-Kongresses in Wa- schen Wahlbezirken ungelocht blieben. abgebrochen wurde. shington über das Votum der Wahlmänner Auch die Republikaner pflegen die Dolch- Das Bush-Camp hingegen will die Aus- entscheiden – mit ungewissem Ergebnis. stoßlegende von der „gestohlenen Wahl“: zählung von Voten aus Übersee einklagen, Denn dort verfügen die Republikaner im Demokratische Seilschaften aus Richtern, die bislang wegen fehlender Poststempel Repräsentantenhaus zwar über eine knap- Winkeladvokaten und Parteiaktivisten in ausgesondert wurden. Diese Stimmen, pe Mehrheit von neun Sitzen, der Senat den Wahlvorständen seien schuld, sollte der überwiegend von Militärs, könnten Bush aber ist derzeit genau geteilt: 50 zu 50. Gouverneur seinen verdienten Triumph den entscheidenden Vorsprung verschaffen. Bei einem solchen Patt entscheidet das Votum des Vizepräsidenten – niemand an- deres als der dann noch amtierende Al Gore. „Eine solche Lösung wäre ein ver- fassungsrechtlicher Alptraum, der sicher wieder vor dem Obersten Gericht en- den würde“, sagt Rechtsprofessor Wu. „Der Kandidat Gore soll mit seiner eige- nen Stimme über den nächsten Präsiden- ten entscheiden? Da tun sich Abgründe auf.“ Stefan Simons

nicht genau das, was Slobodan Milo∆eviƒ in Jugoslawien versucht hat?“ Ƞ „Die Floridianer können einem Leid tun: Erst ziehen sie wegen ihrer Ar- thritis in den warmen Süden, und nun müssen sie dort Stimmen nachzählen

AP – per Hand.“ Demonstranten mit Bush- und Gore-Maske: „Die können einem Leid tun“ Ƞ „Ein Historiker sagt zu einem Kolle- gen: ,Jetzt schlägt unsere große Stun- de im Fernsehen. Noch in 100 Jahren Zählen wie bei Milo∆eviƒ werden die Bürger von dieser Wahl erzählen.‘ Antwortet der andere: ,Was Mit einer Flut von Witzen und sarkastischen Sprüchen lästern heißt erzählen? Die zählen noch in Amerikas Talkmaster über das Wahldebakel. 100 Jahren.‘“ Ƞ David Letterman in „The Late Show“, CBS te sehr mit. Er liegt nächtelang wach „Um solch ein Debakel zu vermeiden, und wartet auf den entscheidenden sollten wir die nächste Wahl von der „Keiner der beiden Kandidaten tritt Anruf. Jetzt weiß er endlich, wie sich Mafia ausrichten lassen. Bei der steht derzeit öffentlich auf, nur selten ge- die Insassen von Todeszellen fühlen.“ das Ergebnis schon fest, ehe der erste ben sie Erklärungen im Fernsehen ab. Ƞ Stimmzettel abgegeben wird.“ Die verfahrene Situation hat also auch „Gore hat gewählt wie immer – er Ƞ ihre guten Seiten.“ schloss den Vorhang der Wahlkabine „Wahlaufruf in Florida: Lieber Ƞ und fiel über Tipper her.“ Wähler, Deine Stimme zählt – und „Alle berühmten Anwälte der USA zählt und zählt und zählt …“ sind in Florida eingefallen – wenn Jay Leno in „The Tonight Show“, NBC Ƞ jetzt ein Hurrikan die Region verwüs- „Das letzte Mal, dass George W. so tet, könnte das ganze Desaster doch „Obwohl Al Gore mehr Wählerstim- intensiv rechnen musste, war 1973, als noch ein glückliches Ende nehmen.“ men gewonnen hat, könnte George W. er zu einem Typen sagte: ,He, das Ƞ Bush gleichwohl Präsident werden. sieht aber nicht aus wie zehn Gramm „Machen wir uns nichts vor. George Der Kandidat mit dem kleineren Kokain. Lass uns lieber noch mal W. Bush nimmt diese ganze Geschich- Stimmenanteil gewinnt also. Ist das nachzählen.‘“

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der Nation nicht neuerliche Ungeheuer- lichkeiten serviert würden. Als Demokrat PERU galt er schon seit 1992 nicht mehr, als er die Verfassung mit einem Staatsstreich außer Kraft setzte. Auch seinen Nimbus Besenwochen in Lima als immerhin unbestechlicher Autokrat hat er verloren, seit die üppigen Schweizer Nach dem Sturz des Diktators Konten seines Geheimdienstchefs Vla- Alberto Fujimori kehrt der Andenstaat zurück zur Demokratie. dimiro Montesinos aufgeflogen waren. Montesinos’ Bestechungs- und Drogengel- der rechnete Spaniens Zeitung „El País“ mittlerweile auf eine Mil- liarde Dollar hoch – da soll Fuji- mori nicht die Hand aufgehalten haben? Was war in den 36 Kof- fern, die er als Noch-Staatschef undeklariert durch den japani- schen Zoll brachte? Unterhielt sein Schwager, den er als Bot- schafter Perus in Japan installiert hatte, Konten für ihn? Selbst Fujimoris Statur als be- sonnener Wirtschafter ist nun als Bluff enttarnt. Vorigen Dienstag präsentierte Wirtschaftsminister Carlos Boloña einen ersten Kas- sensturz. Von den 9,2 Milliarden Dollar, die in zehn Jahren aus der von der Weltbank begrüßten Pri- vatisierung von Staatsbetrieben erwirtschaftet wurden, sind gera- de noch 543 Millionen übrig. Der größte Teil versickerte – bei Mi- litär und Geheimdienst und in je- nen Wohlfahrtsfonds, aus denen Fujimori seine Wahlgeschenke be- zahlte. Peru ist pleite. Und doch ist es gerade die Flut dieser Offenbarungseide, die dem

DPA Land in diesen Tagen Flügel zu Ex-Präsident Fujimori nach seiner Flucht in Tokio: 36 Koffer durch den Zoll gebracht verleihen scheinen, nicht nur bei den Jubeldemonstranten auf der in knappes halbes Jahr ist es her, Seit seiner schmählichen Flucht nach Plaza Mayor vor dem Regierungspalast. da gestand Alberto Fujimori zu Japan in der vorletzten Woche ist die Die Angst ist gewichen, Fujimoris Batail- Espäter Stunde im Präsidentenpalast wütende, desillusionierte Anden-Republik lone sind demoralisiert und niedergerun- verschämt ein lang gehegtes Lieblings- dabei, das Drehbuch zum Horror-Film um- gen, der finstere Montesinos womöglich projekt. Er wollte einen Helden-Film dre- zuschreiben: über einen skrupellosen Polit- bereits von einstigen Spießgesellen hinge- hen: über Alberto Fujimori. Vom armen Zocker mit gefälschten Papieren, der das richtet, um ihn am Reden zu hindern. Einwandererkind zum Retter Perus, sieg- Land ausraubt, Wahlen kauft, Gegner ins In der Hauptstadt Lima hat das große reich über Inflation und Guerrilla, mit Gefängnis werfen lässt, um sich schließ- Reinemachen begonnen. Vizepräsident Ri- starker Faust, vom Volke geliebt, der lich, mit reicher Kriegsbeute, ins Ausland cardo Márquez, ein Fujimori-Parteigänger, größte Präsident in den Annalen des zu seinem Familien-Clan abzusetzen. nutzte seine sieben Tage Amtszeit nach der Landes. „Diese Diktatur hat dem Land mehr ge- Flucht des Präsidenten, um zehn Generäle raubt und mehr Menschen gefoltert und zu entlassen, denen Verbindung zu Mon- getötet als die gesammelten Diktaturen zu- tesinos nachgesagt werden konnte. Danach vor“, schrieb der peruanische Schriftsteller reichte er seine eigene Demisson ein. Mario Vargas Llosa, mit grimmigem Recht- Nachfolger Valentín Paniagua, 64, der behalten – er war bei der Präsidentenwahl Mann der Opposition, gilt als unbescholte- 1990 überraschend dem Außenseiter Fuji- ner Jurist und besonnen genug, um das mori unterlegen. Land sicher zur Neuwahl im April zu steu- Womöglich ist diese Neufassung der Fu- ern. Eine Personalie brachte ihm bereits in- jimori-Ära so überzeichnet wie die Hel- ternational Respekt: als Premierminister er- denversion. Doch wie bei jedem Diktato- nannte er den ehemaligen Uno-Generalse- rensturz übertreffen sich nicht nur die Fein- kretär Javier Pérez de Cuéllar, 80, der 1995 de, sondern auch noch die Mitläufer im erfolglos gegen Fujimori angetreten war. Abscheu über den, von dem sie sich ab- Neubeginn an allen Fronten. Der Kon-

AP setzen wollen. gress setzte jene Verfassungsrichter wie- Ehemaliger Geheimdienstchef Montesinos Und Alberto Fujimori liefert ihnen reich- der ein, die Fujimori einst feuerte, weil sie Üppige Konten im Ausland lich Material. Kein Tag vergeht, an dem sich seiner zweiten Wiederwahl widersetzt

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Werbeseite Ausland hatten. Auch Generäle, die wegen ihrer Während die Nation auf weitere Ent- Gegnerschaft zu Montesinos entlassen hüllungen wartet, positionieren sich die worden waren, sollen nun beim Neuaufbau Kandidaten für den Wahlgang im Frühjahr. wichtige Rollen übernehmen. Der prominenteste unter ihnen, Alejandro Und systematisch geht Sonderermittler Toledo, hatte Kredit verspielt, als er nach José Ugaz daran, das schmutzige Knäuel den Mogelwahlen im Juli einen Stern- aus Absprachen und Abhängigkeiten zu marsch in die Hauptstadt führte – sechs entrollen, mit dem das Regime Fujimori Menschen waren damals getötet worden. die Macht absicherte. Doch Toledo, ein entschlossener Markt- Dessen Nutznießer sind schon seit längerem nervös. Anfang des Monats hatte sich etwa Generalstaatsan- wältin Blanca Nélida Colán aus dem Amt verabschie- det und auf ein – für ihr Juristengehalt äußerst lu- xuriöses – Anwesen zu- rückgezogen. Ihr wird die Einstellung von Verfahren gegen zahllose Menschen- rechtsvergehen nachgesagt; vor allem aber habe sie dafür gesorgt, dass Monte- sinos ungestört seinen Ge-

schäften nachgehen konn- AP te. Sie dementierte die Vor- Kundgebung für Toledo*: Moralischer Neuanfang würfe. Doch vergangenen Donnerstag präsentierte Kanal 11 ein Vi- wirtschaftler mit guten Beziehungen zum deo, auf dem Colán in Feierlaune mit Mon- US-Außenministerium, profiliert sich der- tesinos zu sehen ist. Weitere Videos zirku- zeit als Stimme der Vernunft. Er drängt lieren auf dem Markt, und sie werden die nicht mehr auf vorgezogene Neuwahlen, Nation noch lange beschäftigen. sondern plädiert für einen geordneten Sie stammen aus dem Archiv des Ge- Übergang – allein die Revision der ge- heimdienstchefs Montesinos, der Schlüs- fälschten Wählerlisten wird Monate in An- selfigur der Präsidenten-Katastrophe. Sei- spruch nehmen. ne von versteckter Kamera aufgezeichne- Neben Toledos Perú Posible und ande- te Bestechungsaktion brachte Fujimori zu ren Parteien macht auch die Unabhän- Fall. Doch er war es auch, der ihm einst zur gige Front für den moralischen Neuan- Macht verhalf. fang mobil. Ihr Partei-Emblem ist der Der ehemalige CIA-Spion und Drogen- Besen und eines ihrer prominentesten mafia-Anwalt griff dem Außenseiter Fuji- Mitglieder eine Abgeordnete, deren Geg- mori schon bei der ersten Wahl 1990 un- nerschaft zu Fujimori über alle Zweifel ter die Arme: Er vermittelte eine Millio- erhaben ist: Susana Higuchi, seine er- nen-Spende von Kolumbiens Kokain-Boss grimmte Ex-Frau. Matthias Matussek Pablo Escobar, wie jetzt Escobars Bruder behauptet. Fujimori revanchierte sich. Er ließ Mon- tesinos – ohne ihn je offiziell zu ernennen – schalten und walten, und zunehmend wird klar, wie sehr die Dämonisierungen Montesinos’ auf Fakten beruhen. Er war ein Henker mit Allüren. Unter seinem Büro wurde eine Folterkammer entdeckt. In seinen Kleiderschränken fanden sich 50 französische Anzüge, sechs Schweizer Lu- xusuhren – sowie 1200 Dior-Hemden im Gegenwert von 155000 Dollar. Vor allem aber fanden sich Dossiers. Systematisch überzog Montesinos das Land mit einem System von Spitzeln und Gefolgsleuten, überwachte Parlamentarier bis hinauf in die Regierungsspitze – und legte jene legendäre Kollektion mit Tau- senden Videos an, die nun, von interes- sierten Militärs, auf den Markt gespielt

werden. AFP / DPA Übergangspremier Pérez de Cuéllar * Am 20. November in Lima. Internationaler Respekt

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Ausgeschrieben wurde eine ganz nor- male zweispurige Straße, ausgelegt auf eine Höchstgeschwindigkeit von 80 Stunden- kilometern. Auch auf griechischer Seite legte man los beim Straßenbau. Dort flos- sen die EU-Millionen aus dem Interreg- Programm, über dessen Mittel die EU-Voll- mitglieder weitgehend nach eigenem Gut- dünken verfügen können. Doch dann geriet alles ins Stocken. Plötzlich sollte die Straße zwischen den beiden Grenzstationen in einen Tunnel verlegt werden, auf einer Strecke von gut einem halben Kilometer. Ein Planungsfeh- ler lag nicht vor, kein Berg war übersehen worden, die Straße hätte auf der Ober- fläche durchgezogen werden können. Den Griechen war etwas eingefallen,

SAVE-BILD was die Öffnung der Grenze weiter verzö- Braunbärenfamilie in Griechenland: Flanierhilfe für 18 Millionen Mark gern musste: Bären würden durch die Straße gestört. Exakt an der Stelle zwi- grenze. Die Bulgaren drängen in die EU schen den Abfertigungsgebäuden, so der EUROPA und könnten sich zu einem lästigen Kon- griechische Vorhalt, würden Dutzende, kurrenten um Arbeitsplätze und Markt- wenn nicht Hunderte von Braunbären Tunnel für anteile, etwa im Tourismus, entwickeln. ihren regelmäßigen Wechsel zwischen Bul- Unter sanftem Druck der EU-Kommis- garien und Griechenland vollziehen. sion verständigten sich beide Länder im Höchstens zwei, allenfalls drei Bären- Meister Petz Dezember 1995 darauf, drei neue Grenz- familien gebe es hier, hielten die Bulga- übergänge zu schaffen, so auch in den ren dagegen. Und im Bereich des projek- Zwischen Bulgarien und wilden Rhodopen zwischen dem Städtchen tierten Grenzübergangs sei seit Jahren Goze Deltschew in Bulgarien und der grie- kein Meister Petz mehr gesichtet worden. Griechenland werden für den chischen Kommune Drama. Und wieder Zudem würden Bären doch, wie man aus Tierschutz Unsummen aus einmal bestätigte sich der Balkan-Lehrsatz: Erfahrung wisse, auch Straßen überque- EU-Steuergeldern verbuddelt. Wer versöhnen will, muss zahlen. ren, wenn sie nicht allzu stark befahren Allein für die neue Zufahrt auf bulgari- seien. ie Gneis- und Kalkgipfel des Rho- scher Seite von Goze Deltschew zur Grenz- Das alles fruchtete nicht. Griechische Um- dope-Gebirges türmen sich im station Ilinden wurden 1998 gut 24 Millio- weltschutzorganisationen machten Druck DGrenzgebiet zwischen Bulgarien nen Mark aus dem EU-Phare-Hilfspro- in Brüssel, die Kommission gab bei franzö- und Griechenland auf zu Höhen über 2000 gramm für Kandidatenländer angesetzt. sischen und deutschen Experten Gutachten Meter. Die waldreiche, dünn besiedelte Re- Verantwortlich heute: der deutsche Erwei- in Auftrag. gion ist Zuflucht für allerlei Getier, darun- terungskommissar Günter Verheugen. Zwei Jahre dauerte der Streit um die ter eine nicht allzu große Population von Bären. Anfang 2000 endlich verständigten Braunbären. Sofia 100 Kilometer sich Griechen und Bulgaren darauf, einen Auf ihrer steten Suche nach guten Taten Tunnel zu bauen. Die Brüsseler Kommis- stieß die Europäische Union Mitte der BULGARIEN sion akzeptierte. Zusätzliche Kosten für neunziger Jahre auch in diese abgelegene R den EU-Steuerzahler: mindestens 18 Mil- Goze ho Gegend vor. Mit grenzüberschreitenden MAZE- do lionen Mark. Zwei Drittel davon fließen in Deltschew pe Projekten wollte die EU Griechen und Bul- DONIEN -Ge die Taschen griechischer Unternehmer. birge garen einander näher bringen. Drama Für dieses Geld soll nun auf 550 Metern Denn um die nachbarschaftlichen Bezie- eine tiefe Senke gebaggert, dort hinein eine hungen stand es nicht zum Besten. Die Grie- GRIECHEN- geplanter Tunnelkonstruktion betoniert, danach das chen wollten nicht viel zu schaffen haben LAND Bärentunnel Ganze wieder zugeschüttet und bepflanzt mit den armen Schluckern an ihrer Nord- Thessa- werden. Durch den Tunnel sollen später loniki Ägäis die Autos fahren, oben drüber dann die Bären flanieren, wenn es sie überhaupt noch gibt. Bodo Hombach, EU-Sonder- koordinator des Stabilitätspaktes Südosteuropa und besonders in transnationaler Zusammenarbeit engagiert, kurvte kürzlich im Hub- schrauber über der Region. Der erfahrene Jäger hält den Bären- tunnel für „sinnlos“. Als ihm seine bulgarischen Flugbegleiter von dem Projekt erzählten, glaubte Hombach zunächst ganz fest: „Die

AP haben mir einen Bären aufgebun- Bau des Grenzübergangs im Rhodope-Gebirge: Wer versöhnen will, muss zahlen den.“ Dirk Koch

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Hoch entwickelte Partnerschaft“ Ministerpräsident Michail Kassjanow über die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland und den russischen Aufschwung ITAR-TASS / BILDERBERG ITAR-TASS Aluminiumfabrik in Krasnojarsk, Börse in Moskau: „Ohne Demokratie ist überhaupt keine Reform zu verwirklichen“

SPIEGEL: Michail Michailowitsch, welche SPIEGEL: Wollen Sie den Giganten Gas- ein ausreichend hohes Wachstumstempo Zensur erteilen Sie Russlands Wirtschaft prom zerschlagen? halten. gegen Ende Ihres ersten Jahres als Regie- Kassjanow: Bereits im kommenden Jahr SPIEGEL: Bis zum Ende dieses Jahres rech- rungschef? müssen wir die Monopole anders struk- nen Sie mit einem Wirtschaftswachstum Kassjanow: Vier plus … turieren. Das Gleiche gilt auch für den von etwa sieben Prozent? SPIEGEL: … nach dem russischen Notensys- Bankenbereich. Nur wenn wir mehr Kassjanow: Etwas bescheidener, 6,5 Pro- tem steht 5 für sehr gut, auf Deutsch also: 1,5. Wettbewerb ermöglichen, können wir zent. Der Kabinettschef muss in sei- Kassjanow: Meine Bewertung be- nen Einschätzungen konservativ deutet gut mit Tendenz zum Bes- sein. seren. Nicht im Sinne besserer SPIEGEL: Hat sich Russland in den Zahlen, sondern größerer Stabi- letzten zehn Jahren mit Struktur- lität unserer wirtschaftlichen Ent- reformen nicht erheblich verspätet? wicklung. Kassjanow: Natürlich wäre es bes- SPIEGEL: Welcher konkrete wirt- ser gewesen, wenn diese Reformen schaftliche Reformschritt scheint bereits vor drei oder vier Jahren Ihnen am dringlichsten? hätten durchgezogen werden kön- Kassjanow: Das Programm, welches nen. Aber die politische Situation wir gegenwärtig umsetzen, bedeu- in Russland hat das nicht erlaubt. tet Bewegung in gleich mehrere Unsere Bevölkerung hätte diese Richtungen. Alle hängen miteinan- Schritte nicht verstanden. der zusammen, alle haben Vorrang. SPIEGEL: Und nun hat sie Ver-

Nach der makroökonomischen Sta- KASSIN P. ständnis? bilisierung werden Bedingungen für Kassjanow: Heute sieht bei uns je- fairen Wettbewerb und mehr Kon- Michail Michailowitsch Kassjanow der ein, dass grundlegende Refor- kurrenz geschaffen. Dazu müssen diente nach dem Studium am Moskauer Institut für Verkehrs- men notwendig sind. Und jeder Strukturreformen angepackt wer- technik der zentralen Planbehörde Gosplan als Unterabteilungs- sieht auch: Endlich ist die nötige den: Damit das Wirtschaftswachs- leiter für Außenwirtschaftsfragen. Nach dem Ende der UdSSR politische Stabilität vorhanden, um tum anhält, müssen dort, wo bis- widmete sich Kassjanow, 43, im Finanzministerium den Aus- sie effektiv zu verwirklichen. lang widernatürliche Monopole landsschulden. Westliche Partner rühmen sein Verhandlungs- SPIEGEL: Bei Diskussionen mit rus- herrschen, Konkurrenzbedingun- geschick – und sein Englisch. 1999 stieg er zum Finanzminister sischen Ökonomen und Unterneh- gen geschaffen werden – bei der auf, ein Jahr später zum Regierungschef. Als er im Februar Bank- mern ist häufig zu hören, das Land Gasgewinnung, bei der Stromer- gläubigern einen Ablass von 10,6 Milliarden US-Dollar abhandel- brauche ein „chilenisches Modell“ zeugung, beim Personen- und Gü- te, titelte eine Moskauer Zeitung, er habe „Russland vor dem nach Vorbild der Militärdikta- tertransport auf der Schiene. Bankrott gerettet“. Kassjanow besucht Ende dieser Woche Berlin. tur des Augusto Pinochet. Sind

246 der spiegel 48/2000 Wirtschaftsreformen ohne Demokratie möglich? Kassjanow: Ohne Demokratie, wie sie sich in den vergangenen zehn Jahren bei uns entwickelt hat, ist in Russland überhaupt keine Reform zu verwirklichen. Eine an- dere Sache ist es, dass in der Wirtschaft Ordnung herrschen muss. SPIEGEL: Eine Ordnung, die der Staat mit dem Knüppel vorgibt? Kassjanow: Ich meine kla- re Spielregeln, eindeutige Gesetze, transparente Ver- fahren, an denen sich Geschäftsleute orientieren und auf die sie sich ver- lassen können. Deshalb spreche ich mit ihnen, wo und wann immer ich kann. Wir legen großen Wert auf Meinungen und Empfehlungen unserer Gesprächspartner. SPIEGEL: Offenbar nicht auf die Position aller. Ge- gen die bekannten Unter- nehmer Gussinski und Beresowski sind Haftbe- fehle erlassen, nicht weni- ge Geschäftsleute fürch- ten eine Enteignungswel- le wie zu Sowjetzeiten

AP nach der Neuen Ökono- mischen Politik Lenins. Kassjanow: Mir scheint, die russische Ge- sellschaft sieht da keinen Zusammenhang. Diese beiden Fälle haben keinen Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung in unserem Lande. Sie sollten niemanden ängstigen. SPIEGEL: Sind Sie denn zufrieden mit der Rechtssicherheit im Lande? Ausländische Investoren berichten, dass Gerichte der un- teren Instanzen oft jener Seite Recht ge- ben, die am meisten zahlt. Kassjanow: Das macht uns große Sorgen, weil Rechtsverletzungen das Investitions- klima erheblich beeinträchtigen. Auch russische Geschäftsleute klagen übrigens darüber. SPIEGEL: Der Internationale Währungsfonds hat einen Mangel an Strukturreformen be- klagt und das Ergebnis „enttäuschend“ ge- nannt. Ein gerechtes Urteil? Kassjanow: Aus dem jüngsten IWF-Bericht lässt sich keine Enttäuschung ablesen. Dass der Reformbedarf Russlands riesengroß ist – das ist etwas ganz anderes. Wenn die Re- formschritte, die ich Ihnen skizziert habe, in den nächsten beiden Jahren erfolgreich sind, wird der Markt erheblich stärker Ta- rife für Gütertransporte und Preise für Strom, Gas und Benzin bestimmen. SPIEGEL: In allen Fällen wird das zu deftigen Verteuerungen für den Endverbraucher füh- ren. Fürchten Sie keinen sozialen Aufstand? Kassjanow: Wir müssen erreichen, dass die Selbstkosten weder zu hoch noch zu tief veranschlagt werden. Unsere Energie- ressourcen sind heute billig. Davon muss der spiegel 48/2000 247 Ausland die russische Wirtschaft profitieren. Nicht wirtschaft. Werden Sie diese Bedingung Kassjanow: Wir sagen unseren Bauern heu- Energie verschwenden, nicht von billiger erfüllen können? te: Lasst euch von eurer Bank einen Kre- Arbeitskraft, preiswertem Öl und Gas le- Kassjanow: Das ist eine sehr diffizile Frage. dit geben – unter Verpfändung der künfti- ben, sondern das nun verfügbare Geld in In den zurückliegenden zehn Jahren ist gen Ernte – und lasst euch durch einen neue wirksamere Technologien stecken – unsere Landwirtschaft absolut vernachläs- Zinssatz von 25 Prozent nicht abschrecken. darum geht es in erster Linie. Und erste Er- sigt worden … SPIEGEL: Leicht gesagt. Und wie weiter? folge gibt es bereits: Die Industrie-Investi- SPIEGEL: … obwohl öffentlich stets das Ge- Kassjanow: Wir wissen, dass unsere land- tionen dieses Jahres übersteigen das Vor- genteil behauptet wurde. wirtschaftlichen Betriebe so viel Rentabi- jahresniveau um 17 Prozent. Kassjanow: Ich will nicht meine Vorgänger lität gar nicht erreichen. Unsere Kreditzin- SPIEGEL: Doch noch immer sind Russlands kritisieren. Frühere Kabinette konnten sich sen sind Ausdruck noch nicht hinreichender Produktionsanlagen zu 80 Prozent älter als bestenfalls mit der makroökonomischen makroökonomischer Stabilität. Deshalb zehn Jahre. Woher sollen die Mittel kom- Situation befassen – damit die Inflation kommt der Staat zur Hilfe und übernimmt men für die Modernisierung? alle Zinsen oberhalb von zehn Prozent. Kassjanow: Wir rechnen mit einem wach- „Wir sagen unseren Bauern: Lasst SPIEGEL: Ein klarer Fall von Subvention. senden Engagement von Investoren. Aber euch nicht abschrecken Kassjanow: Ja, und? Sie wissen doch ge- vorerst muss das aus den Gewinnen der nau, dass sowohl die WTO als auch die EU Betriebe finanziert werden. In diesem Jahr durch Zinsen von 25 Prozent“ solche Probleme für jedes Land separat haben wir erstmals fast so viel an Gewinn- entscheiden. Im Agrarbereich gibt es für steuern hereingeholt wie mit der Mehr- nicht auf 100 Prozent hoch schoss, damit viele Länder Sonderregelungen. Auch wertsteuer. Das ist ein Beleg dafür, dass die wenigstens einige Steuern zusammenka- Russland wird das in Anspruch nehmen. Transparenz unserer Wirtschaft zunimmt men, damit wir unsere Schulden einiger- Zumal unsere Agrarexporte für nieman- und unsere Geschäftsleute bereit sind, ihre maßen tilgen konnten. den eine Gefahr darstellen. Wir sind froh, Gewinne zu versteuern. Dank wachsender SPIEGEL: Und da war keine Zeit für die wenn wir uns selbst versorgen können. Steuerehrlichkeit werden wir in diesem Landwirtschaft? SPIEGEL: Nächstes Jahr will Russland zwei Jahr etwa 82 Prozent der fälligen Steuern Kassjanow: Es ist der komplizierteste Be- Millionen Tonnen Brotgetreide exportieren. auch einnehmen, wo wir früher schon mit reich. Dennoch gibt es erste Anzeichen der Kassjanow: Das stimmt. Die Ernte dieses 60 Prozent zufrieden sein mussten. Das ist Besserung. Während die Industrieproduk- Sommers deckt den Weizenbedarf unse- schon westeuropäisches Niveau. tion um neun Prozent gestiegen ist, wartet rer Lebensmittelindustrie vollständig. Und SPIEGEL: Russland erwartet, binnen eines die Landwirtschaft immerhin mit vier Pro- im nächsten Jahr wollen wir der Land- Jahres in die Welthandelsorganisation zent Wachstum auf. Und wir fangen an, wirtschaft zusätzlich durch Leasing von WTO aufgenommen zu werden. Eine Vor- die Lebensmittelproduktion marktwirt- technischen Anlagen helfen. Auch solche aussetzung dafür ist das radikale Be- schaftlich zu fördern. Subventionen halten wir für vertretbar. Die schneiden von Subventionen für die Land- SPIEGEL: Wie geht denn das? hohen Zinssätze sind schließlich nicht die Schuld der Bauern, son- Kassjanow: Was unsere dern werden durch die Si- Exporte angeht, ja. Dafür tuation im Lande verur- kommen aus Deutschland sacht. 26 Prozent aller Maschi- SPIEGEL: Der Schatz Ihrer nen und Anlagen, die Rus- Devisenreserven ist inzwi- sland importiert. Das ist schen sehr stolz. Den wollen schon eine sehr hoch ent- Sie nun in Euro anlegen? wickelte Partnerschaft mit Kassjanow: Wir konnten durchaus strategischer Be- die Rücklagen mehr als deutung. Denn auch für verdoppeln. Am 1. Januar die Zukunft setzen wir 2000 waren es 12,5 Milliar- stark auf deutsche Tech- den Dollar, heute sind es nologien. 26 Milliarden. Vorwiegend SPIEGEL: Gleichwohl hat ist diese Reserve in US- Präsident Putin moniert, Währung angelegt, zum der Stand der wirtschaftli-

Teil aber auch in Euro. Das PÜSCHNER / LAIF chen Beziehungen ent- liegt einfach an unserer Ex- Markt in St. Petersburg: „Landwirtschaft absolut vernachlässigt“ spräche nicht dem „ge- portstruktur, wo Rohstoffe waltigen Potenzial“. etwa die Hälfte ausmachen – und die wer- Kassjanow: In Bezug auf Deutschland Kassjanow: Ich teile diese politische Ein- den an den Börsen ausschließlich in Dollar stimmt das. Das ist unser wichtigster Han- schätzung voll und ganz und denke, russi- gehandelt. delspartner und mit 14 Prozent Anteil an sche wie deutsche Behörden hätten da SPIEGEL: Der US-Dollar bleibt also die do- unserem Außenhandelsumsatz auch der mehr leisten können. Es muss irgendwelche minierende Reservewährung für Russland? größte. Unser Warenumsatz mit Deutsch- unbegreiflichen Ursachen geben, die eine Kassjanow: Vorläufig, ja. Aber wir wollen land wächst nach unseren Schätzungen in noch bessere Kooperation behindern. die Exportstruktur so rasch wie möglich ver- diesem Jahr auf 17 Milliarden Dollar und SPIEGEL: So unbegreiflich nun auch wieder bessern und mehr Maschinen, mehr Anla- erreicht damit praktisch das Niveau des nicht. Über eine Reihe von Hemmnissen gen ausführen. Damit wird sich im Laufe der Vorkrisenjahres 1997. Ich bin zuversicht- haben Sie ja bereits gesprochen … Zeit auch der Zustrom von Exportdevisen lich, dass bis 2002 ein Anwachsen auf 19 Kassjanow: … und wir schenken dem größ- in seiner Zusammensetzung verändern. Milliarden Dollar möglich ist, also unge- te Aufmerksamkeit. Wir werden Gesetze SPIEGEL: Sie machen da im Moment ein gu- fähr auf 40 Milliarden Mark. verbessern und wirksamer machen. Und tes Geschäft – für Ihre Exporte erhalten SPIEGEL: Doch überwiegend bleibt es bei wir sind bereit, mit deutschen Unterneh- Sie Dollar, Importe bezahlen Sie mit Euro. Erdöl und Erdgas? mern eine selbständige Arbeitsgruppe zu Ausland etablieren, wo solche Probleme offen be- Kassjanow: Wir sind dabei. Natürlich sind konzentrieren. Unser Interesse gilt größe- sprochen und gelöst werden können. die Umsätze noch nicht wieder so, wie ren, besseren Transportwegen von Berlin SPIEGEL: Was erwarten Sie von der deut- sie zu Zeiten der Sowjetunion waren. über Warschau, Minsk, Moskau mit der schen Regierung? Aber ein beträchtlicher Teil unserer Ma- Fortsetzung nach Jekaterinburg. Dann die Kassjanow: An sich hängt Handel kaum schinen- und Anlagenimporte aus Deutsch- Nord-Süd-Strecke von Finnland über St. von Behörden ab. Aber wenn Regierun- land stammt aus den neuen Bundeslän- Petersburg bis zum Kaspischen Meer. Ka- gen den Handel fördern, wächst er schnel- dern. Wir sehen nicht weniger deutlich als sachstan ist bereit, sich anzuschließen. unsere deutschen Kol- SPIEGEL: Ein eurasisches Großprojekt? legen, dass diese Lie- Kassjanow: Wir haben jetzt eine Verein- ferungen nach Russ- barung über den Ausbau dieses Korridors land der Bundesre- zwischen Russland, Iran und Indien ge- gierung helfen, in der schlossen, damit Güter aus diesem Teil Asi- ehemaligen DDR ei- ens über Russland nach Europa gelangen. ne effektive Industrie Deutsche Exporteure, die nach Indien lie- zu entwickeln. Wenn fern, müssen bald nicht mehr durch den stimulierende Maß- Suezkanal, sondern können diese Wege nahmen hinzukämen, nutzen mit vierfacher Zeitverkürzung. könnten unsere Bestel- SPIEGEL: Sie haben vor Ihrem Deutschland- lungen im deutschen Besuch die neue Zusammensetzung einer Osten durchaus noch Kommission für Fragen der Russlanddeut-

P. KASSIN P. größer werden. schen verfügt. Wird es wieder eine auto- Kassjanow (r.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Riesiger Reformbedarf“ SPIEGEL: Bekommt die nome Republik an der Wolga geben – als Region Kaliningrad für Magnet für erwartete Investitionen und In- ler. Kooperation im Investitionsbereich Moskau größere Bedeutung, wenn Polen novationen aus Deutschland? kann ohne staatliche Förderung gar nicht in und Litauen EU-Mitglieder werden? Kassjanow: Die russische Regierung tut al- Gang kommen. Wenn also auch Deutsch- Kassjanow: Die Region ist auch heute les, damit Russlanddeutsche ihr Vaterland land in Russland seinen strategischen Part- schon äußerst attraktiv. Es sind alle Vor- nicht verlassen müssen. Eine gemeinsame ner sieht, müssen wohl Mechanismen ein- aussetzungen dafür gegeben, dass die Ent- Regierungskommission beschäftigt sich mit geschaltet werden, die strategisch denken- wicklung des Kaliningrader Gebietes ra- diesen Problemen, es gibt weiter Mittel aus de Investoren in Deutschland motivieren, scher vonstatten geht als bisher. Nehmen einem bis 2006 wirksamen Präsidenten- in Russland ihr Geld anzulegen. Sie nur das Projekt, eine Fährverbindung Programm zur Wiederherstellung der wirt- SPIEGEL: Als 1990 die Wirtschaftsbezie- aus dem Leningrader Gebiet nach Kali- schaftlichen, sozialen und kulturellen Ba- hungen zur DDR abbrachen, blieben dort ningrad zu schaffen, für große Ströme von sis russlanddeutscher Autonomie; solche ganze Eisenbahnzüge stehen, beladen mit Erdöl, Kohle und anderen Gütern zu deut- autonomen Kreise gibt es bereits im Oms- Gütern, welche Russland plötzlich hätte schen Häfen … ker und im Altaigebiet. Die nationale Kul- in D-Mark bezahlen müssen. Lassen sich SPIEGEL: … die bislang über Lettland und turautonomie der Russlanddeutschen auf diese Kontakte wieder beleben? Litauen laufen. Bundesebene sichert bereits ein Gesetz. Kassjanow: Wir müssen doch nicht die Hä- Diese Politik wird fortgesetzt. * Mit den Redakteuren Fritjof Meyer und Jörg R. Mettke fen in baltischen Ländern überlasten, SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir dan- im Moskauer Regierungssitz, dem „Weißen Haus“. sondern können uns auf unsere eigenen ken Ihnen für dieses Gespräch. AP B. KUDRIAKOV / RPG Unternehmer Beresowski (mit Ehefrau Jelena), Gussinski: „Diese beiden Fälle sollten niemanden ängstigen“

250 der spiegel 48/2000 Ausland P. N. KASSIN P. Chemiker Krupodjor in seinem Labor: „Alle Chemikalien sind Reste aus der Sowjetzeit“

SIBIRIEN Das Gesetz der neuen Zeit Das Forscherstädtchen Akademgorodok, von den Sowjets als Wissenschafts-Utopia gegründet, kann kaum noch überleben, Tausende Experten flüchteten in den Westen. Die Zurückgebliebenen hoffen auf die Marktwirtschaft, Hilfe aus dem Ausland – oder einen neuen Stalin.

m 9 Uhr früh zur Arbeit zu kom- an Nägeln aufgehängt, die Kühlschränke Schließlich eilt der Wissenschaftler zum men ist eher untypisch für Aka- verrostet und die Chemikalienschränke so Computer. Krupodjor wartet auf Nach- Udemgorodok. Dr. Sergej Krupodjor alt wie das Gebäude – 40 Jahre. richten aus einer anderen Welt, einer Welt, aber ist zu dieser fast nachtschlafenen Zeit Krupodjor angelt ausgetretene Haus- die mit Akademgorodok fast nichts ge- schon da. Er hat Wichtiges vor. schuhe unter dem Tisch hervor, dann über- mein hat. Der Bildschirm zeigt eine Home- Mit schlurfendem Schritt, die Schultern prüft er die zarten Keimlinge in den Mar- page aus Salina Cruz, einer genau 12113 wie von tiefem Kummer gebeugt, steigt der garinebechern auf dem Fensterbrett: „Das Kilometer entfernten Hafenstadt im Sü- 45-Jährige die Treppen hinauf in den drit- sind Tomaten für die Eigenversorgung“, den Mexikos, und auf ihr erscheint das ten Stock des Instituts für anorganische freut er sich. „Sie gedeihen ganz prächtig Bild einer schwarzhaarigen Frau. Sie heißt Chemie. 20 Jahre schon geht er diesen Weg in der chemiegeschwängerten Luft.“ Verónica, und Krupodjor, der Introver- in sein Labor. Es liegt gleich un- tierte, nennt sie im Online- ter dem Dach. „Das ist wohl Plattenbauten in Akademgorodok: Vergessenes Biotop Chat alle paar Minuten überlegt“, sagt er, „gibt es eine zärtlich „meine geliebte Explosion, kommt nicht das Frau“. ganze Haus zu Schaden.“ Dabei kennen sich die Krupodjor ist Experte für beiden erst seit gut einem chemische Stoffe, die für die Jahr und nur über das In- Herstellung mikroelektronischer ternet. 29 Grad Celsius sei- Bauteile gebraucht werden; der en es heute in Salina Cruz, Doktor gilt als Kapazität in die- berichtet die mexikanische sem Bereich. Sein Spezialgebiet Lehrerin ihrem Sergej in Si- ist international höchst aktuell, birien. „Bei uns gibt es aber dem Labor ist das nicht an- schon wieder den ersten zusehen: Die Sauerstoffflaschen Frost“, antwortet der und sind mit Stricken an der Wand schaut auf die Straße, wo

festgezurrt, persönliche Sachen GLUCK W. die Kiefern bald wieder hin- 251 Ausland ter schmutzstarrenden Schneewällen ver- Dabei wurde Sibiriens gesichts- und ge- und Akademgorodok ablesen: Mit politi- schwinden werden. schichtslose Provinzkapitale Nowosibirsk scher Werbung sind allein der Rechts- Wenigstens einmal will Verónica nach erst durch Akademgorodok bekannt, die populist Wladimir Schirinowski, die ultra- Russland reisen, in jenes rätselhafte Land, Stadt mit 50 000 Einwohnern und 35 rechte Partei der „Russischen Nationalen das Sergej ihr Tag für Tag so eindringlich großen Forschungsinstituten. Eine Kopf- Einheit“ und Kommunistenführer Genna- schildert. Bevor er es selbst im kommenden geburt, die Ende der fünfziger Jahre auf dij Sjuganow präsent. Auf vielen Plakaten Jahr auf immer verlässt – in Richtung Me- dem Reißbrett entstand – als das Sowjet- gratuliert der KP-Chef noch immer unver- xiko, nach Salina Cruz. land den Kosmos erobern und in den Rang drossen zum „Tag der Sowjetarmee“ – ob- „Als ich Verónica das erste Mal per E- einer zweiten Supermacht aufsteigen woll- wohl der schon im Februar war. Bei der Mail schrieb, was ich hier verdiene, war te. Ganz tief im Wald, fern von allen Ab- Präsidentenwahl im März kassierte er hier 38 Prozent der Stimmen, fast so viele wie Putin. Krupodjor ist kein Nos- talgiker, er hat die Wahl ig- noriert. Wladimir Putin ist für ihn ein ebenso unver- besserlicher Kommunist wie Gorbatschow oder Jel- zin. Er hat sich deswegen auch nicht an die Straße ge- stellt, als der Präsident mit einer riesigen Entourage vorvorige Woche Akadem- gorodok erstmals seine Aufwartung machte – be- vor er ohne irgendwelche Versprechen wieder zurück nach Moskau fuhr. Auch Krupodjors Institut ist fest im Würgegriff der Krise. „Was wir noch an Chemikalien haben, an Lö- sungen oder Spiritus – alles Reste aus der Sowjetzeit.“ Die letzten amerikanischen

