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Sendung vom 25.06.1998, 20.15 Uhr

Edzard Reuter Ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Daimler Benz AG im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Herzlich willkommen bei Alpha-Forum. Zu Gast ist heute Edzard Reuter, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Daimler-Benz AG. Herzlich willkommen, Herr Reuter. Reuter: Guten Abend. Reuß: Herr Reuter, Sie waren über 30 Jahre Mitarbeiter bei Daimler-Benz, davon knapp 20 Jahre im Vorstand und acht Jahre Vorstandsvorsitzender. Damit waren Sie einer der mächtigsten Industriemanager Deutschlands und Chef von immerhin 300 000 Mitarbeitern. Sie selbst haben einmal gesagt, es sei schwer von einem rennenden Tiger herunterzuspringen. 1995 sind Sie gesprungen, seitdem sind Sie Privatier. Darf ich im Bild bleiben? Wie war der Sprung oder anders formuliert, wie war die Landung? Reuter: Die Landung war einigermaßen angenehm, aber nicht so ganz ohne Gefahren für einen selbst. Es ist ja die Rede davon, wie man ein solches Berufsleben erlebt und welche Auswirkungen das auf die eigene Person hat. Da ist natürlich der Sprung aus einem aktiven Leben heraus, das jeden Tag mit einer ungeheuren Verantwortung belastet ist, schon ein Einschnitt im Leben, den man spürt. Reuß: Sie sind am 16. Februar 1928 in als Sohn des damaligen Berliner Stadtrates geboren, der später im Nachkriegsdeutschland einer der bedeutendsten Politiker werden sollte. Zunächst einmal ganz allgemein gefragt: War es für Sie eher ein Segen, Sohn eines solchen Vaters zu sein, oder war es manchmal auch eine innere, selbst auferlegte Last? Haben Sie sich manchmal selbst an ihm gemessen? Reuter: Nein, ich glaube nicht, daß ich das je getan habe. Zumindest nicht in dem Sinn, daß ich mich daran gemessen habe, welche Erfolge er gehabt hat, wie er Entscheidungen getroffen hätte und wie ich es dann jeweils getan habe – das nicht. Aber mein Vater ist natürlich für mein ganzes Leben genauso wie übrigens meine Mutter eine prägende Gestalt gewesen. Sie haben mir Werte vorgelebt, von denen ich meine, daß sie für mich bis heute Gültigkeit behalten haben. Deswegen sind das natürlich auch Maßstäbe. Aber das sind nicht die Maßstäbe des Vaters im psychiatrischen Sinn, sondern Wertmaßstäbe, die gültig geblieben sind. Und an denen messe ich mich bis heute gerne. Reuß: Ihr Vater Ernst Reuter wurde 1931 zum Oberbürgermeister der Stadt Magdeburg gewählt, ein Jahr später kam er in den Reichstag. Er konnte beide Mandate leider nicht lange ausüben. Nach der Machtübernahme Hitlers wurde er von Anbeginn an verfolgt, er wurde aus seinem Büro geworfen, er wurde beurlaubt, später auch verhaftet. Er wurde zweimal ins Konzentrationslager Lichtenberg gebracht und dort eingesperrt. Wie haben Sie das als Kind erlebt, diese schwere Zeit? Haben Sie das schon bewußt erlebt? Sie waren damals fünf, sechs Jahre alt. Reuter: Es war eigentlich der Anbeginn dessen, was ich in langen Jahren des Zusammenlebens mit meinen Eltern als eine auch politische Ausprägung meines eigenen Bewußtseins empfunden habe. Ich war in der Tat 1933 fünf Jahre alt. Ich erinnere mich noch wie heute an das erste politische Erlebnis, als wir als Kinder auf der Straße gespielt haben. Wir sind an irgendeinem Bauzaun vorbeigelaufen, an dem ein Plakat oder so etwas Ähnliches herabhing. Ich habe es abgerissen und meine Freunde haben dasselbe getan. Der Unterschied war nur, daß ungefähr eine halbe Stunde später ein Polizeibeamter bei uns zu Hause erschien und meine Mutter darauf aufmerksam gemacht hat, daß es ein Wahlplakat der NSDAP und das Abreißen deswegen fast ein Staatsvergehen gewesen sei. Das war meine erste Begegnung. Meine zweite Begegnung bestand darin, daß ich miterleben mußte, wie mein Vater abgeholt wurde. Das zweite Mal, als er ins KZ verbracht wurde, wußte ich schon, was das bedeutete. Bei diesem zweiten Mal erschienen die fast klassischen Figuren mit Ledermänteln und dunklen Hüten, die ihn morgens in aller Herrgottsfrühe abholten und zu einem Auto führten, in das er einsteigen mußte. Das habe ich selbst oben aus dem Fenster miterlebt. Das hat schon in diesem jungen Alter mein Verständnis von Politik mitgeprägt. Dann gab es bei der Einschulung 1934 das Erlebnis, daß ein Lehrer einen Erstkläßler am ersten Tag der Schule gleich einmal richtig schikanierte, indem er ihm Nachsitzen verordnete – und dieses ganz offensichtlich aus einer politischen Gesinnung heraus. Das sind alles so Dinge, die mich schon in sehr jungen Jahren geprägt haben und sich dann natürlich in dem gemeinsamen Leben in der Türkei