Was man leider nur auf dem Lande findet

Egon Friedell, Kabarettist, Schauspieler, Kritiker, Schriftsteller, Kulturphilosoph, Hundefreund und Lebemann, verschlug es in den 1930er-Jahren sommers nach Kufstein. Sein idyllisch gelegenes Landhaus wurde ihm, dem

Stadtmenschen, zum Refugium. Von Susanne Gurschler

Der letzte Auftritt war kurz und dramatisch. Egon Notizen gemacht, das Exposé zum Alexanderroman Friedell, der sich schon für die Nachtruhe zurechtge- war bereits angelegt; 500 Seiten stark sollte er werden, macht hatte, sah die zwei SA-Männer, die am Eingang 300 Personen auftreten. zur Wohnung standen und nach dem „Jud Friedell“ Heute erinnert in Kufstein nur noch wenig an ihn: gefragt hatten. Er ging zum Fenster, öffnete es, hiev- ein kurzer Weg im Stadtteil Zell, eine Büste im dritten te seinen massigen Körper auf das Fensterbrett und Stock des Rathauses, im Stadtarchiv ein Ordner mit sprang. Er soll, so erzählte eine Nachbarin, die den Unterlagen und Tonaufzeichnungen, die der Autor und Sturz beobachtet hatte, einem vorbeikommenden Pas- Regisseur Klaus Peter Dencker in den 1970er-Jahren santen noch höflich zugerufen haben, zur Seite zu tre- für ein Filmporträt und ein Buch über Friedell gesam- ten. Dann habe er sich kopfüber fallen lassen. melt hat, und das Häuschen, in dem Friedell wohnte. Freunde und Wegbegleiter wie die Autoren Franz Nichts, was einem die Person Friedell näherbrächte Theodor Csokor und oder die Mäzenin oder sein Verhältnis zu Kufstein erklärte. und Journalistin hatten ihn in den Tagen vor seinem Sprung in den Tod noch gebeten, ja Hätte Egon Friedell sich seinen letzten Auftritt aussu- gedrängt, das Land zu verlassen. Doch Friedell wollte chen können, die Wahl wäre wohl auf Goethe gefallen. nicht. Er konnte nicht. Er konnte seine riesige Biblio- 30 Jahre hindurch verkörperte er immer wieder diese thek, seine Bücher voller Marginalien in kleiner, enger Figur in der gleichnamigen „Groteske in zwei Bildern“, Schrift, voller Markierungen und Querverweise, nicht verfasst gemeinsam mit Alfred Polgar, mit dem er über zurücklassen – sein ganzer Geist, das Surrogat seiner lange Zeit ein kongeniales Autorenduo bildete, Kaba- Beschäftigung mit Geschichte, mit Philosophie, mit rett- und Bühnentexte schrieb und bearbeitete, bevor Physik, mit Kunst und Kultur, sein ganzes denkendes er ihn Mitte der 1920er-Jahre durch Hanns Sassmann Ich fand sich in der Gentzgasse 7. Alles, was er war. ersetzte. Sassmann war kein so hervorragender Au- In einem anderen Land wäre er doch nur ein „Schnor- tor wie Polgar, aber er hatte ein gutes Gespür dafür, rer“, eine „lächerliche Figur“, sagte er wenige Tage vor was ankommt – die sprachliche Prägnanz, die pfiffigen seinem Selbstmord zum Schriftsteller Carl Zuckmayer. Wendungen steuerte ohnehin Friedell bei. Friedell ging es nicht ums Überleben, es ging ihm um Erstmals als Goethe auf der Bühne stand Friedell in ein Leben zu seinen Bedingungen. der Silvesternacht 1907/08 im Wiener „Fle- Und er war noch voller Pläne gewesen. In Kufstein, wo dermaus“. Der Inhalt des Sketches ist rasch erzählt: Ein er seit 1932 die Sommermonate verbrachte, hatte er etwas verhuschter Prüfungskandidat schafft es nicht, den zweiten Band seiner „Kulturgeschichte des Alter- sich die vielen Daten