FORSCHUNG ...... Renate Reschke Ecce Friedell Zum 130. Geburtstag und zum 70. Todestag von Egon Friedell

Alfred Polgar hat Friedell (1878–1938) eine »selten gewordene Spielart des moder- nen Kulturmenschen« genannt. Er war ein Multitalent: Doktor der Philosophie, Dra- maturg, Literaturwissenschaftler, Kabarettist, Schauspieler, Schriftsteller und Autor einer der geistreichsten Kulturgeschichten, mit der er zu den großen Kultur- historikern gehört. Er verkörpert wie nur wenige die Moderne des 20. Jahrhun- derts. Als die ihn 1938 verhaften will, springt er aus dem Fenster seiner Wiener Wohnung. An ihn ist zu erinnern. Mit dem anzüglichen »Ecce«, das dem Dichterfreund Peter Al- tenberg galt: Ecce Poeta. Ein paar Semester KULTURWISSENSCHAFT Ecce Friedell. Die Friedrich-Wilhelms-Universität hat Egon Fried- mann, seit 1916 offiziell Friedell, nur selten gesehen. Er hatte sich nach mehreren erfolglosen Abiturversu- chen am 16.11.1897 an der Alma mater berolinensis für Philosophie und Germanistik unter der Nummer »2267/88. Rektorat« eingeschrieben, wurde aber bereits am 18.4.1899 wegen »Unfleiß« und »Nichtan- nahme der Vorlesungen« aus dem Studentenregister Abb. 2 gelöscht (Abb. 1). Man bescheinigte ihm nur, dass er Egon Friedell als Student der Philosophischen Fakultät nicht ganz unbekannt (Annemarie Kotab, Friedell-Archiv Kufstein) war. Ob er überhaupt und welche Vorlesungen er besucht hat, darüber lässt sich nur mutmaßen. Sein dern als Möglichkeit, zu denken, was »noch niemand Interesse galt jedenfalls der Geschichte und Literatur, gedacht hat, was recht eigentlich die Aufgabe des der Philosophiegeschichte und den alten Sprachen. So menschlichen Denkens und der Wissenschaft ist.« ist zu vermuten, dass er in dieser Richtung das eine oder andere Angebot genutzt haben wird. In der eigen- Das Abitur schaffte er 1899 doch noch. Erstaunlicher- willigen Weise, mit der er zeitlebens Wissenschaft weise als Klassenbester am Preußischen Gymnasium betrieben hat, nicht als akademisches Handwerk, son- Bad Hersfeld, um sich danach an der Ruprecht-Karls- Universität zu immatrikulieren. 1900 wech- selte er an die Wiener Universität, nachdem sein Reife- zeugnis auch für Österreich anerkannt wurde und stu- dierte dort bis zu seiner Promotion Philosophie, Kunst- geschichte sowie deutsche und französische Literatur und Sprache (Abb. 2). Mit einer Dissertation zu als Philosoph beendete er 1904 das Studium, um sich kurz darauf (mit ) mit dem Einakter Goethe literarisch Gehör zu verschaffen. Wenige Jahre später (1908) übernahm er die künstlerische Leitung des Wiener Fledermaus. Da war er schon auf gutem Wege, unverwechselbares ›Urgestein‹ der Wie- ner Intellektuellen-Szene zu werden.