fortgesetzt haben. Reuß: 1935 konnte eine weitere Verhaftung Ihres Vaters nicht ausgeschlossen werden, und Ihre Familie emigrierte in die Türkei. Warum gerade in die Türkei? Reuter: Das war mehr oder weniger Zufall. Mein Vater mußte, weil er ganz offensichtlich Gefahr lief, das dritte Mal ins Konzentrationslager abgeholt zu werden, was er dann sicher nicht mehr überlebt hätte, bei Nacht und Nebel Deutschland verlassen. Er ging zunächst nach London. Er hat dann wie viele politische Emigranten in London versucht, den dortigen politisch Verantwortlichen zu erklären, was sich in Deutschland wirklich abspielt. Niemand wollte das aber eigentlich wahrhaben. Das führte dann eben auch dazu, daß er in London und in England keine vernünftige Arbeit finden konnte. Der glückliche Zufall hat es ergeben, daß die Türkei unter der Regierung von Kemal Atatürk sich in der damaligen Zeit entschlossen hatte, das ganze Land zu modernisieren und nach Westen auszurichten. Dafür suchten sie damals auf der einen Seite Universitätsprofessoren und auf der anderen Seite Spezialisten für die Kommunalverwaltung, die im Westen Erfahrungen gesammelt hatten: "Experten" wie man das dort nannte. Ein politischer Bekannter meines Vaters, der schon in Ankara war, vermittelte ihm dann diese Anstellung als Berater beim türkischen Wirtschaftsministerium. So ist das gekommen. Am Schluß stellte sich natürlich heraus, daß es ein ungeheurer Glücksfall gewesen war, daß wir gerade in diesem Land dann fast 12 Jahre in Frieden leben konnten – mit vielen Ängsten allerdings. Reuß: Denn auch in der Türkei war ja Ihre Familie nicht ganz sicher: Die Aufenthaltserlaubnis mußte ständig erneuert werden. Gab es da nicht auch Ängste, die Sie als Kind belastet haben? Reuter: Oh ja, natürlich. Das waren zweierlei Dinge. Das eine war klar: Zunächst einmal lief der Paß meiner Eltern und damit auch die Anstellung, das war aneinander gekoppelt, auf drei Jahre, d. h. bis zum Jahre 1938. Von da ab mußte der Paß und, damit verbunden, die Aufenthaltserlaubnis jährlich wieder neu verlängert werden. Das heißt, wir wußten von Jahr zu Jahr nicht, ob das geschehen würde oder ob die Ausbürgerung erfolgen könnte – eine Ausbürgerung mit völlig unvorhersehbaren Folgen. Hinterher, nach dem Krieg, hat sich herausgestellt, daß es tatsächlich verschiedentlich Initiativen von der Gestapo, also von der geheimen Staatspolizei, gegeben hatte, die Ausbürgerung meiner Eltern zu veranlassen, daß sich aber immer das Auswärtige Amt und die deutsche Botschaft in der Türkei dagegen mit dem Argument ausgesprochen haben: "Ihr erzeugt ein falsches und schlechtes Bild von Deutschland, wenn ihr anerkannte Experten, die etwas für dieses Land tun, einfach ausbürgern lassen wollt und einem ungewissen Schicksal ausliefert." Das war das Argument des Botschafters von Papen in der Türkei. Das ist uns zugute gekommen. Aber die Spannung war natürlich Jahr um Jahr wieder da. Zweitens gab es dann natürlich im weiteren Verlauf des Kriegs auch noch die Angst wegen des deutschen Vormarsches, der die deutschen Truppen schließlich bis an die türkisch-bulgarische Grenze gebracht hatte. Keiner wußte, ob nicht als nächster Schritt auch die Türkei erobert werden würde, oder sie sich möglicherweise unter Zwang den Deutschen anschließen müßte. Das hätte natürlich auch ein gewaltiges Risiko für Leib und Leben meiner Eltern bedeutet. Reuß: Sie besuchten in der Türkei ja keine Schule, sondern hatten Privatunterricht. Wie sah das denn konkret aus? Reuter: Ja, das ist eine Weichenstellung meines Lebens, die man wahrscheinlich kaum erklären kann. Diese deutsche Lehrerin war ein Phänomen, eine phantastische Frau. Sie war eine deutsche Studienrätin, stammte aus Augsburg, hatte einen Türken geheiratet und lebte in Ankara. Sie hatte Mathematik, Physik und außerdem Französisch und Geographie studiert. Den gesamten Schulunterricht, den ich je erhalten habe, habe ich von ihr bekommen – zusammen mit einigen anderen Emigrantenkindern, einmal vier, einmal fünf, einmal drei andere Kinder. Wir wurden in Naturwissenschaften, Sprachen, Geschichte und Geographie unterrichtet: All das habe ich bei ihr gelernt. Sie war ein absolutes Phänomen. In meinem Buch habe ich gesagt, sie war ein Glück meines Lebens. Reuß: Haben Sie denn eigentlich auch türkisch gelernt? Reuter: Natürlich. Ich war ja sieben Jahre alt, als wir in die Türkei gekommen sind. Das erste, was ein Kind macht, ist, sich auf der Straße Spielkameraden zu suchen. So ist das auch bei mir gewesen. Ich habe bei Frau Kudret, so hieß diese Lehrerin, natürlich die Grundzüge der türkischen Grammatik gelernt - und