Das Buch Sie waren zeitlebens das hässliche Entlein der Populärkultur, vernachlässigt von den Medien und dem Mainstream, bevor man sie posthum zum generationsübergreifenden Kult erklärte, mitsamt ihrer Musik, ihrem Logo und ihrem Look. 22 Jahre tourten die durch die Clubs der Welt, veröfentlichten 14 Studioalben, verfassten zeitlose Hymnen wie »Sheena Is A Punkrocker« und infizierten auf ihrem arbeits- und fehdenintensiven Pfad zum erlösenden Hit unzählige Kids, die sich ihrer Gang nicht nur anschließen wollten, sondern ihre Idole schon bald überrundeten: von The Clash und den Sex Pistols über Black Flag und Dead Kennedys bis zu U2, Sonic Youth, Metallica oder Green Day. Auch Flo Hayler kettete sich an den Tour-Trek der Ramones. Zwischen 1990 und 1996 sah er das Quartett dutzendfach live, lernte dabei Crew- und Bandmitglieder kennen. Als Tribut an die »Fast Four« eröfnete er 2005 das weltweit erste und einzige Ramones Museum, das sich zur Pilgerstätte für Musikfans aus aller Welt entwickelte. Seine Geschichten und Anekdoten mit, von und über die New Yorker Punk-Ikonen sind in diesem Band enthalten, ergänzt durch hunderte Fotos und Dokumente aus der aktiven Karriere der Band.

Der Autor Flo Hayler, aufgewachsen in Helmstedt, kommt 1986 mit Punk in Berührung. 1990 sieht er die Ramones zum ersten Mal live, was sein Leben verändern wird. Jahrelang fährt er ihnen auf Konzerten hinterher und wird zum Sammler. 2005 eröffnet er das weltweit erste Ramones Museum in . Nebenher war und ist er Radiomoderator bei Radio Fritz (RBB), Redakteur bei unclesally*s und ARD Text und Autor für VISIONS.

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Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

Copyright ©2018 by Flo Hayler Copyright ©2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Lars Zwickies Bildredaktion: Erik Weiss Design: Ta-Trung, Berlin (Pierre Becker, Johanna Goldmann) Vorsatzfotograien © Nachsatzfotografien ©Stefan Ahbeck Satz: Ta-Trung, Berlin Druck und Bindung: Mohn Media Mohndruck GmbH, Gütersloh Printed in Germany

ISBN: 978-3-453-27051-0 www.heyne-hardcore.de 8 California Über Alles 287 Mehr Mittel als Zweck 19 Lektionen in Demut 294 Goldene Zeiten 26 Pink House of Horror 302 Lasst die Spiele beginnen 32 Wir können alles, und alles können wir sein 306 Nur über meine Leiche 44 Die Juwelen von Queens 320 Das Ende der Unschuld 62 Positive Diskriminierung 336 Kauf mich 72 Kein Country für junge Männer 342 Ruhe sanft 82 Irgendwas ist immer 354 And the chicks for free 96 Hey, weißer Junge, was machst du in Uptown? 362 Welcome to the Jungle 102 Auf Schicht in Radio City 374 Zu alt, um jung zu sterben 114 Kauft Klebstof – die Ramones kommen 390 Alles auf Anfang 136 Der Adler ist gelandet 408 Die Letzten ihrer Art 150 E pluribus unum 430 Verschwende deine Zeit 162 Wer zuletzt lacht 454 Zwischen den Welten 170 Es ist wohl besser, jetzt zu gehen 468 In the Army Now 180 Besuchen Sie Europa 486 Der Schöne und das Biest 192 Pantone 806 506 Endlich normale Leute 204 Frohes Neues 536 Spuckis gegen Sticker-Tipper 216 Schon mal das Gefühl gehabt, betrogen worden 554 Macerata oder Mailand, Hauptsache Italien zu sein? 568 Aber hier leben? Nein danke. 226 Die sieben Leben des Johnny Blitz 578 Die Akropolis sehen und sterben 234 Vier minus eins macht vier 594 Berlin, Endstation. 246 Wedding ist überall 600 Freunde fürs Leben 254 Alle gegen alle 612 Sie nannten ihn Blondie 262 Wir sind keine Schüler, wir sind die Ramones 626 So lange Johnny Thunders lebt 267 Hey, Pizza 637 Danksagung 282 Verkleidet in der letzten Reihe 638 Bildnachweise

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1.01 Das Palace in der Vine Street von Los Angeles ist der Aus- tragungsort des letzten Ramones-Konzertes am 6. August 1996. (Hollywood Photographs) 8

1.02 1.03

1.02 Anzeige für die bevorstehenden Konzerte im Billboard Live, einem neuen Club am Sunset Boulevard. Die darauf angekündigten Auftritte der Ramones und von James Brown wurden verlegt oder verschoben – der Laden ist nicht rechtzeitig fertig geworden. 1.03 Unbenutztes Ticket für die letzte Ramones-Show im Billboard Live, die ins Palace an die Vine Street verlegt werden musste. 9

Riki Rachtman hat schon bessere Tage gesehen. Damals, vor vier Jahren, als der Gast- geber von Headbangers Ball noch wöchentlich die größten Stars der Hard-Rock- und Metal-Szene im MTV-Studio begrüßte und als Gegenleistung zu deren Partys und Video- drehs eingeladen wurde. Heute, am 6. August 1996, ist vom Fame des Fernsehstars nicht mehr viel übrig. Heute steht Riki Rachtman als Moderator des Radiosenders KLSX-FM auf einem staubigen Parkplatz am Sunset Boulevard und lässt in der sengenden Mittags- hitze ein paar Teenager gegenseitig ihre Mütter beleidigen. Derjenige, der dabei die nieder trächtigsten Worte für die Mami seines Gegenübers indet, bekommt von Racht- man zwei Eintrittskarten für das abendliche Konzert der Ramones, »das letzte«, wie er ohne Unterlass in sein Mikro labert, was den Kandidaten aber ziemlich egal ist. Für sie geht es um nichts anderes, als zur besten Sendezeit ihr jahrelang angestautes Arsenal an Fäkalvokabular und Beleidigungen unter die Gürtellinie ihres Gegners feuern zu dürfen. Ungestraft, ungehemmt, unzensiert und natürlich: live. Kurz nachdem eine womöglich sehr liebevolle, fürsorgliche und nette Mutter zur hässlichsten, fettesten, ärmsten, stinkendsten, kleinsten und bärtigsten Frau der Nation erklärt wurde, quatschen wir dem Sieger, der gerade unter tosendem Applaus der Kampfarena entstiegen ist, die Ramones-Tickets ab – im Tausch gegen einen Fünfzig-Dollar-Schein. Dabei klopfen wir dem Knaben anerkennend auf die Schulter, faseln irgendwas von »sowieso nichts verpasst« und machen uns aus dem Staub. Na dann: tschüss, ihr Idioten. »Sorry, Mann, das Konzert wurde verlegt«, sagt der mit lila Kurzhaarfrisur ge- segnete Mitarbeiter des Billboard Live, während Rachtman nebenan noch immer Mütter beleidigen lässt – mittlerweile allerdings für Konzertkarten von Soul Asylum. Die Ramones würden heute nicht hier auftreten, sondern in einem anderen Club, »nur ein paar Blocks weiter«, sagt er und reicht uns einen Flyer aus dem Stapel in seiner Hand. Die billige Kopie eines Zettels, auf den jemand mit schwarzem Filzstift so etwas wie einen Stadtplan gezeichnet hat, als Anfahrtsskizze zum Palace. Den Laden könne man nicht verfehlen, sagt der Lilamann. Er läge gleich gegenüber des berühmten Capitol-Records-Gebäudes an der Vine Street, jenes legendären Büroturms, der sich seit 1956 als architektonisches Wahrzeichen in den blauen Himmel von Los Angeles bohrt. Als wir nach etlichen endlosen Meilen unser Auto endlich vor dem Palace parken, sind wir neben einer Handvoll japanischer Fans ofensichtlich die ersten Gäste, die nicht wegen der Hot-Dog-Bude nebenan hier sind. Vor der Halle werden Scheinwerfer und Kabel aus einem Truck geladen. Ein Mann mit Handkamera ilmt die pittoreske Fassade des Ladens, in dem zweiunddreißig Jahre zuvor die Rolling Stones auftraten, anmoderiert von einem gelangweilten Dean Martin. Von Legenden dieses Kalibers ist heute aber nichts zu sehen. Noch nicht. Das Einzige, was bisher hier rollt, sind die Schweißperlen auf der Stirn der Filmcrew, die kistenweise Equipment in die Halle schiebt. Wir setzen uns in den Rinnstein und warten. 10