Berlin hatte ihn aber nicht ganz verloren und er die deutsche Reichshauptstadt nicht ganz vergessen. Das mag an gelegen haben, der seine schauspielerischen und dramaturgischen Talente ent- deckte und ihn als Mitstreiter gewann für seine Büh- nenvorhaben. Am Berliner Deutschen Theater ar- beitete Friedell fast ein Jahrzehnt (1919–1927) für den großen Regisseur. Ihm widmete er seine Kulturge- schichte der Neuzeit. Die Berliner Erfahrungen sind

Abb. 1 Anmeldungsschein zum Abgangszeugnis vom 10.4.1899 (Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv)

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kulturkritisch gespickt. Mit dem wa- kraft inne«, als sie von Dilettanten chen Blick dessen, der stets auf ausgeübt werde. Nur der Dilet- der Lauer nach dem Wert al- tant habe »eine wirklich les Modernen war, erkannte menschliche Beziehung zu er in Berlin dessen Zen- seinen Gegenständen«, trum. Die Stadt sei ge- nur bei ihm »decken schmacklos, aber sich Mensch und die »Berliner Ge- Beruf« und daraus schmacklosigkei- ströme der ganze ten sind wenig- Mensch in seine stens moderne Tätigkeit und Geschmacklosig- »sättigt sie mit keiten«, die Me- seinem ganzen tropole sei »eine Wesen«; der be- wundervolle rufsmäßigen Tä- moderne Ma- tigkeit hafte da- schinenhalle, ein gegen stets eine riesiger Elektro- unerträgliche motor, der mit Einseitigkeit und unglaublicher Beschränktheit, Präzision, Schnel- ein »zu enger Ge- ligkeit und Energie« sichtswinkel« an. arbeite und, Gipfel eines Kompliments, So hätte er sich selbst »Berlin ist in den Fle- beschreiben können. geljahren einer kommen- Und so hat er sich gese- den Kultur, die wir noch hen. In der Tat gibt es kaum Abb. 3 nicht kennen und die sich erst etwas, was er nicht versucht Egon Friedell als Goethe herausarbeiten muß.« hätte. Als Theaterkritiker erwarb (Annemarie Kotab, Friedell- er sich einen guten Ruf, er schrieb Archiv Kufstein) »Ein genialer Dilettant« Tragödien und Komödien, von denen die Max Reinhardt hat ihn so genannt. Und Friedell, der Judas-Tragödie und die Persiflage auf Sherlock Hol- Außenseiter, der Querdenker nahm die Auszeichnung mes zu den bedeutenderen zählen, er war Aphoristi- an und machte sie zu seinem geistigen Eigentum. Der ker, Feuilletonist und Satiriker, er übersetzte Thomas »Dilettant« avancierte zum Mittelpunkt seines allge- Carlyle und man kennt ihn als geschätzten Herausge- meinen Menschen- und Bildungsverständnisses und ber der Werke von Hebbel und Lichtenberg, er bear- für Künstler und Philosophen wurde er geradezu zum beitete Johann Nestroys Dramen und spielte selbst Identitätskriterium. Den Dilettanten sah er als Kon- den Goethe in seinem gleichnamigen Stück (Abb. 3). trast, provozierend und geistvoll zugleich, zum wenig Er kannte sich aus in der zeitgenössischen Kunst- und hinterfragten Status moderner Wissenschaftler oder Literaturszene und wusste um die geistige Situation Literaten. Weil sie keine Dilettanten seien und sein der Zeit, die sein eigentliches und durchgehendes wollen, würden sie, so Friedell, unvermittelt in die großes Thema war. Und dies mit einer Leidenschaft, Nähe zum Journalismus geraten, d. h. in den berech- die weder Kompromisse noch konformistische Anbie- tigten Verruf mangelnden Geistes und leerer Rhetorik; derungen zugelassen haben. Es ging ihm immer um die von den