zwar gleich von Anfang an. Alles andere habe ich dann beim Spielen auf der Straße durch den Kontakt mit anderen Kindern gelernt. Das hat dazu geführt, daß ich mich im Laufe der Jahre selbst manchmal im Verdacht hatte, daß ich schon besser türkisch als deutsch sprach. Nun, ich habe 50 Jahre nicht in der Türkei gelebt, so habe ich das leider wieder weitgehend vergessen. Aber wenn ich einige Tage in der Türkei bin, dann kommt es so langsam wieder ins Gedächtnis zurück. Reuß: Sie konnten nicht unmittelbar nach Kriegsende im Mai 1945 nach Deutschland zurück, obwohl ihr Vater darauf brannte, zurückzukehren und mitzuwirken am Wiederaufbau. Was waren die Ursachen dafür? Reuter: Es war, wie Sie sagen. Meine Eltern haben beide diese Nazijahre, diese Emigration in der Türkei, voller Ungeduld erlebt, denn sie wußten, daß das kein gutes Ende haben würde, daß das Regime zusammenbrechen und den Krieg verlieren würde. Da sie beide politisch ungeheuer engagiert waren, hatten sie nichts anderes im Sinn, als zurückzugehen nach Deutschland, am Wiederaufbau mitzuwirken, aber vor allem den alliierten Nationen, das heißt den freien, demokratischen Nationen zu demonstrieren, daß dieses deutsche Volk genau wie alle anderen Völker auch in Freiheit und Demokratie leben will, daß wir Deutsche nicht anders sind als die anderen. Sie brannten darauf, das zu machen. Sie wurden aber tatsächlich nach dem Mai 1945, also nach dem Ende des Krieges, auf eine lange Geduldsprobe gestellt. Aus der Zeit danach gibt es Anhaltspunkte, die belegen, daß das vor allem mit der amerikanischen Politik zusammenhing. Die Amerikaner hatten damals einen Finanzminister namens Morgenthau, der eine Konzeption entwickelt hatte, die im großen und ganzen darauf hinauslief, daß Deutschland kein Industrieland mehr sein, sondern statt dessen ein Agrarland werden sollte. Damit zusammen hing dann auch die amerikanische Einstellung: "Laßt keine politisch führenden Emigranten nach Deutschland zurück. Die beleben die Weimarer Republik wieder und damit im Grunde genommen auch den Anspruch der Deutschen, eine große Nation zu sein." Das hat wohl eine Rolle gespielt. Erst nach dem Wechsel in England 1946, als Churchill abgewählt und die Labour-Regierung an die Macht gekommen war, haben meine Eltern dann ein Reisepapier der englischen Regierung bekommen. Es hat dann bis Oktober, November 1946 gedauert, bis wir reisen konnten. So erklärt sich wohl diese Verzögerung. Reuß: Sie waren sieben Jahre alt, als Sie Deutschland verlassen mußten und 18, als Sie zurückkamen. War Ihnen Deutschland in der Zwischenzeit fremd geworden? Reuter: Ja, in vielerlei Hinsicht natürlich. Nicht fremd im Sinn der Sprache, der Kultur und auch nicht fremd in dem Sinn, daß ich nicht geahnt hätte, in welchem Zustand dieses Land wäre. Es war mir nicht fremd, weil ich mit dem gleichen Engagement, das ich von meinen Eltern gelernt hatte, zurückkam: Dies ist dein Land, dein Vaterland, geh zurück dorthin und versuche mitzuhelfen und herauszufinden, was du tun kannst. Fremd aber war es mir wegen des grauenhaften Anblicks, den ich mein Leben lang nicht vergessen habe, als wir mit dem Zug in Hannover angekommen sind und das erste Mal in ein totales Trümmerfeld kamen, mit Menschen, die ausgemergelt und in Lumpen gekleidet waren, die ihr letztes Hab und Gut in kleinen Karren schoben oder in Rucksäcken mit sich trugen. Wenn man aus diesem Bahnhof herauskam, trat man in eine Ruinenstadt, wo die Stümpfe von Häusern standen, wo alles staubig war, wo allenfalls die Straßenbahnen als Verkehrsmittel vorhanden waren und quietschend durch die Straßen fuhren, mit vernagelten Fenstern, mit Pappdeckel zugemacht – das alles in einem eisig kalten Winter. Das war das eine, das völlig fremd gewesen war. Das konnte man sich von außen nicht vorstellen. Das andere waren natürlich die Menschen, die etwas erlebt hatten, das ich nicht erlebt hatte. Ich hatte im Grunde genommen den Krieg zwar mit allen Spannungen und Ängsten, aber doch nicht physisch miterlebt. In Deutschland traf ich aber auf Menschen, die entweder im Krieg gewesen, als Gefangene zurückgekommen oder geflohen waren, die alles in ihrem Leben verloren, die die Bombardierungen und die Brände in den Städten erlebt hatten: Das waren Menschen, zu denen man nicht leicht Zugang finden konnte – schon gar nicht, wenn man aus meiner Generation stammte. Reuß: Sie sind dann kurz vor Weihnachten 1946 von Hannover nach Berlin gefahren. Dort begann relativ schnell eine sehr rasante politische Entwicklung, an der Sie mit und über Ihren Vater teilhaben konnten. Ihr Vater wurde 1947 zunächst zum