1.04

1.05

1.04 / 05 Während ein Billboard-Live-Mitarbeiter dem Deutschen den Weg zum Palace erklärt, drücken die Ramones ihre Hände in den Zement des »Rock Walk« am Sunset Boulevard. (Marc Zibirre / Warren Cohen) 11

Man sieht nur noch das Weiße in ihren Augen. Schwer zu sagen, auf welche Reise ihr Gehirn sie geschickt hat, aber der entrückten Gri- masse und den zuckenden Bewegungen nach zu urteilen hat das Mäd- chen entweder Probleme neurologischer Art oder die Blutbahn voll MDMA. Während sie sich auf den Händen der anderen Konzertbesu- cher um die eigene Achse dreht, quillt Spucke aus ihren Mundwinkeln, ihre Beine treten Löcher in die Luft und ihre Hände würgen einen nicht vorhandenen Gegner. Toll sieht sie aus. Wie eine Fee im Kampf ge- gen die eigenen Dämonen. Dreiundneunzig Sekunden dauert ihr Trip, danach wird sie mit dem letzten Takt von »Wart Hog« im Fotograben entsorgt – abgekippt wie eine Ladung Schutt, mit dem Gesicht voran. Die schöne Fremde ist nicht die Einzige, die heute Abend ihren ganz eigenen Film fährt. Sie ist eine der etwas mehr als tausend Anwe- senden, die nicht aussehen wie das Publikum eines Ramones-Kon- zertes, sondern eher wie Statisten einer Kinoproduktion. Hindrapiert, als Teil einer Inszenierung, zusammenchoreograiert für das große 1.06 Finale der Ramones und damit für einen Auftritt, den man am liebsten dauerhaft aus seiner Erinnerung streichen möchte. Nicht so sehr aus nostalgischen Gründen oder wegen der einsetzenden Phantomschmerzen, sondern aus Fremdscham und der Befürchtung, diese Show könnte die Erinnerung an das trüben, was ein echtes Ramones-Konzert ausmacht: jenes spannungsgeladene, aufgeregte Brodeln im Pub- likum, wenn das Saallicht erlischt und von der Bühne vier säulenartige Lichtkegel in Richtung Hallendecke emporsteigen, vorbei an dem Backdrop mit dem Ramones-Logo, das über der Bühne thront wie der ans Kreuz genagelte Jesus über dem Altar. Das orangefarbene Glühen der Verstärker, die im Stand-by-Modus auf ihren Einsatz warten. Wenn der Trockeneisnebel zischend über die Bühne wabert, nur um sich wenig später wie ein Schleier um die Silhouetten der vier Gladiatoren zu legen. Aber heute: nichts dergleichen. Vielmehr ist es taghell, jeder Winkel ist ausgeleuchtet, der Saal illuminiert wie die Abfertigungshalle des JFK und dabei so leer wie das CBGB an einem Montag- abend. Selbst nachdem das Intro, Ennio Morricones »The Good, the Bad and the Ugly«, längst verstummt ist und die Ramones mit »Durango 95« das erste Lied ihres letzten Abends angestimmt haben, bleibt es im Saal gefährlich ruhig, fast andächtig still. Mehrmals führt uns unser Weg von der ersten Reihe zur Bar und wieder zurück, ohne dabei einen Tropfen Bier zu verschütten. In jedem anderen Club an jedem anderen Ort der Welt wäre jeder Rückzug in Richtung Tränke gleichbedeutend mit einer Nieder- lage, der ultimativen Kapitulation und dem bitteren Eingeständnis, es nicht gepackt zu haben. Ein Ramones-Konzert ist nicht das, was Hollywood hier wie einen Kinoilm inszenieren will. Es gleicht normalerweise mehr einem Abend im Schützengraben. Wer da lebend raus will, muss vorbereitet sein. Siebzig Minuten am Limit, inmitten ohren- betäubenden Krachs, mit den Ellenbogen und Stiefeln der Anderen im Gesicht, den Platz in der ersten Reihe verteidigend, ausgestattet mit der Notration dieses einen Bier- bechers, den man vorsichtig im Bühnengraben platziert hatte, nur um dort vom nächst- besten Fotografen umgetreten zu werden. Wer ein Ramones-Konzert ohne Blutergüsse, Kratzer, zerrissene Klamotten und Hörsturz übersteht, war entweder nicht dabei, stand hinten oder ist im gut klimatisierten Palace von Los Angeles gelandet – dem Ort, an dem man heute lieber gesehen werden will, als selbst noch einmal genau hinzugucken. Warum auch? Die Kameras ilmen schließlich mit.

1.06 Anfahrtsskizze vom Billboard Live zum Palace. Vier Meilen. Dreißig Minuten. 12

Während die meisten das Farewell-Konzert der Ramones aus der sicheren Distanz von Empore oder Foyer aus über sich ergehen lassen, spielt sich die Band auf der Bühne ein letztes Mal durch ihr bewährtes Repertoire. Die Crew ist schwer damit beschäftigt, zwischen den Songs die geladenen Gäste auf die Bühne zu schieben. Als schmücken- des Lametta, um dieser in allen Belangen traurigen Veranstaltung noch etwas Würde zu verleihen. Doch egal, wie halsbrecherisch die Manöver auf der Bühne oder die Schwenks der Kameras auch gefahren werden, das Publikum selbst zeigt keine dem historischen Anlass würdige Emotion. Weder ein Zeichen der Freude noch der Trauer. Statt Euphorie oder ehrlich empfundenem Abschiedsschmerz nur Apathie, Lethargie und Teilnahms- losigkeit. Wer auch immer den Abschied der Ramones nach Hollywood verlegt hat, er hätte wissen müssen, dass man diese perfekt inszenierte Band nicht inszenieren kann. Zumindest nicht, ohne dabei ihre DNA zu zerstören. Blasphemie, sagen die einen. Sie haben es so gewollt, sagen die anderen. »Welcome to Billboard Live«, begrüßt Joey das Publikum, bevor C. J. mit dem dritten »1, 2, 3, 4« des Abends letztmals den »« anzählt. Billboard Live? Da hat der Sänger wohl vergessen, sich den Namen der neuen Location auf seinem Spickzettel zu notieren, was aber keinem weiter auffällt. Außerdem ist dieser Ausrut- scher ohnehin kaum mehr als eine Fußnote auf der stattlichen Shitlist, mit der man das Chaos des letzten Konzertabends anschaulich darstellen könnte. Zugegeben: Im Laufe der ofi ziell gezählten 2263 Ramones-Shows gab es den einen oder anderen Abend, an dem nicht alles nach Plan lief, an dem Joey den Auftrittsort im italienischen Nirgendwo vergaß oder aus Versehen Köln nach Düsseldorf verlegte. Selten jedoch waren so viele Kameras dabei wie diesmal, und so viele Gäste erst recht nicht. Nur dreimal standen mehr als vier Personen auf einer Ramones- Bühne: als sich 1980 Casino Steel von den Boys für einen Song zu den Ramones gesellte, die Red Hot Chili Peppers 1988 beim Provinssirock Festival in Finnland zu »Cretin Hop« nackt über die Bühne tanzten und als Doors-Mitglied Robby Krieger im Oktober 1992 nach einem ausschwei- fenden Gitarrenduell mit bei »Take It As It Comes« als klarer Sieger vom Platz ging.