großen Gedanken bleibe nur »platter Tatsa- seelischen Befindlichkeiten des modernen Menschen. chenkram« und der lächerliche Dünkel des eigenen Als der Verleger Samuel Fischer ihm vorschlug, über Fachgebietes. Das war gegen die Germanisten- und seinen Literatenfreund Altenberg zu schreiben, lag Philosophenzunft gesagt. Dilettanten dagegen besitzen dem Wunsch ein tiefer Irrtum zu Grunde. Der Irrtum, Temperament, Universalität und philosophische Bega- von Friedell ein amüsantes Anekdoten-Büchlein über bung. In den Aufzeichnungen zu einem geplanten Kon- den exaltierten Künstler zu erhalten. Doch dieser versationslexikon findet sich das Stichwort »Dilettant« schrieb eine tief lotende Bestandsaufnahme über die bereits geschrieben. Was den Dilettantismus angehe, kulturelle Verfasstheit am Beginn des 20. Jahrhun- müsse man sich klarmachen, der menschlichen Be- derts und über die Seele einer ganzen Epoche. Der tätigung wohne nur »so lange eine wirkliche Lebens- Dichterfreund war ihm Anlass und Katalysator seiner

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Ideen, eingedenk der Erkenntnis: »Ein Dichter ist ein Mensch, der für sich nur noch eine einzige Privatange- legenheit anerkennt: die Sache der Menschheit.« Frie- dell sah in dem Freund ein »Diagramm der Kultur sei- ner Zeit« und sein Buch über ihn war eine »Art Natur- geschichte der Menschheit nach 1900«; über die Form »flüchtiger und provisorischer Brouillons« sollte man sich nicht täuschen. Sie ist treffsicher, scharf und genial. Zum Dilettantismus gehört der große Panora- mablick, der facettenreich Perspektiven öffnet, die dem verbreiteten wissenschaftlichen Voyeurismus ver- schlossen bleiben. Mit dem in die Sichtbarkeit geholt wird, was unter den Oberflächen zu entdecken ist. Oder anders formuliert: Die Oberflächen sind nicht das, was sie scheinen, der Dilettant kann auf ihnen lesen, was das normale Auge nicht entziffert. Im Falle Abb. 4 Altenbergs entpuppte sich das Vordergründige als das Egon Friedell Nicht-Wesentliche. Der enttäuschte Verleger hat sich (Zeichnung von Urban Janke, Friedell-Archiv) selbstverschuldet getäuscht gesehen. Ästhetik, der es um die Lebensfülle alles Menschli- Kulturkritik in Wiener Farben chen geht und die nichts anderes meint, als eine von Was war Berlin gegen Wien? Die Wälder hat- Poesie an- und ausgefüllte Kultur. ten es Friedell zwar angetan. Schön waren sie und genussvoll, aber da war die Beobachtung, dass »neben Die Wiener Kaffeehaus-Kultur war sein Beobachtungs- jedem Baum eine sauber geschichtete Lage Hölzer« feld und seine kommunikative Mitte. Von hier wurde liegt und der Verdacht, dass »aus diesen Hölzern die Wien zur Welt und alle Welt erhielt etwas merkwürdig Bäume gemacht werden.« Ein Hieb gegen den preußi- Wienerisches. Der eigenwillige impressionistische schen Ordnungssinn und ein Stück Kulturkritik aus Charme des Fin de siècle und des rankenden Jugend- Wiener Sicht. Der österreichischen Hauptstadt gehör- stils färbte das scharf glänzende Porträt der Stadt te dagegen seine zwiespältige, aber unerschütterliche ebenso wie die kulturkritische Ausleuchtung der See- Sympathie. Dem gebürtigen Wiener blieb es unerfind- lenlandschaft ihrer Bewohner, die bei Friedell den lich, wie man auf Dauer in einer anderen Stadt leben wohl kalkulierten Eindruck erwecken, sie seien mit all kann, obwohl