Oberbürgermeister von ganz Berlin gewählt. Später dann, nach der Teilung , wurde er zum Regierenden Bürgermeister Westberlins gewählt. Hat sich Ihr Vater mit Ihnen auch über Politik allgemein und ganz konkret über seine Politik unterhalten? Reuter: Nicht im Sinn von langen Sermonen, von langen Ausführungen oder Erläuterungen. Aber ich habe natürlich in dieser Zeit – genau wie in der Türkei auch schon – eigentlich unmittelbar das Geschehen miterlebt und auch dementsprechend an den Erlebnissen meines Vaters teilgehabt: was seine Ziele waren, welche Schwierigkeiten er mit seinen deutschen Partnern, aber auch mit den alliierten Gesprächspartnern gehabt hat, diese Ziele durchzusetzen. Das habe ich alles fast jeden Tag miterlebt. Daneben hat sich in der ersten Zeit nach unserer Rückkehr auch etwas fortgesetzt, das sich schon in der Türkei ein bißchen entwickelt hatte. Mein Vater hat mir in der Türkei manchmal Briefe in die Schreibmaschine diktiert, die ich dann mit zwei Fingern geschrieben habe. So war es in der ersten Zeit nach der Rückkehr auch. Ich erinnere mich, er hat mir noch zwei große Reden, die er gleich nach der Rückkehr gehalten hat, diktiert. Aber von da an diktierte er mir nichts mehr, er arbeitete dann meist nur noch mit kleinen Spickzetteln und improvisierte. Aber ich habe, wie gesagt, das alles unmittelbar miterlebt: auch diese ganzen Ereignisse, die zur Spaltung, schließlich zur Blockade und zur Luftbrücke führten. Reuß: In dieser Zeit haben Sie auch Willy Brandt kennengelernt, der ebenfalls aus dem Exil, aus Norwegen, nach Deutschland zurückgekehrt war. Das Verhältnis Ihres Vaters zu Willy Brandt war, wenn ich Ihre Memoiren richtig gelesen habe, etwas ambivalent. Wie war Ihr Verhältnis zu Willy Brandt? Reuter: Ich habe eigentlich ein sehr persönliches Verhältnis zu Willy Brandt erst nach dem Tode meines Vaters bekommen. Vorher habe ich ihn natürlich gekannt und habe dieses etwas ambivalente Verhältnis zwischen ihnen erlebt. Es hing eigentlich damit zusammen, daß es einen großen Altersunterschied gegeben hat und beide aus einer jeweils anderen politischen Ecke kamen. Willy Brandt war in seiner Jugend ein sehr linkssozialistisch orientierter junger Mensch gewesen, und er war ein sehr norddeutsch verschlossener, in sich gekehrter Mensch – auch damals schon. Mein Vater war eigentlich eher offen und ging aus sich heraus. Das Alter und dieser Unterschied in den Persönlichkeitseigenschaften haben dazu geführt, daß immer ein gewisses Spannungsverhältnis vorhanden war. Aber diese Aussage soll nichts daran ändern, daß in dieser Zeit die politische Zusammenarbeit zwischen meinem Vater und Willy Brandt äußerst eng war. Willy Brandt war ja ursprünglich als Vertreter des Parteivorstandes der SPD, also als Vertreter Kurt Schumachers, aus Hannover nach Berlin gekommen. Viele hatten zunächst einmal angenommen – auch mein Vater -, daß er der Aufpasser aus Hannover sein sollte. Es hat sich aber schnell herausgestellt, daß das nicht der Fall gewesen war. Aber erst nach dem Tod meines Vaters habe ich Willy Brandt dann sehr eng und freundschaftlich kennengelernt, als er sich zusammen mit einem anderen Autor daransetzte, eine Biographie meines Vaters zu schreiben. Dieses Verhältnis hat sich dann über viele Jahre bis zu seinem Tod fortgesetzt. Reuß: Im Juni 1998 jährt sich ja zum fünfzigsten Mal nicht nur die Berlinblockade durch die Sowjets – Anlaß war die Einführung der D-Mark -, sondern auch die Luftbrücke, die die Alliierten zur Versorgung der Berliner Bevölkerung fast ein Jahr lang organisiert haben. Können Sie sich selbst an diese Zeit erinnern, und wie haben Sie das erlebt? Reuter: Ich kann mich sehr genau daran erinnern. Der Beginn der Luftbrücke oder der Blockade - beides hing eng miteinander zusammen – ist ja nur geschichtlich auf einen Tag fixiert, als die Russen bekannt gaben, daß wegen irgendwelcher technischer Probleme usw. die Verbindungswege gesperrt seien. In Wirklichkeit hat sich diese Entwicklung ja langsam aber stetig so ergeben, das ging nicht von einem Tag auf den anderen. Daß die Russen darauf aus wären, den freien Teil dieser Stadt zu erwürgen, das war eigentlich lange vorher schon erkennbar. In habe diese Zeit in Berlin miterlebt. Ich bin dann erst im Winter 1948/49, also nach dem Ausbruch der Blockade und der Einrichtung der Luftbrücke für ein Semester zum Studium nach Göttingen gegangen. Aber alles das, was davor lag, habe ich erlebt. Ich habe auch die kurze Erzählung meines Vaters über seine berühmte Begegnung mit General Clay noch sehr gut in Erinnerung, als es darum ging, daß die Alliierten die Luftbrücke