1.07 1.08

1.07 Ticket Nummer 0898 für das letzte Konzert der Ramones, noch mit Angabe des Billboard Live als Veranstaltungsort. Signiert von Johnny, Joey, Marky und C. J. Ramone. 1.08 Gäste- und Crew-Pässe für Konzert Nummer 2263, das letzte der Ramones. 13

1.09

1.09 Die Setlist vom letzten Ramones-Konzert inklusive der Gäste, die für den historischen Anlass auf die Bühne gebeten werden: Kilmister (Motörhead), Ben Shepherd und Chris Cornell (Soundgarden), und Lars Frederiksen (Rancid), Eddie Vedder (Pearl Jam) und . 14

1.10 Für ihren letzten gemeinsamen Abend hat die Band nicht einen oder zwei, sondern gleich sieben Freunde, Kollegen und Weggefährten ins Palace eingeladen, um sich bei einigen Songs begleiten zu lassen. Eddie Vedder ist da, Chris Cornell und Ben Shepherd von Soundgarden, Tim Armstrong und Lars Frederiksen von Rancid, Lemmy Kilmister von Motörhead und Gründungsmitglied Dee Dee Ramone. Sie alle stehen vor der Herausforderung, in den minimalen Pausen zwischen den Songs nicht nur möglichst unauffällig auf die Bühne zu sprinten, sondern vereinzelt auch möglichst schnell zum Instrument zu greifen. Was allen Beteiligten halbwegs gelingt, wird im Falle von Dee Dee Ramone zum riskanten Manöver auf vermintem Terrain. Kurz nachdem der Ex-Bassist für seinen letzten Einsatz mit den ehemaligen Kollegen die Bühne betritt, wird »Love Kills«, der Song, den er zehn Jahre zuvor als Nachruf auf Sid Vicious sowie als Warnung an sich und andere Junkies verfasste, zum Bumerang. Nach einer völlig desolaten Vorstellung bringt er das Dilemma seines zwischen Genie und Wahnsinn angesiedelten Selbst auf den Punkt – und zwar dort, wo eigentlich die dritte Strophe hätte erklingen sollen. »That’s me. That’s the way I am«, entschuldigt er sich schulterzuckend ins Mikrofon, während man aus Mitleid mit dem hillosen Mann im Bundeswehr-T-Shirt am liebsten im Boden versinken würde. »Gracias«, sagt Dee Dee und eilt von der Bühne. Was für ein Abgang.

1.10 Warten auf den Einsatz: Soundgarden-Bassist Ben Shepherd und Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister. Außerdem im Bild: Markys Ehefrau Marion. (Warren Cohen) 15

1.11

1.12

1.11 / 12 Dee Dee Ramone und Johnny Ramone besprechen letzte Details zum gemeinsamen Auftritt. Später versucht sich Dee Dee an »Love Kills«, seiner 1986 verfassten Ode an Sex-Pistols-Bassist Sid Vicious und seine Freundin Nancy Spungen. (Warren Cohen) 16

1.13

Wer C. J. Ramone vor dem 6. August 1996 nach dem bisherigen Highlight seiner Karriere befragt, bekommt so einige denkwürdige Anekdoten zu hören: sein erster Auftritt mit den Ramones in Leicester, England, bei dem er sich in Spucke getränkt seines T-Shirts entledigte und damit einen von Johnnys legendären Wutausbrüchen anzettelte. Oder der Besuch der Berliner Mauer zwei Wochen nach deren Fall, inklu- sive Tausch mit einem Grenzsoldaten: seine Zigaretten gegen dessen Fellhut. Oder der Flirt mit Julia Roberts, die im Mai 1990 jedes seiner Tattoos intensiv begutachten wollte, und überhaupt all die wunderschönen Frauen, die in seinen sieben Jahren bei den Ramones an seine Hoteltür geklopft haben. Fragt man C. J. nach dem 6. August 1996 nach dem bisherigen Highlight seiner Karriere, bekommt man nur eine Antwort: der Auftritt mit Lemmy Kilmister im Palace, als die beiden Bassisten gemein- sam die Motörhead-Hymne »R.A.M.O.N.E.S.« anstimmen, begleitet von Kilmisters knur- rendem Rickenbacker-Bass. »Der Song ist der ultimative Tribut an die Ramones, und ich durfte ihn Schulter an Schulter mit dem Typ spielen, der ihn geschrieben hat«, sagt C. J. nach der Show euphorisch. »Die Erinnerung an diesen Moment wird mich sicher bis ins Grab begleiten. Es war einfach zu perfekt.« Wenigstens einer, der dieser hastig inszenierten Abschiedsgala etwas Positives abgewinnen kann. Und auch die wenigen Fans, die an diesem Abend wegen der Musik und nicht wegen der Kameras gekom- men sind, werden mit der Songauswahl im letzten Drittel milde gestimmt: »Today Your Love, Tomorrow the World«, »«, »53rd & 3rd« und natürlich »We’re a Happy Family«. Seit Jahren haben die Ramones nicht oder kaum mit ihrer Setlist experimentiert, die die Konzertbesucher meist nach zwei Zugabenblöcken mit jeweils drei Songs nach Hause schickte. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen legte die Band ein zusätzliches Song-Doppel drauf. Meist dann, wenn die Stimmung der Fans be- sonders euphorisch oder das Verhältnis zwischen Band und Publikum über viele Jahre gewachsen war: im Barrowlands von Glasgow etwa, oder in Tijuana, Mexiko, als sich die Fans sogar vom obersten der drei Balkons in die Tiefe stürzten.

1.13 Götter unter sich: Die Ramones und Lemmy Kilmister spielen gemeinsam den Motörhead-Song »R.A.M.O.N.E.S.«. (Warren Cohen) 17

Wer heute, beim letzten Konzert, auf eine ähnlich spendable Geste hofft, wird ent- täuscht. Business as usual seitens der Band und peinliche Stille im Publikum, das selbst nach Chris Cornells l ehentlicher Aufforderung, endlich mal »ein bisschen gott- verdammten Lärm« zu veranstalten, teilnahmslos Richtung Bühne starrt. Als Eddie Vedder mit dem Dave-Clark-Five-Hit »Any Way You Want It« den i nalen Song des Abends anstimmt, klammert er sich mit geschlossenen Augen an sein Mikrofon und wiegt sich gedankenverloren im Takt der Musik. Wohlwissend, dass dieses Duett mit das ultimativ Letzte sein wird, was man von den Ramones live zu hören bekommt. Als sich der Sänger wenig später ein letztes Mal beim Publikum bedankt und allen Anwesenden noch eine »good night« wünscht, hat sich ein Großteil der Prominenz bereits im Foyer versammelt, bereit für die After-Show-Party, die es nicht geben wird. Auch Johnny Ramone verlässt das Palace so, als würde morgen gleich der nächste »Job« anstehen: Tasche packen, Autogramme schreiben, zurück in sein neues Haus am Fuße der Hollywood Hills, noch ein Glas Milch und ein paar Kekse mit seinen Freunden Eddie Vedder und Vincent Gallo, danach ins Bett. Keine Trauer. Keine Genugtuung. Keine Reue. Kein Adieu. Für ihn ist das letzte Konzert nicht nur so unsentimental wie all die anderen 2262 zuvor auch, sondern gleichzeitig auch der Auftakt zu dem Leben, auf das er die letzten zweiundzwanzig Jahre hingearbeitet hat: ein Leben der Entspan- nung und der Ruhe, ohne Grabenkämpfe, Dramen und diese ständige Wut, die ihn seine Karriere lang begleitet hat.

1.14 1.15

1.14 / 15 Nichts ist heute so, wie es immer war. Nicht mal schwarze Ramones-T-Shirts gibt es am letzten Abend zu kaufen, sondern nur diese dreckblauen. Die Aul age ist so gering, dass sie schon vor der Show vergrif en sind. 18

1.16

1.16 C. J. Ramone und Flo Hayler nach dem letzten Konzert vor dem Mondrian Hotel, Los Angeles, 6. August 1996. Ein Abschied ins Ungewisse. Wie, wo und wann wird man sich wiedersehen – jetzt, ohne die Ramones? (Marc Zibirre) 19

