Tages-Anzeiger – Donnerstag, 10. Dezember 2015 Schweiz 5

Vom Alibikandidaten zum klaren Sieger Bei seiner ersten Rede als Bundesrat war noch sichtlich nervös. Wenige Stunden später wirkte bereits die Kraft des neuen Amtes: Der Westschweizer trat souverän auf – allerdings blieb er ziemlich unverbindlich.

Doris Kleck seiner Regierungstätigkeit ebenso wenig vergessen wie das Tessin: «Ich habe nun Nein, es war kein Start-Ziel-Sieg wie bei die Verantwortung, alle Bürgerinnen oder . und Bürger zu repräsentieren.» Guy Parmelin, der Waadtländer Meister- Der Waadtländer redete in allen Lan- landwirt und Winzer, wurde anfänglich dessprachen – teils sehr holprig –, und belächelt. Ein Alibikandidat sei er, um eine gewisse Nervosität war an seinen das Image der SVP in der Westschweiz Händen abzulesen. Beim Auftritt vor den aufzupolieren. Ein Kandidat zu Unterhal- Medien wenige Stunden danach wirkte tungszwecken, weil am Schluss ohnehin bereits die Kraft des neuen Amtes. Er trat ein Deutschschweizer das Rennen um die wesentlich souveräner auf – aber auch Nachfolge von Eveline Widmer-Schlumpf unverbindlich. Seine Hauptbotschaft: Ich machen würde. In der Waadt sah man wechsle die Seite und bin nun Mitglied dies freilich anders. Kevin Grangier, der Regierung. Ich werde mich an das Generalsekretär der Kantonalsektion, Kollegialitätsprinzip halten. Und ich machte die Genfer Nationalrätin Céline handle im Interesse aller und werde alles Amadruz bereits im Januar zur Leiterin für den Zusammenhalt des Landes tun. der Kampagne «Parmelin in den Bundes- rat». Dass mit Alain Berset und Didier Gewählt dank Mitte-links Burkhalter bereits zwei Westschweizer Antworten auf konkrete Sachfragen wie im Gremium vertreten sind, sah man die Europa- oder die Landwirtschafts- nicht als Hindernis und präsentierte Par- politik blieb Parmelin schuldig. Ebenso melin konsequent als Vertreter des dyna- darauf, wie seine Wahl die SVP verän- mischen und wirtschaftsstarken Arc lé- dern werde: «Fragen Sie den Präsiden- manique, auch wenn seine bäuerliche ten.» Oder ob ihm die Ausschlussklausel Herkunft damit kontrastiert. zur Wahl verholfen habe: «Fragen Sie die Amadruz bereitete das Terrain in übrigen 245 Parlamentarier.» Vielleicht vor: Es sei darum gegangen, der SVP zu ja, vielleicht nein, schob er noch nach. erklären, dass die Partei in der West- Und es gebe Parteikollegen, welche die schweiz nur wachsen könne, wenn man Ausschlussklausel zur Diskussion stellen einen Bundesrat stelle – um der Stigma- wollten. Man solle doch mit diesen über das Thema reden. Was die Departe- Er habe, sagt Parmelin, mentsfrage angehe, sagte er, dass ihn das Innenministerium am meisten interes- nun die Verantwortung, siere. Parmelin – er präsidierte die letz- alle Bürgerinnen und ten zwei Jahre die Gesundheitskommis- Weibliche Entourage: Der Neugewählte posiert mit Schwiegermutter, Ehefrau, Schwester und Nichte (v. l.). Foto: Marcel Bieri (Keystone) sion – kennt dort die Dossiers am besten Bürger zu repräsentieren. und könnte rasch Spuren hinterlassen. Aber wie es sich für einen Neugewählten Waadtländer SVP gehört, betonte er seine Bereitschaft, alle tisierung ein Ende zu setzen, sagt sie. Der Departemente zu übernehmen. Auch die Berauscht vom Resultat Plan ging auf. Der 56-jährige Parmelin Finanzen traut er sich zu. mauserte sich allerdings erst in den letz- Parmelin hat die Wahl vor allem Mitte- Guy Parmelins Parteigänger lin-Anhänger andächtig von ihren Stüh- passende Antworten erdacht. Am Ende ten Tagen zum Favoriten. links zu verdanken, seine eigene Partei len. Die Hände verkrampfen sich um die entwickelten sie gar Szenarien für das Schon nach dem ersten Wahlgang stimmte mehrheitlich für den Zuger aus der Westschweiz Fähnchen mit Schweizer Kreuz und Wahlverhalten des Parlaments. Sie kal- zeichnete sich gestern ab: Dieses Amt Thomas Aeschi. Hinter vorgehaltener begossen den Wahlsieg Waadtländer Wappen. Viele scheinen kulierten drei Wahlgänge im besten und nimmt ihm niemand mehr. Der Freibur- Hand wurde Parmelin von Mitte-links- in Bern mit Chasselas. kurz den Atem anzuhalten. Dann endlich vier Wahlgänge im schlechtesten