P. N. KASSIN P. Fachzeitschriften kamen im Bilderverkauf vor dem Kulturpalast: Das Elend hat die Elite erreicht Sommer vorigen Jahres an. Immerhin: Der Direktor sie völlig irritiert: 1300 Rubel, 45 Dollar? lenkungen, sollten die Forscher der reinen hat das Gebäude noch nicht an irgendwel- Pro Tag oder Stunde?, hat sie zurückge- Wissenschaft dienen. che Banker verkaufen müssen wie die Kol- fragt.“ Im Monat, war Krupodjors Ant- „Nowosibirsk und Akademgorodok – legen vom Institut für Raketentreibstoffe. wort. „Geschockt stellte sie daraufhin den das war wie Rom und der Vatikan“, sagt Seine Chemiker halten sich mit Geldern Computer ab.“ Der Chemiker lacht in sich Krupodjor: „Uns redete niemand aus der aus einem Topf des Moskauer Fonds für hinein, als freue sich ein Schulbub über Provinzverwaltung hinein. Hier gab es Grundlagenforschung über Wasser und mit einen gelungenen Streich. Wohnungen für jeden und ein exzellentes einem kommerziellen Auftrag aus Taipeh. Wie könnte er auch einer Mexikane- Versorgungssystem.“ Noch in den achtzi- Die Taiwan-Chinesen haben bei den Sibi- rin erklären, dass alles so ganz anders ist ger Jahren fuhren die Nowosibirsker hier- riern Stoffe für die Oberflächenbehand- im „Akademiestädtchen“ Akademgoro- her, um über Bekannte Kostbarkeiten wie lung von Elektronikteilen geordert. dok? Wie könnte er verständlich machen, Pulverkaffee oder Bananen zu ergattern. Gäbe es nicht den ungarisch-amerikani- dass Russlands Elend auch die akademi- Geld war kein Thema im staatlich geför- schen Philantropen George Soros, wäre sche Elite des Landes getroffen hat, für derten Wissenschaftler-Biotop. Akademgorodok noch nicht einmal im In- die hier in diesen Wäldern einst ein Wis- Als das Sowjetreich zerbrach, war Aka- senschaftler-Treibhaus eingerichtet wor- demgorodok, das nur von der Wissenschaft „Wenn ein Wissenschaftler den war, 30 Kilometer südlich von Nowo- und den umliegenden Rüstungswerken leb- hinter dem Leben zurückbleibt – sibirsk, dort wo die Transsibirische Eisen- te, wo Akademiker über den Gottesbegriff bahn aus Moskau nach 2800 Kilome- sibirischer Altgläubiger ebenso grübeln das ist das Ende“ tern und endlosen Sümpfen den Ob über- durften wie über den Bau von Atombom- quert? ben, den neuen Kräften schutzlos ausge- ternet: Der Milliardär finanzierte den liefert wie ein Osterlamm. früheren Staatsforschern den Zugang ins Mindestens vier Prozent aller Staatsein- weltweite Netz. „Dabei hätte allein das RUSSLAND Nowosibirsk nahmen würden in die Wissenschaft Geld, das der erste Tschetschenien-Krieg Moskau fließen, hatte der Gorbatschow-Erbe und verschlang, für weitere sechs Jahre Wis- Akademgorodok Reformer Boris Jelzin geschworen. Doch senschaftsförderung in Russland gereicht“, zum Ende seiner Amtszeit schickte Moskau empört sich der Doktor. „Wir tun ja, was KASACHSTAN fast nur noch Geld für die Stromrechnun- wir können. Aber wenn ein Wissenschaft- gen. Die Forschung musste mit einem Vier- ler hinter dem Leben zurückbleibt – das ist Kaspisches tel der früher üblichen Aufwendungen zu- das Ende.“ 500km Meer CHINA rechtkommen. Die Folgen lassen sich Noch am späten Vormittag macht sich mühelos an den Mauern von Nowosibirsk Krupodjor auf den Weg zur Nowosibirsker

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Universität, die sich ebenfalls in den Kie- Krupodjor fühlt sich wie der Letzte der fernwäldern von Akademgorodok verbirgt. Mohikaner: Einer seiner Freunde, ein Phy- Zwei Stunden wöchentlich unterrichtet er siker, lebt in Kalifornien. Mit Alexej, sei- an der „Physikalisch-mathematischen nem besten Kollegen, kann er sich nur Schule“, einem Förderprojekt für hoch noch übers Internet unterhalten – der ar- intelligente Schüler aus Sibirien. Die Auf- beitet jetzt an der Universität Rostock. nahmekurse an der Uni sind inzwischen Dr. Nick Dobrezow, 38, ist einer der we- wieder überlaufen, hat der Wissenschaftler nigen, die mit der neuen Zeit zurechtkom- registriert, „aber zu uns ist seit langem kein men. Er würde sich nie ins Ausland ver- Absolvent mehr gekommen, alle wandern kaufen. Gerade ist er von einem halbjähri- in die gut zahlende Wirtschaft ab“. gen Einsatz am Belgischen Königlichen Gottlob besitzt der Chemiker auch noch ei- nen Lehrauftrag an zwei weiteren Schulen in der Stadt und einen Ver- trag als Korrespondent der Zeitung „Abendli- ches Nowosibirsk“. Wie sollte ein Wissenschaft- ler mit einem Einkom- men knapp über dem statistischen Lebensmini- mum sonst über die Run- den kommen? Die In- stitutsleitung hat sich auf die neue Zeit einge- stellt und die Anwesen- heitspflicht für Mitarbei-

ter aufgehoben. Haupt- N. KASSIN P. sache, zu Jahresen- Flohmarkt in Nowosibirsk: Mittelalterlicher Tauschhandel de werden genügend wissenschaftliche Publikationen nach- Afrikamuseum zurückgekehrt. Sein For- gewiesen. schungsthema: seismische Aktivitäten in Wer diesen Überlebensbetrieb nicht mit- Zentralasien. Dobrezow ist Geoinformati- machen will, versucht sein Glück auf an- ker; er und die 1200 Kollegen seines Insti- dere Weise. Kürzlich verhaftete die Polizei tuts haben die Zeiten- und Systemwende zwei Wissenschaftler, die mit dem selte- einigermaßen glimpflich überstanden. nen Metall Osmium handelten – 60 000 Sicher, Jelzins Regierung hat den natio- Dollar hatten sie für ein Kilogramm ver- nalen Geologischen Dienst ruiniert. langt. Andere sind einfach gegangen; etwa Grundlagenforschung gibt es auch nicht jeder Dritte hat Akademgorodok verlas- mehr. Aber an Rohstoffen ist Russland sen. Als Erste waren die jüdischen Wis- noch immer reich; Geologen sind gefragt, senschaftler weg: Mathematiker, Physiker, wenn es um die computergesteuerte Aus- Spezialisten für Automation. Sie konnten forschung von Bodenschätzen geht oder – mit deutscher und israelischer Hilfestel- um digitale Kartografie. lung – am leichtesten ausreisen. Ihnen folg- Sogar ein neues Institutsgebäude wurde ten Biologen und Chemiker, Fachleute aus gebaut, das Geld stammt aus einem Joint jenen Instituten, die auf moderne Technik Venture mit Thailand zur Produktion besonders angewiesen sind. Sie bewarben künstlicher Edelsteine. Bei solchen Pro- sich bei internationalen Stiftungen und an- jekten sei das Institut von Akademgoro- dok unübertroffen, brüstet sich Dobrezow, Das Gejammere über die schließlich beherberge es die größte Mine- Abwanderung der Fachleute mag ralien-Sammlung Asiens. Das Gejammere über die Abwanderung kaum noch jemand hören der Fachleute mag er kaum mehr hören. „Was heißt denn, 100 Mathematiker sind gesehenen Instituten im Westen. Dort wer- weggelaufen?“, fragt er und antwortet auch den Gehälter gezahlt, die in Akademgoro- gleich: „Gar nichts.“ Ein Großteil der Kol- dok als märchenhaft gelten. legen sei einfach überflüssig. Auch man- Weil die meisten hervorragende Fach- ches Institut in Akademgorodok habe im leute waren, bekamen sie tatsächlich einen real existierenden Kapitalismus sein Leben Vertrag. Microsoft hat reihenweise Pro- zu Recht ausgehaucht. Viel wichtiger sei grammierer nach Amerika gelockt, al- doch: „Auch in Russland ist die Wissen- lein 60 Molekularbiologen aus dem Wis- schaft endlich frei.“ senschaftlerstädtchen unterrichten inzwi- Dass Dobrezow auf jeden Fall in der schen an Universitäten in Texas und Ala- Heimat bleiben will, hat auch mit seiner Fa- bama oder forschen am US-Gesundheits- milie zu tun. Er ist Geologe in siebter Ge- institut. neration, schon mit zweieinhalb Jahren

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Werbeseite Ausland nahmen ihn die Eltern auf Expeditionen in durfte, verkauft Bauteile für Teilchenbe- erklärt. Ein schönes Wort. Doch nirgendwo die nordkasachischen Steppen mit, sein Va- schleuniger und Röntgenapparate. herrsche so viel Chaos und Not wie in der ter ist inzwischen großer Wissenschafts- Im Institut für Automation haben sich Welt der Weißkittel, glaubt Sossulja. funktionär. junge Wissenschaftler mit der Firma „Soft- Lenins Prinzip der kostenlosen Medizin Patriot Dobrezow hat sogar Angebote lab-Nsk“ selbständig gemacht. Sie ent- für alle ist dort gelandet, wo sich heute aus den USA und Australien ausgeschla- wickeln Computerspiele und Simulations- auch seine anderen Maximen befinden – gen. Für ihn ist Akademgorodok noch im- programme für die russische Raumfahrt- auf dem Abfallhaufen der Geschichte. Mos- mer so etwas wie „ein Kolchos im besten behörde. kau hat den Geldhahn zugedreht. Sinne des Wortes: Hier wird gemeinsam Ergebnisse des Forschungszentrums Dabei geht es laut Sossulja inzwischen geforscht bis abends um zehn, und jedes in- „Vector“ für Virologie und Biotechnologie um das Überleben der Nation: 1,1 Millio- im Nachbarort Kolzowo fanden sogar Ein- nen Russen sterben jährlich an Herz-Kreis- gang in amerikanische Lehrbücher. Das lauf-Krankheiten, mindestens doppelt so frühere Geheiminstitut hat eine Pionier- viele wie im Westen. Auch die Tuberkulo- rolle bei der Erforschung des Ebola-Virus se forderte bereits 83000 Tote; das Gebiet gespielt und produziert Stoffe zur Isolie- von Nowosibirsk, das nicht einmal mehr rung von Hepatitis-Viren und Antibiotika. über mobile Röntgenlabors verfügt, steht Seine Forscher mussten allerdings nie über vor dem Ausbruch einer Epidemie. Geldmangel klagen: Sie arbeiteten lange Die Chirurgen von Akademgorodok Zeit ausschließlich im Auftrag der Militärs wollen ein supermodernes Herzzentrum – an der Entwicklung biologischer Waffen. aufbauen. Berühmt sind sie schon lange – Auch der pfiffige Jurij Sossulja, 33, für eine Operationsmethode, die in der

AP gehört zu den Gewinnern der neuen Zeit. Not des Kalten Krieges entstand. Weil es Präsident Putin (l.) in Akademgorodok Drei Tage nach Abschluss seines Studiums kaum Herz-Lungen-Maschinen gab, wur- Ohne Versprechungen nach Moskau zurück hat der gelernte Hydromechaniker alles den Kinder zur Operation gezielt unter- hingeworfen und seine Chance im Business kühlt: Mit viel Eis wird die Temperatur des ternationale Stipendium wird gerecht ge- gesucht. Zehn Jahre später ist er zum Vi- Organismus auf 24 Grad gesenkt. teilt“. Die Belgier dagegen „ließen abends, zedirektor für Ökonomie am Institut für Maximal 70 Minuten ist das möglich, Punkt halb sechs, die Feder fallen“. Kreislauferkrankungen aufgestiegen. Er re- aber die Ärzte haben es dabei inzwischen Es gibt auch andere in Akademgorodok, gelt dort, womit ein Arzt im heutigen Russ- zu hoher Kunstfertigkeit gebracht. Die eins- die mit der Marktwirtschaft zurechtkom- land überfordert ist: die Geldfragen. tige Armeleutemethode bringt Vorteile: Die men. Das Institut für Kernphysik, das sei- Ja, natürlich, der neue Landesvater Pu- Gehirnfunktionen stellen sich schneller ne Forschungsergebnisse dem Westen tin habe das Gesundheitswesen zu einem wieder ein, und die Operationen kosten schon in den sechziger Jahren anbieten „Grundelement der nationalen Sicherheit“ 10000 Dollar weniger als im Westen. Es fehlen zahlende Patienten. Das Bud- get erlaubt den Ärzten 345 Herzope- rationen an Kindern in diesem Jahr, doch der Bedarf ist weit höher. Bei den Er- wachsenen hat die Klinik voriges Jahr 3000 staatlich finanzierte Eingriffe ausgeführt. Allerdings: Weitere 3000 Patienten stan- den auf den Wartelisten. Sossulja zuckt mit den Schultern: „Wer es schafft, hat Glück. Wer nicht, der stirbt.“ Um die Situation wenigstens optisch zu verschönern, sind die Wartelisten auf staat- liche Anordnung kurzerhand abgeschafft worden. Der Krankenhausmanager hat sich damit abgefunden: „Wer es am Herzen

P. N. KASSIN P. hat und überleben will, der braucht 5000 Intensivstation im Institut für Kreislauferkrankungen: „Wer es nicht schafft, der stirbt“ Dollar – das ist das Gesetz der neuen Zeit.“ Ob Putin daran etwas ändern kann? „Wir haben nur eine Chance“, sagt Ma- zogen damit Häuser hoch, wir durften „Bei uns herrscht abwartende Skepsis“, nager Sossulja: „Wir müssen selber Geld einen Teil der Miete kassieren – schon hat- weicht Sossulja aus. verdienen.“ Der Staat habe zwar kaum ten wir Bargeld. Gott ja, das war mittelal- Chemiker Krupodjor dagegen wird auf noch die versprochenen Gelder geschickt, terlicher Tauschhandel, und immer stan- jeden Fall auswandern, komme, was wol- in seiner Ohnmacht aber immerhin einen den wir mit einem Bein im Knast“, räumt le. Die alteingesessenen Laborchefs in sei- Ausweg gewiesen. Überall dort, wo die Manager Sossulja ein, „aber, sagen Sie mir, nem Institut, die trotz ihres Rentenalters Behörden nicht in der Lage waren Steuern welcher Arzt hätte das denn geschafft?“ wegen der zu niedrigen Pension weiterar- einzutreiben, durfte das Krankenhaus als Im dritten Stock der Klinik hat Sossulja beiten müssen, können das nicht. Sie klam- Büttel des Fiskus auftreten. auf diese Weise schon eine moderne In- mern sich an die Hoffnung, dass vielleicht „Die Steuerbehörde verwies uns bei- tensivstation eingerichtet. Einen Stock tie- doch noch mal ein starker Mann wie Sta- spielsweise an ein verschuldetes Ziegel- fer, in der überfüllten alten Station, sieht lin ihre kleine Gelehrten-Republik wieder werk, das seit langem keine Steuern mehr dagegen noch alles wie früher aus: keine aufleben lässt. zahlen konnte. Die gaben uns Ziegel im Jalousien, alte Lampen, dafür aber neue Nur der Geologe Dobrezow ist optimis- Wert ihrer Steuerschuld. Mit denen gingen Heiligenbilder über den Betten der tisch: „Wir haben das Schlimmste doch wir zum überschuldeten Baukombinat. Die röchelnden Kranken. schon hinter uns.“ Christian Neef Werbeseite

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chen Klöster zu transportieren, die sich vor Beitrittsanwärtern kaum noch retten kön- ÄGYPTEN nen. Die christliche Minderheit feiert ein selbstbewusstes Comeback. Die Wellen der blutigen Überfälle isla- Wunder auf Bestellung mistischer Extremisten auf Kopten und ihre Kirchen, die seit der Ermordung von Ex- Weitgehend integriert leben die Kopten unter den Muslimen des Präsident Anwar al-Sadat 1981 in periodi- schen Abständen durch das Land schwapp- Niltals. Nun fordern die ebenso frommen wie konservativen ten, scheinen endgültig verebbt. Gleich- Christen ein härteres Durchgreifen gegen militante Islamisten. wohl fordern die Kopten von der Regie- rung, statt sporadischer Aktionen ein Lang- arjam Jussufs Augen leuchten. vom „gleißenden Funkenregen im heiligen zeitkonzept zu entwickeln, um in Zukunft „Die heilige Jungfrau“, ruft sie, Haar“ schwärmt. jede Art von Übergriffen nicht nur gegen M„o Herr – ich sehe die Mutter Die etwa 8 Millionen Kopten, die unter Christen, sondern auch gegen moderate Gottes.“ Die Stimme der Mittfünfzigerin den etwa 60 Millionen Muslimen leben, er- Muslime bereits im Ansatz zu verhindern. im knöchellangen, dunkelblauen Baum- fahren derzeit eine ganze Flut von Marien- Denn auch heute bleibt den Kopten ein wollkleid überschlägt sich. „Seht nur, wie erscheinungen. Pilgerströme von Ange- Rest Unsicherheit. Sie misstrauen der Dop- ihr Haar glitzert und strahlt. Welch eine hörigen einer der ältesten christlichen pelstrategie der verbotenen radikalen Mus- Gnade“, jubiliert die Bäuerin im breiten Kirchen ziehen an den Wunderort, an dem limbruderschaft, deren Angehörige sich ei- Dialekt der Deltaprovinz Minufija. sich die Gottesmutter angeblich mehrmals nerseits als demokratisch geläuterte Islam- Von Freude überwältigt, klammert sich im Monat den Gläubigen zeigt. Ägyptens Politiker ausgeben, gleichzeitig aber wei- die koptische Christin ans Gitter, das den Kopten sind ein besonders frommes Völk- terhin Stimmung machen gegen die „kop- so genannten Marienbaum schützen soll: chen, das sich nicht nur durch eine ausge- tischen Kreuzritter“ und im Untergrund jene Sykomore in Kairos nördlicher Vor- prägte Vorliebe für das Übernatürliche, unbeirrt an ihrem Ziel festhalten, Ägyp- stadt Matarija, unter der einst die Heilige sondern auch durch besonders tiefe Reli- ten in einen islamischen Gottesstaat um- Familie auf ihrer Flucht vor König Herodes giosität vom Rest der Christenheit unter- zuwandeln. gesessen haben soll. scheidet. Die Hinwendung der Gläubigen zu ihrem Ein Priester im schwarzseidenen Turban Jeden Freitag, dem islamischen Wochen- Papst Schenuda III., ihren Klöstern und ruft: „ein Wunder“. Sein Begleiter, ein No- feiertag am Nil, setzen sich lange Bus- Schriften, ihren Wundern und Erscheinun- vize aus einem nahen Kloster, breitet die kolonnen in Bewegung, um die gläubigen gen ist schon immer Ausdruck frommer Zu- Arme aus, um die Fellachin aufzufangen, Kopten zu Kurzbesuchen in die zahlrei- flucht gewesen. Kaum eine andere christli- die entrückt auf die Pflastersteine zu stür- che Glaubensgemein- zen droht. Pilger fallen auf die Knie und schaft verteidigt mit murmeln ein „Abana alladhi“, das arabi- vergleichbarer Inbrunst sche Vaterunser, während die verzückte die Heilandslehre und Frau die Augen wieder weit öffnet und die zahlreichen aus der alt-ägyptischen My- Kairoer Markus-Kathedrale, Papst von thenwelt übernomme- Alexandrien Schenuda III. nen Anleihen wie die Tapferkeitsmedaille im Palästina-Feldzug angeblich vom Evange- listen Markus bereits im Jahre 61 zum neu- en Glauben bekehrten Ägypter. Doch dem unduld- samen Eifer der Neu- bekehrten fiel jene ägyptisch-hellenistische Symbiose zum Opfer, welche die antike Hauptstadt Alexandria zum geistigen Mittel- punkt der alten Welt gemacht hatte. Die ägyptischen Christen, die in den ersten drei Jahrhunderten von den rö- mischen Besatzern blutig verfolgt wor- den waren, entwickelten rasch selber eine grausame Intoleranz. Es waren wahrscheinlich Kopten, die im vierten Jahrhundert einen Großteil der weltberühmten Biblio- thek von Alexandria verbrannten, weil sie die dort aufbewahrten Papyrus- rollen für ketzerische Texte hielten. Auf dem Konzil von Chalkedon 451 kappte Ägyptens Kirche denn auch ihre Beziehungen mit dem Rest der

FOTOS: N. SCHILLER FOTOS: Christenheit, beschritt einen Sonder- Werbeseite

Werbeseite Ausland weg und lehnt im Grunde bis heute ökumenische Annäherungs- versuche ab. Von Protestanten und Katholiken unterscheiden sich Kopten vor allem durch ihre Vor- stellung von Jesus Christus, in dem für sie Göttlichkeit und Mensch- lichkeit „zu einer Natur verbun- den“ sind. Als sich Ägypten im 19. Jahr- hundert europäischem Gedanken- gut öffnete, erlangten die Kopten die ersehnte rechtliche Gleichstel- lung mit ihren muslimischen Lands- leuten. Erstmalig durften sich Ägyptens Christen am politischen Entscheidungsprozess beteiligen, in der Armee dienen und sogar Mi- nisterposten bekleiden. Im Palästina-Feldzug von 1948 gegen den neuen Staat Israel kämpften ägyptische Christen und Muslime Seite an Seite. Dabei er- stritt sich auch der heutige Papst

Schenuda eine Tapferkeitsmedail- / LAIF A. KRAUSE le. Später verbot er seinen Schäflein Koptische Priester beim Gottesdienst in Kairo: „Funkenregen im heiligen Haar“ unter Androhung der Exkommuni- kation die traditionelle Pilgerfahrt nach Je- Markus-Kathedrale, der größten Kirche Religion. Die koptische Sonntagszeitung rusalem, solange Israel die Heilige Stadt des Nahen Ostens, förderte . „Watani“ (Mein Vaterland) verlangt „mu- besetzt hält. Anders als die westlichen Nachfolger Anwar al-Sadat sagte dage- tigere Schritte“ von der Staatsführung und christlichen Kirchen halten die Kopten gen den Marxisten den Kampf an und will sich nicht mehr mit wenigen Minister- auch weiterhin an der Schuld der Juden am suchte Mitstreiter. Der frömmelnde Raïs posten und den zehn christlichen Abge- Tode Christi fest. setzte die unter Nasser inhaftierten islami- ordneten zufrieden geben, die der Staats- Die Offiziersjunta, die 1952 die Monar- schen Agitatoren wieder auf freien Fuß chef ins Parlament entsendet. chie stürzte und sich dem „arabischen So- und stellte die Einführung der Scharia, der Die Zeichen für eine Aussöhnung zwi- zialismus“ verschrieb, fand auch unter den islamischen Rechtsprechung, in Aussicht. schen Christen und Muslimen stehen nicht Kopten Anhänger. Präsident Gamal Abd Die Führungskader extremistischer isla- schlecht. Patriarch Schenuda, der als Re- al-Nasser, der ein Attentat fanatischer Mus- mischer Gruppen förderten, vom Staat un- former und Modernisierer seiner Kirche in lime überlebte, sicherte sich die Sympa- gehindert, die Bildung von Schlägertrupps die Geschichte eingehen möchte, pflegt in- thien seiner christlichen Landsleute vor al- an Universitäten und Betrieben und ver- tensive Beziehungen zu Scheich Moham- lem dadurch, dass er im Kairoer Stadtteil stiegen sich gar zu der Forderung, Christen med Sajjid Tantawi, dem Oberhaupt der Abbassija mit Staatsgeldern den Bau der und „Ketzer“ aus Staat und Armee zu ent- Azhar-Universität, der prominentesten Bil- fernen. Damit setzte langsam der Schlag- dungsstätte der islamischen Welt. Der li- Angeklagte Muslimbrüder* abtausch zwischen den islamischen Ultras berale Muslimführer gilt als Fürsprecher Kampf den „koptischen Kreuzrittern“ und den Sicherheitsorganen ein. Der kon- der Intelligenzija und der Kopten und wei- fessionelle Schwelbrand ging weiter. gert sich sogar, von einer „koptischen Min- Im Sommer 1981 setzte Sadat den unbe- derheit“ zu sprechen. „Die ägyptische Ge- quemen Patriarchen ab, verbannte ihn für sellschaft bindet mehr, als sie trennt“, do- einige Jahre in ein Wüstenkloster im Na- ziert der Religionsgelehrte. trun-Tal und verhaftete islamische Gewalt- Dennoch fürchten viele Kopten um ihre täter. Zu spät. Am 6. Oktober brachten Is- Zukunft. Sie glauben, dass die Auseinan- lamisten ihren einstigen Gönner auf einer dersetzung zwischen dem Staat und den Is- Militärparade um, während gewalttätige lamisten noch nicht endgültig beendet ist. Muslimkämpfer auf dem Lande einen Doch wie immer stellen sich zur rech- Kleinkrieg gegen christliche und muslimi- ten Zeit auch die bewährten Wunder ein, sche „Ungläubige“ führten. die das Vertrauen in die Zukunft wieder Der Kampf des Sadat-Nachfolgers Hus- herstellen. So erschien den Gläubigen ni Mubarak gegen die islamischen Extre- im Suweika-Viertel der oberägyptischen misten half wiederum den Kopten. Es ge- Großstadt Asjut jetzt wiederholt ein „hei- lang den Sicherheitskräften, den harten liges Licht“. Eine Kirchenkommission ist Kern der islamistischen Gruppen aufzu- bereits mit der Untersuchung dieses er- brechen, die Kopten, Polizisten und aus- freulichen Zeichens beauftragt worden, das ländische Touristen zu ihrer Zielscheibe offenbar nicht ausschließlich an die Kopten gemacht hatten. gerichtet ist. Doch die immer noch verunsicherten Der Glanz des Himmels offenbarte sich Nil-Christen wollen mehr. Sie hoffen wie- den Trost Suchenden diesmal nicht nur der auf eine klare Trennung von Staat und über den Dächern einer Kirche, sondern auch über den Minaretten einer nahen Volkhard Windfuhr N. SCHILLER * Bei einem Prozess in Kairo. Moschee.

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Werbeseite FOTOS: AP Ermittlerin Del Ponte mit Uno-Generalsekretär Annan, im Kosovo bei der Untersuchung eines Massengrabs: Eiskalte Professionalität

VEREINTE NATIONEN Eine Frau mit Maßstäben Carla Del Ponte, Chefanklägerin bei den Uno-Kriegsverbrechertribunalen, erwarb sich als Mafiajägerin internationale Reputation. Doch bei den Prozessen in Den Haag und im afrikanischen Arusha stößt die strenge Juristin an politische Grenzen.

arla Del Ponte, Jahrgang 1947, ist et- setzt Del Ponte jetzt Ko∆tunica unter Druck: was sehr Alltägliches passiert, als sie „Es ist undenkbar, dass Milo∆eviƒ nicht die Cnoch ein Mädchen im Tessiner Berg- Konsequenzen seiner Taten zu spüren be- dorf war. Der Vater sagte: „Heiratest ja kommt“, rügte sie am vorigen Dienstag vor doch.“ Er wollte ihr Studium verhindern. dem Weltsicherheitsrat. „Phrasen“ will sie Doch Carla, einzige Tochter unter drei Ko∆tunica nicht durchgehen lassen. Brüdern, trieb der Trotz. Zeigen wollte sie Doch auch auf ihren Feind Nummer es ihnen, mit denen sie gerauft hatte und zwei, den angeklagten bosnischen Serben- die jetzt den prestigeträchtigen Arztberuf führer Radovan Karad¢iƒ, wird sie wohl erlernen sollten. Also zog die dickköpfige noch eine Weile warten müssen. Hatten ihr Tessinerin nach Bern, um ein Jurastudium die Nato-Militärs nach dem Machtwechsel

zu beginnen. Aus Carla Del Ponte wurde / JOKER ECKENROTH P. zunächst signalisiert, sie könne mit seiner eine Staatsanwältin. Uno-Gericht in Den Haag baldigen Festnahme rechnen, ließen sie Del „Das war mein frühes Gleichstellungs- Grauer Himmel, ruppiger Ton Ponte jetzt wissen: „Er hat noch gute Freun- programm“, kommentiert die heutige Uno- de.“ Immerhin kann das Tribunal in Bel- Chefanklägerin ihren Werdegang. Sie spielt zur Farce, werden taffe Anklagen gegen grad jetzt wieder ein Büro eröffnen. die Rabiate, wenn sie in ihren Anklagen die Balkankriegsherren zu Schriftsätzen mit Ausgestattet mit einem Mandat des Uno- Schuldvorwürfe anhäuft und die Welt in drohendem Verfallsdatum. Sicherheitsrats, sollen die derzeit zwei Ad- Gut und Böse einteilt. Immer schon woll- Eine Auslieferung Slobodan Milo∆eviƒs hoc-Gerichte der Uno die Kriegsverbre- te sie auf der Seite des Staates stehen, Del komme nicht in Frage, hat der neue Ju- chen im früheren Jugoslawien und den Völ- Ponte, die Legalistin mit der rauchigen goslawienpräsident Ko∆tunica nach seiner kermord an über 500000 Tutsi in Ruanda Stimme und dem blonden Bubikopf, die Wahl erklärt, „das Tribunal ist ein Werk- ahnden. Ihre Rechtsgrundlagen sind die einen Porsche mit Rennfahrerlizenz fährt. zeug der USA, die Anklage schlecht durch- Haager Landkriegsordnung von 1907 und Die Schurken konnten ihr nie dacht“. Der Westen, der den Mann die Genfer Konvention von 1949. großkalibrig genug sein: früher gegen Ma- braucht, schrie nicht auf, er sekundierte. Gleich nach Beendigung des Krieges im fiosi und Geldwäschersyndikate in der Außenminister Joschka Fischer, zu Kosovo- Kosovo musste Del Ponte jedoch die To- Schweiz, wo sie sich als Bundesanwältin Kriegszeiten noch ein Eiferer, stemmt sich deszahlen nach unten korrigieren, die internationale Reputation erwarb, heute gegen eine schnelle Verhaftung: „Vorrang Nato-Vertreter krass nach oben manipu- als Chefanklägerin der Uno gegen mut- hat die Konsolidierung der Demokratie.“ liert hatten. Da war vor dem Haager Tri- maßliche Kriegsverbrecher. Del Ponte kontert, mal mit müdem Witz bunal auch ein Bericht eingereicht wor- Doch die Frau mit den absoluten Maß- („In Haag ist noch eine Zelle frei“), mal mit den, der Anschuldigungen gegen die Nato stäben macht gerade die ernüchternde Er- Schärfe: „Politik interessiert mich nicht. wegen der Bombardierung ziviler serbi- fahrung, dass die Konturen zwischen Gut Mein Hauptziel ist, den wegen Kriegsver- scher Anlagen während des Kosovo-Krie- und Böse schnell verblassen, wenn die brechen angeklagten Milo∆eviƒ vor das Tri- ges enthielt. Carla Del Ponte ließ prüfen schneidig proklamierte Weltjustiz im Na- bunal zu bringen.“ und stellte die Untersuchung wieder ein, men des Menschenrechts zum Spielball Nur: Auf dem Balkan kann das dauern. weil es „keine Anzeichen für gezielte An- politischer Opportunitäten wird. Seit dem Mit seiner Sozialisten-Partei plant Milo∆eviƒ griffe auf Zivilisten“ gäbe. In Ruanda sind Machtwechsel in Belgrad gerät das Gericht sogar ein politisches Comeback. Deshalb die Uno-Ermittler vom Wohlwollen des

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Staatschefs Paul Kagame abhängig. Der nen, dass die Mafia nicht nur italienische hält derzeit Teile des Kongos besetzt und Folklore war. ist darüber mit der Uno in Streit geraten. Seit 1994 leitete Del Ponte als oberste Erst im Frühsommer hat die Chefankläge- Bundesanwältin komplizierte Ermittlungen rin von Kagame ein Dauervisum für Ruan- gegen südamerikanische Rauschgiftclans da erhalten. Sollte sich Del Ponte also in und ermittelte auch gegen zwielichtige Ge- Kagames Händel einmischen? Sie verzich- stalten im Umfeld des ehemaligen Kreml- tet lieber: „Wir sind politisch neutral.“ chefs Boris Jelzin wegen Geldwäsche. Niemand, der Del Ponte kennt, wird sie Doch während im Ausland ihr Ansehen verdächtigen, Sympathien für Angeklagte stieg, nörgelten daheim die Bankiers, sie zu entwickeln. Von ihrer eiskalten Profes- beschädige den Finanzplatz Schweiz. sionalität lässt sie auch nicht ab, als erst- 1999 berief Uno-Generalsekretär Kofi mals ein Europäer vor dem Ruanda-Tribu- Annan sie zur Chefanklägerin der Uno. nal im tansanischen Arusha erscheinen Seither vertritt sie keinen Staat, keine na- muss, der belgische Journalist Georges tionalen Rechtsstaatswerte, allenfalls die Ruggiu, der als Radiomoderator beim dürftigen Maßstäbe der internationalen berüchtigten Sender Mille Collines den Völkerrechtsgemeinschaft. Hetzer machte. Unter dem meist grauen Himmel von „Füllt die Gräber“, hatten die Modera- Den Haag, wo sie sich stets durch neue toren über den Hass-Sender in Ruanda auf- Aktenberge für das Jugoslawien-Tribunal gerufen. Ruggiu war dort in hochrangiger wühlt, ist die Atmosphäre beim Gericht Position tätig, ein Freund der Präsidenten- kühl. An den Sicherheitsschleusen be- Clique. fremdet der ruppige Ton von Wachleuten Von ihrem Anklägerpult in Den Haag aus in blauen Uno-Hemden. kann Carla Del Ponte dem Beschuldigten ins Seit Monaten sagen hier Bosnierinnen Gesicht sehen, einem schmächtigen, blassen aus, die in serbischen Vergewaltigungsla- Mann mit Bart. Als ein hilfloses Bündel gern die schlimmsten Erniedrigungen er- Mensch sitzt Ruggiu zusam- mengesunken auf seinem Stuhl. Er hat gestanden. Ein Zuschauer zischelt auf der Galerie: „Er war der Goeb- bels von Kigali.“ Der belgi- sche Verteidiger im Saal plä- diert: „Er war von entwaff- nender Naivität und wurde verführt.“ So etwas lässt die Anklä- gerin nicht gelten: „Dieser Mann ist Europäer, kein Hutu, kein Ruander, und er ist in der schwersten Kate-

gorie der Kriegsverbrechen PRESS / SIPA HALEY T. angeklagt, und er hat wei- Massenflucht aus Ruanda (1994): „Füllt die Gräber“ tergemacht, als er längst wusste, dass auf den Straßen gemordet wur- lebten. Erstmals in der Rechtsgeschichte de.“ Del Ponte fordert 20 Jahre für Ruggiu. verfolgt ein Tribunal Massenvergewalti- Das Gericht verurteilt ihn zu 12 Jahren. gung in einem Krieg als Verbrechen gegen „Man liebt sie oder man hasst sie“, hat die Menschlichkeit. die Schweizer „Weltwoche“ über die ruppi- Die Jägerin Del Ponte aber will mehr. Sie ge Anklägerin geschrieben. Die „Neue Zür- will die Großen aus dem ehemaligen Jugo- cher Zeitung“ nannte sie „unkontrollierba- slawien haben, gegen die ihre Vorgängerin re Fernlenkwaffe“. Viele Schweizer nehmen Louise Arbour schon die Haftbefehle aus- ihr das Ungestüme der Ermittlungen übel. stellte. Auf den Fluren des Haager Gerichts Sie wehrt sich: „Wenn du nicht schnell bist, hängen die Steckbriefe der Serbenführer brauchst du nicht Staatsanwalt zu sein.“ mit der ausgelobten Belohnung von insge- Ihr Renommee als beinharte Ermittlerin samt fünf Millionen Dollar. hat sie in der Zusammenarbeit mit dem Im Stillen hat sie in Den Haag eine Spe- italienischen Untersuchungsrichter Gio- zialistengruppe von Finanzermittlern auf- vanni Falcone erworben, der für seinen gebaut, die mit ihren Computern verdeck- Kampf gegen die Mafia 1992 ermordet ten Konten nachspüren. Sie will ihre Kun- wurde. Der Ermittler aus Palermo bezog den schon vor einer Festnahme von allen die junge Juristin aus Lugano in seine Geldquellen abschneiden. Mafiauntersuchungen ein, weil er schwarze Und sie ist sich sicher, dass sie eines Ta- Konten der sizilianischen Bosse im Tes- ges auch die prominentesten Angeklagten sin vermutete. Falcone nahm sie mit zu vor Gericht bringen kann. Sie sagt nicht Verhören, lehrte sie Vernehmungs- und wie und nicht wann, aber aus ihrem Fahndungstechniken, das ganze professio- Lächeln ist zu entnehmen: Wartet ab, ihr nelle Rüstzeug. Die Schweiz musste ler- werdet sehen. Sylvia Schreiber