Das war es dann also. Nie wieder Ramones. Ein völlig unwirklicher Gedanke beim Anblick des feiernden, lachenden Dutzends auf dem Balkon des Mondrian Hotels, in das sich drei der vier Bandmitglieder nach dem Ende der Show zurückgezogen haben – um dort getrennt voneinander den Abend ausklingen zu lassen. Joey Ramone verab- schiedet sich mit seiner Entourage aus Fans und Freunden genauso auf sein Zimmer wie mit seiner Frau Marion. C. J. Ramone steht mit einigen Motor- rad-Freunden, der Moshpit-Fee und uns auf dem Balkon seiner Suite. Es sieht so aus, als hätte das Mädchen seinen Sturz in den Bühnengraben unbeschadet überstanden, von den paar Blutresten am Knie mal abgesehen. Da steht sie, lachend, mit einem Drink in der linken und einer Zigarette in der rechten Hand, die sie wenig später in den Pool schnippen wird. Für sie, uns und alle anderen ist morgen, der 7. August, ein Tag wie jeder andere. Für C. J., die Band und die Crew besteht die Herausforderung der nächsten Wochen hingegen darin, ihren Status als Ex-Ramone abzulegen oder in einen anderen Kontext zu setzen. Und sie sind vorbereitet: Ramones-Bassist C. J. Ramone wird wieder zu Christopher Joseph Ward, der mit seiner neuen Band bereits eine erste Tour durch Südamerika absolviert hat und davon ausgeht, mit dem neuen Projekt nahtlos an das Tourleben der Ramones anschließen zu können. Schlagzeuger Marky Ramone bleibt Schlagzeuger Marky Ramone, der mit einer Band namens The Intruders bereits in den Start löchern steht, um ein Album aufzu- nehmen. Und aus Joey Ramone wird der Punk-Pate von New York, musikalische Muse und väterlicher Freund des lokalen Undergrounds. Gitarrist Johnny Ramone lebt im Gegensatz zu seinen aktiven Ex-Kollegen den Traum vom Nichtstun. Er wird zum Privatier John Cummings, der sich die Zeit damit vertreibt, seine diversen Film poster und Elvis-Memorabilia zu ordnen und gemeinsam mit seinen Schauspieler- und Musiker-Freunden das Exploitation-Programm des hauseigenen Kinosaals zu genießen. Das perfekte Dasein für einen, der sein Leben lang nichts anderes wollte, als sich endlich zur Ruhe setzen zu können. 20

Ihren Abschied haben die Ramones von langer Hand vorbereitet. Wenn auch über ein paar Umwege. Der Plan, ihr letztes Konzert am 16. März in Buenos Aires, Argentinien, zu absolvieren, ändert sich spätestens mit der Anfrage, im Sommer 1996 beim sechs- ten Lollapalooza Festival aufzutreten. Gemeinsam mit Metallica, Soundgarden und der Bay-Area-Sensation Rancid, deren Album …And Out Come the Wolves im Januar 1996 nur vier Monate nach der Veröffentlichung mit Gold ausgezeichnet wird. Eine Ehre, die bisher nur wenigen Punk-Alben und schon gar nicht einem Werk der Ramones zuteil wurde – zumindest nicht in Amerika. Hauptmotor hinter der Teilnahme der Ramones an dem prestigeträchtigen Festival sind Soundgarden, die auf und abseits der Bühne keinen Hehl daraus machen, wie sehr die Band sie beeinlusst hat. Aus den Fans und Idolen von einst werden im Laufe der Lollapalooza-Tour Freunde, so wie bereits Eddie Vedder oder Rob Zombie, die sich ihre Helden kurz zuvor ins Vor- programm buchten – und sie dabei so respektvoll und zuvorkommend behandelten wie selten ein Hauptact zuvor. Dass sich der erfolgreiche Nachwuchs nicht nur an der Anwesenheit ihrer Ziehväter erfreut, sondern auch etwas Nachhilfe in Sachen Technik bekommt, erkennt man an deren interessierten Blicken vom Bühnenrand, wenn Gitarrenroadie Rick Weinman die Einstellungen an Johnnys Marshalls justiert. Einem anderen macht die kurzfristig anberaumte Lollapalooza-Tour dagegen einen Strich durch die weitere Lebensplanung: Bassist C. J. Ramone. Er hat in der Annahme, sein Einsatz bei den Ramones wäre nach dem Konzert in Buenos Aires beendet, für den Sommer einen Roadtrip auf seinem Motorrad ins Auge gefasst. Einmal quer durch die USA, gemeinsam mit ein paar Freunden. Um die Pläne der Band nicht zu torpedieren, einigt er sich mit Johnny Ramone auf einen Kompro- miss: Die Ramones erlauben C. J., die komplette Tour auf seinem pechwarzen Bock zu absolvieren. Verpasst er jedoch einen Auftritt, verliert er seinen Wochenlohn. C. J. schlägt ein. Siebenhundertfünfzig Dollar, denkt er sich, das ist zu verkraften. Siebenunddreißig Tage hat der Ramones- Bassist schon auf seinem selbst gebauten Chopper verbracht, dabei Wind und Wetter getrotzt, und so sieht er auch aus: braun gebrannte Arme, die Motorradstiefel staubig, die Jeans ölverschmiert. Nur auf den Bart, den er sich bei solchen Gelegen- heiten gerne stehen lässt, verzichtet er, denn ein Ramone – so lautet das ungeschriebene Gesetz – kommt immer rasiert zur Arbeit. Von ein paar kleineren Pannen abgesehen haben Mensch und Material die knapp siebentausend Meilen durchgehalten, sogar ein Abstecher zum abseits der Route gelegenen Geburts- haus von Elvis Presley war drin. Eine willkommene Abwechslung vom Touralltag, der ihn und seine Band regelmäßig bei gleißendem Sonnenlicht auf die Lollapa- looza-Bühne spült, um für ein Publikum zu spielen, das mit Hotdog in der einen und Bierbecher in der anderen Hand kaum in der Lage ist, wenigstens zu applaudieren. 2.01

2.01 Die Reiseroute der Ramones im Sommer 1996. Die Lollapalooza-Tour führt die Band noch einmal quer durch die USA, gemeinsam mit Metallica, Soundgarden und Rancid. Das letzte Konzert sollte ursprünglich in Seattle stattinden, wurde nach der Absage der letzten drei Festivaltermine aber nach Los Angeles verlegt. 21

2.02

2.02 Adios Amigos. Joey Ramone hebt zum vorletzten Mal den Arm zu »Hey Ho, Let’s Go«, dem legendären Schlacht- ruf der Ramones. (George DeSota) 22

2.03

Knapp siebzehntausend Menschen passen in das Irvine Meadows Amphitheatre, das 1980 von der Irvine Company zwischen den Freeways 5 und 405 in den Sand gebaut wurde. Gleich nebenan liegt der Wild Rivers Waterpark, ein vielgliedriges Tentakel aus Wasserrutschen, Sprungtürmen und sprudelnden Fontänen. Seit der Eröff- nung hat das Irvine Meadows schon so manch imposante Show gesehen, darunter den jährlichen Auftritt des Paciic Symphony Orchestra, die Bad-Tour von Michael Jackson oder die fünfzehn Auftritte von Grateful Dead, mitsamt den von Abertau- senden Wohnwagen und VW-Bussen herbeigekarrten Deadheads. Auch heute ist der Parkplatz des Open-Air-Geländes gut gefüllt. Allerdings nicht mit Hippies oder Klassik-Anhängern, sondern einer Heerschar schwarz gekleideter Metalheads, die auf den Pritschen ihrer Pick-ups oder in den Sitzen ihrer Jeeps hocken, die Anlagen auf- gedreht bis zum Mond. »Ride the Lightning«, »One«, »Master of Puppets«, »Wherever I May Roam« – das ist der Soundtrack, der ihnen den Alltag versüßt und heute auch unseren Aufstieg in Richtung Amphitheater begleitet. Es ist früher Nachmittag, glü- hend heiß, und es gibt keinen Schatten, schon gar nicht vor der Bühne. Stattdessen stehen dort im Halbkreis angeordnete Bänke, wie mit dem Zirkel gezogen, damit die erhabenen Klänge des Paciic Symphony Orchestra die Ohren ihrer eklektischen Hörerschaft auch im optimalen Winkel erreichen. Für eine Rock-Show wie heute sind die Sitzmöbel eher hinderlich. Und ob es die Klassikfreunde schön inden, wenn dort, wo normalerweise ihre kultivierten Ärsche sitzen, ein paar volltrunkene Hillbillies ihre staubigen Stiefelabsätze ins Holz rammen, darf bezweifelt werden. Wir stellen uns an die Absperrung zu den Sitzbänken, um von dort das Konzert der Ramones zu beob- achten. Was wir zu sehen bekommen, ist trist und unterhaltsam gleichermaßen.