Wien um die und in den Jahrzehnten ihren Ängsten, Irritationen, mit Aggressivität in die nach der Jahrhundertwende der direkte Gegensatz zur k.u.k. Monarchie verschlagene Weltbürger oder, spie- Moderne war. Die Stadt besaß für ihn etwas Barockes. gelverkehrt, dieses verschlafene Kaisertum sei para- Sie war unpoetisch und allem wirklich Kreativen feind- dox der Hort der Moderne. Im changierenden Halb- lich gesonnen: Wiens Poesie lag für ihn in den Steinen dunkel saßen die Wiener Literaten Polgar, Alfred Loos, und Bäumen, während die Menschen angefressen sei- Altenberg, , im Kaffeehaus, en von einer »giftigen, entstellenden Krankheit«, in ihrer Mitte Friedell, der »Literatenfreund« (wie er einem Mangel an Idealismus, »der lebensgefährlichs- einmal als Berufsbezeichnung angegeben hat), mit ten aller Epidemien«, an der die Stadt langsam Pfeife, Wein oder Cognac (Abb. 4 und 5). Den Berliner zugrunde gehe. Sein Freund Polgar hat von der Fäul- zwingt, nach einem Wort von Polgar, das Gesetz der nis der Farben gesprochen, die sie zu eigenartigem Trägheit, rührig zu sein, der Wiener kultiviert seine Leuchten bringe. Von diesem Licht wurde Friedell affi- Trägheit im Nichtstun, im Sich-Festhalten an der Kaf- ziert; dem Dichter komme es zu, darin die Möglichkeit feetasse und der dazu gehörenden Tageszeitung. Frie- einer anderen Wirklichkeit zu entdecken oder in sie dell, selbst als Literat, hat diesen Schein durchschaut: hineinzusehen: Er verwandelt mit seinem Blick die »Er bemerkt nichts von der tiefen Rückständigkeit, Realität. Es sei verhängnisvoll zu glauben, der Dichter Verlogenheit und Denkunfähigkeit, die ihn umgibt«, er sei von der Realität abhängig: »Im Gegenteil: die Rea- sah die Szenerie als ein Stück der Moderne, als einen lität ist ein Werk des Dichters. So wie wir die Dinge ihrer zentralen Akte. Die um ihn herum sitzende Bohe- sehen, so sind sie.« So sah sich Friedell seine Stadt me wurde unter seinem Blick zum Geschöpf der Imagi- und hat sie für sich als Lebens-Mittelpunkt entworfen nation, die ihr eine ästhetische Gloriole verliehen und und zum kryptischen Zentrum seiner grundlegenden zum Medium einer Kulturkritik gemacht hat, an der Kulturkritik der Moderne gemacht. Aus der Sicht einer virulent wurde, wie sehr die Moderne ihre Melodie

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veranlasst, denn Friedell hatte in einer Selbstanzeige die Leser gewarnt, er sei bemüht gewesen, ein mög- lichst »unwissenschaftliches« Buch zu schreiben, frei- lich gemäß der ironischen Devise, die ganze Weltge- schichte sei im Grunde nur »ein großer Tratsch« und bestehe aus Klatschgeschichten, Legenden und Anek- doten. Er habe diese lediglich als legitim behandelt und als würdigen Stoff für den Historiker. Darin bestünde die Differenz zu den gängigen Methoden. Eine zionistische Zeitschrift hat ihre Besprechung daher betitelt: Nebbich als Kulturhistoriker. In der Beutungsspanne des jiddischen »nebbich« liegen Abschätzigkeit und Bewunderung dicht beieinander: Ein ›Niemand‹ in der Gilde der Kulturhistoriker liefer- te einen großartigen Abriss der Kulturgeschichte, zunächst die der Neuzeit und einige Jahre später dazu eine Kulturgeschichte des Altertums. Ägypten und Vor- derasien (1936, Zürich) und postum erschien die Fragment gebliebene Kulturgeschichte Griechenlands (1940, Oslo).