Fall. ger SVP-Ex-Bundesratskandidat Jean- Politikern als kleinstes Übel und verkündet Nationalratspräsidentin Vom Szenario von 90 Stimmen im ers- François Rime war der erste Gratulant, schwächster Kandidat des offiziellen Christa Markwalder: «Gewählt ist mit ten Wahlgang waren Parmelin und Gran- dann folgte Amadruz. Als Parmelin sei- Tickets bezeichnet. Bereits erzählt man Philippe Reichen 138 Stimmen – Guy Parmelin.» Jubel gier nicht einmal in den kühnsten Träu- ner Familie auf der Tribüne winkte, war sich unter den Berner Lauben, dass SP- Bern bricht aus, Hände und Fähnchen schnel- men ausgegangen. Sie rechneten mit seine Freude kurz spürbar. Bundesrat Alain Berset seinen neuen len in die Höhe. Die Resultate der Her- mindestens 50 und höchstens 73 Stim- Westschweizer Kollegen unter die Fitti- Es ist elf Uhr, «l’heure de l’apéro» im Ber- ausforderer Aeschi und Gobbi interessie- men. Nach dem ersten Wahlgang traute Teils holprige Ansprache che nehmen wird. Dazu passt, wie herz- ner Restaurant Ambassador ist im Gang. ren nicht mehr. Vom Resultat und vom Grangier der Sache noch nicht. «Im zwei- Parmelin wird nun der dritte Romand in lich der Freiburger Bundesrat Parmelin Kevin Grangier, Generalsekretär der einheimischen Weisswein berauscht, fal- ten muss er das Resultat halten. Er darf der Regierung sein. Es war ihm sehr wohl im Salon du Président begrüsste. SVP- Waadtländer SVP, hat sie offiziell aus- len sich die Parteigänger in die Arme. keine Stimmen verlieren», sagte er. Doch bewusst, was die Schweiz bei dieser un- Wahlkampfleiter Albert Rösti – hochzu- gerufen. Die rund 100 Parteigänger der es kam besser: Parmelin steigerte sich. gewöhnlichen Konstellation von einem frieden mit der Wahl des «geerdeten» Sektion, die nach Bern gereist waren, um Kandidatur lange vorbereitet Da wusste der Generalsekretär: «Einen Staatsmann erwartet. Zwar wertete er in Parmelin – glaubt indes, dass sich die Guy Parmelin zu unterstützen, schenken Generalsekretär Grangier, der während vierten Wahlgang wird es nicht geben.» seiner Ansprache vor der Bundesver- Mitte-links-Parteien noch wundern wer- sich grosszügig Weisswein aus. Man sechs Jahren in der SVP-Parteizentrale Die Frage war nur noch: Um wie viele sammlung die Wahl eines dritten Vertre- den: «Ich könnte Ihnen einiges aus den strotzt vor Zuversicht und gönnt sich in Bern arbeitete, überrascht nicht der Stimmen vermag Parmelin seinen härtes- ters der französischsprachigen Minder- Kommissionen erzählen. Seien Sie si- gute Tropfen. Der Chasselas in den Glä- Wahlausgang, aber die Entwicklung der ten Konkurrenten Thomas Aeschi zu dis- heit als besonderes Signal an die West- cher: Man sollte Parmelin nicht unter- sern stammt aus Epesses und Dézaley, Wahlgänge. Er und Guy Parmelin berei- tanzieren? Bei der Simulation war man schweiz. Doch er sagte auch: «Selbstver- schätzen.» Viel wurde im Vorfeld über den besten Anbauzonen des Lavaux. teten die Bundesratskandidatur wäh- von 5, höchstens 10 Stimmen Differenz ständlich sind meine Gedanken auch bei die Schwächen des neuen Bundesrates Die Stimmung ist ausgelassen. Und rend eines Jahres vor. Grangier sprach ausgegangen. Am Ende sind es 50 Stim- all jenen in der Ost- und der Zentral- diskutiert – allen voran über seine doch wird es im Restaurant auf einmal so gestern offen darüber: Man habe für Par- men. Doch Planspiele interessieren jetzt schweiz, die sich erneut einen Vertreter Sprachkenntnisse. Man könne sich im- still wie in der Kathedrale in Lausanne. melin ein persönliches und politisches niemanden mehr. Der Marsch durch die in der Regierung gewünscht hätten.» Er mer verbessern, sagte Parmelin. «Bewer- Vor dem Verlesen der Resultate des drit- Profil erstellt, Hearings simuliert und Berner Innenstadt wird für die SVP verstehe sie und werde sie im Rahmen ten Sie mich in einigen Monaten.» ten Wahlgangs erheben sich die Parme- sich gemeinste Journalistenfragen und Waadt zum Triumphzug. Die neue Dominanz der Welschen im Bundesrat