jetzt wirklich einrichten würden, und Clay zu meinem Vater gesagt hat, daß das ja nur einen Sinn hätte, wenn es wirklich im Interesse der Berlinerinnen und Berliner wäre und ob die daher auch dafür einstehen. Mein Vater hat damals, so jedenfalls nach den Erinnerungen von Clay, sinngemäß geantwortet: "Kümmern Sie sich mal um Ihre Luftbrücke. Ich sage Ihnen, über die Berlinerinnen und Berliner brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, die stehen wie ein Mann für Freiheit und Demokratie!" Das hat er so auch abends zu Hause erzählt. Und das ging dann natürlich noch hin bis zu der berühmten Rede vor dem Reichstag und allem, was danach folgte. Reuß: Sie haben ja Politik hautnah miterlebt und man spürt auch, wenn Sie erzählen, daß Sie sehr engagiert dabei waren. Sie selbst sind seit 1946 Mitglied der SPD, machten aber immer deutlich, daß Sie sich lediglich als zahlendes Mitglied ohne Funktion fühlen. Sie waren öfter für politische Ämter im Gespräch, u. a. für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. Hat es Sie eigentlich nie gereizt, politisch aktiv mitzuwirken? Reuter: Natürlich hat mich das gereizt, das wäre ja auf dem Hintergrund meiner Familiengeschichte und der Erlebnisse meiner jungen Jahre und meines politischen Engagements ganz merkwürdig, wenn das nicht so gewesen wäre. Es war nur so: Aus der Beobachtung der Erlebnisse meines Vaters und aus der Beobachtung, welche Spannungen er als Bürgermeister der Stadt nicht nur mit den anderen Parteien - das war ja eine große Koalition gewesen -, sondern immer auch mit seiner eigenen Partei hatte, weil er in dem Sinn nie ein Parteimann gewesen war, habe ich meine Schlüsse gezogen. Er war nie ein Mann der Parteipolitik, sondern er wollte sein Verständnis von Verantwortung für ein demokratisches Gemeinwesen durchsetzen. Reuß: Er war kein Parteisoldat. Reuter: Er war kein Parteisoldat in diesem Sinn. Das habe ich miterlebt - auch die Belastungen, die sich für ihn daraus ergeben haben. Man kann sich heute wohl fast nicht vorstellen, was das damals bedeutete, so eine Führungsaufgabe als Leiter einer Stadtverwaltung mit immensem politischen Gewicht und gleichzeitig eben innenpolitisch so viele Besorgnisse zu haben. Das habe ich beobachtet, und ich habe damals, als mich Willy Brandt dann nach dem Tod meines Vaters fragte, ob ich nicht eigentlich auch eine politische Laufbahn einschlagen wollte, gesagt: "Doch irgendwann schon, aber ich will erst einmal persönlich unabhängig werden." Ich meinte das in dem Sinn, daß ich in der Lage sein wollte, den Bettel hinwerfen zu können, wenn mir etwas nicht paßt. So habe ich das eigentlich auch die kommenden Jahre gehalten. Nur: Es hat eben sehr lange gedauert, bis ich dieses Ausmaß von Unabhängigkeit wirklich erreicht hatte. Das hat dann damit geendet, daß ich in einer wirtschaftlichen Führungsverantwortung gestanden bin, die man nun auch nicht einfach von einem Tag zum anderen hinwerfen konnte, "nur" weil die politische Verantwortung rief. Und so ist es im Leben: Es gab einmal eine Vorstellung, aber sie hat sich nicht als realistisch herausgestellt. Reuß: Lassen Sie mich ganz naiv fragen: Sie haben immer wieder den mangelnden ökonomischen Sachverstand in der Politik kritisiert. Wäre es denn möglich gewesen, zeitlich befristet ein politisches Amt zu übernehmen, als Sie z. B. bei Daimler-Benz schon Finanzvorstand waren? Reuter: Ich weiß, daß dies ein Modell ist, das immer wieder diskutiert wird: bei verantwortlichen Politikern, aber auch in der Wirtschaft oder in ihren Verbänden. Das hat im Grunde genommen, in Deutschland jedenfalls, mit unserer Tradition nie richtig funktioniert. Der Hintergrund ist wohl der, daß politische Verantwortung heute – so wie sich die Dinge entwickelt haben – fast nur noch wahrzunehmen ist, wenn man in einer der Parteien eine Hausmacht hat. Die kann man aber natürlich nicht haben, wenn man aus einer anderen Berufslaufbahn nur eben in die Politik herüberspringt und dann wieder zurückgeht. Und umgekehrt ist es genauso: Man kann ein Wirtschaftsunternehmen nur ganz schwer für einen längeren Zeitraum – fünf Jahre sind ein langer Zeitraum – verlassen und dann wieder zurückkommen. Die Entwicklung ist dann längst an einem vorbeigegangen. Das ist also in Deutschland sehr schwer. In Amerika ist funktioniert das anders: Da sind die Mentalitäten, die Wirkungsweisen der politischen Entscheidungsfindung und die Institutionen anders. Reuß: Lassen Sie uns noch einmal auf Ihren persönlichen Werdegang zurückkommen. Sie haben bereits in der Türkei wissenschaftliche Experimente unternommen – nicht immer zur Freude Ihrer