aus Leben und Werk von Goethe tums“ bis auf das letzte Kapitel abgeschlossen. Danach zu merken. Da erscheint ihm dieser selbst und bietet wollte er eine Geschichte der Philosophie schreiben an, das Examen für den Schüler zu bestreiten – aber und einen „Alexanderroman“. „Man sollte überhaupt siehe da, Goethe versagt bei konkreten Angaben zu nur Sachen machen, die sich ganz von selbst schreiben, seiner eigenen Biografie und fällt durch. wie nach Diktat. Deshalb wird die Geschichte der Phi- Es muss Friedell in jungen Jahren ein großer Spaß ge- losophie gut werden, der Alexanderroman hingegen wesen sein, in dieser Parodie auf reines Faktenwissen schlecht, weil er mir Mühe machen wird“, schrieb er als Deutschlands bedeutendster Dichter auf der Bühne Ende September 1937 an die Schauspielerin Lina Loos. zu stehen und den Ansprüchen des Professors nicht Für die Geschichte der Philosophie hatte er sich schon zu genügen. Immerhin brauchte er selbst vier Anläufe, um die Reifeprüfung zu schaffen, war bereits 21 Jahre zuletzt darin, dass er gern in die Küche kam, um ihr alt, als es ihm gelang. Das Studium der Philosophie einen neuen Text vorzulesen. Er nannte das, wenig und Germanistik verlief dafür ohne Probleme und er schmeichelhaft, die „Trottelprobe“. „Frau Hermine“ dissertierte über als Philosoph. störte sich nicht daran. Auch die Gerüchte, er sei der Er galt als hinreißender Unterhalter, auf der Bühne und Vater ihrer Tochter Herma, kümmerten sie wenig. Bis im Privaten. Seine Darbietungen und Vorträge gestal- ans Lebensende waren die beiden per Sie. tete er als eine Mischung aus „erlesener Geistigkeit, Das Arbeitszimmer mit angrenzender Bibliothek war profundem Wissen und raffinierter Schauspielkunst“, Friedells intellektuelles Refugium und eine von der un- wie es in einer zeitgenössischen Kritik heißt. Die Auf- nachgiebigen Hermine energisch verteidigte Bastion, tritte waren so angelegt, als spräche Friedell in intimem wenn er nicht gestört werden wollte – und das war, will Rahmen, plaudere mit Freunden im Kaffeehaus. man den Überlieferungen glauben, häufig der Fall. Eine Die Lokaltouren mit , Adolf Loos, Al- Tafel über der Sitzecke in der Schreibstube warnte Be- fred Polgar und anderen Freunden sind legendär und sucher zudem unmissverständlich: „Selbst die Auffor- anekdotenreich; sie brachten Friedell den Ruf ein, ein derung, noch zu bleiben, darf man nicht immer ernst Kaffeehausliterat zu sein, ein „Bonvivant“, ein Müßig- nehmen. AUCH SIE sind keine Ausnahme!“ gänger. Als Kabarettist füllte er Säle bald nicht mehr nur War Friedell auf der Bühne ein gefürchteter Improvisa- in Wien, sondern ebenso in , Hamburg oder teur, in seiner Schreibstube herrschten peinliche Ord- . In Berlin holte ihn als Untersu- nung und Ruhe. Alles hatte seinen Platz, das Schreib- chungsrichter in Tolstois „Der lebende Leichnam“ auf papier ebenso wie die Bleistifte. Hermine spitzte sie die Bühne, dann als Kaiser in George Bernard Shaws täglich und legte sie in der vorgegebenen Reihenfolge „Androklus und der Löwe“. Friedells zweite Karrie- auf die Ablage, sodass Friedell, ohne hinsehen zu müs- re als Schauspieler nahm ihren Lauf. Später wurde er sen, den richtigen Stift in die Hand nahm. Für Besu- Mitglied der Wiener Volksbühne, schließlich nahm ihn