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Werbeseite FOTOS: AP FOTOS: Chinesische Massenhochzeit: Konkubinen aus der Staatskasse finanziert

bilität“ des Landes in Gefahr. Allerdings Das neue Gesetz soll auch auf ein wei- CHINA sind die Kader selbst ein gravierender Teil teres Problem reagieren: In jeder dritten des Problems. „Im Süden“, sagt ein hohes Ehe werden Frauen verprügelt. Fortan Ein Schuss im Pekinger KP-Mitglied, „bist du als Politiker muss die Polizei die Täter bestrafen, die ein Nichts, wenn du keine Freundin hast.“ bislang oft ungeschoren davonkommen, Das Geld für eine Konkubine zweigen weil sich Polizisten und Staatsanwälte stillen Wald Funktionäre häufig aus der Staatskasse ab, weigern, ihre Geschlechtsgenossen anzu- was den ohnehin angeschlagenen Ruf der klagen. Auch die Blockwarte der Nach- Peking stemmt sich gegen den Partei nicht gerade verbessert. barschaftskomitees richten in der Regel Die Reform des Ehegesetzes ist überfäl- wenig aus. Die Juristin Zhao Shuhua, die moralischen Verfall der Familie. lig, weil sich das alte Paragrafenwerk von im Westteil von Peking eine Hotline für Ein reformiertes Ehegesetz soll 1980 nicht mehr mit der Realität des neu- Rat suchende Ehefrauen leitet, fordert Frauen besser stellen – untreuen en China deckt. Vermögensfragen zum Bei- daher: „Der Staat muss sich stärker ein- Männern droht Gefängnis. spiel regelt es nur schwammig. Vor 20 Jah- mischen.“ ren hatten Eheleute allenfalls ein paar Mö- Doch wie weit er gehen darf, ist derzeit ong Hong, 28, ist fertig mit ihrem bel zu verteilen; mittlerweile besitzen nicht so heftig umstritten, dass die Oberen des Mann. Jahrelang hatte sie im ge- wenige Chinesen ein Auto, eine Wohnung Nationalen Volkskongresses – Pekings Hmeinsamen Lokal geschuftet, wäh- und Millionen Yuan auf dem Sparkonto. Scheinparlament – die Gesetzesvorlage auf rend er sich anderswo vergnügte. Dann ihrer Oktober-Sitzung wieder von der Ta- steckte er sie mit einer Geschlechtskrank- gesordnung nahmen. Juristen, Wissen- heit an, Kinder kann sie deshalb nicht be- schaftler und Kommentatoren schaudern kommen. bei der Vorstellung, dass Ehefrauen auf der Daraufhin angelte sich ihr feiner Gatte Polizeiwache ihre Männer anzeigen kön- eine Jüngere, mit der er ein Baby zeugte, nen und Beamte dann in den Wohnungen und nun will er seine Frau auch noch um vermeintlicher Rivalinnen nach Beweis- ihren gerechten Anteil am Geschäft betrü- material fahnden müssen. gen. Allenfalls 100000 Yuan (knapp 28000 Ehebruch, sagt etwa die Professorin Li Mark) ist er bereit ihr nach der Scheidung Yinghe von der Chinesischen Akademie zu bezahlen. Hong Hong empört sich: „Wie der Sozialwissenschaften, sei ein morali- kann man mit 100000 Yuan Jugend und sches Problem, dem mit Gesetzen schwer- Gesundheit wiederkaufen und die seeli- lich beizukommen sei. Andere Kritiker schen Verletzungen heilen?“ wenden ein, drastische Regeln würden sich Die Frau aus Chongzhou in der Provinz erfahrungsgemäß ohnehin nicht bewähren. Sichuan schlägt jetzt zurück. Mindestens Zahlreiche Frauen stimmen dem Re- 570000 Mark verlangt sie von ihrem Mann formvorhaben jedoch begeistert zu. Als – die Forderung lässt sich derzeit zwar nicht „Gewehrschuss im stillen Wald“ beschreibt durchsetzen, aber das könnte sich bald än- der Kantoner Frauenverband die Reaktion dern. Die chinesische Regierung will näm- vieler Geschlechtsgenossinnen. Manche lich das Ehegesetz radikal reformieren und verlangen sogar, untreue Männer aus Be- die Lage verheirateter Frauen verbessern. trieb und Partei zu feuern. Kern des Vorhabens: Notorisch untreue Die Pekinger Frauenrechtlerin Xie Li- Männer sollen bei einer Scheidung nicht hua hat vor allem die rund 400 Millionen nur das gemeinsam erwirtschaftete Ver- Prostituierte, Kunde* Frauen auf dem Land im Auge, die, oft un- mögen teilen, sondern ihren Frauen auch „Prinzip der gerechten Konkurrenz“ gebildet und in patriarchalischen Traditio- eine Entschädigung für die zugefügte Krän- nen verfangen, ihren despotischen Män- kung bezahlen. Und: Wer eine ständige Der radikale wirtschaftliche Umbruch nern hilflos ausgeliefert sind: „Das Gesetz Geliebte hat, riskiert in Zukunft bis zu zwei brachte jedoch nicht nur Wohlstand in verbessert die Situation der Schwachen, Jahre Gefängnis; der Gesetzentwurf stellt die Familien. Die Zahl der Scheidungen die sich nicht wehren können.“ eine längere außereheliche Affäre mit Bi- hat sich seit Anfang der achtziger Jahre In der Industriestadt Shenzhen, wo vie- gamie gleich. verdreifacht. In Metropolen wie Peking le Hongkonger ihre Konkubinen haben, ist Denn immer mehr Männer leisten sich oder Schanghai scheitert mittlerweile je- das Echo allerdings gedämpft. Eine Um- eine jüngere „er nai“, eine Zweitfrau, so de dritte Ehe. Rund die Hälfte aller Paa- frage der Hongkonger Tageszeitung „Ming dass die Partei bereits um die Institution re geht auseinander, weil ein Partner un- Pao“ unter Nebenfrauen ergab, dass die der Ehe fürchtet. Hu Kangsheng, Vizechef treu war. Reform ihrer Meinung nach gegen das des Rechtsausschusses im Nationalen „Prinzip der gerechten Konkurrenz“ ver- Volkskongress, sieht gar die „soziale Sta- * Bei einer Razzia in einem Pekinger Hotel. stoße. Andreas Lorenz

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NEUROWISSENSCHAFT Blick ins Babyhirn ie sehen Neugeborene die Welt? Einen Wwesentlichen Schritt zur Beantwortung

dieser alle Eltern bewegenden Frage gelang OF LONDON L. TUCKER / BIRKBECK UNIVERSITY nun britischen Forschern: Erst zwischen dem sechsten und achten Monat, so be- richten sie im Fachblatt „Science“, lernt der Mensch, das Erblickte zu einem Bild zusammenzufügen. Für ihre Un- tersuchung verkabelte die Gruppe um Gergely Csibra an der University of London 22 Babys mit Elektroden und ließ sie auf einen Monitor blicken. Auf dem flimmerte das so genannte Kanizsa-Quadrat: Vier Mün- der, wie man sie von dem in den achtziger Jahren populären Videospiel Pacman kennt, zeigen in die Mitte und erzeugen dabei die Illusion eines Quadrats. Bei der Auswertung Kanizsa-Quadrat, Baby mit Elektroden zur Messung der Gehirnaktivität der Hirnsignale zeigte sich, dass die insge- samt elf Probanden im Alter von acht Monaten schon dieser op- nen des Quadrats. Diejenigen elf Babys indessen, die erst sechs tischen Täuschung erlagen: Wann immer das Kanizsa-Quadrat Monate alt waren, konnten die vier Pacman-Münder offenbar auftauchte, feuerten in den Gehirnen der Kleinen bestimmte noch nicht als Quadrat wahrnehmen: Als sie auf das Kanizsa- Nervenzellen – in einem Muster, das typisch ist für das Erken- Symbol starrten, blieb das charakteristische Signal aus.

ERNÄHRUNG Geißeln fort, die, Außenbord- motoren gleich, mechanische Kantinenessen im Energie liefern. Wie die Hams- ter im Laufrad strampeln, so Infrarottest sollen die Bakterien im Innern des U-Boots mit ihren Geißeln n Japan messen einige Supermarkt- schlagen. Dadurch lassen sie IKunden mit einem handlichen Nah- eine Achse rotieren, mit der sie Infrarotgerät den Reifegrad von Obst mechanisch verbunden sind. und Gemüse und entscheiden dann, Die Achse wiederum dreht ei- was sie kaufen. Auch in Deutschland befindet sich die schnelle Technik auf / INTER-TOPICS STAR SHOOTING Außen- dem Vormarsch: Der Lebensmittelche- U-Boot in der Blutbahn des Menschen Rotorblatt propeller miker Hans Büning-Pfaue von der Uni- (Filmvision aus „Phantastische Reise“) versität Bonn hat jetzt die Kontrolle von Gemeinschaftsverpflegung einge- NANOTECHNIK führt. In der Großküche kann man die Achse Zusammensetzung kompletter Menüs U-Boote ermitteln. Binnen Sekunden erkennt Bakterien- solch ein Gerät, wie viel Eiweiß, Koh- mit Mikrobenmotor Geißel lenhydrate und Gesamtfett in einem Es- sen stecken, das beispielsweise aus ei- echniker der Utah State University Quelle: New Scientist nem panierten Schnitzel, Kartoffeln, Tin Logan wollen winzige U-Boote Erbsen und einem gemischten Salat be- bauen, die von Bakterien angetrieben nen Außenpropeller – das Vehikel setzt steht. Gleichzeitig verrät die Apparatur, werden. Für den Mikroben-Motor, des- sich in Bewegung. In einem späteren welche Sorten von Fettsäuren auf den sen Prototyp in wenigen Monaten lau- Typ sollen nur noch Geißeln ohne Bak- Teller kommen. Das Prinzip beruht auf fen soll, halten die Tüftler eine be- terien im Maschinenraum arbeiten (sie- Absorption und Reflexion von Infrarot- stimmte Salmonellenart (S. typhimuri- he Grafik): Das U-Boot wäre kleiner als licht. Die unsichtbaren Strahlen regen um) für geeignet. Einerseits überleben ein Millionstel Millimeter und könnte, Moleküle zu Schwingungen an und wer- diese Bakterien eine Stunde ohne Nah- so die Vision, durch den menschlichen den dabei unterschiedlich absorbiert; rung; zum anderen bewegen sie sich mit Körper geschickt werden, um etwa ein spezifisches Muster entsteht. besonders kräftigen schlangenförmigen Pfropfen in Arterien fortzuräumen.

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TIERVERSUCHE Mäuse als Abfall entsorgt Franz Gruber, 58, Leiter des „Fonds für versuchstierfreie Forschung“ in Zürich, über den gestiegenen Verbrauch von Versuchstieren in Deutschland

SPIEGEL: In der Pharmaindustrie erset- zen Computersimulationen und Robo- ter inzwischen die Hälfte aller Tierexpe- rimente. In der Grundlagenforschung

J. PEEL J. hingegen wurden 1999 fast 60000 Tiere Fehlgeleiteter Elefant im Pilanesberg-Nationalpark mehr zerschnitten oder vergiftet als im Vorjahr. Wie kommt das? TIERE Gruber: Die Pharmaforschung hat ge- lernt, dass sie mit alternativen Metho- den oft schneller, präziser und billiger Perverse Elefanten gezähmt zum Ziel kommt. In der zweckfreien Forschung haben die Wissenschaftler albwüchsige Elefanten haben im südafrikanischen Pilanesberg-Nationalpark in das nicht nötig und sind oft gar nicht an Hden vergangenen Jahren immer wieder Weiße Nashörner vergewaltigt und Ersatzmethoden inter- mehr als 40 von ihnen mit ihren Stoßzähnen getötet (SPIEGEL 2/1997). Endlich essiert. haben südafrikanische Biologen einen Weg gefunden, den mörderischen Spuk zu SPIEGEL: Die Zunahme beenden: Die Forscher siedelten sechs alte Elefantenbullen aus dem Krüger-Natio- betrifft Hunde, Kat- nalpark an, berichtet das Wissenschaftsmagazin „Nature“; seither wurde kein Nas- zen, Affen und vor horn mehr aufgespießt. Die Respekt einflößenden Alttiere normalisierten offen- allem Mäuse und Fi- sichtlich die Sozialstruktur, die unter den insgesamt 85 Dickhäutern in Pilanesberg sche. Wozu verwendet gänzlich gestört war: Die 17 wilden Jungbullen der Herde sind allesamt Waisen. man sie?

Nachdem Jäger ihre Eltern abgeschossen hatten, wurden sie – als Elefantenkinder Gruber: Für möglichst / LOOKAT A. SCHWAIGER – nach Pilanesberg verfrachtet. Als sie hier in die Geschlechtsreife und damit in die jedes genetische Gruber so genannte „Musth“ kamen, eine eigentlich natürliche Phase sexueller Aggressi- Merkmal soll ein so vität, fehlten höherrangige Bullen, welche den Pubertierenden Einhalt hätten ge- genanntes Knockout-Maus-Modell ge- bieten können. Zum Wohle der Nashörner haben die Biologen das nun geändert. schaffen werden. Hinter jeder gentech- nisch veränderten Maus stehen aber Hunderte von Tieren, bei denen die Manipulation nicht gelungen ist. Die werden als Abfall entsorgt. Am stärks- ARCHÄOLOGIE lässt die Skythen als kultivierte Bau- ten ist die Zunahme bei den Fischen, meister erscheinen. Die Siedlung war für die sich vermehrt die Evolutionsbio- Sesshaftes Reitervolk offenbar durch eine Zitadelle vor Über- logen interessieren. Auch in der Ökoto- griffen gesichert. In den Resten der xikologie wird viel mit Fischen ge- isher galten die Skythen als wilde mehrräumigen Gebäudekomplexe forscht. BReiternomaden. Vor etwa 2800 bis stießen die Wissenschaftler auf Kerami- SPIEGEL: Verursachen die Eingriffe in 2600 Jahren zogen sie durch die Steppe ken, Werkzeuge aus Knochen und tö- das Erbgut den Mäusen Schmerzen? Eurasiens und schliefen – so dachte nerne Menschenfiguren. Gruber: Bei der Herstellung gentech- man bisher – in Jurten. Umso er- nisch veränderter Tiere entstehen im- staunlicher ist jener Fund, den mer wieder Missbildungen und Tiere deutsche und russische Archäolo- mit schwersten gesundheitlichen Proble- gen unlängst östlich des Urals zu men. Dies ist gut dokumentiert, auch Tage gefördert haben: eine Stadt, wenn es die Grundlagenforscher nicht deren hundert Holzhäuser ungefähr gern hören. tausend Skythen Unterschlupf bot. SPIEGEL: Wird die Anwendung alternati- Die erstaunlich weit östlich, nahe ver Methoden in Deutschland ausrei- der sibirischen Stadt Barabinsk ge- chend gefördert? legene Ausgrabungsstätte ist mit Gruber: Die Deutsche Forschungsge- acht Hektar ungefähr so groß wie meinschaft drückt sich da bisher um elf Fußballfelder und enthält auch klare Aussagen. Nun muss sie wohl Grabstätten; der russische Präsident Stellung beziehen. Der Dachverband Wladimir Putin ließ sich den Pro- der europäischen Wissenschaftsgesell- jektionsplan auf der Jahressitzung schaften hat sich eindeutig für die För-

der Akademie der Wissenschaften ABTEILUNG / EURASIEN DAI derung und Anwendung von Alternati- vorführen. Der sensationelle Fund Skythengrab mit Skelett in Sibirien ven zum Tierversuch ausgesprochen.

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Werbeseite R. KLOSTERMEIER / VISION PHOTOS Ultraschall-Untersuchung in der Praxis eines Internisten: Die Streiterei spitzt sich jetzt dramatisch zu

GESUNDHEIT Operation nur gegen Cash Deutschlands Ärzte haben jetzt ihr Budget für dieses Jahr ausgeschöpft. Immer häufiger beschweren sich Patienten, dass ihnen Medikamente oder ärztliche Hilfe verweigert werden. Besonders Schwerkranke leiden unter den Sparmaßnahmen der Mediziner.

ber gelegentliche Kopfschmerzen und unerklärliches Stolpern hatte ÜLebrecht Mundt schon länger ge- klagt. Das seien normale Nebenwirkungen seiner Pillen gegen Bluthochdruck, hatte ihn sein Hausarzt beruhigt. Als der 49-Jährige aus dem schleswig- holsteinischen Wakendorf jedoch wie „ein Besoffener torkelte“ und plötzlich kaum noch etwas sehen konnte, bekam es seine Ehefrau mit der Angst zu tun. Aus den Gelben Seiten suchte sie alle erreichbaren Neurologen heraus und schilderte den Pra- xishelferinnen „wie eine Bittstellerin“ die Symptome. Doch keiner der Fachärzte wollte ihren Mann kurzfristig behandeln: Frühestens im nächsten Quartal könne man ihn untersuchen, hörte Frau Mundt mehr- fach. Als sie nach mehreren Stunden am Te-

lefon doch noch einen Arzt fand, der half, BOENING / ZENIT P. J. musste alles ganz schnell gehen. Denn das Ärzteprotest (im Oktober in Berlin): „Versuch, die Pfründen zu sichern“

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sektor in diesem Jahr – rund 250 Milliarden Arzt eine bestimmte Punktmenge zur Ver- davon zahlen die Kassenpatienten in die Das Ärzte-Budget fügung. Rechnet der Arzt in einem Quartal gesetzliche Krankenversicherung. Damit ist das Ergebnis eines in Jahrzehnten ge- mehr ab, ohne dies durch Härtefälle zu sei genug Geld vorhanden, wird Gesund- wucherten Regelwerks: Je nach Anzahl ih- begründen, bekommt er dafür kein Geld. heitsministerin Andrea Fischer nicht müde rer Mitglieder überweisen die Krankenkas- Für ihn lohnt es sich nicht, die Zahl der zu betonen. Nur nicht für die Arzneimittel, entgegnet die Pharmaindustrie, nicht für sen den 23 Kassenärztlichen Vereinigun- Kunden zu erhöhen. Er hat auch keinen die Ärzte, meinen die Doktores, erst recht gen (KV) in Deutschland pro Quartal eine Anreiz, chronisch Kranke zu betreuen, die nicht für die Krankenhäuser, schimpfen die bestimmte Honorarsumme. Die KV vertei- mehrmals im Quartal behandelt werden Klinikdirektoren. len das Geld auf die einzelnen Fachgrup- müssen – es sei denn, der Arzt kann auf- Jetzt, in diesem Herbst, spitzt sich die pen – etwa Radiologen oder Kinderärzte. wendig beweisen, dass die teure Behand- Streiterei dramatisch zu: Die Arzneimit- Die Leistung jedes einzelnen Arztes wie- lung unbedingt notwendig war. Um zu ver- telbudgets der Mediziner für das Jahr sind derum wird nach Punkten bemessen. Für hindern, dass die Ausgaben immer weiter erschöpft, die Kassen jetzt leer. In der ver- jede Behandlung und jedes Gespräch, das steigen, hat die Kohl-Regierung nach ei- gangenen Woche schlossen etwa in Schles- wig-Holstein Ärzte aus Protest ihre Pra- der Arzt abrechnet, erhält er eine festge- nem ähnlichen Schema Budgets für Arz- xen, verstärkt die Pharmaindustrie ihre legte Punktzahl. Pro Punkt bekam der Arzt neimittel und Hilfsmittel eingeführt. Richt- Lobbyarbeit, setzen Klinikchefs Politiker 1999 rund sieben Pfennig. Wie hoch die- größen zeigen dem Doktor an, wie viel er unter Druck. ser Punktwert und damit das tatsächliche pro Patient verschreiben darf – das sind Dass das deutsche Gesundheitssystem Einkommen des Arztes ist, hängt von der etwa beim Hausarzt 70,63 Mark für jeden krankt, weiß die Grüne Fischer so genau Gesamtzahl der abgerechneten Punkte im Patienten pro Quartal. Verschreibt er in ei- wie ihr Vorgänger, der CSU-Mann Horst jeweiligen Jahr ab. Rechnen die Kollegen nem Jahr mehr als nach der Zahl seiner Seehofer. Doch die Verteilungskämpfe von viel ab, sinkt der Punktwert – der Hausarzt Patienten genehmigt ist, können die KV Kassen, Kliniken, Ärzten und Pharmaindu- strie um die schmaler werdenden Zuwäch- bekommt weniger Geld etwa für das Set- das Geld von ihm zurückfordern. Er se werden von Jahr zu Jahr ruppiger. Trotz- zen einer Spritze. Um zu verhindern, dass müsste also die Medikamente seiner Pa- dem gab es in den vergangenen Jahren noch Ärzte ihr Einkommen erhöhen, indem sie tienten aus eigener Tasche bezahlen. Am Reserven, um die Patienten trotz Ein- immer mehr Punkte sammeln, wurden Pra- 7. November hatten etwa die Berliner Ärz- sparungen weit gehend zufrieden zu stellen. xisbudgets eingeführt: Die KV stellt jedem te ihr Budget-Limit erreicht. Damit ist es nun vorbei. Während die so genannten Leistungserbringer, also Ärzte und Krankenhäuser, versuchen, „ihre Computer-Tomogramm des hilfsbereiten heute weigert sich Schlachts Krankenkas- Pfründen zu sichern“, sagt Anne-Lore Mediziners zeigte einen sieben Zentimeter se, die Kosten von monatlich etwa 10000 Köhne von der Arbeitsgemeinschaft der langen Tumor hinter Mundts Ohr, der be- Mark zu übernehmen. Der Nutzen dieser Verbraucherverbände, „zahlen Patienten, reits den Schädelknochen erreicht hatte. Behandlung sei „wissenschaftlich nicht ge- die sich nicht wehren, drauf“. Der Mann wurde sofort operiert. Mit Er- sichert“, meint die AOK im Gegensatz zu Immer häufiger beschweren sich die folg – einen späteren OP-Termin aber, im der Charité-Professorin. Kunden der Krankenkassen, dass sie von nächsten Quartal, hätte er mit einiger Si- Sind die Fälle von Mundt und Schlacht 160 % cherheit nicht mehr erlebt. Belege für die Drei-Klassen-Gesellschaft im Henry Schlacht, 46, weiß, dass er bald Gesundheitssystem, in der Privatpatienten 150% sterben wird. Der Berliner hat in den ver- besser behandelt werden als Mitglieder ex- gangenen drei Jahren fünf Bypässe sowie klusiver Krankenkassen wie DAK und Bar- 140 % Operationen an der rechten und linken mer und die wiederum besser als AOK-Pa- Halsschlagader verkraften müssen. Neun tienten? Führt das geldsaugende System 130% Katheter wurden ihm bislang in die Brust gar zu einer, wie die Nor- 120% geschoben. Grund ist eine Stoffwechsel- derstedter Nervenärztin störung: Die unheilbare Krankheit lässt Angela Stahl sagt, „schlei- 110% Adern verstopfen und schneidet damit das chenden Euthanasie“ Herz vom Blutkreislauf ab. von kranken und ein- 100% Den Infarkt aufschieben könnten regel- kommensschwachen 1999 verschlangen die Leistungsausgaben mäßige Blutwäschen. Mindestens einmal Menschen? der gesetzlichen Krankenversicherung pro Woche müsste Schlacht, so die Charité- 560 Milliarden Milliarden Mark, davon für Professorin Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Mark verschlingt 80% 240,5 an ein Dialyse-Gerät, mit dem sonst Nie- der deutsche 70% Krankenhaus- renkranke behandelt werden. Doch bis Gesundheits- behandlung 60% 85,6 55,1 Preis der Gesundheit 50% sonstige Arznei-, Heil- 17,9 Leistungen und Hilfsmittel 40% Anstieg der Leistungsausgaben ab 1992 5,1Kuren Gesamt- 30% der gesetzlichen Kranken- deutschland 13,9 versicherung Kranken- 21,4 41,5 20% geld Zahnersatz, zahnärztliche ärztliche zum Vergleich Anstieg des Bruttoinlandsprodukts Behandlung 10% Behandlung

1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 der spiegel 48/2000 279 Wissenschaft ihren Ärzten schlecht versorgt würden. ein Doktor – besonders heikel – der Mut- tionärszirkel auf die Forschung stützen. Für Besonders nach dem 7. November, „dem ter eines Kassenfunktionärs nach einer seltene Erkrankungen wie die Stoffwech- Tag des erschöpften Budgets“, wie Jo- Krebsoperation eine Lymphdrainage. Es selstörung von Schlacht liegen indes oft- chem Schulz, Chef der Betriebskranken- tritt ein, was ein Funktionär der Kas- mals keine wissenschaftlichen Untersu- kassen in Berlin, den Termin nennt, an senärztlichen Bundesvereinigung „Ab- chungen vor. Die AOK Berlin kann sich dem dieses Jahr rechnerisch gesehen koppelung der Kassenmedizin von den me- deshalb weigern, Schlachts Dialyse zu be- der Etat für Arzneimittel-Verschreibun- dizinischen Möglichkeiten“ nennt: drasti- zahlen. gen ausgeschöpft war, registriere sei- sches Sparen an Kranken, die bis dahin Etwa 50000 Mark musste aus ähnlichen ne Kasse „schwerwiegende Verstöße“ glaubten, mit ihrer Chipkarte gut versi- Gründen auch der Berliner Schriftsteller der Ärzte gegen ihre Behandlungs- chert gewesen zu sein. Jan Faktor seit Herbst vergangenen Jahres pflicht. In einer aktuellen Studie für die Gmün- für Blutwäschen ausgeben. Nachdem er der Ersatzkasse fand der Politikwissen- monatelang kraftlos im Bett lag, kann er in- schaftler Bernard Braun von der Univer- zwischen sogar wieder über die Anhöhe in sität Bremen heraus, dass „immer mehr seinem Viertel Prenzlauer Berg joggen. Versicherte Knappheitserfahrungen“ in Nun aber wird das Geld knapp. Faktor: den Praxen machen. Über 27 Prozent der „Bald sind auch alle meine Freunde und Befragten hätten schon erlebt, dass ihnen Verwandten pleite.“ Leistungen verweigert wurden. Im Auftrag Wie Hohn klingt es für Patienten wie

R. JANKE / ARGUS R. JANKE des Verbandes Forschender Arzneimittel- Schlacht oder Faktor, wenn Fachleute hersteller ermittelte das gleichzeitig vorrechnen, dass die Ärzte al- Meinungsforschungsinstitut lein bei ihren Pillenrezepten Milliarden EIN GEHIRNTUMOR Emnid, dass 9,3 Prozent einsparen könnten: auf jährlich 8,2 Mil- hätte Lebrecht Mundt fast getö- der Befragten in den ver- liarden Mark Sparpotenzial kommt der gangenen zwölf Monaten Heidelberger Pharmakologe Ulrich Schwa- tet. Er bekam zunächst keinen Arzneimittel vorenthalten be in seinem „Arzneiverordnungsreport Termin beim Neurologen. wurden. Begründung: un- 2000“. ter anderem das ausge- Der Verzicht auf umstrittene Präparate schöpfte Budget. und das konsequente Verschreiben von Und obwohl etwa jede zehnte Mark, die Nachahmer- statt Originalprodukten könn- in Deutschland erwirtschaftet wird, in die ten die Kassen schonen. Weitere Milliarden Gesundheit fließt, spüren viele Kunden, werden jährlich auch verschwendet, weil dass die Qualität der medizinischen Ver- jede fünfte Pillenpackung nach Schätzung sorgung schlechter wird. Nach einer Un- des Bundesgesundheitsministeriums unge- tersuchung der Uno-Gesundheitsorganisa- braucht im Müll landet – verschrieben etwa

R. JANKE / ARGUS R. JANKE tion WHO rangiert Deutschlands Gesund- nach unklarer Diagnose. Es gebe deshalb heitssystem nur auf einem eigentlich keinen Grund, „im November Platz im Mittelfeld. Die keine Multiple-Sklerose- und Hepatitis- DER SCHLAGANFALL Uno-Experten hatten un- Kranken mehr zu behandeln“, sagt Gerd von Hildegard Potratz wäre tersucht, wie effektiv die Glaeske, Arzneimittelexperte von der Uni- einzelnen Länder ihre Ge- versität Bremen. wohl nicht passiert, hätte sie sundheitsetats nutzen – wer Die Praxis in den Praxen sieht aber an- Lipidsenker bekommen. also pro Dollar den größten ders aus. Aus Angst vor Prüfärzten und Nutzen für die Gesundheit Wirtschaftlichkeitskontrollen der Kas- seines Volkes erzielt. senärztlichen Vereinigungen (KV) fühlen Was dem deutschen Gesundheitssystem sich viele Ärzte schlicht überfordert zu ent- fehlt, ist in erster Linie nicht das Geld. Es scheiden, wie das Geld zu verteilen ist. fehlt an Planung und Steuerung und Mut, Statt das „Budget-Überschreitungsrisiko“ wie Dieter Hebel, der Vorstandsvorsitzen- mit komplizierten PC-Programmen im de der Gmünder Ersatzkasse sagt, das Griff zu halten, berichtet der Warendorfer „Handlungs- und Verordnungsrepertoire Arzt Klaus Schäffer, kommt es eher „zum

W. KORALL endlich von Leistungen zu entrümpeln“, Verordnungsmonopoly nach dem Motto: die medizinisch nicht not- Wie sag ich’s meinem Patienten?“ wendig und dem Patienten So gibt es dann immer wieder Opfer BLUTWÄSCHEN nicht nützlich sind. So ab- falscher Sparsamkeit wie Hildegard Pot- könnten das Leben von Henry surd es klingt, in Deutsch- ratz aus dem Umland von Hamburg: Die land herrsche gleichzeitig Hausfrau hatte über Nacht einen Schlag- Schlacht verlängern. Die Kasse eine „medizinische Über-, anfall erlitten. Für Fachleute kam der nicht will sie nicht bezahlen. Unter- und Fehlversor- überraschend – seit Jahren waren die Cho- gung“, so die Spitzenver- lesterinwerte der Frau wegen einer Stoff- bände der gesetzlichen wechselstörung zu hoch. Ihr Arzt hatte ihr Da verlangen Gynäkologen für eine Krankenkassen; das Chaos produziere im- keine so genannten Lipidsenker verschrie- Mammografie schon mal 80 Mark cash. Da mer mehr Opfer wie den Berliner Patien- ben, die das Infarktrisiko senken. versuchen Doktoren, Behandlungen wie ten Schlacht. Der Nutzen dieser Medikamente ist wis- bei dem Tumorpatienten Mundt ins nächs- Verantwortlich für die Not des ehemali- senschaftlich belegt, umstritten sind die Li- te Quartal zu verschieben, auch wenn der gen Gastwirts ist der Bundesausschuss der pidsenker dennoch: Sie sind teuer (rund Mensch dabei in Lebensgefahr gerät. Da Ärzte und Krankenkassen. Das Gremium 180 Mark im Monat) und deshalb halten verlangt der Augenarzt von der Mutter ei- mit Sitz in Köln entscheidet darüber, wel- Medizinfunktionäre sie für nicht vertretbar nes Oberstaatsanwalts 30 Mark für eine che Behandlungen die Kassen überneh- zur allgemeinen Vorbeugung. „Wenn ich Augenuntersuchung. Und da verweigert men müssen. Dabei soll sich der Funk- geahnt hätte, dass es ein Mittel gibt, das

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Werbeseite Wissenschaft den Schlaganfall verhindern kann“, sagt die Rationierung so genannter Heilmittel die nun teilweise gelähmte Frau, „hätte ich erzürnt die Patienten. Besonders krass die Tabletten zur Not auch aus eigener Ta- Zeugnis für die Medizin empfinden Schwerkranke es, wenn sie sche bezahlt.“ Wirksamkeit der Gesundheitsausgaben aus dem Krankenhaus entlassen werden – Dass dem Patienten auch noch notwen- in ausgewählten Ländern nach Kriterien und die niedergelassenen Ärzte zu we- dige Informationen vorenthalten werden, der WHO nig Geld in ihrem Budget haben, um hält die Norderstedter Neurologin Stahl die nötige weitere Behandlung zu ge- für eine „gezielte Täuschung und Betrug 0,00 = völlig unzureichend 1,00 = optimal währleisten. am Patienten“. Die Vertreterin der Ärzte- 0,80 0,85 0,90 0,95 1,00 Jochen Fahnert, 75, kam nach einer ver- kammer Schleswig-Holstein fordert Bun- Rang unglückten Bauchoperation aus der Klinik deskanzler Schröder auf, sich persönlich Frankreich 1 und wurde draußen alsbald, wie er sagt, dieser Rationierung anzunehmen, „um Italien 2 „zum Vollkrüppel“. Der ehemalige Luft- weiteres Leid zu verhindern“. hansa-Manager konnte seinen Oberkörper Spanien 7 Beispiel für dringenden Nachholbedarf nicht mehr aufrichten, ständig drohte er aus der Neurologie: Schizophrenie. Seit ei- Österreich 9 vornüberzukippen, fortbewegen konnte er niger Zeit bietet die Pharmaindustrie all- Japan 10 sich nur mit einer Gehhilfe. seits hoch gelobte so genannte Atypika an, Griechenland 14 Ärzte konnten die Ursache für den die wesentlich besser wirken und verträgli- Großbritannien 18 plötzlich herausgebildeten Buckel nicht cher sind als die gängigen, typischen Neu- Schweiz 20 feststellen. Im Krankenhaus stellte sich roleptika. Der Nachteil: Die Präparate sind aber immerhin heraus, dass ihm Heilgym- Schweden 23 sehr teuer (Wochendosis rund 120 Mark), nastik Linderung verschaffte. Das stand weshalb Ärzte sie nicht gern verschreiben. Deutschland 25 0,90 nach der Entlassung auch in seinem Arzt- Sie rezeptieren lieber alte, manchmal gar USA 37 brief – nur: Keiner der drei von ihm kon- süchtig machende Mittel. Einen „echten sultierten Mediziner draußen wollte ihm Skandal“ nennt dies der Hamburger Psych- die Physiotherapie verschreiben. Laut Richtgrößen darf ein praktischer Pharmazeuten hat gekündigt oder sich ver- Arzt für Heilmittel – vornehmlich Kran- setzen lassen. Die komplette Computer- kengymnastik, Logotherapie, Massagen mannschaft schlug es in die Flucht. Als der und Ergotherapie – pro Quartal und Pa- neue Institutsleiter Harald Schweim An- tient nur noch 10,78 Mark ausgeben, für ein fang August erstmals sein provisorisches mitversichertes Familienmitglied gar nur Büro in Bonn betrat, fand er auf seinem 6,65. Drei Patienten vom Kaliber Fahnert, Schreibtisch nur eine Postkarte vor. „Viel der dreimal wöchentlich Gymnastik Spaß“ hatte sein von Ministerin Fischer braucht, zehren den gesamten Etat eines aus dem Amt gedrängter Vorgänger Alfred durchschnittlichen Hausarztes auf. Hildebrandt darauf notiert. Die Richtzahlen seien nur „rechneri- Auf das BfArM warten schwere Aufga- sche Durchschnittsgrößen“, betont das ben. Seit Jahren klagen Arzneimittelher- Fischer-Ministerium. Es sei „falsch und steller, dass die ineffiziente Behörde viel zu irreführend“, wenn behauptet wird, es

R. JANKE / ARGUS R. JANKE lange brauche, um neue und bessere Präpa- stünde für jeden Kranken „nur ein be- Nervenärztin Stahl rate zuzulassen. Patientenvertreter warnen stimmter Betrag zur Verfügung“. Das „Schleichende Euthanasie“ vor Altpräparaten und deren Nebenwir- stimmt: Überschreitet der Doktor sein kungen. Bis heute hat es die Behörde ver- Limit, muss er den Grund dafür seiner iatrieprofessor Dieter Naber und prophe- säumt, 12500 Medikamente aus grauer Vor- Abrechnungsstelle theoretisch nur er- zeit weit reichende Folgen: Die Patienten zeit zu prüfen. Nach EU-Recht hätte deren klären – aber schriftlich und haarklein. verlieren schneller wieder ihre Arbeits- Nachzulassung 1990 abgeschlossen sein Doch das wollen manche Ärzte nicht wis- fähigkeit und müssen häufig zurück in die müssen. „Die Behörde“, warnt denn auch sen, andere scheuen den bürokratischen Klinik – ein Teufelskreis, der am Ende weit BfArM-Chef Schweim, „steht kurz vor Aufwand. Viele Praktiker gehen deshalb teurer kommt als die kostspieligen Pillen. dem Kollaps.“ lieber gleich den bequemeren Weg. Sie Etwa 45000 verschiedene Medikamente Doch nicht nur die restriktive Ver- behaupten einfach: Physiotherapie gibt’s gibt es in Deutschland – wie viele genau, schreibung von Pillen und Ampullen, auch nicht mehr auf Rezept. kann selbst die zuständige Fahnert bezahlt die Gym- Behörde nicht sagen. Das nastik jetzt aus eigener Tasche Bundesinstitut für Arznei- – „wütend“, wie er sagt, weil mittel und Medizinprodukte dafür wohl seine Ersparnisse (BfArM), zuständig für Zu- draufgehen werden und weil lassung und Kontrolle der er das Gefühl bekommen hat, Pharmapräparate, ist in einem dass „es einigen Leuten am erbärmlichen Zustand. Com- liebsten wäre, wenn ich bald putersysteme zur Personalver- Kompost wäre“. waltung haben den Millen- Und die Bereitschaft der niumswechsel nicht überstan- Ärzte, sich auf Einzelschicksa- den. Auf Ersatz warten einige le wie Fahnert einzulassen, Abteilungen noch heute. nimmt weiter ab. Demotiviert Zudem leidet das Institut, das von Berlin nach Bonn um- * Jörg-Dietrich Hoppe (l.), Präsident der ziehen muss, unter Perso- Bundesärztekammer, und Manfred Rich- ter-Reichhelm, Vorsitzender der Kas- nalnöten. Etwa ein Drittel der AEVERMANN J. senärztlichen Bundesvereinigung, beim Wissenschaftler, Ärzte und Ministerin Fischer, Ärztefunktionäre*: Es ist genug Geld vorhanden Deutschen Ärztetag im Mai in Köln.