2.03 16 Uhr, 42 Grad im Schatten. C. J. Ramone entledigt sich beim Konzert in Irvine, Kalifornien, seiner Lederjacke. Assistiert wird ihm von den Crew-Mitgliedern Warren Cohen (rechts) und Charles Carpenter (links). (Rick Johnson) 23

Flatsch. Mit einem schmat- zenden Geräusch landet die Spucke von C. J. Ramone in den Röstzwiebeln des Hotdogs, den der Knabe vor ihm gerade verspeist – ohne davon auch nur Notiz zu nehmen. Wie viele an- dere Metal heads auch hat er heute richtig investiert, um seinen Helden Metallica ganz nahe zu kommen. Und natürlich die angepriesenen Privilegien des »Pit«-Tickets 2.04 nutzen zu dürfen: Einlass durch die VIP-Drehtür, uneingeschränkte Sicht auf die Bühne, stets lieferbereite Würst- chen- und Bierverkäufer. Blöd ist nur, dass der nächste Schatten erst nach Sonnenunter- gang seine Gegend streift und er vor dem Metallica-Auftritt all diese anderen Bands ertragen muss, die irgendein Idiot ins Vorprogramm gebucht hat. Die Ramones zum Bei- spiel. Oder noch langweiliger: Devo. Fünf Stunden sind es noch bis zum heiß ersehnten Auftritt seiner Metal-Götter, und schaut man in seine dehydrierte Visage, bekommt ein Song wie »For Whom the Bell Tolls« eine ganz neue Bedeutung. Amerika und die Ramones, das sind auch nach zweiundzwanzig Bandjahren immer noch zwei Welten für sich. An Nachmittagen wie diesem im Irvine Meadows wird deutlich, dass der Band in ihrem eigenen Land nie der lächendeckende Respekt zuteilwurde, der im Laufe der letzten Jahre vor allem in Südamerika kulthafte, bei- nahe religiöse Ausmaße angenommen hat. Die Ramones, die im Laufe ihrer Karriere Initialzündung und Türöffner für Tausende Bands und unzählige Genres waren, von Punk über New Wave, Metal und Hardcore bis hin zu Grunge, wurden vom Radio, von MTV und dem amerikanischen Mainstream zeitlebens strälich übersehen. Auch heute, drei Tage vor der Rente, rauscht ihr knapp fünfundvierzigminütiges Set an den meisten Anwesenden bloß vorbei. Sie scheinen völlig unbeeindruckt davon, dass sie ohne die Songs der Ramones genauso wenig hier auf ihren Plätzen sitzen würden wie backstage ihre Helden: Metallica, Soundgarden, Rancid. Diese Bands sind der ver- längerte Arm eines Sounds, eines Looks, einer Attitüde, einer Vision, die die Ramones mit unnachahmlicher Wucht und Präzision in die Musikgeschichte gestanzt haben, stets in der Hoffnung, eines Tages die Lorbeeren für ihre Pionierarbeit ernten zu kön- nen. Vergeblich. So blieben die vier Freaks aus Queens zeitlebens das hässliche Entlein der Populärmusik, auch trotz oder wegen ihrer stets klaren Haltung und jede Schmerzgrenze ignorierenden Arbeitsmoral. Allesamt Attribute, die den Mitgliedern der mitreisenden Bands heute als Vorbild dienen. So rollt eine Rampensau wie James Hetield oder ein Schönling wie Chris Cornell den Ramones im Rahmen von Lolla- palooza genauso respektvoll den roten Teppich vor den Trailer wie bodenständige Arbeiter der Sorte Kim Thayil, Ben Shepherd oder Jason Newsted. Eine interessante Erkenntnis für den überzeugten Einzelkämpfer Johnny Ramone, der andere Bands zeitlebens nie als Verbündete, Gleichgesinnte oder Freunde wahrgenommen hat, son- dern stets als Nachahmer, Trittbrettfahrer und potenzielle Konkurrenten.

2.04 Marky Ramone bei der Arbeit. Irvine Meadows Amphitheatre, Irvine, Kalifornien. (George DeSota) 24

2.05

2.05 Johnny Ramone im Kreise seiner Lieben: Lars Frederiksen (Rancid) und Schauspieler Vincent Gallo. (Rick Johnson) 25

2.06

2.08

2.07

2.06 Joey und Marky Ramone mit Devo, backstage beim Lollapalooza Festival 1996. (Rick Johnson) 2.07 Joey Ramone im Gespräch mit Metallica-Sänger James Hetield. Im Hintergrund: Ramones-Crew-Mitglied Warren Cohen. (Rick Johnson) 2.08 Johnny Ramone im Gespräch mit Soundgarden-Sänger Chris Cornell. (April Cameron) 26

Keine drei Tage ist es her, dass ich die Postkarte an Johnny Ramone in den Brief- kasten geworfen habe. Nur eine kurze Info an ihn, dass ich in der Stadt angekom- men bin. Ich wohne im Sunset Plaza von West Hollywood, Zimmer 218. Gestern klingelte dann mein Telefon. »Hi, hier ist Johnny. Ich habe deine Karte bekommen. Was machst du in der Stadt? Hast du Zeit? Warum kommst du nicht einfach vorbei? Am besten am Nachmittag. Hast du ein Auto? Hast du einen Stadtplan? Es ist nicht ganz einfach, hierher zu inden. Halte dich links am Mulholland Drive.« Es ist Frühjahr 2001. Fünf Jahre sind seit dem letzten Aufeinandertreffen zwischen Johnny Ramone und mir vergangen. Zeit genug für ihn, sich in seiner neuen Heimat Los Angeles mit dem ersehnten Rentnerdasein anzufreunden und mit einem stattlichen Freundeskreis aus Musikern und Hollywood-Größen umgeben zu können. Nicolas Cage ist genauso regelmäßig bei ihm zu Gast wie Lisa Marie Presley, die Tochter seines größten Idols, Vincent Gallo, der Schauspieler, oder John Frusciante von den Red Hot Chili Peppers. Und natürlich Eddie Vedder, den er mindestens einmal täglich anruft, um ihn daran zu erinnern, dass gute Freunde mindestens einmal täglich miteinander telefonieren sollten. Der Weg vom Sunset Boulevard zu Johnny Ramones Finca führt mich durch Bel Air, vorbei am Rodeo Drive, dem Beverly Hills Hotel und den hinter dichten Hecken und hohen Zäunen verborgenen Prachtbauten des Benedict Canyon Drive, einer schmalen, kurvigen Piste am Fuße der Hügel. Zwei Zigarettenlängen später kreuzt der Canyon den Mulholland Drive, jene sagenumwobene Panoramastraße, der David Lynch sein Meisterwerk und R.E.M.-Sänger Michael Stipe eine ganze Strophe widmete. Hier, am westlichen Ende, ist außer den an der roten Ampel ge- stapelten Auslugsbussen und Miet-Cabrios der Touristen vom Mythos der Pracht- straße nicht mehr viel übrig. Ich biege zweimal links ab und nähere mich der Adresse, die auf Johnnys zuletzt geschickter Weihnachtskarte klebt – als Etikett in Baseballform. Hier muss es sein: Ein silberner Cadillac steht in der Aufahrt, im Garten blühen die Kakteen. »Hast du gut hergefunden?«, fragt Johnny und öfnet das Gartentor. Immer diese Fragen. 27

3.01

3.01 Die Ramones Ranch, wie Johnnys Ehefrau das gemeinsame Haus am Fuße der Hollywood Hills tauft. Ein Kuriositätenkabinett, bis unters Dach gefüllt mit den Devotionalien des Sammlers Johnny Ramone. Der Pool wird von Eddie Vedder per Sprung vom Dach eingeweiht. (Natalie Joos) 28

Hübsch hier. Ein bisschen zu viel Pink vielleicht, aber wenigstens nicht so hölzern und bieder wie die Häuser aus den Immobilien-Katalogen, die der Gitarrist in seinen letzten aktiven Tourwochen durchgeblättert hatte, mit aktuellen Angeboten in Florida oder eben Kalifornien. »Meine Frau möchte nach Los Angeles«, ließ er noch im Januar 1996 verlauten, als wir nach dem Konzert in Berlin in der Lobby des Steigenberger Hotels saßen und dem Schnee beim Fallen zusahen. »Nur ist es dort viel teurer als in Florida. Also habe ich ihr gesagt: ›Wenn wir nach L.A. ziehen, dann musst du was dazuverdienen.‹« Ein weiterer gewichtiger Grund für Johnny, seinen Altersruhesitz nach Los Angeles zu verlegen, war sein Freund Rob Zombie, der ihn nachhaltig von den Vorteilen der Metropole überzeugen konnte: das Wetter, die lockere Atmo- sphäre, die Nähe zu den Orten, an denen die legendärsten Filmszenen entstanden, und nicht zuletzt die gut sortierten Poster- und Vintage-Läden, in denen auch die ab- seitigsten Horror- und Splatter-Memorabilia gehandelt werden. Heute, gut fünf Jahre später, fährt Johnny seine Frau Linda jeden Morgen zur Arbeit in ihren Beauty-Salon und holt sie am Nachmittag wieder ab. In der Zwischenzeit frönt er seinen Hobbys: Filme schauen, Baseballspiele verfolgen, seine diversen Sammlungen sichten, sich zum Abendessen verabreden. Nachdem wir auf der mit Leopardenfell bezogenen Couch Platz genommen und die eigenen Meinungen über Rock’n’Roll High School mit der seiner bevorzugten Film-Enzyklopädie verglichen haben, führt er mich durch sein Haus. Gut sieht er aus, wie damals: Topfschnitt, blaues T-Shirt, blaue Jeans, schwarze Reeboks.