Was so larmoyant und selbstironisch angekündigt wur- de, so harmlos wie es klingt, war es nicht gemeint. Friedell wusste sehr wohl um den sprachlichen und inhaltlichen Sprengstoff seiner historischen Betrach- tungs- und Darstellungsweise. Sie besaß jenen esprit (und besitzt ihn bis heute), der für die Franzosen geistreich ist und jene kulturpsychologische Schärfe, die sich seit dem von ihm hoch geschätzten und ideell ausgebeuteten Friedrich Nietzsche mit der Vorstellung einer ›fröhlichen Wissenschaft‹ verbindet: »Jede Krisis Abb. 5 hat ihre Psychosen […] ein Wink für Kulturhistori- Egon Friedell an seinem 50. Geburtstag ker.« Was diesen angeht, muss es die Ganzheitlichkeit (Annemarie Kotab, Friedell-Archiv) jeder Kultur sein, die Aktualität des Vergangenen und dessen Beziehung zum Gegenwärtigen, ein auf die anachronistisch und zugleich ambivalent nicht nur in Gegenwart und in die Zukunft gerichteter Blick. Wir Berlin, sondern ebenso in Wien gespielt hat. haben nur eine unteilbare Gegenwart, von der Zukunft ausgehen wird. Die Frage muss sein, »haben wir heute Kulturgeschichte mit Esprit schon die Kultur, die unserer Zeit entspricht«, alles Zwanzig Jahre hat Friedell für seine dreibändige Kul- andere galt ihm als »Selbstbetrug«. Nur von diesem turgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Standort aus kann man in die Vergangenheiten zurück Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Welt- steigen. Nur so öffnet man den Blick in ihre Einzigar- krieg recherchiert, die zwischen 1927 und 1931 tigkeit. So war ihm die Antike nicht antik, sondern eine erschienen ist. Für viele unerwartet, überraschend quicklebendige Kultur. Historischen Phantomen nach- und vor allem begleitet von einer nicht geringen Skep- zujagen, wie »Athen«, »Florenz«, »Friedrich dem sis. Er tat gern das Unerwartete. Aber der Feuilleto- Großen« oder »Napoleon« sah er als reine »Zeitver- nist als Historiker, der Parodist als Kenner der Welt- schwendung«. Ein ordentlicher Seitenhieb gegen jeden historie? Ging das nicht zu weit? Der C. H. Beck-Verlag akademischen Geschichtskonservatismus und mit glei- München kündigte das Buch mit der Bemerkung an, es cher Konsequenz gegen die Übermacht des zeitgenös- biete mit »einem völlig neuen Gesichtspunkt in glän- sischen Pragmatismus und Positivismus, die in den zender Dialektik und fast dramatischer Spannung an Fakten der Historie, sie vermeintlich hütend, sich ein- einer Fülle farbiger Bilder den Schicksalsweg der genistet haben. »Verlebendigung« war ihm, in der Spur europäischen Gesamtkultur« in einem »tief seriösen Nietzsches, der Ansporn für seine und das erklärte Werk«. Zu letzterer Einlassung sah sich der Verlag Ziel seiner Kulturgeschichte. Als brillanter Erzählmeis-

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ter erwies er sich dabei immer dann, wenn es um The- der die Gabe hätte, das Netzhautbild zu rekonstru- menkreise ging, die seine Akademiker-Kollegen ihrer ieren, das eine Waldlandschaft im Auge eines Athe- Nichtachtung ausgesetzt hatten, etwa: Wo bewahrten ners zur Zeit des Perikles abgezeichnet hat, und dann die Griechen ihr Geld auf, wie rasierten sie sich, von das Netzhautbild, das ein Kreuzritter des Mittelalters welchen Gerüchen waren sie umgeben, welche Vorlie- von derselben Waldlandschaft empfing, es würden ben hatten sie bei Farben, was taten sie auf der viel zwei ganz verschiedene Gemälde sein; und wenn wir gerühmten Agora wirklich. Die große Weltkultur dann selber hingingen und den Wald anblickten, wir besteht aus den