cher lagen eigenes Papier und eigene Stifte bereit – und Reinhardt in sein Ensemble auf. wehe, sie vergriffen sich. Früh begann Friedell, Artikel für Zeitungen zu schrei- Schwer in Einklang zu bringen war er, dieser häusliche ben, es folgten Essays und Satiren etwa für das „Neue Friedell mit jenem öffentlichen Friedell, der in Gesell- Wiener Journal“, für das er bis zu seinem Lebensen- schaft brillierte mit seiner Eloquenz, seinen spritzigen de arbeitete. Und er war als Autor tätig. Nach seiner Anekdoten und bissigen Kommentaren, der gern und Dissertation über Novalis, die nicht unter seinem üppig dem Alkohol zusprach, ganze Nächte durchze- Geburtsnamen Friedmann, sondern seinem Künst- chen konnte und trotzdem in aller Frühe wieder auf lernamen Friedell erschien, veröffentlichte er weitere den Beinen war. Hatte er die Korrespondenz gelesen, Bücher, darunter „Ecce Poeta“ anlässlich des 50. Ge- die wichtigen Briefe beantwortet, griff er zur Pfeife burtstags seines Freundes Altenberg, dem er in seinen und legte sich auf den Diwan, der beim Schreibtisch – frei erfundenen – „Altenberg-Anekdoten“ bereits ein stand. Beim Schreiben hielt er es mit den Menschen humorig-bissiges Denkmal gesetzt hatte. der Antike: Die wichtigen Dinge geschahen im Liegen. Dieser Zustand erzeuge „Milde, Objektivität, Gleich- Wie turbulent es in seinem Leben auch zuging, Frie- gewicht und Überlegenheit“, befand Friedell. Liegend dells Anker waren stets die Wohnung in der Gentzgasse verfasste er den Großteil seines bekanntesten Werkes, 7, die er, kaum volljährig, mit dem vom Vater geerbten die „Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der euro- Geld gekauft hatte – und seine Haushälterinnen. Marie päischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Gabriel war ihm nach der Trennung der Eltern und Weltkrieg“, mit dem er 1922 begann – und das ihn als dem frühen Tod des Vaters Mutterersatz geworden; Kulturwissenschafter und -philosoph etablieren sollte. in der Gentzgasse unterstützte sie bald Hermine Schi- Ein trockenes Geschichtswerk hätte Friedell nicht ent- mann, die bis zu seinem Tod den Haushalt führte und sprochen, ihm schwebte vor, Geschichte an Anekdoten die er testamentarisch zu seiner Erbin machte. aufzufädeln. Geschichte war ihm kein „Aschehaufen Die Bedeutung Schimanns für Friedell zeigt sich nicht für Historiker“, vielmehr ein „dramatisches Problem“, das, in logischer Folge, einer dramatischen Bearbei- kann – und will. Im Schnitt zwei Jahre brauchte Frie- tung bedurfte. Friedell war überzeugt, Details könnten dell für einen Band, parallel stand er auf der Bühne, in Ereignisse viel einprägsamer charakterisieren als die Wien und Berlin, bearbeitete Texte für Max Reinhardt. ausführlichste Schilderung. Anfang der 1930er-Jahre machte ihm sein Körper zu Bei allem Ernst, den Friedell dem behandelten Gegen- schaffen, zunächst eine Venenentzündung, dann eine stand entgegenbrachte, verpacken wollte er ihn an- Blinddarmoperation. Wohl ein Grund, warum Frie- sprechend und literarisch – „schwere Materie mit sehr dell sich immer stärker dem Schreiben zuwandte, ein leichter Hand geformt“, wie Polgar 1938 anerkennend anderer, dass die politischen Verhältnisse in Deutsch- konstatierte. Frühere Arbeiten und Essays dienten Frie- land sich wandelten und es dort für jüdische Künstler dell als Material für die Kulturgeschichte der Neuzeit immer schwieriger wurde. Jedenfalls arbeitete Friedell – in einer Art Modultechnik verwob er sie elegant mit schon an einer Kulturgeschichte des Altertums und das neuen Texten zu einem großen dreibändigen Werk. Bedürfnis, sich mehr der Schriftstellerei zu widmen, wurde stärker. 