3.02

3.02 Die alljährliche Weihnachtskarte von Johnny Ramone. Ein kurzer Gruß vor den Feiertagen, stets mit wechselnden Motiven: Elvis, Teddybären, Tannenbäume. Ein Musiker, der seinen Fans frohe Feiertage wünscht – eine wahrlich seltene Geste. 29

Eine Menge Zeit habe er in die Gestaltung und Ausstattung der Räume investiert, sagt Johnny und führt mich durch seinen museumswürdigen Altersruhesitz. Den Pool draußen hat er erst neulich eingeweiht, auch wenn sein Freund Eddie Vedder ihn dazu nötigen musste. Während der Pearl-Jam-Sänger mit Anlauf vom Dach des Hauses ins kühle Nass hüpfte, stieg Johnny lieber über die Leiter in das Becken, bekleidet mit Badehose und Bademütze. Schließlich wäre es Zeitverschwendung, sich zweimal am Tag die Haare zu föhnen. Was für den Garten der Pool, ist für das Innere seines Hau- ses das Elvis-Zimmer: Mittelpunkt und Blickfang zugleich, gespickt mit einer müde leuchtenden AMI-Continental-Jukebox, unzähligen Postern, Filmplakaten und Fotos des Kings, viele davon signiert und natürlich in maßgefertigten Rahmen angeordnet. Er habe sogar einige Fenster des Hauses versetzen lassen, damit alles an die Wände passt, sagt er und betrachtet über den Rand seiner rechteckigen Brille hinweg eine Champagnerlasche, die am 1. Mai 1967 zur Trauung von Elvis und Priscilla Presley geköpft wurde. »Ein Highlight meiner Sammlung. Genau neun Monate später wurde Lisa Marie geboren.« Man kann sich vorstellen, was es für einen Elvis-Fan wie ihn bedeuten muss, die Tochter des Kings heute als Freundin bezeichnen und mit ihrem Privatjet zur Elvis-Ranch liegen zu können. Noch näher am Idol geht nicht. Auf unserem Rundgang durch die Räume und das mit blutrotem Teppich ausge- legte Heimkino wird deutlich, wie akribisch der Mann seinen Hobbys nachgeht. Jedes Exponat hat seinen Platz, jede Wand ist eine Komposition, jeder Themenkomplex hat eine eigene Dramaturgie. Sogar im Bad und in der Küche, die er eigenhändig gestal- tet und mit gerahmten Bleistift-Zeichnungen des jungen Ronald Reagan versehen hat: der Polit-Cowboy privat, in seinem Feriendomizil Rancho del Cielo. Ein Zimmer weiter hängen Lobbykarten und Poster der berühmtesten Horrorilme aus den Zwanziger- bis Fünfzigerjahren. Darunter stehen die ausgestopften Körper von Dutzenden Tieren, von Hahn und Fuchs über Waschbär und Leopard bis hin zum Gecko. Sie machen den Raum zum morbiden Kabinett des schlechten Geschmacks, gleich neben Johnnys Galerie der Freaks und Massenmörder, die den Flur zum Filmsaal säumt. In trauter Eintracht mit Miniaturausgaben von Goebbels und Hitler hängen hier auch die Wim- pel von Satan, John Wayne Gacy oder Charles Manson, dessen ebenfalls zur Schau gestellte Stoffpuppen-Version fatal an die Visage von Vincent Gallo erinnert, schon allein wegen des Vollbarts. Mit Gallo, Nicolas Cage oder Metallica-Gitarrist Kirk Hammett sitzt Johnny Ramone oft und gerne in den wenigen Reihen seines Kinos, um sich dort die Klassiker des Splatter-, (S)Exploitation- und Horror-Genres anzu- schauen: Bride of Frankenstein, The Invisible Man, The Texas Chainsaw Massacre , Night of the Living Dead oder Two Thousand Maniacs! Filme, von denen er schon als Jugendlicher nicht genug bekommen konnte und die seinen Hang zum Abseitigen, zum Verbotenen, zum Extremen auf die überdimensionale Leinwand projizieren. Hun- derte solcher Streifen hat er in seiner wandfüllenden VHS- und DVD-Bibliothek auf- gereiht, und sie warten nur darauf, eines Tages aus ihren Hüllen gezogen zu werden. Manche davon vergeblich, denn Johnny hat zu viel zu tun. Rentner halt. 30

Während der Fahrt zurück Richtung Hotel liegt auf dem Bei- fahrersitz das signierte Porträt, das Johnny mir zum Abschied geschenkt hat. Es zeigt ihn so, wie er sich am liebsten selbst gesehen hat, und wie sich die Fans an ihn erinnern sollen: breit- beinig und mit wütend-entschlossener Mimik auf der hölzernen Bühne des Hammersmith Odeon von London, die weiße Mos- rite im 45-Grad-Winkel zwischen Kniekehle und Beckenkno- chen eingehakt. Auf seinem T-Shirt steht »Ramones«, aber das darauf gezeichnete Porträt zeigt nur ihn. Aufgenommen wurde es von David Curio im Oktober 1980. Ein perfekter Moment. Ich werde das Bild rahmen und ins Wohnzimmer hängen. Oder ich lege es zu den Weihnachtskarten, die er immer pünktlich zu den Feiertagen an Fans und Freunde verschickt, stets mit ir- gendwelchen kitschigen Elvis- oder Kindermotiven. Eine nette Geste natürlich, aber vor allem Ausdruck des Umstands, dass Johnny Ramone zu einer ganz besonderen Musiker-Spezies gehörte. Einer, der den Austausch und Kontakt mit seinen Fans nicht nur plegte, sondern regelrecht suchte. Wenn wir ihn früher nach einem Konzert im Hotel trafen, galt sein erstes Interesse stets dem Sound. War er gut, war er schlecht? Wo habt ihr gestanden? Gab es irgendwelche Besonderheiten? Wie war die Stimmung im Publikum? Es folgte der Fragenka- talog zum nächsten Tag: Kommst du morgen zur Show? Wenn 3.03 ja, wie viele seid ihr? Wie kommst du dorthin? Hast du schon die Fahrkarte, bzw. hast du genug Geld, um sie dir zu kaufen? Wann kommst du an? Wichtig war ihm auch, dass wir unsere Eltern stets davon in Kenntnis setzten, wo wir waren und wann wir wieder nach Hause kamen. Nicht, dass sich jemand Sorgen machte. Johnny Ramone wurde in solchen Momenten vom unnahbaren Idol zur leisch- gewordenen Vaterigur, zur fürsorglichen Instanz, die uns im Gegensatz zu den Klas- senkameraden, Lehrern oder Eltern tatsächlich zuhörte. Jemand, der uns ernst nahm und verstehen wollte. Egal, um welches Thema es ging, und auch wenn uns mal eine englische Vokabel fehlte. Er gab uns stets das Gefühl, willkommen zu sein. Oft steck- te er nach seiner Ankunft an der Konzerthalle den Kopf durch ein Fenster oder eine Tür, um uns hereinzuwinken, uns im nächstbesten Gang abzusetzen und dann ein kurzes »See you later!« zuzurufen, was man getrost als Verabredung für ein späteres Treffen in der Hotellobby deuten durfte. Neben den Konzerten waren nicht zuletzt solche Momente der Grund, warum wir im Abstand von wenigen Wochen Schülerjobs in Tankstellen oder Kantinenküchen annahmen, um mit dem verdienten Geld ins Reise- büro zu laufen und dort den nächsten Mietwagen, die nächste Zug- oder gar Flugreise zu buchen. In der sicheren Gewissheit, dass uns die Ramones nicht enttäuschen würden. Weder auf, noch abseits der Bühne.