vielen kleinen Alltäglichkeiten, und würden weder das eine noch das andere Bild in ihm Friedell fühlte sich als ihr Erzählmeister (Karl Kraus wieder erkennen«, die ganze Kulturgeschichte wert. hat es »prägnante Weitschweifigkeit« genannt), dem Darin ist Friedell unerledigt modern. Am Beginn des die kenntlich machende Übertreibung kulturhistori- 21. Jahrhunderts hütet man sich eher vor umfassen- Prof. Dr. Renate Reschke sches und kritisches Handwerkszeug war: nicht als den Kulturgeschichten: ein Grund mehr, Egon Friedell Jg. 1944. Studium der Kul- Zeichner pathetischer Prunkgemälde, Korrektor, eine Hommage zu widmen. turwissenschaft, Germanis- Moralapostel oder nachträglicher Schlachtengewin- tik und Philosophie an der ner. Mit kaum noch selbstverständlichem enzyklopädi- Humboldt-Universität zu Berlin. Promotion 1972 schem Wissen und Sprachkenntnissen bewegte sich (Hölderlins Ästhetik), Habili- Friedell souverän in den Jahrtausenden europäischer tation 1983 (Nietzsches Kul- und orientalischer Kulturgeschichte und weckte sie zu turkritik und Ästhetik), seit einem Leben, das dem Leser die erhellende Illusion 1993 Professur für die gibt, Anteil zu haben am Geschehen, sei es im antiken Geschichte des ästhetischen Ägypten und Griechenland, im Florenz der Pestepide- Denkens. mie, im Versailles Ludwigs XIV., in der nachbismarck- Lehrschwerpunkte: Antike Ästhetik, europäische schen Weltpolitik oder in den Laboratorien der For- Ästhetik (17.–19. Jahrhun- schung für die Industrien im 19. Jahrhundert. Ineinan- dert). der gewoben mit den Diskursen der geistigen Kultur, Forschungsschwerpunkte: erscheinen die Ereignisse als Folie für die Seelenzu- Ästhetik des deutschen Idea- stände der handelnden Akteure, für den »Zeitgeist«, in lismus, Hölderlinforschung, dem Friedell das bedeutendste Symptom jeder Kultur Nietzscheforschung, Heraus- gesehen hat, weil in ihm ihr Unverwechselbares und geberin (zus. mit Volker Ger- hardt): Nietzscheforschung. Einmaliges eingeschrieben ist. Dass jeder Zeitgeist, Jahrbuch der Nietzsche- jede Kultur ihren Genius besitze, der ihn/sie kongenial Gesellschaft. zum Ausdruck bringe, daran bestand kein Zweifel. So wurde die Kulturgeschichte auch zur Geschichte großer Geister. In ihnen kulminieren alle Tendenzen Kontakt einer Epoche, individualisiert sich ein Kulturmuster in Humboldt-Universität zu Berlin konkreten Persönlichkeiten. So wurde allen »Schub- Philosophische Fakultät III fächermethoden« eine rigorose Absage erteilt. Kultur- Institut für Kultur- und geschichte lebt von der Symbiose, vom Diebstahl, vom Kunstwissenschaften Wildern, von gern aufgenommenen Blickerweiterungen Seminar für Ästhetik in alle Richtungen: Ökonomie, Psychologie, Physiolo- Sitz: Sophienstr. 22–22a gie, Philosophie, Technikgeschichte, Ästhetik. Auf die- D–10178 Berlin se Weise werde sie zu einer Art »Pantheon der Wis- Tel.: +49 30 2093–8207 Fax: +49 30 2093–8256 senschaften« geadelt. E-Mail: renate.reschke@ rz.hu-berlin.de Friedell nahm vorweg und praktizierte, was gegen das Jahrtausendende durch diverse turns angestrengt in die Diskurse gedrungen ist und noch drängt. Archäolo- gie(n) des Wissens, Erinnerungs- und Wissenstechni- ken, Kulturtechniken des Alltags, Historie als Narrati- on und Projektion, Disziplintechnologien und Wahr- nehmungsästhetiken: Ein Satz wie der, dass die »Geschichte der verschiedenen Arten des Sehens« die »Geschichte der Welt« sei, ist, nimmt man die Erläute- rung zum Exempel hinzu: »Wenn ein Zauberer käme,

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