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mittlungen und einem fünfmonatigen Pro- zess sprach das Augsburger Landgericht den Labormediziner Bernd Schottdorf frei, der zwischen 1993 und 1995 knapp 17 Mil- lionen Mark zu Unrecht kassiert haben soll. In der Begründung kritisierte der Richter die KV Bayern: Durch „nicht mehr zu überbietende Gleichgültigkeit“ habe sie überhöhte Rechnungen geradezu heraus- gefordert. Auch das Landgericht Koblenz wertete schlampige KV-Kontrollen unlängst als mil- dernde Umstände. „Das System macht es Betrügern leicht“, urteilten die Richter, als sie einen Laborarzt wegen Abrechnungs- betrugs zu vier Jahren und vier Monaten Haft verurteilten. Solche Ereignisse nehmen die Kassen gern zum Anlass, über die Verschwendung im Medizinbetrieb zu klagen. Doch sie

S. DÖRING selbst kommen trotz eigens eingerichteter Glaubitzer Landarzt Klemm: „Wir sind das Proletariat der deutschen Ärzteschaft“ Arbeitsgruppen gegen den Abrechnungs- betrug ebenso wenig voran, wie mit den durch zunehmenden Einkommensverlust, Ort angemietet. So sitzt er dann auch ein- seit Jahren geforderten internen Reformen wachsenden Bürokratismus und drohende mal in der Woche in einer Baracke im 150- – und so versickern jährlich allein 14 Mil- Regressforderungen können sich viele Einwohner-Weiler Preetz und bekommt für liarden Mark in der Kassen-Bürokratie. Doktoren nur noch schlecht an ihren hip- jeden Patienten genau 65 Mark im Quartal. Doch wer glaubt, als Privatpatient sor- pokratischen Eid erinnern. Diese Mühsal wollen sich junge Ärzte genfrei zu leben, der irrt. Zur Verbesse- Mit einem durchschnittlichen Verdienst im Osten immer seltener aufladen. Allein rung seiner Atmung begab sich Tasso Fi- von 180000 Mark brutto im Jahr muss die in Sachsen sind 38 Landpraxen verwaist, scher aus Rinteln im vergangenen Jahr zur Ärzteschaft zwar längst nicht darben. Doch nachdem die bisherigen Inhaber in den Ru- Operation in die Medizinische Hochschu- viele Haus- und Kinderärzte, die am unte- hestand gegangen sind. le nach Hannover. Er hatte bereits ein OP- ren Ende der ärztlichen Einkommensskala Ein Grund für die Fehlversorgung ist das Hemdchen übergestreift, eine Infusion war liegen, bleibt nach Abzug aller Kosten nicht System der 23 kassenärztlichen Vereini- gelegt, als Thomas Lenarz, Chefarzt der mehr als das Gehalt eines Grundschulleh- gungen. Nur sie erfahren, welcher Arzt Hals-Nasen-Ohrenklinik, vor dem Eingriff rers – freilich bei weitaus größerem beruf- noch eine Bedingung vor- lichem Risiko. Teure Gesundheits- trug: Er greife nur zum Skal- Dramatisch ist die Situation für man- Arzneimittel- ausgaben insgesamt pell, wenn Fischer zuvor Gesundheit ausgaben in Prozent des Brutto- chen Praktiker in den neuen Bundeslän- pro Kopf in Dollar inlandsprodukts 5000 Mark auf den Tisch dern. „Wir 18000 niedergelassene Ärzte im lege, bitte in bar. Osten sind das Proletariat der deutschen Frankreich 435 9,4 Privatpatient Fischer Ärzteschaft“, sagt Wolfgang Klemm, 58. USA 319 13,4 schlug eine Blitz-Überwei- Der Allgemeinmediziner ist Landarzt im Deutschland 269 10,2 sung vor, per Handy wollte sächsischen Glaubitz, einem 2000-Einwoh- Österreich 260 7,7 er von der OP-Liege aus ner-Dorf, 40 Kilometer nordwestlich von die Anweisung geben. Cash Italien 209 7,7 Dresden. Auch die Budgetierung bei Me- zu zahlen aber weigerte dikamenten trifft die Ost-Mediziner här- Spanien 193 7,4 er sich. Daraufhin musste ter. Mehr als jeder vierte Krankenkassen- Großbritannien 143 6,4 Fischer auf die ärztliche patient zwischen Anklam und Zittau ist Griechenland 118 7,1 Kunst der Ohren-und-Na- Rentner. Die sind öfter ernstlich krank und Stand: 1997 sen-Koryphäe verzichten. brauchen teure Arzneimittel. Dem gehöre „ein Denk- Der Prolet in Weiß muss kräftig malo- zettel verpasst“, sagte sich chen, wenn er auf ein erkleckliches Salär welchen Kassenpatienten wie behandelt Fischer. Über seinen Anwalt zeigte er den kommen will. Ärzte in den neuen Bun- haben will. Den Krankenkassen stellen die Professor wegen Körperverletzung und desländern verdienen im Schnitt zwar etwa KV zum Quartalsende anonymisierte Sam- Nötigung an. „Der Vorfall ist sehr bedau- 20 Prozent weniger als ihre West-Kollegen. melbelege in Rechnung. erlich, strafrechtlich jedoch nicht fassbar“, Aber an Zeiten, als sie mit rund 1200 Ost- Einige Mediziner nutzen das intranspa- beschied der Generalstaatsanwalt in Celle, Mark honoriert wurden, wollen sie sich rente System weidlich aus – zu Lasten die Grenze zur Körperverletzung sei nicht nicht gern erinnern lassen, denn alles in al- ihrer ehrlichen Kollegen. Bundesweit er- überschritten. lem hat sich die Kaufkraft ehemaliger mitteln Staatsanwälte gegen betrügerische Im Zivilverfahren dagegen war der Chef- DDR-Ärzte in den letzten zehn Jahren ver- Weißkittel, die Leistungen abrechnen woll- arzt dran. Durch das „Unterbleiben der zehnfacht, und viele Fachärzte verdienen ten, die sie gar nicht erbracht hatten. In Operation“, urteilte das Amtsgericht Han- bereits mehr als ihre West-Kollegen. Brandenburg gehen Fahnder gegen 20 nover im Februar, habe Fischer gelitten. Wie im Sozialismus beginnt Klemms Tag Ärzte vor, die sogar Leistungen für Dies erfordere eine „billige Entschädigung um 6.50 Uhr und endet oft erst am späten längst verstorbene Patienten abgerechnet in Geld“. Für die Seelenqual seines Pati- Abend. Da hat er dann etliche Hausbesu- hatten. enten musste Chefarzt Fischer 1000 Mark che hinter sich, dazu die Sprechstunden in Die ärztliche Selbstverwaltung hat die berappen. der Praxis. Der Landarzt hat in drei Dör- Kontrolle über solche Mauscheleien nie Udo Ludwig, Alexander Neubacher, fern noch Räume für Sprechstunden vor ernst genommen. Nach jahrelangen Er- Andreas Wassermann

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Werbeseite US-Atombombentest auf dem Bikini-Atoll (1954), Bombenlabor in Los Alamos*

RÜSTUNG „Wir liegen im Sterben“ Die nuklearen Waffenschmieden der Supermacht USA haben Nachwuchssorgen: Nur noch wenige Veteranen sind mit allen Tricks des Atombombenbaus vertraut. Rigide Richtlinien zur Geheimhaltung verschrecken junge Forscher. Sie wandern lieber ins Silicon Valley ab. CORBIS (gr.); (kl.) REUTERS

ennen Sie eigentlich die Rosen- Am 10. Dezember letzten Jahres wurde zurückhaltenden und allgemein als integer bergs?“ Mit der unvermittelten er in Untersuchungshaft gesteckt. Lee habe geltenden Kollegen nur ein weiteres Bei- KFrage wollte der FBI-Agent den sich, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft spiel für die geradezu hysterische Ge- kleinen, verhärmt wirkenden Mann in von Albuquerque (New Mexico), 59 Ver- heimhaltungsmanie, mit der in den USA al- die Enge treiben, der vor ihm auf einem gehen schuldig gemacht durch das Herun- les umgeben wird, was mit nuklearen Waf- Schemel hockte: Natürlich kannte Wen terladen großer Datenmengen (806 Mega- fen in Verbindung steht. Was auch immer Ho Lee, 59, seit zwei Jahrzehnten Phy- bytes) aus einem Computer für Geheim- aus den Bombenschmieden der Nation siker in US-Waffenlabors, den Fall des daten im Atomforschungslabor von Los stammte – gleichgültig ob ein Polaroid von Ehepaars Rosenberg, einen der berühm- Alamos – angeblich eine Gefahr für die na- einer Thanksgiving-Feier oder eine Notiz testen Atomspionagefälle in der Ge- tionale Sicherheit der Vereinigten Staaten. über einen Sonderurlaub –, wurde mit dem schichte der USA. Um den uneinsichtigen Wissenschaftler Stempel „Classified“ versehen. „Den Behörden war es ganz egal, dass einzuschüchtern, wurde, wie bei einem Se- Auf diese Weise sorgsam von der Öffent- die Rosenbergs tagein, tagaus ihre Un- rienmörder, verschärfte Einzelhaft ange- lichkeit abgeschirmt, ist die Branche in die schuld beteuerten“, beharrte der Beamte. ordnet. Vier mal zwei Meter groß war Lees Jahre gekommen: Händeringend sucht die „Sie landeten trotzdem auf dem elektri- Zelle. Mit Ketten an Armen und Füßen stärkste Atommacht der Welt inzwischen schen Stuhl.“ Kaum verhohlen, so doku- schlurfte er einmal täglich zum Hofgang. nach Experten, die auch im 21. Jahrhundert mentiert es das Verhörprotokoll, drohte Es waren vor allem diese Haftbedingun- die atomare Überlegenheit sichern können. der FBI-Agent mit der Todesstrafe. Doch gen, die öffentliche Empörung hervorrie- Auf nicht mehr als 40 wird die Zahl der die absurde Einschüchterung fruchtete fen. Rasch regte sich der Verdacht, der Nu- Ingenieure und Techniker in den USA ge- nicht. Lee leugnete hartnäckig, je Ge- klearexperte werde nur seiner taiwani- schätzt, die fähig sind, eine Nuklearwaffe heimnisse preisgegeben zu haben. schen Abstammung wegen der Spionage zu entwickeln und zu bauen. Und selbst zu Gunsten Chinas verdächtigt. von diesen 40 sind viele bereits pensio- * Während der Waldbrandkatastrophe im Mai dieses Für viele der Forscher in Los Alamos niert, von den restlichen 25 in Los Alamos Jahres. war die unwürdige Behandlung ihres ist jeder zweite auch schon Mitte 50.

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Um das geballte Wissen der alternden Chemiker, Physiker und Mathematiker für Arsenal der Vernichtung Sowjetunion Höchststand 45 000 die Nachwelt zu erhalten, haben die US- Atomsprengköpfe der USA Atommanager in den drei Forschungszen- offiziellen Nuklearmächte Höchststand tren von Los Alamos, Sandia (beide New 32 500 Mexico) und Lawrence Livermore (Kali- Vereinbarte fornien) Programme zur Dokumentation Anzahl ab und Fortbildung aufgelegt. USA Dezember Gezielt wird nun die Nuklearelite von Bestand 1945 2001: einst ausgefragt. Anhand von Notizen oder 2 20 000 Russland Akten sollen sich die Veteranen an all die Sowjetunion und USA Bestand 1949 technischen Tricks erinnern, die sie im Lauf 1 10 500 jeweils ihrer Karriere ausgetüftelt haben. Dieses 6000 Vermächtnis könnte dann die Grundlage bilden für die dreijährigen Studiengänge, in 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 denen neue Atombombenbauer herange- Frankreich 4 36 188 250 359 504 500 450 zogen werden. Quelle: Zwar ist jeder der zwölf Newcomer, Groß- 1 30 310 280 350 350 300 300 300 185 The Bulletin britannien of the die in Los Alamos alle zwei Jahre für ei- Atomic nen dieser Fortbildungskurse ausgewählt China 1 75 185 280 426 432 400 400 Scientists werden, rasch mit den Bauprinzipien nuklearer Sprengsätze vertraut. Die Kon- Um solch schwer berechenbares Versagen köpfe kümmern, bei deren Bau nur ganz struktionspläne sind weltweit bekannt ihrer Kreationen zu vermeiden, zündeten wenige von ihnen selbst Hand angelegt ha- und – in großen Fachbibliotheken, schnel- die Bombenbauer von ehedem insgesamt ben. Der größte Unsicherheitsfaktor aber ler noch im Internet – jedermann zu- 1032 Testsprengsätze. Ihre Nachfolger je- ist die Überalterung des Arsenals: Einst gänglich. doch müssen auf diese Form der Prüfung wurden die Sprengköpfe etwa alle 10 Jah- Die Tücken liegen jedoch im Detail, wie verzichten: 1992 verpflichtete sich die US- re durch modernere Ladungen ersetzt. Los-Alamos-Forscher Donald McCoy, er- Regierung, weder neue nukleare Spreng- Heute sind sie durchschnittlich fast 20 Jah- läutert: „In der alten Zeit haben wir Än- köpfe zu entwickeln noch alte zu testen. re alt – früher wären sie in diesem Alter derungen oft ad hoc und unter hohem Zeit- Seither haben die Experten nur noch die längst verschrottet gewesen. druck ausgeführt.“ Vor allem die Art, Aufgabe, das inzwischen geschrumpfte Sieben verschiedene Sprengkopftypen Sprengköpfe so zu proportionieren, dass Atomarsenal in Schuss zu halten. Im Rah- lagern im US-Atomarsenal. Jede Bombe mehrere von ihnen in eine Rakete passen, men eines groß angelegten wissenschaft- besteht aus rund 6000 Einzelteilen, die teil- erfordert technisches Raffinement. lichen Wartungs- und Forschungspro- weise repariert oder ersetzt werden müs- Gerade diese zumeist minimalen und, gramms, des „Stockpile Stewardship Pro- sen. Doch dann zeigt sich oft, dass die so ein anderer US-Experte, „häufig intui- gram“ (SSP), sollen sie dafür sorgen, dass Werkstoffe dazu nicht mehr produziert tiv“ gemachten Abänderungen sind es, die die „Sicherheit und Zuverlässigkeit“ von werden. Mitunter existiert nicht einmal darüber entscheiden, ob eine Bombe „ver- Amerikas Atomladungen erhalten bleibt. mehr die Herstellerfirma. pufft“ – so nennen es die Fachleute, wenn Die Hauptlast müssen die Forscher vom Selbst für die altgedienten Bombenex- Bomben entweder gar nicht explodieren Los Alamos National Laboratory (LANL) perten sind etliche der technischen Pro- oder aber Hitze und Druck des Uranbom- schultern. Das Unterfangen könnte zu ei- bleme nukleares Neuland, denn sie treten ben-Zünders so gering sind, dass die dar- ner „mission impossible“ werden, fürchten nur bei überalterten Bomben auf: unterliegende Wasserstoffbombe ihre volle einige Nuklearexperten. Denn die LANL- • Im Plutonium, dem Herzstück der Sprengkraft nicht entfaltet. Forscher müssen sich um nukleare Spreng- Sprengladung, entstehen durch radioak- tiven Zerfall im Laufe der Zeit Verun- reinigungen durch Helium; • die radioaktive Strahlung aus der Spreng- ladung setzt den übrigen Materialien zu; • der konventionelle Sprengstoff im Zün- der verändert sich im Laufe der Zeit; • sämtliche Metallteile korrodieren, so dass an den Bomben Haarrisse und Löcher entstehen. Neuartige Computerprogramme, so hofften einige Experten, könnten den Al- terungsprozess des nuklearen Arsenals bis in alle Details überwachen. Die weltweit größte Ansammlung von Supercomputern Zuschauer bei Atombombentest (1951): Mehr als 1000 ahnungslose US-Bürger wurden zu im LANL werde dazu zweifellos fähig sein. Andere jedoch bezweifeln das. „Die Zum Unmut in den Labors der Bom- So wurde bekannt, dass die Bomben- Idee, ein Computerprogramm mit sämtli- benrestaurateure tragen jedoch auch die bauer 204 Testexplosionen mehr durchge- chen Geheimnissen der nuklearen Bom- immer strengeren Sicherheitsrichtlinien führt hatten als offiziell angegeben (die bis- benbaukunst schreiben zu können, ist to- bei. „Just Say No to Polygraphs“ (Sag ein- lang letzte im Herbst 1992). Bei mindestens taler Quatsch“, konstatiert der LANL- fach nein zum Lügendetektor) lautet ein einem Dutzend Freilandversuchen nahe Veteran John Richter, 67, der während sei- Slogan auf einem Ansteck-Button, den sich bewohnter Gebiete kam es zur Freisetzung ner 39-jährigen Betriebszugehörigkeit in jüngere Forscher an Jacke oder Hemd ge- großer Mengen von radioaktiver Strahlung. Los Alamos an der Entwicklung von 42 heftet haben. Der Appell wendet sich ge- Mehr als 1000 durchweg ahnungslose Atombombentypen beteiligt war. gen Routinetests, denen sich einige LANL- US-Bürger wurden zu Versuchszwecken Die Zuversicht, mit der die Nuklearma- Forscher seit Anfang dieses Jahres unter- radioaktiv bestrahlt, darunter 700 Schwan- nager das SSP-Projekt gestartet hatten, ist ziehen müssen. gere, 131 Sträflinge, 200 Kleinkinder, Dut- verflogen. Amerikas nukleare Labors sind Geregelt wird der Umgang mit Atomge- zende Schwerkranker und eine Reihe geis- in eine Krise geschlittert, „die ihre Existenz heimnissen durch den Atomic Energy Act tig behinderter Schüler. bedrohen könnte“, fürchtete das Fachblatt aus dem Jahre 1946. Nach diesem bis heu- Viele Verantwortliche im nuklear-mili- „Aviation Week & Space Technology“. te gültigen Gesetz sind sämtliche Daten, tärischen Komplex, so das Fazit eines Un- Schuld seien vor allem akute Personal- die in jedwedem Zusammenhang mit der tersuchungsreports, gingen auf „kriminell probleme. atomaren Rüstung stehen, geheim. Dabei leichtfertige Weise“ mit spaltbarem Material Dem „Sirenengesang von hohen Ge- spielt es keine Rolle, ob diese Erkenntnis- um. Zeitweise kam es in den Nuklearfabri- hältern, Aktienoptionen und der Aussicht, se von Privatpersonen oder Staatsbediens- ken zu durchschnittlich drei Unfällen pro bei einem dot.com-Start-up- Tag; einer der schwerwie- Unternehmen Millionär zu gendsten ereignete sich 1969 werden“ („Aviation Week“), bei einem (in letzter Minute können offensichtlich immer gelöschten) Großfeuer im Plu- weniger der hoch qualifizier- toniumwerk von Rocky Flats. ten Beschäftigten widerste- 500000 Einwohner im nahe hen. So ließ sich im letz- gelegenen Denver (Colorado) ten Jahr nur jede zweite La- schwebten in der Gefahr, ver- bor-Stelle neu besetzen, die strahlt zu werden. durch einen Abwanderer ins In der Hoch-Zeit des Kal- Silicon Valley oder an die ten Krieges hatten die US-Mi- Wall Street frei geworden litärs insgesamt 12 000 Nu- war. klearsprengköpfe auf Stütz- Doch nicht nur verführeri- punkten in mindestens 23 sche Gehaltsangebote von Staaten eingelagert, darunter außerhalb fördern den Ex- Marokko, Island und Taiwan. odus der promovierten Elite- Allein bis 1968 wurden 1250

Wissenschaftler. Vermutlich CORBIS „Vorfälle und Unfälle“ beim noch stärker wirkt sich aus, Transport einer Interkontinentalrakete (1987): Drei Unfälle pro Tag Herstellen, Lagern oder dass die Nuklearbranche für Transportieren von Spreng- viele Nachwuchskräfte nicht länger als teten stammen, ob sie schriftlich niederge- köpfen geheim gehalten; 41 nukleare Bom- attraktiv gilt. Die Arbeit der Atom-Ste- legt oder mündlich vorgetragen werden. ben und Raketen waren an Bord abstür- wards, so eine weit verbreitete Meinung, Wie eifrig der Atomic Energy Act ange- zender Militärflugzeuge; weitere 24 Atom- bestehe vor allem darin, Staub von Bom- wandt wurde, zeigte sich 1993. Das Archiv waffen wurden rechtzeitig vor dem Crash ben zu wischen. geheimer Atompapiere, das die Clinton- abgeworfen – oder sie gingen auf Schiffen Verbreitet wird dieses Bild vor allem von Regierung bei ihrem Amtsantritt 1993 vor- der U. S. Navy versehentlich über Bord. den Verfechtern der atomaren Abrüstung. fand, umfasste insgesamt 32 Millionen Sei- Gebannt verfolgten Kriegs- und Rüs- Gelinge es ihnen, „junge Wissenschaftler ten – aufeinander gelegt würden sie sich zu tungsgegner in aller Welt derlei Enthül- davon zu überzeugen, dass wir im Ster- einem Stapel von der Höhe des Mont Blanc lungen der Clinton-Regierung. Doch das ben liegen“, fürchtet Atombombenbauer auftürmen. Tauwetter hat sich inzwischen abgekühlt. Bruce Goodwin, „dann könnten sie die in- „Der Kalte Krieg liegt hinter uns“, be- Im mehrheitlich republikanischen US-Kon- tellektuelle Kapazität der Labors zer- fand damals die zuständige Energieminis- gress haben sich Falken formiert, die die stören“. Und das, so Goodwin weiter, „lie- terin Hazel O’Leary und verfügte eine um- nationale Sicherheit der USA durch fe praktisch auf eine einseitige nukleare fassende Sichtung des Konvoluts. Es folgte „Schurkenstaaten“, Fundamentalisten und Abrüstung hinaus“. eine erstaunliche Enthüllungsoffensive. Terroristen bedroht wähnen.

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Rohrabachers Warnung dem Untersuchungsrich- „nahezu identisch gewe- ter schlicht gelogen hat- sen mit den Reden anti- te. Als dann auch noch kommunistischer Hetzer die Staatsanwaltschaft im Kongress vor fünf unfähig war, die angefor- Jahrzehnten“. derten Beweise zu er- Seinem Kommentar bringen, wurden 58 der fügt das „Bulletin“ eine 59 Anklagepunkte fallen Liste von Zahlen bei, die gelassen. belegen soll, wie sehr der Die fällige Strafe für US-amerikanische Staat das verbliebene Vergehen von der Angst um seine – die unsachgemäße Be-

CORBIS Sicherheit besessen ist: handlung geheimer Do- Versuchszwecken radioaktiv bestrahlt Demnach sind 3846 Per- kumente – erklärte Rich- sonen befugt, Dokumen- ter James Parker durch Zu ihren Wortführern gehört der repu- te mit dem „Secret“- die 278 Tage Einzelhaft, blikanische Abgeordnete Dana Rohraba- Stempel zu versehen. Al- während derer Lee seinen cher aus Kalifornien. In einer Brandrede lein im vergangenen Jahr 60. Geburtstag in Ketten

rechnete er mit der 1997 zurückgetrete- geschah dies bei insge- AFP / DPA erlebt hatte, als verbüßt. nen Energieministerin ab: O’Leary habe samt 8 038 592 Objekten Atomwissenschaftler Lee* Am 13. September ver- „massiv Staatsgeheimnisse offen gelegt“. („items“); Kosten: fünf In Ketten zum Hofgang ließ Lee den Gerichtssaal Sie sei „beseelt von einem fanatischen Milliarden Dollar. Der als freier Mann. Richter Anti-Amerikanismus“ und habe ihre Po- Umfang der Geheimdokumente, die nach Parker entschuldigte sich bei ihm – auf eine sition dazu missbraucht, „unseren ärgsten der vorgeschriebenen Dauer von 25 Jahren in der amerikanischen Rechtsgeschichte Feinden Geheimnisse auszuliefern, die un- zur „Deklassifizierung“ anstehen, belief einmaligen Weise. sere Jugend und unser Land in Gefahr sich 1999 auf 612 Millionen Seiten. „Dr. Lee“, so gestand der Richter in der bringen“. Wie willkürlich die Supermacht USA Verhandlung, „mit größtem Bedauern er- Manch einen gemahnte der Eifer des gei- verfährt, wenn es um ihre Staatsgeheim- kläre ich Ihnen, dass ich durch unsere Re- fernden Abgeordneten an den Feldzug, nisse geht, erwies sich auch im Fall Wen Ho gierung, durch das Justizministerium, durch den einst Senator Joseph McCarthy ge- Lee. Dessen Verteidigern gelang der Nach- das FBI und durch die Staatsanwaltschaft führt hatte: „In Argumentationstaktik und weis, dass der verhörende FBI-Agent vor des Distrikts von New Mexico in die Irre ge- Wortwahl“, so urteilte das liberale Fach- leitet worden bin, als ich Sie seinerzeit in blatt „Bulletin of the Atomic Scientists“, sei * Bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Haft nehmen ließ.“ Rainer Paul Technik

385 Dollar Unterstützung zu zahlen – bis ihn seine Kollegen dazu drängten, aus Angst vor negativen Schlagzeilen. Einer gefeuerten Mitarbeiterin zahlte er ihre Aus- lagen in Höhe von 25000 Dollar erst, als sie damit drohte, Details über seinen Füh- rungsstil auszuplaudern. Apple ist Jobs, und Jobs ist Apple. Er ist Guru und guter Geist der Firma. Der Per- sonenkult um ihn galt als große Chance für die Firma – nun wird er zu ihrem größ- ten Risiko. Es war Steve Jobs, der bewies, dass Com- puterunternehmer zum Popstar taugen. Er gab den drögen Datenverarbeitungsgerä- ten etwas Menschliches, als er 1976 ge-

AP meinsam mit dem Bastler Stephen Wozni- Jobs bei OS-X-Ankündigung: Mit 21 Hippie, mit 23 Millionär, mit 30 arbeitslos, mit 45 Tyrann ak in der Garage seiner Adoptiveltern be- gann, Rechner zusammenzuschrauben und zu verkaufen – anfänglich in einem hand- COMPUTER gesägten Holzgehäuse. Wer später seinen „Macintosh“ einschaltete, wurde nicht, wie seinerzeit bei anderen PC, von einer grün Guter Steve, böser Steve flimmernden Kommandozeile begrüßt, son- dern von einem lächelnden Gesicht. Der Erst als Gründer, dann als Retter der Firma Apple stieg Steve Jobs Mac wurde zum Kultobjekt, Jobs zur Iko- ne einer neuen Ära. zum Idol der Computerwelt auf. Nun schildert eine Bald waren die Versatzstücke seiner hip- Biografie den genialen Erfinder als tyrannisch, eitel und halsstarrig. pieesken, liebenswert widersprüchlichen Biografie selbst denen bekannt, die nie ei- pple, das ist die Firma, die diese legen und Bekannten von Jobs, entwirft nen Mac benutzt hatten: Der lebhafte Jun- lustigen bunten Rechner baut und Deutschman erstmalig ein intimes Cha- ge war von seinen Eltern zur Adoption frei- Adie so sympathisch wirkt – vielleicht rakterporträt von Mister Apple. Es fällt so gegeben worden und wuchs bei Zieheltern zu Unrecht. faszinierend wie erschreckend aus*. in Kalifornien auf. Die schlugen sich als Denn Apple hat zwei Chefs: Der eine Auf der Bühne, bei wichtigen Terminen Babysitter und Tagelöhner durch. heißt Steve Jobs. Der andere auch. Der und mit alten Freunden ist Jobs herzlich, Mit seinem entwaffnenden Charme er- eine versprüht auch noch im Alter von 45 humorvoll und großzügig. Zugleich aber schnorrte sich Jobs das Studium – bis er es Jahren den Charme eines Wunderkindes, spioniert er die E-Mails von Mitarbeitern abbrach. Er lebte in einer Landkommune, der andere ist ein rücksichtsloser Tyrann, aus, feuert sie mitten in Besprechungen, wurde aggressiver Vegetarier, war mit der der schon ganze Firmen seinen größen- demütigt Kollegen vor versammelter Mann- wahnsinnigen Ambitionen geopfert hat. schaft: „Einen schönen Kuchen hast du da Nach drastischen Gewinn- warnungen fällt der 60 „Er kann der gute Steve sein und der gebacken. Aber als Glasur hast du Hunde- Aktienkurs an einem Tag böse Steve“, lautet das Fazit von Alan scheiße genommen.“ (29. Sept.) um 52 Prozent. Deutschman, Korrespondent im Silicon Als er, längst Multimillionär, erstmalig Valley. „Der eine war für seinen Erfolg ge- Vater wurde, weigerte er sich, monatlich 50 nauso wichtig wie der andere.“ In einem gerade erschienenen Buch, be- * Alan Deutschman: „The Second Coming of Steve Jobs“. Einführung des iMac, ruhend auf fast hundert Interviews mit Kol- Broadway Books, New York; 321 Seiten; 26 Dollar. der mit seinem farbenfrohen, trans- 40 parenten Design ein Steves Job Jobs verlässt nach Das mobile Verkaufserfolg wird. einem Quartalsver- „PowerBook“ Der Werdegang des Apple-Gründers lust das Unterneh- wird ein gro- und seiner Firma men. Nachfolger wird ßer Erfolg. Nach hohen Verlusten wird 30 John Scully. Spindler abgelöst. Gil Amelio Steve Jobs und versucht zu sanieren. Stephen Wozniak Einführung des „Macintosh“- gründen Apple Rechners mit moderner gra- 20 Computer. fischer Benutzeroberfläche. Der mit großen Er- wartungen einge- Amelio tritt Börsengang führte Minicompu- zurück, Jobs ter „Newton“ gerät übernimmt als 10 zum Flop. Michael Jobs kehrt als „Interimschef“ Berater zu Apple de facto das Wert der Apple- Spindler wird neuer 5 Aktie in Dollar Apple-Chef. zurück. Ruder. 19767778 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 9293 94 95 96 9798 99 2000

UMSATZ in Millionen Dollar 1918 5558 7086 9189 9833 5941 7983

GEWINN/VERLUST in Millionen Dollar 61 475 530 310 –816 309 786

MARKTANTEIL am PC-Markt weltweit 8,7% 9,0% 8,5 % 5,3% 3,4% Werbeseite

Werbeseite Technik

Folksängerin Joan Baez liiert. Erst wollte er „Next“ taufte er das Gerät, das ihm eine Geldvernichtungsmaschine: Hinein in ein Zen-Kloster gehen, dann in die dafür geeignet schien: „das Nächste“. Er steckte Jobs 60 Millionen Dollar, heraus Sowjetunion ziehen; er klampfte, wenn er heuerte die klügsten Ingenieure an, noch kamen einige Werbefilmchen von ein paar vom Zusammenlöten seiner Minirechner bevor es überhaupt einen Businessplan Minuten Länge. pausierte, auf der Gitarre Bob-Dylan-Lie- gab, und richtete seine Start-up-Firma mit Hartnäckig hatte er sich festgebissen an der. Später zitierte er dessen Song-Texte edlen Ledersofas zu je 10000 Dollar ein. Er der Idee, dass Pixar Hardware verkaufen vor seinen Aktionären. selbst schlief meist in seiner leeren Bruch- müsse, nicht Filme. Doch kaum jemand Nachdem ihn 1985 seine eigene Firma bude auf einer Matratze am Boden. wollte die 130 000 Dollar teuren Pixar- rausgeworfen hatte, kehrte er 1997 als „In- Seine Ambitionen waren gigantisch, ihr Rechner haben. Fast hätte Jobs, um Kosten terims-Chef“ in den kränkelnden Konzern Scheitern kolossal. Der Next-Rechner war zu sparen, den einzigen wertvollen Teil der zurück. Dort drosselte er den Forschungs- ein minimalistischer Würfel, für Studenten Firma wegsaniert: John Lasseter und seine etat auf die Hälfte und verschlankte das entworfen, doch mit Preisen ab 6500 Dollar Abteilung, die sich um die Entwicklung Management: Von jetzt an entschied Jobs von Trickfilm-Software kümmerte. alles, vom Werbespot bis hin zum Essen in Überraschend klappte dann doch noch der Cafeteria. In Rekordzeit führte er die ein Deal mit Disney, und im November Firma zurück in die Gewinnzone – vor al- 1995 kam der erste komplett per Compu- lem mit Hilfe der knuddeligen iMac-Rech- ter animierte Film der Welt in die Kinos: ner in fünf leckeren Fruchtfarben. Die Ap- „Toy Story“. Eine Woche später brachte fel-Aktie schoss nach oben (siehe Grafik). Jobs Pixar an die Börse und wurde über Dann aber, in diesem Juli, stellte Jobs Nacht zum Milliardär. ein neues Modell vor: den „Cube“, einen Jobs stand wieder als Erfolgsmensch da. Hochleistungsrechner mit Dualprozessor Und als Apple wenig später in die Verlust- und der Anmutung eines durchsichtigen zone strauchelte, konnte er als strahlender Designer-Toasters. Kaum jemand wollte Retter auftreten. Nie hatte er den Raus- das Gerät haben. Schlimmer noch: Er- schmiss verwunden, sondern sich immer schreckend viele der ohnehin wenigen nach Genugtuung gesehnt. Es folgten ein Käufer beschwerten sich über schadhafte paar Intrigen, dann hatte er den damaligen Stellen im Gehäuse. Apple-Chef Gil Amelio weggeputscht. Auch das neue Betriebssystem spaltet Um sich wieder mit ihrem mythischen die Mac-Gemeinde: OS X (gesprochen: Gründerhelden schmücken zu können, „Oh-Es-Ten“) ist die zehnte Aktualisierung hatte Apple bereits seine Firma Next ge- des Apple-Betriebssystems. Es betört mit kauft – erst später dämmerte der Apple-Be- einer schön gestalteten Oberfläche namens legschaft, dass eigentlich der kränkelnde

Aqua und direkt eingebauten Videoschnitt- APPLE Zwerg den schwachen Riesen übernom- Techniken. Bisher kursiert nur eine Test- Tüftlergarage von Jobs und Wozniak (1977) men hatte: Prompt führte Jobs den version im Internet, im Frühjahr soll OS X Bob-Dylan-Songs in der Löt-Pause Führungsstil ein, den er sich bei Next zu- ausgeliefert werden. gelegt hatte – eine Mischung aus Charme- „Meine Erfahrungen mit OS X haben offensive und Angstregime. Angestellte mich nicht im Geringsten überzeugt“, nör- hatten Angst, mit Jobs im Fahrstuhl zu fah- gelt Charles Moore, der im Online-Maga- ren: Bis zum Aussteigen könnten sie ihren zin Applelinks.com eine Kolumne bestrei- Job los sein. tet. Viele Macianer fühlen wie er. Auch in der Presse ist Jobs verrufen: Er Plötzlich scheint der sympathische Ap- lässt Interviewtermine platzen, steht bei fel-Konzern wieder wurmstichig – und unangenehmen Fragen einfach diesmal nicht trotz Jobs, sondern wegen auf und verlässt den Raum. Jobs. Sowohl das Betriebs- Verzweifelt rät sein europäi- system OS X als auch der scher PR-Manager Journalisten Würfelrechner sind persön- von allen Jobs-Interviews ab. liche Obsessionen, biografi- Es scheint, als setze sich sche Altlasten, die Jobs seit der verbitterte, rücksichtslose 1985 wie Gespenster ver- Designer-Rechner „Cube“: Biografische Altlast Steve gerade gegen den char- folgen. manten Steve durch. Als er Es waren seine schwärzesten Jahre. Al- allenfalls für Professoren erschwinglich. den iMac auf den Markt brachte, bejubel- les war zu schnell gegangen: Mit 21 Jahren Die Maschine gewordene Egomanie ihres te die Presse zwar seine belebende Genia- hatte sich Jobs noch in einem Hare-Krish- Erfinders erwies sich als totaler Flop. lität. In Wirklichkeit jedoch stammte das na-Tempel durchfüttern lassen müssen, mit Nach fünf Jahren Entwicklungszeit und Konzept für die Knuffelkiste von seinen 23 war er Millionär. Mit 30 schließlich war über 130 Millionen Dollar Investitionen Vorgängern. Erst der würfelförmige Toas- er weltberühmt und arbeitslos, rausge- wurde die Produktion des „nächsten“ terrechner „Cube“, den niemand kaufen schmissen von der eigenen Firma. Seine Computers eingestellt. Die luxuriöse Fir- mag, ist das erste echte Jobs-Produkt. Er 100 Millionen Dollar in Aktien durfte er be- menzentrale wurde aufgelöst, die meisten hatte wohl gehofft, damit beweisen zu kön- halten; „Fuck-you-money“ nannte er das – Mitarbeiter entlassen. Jobs war am Ende. nen, dass die Idee seines Next-Rechners „Verpiss-dich-Geld“. Ausgerechnet eine Spielzeugfigur na- doch eine gute war. Dem märchenhaften Aufstieg folgte ein mens „Buzz Lightyear“ rettete den ge- Nach der glücklosen Hardware kramt langer, zäher Sinkflug: Immer tiefer ver- scheiterten Visionär. Denn als er nicht Jobs nun die zweite Leiche aus seiner Ver- strickte sich Jobs in seine eigenen Cha- wusste, wohin mit seinen Aktienmillionen, gangenheit vor: die Next-Software. Auf rakterwidersprüche. Verbissen versuchte hatte Jobs 1986 ein kleines, digitales Anima- ihrem Ansatz baut das neue Betriebs- er der Welt zu beweisen, dass er in der tionsstudio gekauft. Der Name: „Pixar“. system OS X auf. Nicht zufällig sieht die Lage war, den Apple-Erfolg zu wieder- Die Klitsche, die mehr einer Studenten- Zahl zehn, lateinisch geschrieben, aus wie holen. WG als einem Studio glich, blieb jahrelang das X aus Next. Hilmar Schmundt

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ETHIK „Leben ist ein Geschenk ohne Rückgaberecht“ Die Ethikerin Regine Kollek über vorgeburtliche Diagnostik, die Angst, ein behindertes Kind zu gebären, und ein ungewöhnliches Urteil aus Frankreich

Kollek, 50, ist Professorin für Technikfol- betroffene Embryo oder Fötus wird getötet, genabschätzung in der Medizin an der damit in einer nächsten Schwangerschaft

Universität Hamburg. Die gelernte Mo- ein gesundes Kind entstehen kann. / LAIF R. FROMMANN lekularbiologin ist Vorsitzende des Ethik- SPIEGEL: „Es ist untragbar, Schadensersatz Biologin Kollek Beirats des Bundesgesundheitsministeri- dafür einklagen zu können, dass man ge- Recht auf unversehrte Geburt? ums. boren ist. Und noch unerträglicher ist es, von einem Gericht auch noch Recht zu be- Kollek: … der erste Senat hingegen sprach SPIEGEL: Frau Kollek, kann Leben ein Scha- kommen“, so kommentierte die französi- 1997 einer Frau, die nach einer misslunge- densfall sein? sche Schriftstellerin Elisabeth Badinter das nen Sterilisation ihres Mannes ein gesundes Kollek: Nein. Man muss akzeptieren, wenn Urteil. Darf es ein einklagbares Recht dar- Kind zur Welt gebracht hatte, 6000 Mark Eltern ein behindertes Kind als Last emp- auf geben, nicht geboren zu werden? Schmerzensgeld zu und zusätzlich noch finden. Aber einen Menschen – in welchem Kollek: Noch eine Absurdität: Nur wer ge- den Unterhalt für das Kind. In einem an- körperlichen oder geistigen Zustand er boren ist, kann überhaupt klagen. Auf die deren Fall, in dem eine Mutter nach einer auch sein mag – mit der Kategorie des Welt zu kommen ist ein Geschenk, das man falschen Gendiagnose eine schwerstbehin- „Schadens“ zu beschreiben, widerspricht nicht zurückgeben kann. Andererseits: derte Tochter zur Welt brachte, entschied dem Respekt, den wir jedem Menschen Wenn Ärzte nachweislich Fehler machen, der Senat genauso. Das Schmerzensgeld schulden. Nicolas’ Behinderung hätte nur dann sollen sie dafür auch gradestehen. In für das Kind, auf das die Eltern in diesem verhindert werden können, wenn er gar diesem Fall haben sie Nicolas’ Mutter nicht Fall ebenfalls geklagt hatten, wurde jedoch nicht geboren worden wäre. die korrekten Informationen über das mög- abgelehnt. Genau darin liegt der Unter- SPIEGEL: Die Anwälte sahen das genauso: liche Risiko gegeben. Sie haben sie dadurch schied zu dem Urteil der französischen Nicolas sei um den Genuss einer „thera- um die Möglichkeit gebracht sich zu ent- Richter: Die haben das Leben dieses Kin- peutischen Abtreibung“ gebracht worden. scheiden, ob sie dieses Kind austragen will des als Schadensfall für das Kind selbst be- Kollek: Das ist ein völlig widersinniger Be- oder nicht. Also müssen sie sich an dem trachtet. Ich halte das für einen Skandal. griff. Da wird nichts therapiert, sondern der Mehraufwand, der für die Pflege des Kin- Wer die Tatsache zu leben als Schadensfall des entsteht, beteiligen. Ähnliche im ökonomischen Sinne einstuft, gebraucht Entscheidungen gab es auch schon eine Rechtskategorie, die der Würde des in Deutschland. menschlichen Lebens nicht angemessen ist. SPIEGEL: Allerdings können sich in SPIEGEL: Andererseits ermöglicht der Scha- dieser Frage offenbar nicht einmal densersatz Nicolas vielleicht ein men- die Richter des Bundesverfassungs- schenwürdigeres Leben. Immerhin ist er gerichts einigen. Dessen eher kon- ein Pflegefall und lebt in einem Heim. servativ besetzter zweiter Senat hat Kollek: Die Versorgung des Kindes hätte 1993 in einem Urteil zum Paragra- das Gericht auch sichern können, ohne fen 218 als Leitlinie festgelegt, die gleichzeitig darüber zu befinden, ob sein Geburt eines Kindes könne kein Leben lebenswert ist.

SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR Schaden sein … SPIEGEL: Die Entscheidung, so kritisieren Lebensschützer, habe Frankreich einen Ultraschall-Untersuchung Schritt in Richtung institutionelle Eugenik Produktprüfung fürs Kind tun lassen.

Weil sie das Risiko nicht eingehen moralische Entrüstung in Frankreich: Es wäre wollte, ein behindertes Kind zu ge- für Nicolas besser gewesen, nicht geboren zu bären, suchte sie ärztlichen Rat. Doch werden, als ein Leben mit schwersten Behin- die Mediziner machten einen Diagno- derungen führen zu müssen, argumentierten sefehler und gaben Entwarnung. Zu seine Anwälte – und bekamen Recht. Indem Schadensersatz für ein Leben Unrecht: Taub, fast blind, gelähmt und so die Ärzte die Behinderung nicht erkannten forderte der Vater des 17-jährigen schwerst- schwer geistig behindert, dass er sich selbst und so der Mutter die Möglichkeit einer Ab- behinderten Nicolas Perruche vor dem zu dem Fall nicht äußern kann, muss Nicolas treibung nahmen, sei dem Sohn ein Un- obersten französischen Gericht für seinen heute in einem Heim betreut werden. In der recht zugefügt worden, entschieden die Rich- Sohn. Nicolas’ Mutter hatte sich, während sie vergangenen Woche sorgte das Urteil in der ter. Dafür müsse er vom Arzt und dem betei- mit ihm schwanger war, mit Röteln infiziert. „Affaire Nicolas Perruche“ für Aufsehen und ligten Diagnose-Labor entschädigt werden.