3.03 / 04 Wenn Johnny die Autogrammwünsche seiner Fans schon nicht mehr auf Tour erfüllen kann, erledigt er das eben per Post. Das Foto von 1978, auf dem er das »Heartbreak Hotel«-Shirt mit Elvis-Motiv trägt, hat es ihm so ange- tan, dass er sich einen Abzug davon wünscht. Nichts lieber als das. (Peter Mazél) 3.05 Johnny Ramone 1980 im Hammersmith Odeon, London. Eins seiner persönlichen Lieblingsbilder von sich: breit- beinig im einzigen Lichtkegel, wütende Visage, die Gitarre mehr Wafe als Instrument. Johnny hat stets einen Stapel dieses Motivs gribereit im Haus, um es für Fans und Freunde zu signieren und als Souvenir mit auf den Weg zu geben. (David Curio) 31

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3.05 32

4.01

»Die Ramones zogen sie an wie Magneten: die Freaks, die Außenseiter. Sie waren die Band, die diesen Leuten das Gefühl gab, irgendwo hinzuzugehören.« (C. J. Ramone in Monte A. Melnicks Buch On the Road with the Ramones)

4.01 Die Ramones und Fans, Huntington Beach, 25. August 1976. Die Ramones haben ein besonderes Verhältnis zu ihren Fans. Manche von ihnen heuern sie als Roadies an, über andere schreiben sie Songs. (Danny Fields) 33

Meistens sind wir zwischen zwei und zwölf Personen. Ein buntes, aber in seiner Zu- sammensetzung halbwegs stabiles Fan-Karussell, auf das mal mehr, mal weniger Leute aufspringen – abhängig von Budget, Kontinent und vorhandener Urlaubs- oder Ferien- zeit. Wenn die Ramones in Europa unterwegs sind, kann man davon ausgehen, dass man früher oder später auf die gleichen Visagen trift: die Mitglieder des italienischen Fanclubs oder des deutschen Ablegers, der sogar eigene Festivals veranstaltet und Fanzines ver- öfentlicht. Club-Oberhaupt Jörg ist mit den Bandmitgliedern nicht nur per Du, er sieht auch so aus wie sie: groß, spindeldürr, markante Gesichtszüge, pechschwarzer Topfschnitt. Wäre er nicht Schlagzeuger, hätte er mit ein bisschen Übung aussichtsreicher Kandidat für den vakanten Posten des Bassisten werden können, den die Ramones 1989 zu vergeben hatten – von Alter und Attitüde her hätte da alles gepasst. Jörg ist Bankkaufmann und damit der wohlhabendste von uns. Trotzdem fährt er weiterhin seinen verbeulten, weißen Opel Corsa, den er stets direkt vor den Konzerthallen parkt – leicht zu erkennen an der von oben bis unten mit Ramones-Stickern beklebten Heckklappe und den schwarzen Hie- roglyphen auf der Motorhaube. Dort, wo ihm die Ramones großlächig ihre Autogramme aufs Blech gesetzt haben. Ebenfalls ganz vorne mit dabei ist Thorsten aus Oberhausen, ein Postbote mit ockerfarbenem Mercedes 200 D, dem nobelsten Vehikel in unserer Tourkara- vane. Thorsten ist zwar Beamter auf Lebenszeit, hat aber keine Lust, bis zur Rente Briefe zu sortieren. Viel lieber schläft er aus und raucht zum Frühstück ein Tütchen, als den Bürgern von Oberhausen ihre Post zu überreichen. Sein erklärtes Ziel: früh in Rente gehen. Nur wie, das weiß er noch nicht so genau. Im Vergleich zu Thorstens wenig ausgeprägter Arbeitsmoral steht es um die Motivation eines anderen Mitreisenden sehr gut: Christian, ein Abiturient aus Monheim, der sich gemeinsam mit Jörg um die Aktivitäten des Fan- clubs kümmert. Christian wohnt noch bei seinen Eltern, die das Hobby ihres Sohnes nicht nur unterstützen, sondern sogar seine Gäste verköstigen. Als der Filius im Dezember 1993 die Ramones zu Gast hat, zaubern Vater und Mutter eine Bolognese, die nahe an dem ist, was die Band ein paar Monate zuvor im Wohnzimmer des italienischen Fanclub-Chefs Paolo bekam. Diesmal jedoch mit Schnitzelchen als Sahnehäubchen. Wer als Neuzugang zu dem elitären Kreis der Superfans aufschließen will, muss zunächst durch das Nadelöhr der Fanclub-Vorderen, die den Nachwuchs genau ins Visier nehmen und ein paar Tests unterziehen, bevor sie ihn als fünftes Rad an ihren Tourtross montieren. Gang-übliche Rituale halt, ohne Wafen, aber mit manchmal brutalen Verkehrsmanövern. Und dann gibt es die Fans, denen der persönliche Draht zu Band oder Gleichge- sinnten völlig egal ist. Alles, was sie wollen, ist der ultimative Rausch: ein nachmittäg- licher Cocktail aus Dosenbier oder Supermarkt-Sangria und später den mit maximaler Lautstärke ins Hirn gehämmerten Hymnen der Ramones. Für diesen Kick verbringt mancher Fan schon mal ein paar Nächte in den Wartehallen der Bahnhöfe oder acht Stunden auf der Rückbank eines verfallenen Kleinwagens. Im Hochsommer, ohne Klimaanlage, aber mit defekten Fensterhebern. 34

4.02

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4.02 After-Show-Foto an einer dieser Hotelbars nach einem Ramones-Konzert im Dezember 1993. Mitglieder des deutschen Fanclubs mit C. J. Ramone, Monster-Magnet-Bassist Joe Calandra und Tourmanagerin Petra Hammerer. 4.03 Der europäische Fan-Trek, angereist aus Italien, England, Deutschland. Warten auf die Ramones, Holland, 1994. 35

Nun sitzen sie da, die Fans aus Schottland, England, Jugoslawien, Australien und Spanien, wie ein ungeduschtes, leicht soziophobes Ensemble am Rande der Gesell- schaft, das vom Schicksal in die Arme der Leidensgenossen gespült wurde. Es sind Schüler, Studenten, Alleinreisende und Paare, Bankkaufmänner, Anwältinnen, Post- boten, Lehrer, Rollstuhlfahrer und Marktschreier. Sie sind dünn, dick, groß, klein, schlau, hohl, arm, katholisch, evangelisch oder nichts von allem. Sie sind vereint unter dem Dach der Ramones, unter dem sie Schutz, Trost und Gleichgesinnte in- den, zu jeder Jahreszeit und auch bei miesem Wetter. Es sind Typen wie Scottish Weir. Seinen richtigen Namen kennt keiner. Jeder nennt ihn nur Scottish Weir. Ein untersetzter, stets volltrunkener und mit seiner Wodka- Flasche verwachsener Schotte mit Drahthaaren. Zwischen seiner verpickelten Stirn und der lila verfärbten Nase klebt eine überdimensionale Kassenbrille, mit dünnen silbernen Rändern und großen, hellblau getönten Gläsern. Scottish Weir hat immer einen Stapel Porno-Magazine bei sich, bevorzugt sodomitischer oder sadomasochistischer Bauart. Er prahlt oft und ausgiebig damit, achtmal hintereinander onanieren zu können. Doch er scheitert kläglich, als es einmal ernst wird und ihm eine Gruppe nicht minder voll- trunkener Briten in Hamburg einen Besuch in der Herbertstraße spendiert. Zwanzig Minuten lang verausgabt sich der Arme in der Hofnung auf eine seiner zahlreichen Erek tionen, dann muss er erfolglos abbrechen. Oder Nancy und Leslie aus Brüssel. Ein resolutes, aber durchaus sympathisches Ehepaar, das es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, eine Liste von hundert quer über die Weltkugel verteilten Reisezielen abzuarbeiten, bevorzugt in Kombination mit Ramones-Shows. Der Vorteil der beiden: Als Angestellte eines Reisebüros und technischer Leiter einer belgischen Airline genie- ßen sie die Privilegien satt rabattierter Flug- und Hotelpreise, was sich vor allem bei Trips nach Übersee als extrem praktisch erweist. Auch für Mitreisende wie mich. Außer- dem sind Leslie und Nancy mit einer professionellen Kameraausrüstung gesegnet, um Auslüge an die Niagara fälle genauso festzuhalten wie nächtliche Irrfahrten mit der Ramones-Crew durch das verwaiste Stadtzentrum von Rochester. Obendrein haben die beiden keiner lei Scheu, ihre Technik auch in Anwesenheit der Band großzügig einzuset- zen. So dokumentieren sie neben vielen Backstage-Momenten auch jene Situationen, die man eher selten zu sehen bekommt: wenn etwa C. J. Ramone beim nächtlichen Waschgang in Clogs und Unterwäsche auf seine frisch geschleuderten Hosen wartet. Eine Nachtschicht für die Ramones, der Hygiene wegen. Und dann gibt es Peter und mich. Peter ist eigentlich zu schlau für die Ramones, und für unseren tumben Haufen sowieso. Der Hochbegabte ist der jüngste Spross einer erzkatholischen Familie, sein IQ jenseits der hundertfünfzig, er ist angehender Abiturient und ein teulisch guter Gitarrist. Er wird eines Tages Karriere machen, das steht fest, irgendwas Wissenschaftliches wahrscheinlich, oder im Vorstand eines DAX-Konzerns. Als ich ihn zum ersten Mal trefe, nach einem Ramones-Konzert in 36