1925 sollte der erste Band im Berliner Ullstein Verlag erscheinen, doch der Verleger verzögerte die Ausliefe- Da kam es gerade recht, dass bei einem weinseligen rung, zu riskant schien es ihm plötzlich, ein kulturhis- Abend mit Sassmann und dem Münchner Schauspieler torisches Buch aus der Feder eines „Kabarettiers“ zu Gustav Waldau die Idee entstand, eine Künstlerkolonie veröffentlichen, und dazu noch ohne Bilder, wie Frie- zu gründen. Wie die drei auf Kufstein kamen, ist nicht dell gefordert hatte. Nach mehreren Anläufen gelang ganz klar. Denn einmal heißt es, Waldau habe dort ein es Friedell schließlich, im Münchner Verleger Heinrich Grundstück besessen, ein anderes Mal, sie wären bei Beck den Richtigen für sein Werk zu begeistern. Ob der Suche nach einem geeigneten in Kufstein fündig sich die Verantwortlichen im Ullstein Verlag später geworden. Eine dritte Variante besagt, ein Münchner wohl in jene Hand bissen, mit der sie Friedells Drängen Adeliger, der in Wien weilte, habe ihnen das Grund- abschlägig beantwortet hatten? Nun, Beck durfte ju- stück in Kufstein zum Kauf angeboten und die drei beln. Mit Friedell holte er sich neben , hätten zugeschlagen. Wie auch immer: Friedell war es dem Verfasser von „Der Untergang des Abendlandes“, ernst mit der Sache, und das, obwohl er Veränderungen und dem Arzt Albert Schweitzer einen weiteren Best- grundsätzlich scheute. Andererseits hatten ihm Büh- sellerautor ins Haus. nenengagements und die Kulturgeschichte ein kleines Schon der erste Band, er umfasste neben der Einlei- Vermögen eingebracht und er wollte es sicher anlegen. tung die Zeiträume Renaissance und Reformation und Erstaunen muss die Wahl des erklärten Stadtmenschen erschien 1927, machte Friedell zu einem berühmten trotzdem: Denn das Grundstück lag nicht im Stadtzen- Mann. Im Sommer 1928 folgte der zweite (Barock trum von Kufstein, sondern an einem Hügel neben der und Rokoko, Aufklärung und Revolution), der dritte Straße nach Thiersee, im zur Stadt gehörigen Dörfchen (Romantik und Liberalismus, Imperialismus und Im- Morsbach. Anfang der 1930er-Jahre war hier, salopp pressionismus, Epilog: „Sturz der Wirklichkeit“) 1931. ausgedrückt, Pampa – mit einer Aussicht „wie in einem Die Fachwelt mag die Nase gerümpft haben. Friedell erstklassigen Lubitschfilm“, wie Friedell meinte. erwies sich einmal mehr als „genialer Dilettant“ und servierte die große philosophische Gedankenwelt eines Heute findet sich am Hippbichl eine kleine Siedlung. Kant in ebenso appetitlichen Häppchen wie das All- Die Nordseite der Festung ist von hier aus zu sehen, tagsleben unterschiedlicher Kulturen. das Kaisergebirge, Kufsteins Hausberg, der Pendling, Einiges von dem, was Friedell ausgewählt und geschil- die Brandenberger, die Zillertaler Alpen, die Wiesen dert hat, mag überholt sein, einige seiner Einschät- und Felder des bäuerlich geprägten Morsbach. zungen muten heute