298 der spiegel 48/2000 Kollek: Das ist durchaus denkbar. Man muss bedenken, welche Dynamik in Gang kommt, wenn Ärzte oder Eltern künftig Angst haben müssen verklagt zu werden, wenn ein behindertes Kind auf die Welt kommt. Sie werden doch alles tun, um die Geburt eines solchen Kindes zu vermei- den. Langfristig kann das dann eugenische Tendenzen zur Folge haben. SPIEGEL: Irritiert es Sie nicht, wenn Femi- nistinnen wie Badinter, die eigentlich das Recht auf Abtreibung verteidigen, dieses Urteil verdammen? Kollek: Nein, das irritiert mich nicht. Die Frage, die Feministinnen in diesem Zu- sammenhang zu stellen hätten, ist: Welche Rolle hat die Frau, ist sie in ihrer Autono- mie eingeschränkt? Die Position der frühe- ren Frauenbewegung – „Mein Bauch gehört mir“ – wird im Zeitalter der vorge- burtlichen und genetischen Diagnostik schwieriger. Ich bin der Meinung, es muss nach wie vor das Recht der Frau sein, selbst darüber zu entscheiden, ob sie schwanger sein will, ob sie ein Kind gebären will oder nicht. Wie weit sie aber auch das Recht hat, über die Art dieses Kindes zu ent- scheiden, das ist die Frage. Angesichts der Ausweitung der genetischen Diagnostik können sich die Wünsche von Eltern möglicher- „Wenn weise auf etwas richten, Ärzte Fehler was wir ethisch nicht machen, mehr vertreten können. sollen sie Die Befreiung von uner- dafür auch wünschten Schwanger- schaften droht heute ins grade- Gegenteil umzuschlagen: stehen“ in die Verpflichtung zur Geburt gesunder Kinder. SPIEGEL: Nach dem französischen Urteil könnten behinderte Kinder künftig gegen ihre Eltern klagen, weil sie ihre Existenz hätten verhindern können, es aber nicht getan haben … Kollek: … das wäre in der Tat abstrus. Sie werfen da eine wesentliche Frage auf: Ist mit diesem Spruch unter der Hand ein Recht auf ein nicht behindertes Leben installiert worden? SPIEGEL: Selbst Eltern, die sich bewusst und liebevoll für ihr behindertes Kind ent- schieden haben, müssen sich jetzt fragen, ob sie ihm damit ein Unrecht zufügen. Kollek: Schon deswegen kann nach meiner Auffassung kein Recht auf unversehrte Ge- burt formuliert werden. Natürlich hat jeder den Wunsch, gesunde Kinder zu bekom- men und selbst gesund zu sein. Aber ich halte es für undenkbar, daraus ein ein- klagbares Recht abzuleiten. SPIEGEL: Gaukelt die Vielzahl der diagnos- tischen Möglichkeiten eine Gesundheits- garantie nicht geradezu zwangsläufig vor? Kollek: Es sieht fast so aus. Ich merke in meinen Lehrveranstaltungen immer wie- der, dass manche Studenten inzwischen glauben, man könne durch eine Batterie vorgeburtlicher Tests sicherstellen, dass ein

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Kind hinterher auch gesund ist. Das ist vielleicht: „Wir schaffen das nicht ein natürlich unmöglich, schon deshalb, weil zweites Mal.“ Das halte ich nicht für ver- man ja gar nicht weiß, wonach man bei ei- werflich. nem unauffälligen Embryo suchen sollte SPIEGEL: Ist es nicht eine paradoxe Ent- und ihn unmöglich sämtlichen bekannten wicklung, dass einerseits Schwangere das Tests unterziehen kann. Recht haben, einen Embryo wegen des Wir wissen übrigens aus empirischen psy- Verdachts auf Schädigungen abzutreiben, chologischen Untersuchungen, dass selbst andererseits Ärzte versuchen, Frühchen Frauen, die nach einer pränatalen Unter- selbst um den Preis schwerster Behinde- suchung die Nachricht bekommen: „Ihrem rungen am Leben zu halten? Kind geht es gut“, sich immer noch mehr Kollek: Wenn ein Kind zur Welt kommt Sorgen machen als diejenigen, die keine und die Spontanatmung einsetzt, sind die vorgeburtliche Diagnostik durchgeführt Neonatologen auf Grund der rechtlichen haben. Solche Studien zeigen, dass Tests Situation, aber auch auf Grund ihres ärzt-

bei einer Frau die Wahrnehmung ihrer 3 FRANCE IMAGE lichen Ethos verpflichtet, dieses Leben zu Schwangerschaft verändern. Pflegefall Perruche erhalten, wenn es irgendwie geht. Manche, SPIEGEL: In den USA ziehen längst viele „Nur wer geboren ist, kann klagen“ wie der australische Philosoph Peter Sin- Eltern nach falschen vorgeburtlichen Dia- ger, wollen solche Frühchen unter be- gnosen gegen Ärzte vor Gericht. So ge- zu lassen – und im Zweifelsfall dann auch stimmten Bedingungen auch töten, um nannte „wrongful life“-Prozesse sind so eine Abtreibung. Wenn sie die Untersu- ihnen ein ihrer Meinung nach nicht le- häufig, dass die Versicherungen dieses Be- chungen nicht in Anspruch nimmt und ein benswertes Leben zu ersparen. In meinen rufsrisiko der Ärzte nicht mehr versichern behindertes Kind bekommt, wird sie von Augen ist das inakzeptabel, aber egal, was wollen. Rollt jetzt auch in Europa eine Pro- der Gesellschaft selbst dafür verantwortlich wir tun: Wir kommen von einem Konflikt zesswelle auf die Ärzteschaft zu? gemacht, ganz nach dem Motto: „Ein be- in den anderen. Kollek: Jedenfalls öffnet die Angst hindertes Kind, das muss doch SPIEGEL: In England erklagten sich Ärzte davor Tür und Tor für eine aus- heute wirklich nicht mehr sein.“ vor kurzem das Recht, gegen den erklärten ufernde Diagnostik. Je mehr Paa- „Schwangere SPIEGEL: Besteht das Risiko, dass Willen der Eltern siamesische Zwillinge zu re und Ärzte sich abzusichern werden eine Frau sagt: „Mein Kind hat trennen. Allerdings mussten sie eines der versuchen, desto eher wird die verantwortlich ein schiefes Bein oder es hat das beiden Mädchen töten, damit das andere Beziehung zum Kind zu einem gemacht, wenn Risiko, mit 50 an Alzheimer zu leben kann – mit schweren gesundheitli- Rechtsverhältnis, das sich auf sie ein behin- erkranken; ich wünsche des- chen Beeinträchtigungen. Die Eltern müs- der Ebene der Produktqualitäts- halb eine therapeutische Ab- sen nun mit diesem überlebenden Kind le- prüfung abspielt. dertes Kind treibung“? ben. Lebten sie in Frankreich, könnten sie SPIEGEL: Welche ethischen Kon- bekommen“ Kollek: Durchaus. Eben deshalb jetzt womöglich Schadensersatz einklagen. flikte bahnen sich dadurch an? müssen wir über die Grenzen Sind solche Konflikte überhaupt vor Ge- Kollek: Je weiter die vorgeburtliche Dia- der Pränataldiagnostik diskutieren, etwa richt verhandelbar? gnostik voranschreitet – besonders die beim Einsatz von prädiktiven Tests, die Kollek: Im Prinzip ja. Nehmen Sie die Bei- Gen- und Chromosomendiagnostik –, des- anzeigen, dass das Kind mit 40 eine spiele, wo Gerichte entschieden haben, to stärker sehen sich Ärzte und Eltern mit schwere Krankheit bekommen wird. Es den Eltern das Sorgerecht zu entziehen, der Erwartung konfrontiert, erkennbare ist verständlich, wenn Eltern, die schwere wenn sie aus religiösen Gründen eine Fehlbildungen zu verhindern. Die Schwan- Erbkrankheiten in der Familie haben, Leukämiebehandlung verweigern, die gere, die immer am Ende der Entschei- wissen wollen, wie groß ihr Risiko ist. Ärzte aber der Meinung sind, sie könnten dungskette steht, gerät unter Druck, alle Manche Eltern, die bereits ein schwer be- dem Kind helfen. Im Fall dieser Zwillinge denkbaren Untersuchungen durchführen hindertes Kind liebevoll umsorgen, sagen war sicher wesentlich, wie die Ärzte die Überlebensfähigkeit des operier- ten Zwillings einschätzten. Ist sie hoch, können es die Ärzte als ihre Pflicht ansehen, das Leben des ei- nen um den Preis des anderen zu retten. Andererseits hat der eine Zwilling als unfreiwilliger Organ- spender für den anderen dienen müssen. Vielleicht hätte man in diesem komplizierten Fall dem Wunsch der Eltern folgen sollen und im Zweifelsfall beide Kinder sterben lassen. SPIEGEL: Wenn es die Pflicht gibt, Leben zu erhalten, müsste es nicht auch ein Recht auf Sterben geben? Kollek: Es gibt möglicherweise Fäl- le, die so gelagert sind, dass alle Beteiligten gemeinsam entschei- den, einen Menschen nicht länger am Leben zu erhalten. Aber ich bin nicht der Meinung, dass dies in ei- nem allgemein gültigen Regelwerk

R. FROMMANN / LAIF R. FROMMANN formuliert werden sollte. Frühchen im Brutkasten: Das ärztliche Ethos verpflichtet, jedes Leben zu erhalten Interview: Beate Lakotta

300 der spiegel 48/2000 Werbeseite

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Werbeseite Szene Kultur

AUSZEICHNUNGEN ARCHITEKTUR Aus für den Megapreis Kuppel für die usgelobt war die höchst dotierte AAuszeichnung des deutschen Li- teraturbetriebs: 250000 Mark, so ver- Queen kündete der Bertelsmann-Buchclub im Februar 1999, wolle man für einen er Londoner Architekt Lord Norman „Großen Romanpreis“ spendieren – DFoster, der den Berliner Reichstag mit einzig der Joseph-Breitbach-Preis seiner Hightech-Kuppel krönte, präsentiert kann da in Deutschland noch mithal- nun ein ähnlich spektakuläres Projekt in ten (der bekanntere Georg-Büchner- der britischen Hauptstadt. Am 6. Dezem- Preis bringt es dagegen nur auf ber wird Queen Elizabeth II. den grundle- 60000 Mark). gend umgestalteten und künftig nach ihr benannten Innenhof des British Museum eröffnen. Der für seine kühl-futuristischen Entwürfe berühmte Foster ließ den bislang für Besucher nicht zugänglichen 96 Meter langen und 72 Meter breiten „Great Court“ mit einer 800 Tonnen schweren Stahl- und Glaskonstruktion überdachen. Darüber hinaus wurde der in der Mitte des Hofs stehende kreisrunde Lesesaal restauriert, in

J. KOOPMANN (li.); P. MAXWELL (re.) MAXWELL (li.); P. KOOPMANN J. dem schon Karl Marx über seinen Kapita- Preisträger Fischer, Ahrens-Kramer lismus-Studien brütete. Das rund 330 Mil- lionen Mark teure Projekt führte zu einer Nun hat die zum Teil prominent be- nationalistischen Aufwallung, weil Foster setzte Jury das Preisgeld zum ersten zur Rekonstruktion eines Portals statt eng- und letzten Mal verliehen – und auch lischen französischen Kalkstein verbaute. das nur zum Teil. Beim Buchclub in Weniger erregen dürfte dies die sechs Mil- Rheda-Wiedenbrück ist man offenbar lionen Besucher im Jahr, die sich bisher in enttäuscht vom künstlerischen Ertrag den engen Eingängen und Fluren des 1850 der Idee, Deutschlands Autoren mit fertig gestellten Baus drängen mussten, um viel Geld Geschichten zu entlocken, in der legendären Ägyptenabteilung die die „mit großem Atem von uns selbst Mumien zu bestaunen. Der „Observer“

und unserer Welt sprechen“ (so die prophezeite dem Projekt in jedem Fall MUSEUM THE BRITISH Ausschreibung). Die Vor- und Haupt- schon einen „Triumph“. Überdachter Innenhof des British Museum juroren hatten Mühe, überhaupt Preiswürdiges zu finden, und einigten sich zunächst auf eine Verlängerung der Einsendefrist. Schließlich wählten die Jury-Mitglieder – darunter die POP deutschen Rapper dann auf die richtige Autorinnen Amelie Fried, Sibylle Akustik: in der Balver Höhle, die schon Knauss und Tanja Kinkel – aus exakt HipHop aus der Höhle lange für Klassik- und Jazzkonzerte ge- 777 eingeschickten Manuskripten nutzt wird. Im September nahmen die mehrere Preisträger aus: Renate Ah- uf Lanzarote und Formentera hatten HipHopper dort mit großem Begleit- rens-Kramer, 45, und Claus Corne- Adie Fantastischen Vier vergeblich orchester vor Konzertpublikum eine lius Fischer, 49, erhalten für ihre eine passende Örtlichkeit gesucht. Aus- „Unplugged“-CD (Columbia/ Sony) für Arbeiten („Der Wintergarten“ und gerechnet im Sauerländischen stießen die den Musiksender MTV auf – ein unge- „Dicht am Feuer“) jeweils einen wöhnliches Akustikwerk, ist zweiten Preis in Höhe von 50000 doch HipHop überwiegend Mark, drei weitere Manuskripte sol- aus Samples zusammengebas- len mit Geldern zwischen 40000 und telte elektronische Musik, zu 25000 Mark ausgezeichnet werden. der gerappt wird. Das Resul- Der Große Romanpreis selbst – so tat der Höhlen-Session der der einstimmige Beschluss – wird Fantastischen Vier stieg nicht vergeben. gleich in die Top Ten der In Rheda spricht man nun nachträg- deutschen Charts. Nach Her- lich von einem „einmalig“ zum 50- bert Grönemeyer waren die jährigen Club-Jubiläum ausgeschrie- Fantastischen Vier erst die benen Preis. Damit die verbleibenden zweiten deutschen Künstler, 60000 Mark nicht verfallen, wollen die MTV für eines der euro- die Club-Geldgeber eine Jury-Emp- paweit ausgestrahlten „Un-

fehlung aufgreifen und Seminare zum FOURMUSIC plugged“-Konzerte auserkor. Zweck der Nachwuchsförderung an- bieten, Sektor: Unterhaltendes. Rapper Die Fantastischen Vier 303 Szene

LITERATUR Vater, Arzt und Trinker anz ruhig bringt die Mutter es dem G15-Jährigen bei: „Ich glaube, dein Vater ist gestorben.“ Der Sohn ist müde, will seine Ruhe haben und mur- melt matt: „Schon wieder…“ Denn zu oft hat Jean-Louis Fournier gesehen, wie sein Vater betrunken vor dem Bett liegt – wie tot. Doch diesmal war der Alkoholiker tatsächlich gestorben. Er wurde 43 Jahre alt. Jahrzehnte später hat sich der Sohn nun seine merkwürdige Kindheit mit dem vä-

terlichen Saufbold in einem anrührenden ART WESTREICH T. Buch von der Seele geschrieben: „Er hat Mori-Video „Miko no inori“ (1996) nie jemanden umgebracht: mein Papa“ heißt das Werk, und der Untertitel lau- AUSSTELLUNGEN tet: „66 Beweise“. Die Beweise sind 66 Momentaufnahmen, in denen sich der Au- Ein Alien auf Durchreise tor – aus der Sicht des naiven Kindes – as Ehepaar Pamela und Richard Kramlich aus San Francisco hat einen Rekord aufge- an die Skurrilitäten Dstellt, auf den viele Museen neidisch sind: Die beiden kauften in gerade mal sieben Jah- und Sperenzchen des ren die weltweit größte Sammlung von Medienkunst zusammen. Und sie waren durchaus Vaters erinnert, die wählerisch. Nur die Werke wirklicher Stars gingen in die Kollektion ein, von Künstlern wie Not und Pein, die Vito Acconci, Bruce Nauman, Steve McQueen oder aber von Mariko Mori, der Kitschköni- das Leben mit einem gin der neunziger Jahre, die sich selbst gern als pinkfarbenen Alien darstellt. Inzwischen um- Alkoholkranken mit fasst die Sammlung 60 Künstler mit 145 Arbeiten aus vier Jahrzehnten – Zeit, so dachten sich bringt. die Kramlichs, sich im Napa Valley ein Museum von den renommierten Architekten Jacques Das Besondere am Herzog und Pierre de Meuron bauen zu lassen. Bevor es fertig ist, werden 30 Film-, Video- Trinkervater Fournier und Fotoarbeiten auf Tournee geschickt. Doch die Kramlichs haben auch ihre knauserige Sei- war dessen Beruf – te. In Europa wird die Schau nur ein einziges Mal ausgestellt: Von Donnerstag an wird sie und erklärt auch den im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe zu sehen sein (bis 22. April). Titel des Buchs: Er war Landarzt in Nordfrankreich. Seine Patienten verehr- ten ihren Monsieur le Docteur, er be- handelte viele umsonst. Zu Hause müs- sen Frau und Kinder würdelos ums FILM und charmant, ohne erhobenen Zeigefin- Haushaltsgeld betteln. Manchmal ist das ger. „The Grinch“ erzählt von der wah- Leben aber auch leidlich lustig. Wenn „Ohne Zeigefinger“ ren Bedeutung von Weihnachten, aber etwa die Frau eines Patienten berichtet, auch davon, ausgeschlossen zu sein. dass ihr Mann die verschriebenen Blut- Hollywood-Schauspieler Jim Carrey, SPIEGEL: Was bedeutet Ihnen diese Ge- egel nicht akzeptiere. Dabei habe sie die 38, über seine Hauptrolle im Weih- schichte? Tiere doch in feine Scheiben geschnitten nachtsfilm„The Grinch“ Carrey: Eine Menge. Ich war früher nicht und mit Butter und Petersilie serviert. wie die anderen Kinder. Klar, dass der Fourniers Buch ist höchst unterhaltsam – SPIEGEL: „The Grinch“ basiert auf einer Grinch, ein Außenseiter, mich faszinierte. und bisweilen könnte sogar der Eindruck Geschichte von Dr. Seuss, einem Mär- SPIEGEL: Die Mimik ist für Sie ein wich- entstehen, dass das Leben mit einem chenerzähler der Moderne, der in den tiger Teil Ihrer Darstellung. Fiel es Ih- Säufer gar nicht so schlimm sei. Aber USA höchst populär ist. Was zeichnet nen schwer, eine Latexmaske zu tragen? dann tauchen Sätze auf, in denen das seine Geschichten aus? Carrey: Manchmal hat es Stunden ge- Elend der Vernachlässigung alle Vernied- Carrey: Dr. Seuss hat ein fremdes Uni- dauert, bis ein Ausdruck passte. lichung wegwischt: „Ich war traurig, versum geschaffen, das trotz aller Phan- SPIEGEL: Ein Kampfschwimmer soll aber nicht, weil mein Papa tot war, son- tasie etwas vermittelt. Und zwar launig Ihnen Tricks beigebracht haben, mit dern weil er bis an sein Lebensende wei- denen solche Qualen leich- tergetrunken hatte. Ich hatte geglaubt, ter zu erdulden sind? dass er eines schönen Tages damit auf- Klappte es? hören würde…dass wir ein ganz nor- Carrey: Ich habe mich males Leben führen würden wie die an- zwar immer noch unwohl deren. An diesem Tag ist mir klar ge- gefühlt, aber es war aus- worden, dass es nie so sein würde.“ zuhalten. Ich habe es als eine Art Zen-Erfahrung

CINETEXT gesehen. Jean-Louis Fournier: „Er hat nie jemanden umgebracht: mein Papa“. Aus dem Französischen von Theresia Übel- hör. Schneekluth Verlag, München; 136 Seiten; 22 Mark. Carrey als „Grinch“ 304 Kultur

REGISSEURE einige Skinheads durch den Film „im wahrsten Sinn des Wortes bis aufs Mes- Am Rande „Bis aufs Messer“ ser herausgefordert“ fühlten. Vor allem die Verbindung von Skin- und Schwu- er Werbespruch auf ihren Kapu- lenszene habe „einen wunden Punkt Rettet das Küchle! Dzenpullis heißt zwar „Ein Film auf getroffen“. In zwei E-Mails wurde den eigene Gefahr“, aber dass sie diesen Redings offen mit Mord gedroht gal, was CDU und CSU be- Satz so wörtlich nehmen müssen, hat („Kommt nach Dessau, Ihr Zecken, Eschließen, Deutschland ist Benjamin und Dominik Reding dann und wir killen Euch!“). „Im Osten wird und bleibt ein multikulturelles doch entsetzt: Wegen Morddrohungen der Film ernster genommen“, vermu- Land, und zwar nicht wegen der von Rechtsextremisten hat das Regie- tet Benjamin Reding, der keine große Brüderpaar jetzt die Promotions- Ausländer, sondern trotz der vie- tour für seinen Spielfilm „Oi! len Fremden, die unter uns leben. Warning“ abgebrochen und Auf- Denn was die uns zu bieten ha- tritte in Erfurt, Chemnitz, Neu- ben, ist uniform und schafft eine brandenburg und Greifswald ab- Einheitskultur von Nord bis Süd gesagt. „Oi! Warning“, auf Festi- vals in aller Welt gefeiert, erzählt und Ost bis West. Ein Döner ist die Geschichte eines 17-Jährigen, ein Döner, eine Falafel ist eine der im Skinhead-Milieu seine Falafel, und eine Pizza ist eine Piz- Homosexualität entdeckt (SPIE- za, egal ob sie in Flensburg oder GEL 40/2000). In Deutschland in Füssen, in Zwickau oder in Aa- haben bislang 50000 Zuschauer den Schwarzweißfilm gesehen, chen gegessen werden. Ganz an- und etliche haben mit den bei- ders dagegen die deutsche Küche. den Regisseuren diskutiert. Bei Das Hamburger „Labskaus“ ist einer Veranstaltung in Jena kam im Süden vollkom- es jedoch zum Eklat. Rund 30 men unbekannt, wäh- Skinheads störten im Anschluss an die „Oi! Warning“-Vorfüh- rend bayerische Weiß- würste mit süßem rung und bedrohten die Macher, A.LIEBSCH so dass die Diskussion unmög- Regisseure Dominik, Benjamin Reding Senf zum Frühstück lich wurde. Gehören also jetzt im Norden als eine auch Kinos zu den „national befreiten Lust verspürt, für seinen Film „zum exotische Spezialität Zonen“, wie Rechtsradikale die von ih- Märtyrer zu werden“. Deshalb meidet nen mehr oder weniger kontrollierten er zurzeit rechtsradikale Hochburgen gelten. Wie mit der Viertel einiger ostdeutscher Städte nen- („Ich fahre jetzt lieber nicht nach Küche ist es auch mit nen? „Wir nehmen die Drohungen Berlin-Marzahn“) und versucht, sich der Sprache. Ein Frie- ernst“, sagt Henriette Reif vom „Oi!“- ansonsten durch Arbeit abzulenken: se und ein Allgäuer können sich Verleih Nighthawks Pictures in Pots- Er arbeitet am Drehbuch für einen nur mit Hilfe eines Dolmetschers dam – zumal sich, so Benjamin Reding, „Tatort“. verständigen, und selbst inner- halb einer Region sind die Unter- schiede gewaltig. Deswegen ar- beitet ein Expertenteam der Uni Kino in Kürze Augsburg seit vielen Jahren an ei- nem „Sprachatlas von Bayerisch- Schwaben“, 8 von insgesamt 13 Bänden liegen bereits vor – und dokumentieren die Unterschie- de zwischen der bayerischen und der schwäbischen Sprache, die vom Untergang bedroht ist.

CONCORDE Das schwäbische „Fleischküchle“ Allen, Ullman in „Schmalspurganoven“ wird vom bayerischen „Fleisch- pflanzerl“ verdrängt, was mal „Schmalspurganoven“. Mit fast 65 sieht köpfigere Komplizen „The Brain“ nann- Woody Allen nun auch schon so zer- ten. Geschieht ihm ganz recht, dass ihm ein „Stüble“ war, heißt heute fleddert und knochig wie eine alte Kat- zwei Frauen die Show stehlen: die „Stub’n“ oder „Stüberl“. Die ze aus. In seinem neuen, nunmehr 31. Ki- Komödiantin Tracey Ullman, die ihm als Bayerisierung Schwabens schrei- nofilm, der entschieden schlichter, hand- supernervige, aber supertüchtige Ehe- tet voran. Das ist es, was die Bay- fester, lachlustiger als die letzten ist, spielt frau aus jeder Patsche hilft, und die klu- ern unter „Leitkultur“ verstehen. er einen schwachköpfigen Möchtegern- ge Elaine May, die in der Rolle einer be- Bankräuber, den ein paar noch schwach- sonders dusseligen Nuss brilliert. Deutschland, pass auf!

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ULLSTEIN BILDERDIENST Nazi-Aufmarsch am Brandenburger Tor (1933)*: „Die wilde Gestikulation, der Geifer, der flackernde und stierende Blick“

AUTOREN Mirakel der Erinnerung Kritiker nennen es das „bedeutendste Buch des Jahres“, Leser machen es zum Bestseller: Die bewegende „Geschichte eines Deutschen“ aus dem Nachlass des Publizisten Sebastian Haffner, zugleich Essay und Erzählung, wirft auch Licht auf die Gegenwart. Von Reinhard Mohr

aradox, aber wahr: Je ferner die Zeit „Wegschauen“ und „deutsche Leitkultur“ In ihrem Schatten wurden viele andere des Nationalsozialismus rückt, des- – auch literarische Publikationen lassen autobiografische Bücher veröffentlicht, in Pto näher kommt sie heran. Nicht die 55 Jahre zurückliegenden Schrecken denen Opfer der Nazi-Verbrechen, oft erst nur aufwendige Fernsehdokumentatio- erstehen, als wären sie erst gestern ge- gegen Ende ihres Lebens, die Sprache wie- nen wie zuletzt die sechsteilige ZDF- schehen. derfanden, um ihre Erlebnisse in den Ghet- Reihe „Holokaust“, nicht nur die immer Victor Klemperers mehrbändige „Tage- tos und Konzentrationslagern zu beschrei- wiederkehrenden erbitterten Auseinan- bücher 1933 – 1945“ und Marcel Reich- ben. Die Autoren waren, was Wunder, dersetzungen über Schuld, Wissen und Ranickis Autobiografie „Mein Leben“, meist jüdische Überlebende des Holocaust. Verantwortung wie in der Goldhagen- hunderttausendfach verkauft, wurden ge- Der promovierte Jurist Sebastian Haff- Debatte, beim Streit über Walsersches radezu zum nationalen Ereignis, wochen-, ner aber, im vergangenen Jahr 91-jäh- ja monatelang Gesprächsthema auch jen- rig gestorben, war kein Jude. Der einstige * Szene aus NS-Propagandafilm „Hans Westmar“. seits der Massenmedien. Referendar am Berliner Kammergericht,

306 der spiegel 48/2000 „Mein Fall mag gerade ein Durch- Rechtsextremismus und Antisemitismus al- schnittsfall sein“, schreibt er zu Beginn in lenthalben gefordert wird: die eines wa- freundlicher Verkennung der Lage. „Man chen, demokratisch gesinnten Zeitgenos- kann recht gut an ihm ablesen, wie heute sen, der die Freiheit und das Leben liebt – die Chancen in Deutschland für den Men- und damit das Land, in dem er lebt. schen stehen.“ Sebastian Haffner war alles andere als Das einhellige Lob der Kritik als „be- ein Linker. Er war konservativ-liberal ge- deutendstes Buch des Jahres“, ja als „Mi- prägt, eher unpolitisch, dafür den geisti- rakel“ und „Schlüsselbuch zur nazistischen gen und anderen Genüssen des bürger- Heimsuchung Deutschlands“, wie Klaus lichen Lebens der Weimarer Republik Harpprecht schrieb, beruht auf diesem so durchaus zugetan. Nach dem Krieg zählte seltenen Ton, der Erlebnis mit Reflexion er – bis zu seinem Tode – zu den heraus- verbindet, Beschreibung mit Analyse, ohne ragenden Publizisten der Bundesrepublik. je selbstgefällig auf der einen oder abstrakt Über Jahrzehnte war seine merkwürdig und dogmatisch auf der anderen Seite zu knarzende Stimme skeptischer Weisheit in werden. Funk und Fernsehen präsent. In den besten Passagen wird die Atmo- Nachdem er 1954 nach Deutschland sphäre der Zeit geradezu mit Händen greif- zurückgekehrt war, arbeitete er für die bar, werden schöne wie schreckliche Au- „Welt“, dann lange Jahre für den „Stern“. genblicke plastisch wie im gesellschafts- Er war Autor histori- kritischen Kino der späten zwanziger und scher Bücher über frühen dreißiger Jahre. Churchill, Preußen Schon mehr als 100000 Leser hat das und über die deutsche Buch gefunden, dessen Typoskript lange Novemberrevolution Jahre in einem Stapel Durchschlagpapier in 1918. Haffners Berliner Wohnung vor sich hin Sein alles überra- staubte. Seit ein paar Wochen rangiert es gendes Thema blieb weit vorn in den Bestsellerlisten. freilich jene dunkle

A. OSBAHR / MELDEPRESS Ein anderes kleines Wunder: Trotz der Zeit, die ihn aus dem NPD-Demonstration in Berlin epochalen Erschütterungen, die Deutsch- Vaterland vertrieb. Die Erlösung im billigen Rausch land in den dreißiger Jahren aufwühlten, essayistische Diagnose bleibt der damals 32 Jahre junge Haffner in „Germany: Jekyll and Sohn eines preußischen Beamten, emi- seinem Text vergleichsweise gelassen – was Hyde“ machte ihn grierte als deutscher „Arier“ 1938 nach mit Gleichgültigkeit freilich gar nichts zu in der englischsprachi- Sebastian Haffner England, und doch ertappen sich viele Le- tun hat. Das Toben und Schreien der Mas- gen Öffentlichkeit be- „Geschichte ser seiner kurz darauf im Londoner Exil sen, der Dauerlärm der marschierenden rühmt, während unter eines Deutschen“ verfassten und erst jetzt aus dem Nachlass Kolonnen, die schrille hysterische Gewalt- deutschen Historikern Deutsche Verlags- veröffentlichten „Geschichte eines Deut- tätigkeit: All das beschreibt er wie durch ei- seine „Anmerkungen Anstalt, Stuttgart; schen“ dabei, ihn unwillkürlich für einen nen intellektuellen und literarischen Mi- zu Hitler“ als eine der 240 Seiten; Juden zu halten. krosensor, ohne sich doch als Individuum scharfsinnigsten Ana- 39,80 Mark Dies mag einen Grund haben: Seine von diesem allgemeinen Wahn wirklich lysen der Nazi-Herr- Prosa ist nicht nur stilistisch brillant, an- distanzieren zu können. schaft gelten. schaulich bis zur Poesie und so hellsichtig Fast riecht man die Luft im Berlin der Schon im August 1914, als die Mobil- wie klar – sie ist auch so empfindsam in ih- frühen dreißiger Jahre, und tatsächlich, in machung zum Ersten Weltkrieg den sechs- rer Wahrnehmung der schleichenden Ver- der Nase hatte Haffner schon früh die jährigen Knirps in der hinterpommerschen änderungen, als stamme sie von einem di- Empfindung für die unabsehbare Kata- Sommerfrische aufstörte, erlebte Haffner rekten Opfer des antisemitischen Terrors. strophe, die die Machtübernahme Hitlers die Übermacht der Weltgeschichte als exis- Gerade weil Haffner sich als „Privat- bedeuten würde. tenzielle Bedrohung des privaten Lebens. mann“ versteht, sieht er sich im „privaten Dabei hat Haffner, 1907 in Berlin gebo- Kurz vor der überstürzten Abreise der ge- Duell mit dem Dritten Reich“, im Kampf ren, nur jene Perspektive eingenommen, samten Familie konnte er sich noch ein- zwischen dem Prinzip Leben und dem die heute angesichts von neuem (freilich in mal unbemerkt in den Wald stehlen – „wo Prinzip Vernichtung. seinen Dimensionen unvergleichbarem) man mich gerade noch rechtzeitig vor der Abfahrt auffand, auf einem Baumstumpf Autor Haffner (1992): Stilistisch brillant und empfindsam in der Wahrnehmung sitzend, Kopf in den Händen, fassungslos heulend und ohne jedes Verständnis für den Zuspruch, dass nun Krieg sei und dass jeder Opfer bringen müsse“. Kurz darauf studiert auch er die offi- ziellen Heeresberichte wie Sportergebnis- se, voller Begeisterung für die Größe der Zeit und die Machtfülle des Kaisers. So stürzen Niederlage und November- revolution 1918/19 auch den damals Elf- jährigen in seelische Turbulenzen. Die Monarchie ist gefallen, das Volk fühlt sich verraten, das Bürgertum bedroht, und die blutig geborene Republik ist für viele kein rechter Ersatz für das Verlorene, schon gar

ACTION PRESS ACTION kein Versprechen auf eine bessere Zukunft: 307 Kultur

„Dieses Formlose mit dem heit etwas vom Leben ver- Verdacht der Sinnlosigkeit, steht“, hatte zwischen 1914 das geduckt Nüchterne, ein und 1924 eine „bedrohli- Geschlagensein ohne die che Zuspitzung“ erfahren. Chance zur Tat“ – so be- Doch der Beobachter schrieb Martin Meyer in nimmt sich selbst nicht aus. der „Neuen Zürcher Zei- Auch er erlag einem je- tung“ das Syndrom, unter ner zunächst harmlos er- dem die Weimarer Repu- scheinenden Vorboten des blik von Anfang an litt. kommenden Unheils, dem Im Jahre 1922, mit der Er- plötzlich grassierenden mordung Walther Rathe- „Sportfimmel“, der „Sport- naus, des deutsch-jüdischen krankheit als Massener- Patrioten, Weltbürgers und scheinung“. Erlösung im Außenministers, starb billigen Rausch. Hauptsa- schließlich, so Haffner, der che, die Affekte stimmen. frühe Antipode Adolf Hit- Rekordsucht als Ersatz- lers. Hunderttausende ka- handlung. men zu Rathenaus Bestat- Der angehende Assessor tung und zogen stundenlang war schnell geheilt und ver- durch die Straßen Berlins, liebte sich in Teddy, eine „in nicht endenden Zügen, blonde Österreicherin, die schweigend, grimmig for- umschwärmte „Göttin“ sei- dernd“. Beide, Rathenau nes akademischen Tennis- und Hitler, hätten die „Phan- clubs. Der Inbegriff seiner tasie der deutschen Masse Weltliebe, sein „Stück Glo- aufs äußerste gereizt“: Je- bus mitten in Berlin“, wo an

ner durch „seine unfassliche BILDERDIENST ULLSTEIN Sommerabenden Pingpong Kultur“, dieser durch „seine 6-Tage-Rennen im Berliner „Sportpalast“ (1932): Rekordsucht als Ersatz gespielt, geredet, getrunken unfassliche Gemeinheit“. und getanzt wurde. Ein paar Jahre später dann, nach dem Es gab jedes vernünftige Maß von Frei- 1930 ging die Göttin, vieles vorausah- Hyperinflationsjahr 1923 mit seinem „kar- heit, Ruhe, Ordnung, wohlwollendste nend, nach Paris. Brüning wurde Reichs- nevalistischen Totentanz“, dem „blutig- Liberalität weit und breit, gute Löhne, gu- kanzler in Deutschland, das Drama nahm grotesken Saturnalienfest“, milderte sich tes Essen und ein wenig öffentliche Lan- seinen Lauf. Am 14. September 1930 wuchs die Lage. Die Entwertung aller Werte war geweile. Jedermann war seinem Privatle- die NSDAP zur zweitstärksten Partei im gestoppt. Die Ära Stresemann begann. ben zurückgegeben und herzlichst einge- Reichstag – von 12 auf 107 Mandate. laden … auf seine Fasson selig zu werden. Sebastian Haffner wusste, dass seine Doch: „Man wollte gar nicht.“ So ent- kleine Idylle ungebundenen Lebens bald deckt Haffner „eins der fundamentalsten zu Ende sein würde. Die neue Signatur der politischen Ereignisse unserer Zeit“: Zeit entdeckte er im Anblick Hitlers: Es zeigte sich, dass eine ganze Generation Die Zuhälterfrisur; die Talmieleganz; der in Deutschland mit dem Geschenk eines Wiener Vorstadtdialekt; das viele und freien Privatlebens nichts anzufangen lange Reden überhaupt, das Epileptiker- wusste. Ungefähr zwanzig Jahrgänge jun- gehaben dazu, die wilde Gestikulation, ger und jüngster Deutscher waren daran der Geifer, der abwechselnd flackernde gewöhnt worden, ihren ganzen Lebensin- und stierende Blick … Kein Mensch hät- halt, allen Stoff für tiefere Emotionen, für te sich gewundert, wenn dieses Lebewe- Liebe und Hass, Jubel und Trauer, aber sen bei seiner ersten Rede von einem auch alle Sensationen und jeden Nerven- Schutzmann am Kragen genommen und kitzel sozusagen gratis aus der öffentli- irgendwo abgestellt worden wäre, wo chen Sphäre geliefert zu bekommen – sei man nie wieder etwas von ihm sah und es auch zugleich mit Armut, Hunger, Tod, wohin es ohne Zweifel gehörte. Wirrsal und Gefahr … So empfanden sie Doch niemand hat ihn am Kragen ge- das Aufhören der öffentlichen Spannung packt und irgendwo abgestellt. und die Wiederkehr der privaten Freiheit So bleiben Sebastian Haffner noch knapp

AKG nicht als Geschenk, sondern als Berau- 150 Seiten, um die ersten Monate unter bung … Und sie warte- dem Nazi-Regime zu beschreiben – seine ten schließlich geradezu Liebesaffäre mit einem jüdischen Mädchen gierig auf die erste Stö- namens Charlie, der von SS-Männern ge- rung … um die ganze spenstisch unterbrochene Faschingsball, die Friedenszeit zu liquidie- Verhaftung jüdischer Richter am Kammer- ren und neue kollektive gericht, antisemitische Töne im alten Freun- Abenteuer zu starten. deskreis, das plötzliche Verschwinden von Der „Grundtatbe- Bekannten, den Reichstagsbrand vom 27. stand“, dass in Deutsch- Februar, die erste große Boykottaktion ge- land „nur eine Minder- gen jüdische Geschäfte am 1. April 1933. Sein Vater, hochgestellter – und hoch- Antipoden Rathenau, Hitler* * Oben: Gemälde von Edvard gebildeter – treuer Diener des Staates, hat- „Unfassliche Gemeinheit“ Munch, 1907; unten: 1935. te längst resigniert:

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Ich sah meinen Vater damals mitunter me, machte sich überall breit – und führte lange an seinem Schreibtisch sitzen und, über Feigheit, Opportunismus und Panik ohne die Blätter, die vor ihm lagen, zu zu einem „millionenfachen Nervenzusam- berühren, starr in die Luft blicken. menbruch“, schließlich zu einem „zu allem Verzweifelt und gedemütigt erlag er ei- bereiten Volk, das heute den Alpdruck der nem Magenleiden. ganzen Welt bildet“. Bewegend, staunend und in atemrau- Im Frühherbst 1933 bricht das Buch, dem bender Präzision erzählt Haffner vom be- man noch viele Seiten gefesselt folgen wür- ginnenden Untergang Deutschlands, den de, unvermittelt ab. Teddy, die Göttin aus die Mehrheit bald als grandiosen Wieder- Paris, war ein letztes Mal zu Besuch ge- aufstieg bejubeln sollte. Und er erzählt vom kommen. Jeden Tag schien die Sonne, und Untergang Berlins, der kosmopolitischen wenn das Glück es wollte, gab es „nach- Weltstadt, dem glitzernd urba- nen Zentrum der „Goldenen zwanziger Jahre“, in die nun Angst und Schrecken, Rohheit und Dummheit einzogen. Stück für Stück wurden Vielfalt und Normalität des Alltagsle- bens zerstört – zu Gunsten ei- ner „alptraumhaften Umkeh- rung der normalen Begriffe: Räuber und Mörder als Polizei auftretend“. Wie rasch der Terror zu- schlug und wie viele Deutsche dabei halfen, erfuhr der Schrift- steller Manès Sperber, gerade zwei Jahre älter als Haffner, zur selben Zeit am eigenen Leib. In seiner Autobiografie „Die vergebliche Warnung“ beschrieb er seine Verhaftung vom 15. März 1933 am Rüdes- heimer Platz in Berlin und den Abtransport auf einem Last- wagen*: Man stieß mich hinauf … An

die 30 bis 40 Männer und BILDERDIENST ULLSTEIN Frauen umstanden den Wagen Silvesterfeier im „Adlon“ (1931): Fast riecht man die Luft in losen Gruppen … SA-Leu- te gingen von Gruppe zu Gruppe und mittags eine freie Stunde im Tiergarten. klärten sie darüber auf, dass wir da Vielleicht würden wir ein Boot nehmen“. oben bolschewistische Verbrecher, Brand- Vor Sebastian Haffners Erinnerungen an stifter, Verräter wären, eine schändli- eine längst vergangene und doch so ge- che Brut, eine Pestbeule am deutschen genwärtige Zeit verblassen, das drängt sich Volkskörper, die man endlich ausbren- beim Lesen immer wieder auf, all die legi- nen würde … Auch das wäre noch zu gut timatorischen Floskeln, Schlagworte und für solche Halunken, warf eine ältere rhetorischen Wahlkampf-Tütüs – deutsche Frau ein, die noch vom Laufen atemlos Leitkultur, Aufstand der Anständigen, war. Sie stieß einen der Gefangenen in die Wegschauen und Zivilcourage. Rippen, glitt dabei aus und schrie auf. Wenn jene, die heute ihren Patriotismus, Danach stürzten sich zwei andere auf ihren „Stolz, ein Deutscher zu sein“ (CDU- den Angegriffenen, schlugen ihm auf den Generalsekretär Laurenz Meyer), wie eine Rücken; ein Junge sprang auf und spuck- Monstranz vor sich her tragen, auch nur ei- te ihm ins Gesicht. Bald nahmen alle Um- nen Bruchteil der Haffnerschen Zivilität, stehenden an der Aktion teil, die die seiner empfindlichen Wahrnehmung und Nazi-Presse gewöhnlich mit dem gerech- politischen Hellsichtigkeit besäßen, dann ten Volkszorn erklärte … Wir fünf auf wäre niemand bange um die Republik. der hintersten Bank waren ihm völlig Dann bräuchte es keine halbstaatlichen De- ausgeliefert. monstrationen, keine schüttere Symbolik Es gibt, so sehr sich Haffner auch und keine Sonntagsreden – aber auch kei- bemüht, keinen Rückzug ins Private. Das ne billige Häme gegen diesen „Mummen- „Ekelhafte“, „Pfuhlhafte“ dieser „natio- schanz“. Dann gäbe es nur eine zivile nalen Revolution“ drang durch alle Rit- Gesellschaft, deren Bürger ganz selbstver- zen, besetzte private wie öffentliche Räu- ständlich ihr eigenes Leben und das aller ihrer Mitbürger gegen jeden Angriff vertei- * Manès Sperber. „Die vergebliche Warnung“. Fischer Ta- digen. Wer unbedingt will, könnte dies schenbuch Verlag, Frankfurt a. M.; 328 Seiten; 16,90 Mark. deutsche Leitkultur nennen. ™

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Werbeseite FOTOS: / ZEITENSPIEGEL BARTH T. West-Objekte* Körpereinsatz des Publikums

dusa. Denn ob Paradies- oder Un- tergangsstimmung, West legt sich un- gern auf kleinliche Interpretationen fest. Wenn doch, dann selten für län- West-Installation „Vorschein und Alltag“ (1999/2000): Wie Requisiten aus einem Fabelland gere Zeit. Der gewiefte Stratege wagt lieber stetig neue ironische Attacken, von denen niemand genau weiß, gegen AUSSTELLUNGEN wen sie sich eigentlich richten. Meistens aber darf das Publikum dabei mitspielen. So inszenierte West 1991 eine Im Land der Sitzwürste fröhliche Hommage an die „Fontäne“: das legendäre Urinal, das Marcel Duchamp Der Wiener Künstler Franz West gilt als gewiefter Showman 1917 mit einem Pseudonym signierte und bei einer Ausstellung einreichte. Der Öster- der Kunstszene. Nun widmet ein Karlsruher Museum reicher präsentierte über 70 Jahre später dem Exzentriker die erste große Werkschau in Deutschland. ebenfalls ein künstlerisch aufgemotztes Pis- soir: Das allerdings durfte benutzt werden. ern würde der Künstler Franz West wehrt Kurator Ralph Melcher ab, „nicht Slapstick oder Blasphemie? Duchamp für den kommenden Samstag „zwei wegen des Delikts der Kuppelei verklagt hatte sich getraut, einen ordinären Gegen- Gbis drei leicht bekleidete Prostitu- werden“. Aufmerksamkeit sei der Schau stand zur hohen Kunst zu ernennen. Damit ierte“ engagieren. Sie sollen, so stellt er es auch ohne Skandal-Event gewiss. West gel- wertete er die heilige Hochkultur ab und sich vor, anlässlich der Eröffnung seiner te, schwärmt Melcher, als einer der ein- schwang sich so, wenn auch mit Verzöge- Ausstellung unter den Gästen verlost wer- flussreichsten Bildhauer weltweit. rung, selbst zur unantastbaren Kunst-Ikone den. Die Gewinner dürfen sich mit den Aus deutscher Sicht zählt er aber zu den auf. Der Künstler aus Wien hat damit kein Damen auf einem Floß treiben lassen: auf Unbekannten unter den österreichischen Problem. Die Frage ist nur: Wollte er das Wunsch hinter geschlossenen Vorhängen. Künstlerstars. Zwar war er hier auf etlichen Kunstwerk wieder zum normalen Klo de- West, 53, ein begnadeter Exzentriker aus Veranstaltungen vertreten – gleich zweimal gradieren oder etwa das Urinieren selbst Wien, gibt zu, mit der Nackedei-Tombola auf der Documenta in Kassel. Karlsruhe zum künstlerischen Vorgang erklären? nur eines im Sinn zu haben. Er will für sein aber präsentiert in Deutschland mit über Wahrscheinlich beides. Er sei, sagt West, neues Werk werben, das aus einem Bassin, 60 Werkgruppen von den siebziger Jahren in den sechziger Jahren von den Wiener einer aus dem Wasser ragenden Skulptur bis heute erstmals einen wirklich umfas- Aktionisten beeinflusst worden. Von Künst- und zwei Flößen mit Baldachin-Himmel senden Überblick über seine Kunst. lern, die mit ihrem aggressiven Körperkult, besteht. Die Prostituier- Früh brach der Mann ihren genitalfixierten Happenings zu Meis- ten, sagt er, sollen veran- mit einem Naturgesetz tern der Tabuverletzung wurden. schaulichen, was man mit des Museumsbetriebs – West, Sohn eines Kohlenhändlers und dieser Schöpfung so an- wonach Kunstwerke nie einer Zahnärztin, geht es ebenfalls um den stellen kann. angegrapscht werden dür- Körper in der Kunst. Er ist so obsessiv wie Entstanden ist das fen. Auf Wests Liegewie- einst die Aktionisten, aber weniger verbis- Werk für seine Schau im sen voller bunter Diwane sen. Vor allem ließ er sich erst einmal Zeit, Museum für Neue Kunst und spaciger Kanapees reiste in der Flower-Power-Ära in den (MNK) in Karlsruhe**: können die Besucher da- Orient, nahm Drogen, wurde verhaftet. Sei- Eine noch junge Institu- gegen herumfläzen ne erste Galerieausstellung hatte er mit 23 tion, die vorwiegend Klas- In Karlsruhe sollen die Jahren, aber er war schon 30 Jahre alt, als siker der vergangenen 40 Museumsgäste jetzt sogar er an der Akademie der Bildenden Künste Jahre aus Privatkollektio- übers Wasser gleiten und in Wien ernsthaft zu studieren begann. nen zeigt. Nicht zu Un- sich fühlen, als wären sie Im Kunstbetrieb fiel er mit seinen „Pass- recht gilt das Sammler- in Arkadien gelandet. We- Stücken“ auf: den kleinen Plastiken aus museum als eher brav. niger romantischen Geis- Pappmaché und Polyester in abstrusen For-

Deshalb wird auch K. M. WESTERMANN tern ist es erlaubt, sich nichts aus dem schlüpfri- Künstler West vorzustellen, sie schipper- * „Sitzwuste“ in der Karlsruher Ausstellung. gen Gewinn. Er wolle, Wider den Schmäh von gestern ten auf dem Floß der Me- ** Vom 3. Dezember bis 25. Februar 2001.

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eine surreal zerflossene Sitz- teleien zeigt, hat er „Homepage“ genannt: reihe anmutet, war einst die Frischfleisch im Cyberspace. Waschmaschine seiner Mutter. Gerade sein Herumswitchen zwischen In Karlsruhe will er als krö- den Kunstgattungen, zwischen der kleinen nendes Pass-Stück sein Auto, Collage und der große Rauminszenierung, ein dunkelrotes Luxusgefährt, hat etliche jüngere Künstler beeinflusst. zwischen seinen „Sitzwus- Mit einem Stück aber lag West daneben. ten“ parken – bunte Sitz-Ob- Als Beitrag für die Expo in Hannover ent- jekte in der eindeutigen Form warf er eine Weltkugel, die er an eine Lei- von Würsten. ne legte. Ein allzu flacher Scherz. Manchmal darf man auch Das Karlsruher MNK feiert ihn trotz- bei West bloß hinschauen. dem zu Recht mit einer Quasi-Jubiläums- Zum Beispiel auf Skulpturen, schau – das früheste ausgestellte Pass-Stück die mit ihren rauen Oberflä- ist 25 Jahre alt. Dass West einmal motzte, chen wie verwitterte Requisi- Kunstwerke seien „nie länger als zwanzig

FRANZ WEST ARCHIV WEST FRANZ ten aus einem Fabelland aus- Jahre gut“, gehört zu den Widersprüchen, West-Collage „Homepage“: Fleisch fürs Internet sehen. Ein knubbeliges Pa- die Teil seiner künstlerischen Verwir- piermaché-Stück heißt „Pan rungstaktik sind. Ebenso stichelt er gegen men. Sie konnten wie ein Geweih aufge- Am Building“, ein anderes „Rotzglocke“. die Videokunst, die nur passives Beobach- setzt oder wie eine Weste angelegt werden; Und dann steckt in einem geheimnisvollen ten zulasse. Und zeigt selbst Videoprojek- meistens musste sich der Proband bis zur Schrank ein banaler Feuermelder: Wo je- tionen. Aber schließlich gibt es auch noch Lächerlichkeit Hals und Rücken verbiegen. mand geistreichen Tiefgang erwartet, wird viel Kunst zum Draufherumsitzen. Es sei Der Legende nach, an der West mitdichte- er auf grandiose Weise enttäuscht. Nur sei- denn, das Museum verbietet das Benutzen te und dazu gern Sigmund Freud zitierte, ne „Lemurenköpfe“ wirken tatsächlich to- seiner Objekte. Es könnte so kommen. sollten die Objekte Neurosen verbildlichen. temhaft. Wie man es von Lemuren, den West, der seine frühen Werke in den ers- Um nicht zum Woody Allen der Kunst- Geistern der Verstorbenen, eben erwartet. ten Jahren noch auf der Straße oder im szene abgestempelt zu werden, schimpft er Dann wieder persifliert der Künstler, ein Kaffeehaus verkaufen musste, ist heute gut heute auf diesen „Schmäh“. An den Pass- Freund philosophischer Traktate, den glo- im Geschäft. Die meisten Stücke, die in Stücken selbst hängt er immer noch. In den balen Hang zum vernetzten Zeitgeist. In ei- Karlsruhe zu sehen sind, gehören renom- späten Achtzigern kamen „als Mutationen“, nem in Karlsruhe eingerichteten Boudoir, mierten Kunstsammlern. Und seinen Leih- so West, seine Möbelobjekte hinzu. Auch sie eigentlich ein Ort intimer Zurückgezogen- gebern wolle er, sagt Kurator Mechler, kei- verlangen den Einsatz des Publikums: wie heit, dürfen die Besucher im Internet sur- ne zertrampelten Objekte zurückschicken die Skulptur „Eo ipso“ von 1987. Was wie fen. Eine Collage, auf denen er deftige Tur- müssen. Ulrike Knöfel Werbeseite

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etwa des „Tagesspiegel“ meldeten sogleich: Statt vom Mammon werde dieses Reich THEATER vom „Eros des Sammelns“ regiert. Gut möglich, dass auch Tom Waits Wil- sons Gastfreundschaft in Watermill genoss, Liebesmord auf Coney Island als er mit Wilson über das Kopenhagener „Woyzeck“-Projekt sinnierte. Und sehr Tom Waits und Robert Wilson haben in Kopenhagen Büchners wahrscheinlich (denkt man sich jedenfalls als „Woyzeck“-Zuschauer), dass es Waits Woyzeck zum Musical-Helden abgerichtet – und präsentieren ein irgendwann fade wurde unter all den noblen grandioses Spektakel aus dem Geist der Jahrmarktsgaukelei. Denkern, Malern und Dichtern, weshalb er

it diesem Woyzeck ist nicht gut Erbsen essen. Nichts ist’s auch mit Mdem An-die-Wand-Pissen (wie es so unvornehm bei Büchner heißt). Und schon gar nichts mit der Bibel, in die die Sünderin Marie Reuetränen tropfen lässt. Hier, in der Kopenhagener Version von Georg Büchners Dramenfragment aus dem Winter des Jahres 1836/37, knabbert der trostlos verbitterte Woyzeck als ganz in Weiß gekleideter Jammergesell mit aufge- pludertem Hinterteil nicht an Hülsenfrüch- ten, sondern bloß an der elenden Schmach des Gehörnten. Hier treffen rote, blaue, grüne Lichtstrahlen auf blanke Kulissen- wände, aber keinesfalls ein Urinstrahl. Und hier ist die betrügerische Marie kein zagendes Mädchen, das sich aus schierer Natur (und unbezähmbarem Trieb) einem anderen in die Arme warf, sondern ein rot- befracktes Dominaluder ohne Gewissen und Bibel, aber von scharfem Verstand: „I always play Russian Roulette in my head“, singt sie, und davon, dass sie sich im Bett jede Nacht mit einem anderen kugle.

Was hat das alles mit dem Original- FANTITSCH O. FOTOS: „Woyzeck“ zu tun? Erst 1913 wurde das „Woyzeck“-Musical-Show in Kopenhagen*: Wärmekur für Wilsons kaltes Bildertheater Fragment in München uraufgeführt, als die wilden Wort- und Bildermaler des Expres- Heiliger der Popmusik, der mit seiner Whis- Wilson mitnahm zu einem Ausflug auf den sionismus Büchner als Urahn entdeckten. keyschluckerstimme noch das kälteste Herz legendären Ganzjahres-Rummelplatz von Bob Wilson doziert mit vornehmer Miene: erwärmt und sich waghalsiges Gerede über Coney Island vor den Toren New Yorks. Büchners Text sei „moderner als fast alle so Europas Kulturgut locker leisten kann. So wäre zu erklären, dass Franz Woy- genannten modernen Stücke“. Tom Waits Wilson aber, der aus Texas stammende zeck, der deutsche Soldat und Aushilfs- Regie-Eierkopf, 59, wurde in den Siebzi- barbier, von seiner Marie nun ein grusel- gern und Achtzigern von den Europäern schönes Liebeslied singt, in dem er be- für seine Bühnen-Bilderschieberei vergöt- hauptet: „She’s my Coney Island Baby“. tert – und in den Neunzigern als lahmer, Es wäre also ein Leichtes, den „Woyzeck“ geldgieriger Raum-Möblierer verhöhnt. von Waits und Wilson abzutun als Orgie Was erst große Magie sein sollte, galt bald amerikanischen Leichtsinns, eine Ver- nur noch als plumpes Designer-Talmi, der schandlung von Büchners poetischem Mann selbst steht mittlerweile im Ruf eines Nachtmahr, in dem der Mond „wie ein blu- David Copperfield des Welttheaters: viel tig Eisen“ über der Szene hängt und der glitzernde Trickserei, und dahinter nur ein Held seufzt: „Ich glaub, wenn wir in Himmel raffzahniger Geist, der heute in Zürich sei- kämen, so müssten wir donnern helfen.“ ne Zauberbox (und die Hand) aufhält, mor- Das Schöne, Überraschende, Grandiose gen in Hamburg und übermorgen in Paris. am Kopenhagener „Woyzeck“ ist aber, dass Theatermacher Wilson, Waits So mies ist Wilsons Leumund mittler- er von all dieser Poesie auch erzählt: Der Büchners Drama beim Gemüt genommen weile, dass er europäische Journalisten die- Kältetechniker Wilson hat sich Bilder aus- sen Sommer in die Zentrale seines Impe- gedacht, die mitunter hitzig und wild aber zappelt auf dem Stuhl, klammert sich riums einlud, in die Bastel- und Denkfabrik sind wie keine der Wilson-Serienscharlata- an seine Kaffeetasse und entwaffnet mit ei- Watermill am Strand von Long Island. Dort nerien zuvor. Gleich zu Beginn sieht man nem hingegrummelten Satz alle philologi- bewirtet der Meister prominente Artisten eine nett expressionistische Farbenschlacht schen Erbsenzähler: „Es geht um Irrsinn, aus bildender Kunst, Showgeschäft und und einen kafkaesken Affengnom, der mit Kinder, Besessenheit und Mord – also um all Theater – und die beeindruckten Reporter Tom Waits’ Stimme vom „Misery River“ die Dinge, die uns heute interessieren.“ singt, dem Jammerfluss ohne Wiederkehr. Waits, 50, hat wenig zu verlieren: Der * Mit Jens Joern Spottag als Woyzeck, Kaya Bruel als Ma- Tatsächlich spielen ja auch Büchners Sänger ist längst ein komischer, trauriger rie und Asgar Taarnberg als deren Sohn Christian. Fragmentschnipsel in einer Jahrmarktssze-

316 der spiegel 48/2000 nerie, zwischen Buden und brüllenden Schaustellern. Waits hat (mit Ehefrau Kath- leen Brennan) Lieder geschrieben, die Büchners Texte nicht nur beim Wort neh- men, sondern auch beim Gemüt. Im über- lieferten „Woyzeck“ etwa ächzt Marie auf dem Lager des flotten Tambourmajors auf dessen Frage „Sieht dir der Teufel aus den Augen?“ ihre Kapitulation heraus: „Meinet- wegen. Es ist alles eins.“ Bei Waits wird dar- aus ein zart hingehauchter Song mit dem prägnanten Titel: „Everything Goes to Hell“. Kurioserweise gewinnen die sonst oft wie scheintoten Wilson- Geschöpfe im Kirmestrubel end- lich mal Witz und Lebenskraft. Eine schön groteske Geister- bahnbesatzung ist da an der Rampe versammelt: Der Doktor etwa ist ein Doppelwesen aus zwei Rabenmenschen, die man in denselben Anzug gestopft hat; der Hauptmann ein fettklößiger Buddha mit Hitlerbärtchen; die Großmutter eine böse, zähne- fletschende Monster-Megäre. Der ganze Theaterabend hat den Schwung eines gut geölten Karussells – und unterscheidet sich darin von den eher schep- pernden Arbeiten, die Wilson und Waits in den neunziger Jah- ren im Hamburger Thalia Thea- ter ablieferten. Gut, Waits’ und Wilsons „The Black Rider“ von 1990, eine Mu- sical-Version von Carl Maria von Webers „Freischütz“, war ein Riesenerfolg, der auf anderen Bühnen gern nachgespielt wurde. „Alice“, eine schludri- ge Adaption von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, blieb dagegen eine öde Mär- chenstunde zu bonbonbuntem Klamauk. „Woyzeck“ aber hat nun tatsächlich das Zeug zu einer modernen „Dreigroschen- oper“ – schon die Musik erinnert, wie Mi- chael Skasa in der „Süddeutschen Zeitung“ notierte, nicht selten an Kurt Weill. Die Songs und das ganze Mörderspiel sind un- verschämt nah am Kitsch und dabei wun- derbar beherzt, der alte Stoff ist ohne Zau- dern umgebogen auf den Entertainment- schmelz der Gegenwart; schließlich hatte auch Brecht ja nur raffiniert die „Beggar’s Opera“ des John Gay von 1728 geplündert. Ganz sicher wird der Kopenhage- ner „Woyzeck“ also erfolgreich durch Eu- ropa touren – ein Hamburger Gastspiel, logisch im Thalia Theater, ist schon so gut wie abgemacht. Das einzige Vermark- tungshindernis könnte sich zumindest in Deutschland als Vorzug erweisen: Wenn sie nicht englisch singen, sprechen die Schau- spieler des Kopenhagener Betty Nansen Theaters dänisch – da dürfte sich kaum ein Deutschlehrer über die angebliche Ver- hunzung von Georg Büchners Originaltext beschweren. Wolfgang Höbel der spiegel 48/2000 317 Kultur

KULTURPOLITIK „Ein ,Mozart-Pfennig‘ für die Kunst“ Der bisherige Münchner Kulturreferent Julian Nida-Rümelin, 46, über sein neues Amt als Staatsminister für Kultur, den Streit zwischen Bund und Ländern um kulturelle Verantwortung und den Nutzen der Philosophie für das politische Tagesgeschäft

SPIEGEL: Herr Nida-Rümelin, seit wann mir immerhin ein „Kleiner Traktat wissen Sie, dass Sie den Staatsminister über praktische Vernunft“ heraus. Michael Naumann in Berlin beerben? SPIEGEL: Werden Sie die anwenden Nida-Rümelin: Der Kanzler hat vor an- können? derthalb Wochen erst mich und dann Nida-Rümelin: Ich hoffe, ja. Es klingt meinen Chef, Münchens Oberbürger- vielleicht altmodisch und seltsam, weil meister Christian Ude, angerufen mit sich die Philosophie heute großen- der Ankündigung: Es kann sein, dass teils hinter die akademischen Mauern Naumann geht. In diesem Fall halte er zurückgezogen hat, zumindest in mich für den am besten Geeigneten. Deutschland und Mitteleuropa. In den Ich habe mit Ude gesprochen – romanischen Ländern oder in Süd- schließlich bin ich erst seit zweiein- amerika dagegen spielt sie durchaus halb Jahren hier als Kulturreferent eine Rolle für die Politik – und man tätig –, aber gleich gesagt, dass ich das sollte ja wirklich nicht ganz vergessen, für ein faszinierendes Amt halte. dass die demokratische Ordnung, SPIEGEL: Stimmen die Gerüchte aus der in der wir heute leben, zum großen Hauptstadt, wonach Sie gar nicht Teil auf philosophischen Grundideen Schröders erste Wahl waren? beruht. Nida-Rümelin: Da müssen Sie Schröder SPIEGEL: In Ihren bisherigen Büchern fragen; ich glaube, dass sie nicht stim- nähren Sie eher die Skepsis, ob die men. Demokratie philosophisch durch- SPIEGEL: Wie lange kennen Sie den schaubar und harmonisch werden Kanzler schon? kann. Fiel Ihnen der Seitenwechsel zur Nida-Rümelin: Zuerst begegnet sind wir Praxis wirklich so leicht? uns vor ein paar Jahren beim Bundes- Nida-Rümelin: Ich habe mich als Philo- kulturforum, als Schröder gerade Vor- soph tatsächlich intensiv mit der Fra- sitzender war und ich Vorstandsmit- ge befasst: Wie kommt es zu kollekti- glied. Im Mai 1998 habe ich dann in- ven Entscheidungen? Wo sind da Irra- nerhalb meiner Veranstaltungsreihe tionalitäten eingebaut? Es sind schon

„Philosophy Meets Politics“ das Ge- SEEGER-PRESS ziemlich komplizierte Modelle. spräch zwischen Schröder und Jürgen Künftiger Kulturstaatsminister Nida-Rümelin, Freundin* SPIEGEL: Lassen sie sich auf Konkretes, Habermas organisiert, und wir haben „Kleiner Traktat über praktische Vernunft“ etwa auf den Beschluss für das Berliner intensiver miteinander geredet. Holocaust-Mahnmal, übertragen? SPIEGEL: Bevor Sie in München als Referent Nida-Rümelin: Bislang komme ich noch je- Nida-Rümelin: Du lieber Himmel. Aber neh- anfingen, waren Sie Philosophieprofessor des Wochenende für etwa vier Stunden men wir ruhig dieses Stichwort: Vieles aus in Göttingen. Haben Sie sich in der Politik zum Schreiben. Hoffentlich kann ich das der Entscheidungstheorie ist schon prak- etwas von Ihrem Gelehrtenehrgeiz bewahrt? weiter durchhalten. Demnächst kommt von tisch nutzbar. Zum Beispiel haben die Wis- senschaftler beobachtet, dass sehr häufig die Reihenfolge der Abstimmungen das Kultur-Streitfälle Endergebnis mitbestimmt. Diesen Ablauf Die wichtigsten Projekte kann man als Politiker steuern, zum Bei- von Michael Naumann: spiel über vorentscheidende Gremien oder Holocaust-Mahnmal auch die Richtlinienkompetenz, die ich zu Nach langem Zwist wur- den „Mini-Diktaturen“ zähle. de der Bau durchgesetzt. SPIEGEL: Das Wort wird Ihnen bald wohl nicht mehr ganz so leicht von den Lippen Buchpreisbindung kommen. Noch gibt es sie – auch Nida-Rümelin: Mag sein. Aber was die ei- Nida-Rümelin will für sie gentliche Frage nach der Wirkungsmög- kämpfen. lichkeit betrifft: Ich glaube schon, dass eine demokratische Ordnung ein ethisches Fun- Berliner „Leuchttürme“ dament braucht. Ohne gewisse gemeinsa- Der Bund will nur Prestige- me Vorstellungen über Menschenwürde, einrichtungen fördern.

DPA * Nathalie Weidenfeld, bei einer Musical-Premiere in Modell des Holocaust-Mahnmals: „Ziemlich kompliziert“ München.

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Rücksichtnahme, Loyalität zu Institutio- und Bürgerschaft als auch innerhalb der nen und dergleichen kann eine Demokra- staatlichen Ordnung. tie nicht funktionieren. SPIEGEL: Welche Aufgaben sind für Sie am SPIEGEL: Ist es Aufgabe des Kulturstaats- wichtigsten? ministers, für solche Grundwerte einzu- Nida-Rümelin: Das Amt ist noch jung und treten? fragil. In der kurzen verbleibenden Zeit Nida-Rümelin: Es gibt schon eine Verbin- bis zum Ende der Legislaturperiode im dung, denn dies sind ja auch kulturelle Fra- gen. In der Debatte, die gerade in Richtung einer deutschen „Leitkultur“ entgleist ist, Bestseller geht es genau darum: Wir müssen in Deutschland aufpassen, dass sich nicht Teil- Belletristik gesellschaften bilden – „communities“ 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter würden die Amerikaner sagen –, die sich voneinander abgrenzen und nur daraus und der Feuerkelch Carlsen; 44 Mark ihre Identität ableiten. Solche Gruppen se- hen sich wechselseitig nicht mehr als Indi- 2 (3) Joanne K. Rowling Harry Potter viduen. und die Kammer des Schreckens SPIEGEL: Wen meinen Sie? Den Streit zwi- Carlsen; 28 Mark schen Anhängern politischer Lager oder den zwischen Ausländern und Fremden- 3 (2) Joanne K. Rowling Harry Potter hassern? und der Gefangene von Askaban Nida-Rümelin: Das geht Hand in Hand. Carlsen; 30 Mark Man kann das in den USA sehen, wo die Entwicklung oft schon gefährlich weit 4 (4) Joanne K. Rowling Harry Potter vorangekommen ist. Dort muss die Poli- und der Stein der Weisen Carlsen; 28 Mark tik Repräsentanten der Hispanics oder Afroamerikaner als Ansprechpartner bie- 5 (5) Rosamunde Pilcher Wintersonne ten, weil sonst das System nicht mehr funktioniert. So etwas halte ich für sehr Wunderlich; 49,80 Mark bedenklich – und erst recht den Gedan- 6 (6) Charlotte Link Die Rosenzüchterin ken einer „Leitkultur“ als ethnisches Projekt der Deutschen. Es war schließlich Blanvalet; 48 Mark mühsam genug, nach der NS-Zeit in Deutschland demokratische Werte wie 7 (7) Henning Mankell Mittsommermord Respekt und Rechtsstaatlichkeit einzu- Zsolnay; 45 Mark führen. SPIEGEL: Ein derart moralisches Sendungs- 8 (8) Donna Leon In Sachen bewusstsein hat Ihr Vorgänger nicht an den Signora Brunetti Diogenes; 39,90 Mark Tag gelegt. Werden Sie das Amt anders führen als Michael Naumann? 9 (12) Nicholas Sparks Nida-Rümelin: Sicher – schon deshalb, Das Schweigen weil wir vom Naturell her unterschiedlich des Glücks sind. Naumann hat in zwei Jahren die Kultur zu einem bundesweit beachteten Heyne; 36 Mark Thema gemacht, das ist eine unglaubliche Allein erziehende Mutter mit sprachbehindertem Leistung. Er hat das auch erreicht durch Sohn findet Zuspitzung und Provokation. Ich versuche Feuerwehrmann eher, so weit es geht, mit Argumenten fürs Leben zu überzeugen und die übliche Aufteilung in politische Lager möglichst hinauszu- 10 (9) John Grisham Das Testament zögern. SPIEGEL: Naumann hat noch kurz vor sei- Heyne; 46 Mark nem Abgang die Kulturhoheit der Länder 11 (11) Bernhard Schlink Liebesfluchten als „Verfassungsfolklore“ bezeichnet und damit viel Unmut ausgelöst. Diogenes; 39,90 Mark Nida-Rümelin: Der Begriff war nicht glück- lich, zugegeben, auch wenn Naumann 12 (10) Sándor Márai Das Vermächtnis dann erklärt hat, was er meinte. Ich finde, der Eszter Piper; 32 Mark Bundeskulturpolitik steht nicht im Wider- spruch zur föderalen Verteilung der Kom- 13 (15) Zeruya Shalev Liebesleben petenzen. Umgekehrt: Es darf nicht sein, Berlin; 39,80 Mark dass hohe Beträge in Hinterzimmern von Ministerien verteilt werden; es muss dafür 14 (13) Marianne Fredriksson Inge und jemand politisch geradestehen. Außerdem Mira W. Krüger; 39,80 Mark glaube ich, dass in den nächsten Jahren ohnehin die Verantwortlichkeiten für kul- 15 (14) Sándor Márai Die Glut turelle Belange neu austariert werden müs- Piper; 36 Mark sen – sowohl zwischen Staat, Wirtschaft

320 der spiegel 48/2000 Herbst 2002 will ich den Akzent auf seiner Gesetzeskompetenz auch aus- die ordnungspolitische Seite legen, die schöpfen. Die Künstlersozialkasse zum Bei- bislang nicht genug beachtet wurde. Das spiel ist durch Bundesgesetz eingeführt Stiftungsrecht war ein wichtiger erster worden. Auch beim Urheberrecht ist eini- Schritt. Aber wenn wir Ernst machen ges zu tun, denke ich: Bildende Künstler wollen mit der Zivilgesellschaft, dann soll- sind benachteiligt gegenüber anderen Spar- te der Bund den vorhandenen Rahmen ten, weil sie oft an ihrem Erfolg nichts mehr verdienen. Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich SPIEGEL: Eine Gesetzesänderung in diesem ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Randbereich ist mühsam und undankbar. Sie würde wohl kaum als Kulturtat gefeiert. Sachbücher Nida-Rümelin: Wieso denn? Nehmen Sie an, es gelänge, mit dem wirtschaftlichen Er- 1 (1) Dietrich Schwanitz Bildung folg nicht mehr lebender Künstler die heu- Eichborn; 49,80 Mark te lebenden zu fördern, dann wäre schon viel erreicht. Einen „Gauguin-Pfennig“ 2 (3) Sebastian Haffner Geschichte oder „Mozart-Pfennig“ einzuführen, das eines Deutschen DVA; 39,80 Mark fände ich als politische Aufgabe faszinie- rend. 3 (4) Florian Illies SPIEGEL: Wollen Sie mehr Moralhüter sein Generation Golf oder doch eher Gesetzgebungspionier? Argon; 34 Mark Und kommt nicht bei beidem das Engage- ment für außergewöhnliche Kunstwerke Yuppietum, Phil Collins zu kurz, das selten mit demokratischen und Tastentelefone: Gleichheitsregeln zu vereinbaren ist? Liebeserklärung an die Nida-Rümelin: Die drei Modelle schließen Segnungen der achtziger Jahre sich nicht aus – das habe ich in den letzten Jahren in München ausprobieren können, zum Beispiel gab es hier eine ganz neue 4 (6) The Beatles The Beatles Anthology Zusammenarbeit von Privaten mit der Bür- gerschaft. Da hat mein Werben für künst- Ullstein; 128 Mark lerische Freiheit einigen Erfolg gehabt, so 5 (2) Lance Armstrong Tour des Lebens unbescheiden das jetzt klingen mag. Für anderes wird man mühsam Mehrheiten su- Lübbe; 36 Mark chen müssen. SPIEGEL: Welchen Rückhalt haben Sie dafür 6 (5) Wolfgang Schäuble Mitten im in Ihrer Partei? Leben C. Bertelsmann; 42 Mark Nida-Rümelin: Gewiss, ich bin ein Seiten- einsteiger mit allen Risiken und Neben- 7 (8) Bodo Schäfer Der Weg zur wirkungen. Zum Beispiel habe ich kein finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark Mandat als Abgeordneter und möchte auch keines haben. Trotzdem kann ich mit der 8 (7) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben SPD-Fraktion wohl ganz gut auskommen; DVA; 49,80 Mark immerhin bin ich schon eine ganze Weile in der Partei als Bürger aktiv. 9 (9) Hans J. Massaquoi SPIEGEL: Werden Sie nach Berlin ziehen? Neger, Neger, Schornsteinfeger! Nida-Rümelin: Ich will dort eine Bleibe ha- Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark ben, wie früher bei meinen Professuren in Tübingen und Göttingen. Aber den Wohn- 10 (10) Dale Carnegie Sorge dich sitz in München gebe ich nicht auf, genau wie Schröder in Hannover. nicht, lebe! Scherz; 46 Mark SPIEGEL: Werden Sie demnächst ein paar 11 (11) Ian Kershaw Hitler 1936 – 1945 Redenschreiber mehr beschäftigen? Nida-Rümelin: Hoffentlich überhaupt nicht; DVA; 88 Mark mit vorgefertigten Texten tue ich mich 12 (12) André Kostolany schwer, und bisher war so etwas unnötig. SPIEGEL: Haben Sie eine Erfolgsvision? Die Kunst über Geld nachzudenken Nida-Rümelin: Nennen wir es lieber vor- Econ; 39,90 Mark sichtiger: Ziele. Am wichtigsten wäre mir, dass die Aktivitäten des Bundes in der Kul- 13 (14) Guido Knopp Holokaust tur nicht als zentralistische Bedrohung ver- C. Bertelsmann; 49,90 Mark standen werden, sondern als Bereicherung, als selbstverständlicher Anteil am gemein- 14 (13) Pascale Noa Bercovitch samen Interesse. Vielleicht wird dann dar- Das Lächeln des Delphins Ullstein; 36 Mark über auch nicht mehr so furchtbar aufge- regt debattiert, sondern mit Gelassenheit 15 (15) Rüdiger Safranski Nietzsche und Urteilskraft. Das wäre schön. Interview: Joachim Kronsbein, Hanser; 49,80 Mark Johannes Saltzwedel

der spiegel 48/2000 321 Kultur

jetzt dürfen es auch Frauen. Und natürlich gibt es ein paar Hobbysoziologen, die des- halb jetzt hysterisch „Post- feminismus!“ jubeln. Man sollte nicht ungerecht sein und behaupten, dass es offensichtlich gar kein Dreh- buch gab. Insgesamt sind nicht weniger als 17 Autoren zu „Charlie’s Angels“ so wit- zige Dinge eingefallen, wie eines der Powergirls in sei- ner Freizeit Blaubeer-Muffins backen zu lassen, die stets hart wie Steine werden und nur als Wurfgeschosse zu verwenden sind. Ha. Oder die bildschöne Cameron Diaz ein Mauerblümchen spielen zu lassen, das keinen Boyfriend findet. Haha. Oder die sagenhafte Eingebung, dass seit Littleton und ande-

CINETEXT ren Highschool-Schießereien „Drei Engel für Charlie“-Kinofilm-Heldinnen Liu, Diaz, Barrymore: Blaubeer-Muffins als Wurfgeschosse Waffen politisch unkorrekt sind, weshalb die Mädchen sich hartnäckig halten, dann interessiert die Schurken mit Kung-Fu und Granat- KINO sich eines Tages Hollywood dafür. werfern fertig machen. Hahaha. All dies Manchmal lohnt sich das, manchmal ist so witzig, dass man vor Ödnis in den Barbies nicht. Im Fall der Fernsehserie „Mission Popcornbecher beißen möchte. Impossible“ spielten die zwei Leinwand- Verantwortlich für diesen Geniestreich Versionen 800 Millionen Dollar ein, im Fall ist ein Regisseur, der sich hinter dem Fast- auf Videosalat von „The Mod Squad“ kamen nicht einmal Food-Kürzel McG versteckt und der auch die Produktionskosten wieder herein. All sonst eher ein feiger und kleiner Charak- Hollywood hat aus der Siebziger- diesen Unternehmen droht jetzt die Kino- ter zu sein scheint. In völliger Ermangelung eigener Regieeinfälle zitiert er wie ein auf- Jahre-Fernsehserie „Drei Engel für merksamer, unscheinbarer Branchenstre- Charlie“ einen Film gemacht, der ber die Actionfilme, die in letzter Zeit er- nun in Deutschland anläuft: schöne folgreich waren: „Matrix“ und „Mission Frauen im Action-Desaster. Impossible“. Es hilft in diesem Videosalat wenig, dass er glaubt, sich retten zu kön- s gibt Leute, für die ist der Fernseher nen, indem er aufs Tempo drückt. Das das, was für unsere Großeltern der Ganze wirkt, als habe sich ein Irrer der EKrieg war – die große, einschnei- Schneller-Vorlauf-Taste bemächtigt. dende Erfahrung, von der sie ihr Leben Ist das so schlimm? Natürlich nicht. Die lang nicht loskommen, eine Erinnerung, fußkranken Kohorten der Popkultur kön-

mit der sie andere nerven wie eine Schall- KINOARCHIV nen sich in diesem Winter eindecken mit platte, die einen Sprung hat. TV-Serie „Drei Engel für Charlie“ (1976)* dem, was der Merchandising-Katalog der Da gibt es die, die dasitzen und mit glän- Schwärmerei für dicke Haarmähnen Angels für sie vorgesehen hat. Angels- zenden Augen davon erzählen, wie sich Jeans, Angels-Sonnenbrillen, Angels-Bar- der Kommandeur des Raumschiffs „Enter- version von „Charlie’s Angels“ davonzu- bies und natürlich den Angels-Soundtrack. prise“, Captain Kirk, in eine Frau verwan- eilen: Der Film hat 92 Millionen Dollar ge- Nervig wird die ganze Angelegenheit delte; es gibt andere, die bis heute darüber kostet und schon nach zwei Wochen im nur, wenn wieder ein paar Trash-Philoso- rätseln, wer in den achtziger Jahren auf US-Kino 100 Millionen eingespielt. phen dieses dürftige Vergnügen namens J. R. Ewing schoss; und dann gibt es noch So altmodische Dinge wie Charaktere „Charlie’s Angels“ rechtfertigen mit der welche, die von drei Mädchen mit dicken würden da bloß für schlechte Laune sor- Erklärung, der Film habe ihnen „Spaß“ Haarmähnen schwärmen, welche Ende der gen, und so ist es kein Wunder, dass sich die und „gute Laune“ bereitet, und ihren siebziger Jahre ein paar Fernsehstaffeln drei Darstellerinnen Alex (Lucy Liu), Dylan Wühltischgeschmack verteidigen mit dem lang versuchen durften, auf den Straßen (Drew Barrymore) und Natalie (Cameron Trostlos-Argument: „Das Ganze ist so von Los Angeles für Ordnung zu sorgen Diaz) auf das beschränken, was früher schlecht, dass es schon wieder gut ist.“ und sich „Charlie’s Angels“ nannten. „Good Clean American Fun“ hieß: Autos Es sind dieselben Leute, die auch in ein Solche Typen sind schuld daran, dass zu Schrott fahren, Leute verprügeln, in sexy paar Jahren, nachdem die achte Fortsetzung aus einer grausam billig gemachten Fern- Klamotten rumrennen und Explosionen mit der „Angels“ im Kino angelaufen ist, in gro- sehserie am Ende etwas wurde, wofür Mar- einem rußgeschwärzten Gesicht überleben. ßen Jubel ausbrechen werden, weil sie im In- ketingexperten das Wort „Kult“ verwen- All das war einmal vor allem Comic- ternet gelesen haben, dass es endlich in An- den. Meist beginnen Kulte ganz harmlos. Enten, Schweinen und Jungs vorbehalten, griff genommen wird: das letzte große Pop- Als „Charlie’s Angels“-Partys oder mit projekt der Backstreet-Boys-Generation. „Charlie’s Angels“-T-Shirts – und wenn sie * Mit Farrah Fawcett-Majors, Kate Jackson, Jaclyn Smith. „Baywatch“ – der Film. Thomas Hüetlin