Mutter, wie ich lesen konnte. Sie waren und sind künstlerisch, literarisch, philosophisch, aber auch naturwissenschaftlich interessiert – an Mathematik und Physik, aber auch an Chemie und Astronomie. So haben Sie dann 1947 in Göttingen begonnen, Mathematik und Physik zu studieren. Was hat Sie an den Naturwissenschaften so gereizt? Reuter: Ich weiß nicht, ob das nicht vielleicht eine angeborene Neigung ist. Mein Bruder aus der ersten Ehe meines Vaters ist schließlich hauptberuflich Mathematiker geworden und hatte in England eine Professur inne. Es kann sein, daß das also aus dem väterlichen Erbe stammt. Die Familie meines Vaters hatte viel mit Navigation und solchen Dingen zu tun, also schon mit mathematischen Dingen. Das ist das eine. Das andere ist, mich hat eigentlich immer die ungeheure Klarheit des Verstandes und der Logik gereizt, die in der Mathematik zu Hause ist. Die deswegen ja durchaus auch in vielerlei Hinsicht eine Nähe zur Musik hat. Leider bin ich selbst ganz unmusikalisch geboren, aber auch deswegen habe ich eigentlich eine Neigung zum Zuhören in der Mathematik gehabt oder eine Neigung zum Schachspielen - das hat auch etwas damit zu tun. Aber die wirkliche Faszination, die mich schließlich dazu geführt hat, den Ehrgeiz zu entwickeln, eines Tages den Nobelpreis zu gewinnen, bestand eigentlich darin, die Zusammenhänge im Bereich der physikalischen Vorgänge, in der Mikrophysik zu verstehen: Wie ist das eigentlich mit der Materie, wie setzt sie sich zusammen, wie funktioniert sie? Auf der anderen Seite gab es die Frage im makroskopischen Bereich: Wie funktioniert denn eigentlich unser Weltall. Das hat mich als Junge, so mit 14, 15 Jahren, wirklich gepackt. Da wollte ich mitwirken, hinter die Geheimnisse dieser Welt zu kommen. Das war eigentlich das Faszinierende. Reuß: Schließlich hat Sie dann Ihr Studienkollege Horst Ehmke, der ja später unter Willy Brandt unter anderem Bundesminister im Kanzleramt werden sollte, zum Studienwechsel animiert. Sie haben dann an der "Freien Universität Berlin", die Ihr Vater mitgegründet hat, Jura studiert. Dennoch wollten Sie nie Anwalt oder Richter werden, sondern Sie wollten in die Wirtschaft. Warum in die Wirtschaft? Reuter: Der Weg in die Politik, darüber haben wir uns schon unterhalten, war mindestens nach hinten verschoben. Ich wollte gestalten, ich hatte in dieser Phase meines Lebens den Ehrgeiz, etwas anzupacken und zu tun, das man auch so bezeichnen konnte. Ich wollte mit Menschen zusammenarbeiten und etwas gestalten. Diese andere Möglichkeit, wirklich zu gestalten, sah ich in der Wirtschaft gegeben. Deswegen war das für mich ungeheuer anziehend. Reuß: Sie hatten dann durch die Vermittlung eines Bekannten 1956 ein erstes Vorstellungsgespräch beim damaligen Personalchef von Daimler-Benz. Das war Hanns-Martin Schleyer, der spätere Arbeitgeberpräsident, der dann 1977 von der RAF entführt und später auch ermordet wurde. Ihr damaliges Gespräch mit Schleyer lief sehr gut, und Sie hatten eigentlich auch eine Zusage. Dennoch kam es nicht zur Anstellung. Was waren die Gründe? Reuter: Die habe ich erst viel später von Hanns-Martin Schleyer erfahren, als ich dann endgültig "zum Daimler", wie wir sagen, gekommen bin. Er hat mir damals erklärt: "Passen Sie auf, das war eigentlich ganz klar. Ich habe Ihnen ja schon den Bestätigungsbrief geschrieben". Aber: In dieser Zeit trat ein Wechsel im Großaktionärskreis bei Daimler-Benz ein. Das Haus Flick beteiligte sich bei Daimler-Benz und im gleichen Atemzug auch das Haus Quandt – aber vor allem eben die Flicks. Und die Flicks waren nun bekannt als, sagen wir einmal, sehr konservative Menschen. Und da hat wohl der Vorstand ein bißchen Angst bekommen, so einen Kerl, der im Ruf stand, ein Roter zu sein, zu engagieren. Es war so, daß Schleyer selbst schrecklich gelacht hat, als er mir das erzählt hat, weil es ja nur um eine Anstellung auf einer ganz unteren Ebene gegangen war. Aber das bezeichnet vielleicht den Zustand der damaligen Zeit - das war 1957. Da war es in Wirtschaftskreisen anscheinend noch nicht vorstellbar, daß man jemanden beschäftigen könnte, der Sozialdemokrat wäre - wie sich das später schließlich herausgestellt hat. Reuß: Danach begann eigentlich, zumindest für den Betrachter, eine sehr interessante Lebensphase für Sie. Zunächst haben Sie ab 1957 bei der UFA, bei der Universum Film AG, gearbeitet. Das waren, wie Sie sagen, Ihre unternehmerischen Lehrjahre. Welche Aufgaben hatten Sie dort? Reuter: Ich habe erst einmal in der Rechtsabteilung angefangen, was ich nie wollte, aber es war schließlich der Notnagel. Ich wollte