befremdlich an, Antisemitismus Am Hippbichl also errichtete er seine Sommerresidenz, schimmert durch, seine Deutschtümelei irritiert. Die ein schlichtes Gebäude im Landhausstil, teilweise mit Sprache Friedells aber entfaltet bereits mit der ersten dunkel gebeiztem Holz verkleidet, mit Balkon, Terras- Seite eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen se und großzügigem Garten. Bis dahin war Friedell weder durch besondere Reisefreudigkeit aufgefallen Wobei er den alten Gewohnheiten, übermäßiges Pfei- noch durch besondere Liebe für Natur und Landschaft. ferauchen, hoher Alkoholkonsum und liegend schrei- Vielmehr sorgten Ortswechsel stets für Unbehagen bei ben, weiterhin frönte. Bei schönem Wetter arbeitete Friedell und Aufregung im Haus. er auf der Terrasse an seiner „Kulturgeschichte des Aufenthalte etwa am Grundlsee waren stets der Tat- Altertums“. Sie schreibe sich faktisch von alleine, ließ sache geschuldet gewesen, dass, wer es sich leisten Friedell Lina Loos wissen, für die er das Gästezimmer konnte, sommers der brütenden Hitze Wiens entfloh in ihrer Lieblingsfarbe Blau hatte streichen lassen, die und sich gleich ein paar Freunde dorthin einlud. Frie- ihn in Kufstein aber nie besuchen sollte. Dafür kamen dells geistiger Horizont mag groß gewesen sein, sein Franz Theodor Csokor und Berta Zuckerkandl mit ih- real geografischer war es nicht: Zwei Mal soll er nach ren Schreibmaschinen, deren Geklapper Friedell, der Ägypten gereist und beide Male enttäuscht zurückge- stets Papier und Bleistift bevorzugte, irritierte. kehrt sein. Die Wirklichkeit dort war ihm, im Vergleich In seinem neuen Werk ging Friedell nicht mehr chro- zur großen Geschichte des Landes, schnöde erschienen. nologisch vor, sondern handelte Zeiträume anhand Von anderen längeren Aufenthalten andernorts – außer von herausragenden Leistungen der Völker ab. Als zu Arbeitszwecken – ist nichts bekannt. Heinrich Beck das erste Kapitel zu lesen bekam, war Am 18. August 1932, dem Geburtstag des Kaisers, wie er begeistert: „Ihr Manuskript zur Kulturgeschichte Friedell notierte, bezog er sein neues Domizil. Die fol- Ägyptens habe ich mit größtem Genuß gelesen. Sie genden Jahre verbrachte er, je nach Witterungsverhält- haben m. E. mit diesem Kapitel eine ganz neue Form nissen, vom Frühsommer bis zum Herbst in Kufstein. der Darstellung gefunden. Diese übertrifft Ihre Kultur- Für seine Bücher ließ er eine eigene Transportkiste an- geschichte der Neuzeit an Gemeinverständlichkeit und fertigen, in die er diese systematisch einordnete. Volkstümlichkeit des Erzählertons, ohne deshalb auf Während Friedell schon emsig im Garten werkte, stand feine Lichter und Pikanterien der Gedankenführung auf Sassmanns Grundstück lange nur eine Bank. Ein irgendwie zu verzichten.“ Umstand, der Friedell dazu veranlasste, dem Freund In Kufstein bewegte sich Friedell offensichtlich in an- und Kollegen mit Klage zu drohen, wenn er nicht Ernst deren literarischen Dimensionen. Bereits mit der „Ju- machte mit seinen Bauplänen in Kufstein. Bald sollte dastragödie“, 1916 fertiggestellt, 1920 veröffentlicht Friedell die ruhigen Sommertage vermissen, denn er und mit mäßigem Erfolg 1923 im urauf- wurde von ungebetenen Gästen geradezu überrannt, geführt, hatte er literarische Ambitionen