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Werbeseite CINETEXT „In the Mood for Love“-Stars Cheung und Leung: „Kennen Sie Ihre Frau eigentlich richtig?“

man vermuten darf, aus Schanghai. Es ist REGISSEURE allerdings nie davon die Rede und scheint weiter auch nicht von Belang zu sein, doch ihre geringe Habe und das Fehlen ver- Einsame Menschen wandtschaftlicher Kontakte scheint ihnen die Melancholie des Entwurzelten, Unbe- Wong Kar-wai, der unberechenbare Exzentriker des hausten zu geben, des Lebens in einem im- mer währenden Provisorium oder, um das Hongkong-Kinos, überrascht mit dem große Wort nicht zu scheuen: die Aura der zärtlichen Melodram„In the Mood for Love“. Von Urs Jenny Einsamkeit. Wong Kar-wai ist als Fünfjähriger im in Mann und eine Frau, das ist die Korridor ein. So einfach macht sich das Jahr 1963 aus Schanghai nach Hongkong erste und einfachste Geschichte der Schicksal gelegentlich sein Geschäft. gekommen, in die „Community“, und es EWelt. Wenn man nur wüsste. Wenn Es ist das Jahr 1962, der Ort ist Hong- ist ihm, so sagt er, erst in der Arbeit an sei- man nur wüsste, wann und warum genau kong, und der Stadtteil ist als „Shanghai nem Film „In the Mood for Love“, der in der Funke überspringt. Was die Flammen Community“ bekannt: Dort wohnen die der Geschichte von Frau Chan und Herrn nährt, die dann hochzüngeln. Und warum Flüchtlinge oder Vertriebenen aus dem Chow mit sehnsüchtiger Sensibilität den irgendwann alles Asche ist. Umkreis von Schanghai, die seit 1950 zu Farben, dem Licht, den Düften dieser ver- Beim ersten Mal, als die beiden einander Tausenden nach Hongkong gekommen lorenen Zeit nachspürt, bewusst geworden, begegnen, die das Schicksal mit seinem sind, und hängen in eng gedrängter Nach- wie ganz dieser Stadtteil vom Fortschritt Sinn fürs Melodramatische füreinander be- barschaft noch der Sprache und dem Le- der letzten Jahrzehnte vertilgt worden ist: stimmt zu haben scheint, schieben sie sich bensstil der Heimat nach. Auch Frau Chan Von der „Shanghai Community“ ist so we- Rücken an Rücken in einem schmalen und Herr Chow stammen ursprünglich, wie nig geblieben, dass Wong die Straßensze- Mietshaus-Korridor aneinander nen seines Films in der Chinatown von vorbei, ohne sich wahrzuneh- Bangkok drehen musste. men: Frau Chan und Herr Chow, Der Filmemacher Die Wege von Frau Chan und Herrn beide fremd, beide auf der Suche Wong Kar-wai Chow kreuzen sich naturgemäß fast Abend nach einem Quartier, das sie gilt seit seinem Erstling für Abend – in dem schmalen Korridor vor dann – nichts ahnend – neben- „As Tears go by“ (1988) den Wohnungstüren, im schmuddeligen einander an diesem Korridor fin- als brillanter, aber auch Treppenhaus oder auf der engen Gasse den, als Untermieter in zwei be- schwieriger Außenseiter draußen –, und die beiden gehen, ver- nachbarten Wohnungen. Und so im Hongkong-Kino. Mit schlossen und auf ihre Verschlossenheit ziehen Frau Chan, Sekretärin in „Chungking Express“ bedacht, mit einem freundlichen Nicken einem Reisebüro (wo sie sich CORBIS SYGMA (1994) und „Fallen An- aneinander vorbei: Jeder für sich ist mit ei- Fräulein Su nennen lässt), und gels“ (1995) wurde er nem Thermostopf zur nächsten Garküche Herr Chow, Nachrichtenredakteur bei ei- auch in Europa eine Kultfigur. Vor zwei Mo- unterwegs, um sich eine Portion Reis oder ner Lokalzeitung, beide wohl Anfang 30, naten wurde Wong mit dem Douglas-Sirk- Nudeln zu holen, die dann jeder allein in beide verheiratet, aber kinderlos, mit ihren Preis der Stadt Hamburg ausgezeichnet. seinem Zimmer verzehrt. Sie scheinen im- Partnern am selben Tag auf dem selben mer allein zu sein, und so wird es un-

324 der spiegel 48/2000 glaublicherweise immer bleiben: Den ganzen Film lang tritt weder Frau Chow noch Herr Chan je ins Licht der Kamera; mehr als der Umriss einer Schulter oder ei- nes Hinterkopfs ist nie von ihnen zu sehen, denn oft verharrt die Kamera in einem ty- pischen Blick zwischen Tür und Angel, weil die Räume zu eng für sie sind, um sich auch noch hineinzuquetschen. „In the Mood for Love“ ist keine minimalistische Filmerzählung, doch eine von ganz eigener, unüblicher Intimität, und das gibt ihr den Sog, den verführerischen Zauber. Dabei ist ihr Schauplatz, alles in allem, eine bescheidene, glanzlose, klaustropho- bische Welt, in der die ganze erste Film- stunde lang nie heller Sonnenschein oder ein Stück Himmel ins Bild kommt. Dass dieser Ort sich dennoch geradezu prun- kend in farbiger Sattheit und Detailfülle darbietet: Darin vor allem zeigt sich die delirierende Schönheit, die visuelle Magie, die das Geheimnis von Wong Kar-wai und seinen beiden unentbehrlichen Mitarbei- tern ist, dem Ausstatter William Chang und dem Kameramann Christopher Doyle. Herr Chow (Tony Leung) trägt Anzug, Schlips und weißes Hemd mit der Diskre- tion, die für einen asiatischen Büromen- schen jener Epoche unabdingbar gewesen sein mag, Frau Chan jedoch (Maggie Cheung) in ihren schmalen, seidenschim- mernd geblümten chinesischen Etuiklei- dern, oft ärmellos, doch stets mit ge- schlossenem Stehkragen, bewegt sich auch durch ihren Büro-Alltag mit lilienhafter Eleganz. Die Person selbst scheint ganz aufzugehen in ihrer Erscheinung. Frau Chan ist es gewohnt, im Büro im Auftrag des Chefs auch kleine private Ge- schenke zu besorgen, für dessen Ehefrau wie für dessen Geliebte, und sie unter- scheidet da mit einem feinen Blick für Nu- ancen. Kann es sein, dass Frau Chow so leichtsinnig ist, dass sie ihrem Liebhaber und ihrem Ehemann die gleichen Krawatten schenkt? Ist es möglich, dass Herr Chan so unvorsichtig ist, von einer seiner Geschäfts- reisen nach Japan (wo auch Frau Chow manchmal beruflich zu tun hat) für seine Geliebte wie für seine Frau die gleichen Handtaschen mitzubringen? Und ist das, wenn es so ist, nicht ein Komödienmotiv? „Kennen Sie Ihre Frau eigentlich rich- tig?“, fragt Frau Chan Herrn Chow, als die beiden – geleitet von einem Empfinden, das der Kriminalist einen „Anfangsver- dacht“ nennen würde – in einen zögernden ersten Dialog über Handtaschen und Kra- watten gekommen sind, und in dieser Fra- ge schwingt Missbilligung mit. Irgendwann ist es nicht mehr möglich, sich blind zu stellen. Als Sitzengelassene, als Betroge- ne, als in ihrem Selbstgefühl tief Verletzte kommen die beiden einander näher, blei- ben jedoch auf der Hut, ja sogar innerlich auf der Flucht voreinander. „Warum haben Sie mich im Büro ange- rufen?“, fragt sie ihn eines Abends mit lei- der spiegel 48/2000 325 Kultur sem Vorwurf, da es dazu keinen Grund Mood for Love“ in Angriff. Die Drehar- einem Hünen, auch an Empfindsamkeit gab, und am nächsten Abend fragt sie beiten sollen sich über 15 oder gar 17 Mo- und Diskretion. Es bleibe, so sagt er, am ebenso vorwurfsvoll: „Warum haben Sie nate hingezogen haben, was man in der Schneidetisch nur übrig, was wegzulassen mich heute nicht angerufen?“ Haben die westlichen Welt bei einer Zwei-Personen- er nicht übers Herz bringe. So ist „In the beiden „anderen“ – diese in ihrer Abwe- Geschichte (falls der Regisseur nicht Stan- Mood for Love“, was die Liebe zwischen senheit stets Gegenwärtigen, diese Treulo- ley Kubrick heißt) für ganz unglaublich Frau Chan und Herrn Chow angeht, so ver- sen – nicht kurzerhand an sich gerissen, halten möchte. Das ist es in Hongkong schwiegen wie die europäischen Eheroma- was das Schicksal eigentlich ihnen zuge- nicht, weil dort kleine wie große Stars ge- ne (also Ehebruchsromane) des 19. Jahr- dacht hatte? Macht diese falsche Liebe wohnt sind, in mehreren Filmen gleichzei- hunderts, und am unergründlichsten in den nicht die richtige unmöglich? tig beschäftigt zu sein. Momenten, wo die Liebenden, aufeinander „Wir sind nicht wie sie“, versichern die Doch der Exzentriker Wong (der seine zu stürzend, sich schon wieder voneinan- beiden Verratenen einander, als sie zum Projekte auch selbst produziert) ist wohl der abwenden. Ihre Geschichte besteht dar- ersten Mal (statt stets mit ihren Eintöpfen der Einzige, der die Unterbrechungen der aus, wie sie sich gegen sie wehren. allein in ihren Zimmern zu sitzen) zusam- Dreharbeit braucht und mit aller Risikolust Es gibt keinen Sprung über den Schat- men in ein Restaurant gehen. Bei ihrem nutzt, um Pläne umzuwerfen und sich neue ten. Einmal stellen die beiden, die ihre Be- zweiten Treffen (in einem neumodischen Handlungswege auszudenken, weil er ei- ziehung niemals als eine Affäre wie die „Diner“, wo man mit Messer und Gabel gentlich überhaupt nur ungern irgendwann von Frau Chow und Herrn Chan sehen isst) bestellt jeder für den anderen, was der zu einem Ende kommt. Ob der Film „In wollen, sich spielerisch vor, wie es wäre, FOTOS: KINOARCHIV FOTOS: Wong-Filme „Chungking Express“ und „Fallen Angels“: „Es geht um Zeit und Raum und Identität und Einsamkeit“ eigene Partner sich an dessen Platz bestellt the Mood for Love“, wie er nun in unsere wenn sie ihre Partner zur Rede stellten. hätte, und Herr Chow sinnt noch immer Kinos kommt, ein Drittel oder nur ein „Sag mir, hast du eine Geliebte?“, fragt der Frage nach: „Wie mag es angefangen Viertel der gedrehten Szenen enthält, be- Frau Chan flehend, und Herr Chow sagt: haben?“ hauptet Wong selbst im Rückblick nicht „Ja.“ Da bricht Frau Chan in Tränen aus. Wie mag es angefangen haben? Die Ent- mehr abschätzen zu können (Kamera- Einmal probieren sie auch, tränen- stehungsgeschichte von Wong Kar-wais Fil- mann Doyle würde wohl behaupten: Nur schwer, wie es wäre, wenn sie sich für im- men bleibt trotz vieler bizarrer Anekdoten, ein Fünftel). mer trennen müssten, und Herr Chow er- die darüber im Umlauf sind, mysteriös, da Die Zahl „2046“, die von der Kamera kennt geschmerzt: „Jetzt weiß ich, wie es er selbst, wenn er beginnt, eher zu träumen einmal auf einer Zimmertür gestreift wird, angefangen hat.“ Da naht, wie in jedem als zu wissen scheint, wohin die Reise ge- kann man als eine Art Gruß von Wong an solchen Roman, was die Maschinisten des hen soll. „Ich frage schon gar nicht mehr sich selbst lesen. „2046“ ist der Arbeitstitel Schicksals die Sollbruchstelle nennen: Herr nach einem Drehbuch“, sagt sein getreuer eines neuen Films, den er schon in den Pau- Chow ordert im Reisebüro bei Frau Chan Kameramann Christopher Doyle, „ich neh- sen des letzten zu drehen begonnen hat – ein Ticket nach Singapur, wo er ein neues me einfach an, dass es irgendwie um Zeit er soll, als Gegendroge zu der Nostalgie Leben beginnen will. Was wäre, wenn er und Raum und Identität und Einsamkeit dieses letzten, in der Zukunft spielen, zur zwei Tickets bestellte? Würde sie alles hin- gehen wird.“ Obwohl also kaum voraus- Zeit der 50-Jahr-Feier der Übernahme ter sich lassen und mit ihm gehen? Wenn zusehen ist, was Wong als Nächstes an- Hongkongs durch die Republik China. man nur wüsste. An den Orten, an denen packt (sicher scheint nur, dass er sich nicht Dafür aber, dass man ihm für sein Pe- sie einander immer begegnet waren, ver- wiederholt), ist – nach der scharfen, king-Projekt dort vor zwei Jahren keine fehlen sie einander nun jedes Mal ganz neonkühlen Rasanz der Nachtschwärmer- Dreherlaubnis gab, hat Wong nun eine knapp; zuletzt, Jahre später, sogar in dem Balladen „Chungking Express“ und „Fal- außerordentliche Art von Satisfaktion er- Mietshaus-Korridor, wo alles begann. len Angels“ – die sanfte, souveräne Ele- halten: „In the Mood for Love“ wurde für Der Melomane Wong lässt sich auch ganz des Melodrams „In the Mood for jenes Kontingent von 20 „ausländischen“ durch diesen Film von Musik sehr ver- Love“ eine Überraschung. Filmen (sonst größtenteils Hollywood-Pro- schiedener Art tragen, die er wiederholt Seine Stars Maggie Cheung und Tony duktionen) ausgewählt, die von der Repu- und variiert. Einem klagenden Cellomotiv Leung hatte Wong für ein Projekt mit dem blik China alljährlich offiziell und gegen folgt ein japanischer Walzer, Fragmente al- Titel „Beijing Summer“ engagiert, für das echte Devisen importiert werden – das be- ter chinesischer Opern begegnen latein- ihm dann jedoch die Behörden in Peking schert Maggie Cheung und Tony Leung amerikanischen Schnulzen, die Nat King keine Drehgenehmigung geben wollten, eine Premierengala in Peking. Cole mit Seidensamtstimme hinschmach- insbesondere nicht für den Platz des Wong Kar-wai, 42, ein breitschultriger tet. „Quizas, quizas, quizas“ heißt sein letz- Himmlischen Friedens. Ersatzweise also Mensch, der die meisten seiner Landsleu- ter Refrain, der den Schmerz nie enden nahm Wong mit seinem Star-Paar „In the te um einen Kopf überragt, hat etwas von lässt: Wer weiß, wer weiß, wer weiß. ™

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Werbeseite Kultur

Doch Billy tut sich unendlich schwer mit Hilfe auf seinem steinigen Weg in den FILM dem Sandsack und den uralten Boxhand- Ballettsaal. Er schleicht sich heimlich zum schuhen vom Großvater. Er tänzelt im Training, muss die Ballettschuhe unter der Von der Zeche Ring, will sich nicht schlagen, er will sich Matratze verstecken. Im Bad dreht der nur bewegen. Doch es naht – wenn auch Knabe seine Pirouetten nach Vorgaben aus auf Umwegen – die Erlösung. einem geklauten Lehrbuch. Das Glas mit auf die Bühne Denn durch puren Zufall muss sich eines dem Gebiss seiner Oma dient ihm als Tages die Ballettklasse von Mrs. Wilkinson Buchstütze. In seinem Debütfilm „Billy Elliot“ (Julie Walters) den Trainingsraum mit den Aber alle Vertuschungsversuche nützen Boxern teilen. Und Billy entwickelt plötz- nichts: Die anrüchige Neigung kommt her- erzählt der Brite Stephen lich eine rührende, zarte Liebe zu Pliés, aus und Billy schwer in die Bredouille. Der Daldry von einem Arbeiterjungen, Port de bras und anderen französischspra- Showdown mit dem Herrn Papa lässt sich der Balletttänzer werden will: chigen Schikanen, die in den Ballettsälen nicht mehr aufhalten. So sitzt Billy mit ein herrliches Stück Gefühlskino. der klassischen Welt zum schweißtreiben- peinverzerrtem Gesicht am Küchentisch den Alltagsprogramm gehören. und muss erklären, dass er erstens zwar as Leben dreht manchmal die selt- Und so steht er auf einmal mit seiner tanzen wolle, aber zweitens auf keinen Fall samsten Pirouetten: Es wirbelt zu- blauen Turnhose und den Boxstiefeln zwi- schwul sei. Dsammen, was scheinbar nicht zu- schen kichernden kleinen Mädchen, die in Bis zum glücklichen Ende ist es noch sammengehört, und am Ende gibt es sogar ihren duftigen Tutus von der strengen, Ket- ein weiter Weg. Mrs. Wilkinson trainiert so etwas wie höhere Gerechtigkeit – te rauchenden Mrs. Wilkinson an der Stan- den Jungen in Privatstunden und glaubt, manchmal. ge gedrillt werden. ihn sogar in der renommierten Royal Ballet School unterbringen zu können. Derweil geht der Streik in die entscheidende Phase. Mag- gie Thatcher will die Kum- pels ausbluten, das Geld wird knapp. Und Streikbrecher wer- den von ihren Kollegen gna- denlos verfolgt. Und da geschieht das Un- mögliche. Der halsstarrige Va- ter lässt sich von Billy vortan- zen und erlebt sein drama- tisches Damaskus. Um dem Sohn die Bühnenkarriere nun doch zu ermöglichen, will er, der eingeschworene Arbeiter- Aktivist, sogar wieder in die Kohlemine einfahren. Er ver- setzt den Schmuck seiner Frau und geht bei seinen Kum- pels betteln, damit Billy das Fahrgeld fürs Vortanzen in der Hauptstadt zusammenbe- kommt. Vater und Sohn fahren nach

CINETEXT London, Billy tanzt in der Schu- Bell (M.) in „Billy Elliot“: Strahlender Held des Kinowinters le vor – und der Rest, so macht der Film glauben, ist heute, Billy wächst in der Tristesse des engli- Regisseur Stephen Daldry, 40, erzählt in nach 25 Jahren, ein glanzvolles Stück briti- schen Nordens auf, da, wo in der Küche die seinem bewundernswert sicheren Debüt- scher Ballettgeschichte. Hemden über dem Herd trocknen, das Klo film „Billy Elliot – I Will Dance“ mit ver- „Billy Elliot – I Will Dance“ hat beste auf dem Hof stinkt, die Männer noch ech- haltener Sympathie für seine Figuren noch Chancen auf einen europäischen Filmpreis. te Kerle sein wollen und ein anständiges einmal die fast schon zum Klischee des bri- Bei einer Privatvorführung im Weißen Vorurteil noch etwas gilt. tischen Gegenwartskinos gewordene Ge- Haus hat sich sogar US-Präsident Bill Clin- Im nordenglischen Kohlerevier streiken schichte vom Einzelgänger, der sich gegen ton für das Werk begeistert – und mit die- 1984 die Bergarbeiter. Die britische Pre- eine bornierte, verbohrte Umwelt durch- sem Urteil tatsächlich einmal Geschmack mierministerin Maggie Thatcher will ihnen, setzen muss. bewiesen. den „Feinden im eigenen Haus“, das Ge- Trittfest zwischen Komödie und Dra- Dabei hätte aus dieser Einer-will-nach- nick brechen. Es tobt ein erbitterter Ar- ma balancierend, gelingt es dem Regis- oben-Story ein vorweihnachtliches Rühr- beitskampf. Doch Billy Elliot (Jamie Bell) seur, die Geschichte einer Selbstfin- stück werden können, voller Tränen, hat andere Sorgen. Seine Mutter ist gestor- dung als detailgenaue Milieustudie auf- Schmalz und Kitsch. Doch der phänome- ben, die Oma ist verwirrt und irrt in Nacht- zuziehen. Mit kunstvoller Beiläufigkeit nale Hauptdarsteller Jamie Bell und Re- hemd und Wollmütze durch den Vorgar- macht er Billy zum authentischen, trau- gisseur Daldry schaffen es in diesem klei- ten, er muss sich ein Zimmer mit Bruder rig-strahlenden Kinder-Helden des Kino- nen, spröden Meisterwerk, große Gefühle Tony (Jamie Draven) teilen, und der stren- winters. ohne jede triefende Sentimentalität auszu- ge Vater (Gary Lewis) will auch noch, dass Der Junge, man ahnt es, hat in seinem spielen. Weshalb auf gut Französisch gilt: er, wie alle richtigen Jungs, Boxen trainiert. Vater und in seinem Bruder keine wahre Chapeau (claque)! Joachim kronsbein

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Werbeseite Kultur

genheit als Präsent willkom- KÜNSTLER men. Wann und warum das Goldige Lise Verhältnis schließlich ende- te, wird nicht eindeutig klar. An seinem letzten Wohnort Verließ Tony Kirchhoff, die nach dem Urteil ihrer Toch- Wiesbaden galt der Expressionist ter „nur das lachende Le- Jawlensky als „Schwerenöter“. ben liebte“, den – selber Ein kurioses Souvenir-Buch nimmt verheirateten – Künstler, als die Spur seiner Liebschaften auf. ihn 1929 eine mit Schmer- zen und Lähmungen fort- s war „ein großer Erfolg“, der Alexej schreitende Arthritis befiel? von Jawlensky 1921 ausgerechnet Oder hatte er schon vorher Enach Wiesbaden lockte: Bei seiner allmählich das Interesse an Ausstellung in der Kurstadt zwischen ihr verloren, weil ihm die Rhein und Taunus wurden nicht weniger Frau begegnet war, die laut als 20 Bilder verkauft. Auch traf der Maler Buch-Titel die „Abendson- dort, so seine spätere Erinnerung, lauter ne“ seines Lebens werden „sehr nette Menschen“. Kurz entschlossen sollte? zog er um. Lisa Kümmel (1897 bis Weite Wege lagen hinter ihm. Jawlensky 1944) hat Jawlenskys Bil- (1864 bis 1941) hatte seine russische Heimat derbestände geordnet, nach 1896 hinter sich gelassen, um sich in Mün- Diktat seine Lebenserinne- chen fortzubilden. Der expressionistischen rungen aufgezeichnet und Moderne des „Blauen Reiters“ war er mit den zunehmend Hilflosen seinen glühend farbigen Landschaften und aufopfernd gepflegt. In der Porträts eng verbunden. Aber der Ausbruch kunsthistorischen Literatur

des Ersten Weltkriegs machte ihn zum BONN 2000 VG BILD-KUNST, aber fristet sie nur ein feindlichen Ausländer und zwang ihn zur Kümmel-Porträt von Jawlensky (1930): Treffen beim Ball Schattendasein. Nun ge- Emigration in die Schweiz. Mit endlosen winnt sie beträchtlich an „Variationen“ seines Fenster-Ausblicks am bringt sie an die Öffentlichkeit. Häufi- Profil – besonders dank ihrem erstmals Genfer See stieß er zur Abstraktion vor. ger freilich schöpft ihre Künstler-Heimat- passagenweise zitierten Tagebuch. Die In Wiesbaden ließ sich Jawlensky 1921 kunde aus Familienchroniken und ande- rotlockige Malerin und Kunsthandwerke- für den Rest seines Lebens nieder, doch ren persönlichen Erinnerungen. Ein kapi- rin, von Freunden „Kümmeline“ genannt, die erhoffte sorgenfreie Existenz blieb ihm taler Manuskriptfund stammt von einer war ihm 1927 als Dekorateurin eines Wies- versagt – und das nicht nur der schwieri- Tochter der Eheleute Kirchhoff – jenes Paa- badener Maskenballs vorgestellt worden. gen Zeiten wegen. Einem regelmäßigen res, mit dem der Künstler so zwiespältig Bald erkannte er in ihr einen „goldigen Bilder-Absatz stand vielmehr auch ein an- befreundet war. Menschen“. derer Erfolg des leidenschaftlichen Künst- Avantgarde-Sammler Heinrich Kirch- Sie ihrerseits „gab sich selbst vollkom- lers im Weg: der in der Wiesbadener Da- hoff, ist da festgehalten, habe außer den men auf“ (so ein Zeitzeuge) und ver- menwelt. Nachdem Jawlensky just die Ehe- Werken Jawlenskys besonders dessen zichtete sogar auf eigenen künstlerischen frau des reichsten und sensibelsten Samm- „kluges Kunstverständnis“ im Gespräch Ehrgeiz. Als geistige Partnerin war sie Jaw- lers am Ort erobert hatte, schwand dem geschätzt. Seine deutlich jüngere Frau Tony lenskys schlichter Frau Helene weit über- bei aller Freundschaft denn doch die Lust, indes war nach dem Urteil ihrer Tochter ein legen. Die nannte seine späten Abstrak- den Nebenbuhler weiter mit seinem Geld bildhübsches, aber verwöhntes und ober- tionen „Papas dumme Kreuzchen“ und zu füttern. flächliches Geschöpf. belegte ihn selber laut Lisa Kümmels Ta- Die Lage war unübersichtlich: „Drei Den leicht entflammbaren Maler hielt gebuch mit den „unmöglichsten Namen“. Frauen“ um Jawlensky sowie „unzählige das nicht von einem bald „stadtbekann- Der Maler hatte die fast zwei Jahrzehn- Flirts“ bilanziert – für die ten“ Verhältnis mit der te jüngere Russin 1922 in Wiesbaden ge- späten zwanziger Jahre – Bürgersgattin ab. Die war heiratet, als beider Sohn schon 20 war, jetzt das kuriose Büchlein bezaubert, wenn er sie in und ihr stets reichlich Grund zur Eifersucht einer Wiesbadener Ex- seinem „sehr charmanten gegeben. Lehrerin, das teils auf- Deutsch“ als „schönste Bis zu welchem Grade das auch für die schlussreiche, teils nur Frau von Erde und von Liaison mit seiner „Abendsonne“ zutraf, amüsante Erinnerungen Mond“ anhimmelte. Wohl bleibt offen. Immerhin muss die Vertrau- an den „Schwerenöter“ oder übel musste er die lichkeit weit gegangen sein. Ein Wiesba- Jawlensky zusammen- beiden beschenken, statt dener Kümmel-Neffe berichtet von Jaw- trägt – wenn auch nicht ihnen seine Bilder zu ver- lensky-Blättern aus dem Erbe der Tante, gerade wissenschaftlich kaufen. die er nach dem Krieg als wertlos ver- aufbereitet*. Wie peinlich oben- brennen musste, aber auch von Bildern, So hat die Autorin die drein, dass die Geliebte die sein Vater unter die Leute gebracht Bilderliste für die Wiesba- moderne Kunst missach- habe – nicht ohne allzu prägnante Wid- dener Jawlensky-Ausstel- tete und auf „realistischer mungen auf der Rückseite mit braunem lung 1921 entdeckt und Malweise“ bestand. Aber Tischlerleim zu überstreichen. auch ein zum Selbstpor- Beschriftungen wie „Ich küsse deinen * Helga Lukowsky: „Jawlenskys trät des rundschädeligen Arsch, rote Lise“ seien ihm denn doch als Abendsonne“. Ulrike Helmer Ver- lag, Königstein (Taunus); 178 Sei- Kümmel, Jawlensky (um 1936) Jawlensky umgeschnitzter Verkaufshindernis erschienen. ten; 38 Mark. Aufopfernde Abendsonne Sektkorken war bei Gele- Jürgen Hohmeyer

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Man muss alles kaltblütig prüfen“ Der Zürcher Intendant Alexander Pereira über sein Reformkonzept für Berlins Opernhäuser: mehr Aufführungen, mehr Sponsoren, aber keine höheren Subventionen

30 bis 40 Prozent Abon- nenten besucht werden. Kein Mensch kann mir weismachen, dass dieses Rezept in Berlin nicht klappen soll. SPIEGEL: Im Opern-Berlin ist vieles anders. Da müs- sen angeblich ja auch die Eintrittspreise niedrig ge- halten werden. Pereira: Auch so ein rühr- seliger Schwindel. Ber- lin lebt immer noch in der Uraltvorstellung einer geteilten Stadt, in die der Bund Riesensummen pumpen muss, damit sich die Bewohner bei wohl- feiler Oper amüsieren können und nur ja keinen Mauer-Kollaps kriegen. Man muss jetzt alles, auch die Eintrittspreise, kalt- blütig überprüfen. Zu-

L. ZANETTI / LOOKAT nächst muss man Firmen, Zürcher Intendant Pereira: „Ich bin ein Zufallsprodukt“ die für ihre Geschäfts- Alexander Pereira, freunde blockweise Kar- SPIEGEL: Herr Pereira, Sie sind einer der zu legen. Schwieriger 53, Intendant des Opern- ten kaufen, höhere Preise weisen Intendanten, die den Berliner wird es bei der Deutschen hauses Zürich, erarbeitet abverlangen, weil die das Opernkarren aus dem Dreck ziehen wol- Oper. mit Kollegen aus diversen Opernhaus als Marketing- len. Ist das bei dem Schlamassel noch SPIEGEL: Wo, konkret, deutschsprachigen Opern- stätte benutzen, und dafür möglich? hapert es denn auf Ber- häusern ein Konzept zur wird es vom Staat nun Pereira: Natürlich. Dafür muss man nicht lins Repräsentationsbüh- Rettung der drei Berli- wirklich nicht subventio- weise, sondern nur ein Stück Opernprag- ne Unter den Linden? ner Musiktheater. Das Gre- niert. Dann müssen sich matiker sein und etwas von seinem Hand- Pereira: Erstens: Das Haus mium, das sich am Wo- die Berliner daran gewöh- werk verstehen. muss wieder viel mehr chenende erstmals in Klau- nen – ob ihnen das passt SPIEGEL: Und das ist etwas, woran es dem spielen. Es ist nach seiner sur traf, will die mit derzeit oder nicht –, dass sie die Berliner Kultursenator Christoph Stölzl Tradition ein Repertoire- 237 Millionen Mark subven- Möglichkeit eines Opern- mit seinem chaotischen Reformkonzept und Ensembletheater, das tionierten Singstätten vor besuchs und die Wahl mangelt? an die 250 Abende im Jahr den Fusionsplänen des Ber- zwischen drei verschiede- Pereira: Diese Gaben muss ein Kultursena- geben müsste, hat sich liner Kultursenators Chris- nen Häusern in Zukunft tor ja nicht automatisch haben. Aber Stölzl aber ohne Zwang in eine toph Stölzl bewahren. mehr kosten wird, als ih- hätte sich, bevor er ans Dichten ging, mit Art Stagione-Theater ver- nen heute lieb ist. Die Al- ein paar Intendanten kurzschließen und wandelt, das immer nur ternative zu größeren Op- beraten können; stattdessen hat er unver- ein paar Werke und die en bloque darbie- fern wäre doch nur Kahlschlag, Auszeh- bindliche Telefongespräche geführt und mit tet und dazwischen den Laden dichtmacht. rung, Provinz. nebulösen Plänen und Posten herumhan- Mehr Vorstellungen kosten zwar zunächst SPIEGEL: Sie wollen also die Kosten Ihrer tiert. Das muss ich ihm vorwerfen. mehr Geld, aber in einem richtig geführten Reform vor allem der Kundschaft auf- SPIEGEL: Sie haben mittlerweile die Bilan- Betrieb bringen sie unterm Strich höhere bürden? zen und Wirtschaftspläne der drei maro- Einnahmen. Zürich hat an 270 Abenden im Pereira: Nein, den Löwenanteil zur Gesun- den Opernhäuser durchforstet. Wissen Sie Jahr auf, und die Leute kommen. dung der finanziellen Lage müssen selbst- schon, wo die Wurzeln aller Übel liegen? SPIEGEL: War es richtig, dass die Staatsoper verständlich die Häuser tragen. Pereira: Es ist relativ einfach, die Finger ihr Abonnementsystem abgeschafft hat? SPIEGEL: Sie meinen, die Subventionen auf die Wunden der Deutschen Staatsoper Pereira: Nein, grundfalsch. Die Abonnen- müssen nicht erhöht werden? ten sind für jedes Haus eine wichtige und Pereira: Dreimal nein! Nach der bewährten Das Gespräch führte Redakteur Klaus Umbach. sichere Stütze. Jede Aufführung sollte von Faustregel unserer Branche, dass die Sub-

332 der spiegel 48/2000 ventionen die so genannten Personalfix- kosten – also Werkstätten, Verwaltung, Chor, Orchester – abdecken müssen, reicht der staatliche Zuschuss. Es bleibt sogar noch Subventionsgeld übrig, um den abendlichen Spielbetrieb zu unterstützen – eine Konzession an die schwierige Ein- trittspreissituation in Berlin, die dennoch verbessert werden muss. Dazu müssen künftig mehr Sponsorengelder, Werbeein- nahmen und Medienerlöse kommen. SPIEGEL: Wie viel Inkasso erwarten Sie von mehr Vorstellungen zu höheren Preisen? Pereira: Das lässt sich im Moment für Ber- lin noch nicht exakt beziffern. Ich jeden- falls bin jetzt neun Jahre Intendant in Zürich und habe meine Kartenerlöse von 13 Millionen auf 33 Millionen Franken pro Jahr gesteigert. SPIEGEL: Sehen Sie auch anderswo noch ungenutzte Einnahmequellen? Pereira: Sowohl die Staatsoper als auch die Deutsche Oper könnten beispielsweise durch Steigerung ihrer Werbemaßnah- men erheblich mehr Geld ranschaffen. Jedes Opernhaus produziert Magazine, Programmhefte, Plakate, und die Werbe- branche ist relativ großzügig; da brauchen Sie nur einen tüchtigen Akquisiteur, und die Sache läuft. SPIEGEL: Wie gut läuft sie dann? Pereira: Die Berliner Staatsoper verbucht im Jahr 170000 Mark Werbeeinnahmen, die Deutsche Oper nur 120 000. Zürich da- gegen nimmt über 1,8 Millionen Mark ein, also wenigstens das Zehnfache. SPIEGEL: Zürich ist reich, Berlin ein Sozial- fall. Pereira: Das wird immer behauptet und bleibt gleichwohl falsch. Sicher sind die so- zialen Strukturen der beiden Städte unter- schiedlich. Aber wir hier in Zürich wer- den von der öffentlichen Hand auch nicht auf Rosen gebettet. In Zeiten, da die staat- lichen Träger in Deutschland und – ich be- tone – auch in der Schweiz sparen, müssen die für einen erstklassigen Betrieb erfor- derlichen Geldmittel schlicht und einfach in der Wirtschaft lockergemacht werden. SPIEGEL: In Berlin halten sich die Sponso- ren aber sehr bedeckt, Banken und Kon- zerne zaudern und knausern. Pereira: Ja, ja, ja, diese Leier kenne ich zur Genüge. Aber wenn ich in der Schweiz in einem Jahr 12 Millionen Mark Sponsoren- gelder auftreibe, dann verwette ich nicht nur meinen Kopf, sondern auch noch ein paar andere Körperteile, dass ich in Berlin bei gleichem Engagement wenigstens 5 oder 6 Millionen Mark zusammenbringen würde. SPIEGEL: Haben die Herrn Intendanten in Berlin diese Möglichkeit bislang verpennt, war die Bettelei gar unter ihrer Würde? Pereira: Das wäre eine ungerechte Formu- lierung. Ich würde sagen, die Sache ist nicht profihaft betrieben worden. Zu ei- nem hochrangigen Banker oder Konzern- chef muss sich der Intendant schon per- sönlich begeben, da kann er keinen Mann der spiegel 48/2000 333 Kultur aus der dritten Garnitur zu einer opulent subven- hinschicken. Wenn ich tionierten, nationalen Re- meinen Spielplan aufge- präsentationsbühne – ei- stellt und dessen Kosten gentlich undenkbar? errechnet habe, hänge ich Pereira: In Berlin stehen mir einen Bauchladen um, mit der Staatsoper und ziehe durch die Stadt und der Deutschen Oper 2 von über Land und suche in etwa 15 weltweit aner- der Wirtschaft Partner, die kannten Spitzenhäusern. bereit sind, bestimmte Jedes kann unter dem künstlerische Projekte richtigen Management für mitzutragen und mitzufi- sich allein erstklassig sein nanzieren. Die Hälfte mei- mit dem Geld, das es heu- ner Arbeitszeit geht für te von der öffentlichen solche Bittgänge drauf. Hand erhält – vorausge- SPIEGEL: Und diese Art setzt, der Senat zahlt die Kollekte lässt sich, glau- tariflichen Erhöhungen, ben Sie, auch in Berlin die er den Angestellten praktizieren? der Müllabfuhr zukom-

Pereira: Ganz sicher, und BILDERDIENST ULLSTEIN men lässt, auch den in der Stölzl, der das bezweifelt, „Rheingold“ in der Deutschen Staatsoper: „Rührseliger Schwindel“ Oper Tätigen. Fusionen irrt gewaltig. Sehen Sie, von zwei oder drei ange- kaum wird ernsthaft über die Berliner Si- Pereira: Sicher nicht. Aber er würde die schlagenen Häusern ergeben keine Top- tuation diskutiert, tut sich was. Schon hat Erfahrung erleben, abgelehnt zu werden, Bühne. Im Gegenteil, nur Konkurrenz der Unternehmer Peter Dussmann der womit viele Menschen große Probleme ha- belebt Geschäft, Kunst und Publikum. Staatsoper dreimal eine Million Mark in ben, und er würde gezwungen sein, inten- SPIEGEL: Setzen Sie bei Ihrer Gesundheits- Aussicht gestellt, und als ich jüngst mit Joe siv über Vertrieb und Marketing nachzu- reform für die Berliner Opernszene auf Ackermann, dem künftigen Vorstandsvor- denken. Schaden könnte das nicht. eine künftige Weltmetropole? sitzenden der Deutschen Bank, über das SPIEGEL: Als unbestritten erfolgreicher Zür- Pereira: Das muss man. Die Stadt hat ihre leidige Thema sprach, hat auch der mir ei- cher Hausherr sind Sie ganz schnell auf Rolle als neue Drehscheibe noch längst nen satten Zuschuss – ich sage mal be- das Berliner Intendantenkarussell gelobt nicht angenommen und verdaut. Jetzt, in scheiden: bestimmt eine Million Mark – worden, aber genauso schnell wieder ab- einem Moment der Schwäche, etwas ka- versprochen. Voraussetzung ist dabei, dass gesprungen. Doch Angst vor Groß-Berlin? puttzumachen, wonach die Stadt sich in der Senat seine Pflicht gegenüber den Häu- Pereira: Nein. Es gab zwei Phasen. Zunächst zehn Jahren die Finger schlecken wird, sern erfüllt und dass andere Sponsoren mit- suchte die Deutsche Oper einen Nach- wäre töricht und verantwortungslos. ziehen. Es geht also. folger für Götz Friedrich. Das war zu ei- SPIEGEL: Wann, denken Sie, werden sich SPIEGEL: Der klassische Intendantentyp hat ner Zeit, als ich hier mit dem Haus, Stölzl und der Senat mit Ihrem Reform- aber eher Kunst im Kopf als einen Klin- meinen Künstlern papier beschäftigen gelbeutel in der Hand, und statt zum Bet- und dem Publikum und die Zukunft teln auf die Bank geht er lieber in ein an- so richtig glück- der Berliner Opern- deres Opernhaus, um dort für Extra-Gagen lich war. Da konn- häuser endlich fest- zu dirigieren oder zu inszenieren. te ich mich nicht schreiben? Pereira: Ich weiß, es gibt solche Fälle. Aber trennen. Dann folg- Pereira: Stölzl wird das Berufsbild des Intendanten hat sich ge- te der nächste Akt. bei unseren Inten- ändert. Neue Geldquellen aufzuspüren und Ich war nach dem danten-Beratungen die wirtschaftlichen Verhältnisse seines Münchner Kollegen wohl von Anfang Hauses vor der Öffentlichkeit glaubwürdig Peter Jonas der an dabei sein, und und werbewirksam auszubreiten, hat der zweite Kandidat, der Senat hat noch künstlerisch orientierte Intendant alter Prä- dem Stölzl erst alle für dieses Jahr eine gung nicht gelernt und lehnt es womöglich drei und dann die Entscheidung an- sogar ab. Aber das ist falscher Stolz. zwei Opernhäuser gekündigt.