Mit der Wahl Parmelins ist die Es war eine Untertreibung. Mit der lerdings nicht. Als der Freisinnige Petit- Micheline Calmy-Rey) ebenfalls eine Teile der Westschweiz herrschten. Der Wahl des Waadtländers besteht die Lan- pierre, der wohl einflussreichste Schwei- rein welsche Dreiervertretung. Thurgauer SVP-Ständerat Roland Eberle Romandie in der Regierung desregierung nun aus drei Romands und zer Aussenminister der Nachkriegszeit, Und nun also schon wieder. Der sprach in der NZZ von der Fraktion der übervertreten – nicht zum vier Deutschschweizern. Das kam in der 1961 zurücktrat, wurde der Aargauer Waadtländer Parmelin, der Neuenbur- «Burgunder», die «zentralistischer und ersten Mal. Und doch ist die Geschichte des Bundesstaats höchst sel- sein Nachfolger. ger und der Freibur- etatistischer» dächten als «Alemannen». ten vor. Im Dezember 1959 (es war der Ähnlich kurz hatte zuvor die Zeit ge- ger Alain Berset repräsentieren das Vier- Aus Eberles kleinem Exkurs sprach der neue Konstellation einmalig. Tag, als auch die «Zauberformel» erst- dauert, in der die Deutschschweizer im tel der Schweizer Bevölkerung, das nun Frust über die fehlende Vertretung der mals zustande kam) schaffte der Frei- Bundesrat sogar in der Minderheit wa- in der Landesregierung deutlich über- Ostschweiz, die sich nun mit dem Zür- Alan Cassidy burger CVP-Politiker Jean Bourgknecht ren. Von 1917 bis 1919 sassen ein Tessiner vertreten ist. Macht nichts, sagt der Frei- cher begnügen muss (über die Wahl in den Bundesrat. Er löste dort (), zwei Romands (Ca- burger Historiker Bernhard Altermatt, die notorisch vernachlässigte Region Ba- Es war, natürlich, der Tag der Romands. den Zuger ab. In der Regie- mille Decoppet, ) und der der zur Mehrsprachigkeit der Schweiz sel redet schon gar niemand mehr). Als Guy Parmelin an das Rednerpult rung bildete Bourgknecht mit den am- erste Rätoromane, , in der forscht: «Die Übervertretung einer Min- Und neu ist schliesslich, dass die trat, um die Annahme seiner Wahl zu er- tierenden Freisinnigen Regierung. Ihm kam in den Wirren des derheit ist nicht gravierend. Viel proble- Waadt erstmals seit 1998 wieder einen klären, folgten zuerst ziemlich schnell (Neuenburg) und (Waadt) Ersten Weltkriegs die Rolle zu, zwischen matischer ist, dass mit den Italienisch- Bundesrat stellt. Mit dem Rücktritt von die Sätze, die an seinen Landesteil ge- nun ein französischsprachiges Trio. den lateinisch- und deutschsprachigen sprachigen eine Sprachgruppe weiter- Jean-Pascal Delamuraz endete damals richtet waren. Ein starkes Signal an die Landesteilen zu vermitteln. hin benachteiligt bleibt.» eine stolze Tradition von freisinnigen Westschweizer sei seine Wahl, sagte Par- Deutschschweizer Minderheit Beide Beispiele sind die Ausnahme Bundesräten aus dem Kanton. In den melin, ein Signal, das in seiner Symbol- In der Romandie war der Jubel gross. von der Regel, die lautet: Romands und Burgunder Renaissance Zeiten, als die FDP noch drei Bundesräte kraft «ausserordentlich geschätzt» Noch erinnerte man sich an die Debat- Tessiner sind gemeinsam mit drei, oft Das Besondere an der künftigen Konstel- hatte, ging ein Sitz traditionell an einen werde. Allerdings wusste da Parmelin ten der 30er-Jahre: Um den Frankofo- aber auch nur mit zwei Bundesräten ver- lation des Bundesrats ist, dass sich auch Zürcher oder einen Waadtländer Frei- wohl selbst, dass das nicht alle so sehen. nen eine ständige Dreiervertretung zu treten. Eine weitere, aktuellere Abwei- die Deutschschweizer Vertreter geo- sinnigen. Alleine die Waadtländer FDP Nur wenige Stunden später schob der sichern, hatte man über einen Bundes- chung liesse sich hinzufügen: Als der grafisch und (wie manche meinen) kul- brachte so 14 Bundesräte hervor. Nun ist Neugewählte in seiner ersten Pressekon- rat mit neun Sitzen gestritten. Lange Freiburger 1999 Bundesrat turell verorten lassen. Zwei der vier es die SVP, die dank ihrem ersten West- ferenz nach: «Der Bundesrat neigt nun währte die gemeinsame Amtszeit Bourg- wurde, bildete er dort mit Pascal Cou- Deutschschweizer sind aus dem Kanton schweizer Regierungsmitglied vielleicht vielleicht ein wenig sehr nach Westen.» knechts, Petitpierres und Chaudets al- chepin und (und nach ihr: Bern, dessen Herren einst über grosse eine neue Tradition begründet.