nicht in die Rechtsabteilung, aber es blieb nichts anderes, ich habe sonst in der Wirtschaft keinen Job gefunden. Das war schrecklich langweilig und hat mich nicht befriedigt. Ich habe dann aber angefangen, noch einmal während dieser Zeit Schularbeiten in der Betriebswirtschaft zu machen. Dann ergab es sich plötzlich, daß ich in die Produktionsabteilung wechseln konnte. Zunächst bearbeitete ich dort betriebswirtschaftliche und rechtliche Fragen. Aber das ging dann schnell in die Organisation der Filmproduktion hinein und bezog sich nicht mehr nur auf die Verträge, die dort geschlossen wurden. Nun gut, ich war dann ehrgeizig, es hat mir Spaß gemacht, und ich habe mich auch mit Drehbüchern und Ähnlichem beschäftigt. So hat sich das über die Zeit hinweg ergeben, daß ich schließlich zum Schluß, bevor die UFA dann mit einem anderen Unternehmen fusioniert wurde, der letzte kommissarische Produktionschef der UFA-Filmproduktion gewesen bin. Das war nun eine Zeit, die ich in jeder Hinsicht in meinem Leben nicht missen möchte, nicht nur wegen der Erfahrungen mit Menschen, mit kreativen Menschen, teilweise auch mit schrecklich ungezogenen Menschen – das soll es ja in dieser Branche geben -, die ich damals gemacht habe. Es war eine aufregende Erfahrung. Ich habe aber auch gelernt, daß wirtschaftliche Produktion im Grunde genommen in allen Branchen ganz ähnlich ist. Es ist nicht so unterschiedlich, ob man Filme produziert oder Autos baut. Zum Schluß hat das durchaus etwas miteinander zu tun. Deswegen sage ich, das waren meine Lehrjahre. Reuß: Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre gab es in Deutschland eine politische Diskussion über die Gründung einer zweiten nationalen Fernsehanstalt neben der ARD, die unmittelbar unter bundesstaatlichem Einfluß stehen sollte: das sogenannte "Adenauer-Fernsehen", das dann später durch das Bundesverfassungsgericht unterbunden wurde. In der Folge gründeten dann die Bundesländer das ZDF. Diese Neugründung bedeutete für Sie auch wieder einen Berufswechsel. Sie gingen zu Beginn des Jahres 1962 von der UFA zu . Es ging offensichtlich um die Vorbereitung eines "Verleger-Fernsehens". Reuter: Reinhard Mohn, dieser ja nun in jeder Hinsicht großartige Unternehmer, der ein phantastisches Lebenswerk geschaffen hat, hatte damals die Vorstellung, daß man dieses neue Zweite Deutsche Fernsehen als eine öffentlich-rechtliche Dachanstalt organisieren sollte, die aber weitgehend ihren Programmbedarf aus der Zusammenarbeit mit privatrechtlichen Zulieferern beziehen sollte. So hatte er sich mit einigen anderen Verlegern zu einer Verlegergruppe zusammengetan, deswegen "Verleger- Fernsehen". Diese Gruppe hatte sich vorgenommen, eine ganze, breite Programmpalette - mit Ausnahme der aktuellen Nachrichten und des Wetters - vom Fernsehspiel über Features bis zu Dokumentationen dem Zweiten Deutschen Fernsehen als Block anzubieten. Dafür hat er mich gewonnen. Ich hatte bei der UFA schon einige erste Erfahrungen mit dem Fernehen gemacht. Ich sollte Geschäftsführer dieser Verlegergruppe werden. Die Rechnung war nur ohne den Wirt gemacht: Die Direktion des ZDF hat das anders gesehen, wollte dieses Konzept nicht. Sie ist den Weg gegangen, sich eigene Kapazitäten aufzubauen, eigene Redaktionen, eigene Fernsehstudios usw. Und so ging das mit dem "Verleger- Fernsehen" schief. Deswegen saß ich dann nach einiger Zeit wieder auf der Straße. Reuß: Sie haben in Ihren Memoiren über diese Zeit geschrieben: "In dieser Zeit hast du gelernt, was es heißt, arbeitslos zu sein, Angst um deine zukünftige Existenz zu haben". Haben Sie später, als Sie Vorstandsvorsitzender waren, und teilweise sehr unpopuläre Entscheidungen treffen mußten, die auch zum Arbeitsplatzverlust führten, oft an diese Zeit zurückgedacht? Reuter: Ich weiß nicht, ob ich sehr oft daran zurückgedacht habe, aber ich weiß genau, daß das eine Erfahrung meines Lebens ist. Ich weiß genau, was es bedeutet, wenn man mitten im Leben - und nicht erst am Ende einer Lebensphase - plötzlich arbeitslos ist: wenn man eine Familie hat, die ernährt werden muß, wenn man Kinder hat, die eine gute Ausbildung bekommen sollen. Das ist eine Erfahrung, die habe ich mitgenommen. Da brauche ich nicht daran zurückzudenken. Die ist mir lebendig. Reuß: Sie haben dann wieder Kontakt mit Hanns-Martin Schleyer aufgenommen, und es hat dann nach einem Gespräch mit Joachim Zahn auch geklappt. Am 1. März 1964 haben Sie die Arbeit bei Daimler-Benz aufgenommen. Wie war diese Anfangszeit bei Daimler-Benz? Reuter: Sie war sehr lustig. Ich ging mit großen, mit riesengroßen Erwartungen hin, denn es war