der Hamburger Sporthalle, ist er achtzehn und hat einen ausgeprägten Spuckrelex. Ein Ritual vielleicht, ein Tick, oder einfach nur zu viel Speichel? Ich habe nie ge- fragt. Peter und ich halten losen Briekontakt. Er wohnt im Sauerland und ist damit näher dran an der deutschen Schaltzentrale, dem Fanclub aus Düsseldorf, und leitet mir stets die nächsten Konzertdaten weiter, per Brief oder Telefon. Ich wohne vier- hundert Kilometer entfernt in Helmstedt, dem letzten Ort vor der DDR, direkt an der deutsch-deutschen Grenze. Außer mir gibt es hier praktisch niemanden, der jemals etwas von den Ramones gehört hat. Außer Brani. Brani ist schon einundzwanzig, trägt kaputte Levi’s, Bikerstiefel, hat eine Art Greaser-Tolle und hängt den ganzen Tag im Billardsalon rum. Wahrscheinlich hat er mal Die Outsider im Fernsehen ge- sehen. An den Wochenenden sieht man ihn die Asirunde drehen, einmal mit seinem pinkfarbenen Manta entlang der Innenstadtschleife, mit seiner Freundin auf dem Beifahrersitz. Sie heißt Sandra, aber alle nennen sie Czes, weil ihr Vater so heißt. Ich wäre gerne so wie Brani, fahre aber kein Auto, sondern ein Karstadt-Fahrrad in hellblau-metallic. Eine Freundin habe ich auch nicht. Dafür aber die Nachwehen eines Überbisses aus Teenagertagen, eine stattliche Höckernase und Flusenhaare, die nicht ausreichen, um damit die Segelohren zu bedecken. Das einzige, was mich vor der sozialen Isolation bewahrt, ist meine eigene Wohnung, in der sich meine Freunde in Ruhe für die Disco warmtrinken können. Und natürlich meine verba- len Skills, mit denen sich die körperlichen Deizite bisher ganz gut kompensieren ließen. Aber auch optisch gibt es erste Fortschritte zu vermelden. Zwar haben mir meine Mitschüler die Fransen meiner kaputten Jeans neulich abgekokelt, und die Ramones-Shirts, die ich vor drei Monaten bei »Jochens kleinem Versand« bestellt habe, sind auch noch nicht angekommen. Aber wenigstens habe ich bei meinem letzten Berlin-Auslug ein Paar Motorradstiefel erbeuten können – die gleichen, die John Bender in The Breakfast Club trägt, mit den um die Knöchel gebundenen Hals- tüchern. Wenn ich so weitermache, bin ich bestimmt bald genauso cool wie Brani. Fehlt nur noch das Auto. Weder ein Ramones-Rookie wie ich, noch ein Freak wie Scottish Weir oder die Chefs des italienischen Fanclubs wussten von den Gräben, die im Laufe der Jahre zwischen den einzelnen Bandmitgliedern entstanden waren. Alle Interna wurden zu jeder Zeit vor uns verborgen und erst nach dem Ende der Band von Typen wie Howard Stern, dem Internet oder Filmdokumentationen genüsslich seziert. Während ihrer aktiven Zeit hielt die Fassade der »Happy Family«, und dabei machten die Mitglieder keineswegs den Eindruck, als würde ihnen das schwerfallen. Im Gegenteil. Die Ramones, wie wir sie kennenlernten, waren stets freundlich, nett und zuvorkom- mend bis fürsorglich. Nie abweisend, launisch oder mit einer Attitüde versehen. Sie nahmen sich immer Zeit für uns und sorgten dafür, dass wir mit dem Nötigsten versorgt wurden: einem Platz auf der Gästeliste, einem netten Wort, einem Plektrum 37

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4.04 / 05 / 06 Nancy aus Brüssel beim nächtlichen Wäschewaschen. Die Shirts und Hosen von C. J. und Joey Ramone müssen dringend gewartet werden. Auch C. J. wartet, gekleidet in Unterhosen und Schlappen des Hausherren. (Leslie Ringoir) 38

oder Drumstick als Souvenir. Für uns waren die Ramones also tatsächlich das, was sie auf Fotos und Albumcovern darstellten: eine Familie, eine Gang, eine verschwo- rene Einheit, der sich all jene anschließen konnten, die weder so aussahen noch so erfolgreich, angesehen, beliebt und sozial begehrt waren wie all die anderen, zu denen die Gesellschaft gerne aufschaute. Umgekehrt hatten natürlich auch all die Schönen, Schlauen, Talentierten und Beliebten wenig Lust oder einen Grund, sich mit einem Haufen Verlierer wie uns oder den Ramones abzugeben. Einer Band, die aussah wie die Daltons und deren Lieder klangen wie ein Haufen geschredderte Bahnschienen. Entsprechend waren die Ramones »unsere« Band. Kaum jemand kannte sie, noch weniger mochten sie, und wenn man auf der Straße oder am Bahnhof doch zufällig einem Gleichgesinnten begegnete, der mit Ramones-Shirt, Leder jacke und kaputten Jeans leicht als solcher zu identiizieren war, dann gab man ein konspiratives Signal, ein kurzes Augenzwinkern oder ein leichtes Kopf- nicken – so wie Bus-, Ente- oder Motorradfahrer, die als kollegiale Geste kurz die Lichthupe anwerfen.

4.07 4.08

4.07 Faszination Ramones: So sehr die Band in Sound und Optik auch polarisiert, nach den Konzerten stehen die Fans stets Spalier. Auch hier in Huntington Beach, Kalifornien, 25. August 1976. 4.08 Joey Ramone und Fans, Huntington Beach, 1976. Im Bild rechts neben Joey: Brian Tristan, aka Kid Congo Powers, der später bei Gun Club, den Cramps und Nick Cave & The Bad Seeds spielen wird. Tristan ist damals der Ramones- Fanclub-Verantwortliche für Kalifornien. (alle: Danny Fields) 4.09

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4.09 Joey genießt das Bad in der Menge, Huntington Beach, August 1976. 4.10 Nicht alle Besucher fühlen sich beim Anblick der Ramones vom Hocker gerissen. Andere dagegen tanzen sogar. The Club, Boston, Mai 1976. 4.11 Publikum in San Antonio, Texas, kurz vor der Zugabe. hat nach Ende des regulären Sets bereits seine Schlagzeugstöcke im Publikum verteilt. (alle: Danny Fields) 40

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4.12 Johnny Ramone und Maurizio »Nodus« Nodari vom italienischen Fanclub, 1988. 4.13 Dee Dee Ramone und Paolo DiGaetano vom italienischen Ramones-Fanclub, dem womöglich einzigen, den die Ramones in den Achtzigern noch haben. 4.14 Dee Dee Ramone und Fan Augusto, Düsseldorf 1988. (alle: Paolo DiGaetano)