gezeigt, nun wie er meinte. Jedenfalls sah er sich veranlasst, Her- vollendete er mit „Die Rückkehr der Zeitmaschine“ mine ein „Rundschreiben an gefürchtete Gäste“ zu eine satirische Science-Fiction-Novelle. In Anlehnung diktieren, in dem sie diesen mitteilte, der Doktor sei an den 1895 erschienenen Roman „Die Zeitmaschine“ genötigt, einige Tage in München zu verbringen und des englischen Autors H. G. Wells verfasste er einen sie werde ihm bald folgen. Kurzum: In Kufstein weile Text, in dem er selbst als Protagonist auftritt und der niemand, es lohne sich nicht, zu kommen. Eine Bot- Zeitreisende nicht in die Zukunft, sondern in die Ver- schaft ganz nach dem Geschmack des Humoristen und gangenheit reisen will. Technische Schwierigkeiten nö- Spötters Friedell. tigen ihn aber, erst einmal in die Zukunft zu reisen. Das Originalmanuskript umfasste 63 einseitig mit Bleistift Ob er tatsächlich einer Kuh beim Kalben geholfen hat, beschriebene Blätter und ging 1935 von Kufstein aus wie er in einem Brief schreibt? Möglich wäre es. Er war wohl an mehrere Verlage. Erschienen ist die Novelle ein kräftiger Mann und konnte zupacken. Gut möglich allerdings erst 1946 beim Piper Verlag in München. aber, dass es sich um eine seiner Selbstinszenierungen Wie in Wien arbeitete Friedell überwiegend von den handelte, für die er bekannt war. Das Landleben er- Morgenstunden bis in den späten Vormittag. Dann wies sich jedenfalls auch in schriftstellerischer Hinsicht machte er einen Spaziergang oder ging schwimmen. als sehr produktiv. „Ich stehe um 5 Uhr auf, um den Ist er dem alten Thierseeweg gefolgt und dann links Abendfrieden abzukürzen. Arbeiten kann man hier abgezweigt oder über die Wiesen im Zickzack durch sehr gut“, schrieb er an Sassmann. den Mischwald spaziert? Eines jedenfalls ist sicher, sein Hund war stets dabei und sollte es das Schwimmver- Es ist dort das Reich des Antichrist ausgebrochen. Jede bot für Hunde damals schon gegeben haben, hat er es Regung von Noblesse, Frömmigkeit, Bildung, Vernunft bestimmt ignoriert. wird von einer Rotte verkommener Hausknechte auf Friedell bevorzugte aufgeweckte Terriermischlinge. die gehässigste und ordinärste Weise verfolgt.“ Der erste hieß Schnick und erlangte eine gewisse Be- 1936 erreichte Friedell in Kufstein die Nachricht, dass rühmtheit, weil sein Herrchen einem Radiojournalisten , anfangs Wegbegleiter, später geschätzter gegenüber ausplauderte, dass er sich bei vielen Themen Widersacher, verstorben war. Sie traf ihn schwer und lieber mit dem Vierbeiner austauschte als mit einem ließ ihn voller Wehmut an diejenigen denken, die ihn Zweibeiner; Alfred Polgar widmete dem eigenwilligen bereits verlassen hatten. „All jene Menschen aus jener Hund gar einen Nachruf. Zeit: Altenberg, Loos, mein Bruder Oscar usw. hatten Sein Nachfolger Schnack segnete 1933 das Zeitliche, etwas so Lebendiges, was die heutigen Menschen gar ihm folgten Schacki und Lumpi. Schnack dürfte noch nicht mehr haben, und ich kann bis heute noch nicht in den Genuss gekommen sein, im Pfrillsee zu plant- glauben, dass sie tot sind“, schrieb er an den Journa- schen, während das Herrchen seine Runden drehte. listen Walther Schneider. Wohl kaum eine Wanderung zum Pfrillsee, die ihren Die veränderten Verhältnisse hatten zusehends