immer mein Lebenstraum gewesen, für Mercedes, für Daimler, zu arbeiten. Ich dachte, nachdem mir Herr Zahn als mein Chef erzählt hatte, was ich machen sollte, nun ginge es los. Leider war das nicht so. Ich traf am ersten Tag schon auf einen, dem er das gleiche erzählt hatte. Und eigentlich war für zwei gar nicht genügend Platz vorhanden. Wir sind dann herumgeführt worden, haben das Unternehmen kennengelernt, das war alles schön und gut, und dann saßen wir da und warteten, was passieren würde – das ging über Wochen hinweg so. Ich denke, wir haben nichts anderes gemacht, als Schiffe versenken zu spielen. Es gab nichts anderes. Bis es dann eines Tages doch eine Aufgabe gab, aber das war schon eine etwas merkwürdige Anfangszeit. Reuß: Ich springe etwas in Ihrer Biographie, wenn Sie erlauben. Sie wurden dann 1973 stellvertretendes Vorstandsmitglied, 1976 Vorstandsmitglied. Als Leiter des Finanzressorts hatten Sie maßgeblichen Anteil an den Zukäufen der Daimler-Benz AG: z. B. die Übernahme der MTU, die Mehrheitsbeteiligung an der Dornier GmbH, der Einstieg bei der AEG. Hatten Sie da freie Hand? Wurde das alles vom Gesamtvorstand mitgetragen? Reuter: Ja, natürlich. Das ganze Konzept, das hinter dieser Politik gestanden hat und das besagte, daß wir für unsere Kinder und Enkelgeneration langsam anfangen, ein zweites Bein neben dem Automobil aufzubauen, wurde mitgetragen. Wir sind immer davon ausgegangen, daß das Automobil für alle vorhersehbare Zukunft den weit überwiegenden Teil unseres Geschäfts ausmachen würde. Aber wir haben auch gesagt: "Fangen wir einmal langsam an, zusätzlich etwas Neues aufzubauen." Dieses Konzept ist mit allen Kollegen eingehend diskutiert worden und ist vom gesamten Vorstand und auch vom Aufsichtsrat mitgetragen gewesen. Die einzelnen Schritte sind natürlich von einzelnen Vorstandsmitgliedern oder jeweils zu zweit vorbereitet worden - wie die Dornierakquisition oder die AEG-Akquisition. Zum Schluß wurde das aber immer gemeinsam und einstimmig abgesegnet. Reuß: Sie vertreten immer die Auffassung, zu einem guten Wirtschaftsunternehmen gehöre auch eine gute Portion Ethos. Wenn Sie drei Eigenschaften nennen sollten: Was zeichnet einen guten Manager aus? Reuter: Zunächst einmal muß ein Wirtschaftsmanager Gespür dafür haben, was sich in der Welt um ihn herum abspielt, wie sich die Märkte entwickeln. Das heißt, er muß wissen, was seine Kunden wollen oder welche neuen Kunden man erreichen kann. Das hängt eng zusammen mit der Entwicklung der Welt. Heute redet man von Globalisierung: Es gehört selbstverständlich das Gespür dazu, ob in Ostasien wirklich ein interessanter Markt für unsere Produkte vorhanden ist und wie man ihn erreichen kann. Das Zweite ist: Abgesehen von solchen Selbstverständlichkeiten, daß man hervorragende Technik, hervorragende Qualität hat, daß man die Ausbildung der eigenen Belegschaft richtig betreibt, daß man nicht zuletzt für die Aktionäre sorgt - Aktionäre geben einem das Geld ja nicht freiwillig, d. h. sie tun es, wenn sie eine anständige Verzinsung dafür bekommen, man muß also ganz eindeutig für sie sorgen –, abgesehen von alledem, geht es zum Schluß, wie ich meine, doch darum zu verstehen, daß man als an der Spitze stehender Manager für die Kultur eines gesamten Unternehmens verantwortlich ist. Es gilt also zu verstehen, daß nicht der Erfolg des Tages entscheidend ist - der kann immer anfallen -, sondern daß das Unternehmen ein Wesen ist, das leben muß. Und es lebt nur mit den Menschen, die in ihm arbeiten, und den Menschen, die ihm als Kunden oder im politischen Umfeld gegenübertreten. Das heißt, ein Unternehmen muß eine Kultur haben und darf nicht nur geprägt sein durch "Machertum", durch schnelle Entscheidungen, durch "Hauruck-Verfahren". Ich glaube, diese Eigenschaften kennzeichnen im Grunde genommen das, was verantwortliches Management betrifft: daß das Ganze auf der Basis ethischer Grundlagen geschehen muß, im Sinn von Max Weber, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Das sind aber Anforderungen an die Persönlichkeiten, die hier tätig sind. Aber diese Eigenschaften prägen wiederum die Kultur eines solchen Unternehmens. Reuß: Ich könnte mich noch sehr lange mit Ihnen unterhalten, aber die Zeit ist uns leider davongelaufen. Ich darf mich ganz herzlich für Ihr Kommen und für das sehr angenehme Gespräch bedanken. Verehrte Zuschauer, das war Alpha-Forum, heute mit Edzard Reuter, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Daimler-Benz AG. Herzlichen Dank fürs Zuschauen und für Ihr Interesse. Auf Wiedersehen.

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