SPIEGEL: Sie schaffen in Zürich 15 Premie- anbot, um die es BILDERDIENST ULLSTEIN SPIEGEL: Und nach ren im Jahr, das ist rekordverdächtig. Sind jetzt vor allem geht. Berliner Kultursenator Stölzl dieser Grundsatz- Sie ein Wundermann? SPIEGEL: Generalin- „Kahlschlag, Auszehrung, Provinz“ entscheidung geht Pereira: Nein, ich bin ein Zufallsprodukt. tendant in der deut- das Hauen und Ste- Ich war Verkaufsleiter bei Olivetti, zog von schen Hauptstadt – war das nix für den chen dann ja erst richtig los: drei Inten- Haus zu Haus, bot meine Reiseschreibma- Zürcher Zampano? danten? Drei Generalmusikdirektoren? Ein schine wie sauer Bier an, kriegte oft die Tür Pereira: Klingt toll. Und für die drei Häu- Big Brother als Superintendant? Und wer vor den Kopf geknallt, hatte nebenbei Ge- ser die Spielpläne zu entwerfen wäre ein übernimmt welchen Job? sang studiert und wurde 1983 mit 17 gegen Kinderspiel gewesen. Aber wenn ich sehe, Pereira: Für jedes Haus wird ein eigenes 16 Stimmen zum Chef des Wiener Kon- dass ich jetzt in Zürich jeden Tag 16 bis 18 Konzept entwickelt werden, folglich muss zerthauses gewählt, an die Spitze eines ein- Stunden vollbeschäftigt bin und an 170 jedes Haus einen eigenen Verantwortlichen schlägigen Großunternehmens. Da kamen Abenden die Vorstellungen verfolge, dann haben. Für die Deutsche Oper ist Udo Zim- kaufmännische Erfahrung und künstleri- ist mir klar, dass die Leitung von zwei oder mermann gewählt und wird es machen, bei sche Ambitionen glücklich zusammen. gar drei Instituten über meine und wahr- der Staatsoper muss man abwarten. Die SPIEGEL: Muss ein zeitgemäßer Intendant scheinlich über jedermanns Kräfte ginge. Ideallösung – nämlich die Eier legende also erst einmal mit einer Schreibmaschi- Ich bin kein Musikindustrieller. Woll-Milch-Sau – wird sich nicht finden. ne Klinken putzen gehen, um hinter die SPIEGEL: Ist für Sie ein Berliner Opern- SPIEGEL: Herr Pereira, wir danken Ihnen Geheimnisse der Wirtschaft zu kommen? GAU – die Verschmelzung der drei Häuser für dieses Gespräch.

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Werbeseite den Oasis-Brüdern Noel und Liam Gal- lagher überließ er Creation ganz dem ja- panischen Konzern. Schon 1998 aber verkündete der Pop- revoluzzer, dass „Plattenfirmen, wie wir sie kennen, bald tot sind“. Die Zukunft lie- ge im Internet. Heute sagt er, Poptones sei kein simples Plattenlabel, sondern ein Mul- timedia-Unternehmen: „Ich war mit Musik sehr erfolgreich, warum soll mir das nicht auch im Filmgeschäft ebenso gelingen?“ Zurzeit kann man über die Poptones- Website nicht nur CDs kaufen, sondern auch Radio hören und aktuellen Klatsch über McGees neuen Londoner Club „Ra- dio4“ nachlesen. Dort musizieren – ganz altmodisch – Nachwuchsrocker, die auf ei- nen Vertrag hoffen, daneben aber amüsie- ren sich auch Prominente wie die US-Sän- STARFACE / INTER-TOPICS STARFACE BIG PICTURES / ACTION PRESS / ACTION BIG PICTURES gerin Courtney Love, mit deren Band Hole McGee-Schützlinge Oasis, Manager McGee mit Popstar Love: Sache der Leidenschaft McGee angeblich über einen Vertrag ver- handelt. warten alle von mir“, sagt McGee trocken, Revolutionär und neuartig an der Firma MUSIKGESCHÄFT „dass ich noch mal die erfolgreichste Pop- Poptones sei, so McGee, vor allem die Kal- band des Planeten entdecke.“ kulation, dass Tonträger wie Schallplatten Spielgeld von Über die Chancen McGees streiten sich und CDs in naher Zukunft vom großen die Experten. Das Internet gilt derzeit in Markt verschwänden und zum Nischenge- der Musikbranche eher als Geldverbren- schäft würden. Stattdessen würden „in spä- den Royals nungsmaschine, die New Economy scheint testens fünf Jahren“ Millionen von Abon- in den vergangenen Wochen unterwegs zu nenten gegen eine Monatspauschale von Seit er die Band Oasis groß sein auf dem Highway zur Hölle – und von „vielleicht 30 Mark“ Musik und Filme von fast allen Poptones-Künstlern hat bislang Anbietern wie Warner, Bertelsmann oder herausbrachte, gilt der schottische kaum ein Mensch je gehört. eben Poptones auf die heimische Festplat- Musikmanager Alan McGee als Die Platten des im Internet unter te laden. Goldfinger der Popbranche – nun „poptones.co.uk“ residierenden Labels Poptones gilt als erstes britisches Label, will er das Internet erobern. haben einen niedrigen Einheitspreis. Auf das aggressiv das Ziel verfolgt, Musik aus- Musikvideos, ohne die im Popgeschäft der schließlich online zu vertreiben. „Wir wer- eine Gegner halten den Mann für ei- Gegenwart angeblich nichts mehr geht, den als Geschmacksfilter fungieren, als nen Verrückten. Alan McGee gab will McGee am liebsten ganz verzichten. Marke, der man vertrauen kann“, schwärmt Sschon mal eine teure Zeitungsanzei- Für den Hitzkopf McGee ist Pop bis heu- McGee. Nach dem Motto: „Du hast viel- ge auf, um mehr Respekt für die Punk-Pio- te vor allem eine Sache der Leidenschaft. leicht noch nie von dem Künstler gehört, niere der Sex Pistols zu fordern. Und auch Überall sieht er die Ideale des Rock’n’Roll aber wenn wir ihn anbieten, kannst du si- sonst geht der 40-Jährige keinem Streit um verraten: Bei Tony Blair und dessen Freun- cher sein, dass er etwas Besonderes ist.“ guten Geschmack aus dem Weg. Mehr als 20 Newcomer wie Seine Bewunderer halten den Schotten die Cosmic Rough Riders oder McGee für ein Genie. Sie vergleichen ihn The Montgolfier Brothers hat mit Richard Branson, der einst mit den Al- Poptones schon unter Vertrag. ben des Musikers Mike Oldfield seiner Plat- Die meisten von ihnen klingen tenfirma Virgin zum Durchbruch verhalf, aufregender als alles, was in den oder mit Ahmet Ertegun, dem legendären letzten Jahren aus Großbritan- Chef von Atlantic Records, der Ähnliches nien zu hören war. Allerdings mit dem Soulsänger Ray Charles schaffte. bieten Firmen wie die Internet- Zum Unternehmer-Popstar wurde der Tauschbörse Napster bislang ihre Exzentriker McGee mit einer Plattenfirma Ware umsonst an. McGee be- namens Creation. Sich selbst und Creation hauptet achselzuckend: „Das ist machte er berühmt mit der erfolgreichsten nicht mehr als eine moderne aller -Bands – mit Oasis. Form von Radio – und morgen Mit Oasis ist es nicht mehr weit her, sowieso vergessen.“ Creation hat McGee mittlerweile verkauft, Nicht immer hat Alan McGee aber dafür will er jetzt seine neue Platten- Poptones-Website: Schon bald Millionen Abonnenten? mit seinen Prophezeiungen firma Poptones zur führenden Musikmar- Recht behalten. Vor zwei Jahren ke für Pop im Internet machen. den von New Labour sieht er längst nur etwa dozierte der jetzige Internet-Unter- Seit August ist die Firma an der Börse noch „geldgierige Yuppies“ agieren. nehmer, dass Menschen über 35 das und verfügt derzeit über einen Handels- Mit ähnlichem Grimm verteufelt er die Internet niemals verstehen könnten. Heu- wert von fast 60 Millionen Mark. McGee Japaner von Sony, denen er 1992 zunächst te revidiert er: „In Großbritannien sind hält 39 Prozent der Aktien, selbst die bri- 49 Prozent seiner Firma Creation überließ. mittlerweile Leute über 65 die Bevöl- tische Queen kaufte Papiere im Wert von Damals blieb er Geschäftsführer – und das kerungsgruppe mit den höchsten Zu- etwa 150000 Mark – und dieses Vertrauen habe ihn „eine Ehe und fast sein Leben wächsen im PC-Konsum. Wer konnte das hat einen einfachen Grund: „Natürlich er- gekostet“, klagt er. Nach einem Krach mit schon ahnen?“ Christoph Dallach

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Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-3070 Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, E-Mail: [email protected] 90069, Tel. 001-310-2741333, Fax 2741308 Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke; Berliner MOSKAU Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Abonnenten-Service Schweiz: Büro Leitung: Jan Fleischhauer (stellv.). Redaktion: Markus Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern Dettmer, Oliver Gehrs, Christian Reiermann, Michael Sauga, Ulrich Fax 9400506 Telefon: (0041) 41-248 44 18 Fax: (0041) 41-248 44 04 Schäfer NEW DELHI Padma Rao, 101, Golf Links, New Delhi 110003, Tel. E-Mail: [email protected] AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng (009111) 4652118, Fax 4652739 (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Dr. Carolin Emcke, Adel NEW YORK Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, Abonnement für Blinde S. Elias, Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Hoelzgen, Siegesmund von Ilsemann, Reinhard Krumm, Claus 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 Christian Malzahn, Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Helene E-Mail: [email protected] Zuber. Autoren, Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann, PARIS Dr. Romain Leick, 1, rue de Berri, 75008 Paris, Tel. (00331) Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt Erich Wiedemann 42561211, Fax 42561972 Frankfurt am Main WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf PEKING Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 Stampf (stellv.). Redaktion: Philip Bethge, Jörg Blech, Manfred Dwor- 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 E-Mail: [email protected] schak, Marco Evers, Beate Lakotta, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hilmar PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24221524, Fax 24220138 Schmundt, Matthias Schulz, Christian Wüst. Autoren, Reporter: RIO DE JANEIRO Matthias Matussek, Jens Glüsing, Avenida São Abonnementspreise Dr. Hans Halter, Werner Harenberg Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) Inland: zwölf Monate DM 260,– KULTUR UND GESELLSCHAFT Leitung: Wolfgang Höbel, 2751204, Fax 5426583 Studenten Inland: zwölf Monate DM 182,– Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Hauke Goos, Lothar 6797522, Fax 6797768 Europa: zwölf Monate DM 369,20 Gorris, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ans- SAN FRANCISCO Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, Außerhalb Europas: zwölf Monate DM 520,– bert Kneip, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Reinhard Mohr, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Um- SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, werden anteilig berechnet. bach, Claudia Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, Tel. (0065) 4677120, Fax 4675012 Martin Wolf. Autoren, Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Jenny, Abonnementsaufträge können innerhalb von 14 Tagen TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Dirk Kurbjuweit, Dr. Jürgen Neffe, Rainer Schmidt, Cordt Schnibben, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an den Alexander Smoltczyk, Barbara Supp WARSCHAU Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. (004822) SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Matthias Geyer, Maik 8251045, Fax 8258474 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Großekathöfer, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. SERIE 21. JAHRHUNDERT Leitung: Jürgen Petermann, Dr. Jürgen WASHINGTON Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National ✂ Scriba (stellv.). Redaktion: Wolfram Bickerich, Klaus Franke, Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Christian Habbe, Rainer Paul, Katja Thimm, Gerald Traufetter Fax 3473194 Abonnementsbestellung WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Dr. Walter Knips, Kirsten Wied- ner, Peter Zobel 5331732, Fax 5331732-10 SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, ZÜRICH Jan Dirk Herbermann, Postfach 3108, 8021 Zürich, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina Tel. (0041) 792869961, Fax 227333316 Oder per Fax: (040) 3007-2898. Stegelmann Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen; Jörg-Hinrich Ahrens, Werner CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz Bartels, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Dr. Britta Bugiel, Lisa Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Busch, Heiko Buschke, Heinz Egleder, Johannes Erasmus, Klaus Fal- SCHLUSSREDAKTION Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, kenberg, Cordelia Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, monatliche Programm-Magazin. Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Rolf Jochum, Silke Geister, Dr. Dieter Gessner, Dr. Sabine Giehle, Thorsten Hap- Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Maika Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, ke, Hartmut Heidler, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Gesa Höpp- Hefte bekomme ich zurück. Manfred Petersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, ner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Tapio Sirkka Joachim Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Manuela Cramer, Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Walter Lehmann, Michael Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Antje Klein, Matthias Krug, Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Name, Vorname des neuen Abonnenten Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Sabine Ulrich Meier, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Bernd Musa, Sauer, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. E-Mail: [email protected] Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Andreas M. GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Peets, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Thomas Riedel, Con- Renata Biendarra, Thomas Hammer, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, stanze Sanders, Petra Santos, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Straße, Hausnummer Julia Saur, Michael Walter Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Mario Schmidt, Thomas LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Margret Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Fens- Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, ky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr.Eckart Teichert, PLZ, Ort Andreas Salomon-Prym, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst Dr. Iris Timpke-Hamel, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Ich möchte wie folgt bezahlen: PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank Schu- Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, mann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland Karl-Henning Windelbandt ❑ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung TITELBILD Stefan Kiefer; Thomas Bonnie, Iris Kuhlmann, Monika BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles ❑ Ermächtigung zum Bankeinzug Zucht von 1/4-jährlich DM 65,– REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND INFORMATION Heinz P. Lohfeldt BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, KOORDINATION Katrin Klocke Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, LESER-SERVICE Catherine Stockinger Kultur und Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Bankleitzahl Konto-Nr. BONN Combahnstraße 24, 53225 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax 26703-20 Post, New York Times, Reuters, sid DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Dresden, Tel. (0351) 26620-0, Fax 26620-20 Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- Geldinstitut Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 54 vom 1. Januar 2000 Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Tel. 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K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. E-mail: [email protected]. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. 2. Unterschrift des neuen Abonnenten SP20-002

340 der spiegel 48/2000 Chronik 18. bis 24. November SPIEGEL TV

SAMSTAG, 18. 11. DIENSTAG, 21. 11. MONTAG 23.15 – 23.45 UHR SAT.1 US-Wahl I Floridas Innenministerin Kathe- US-WAHL II Weiterer Etappensieg für Al rine Harris darf nicht wie geplant das Gore: Das Oberste Gericht Floridas lässt SPIEGEL TV REPORTAGE endgültige Wahlergebnis bekannt geben die Handauszählung der Stimmen in eini- Blutzoll für die Autobahn – – der Oberste Gerichtshof stimmte dem gen Wahlkreisen zu. der tägliche Horror auf der B 73 Einspruch der Demokraten zu. Nach Sie ist eine der gefährlichsten Straßen Berücksichtigung der Überseewähler AUSSÖHNUNG Bundeskanzler Schröder Deutschlands: die B 73 zwischen Ham- führt George W. Bush mit 930 Stimmen. begrüßt erstmals seit Einfrieren der bila- burg und Cuxhaven. Auf diesen 109 Ki- teralen Beziehungen seinen österreichi- SONNTAG, 19. 11. schen Amtskollegen Schüssel in Berlin. Kommentar: Man sei ja nicht „wie Hund ABRECHNUNG Ex-Kanzler Helmut Kohl und Katz“. lässt Auszüge aus seinem „Tagebuch 1998–2000“ drucken. Das Buch triefe MITTWOCH, 22. 11. „vor Selbstzufriedenheit“, meint die Pari- ser „Libération“; laut Londoner „Inde- US-WAHL III Zu viel Stress: Der republika- pendent“ enthülle es „so gut wie nichts, nische Kandidat für das Amt des Vize- außer den Geisteszustand des Ver- präsidenten, Dick Cheney, muss nach ei- fassers“. nem leichten Herzinfarkt ins Kranken- haus. Sein Chef George W. Bush ruft im KÜNDIGUNG Von Tokio aus erklärt Perus Streit um die Stimmenauszählung das Präsident Fujimori seinen Rücktritt – er Oberste Gericht der USA an.

will auf „lange Zeit“ in Japan bleiben. SPIEGEL TV Eine zehnjährige Herrschaft mittels Ein- DONNERSTAG, 23. 11. Wegweiser an der B 73 schüchterung, Verleumdung und Gewalt geht zu Ende. ABGANG Nach nur zwei Jahren im Amt lometern kracht es rund 300-mal im Jahr. kündigt Kultur-Staatsminister Naumann Und es sterben durchschnittlich 12 Men- MACHTWECHSEL Bei der Stichwahl in der und wird Mit-Herausgeber der Hambur- schen. Dabei sollte die Strecke längst russischen Exklave Kaliningrad (Königs- ger „Zeit“ – ein „Traumjob“ laut Kanzler durch eine Autobahn entlastet werden. berg) siegt ein Militär: Admiral Wladimir Schröder. Der verliert nun schon den Doch die Planungen ziehen sich nun Jegorow, Chef der Ostseeflotte, wird neu- fünften Mann im Kabinett. schon seit über 30 Jahren hin. er Gouverneur. ANSCHLAG Neonazis sollen vor gut drei DONNERSTAG MONTAG, 20. 11. Jahren im sächsischen Sebnitz einen sechsjährigen Jungen gequält und an- 22.05 – 23.00 UHR VOX ESKALATION Nach dem Attentat auf einen schließend ertränkt haben. Seine Mutter SPIEGEL TV EXTRA Schulbus (zwei Tote, neun Verletzte) ant- erreicht, dass der als Badeunfall zu den wortet die israelische Luftwaffe mit Rake- Akten gelegte Vorgang neu untersucht Dompteure – vom menschlichen Umgang tenangriffen auf Ziele im Gaza-Streifen. wird. mit wilden Tieren Ägypten ruft seinen Botschafter aus Tel Ob Elefanten, Delfine, Krokodile oder Aviv zurück. FREITAG, 24. 11. Raubkatzen: Fast jede Kreatur lässt sich vom Menschen dressieren. Wie aber wird ABSTIEG Nur mühsam startet die vielbe- ALARM Erstmals wird per Schnelltest den Tieren beigebracht, sich so zu ver- worbene Post-Aktie an der Frankfurter auch bei zwei in Deutschland geborenen halten, wie der Trainer es will? Was sind Börse. Das Papier des angeschlagenen Rindern BSE festgestellt: Das eine Tier die Geheimnisse der Dompteure? DaimlerChrysler-Konzerns rutscht gleich- stammt aus Schleswig-Holstein, das ande- zeitig auf ein Rekordtief seit der Fusion re wurde aus Sachsen-Anhalt auf die SAMSTAG beider Firmen vor zwei Jahren. Azoren exportiert. 22.15 – 23.20 UHR VOX

Ein Mann versucht SPIEGEL TV SPECIAL am Donnerstag im Die Spezialisten – Hochwassergebiet Kinderärzte in Deutschland um Terengganu (Nord- Jedes Jahr erkranken etwa 2000 Kinder ost-Malaysia) von ei- an Krebs. Chemotherapie und Operatio- ner öffentlichen Zelle nen sind langwierig und leidvoll. In der aus zu telefonieren. dritten Folge der dreiteiligen Reihe wer- den die Erfolge und Nebenwirkungen der Behandlung dokumentiert.

SONNTAG 22.15 – 23.10 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Sinkender Stern – was wird aus Daimler- Chrysler?; FC Schalke 2004 – ein Traditi- onsclub auf dem Weg zum Fußballkon- zern; die Schnüffler vom Dienst – unter- wegs mit der Rostocker Müllpolizei. AP

341 Register

gestorben mit den Armen, als wären sie Kolbenstan- gen, er fauchte und pfiff. Die „tschechi- Harald Leipnitz, 74. sche Lokomotive“, wie Zátopek wegen sei- Seine Rolle war ein nes eigenwilligen Laufstils genannt wurde, für alle Mal der ju- war einer der großen Leichtathleten des gendfrische Gute-Lau- 20. Jahrhunderts: Zwischen 1949 und 1954 ne-Schauspieler, der stellte der Armeesportler 18 Weltrekorde Leichtfuß, Draufgän- auf, und bei den Olympischen Spielen 1952 ger, Herzensbrecher. in Helsinki feierte er, nach einer Goldme- Kaum je wurde gefragt, daille 1948 in London, weitere drei Olym-

ob er mehr als der DPA piasiege – sowohl über 5000 und 10000 Me- Stadttheater-Liebling ter als auch im Marathon. Zátopek, der sein könnte, der schon Mitte 30 war, als Chemie studierte und erst mit 21 Jahren ihm 1963 (durch Will Trempers Film „Die zum Laufen kam, trainierte oft in schweren endlose Nacht“) der Sprung aus seiner Militärstiefeln, damit Vaterstadt Wuppertal in die Kino- und ihm der Wettkampf Fernsehprominenz gelang. Dutzendfach dann vorkam wie ein hat er die sechziger und siebziger Jahre Strandspaziergang. hindurch mit Elan und Eleganz Erfolg ge- Während des Prager habt in einer Filmbranche, deren liebste Frühlings 1968 schlug Autoren Edgar Wallace und Karl May hie- sich der „Oberst ho- ßen, und einem Fernsehbetrieb, der eben noris causa“, wie er erst mit Durbridge-Krimis und Serien lern- sich selbst nannte, auf te, Entertainment als öffentliche Aufgabe die Seite der Refor- zu verstehen. Das Altern war und blieb für mer, kletterte auf den Typus Leipnitz naturgemäß ein Pro- einen sowjetischen blem, und auch der Alkohol war nicht im- Panzer und forderte mer sein Freund; in den achtziger Jahren die Okkupanten auf spielte er mehr auf Boulevardbühnen und dem Wenzelsplatz führte gelegentlich auch Regie. Ein später, zum Rückzug auf. selbstparodistisch effektvoller TV-Auftritt Zátopek galt nie als ist aus „Kir Royal“ in Erinnerung. Harald entrückter Held, son- Leipnitz starb am 21. November in Mün- dern eher als warm- chen an Lungenkrebs. herziger Kleinbürger,

SPORT IMAGE / PRESSE SPORTS IMAGE SPORT für den Sport eine Théodore Monod, 98. „Es genügte, den al- Bestimmung war: ten Mann zu hören, um wieder jung zu „Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch werden“, schrieb der „Figaro“ in seinem läuft.“ Emil Zátopek starb am 21. Novem- Nachruf auf einen der wohl größten Uni- ber in Prag an den Folgen eines Gehirn- versalgelehrten des vergangenen Jahrhun- schlags. derts. Der tief gläubige Spross einer pro- testantischen Pastoren- Michael John Muuss, 42. Er gilt als einer familie durchquerte als der Väter des Internet – und trotzdem ist junger Doktor der Na- er nur Insidern bekannt. Sein wichtigster turwissenschaften und Beitrag waren Verbesserungen an TCP/IP, auch im hohen Alter einem Protokoll, welches noch heute den die Sahara zu Fuß, per Datenaustausch zwischen unterschiedli- Kamel und im Gelän- chen Datennetzen regelt. Muuss, Sohn dewagen, sammelte eines deutschen Auswanderers, beteiligte Steine, Pflanzen und sich Anfang der achtziger Jahre maßgeb-

suchte Meteoriten. Sei- REUTERS lich an der Verknüpfung diverser univer- ne immensen Kennt- sitärer und militärischer Netze zu einem nisse als Botaniker, Zoologe, Archäologe, Ganzen, das er provisorisch als ein „Inter- Geologe und Tiefseetaucher fasste der Net“ bezeichnete – woraus später „das“ In- kompromisslose Nukleargegner – zu den ternet wurde. Muuss war ein Hacker in Jahrestagen von Hiroschima und Nagasa- Uniform, als Forscher angestellt beim ki fastete er vier Tage – in einer Reihe von Army Ballistic Research Laboratory, dem Standardwerken zusammen. Vor seinem US-Militärlabor, das schon den ENIAC- Tod vertraute der ewig Suchende einem Rechner gebaut hatte. „Senior Computer Freund an: „Ich bin sehr neugierig zu er- Scientist“ war die offizielle Bezeichnung fahren, wie es auf der anderen Seite aus- des Wissenschaftlers, doch Muuss zog sieht.“ Théodore Monod starb am 22. No- stets den Namen Mike vor, kombiniert mit vember in Versailles. dem Ulk-Titel: Señor Scientist. Michael John Muuss starb am 20. November in der Emil Zátopek, 78. Wenn er mit gefletsch- Nähe seines Wohnortes Havre de Grace ten Zähnen über die Aschenbahn rannte, im Bundesstaat Maryland bei einem Auto- ruderte der Langstreckenläufer aus Mähren unfall.

342 der spiegel 48/2000 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Verena Müller, 27, Lionel Jospin, 63, französischer Premier- Parlamentskorres- minister und gefürchtet ob unvermittelter pondentin der Unmutsausbrüche, geriet bei seinem Ver- „Bild“-Zeitung in such, französisches Rindfleisch gegen den Berlin, wurde allgemeinen BSE-Verdacht zu verteidigen, jüngstes Opfer des übers Kreuz mit künftigen Wählern. Bei Klatschfiebers im der Einweihung einer neuen Loire-Brücke Regierungsviertel. in Orléans letzte Woche ließ sich der So- Nachdem der ge- zialist zunächst bereitwillig von aufge- wöhnlich gut infor- brachten Bauern, die sich ihm mit einem mierte „Bild“-Ko- qualmenden Barbecue in den Weg stell-

lumnist Mainhardt M. DARCHINGER FOTOS: ten, zu einer Kostprobe von Rindfleisch- Graf Nayhauß über Ehepaar Fischer Müller spießchen überreden: „Das ist ausge- eine Ehekrise von zeichnet, ich nehme ein zweites.“ Als Außenminister Joschka Fischer, 52, spe- Von Kollegen als „Frau Außenministerin“ Journalisten ihn mit detaillierten Fragen kuliert hatte, wurde die junge Journalis- aufgezogen, verbreitete sich flugs das zu BSE bedrängten, sank die Laune des tin binnen 48 Stunden bis hinauf ins Gerücht, die „Bild“-Journalistin und der Feinschmeckers: „Die Lage ist ernst. Aber Bundeskabinett als „Fischers Neue“ iden- Minister seien ein Paar, obwohl sie sich Sie interpretieren doch sowieso alles mies.“ tifiziert. Dabei hatte Müller sich ledig- nicht einmal flüchtig kennen. Um wei- Anschließend bedrängten Schulkinder den lich für den Bundespresseball vergange- terem Gerede vorzubeugen, brachte Regierungschef mit Autogrammwünschen, nen Freitag angemeldet. Weil sie zu den Verena Müller schließlich den Politik- da war die Stimmung des Linken am Null- wenigen Damen ohne männliche Beglei- chef ihrer Zeitung, Sebastian Graf von punkt: „Nur ein Autogramm … Ihr könnt tung gehörte, wählte sie der „Platzie- Bassewitz, mit zum Presseball. Joschka dann Fotokopien machen und verteilen.“ rungsausschuss“ aus, neben dem Außen- Fischer erschien, anders als geplant, minister sitzen zu dürfen, der ebenfalls schließlich doch mit Ehefrau Nicola Renate Künast, 44, Grünen-Chefin, zeig- angekündigt hatte, allein zu erscheinen. Leske, 31. te einmal mehr, dass beim Thema Renten der Spaß aufhört. Nach der ARD-Talkshow „Sabine Christiansen“ beim Plausch mit Bundessozialminister Walter Riester wurde sie von einem Reporter rüde gefragt, was sie denn zur rentenfreundlichen demogra- fischen Entwicklung beitrage. Die 44- jährige kinderlose Rechtsanwältin reagier- te ungehalten: „So’n Blödsinn“, empörte sie sich. Die Frage sei eine „Unverschämt- heit“ und etwa so, als wollte man „von ei- nem Einbeinigen wissen, warum er nicht an den Olympischen Spielen teilnimmt“.

Jack Nicholson, 63, Hol- lywood-Star („Besser geht’s nicht“), suchte verzweifelt nach seinem legendären „klei- nen schwarzen Notizbuch“. Bevor er in Panik um das ver- loren geglaubte Geheimwerk, eine Art „Who’s who in Hol- lywood“, geraten konnte, kam schon der Finder angesaust:

„Haben Sie das verloren?“ / INTER-TOPICS SLOCOMB Dahl Nicholson erleichtert: „Mann, Nicholson Sie wissen gar nicht, wie froh Sophie Dahl, 21, wohlproportioniertes bri- Pariser Werbetafeln und Plakatwänden er- ich bin, das wiederzusehen.“ Wölfisch grin- tisches Model ohne marktübliche Anzei- schienen, eine Unterschriftensammlung ge- send griff der Schauspieler nach dem Büch- chen der Magersucht, erregte den Zorn gen „den um sich greifenden Missbrauch lein, der Finder zog es zurück: „Wenn es französischer Feministinnen. Die Enkelin des Frauenbildes“. Florence Montreynaud, für Sie so wichtig ist, wie wäre es dann mit des 1990 verstorbenen Schriftstellers Roald Gründerin der radikalen Frauengruppe einem Finderlohn von 50 Dollar?“ Noch Dahl hatte sich für eine Anzeigenkam- „Chiennes de Garde“ („Wachhündinnen“), immer höhnisch grinsend wie Isegrim füll- pagne, mit der das Parfüm „Opium“ aus verdammte die mit gespreizten Schenkeln te Nicholson einen Scheck aus, reichte ihn dem Haus Yves Saint Laurent beworben liegende „Opium“-Dame als das derzeit dem Finder und schnurrte: „Es ist wichtig wird, fast nackt fotografieren lassen. High- schlimmste Beispiel in einer Flut von du- – hier sind 100 Dollar.“ heels, ein Collier und ein Armband beton- biosen Werbekampagnen, in der „die ten noch die Nudität. Während in Groß- Frau als Sexobjekt behandelt wird“. Die George W. Bush, 54, republikanischer Prä- britannien und sonst in der Welt die „Opium“-Werber halten, wen wundert’s, sidentschaftskandidat, hat einen Hund, Al Kampagne allenfalls mildes Aufsehen er- das Bild der Nackten dagegen für ein ge- Gore, 52, demokratischer Präsidentschafts- regte, starteten französische Frauen, nach- schmackvolles Werk von hohem künstleri- kandidat, hat gleich zwei; die drei Kläffer dem die schwellenden Formen auch auf schem Anspruch. könnten die auf den Hund gekommene

344 der spiegel 48/2000 Henrik, 66, Prinz von Däne- mark, gibt der Öffentlichkeit freimütig Einblick in seine Gefühlswelt. In seinem jetzt in Kopenhagen auf Dänisch und Französisch erschienenen Gedichtband „Cantabile“, den er „meiner geliebten

ACTION PRESS ACTION Ehefrau“ widmete, beschreibt der aus französischem Adel stammende Prinzgemahl ganz offensichtlich intime Details aus dem Eheleben mit Köni- gin Margrethe II., 60. In dem Poem „Morgenlicht“ heißt es ungeniert: „Lila und weiß, grün, das Blau deiner Brüste – / es steigert meine Begierde, was meine Sehnsucht sah …“ Und in „Guten Abend, Ma- dame“ dichtet der ehemalige Graf Henri de Monpezat heißblütig: „Eine Umarmung,

KEYSTONE Madame, dauert eine Stunde Dänisches Königspaar 1967 und 2000 nur – / aber stark ist der Lie- besrausch / und wild der Be- amerikanische Nation repräsentieren, meint gierde Gebraus / das Schönste aber ist der die „New York Post“. Der Bush-Hund Spot Seufzer in unserem Mund.“ Von den ist ein Spaniel und Tochter von Millie, die als dänischen Medien wurden die lyrischen Schoßhund der damaligen Präsidentengat- Offenbarungen des „triefend romantischen tin Barbara Bush gar Berühmtheit als Au- Henrik“ („Ekstra Bladet“) wohlwollend torin erlangte: „Millie’s Book: The Adven- aufgenommen: Seine königliche Hoheit sei tures of the White House Dog“ war 1990 ein offenbar dereinst ein feuriger Liebhaber Bestseller. Der schwarze Labrador Retriever „mit Sex und Einfühlungsvermögen“ ge- des demokratischen Präsidentschaftsbe- wesen. Auch Königin Margrethe, die Hen- werbers heißt Shiloh, nach dem Ort, an dem rik in 33-jähriger Ehe verbunden ist, nahm eine berühmte Schlacht im Amerikanischen keinen Anstoß – im Gegenteil: Ihre Majes- Bürgerkrieg (1861 bis 1865) stattfand. Daisy, tät steuerte sogar die Illustrationen zu dem der Zweithund der Gores, symbolisiert die 219 Seiten starken Lyrikband bei. klassische Aufstiegsstory vom zerlumpten Obdachlosen zum superreichen Glückspilz. Kurt Bodewig, 45, neuer Bundesver- Daisy, die gern in Blumenbeeten wühlt (Dai- kehrsminister, freute sich über einen sy = Gänseblümchen), hatten die Gore-Kin- herzlichen Empfang der Lufthansa auf der als Streunerin auf der Straße aufgelesen. dem Flug von Düsseldorf nach Berlin. In den vergangenen Wochen habe der Be- Kaum hatte der Minister, der immer noch griff von der „unteilbaren“, von der „one so strahlt, als könne er seine Berufung nation under God“ aus dem amerikanischen nicht fassen, die Kabine der Boeing 737 Treuegelöbnis harte Schläge hinnehmen am vergangenen Montag betreten, emp- müssen, resümiert das New Yorker Boule- fing ihn der Kapitän mit der Bord-Durch- vardblatt die Hundestory, aber ungeachtet sage: „Wir freuen uns, auf unserem Flug des Wahlausgangs „sind wir auf jeden Fall von Düsseldorf nach Hannover den neu- one nation under dog“. en Bundesverkehrsminister an Bord zu haben.“ Kleine Schrecksekun- de: „… äh, natürlich nach Berlin.“ Bodewigs frohes Dan- keschön geriet zu einer klei- nen Enthüllung: „Meine Her- ren, ich finde es total nett, dass Sie mich direkt zum Bundeskanzler bringen wollen, damit ich nicht verloren gehe, aber zuerst holen wir mal die Ernennungsurkunde in Berlin ab, o. k.?“ Merke: In SPD-Regierungskreisen ist REUTERS TIPPER GORE Hannover Kanzlerstadt, Ber- Bush mit Spot, Gore mit Daisy und Shiloh lin Dienstort.

der spiegel 48/2000 345 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Rheinischen Post“: „Der Laden- Zitat dieb verfolgte den Dieb, stellte ihn und konnte ihm die Jacke wieder abnehmen. Der Düsseldorfer „Express online“ Der Ladendieb sprach schließlich einen Po- zum SPIEGEL-Bericht „Rechts- lizisten an, der den Tatverdächtigen ver- extremisten – Die braunen Fans des folgte und ihn schließlich vorläufig fest- Düsseldorfer CDU-Oberbürger- nehmen konnte.“ meisters“ (Nr. 47/2000):

OB Erwin geht in die Offensive gegen den (O-Ton Erwin) „ultrarechten Polit- Clown“ Torsten Lemmer und seinen „Gehilfen“ Jürgen Krüger von den Repu- blikanern. Der SPIEGEL hatte den OB Anfang der Woche in einem Artikel in Aus der „Rhein-Zeitung“ die Nähe der Rechtsradikalen gerückt. Er- win sprach gestern von „einer üblen Kampagne gegen ihn und die CDU, an Aus der „BZ“: „Mindestgröße der Tänze- der sich leider auch Teile der SPD beteiligt rinnen: 1,80 Meter. Beinlänge: 1,90 Meter. hätten“. Konsequent geht der OB nun ge- Und 440000 Besucher pro Jahr können es gen Lemmer vor: Der bekam nicht nur nicht fassen, dass solche Frauen Wirklich- Hausverbot. Erwin stellte auch Strafantrag keit sind.“ gegen ihn wegen Verdachts der üblen Nachrede, weil Lemmer wiederholt be- hauptet hatte, er habe gute Kontakte zur Aus den „Lübecker Nachrichten“: „,Wir CDU. Erwin: „Eine Beleidigung, mir Kum- wollen uns am eigenen Schopf aus dem panei zu unterstellen.“ CDU-Parteichef Sumpf ziehen; aber alleine und ohne Hil- Schulhoff erklärte: „Es gibt null Kontakte.“ fe werden wir das nicht schaffen‘, sagte Geschäftsführer Ozimek: „Erwischen wir Saxe …“ einen, fliegt der raus aus der CDU.“ Un- gerührt gießt indes Rep-Krüger jetzt wie- der Öl ins Feuer: „CDU-Politiker haben sogar Absprachen mit uns getroffen. Ich werde das vor Gericht beeiden.“ Erwin ap- pellierte daraufhin an die Gemeinsamkeit mit der SPD. Er will im Ältestenrat for- dern, dass es keine Ratsmehrheiten durch Rechts- oder Linksradikale mehr geben darf.

Aus einer Anzeige von Media Markt Der SPIEGEL berichtete …

… in Nr. 44/2000 „Denkmäler – Las Aus der „Backnanger Kreiszeitung“: Vegas am Tor“ über dubiose Vergabe- „Nicht nur einmal, nein, gleich mehrfach praktiken bei der auf zehn habe er dem Gegenüber die Faust ins Ge- Millionen Mark angesetzten Sanierung sicht gesetzt. Sein neben ihm sitzender des Brandenburger Tors. Bruder habe ihn unterstützt. Die Folge: Nierenquetschungen.“ Am Donnerstag vergangener Woche ru- derten die an der Sanierung beteilig- ten Firmen und die als Bauherr fungieren- de „Stiftung Denkmalschutz“ zurück. Die ursprünglichen Kosten könne man pro- blemlos halbieren, erklärte überraschend Aus der „Jülicher Zeitung“ Stiftungsgeschäftsführer Helmut Engel bei einem improvisierten Pressegespräch am Brandenburger Tor, zu dem er den Aus „Hallo“: „,Es dürfte also keine Ge- SPIEGEL nicht eingeladen hatte. Statt fährdung von Kampfhunden durch Orts- 10 Millionen sollen nun 4,9 Millionen ansässige geben‘, erklärte der Rathauschef. reichen, weil man auf eine umfangreiche Auszuschließen ist es freilich nicht, dass „Bestandsanalyse“ verzichte und die Auswärtige mit ihren Kampfhunden kom- Bauzeit verkürzen könne. Der Zehn-Mil- men.“ lionen-Auftrag war ohne Ausschreibung an einen mit Engel befreundeten Un- ternehmer vergeben worden, der kei- Aus den „Salzburger Nachrichten“: „Etli- nerlei Referenzen in der Zunft besitzt. che Autos bleiben unmittelbar am Tunnel- Auch das angewandte Laser-Verfahren gilt ausgang stehen, um zu erbrechen oder zu in Restauratorenkreisen als höchst um- Atem zu kommen.“ stritten.

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