Aus- Abschluss nicht im „Edschlößl“ fand. Das heute in wirkungen auf Friedells Schaffen. Der erste Band der Privatbesitz befindliche Gebäude an der Straße nach „Kulturgeschichte des Altertums“ sollte nicht mehr, Thiersee war damals ein beliebtes Ausflugsgasthaus. wie vorgesehen, 1935 im Beck Verlag, sondern erst Neben Arkaden im Parterre, in denen die Gäste vor 1937 im Schweizer Helikon Verlag erscheinen. Ein Sonne und Wind geschützt speisen konnten, verfügte es schwerer Schlag für Friedell, mit dem Verbot seiner an der Ostseite über ein schmuckes Salettl samt Gast- Schriften im Feber 1938 brach der deutsche Markt garten mit schattenspendenden Bäumen. endgültig weg. Trotzdem kehrte er mit Zuversicht und Friedell war häufig gesehener, auffälliger Gast. Der be- voller Pläne nach Wien zurück. gnadete Selbstdarsteller machte sich gern den Spaß, als „Goethe“ sollte im Theater an der Wien auf die Bühne Gutsherr durch die Gegend zu flanieren, in Reithosen kommen, es galt Friedells 60. Geburtstag zu feiern. und -stiefeln, ein Monokel ans Auge geklemmt. Trink- Am 16. März 1938, wenige Tage nachdem die Nazis in fest wie er war, fand er rasch Gesinnungskollegen. Die Österreich einmarschiert waren, sprang Egon Friedell Abende konnten lang, alkoholselig und anekdoten- in den Tod. Er soll, im Fallen, an einem Herzinfarkt reich werden. Freundschaft schloss Friedell mit Annie gestorben sein. Hellensteiner, der „Wirtin auf der Ed“, der er neckische Briefe aus Wien schickte: „Ich sehne mich schon sehr Literatur: danach, endlich wieder einmal mit einem Menschen Egon Friedell: Friedell-Brevier. Aus Schriften und Nachlass. Aus- gewählt von Walther Schneider. Verlag Erwin Müller, Wien 1947 von geistigem Niveau reden zu können, wie Du es bist, Egon Friedell: Aphorismen und Briefe. Herausgegeben von Wal- was man leider nur auf dem Lande findet und küsse ther Schneider. Paul List Verlag, München 1961 Dich bis dahin herzlichst! Dein Egon.“ Egon Friedell: Selbstanzeige. Essays ab 1918. Herausgegeben und mit einem Nachwort DER GANZE FRIEDELL? von Heribert Illig, Löcker Verlag, Wien/München 1985 So arbeitsintensiv, friedlich und ausgelassen die Zeit in Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit: die Krisis der eu- Kufstein war, die politischen Ereignisse machten vor ropäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Weltkrieg. Mit Friedells Arkadien nicht Halt. einem Vorwort von Ulrich Weinzierl. Verlag C. H. Beck, München Die 1000-Mark-Sperre nötigten seinen Verleger und 2012 (3. Auflage) Egon Friedell: Die Rückkehr der Zeitmaschine. Phantastische No- ihn, ihre Treffen geradezu konspirativ zu planen. velle. Europäischer Literaturverlag, Berlin 2016 Dazu die düsteren politischen Entwicklungen: „Täg- Peter Haage: Der Partylöwe, der nur Bücher fraß. Egon Friedell lich bekomme ich schriftlich und von den wenigen und sein Kreis. Claassen Verlag, Hamburg/Düsseldorf 1971 Leuten, die man herüber läßt, aus Deutschland die de- Wolfgang Lorenz: Momente im Leben eines Ungewöhnlichen. Eine Biographie. Edition Raetia, Bozen 1994 primierendsten Nachrichten. Da ich das deutsche Volk Bernhard Viel: Egon Friedell. Der geniale Dilettant. Eine Biogra- nach wie vor liebe, geht mir das natürlich sehr nahe. phie. Verlag C. H. Beck, München 2013