Wissenschaftsmagazin der Georg-August-Universität Göttingen Ausgabe 5 · Mai 2007 Kulturen und Konflikte G der Georg-August-Universität Göttingen W issenschaftsmagazin Herausgegeben vom Präsidentender Universität inZusammenarbeit mitdem Universitätsbund Göttingen EORGIA A K UGUSTA LUE UND ULTUREN Geisteswissenschaften Göttingen Ausgabe 5· Mai2007 K ONFLIKTE

im Jahrder 2007 E-Mail: [email protected] Fax: (0551)48832 T jeweils von9bis12Uhr Montag bisFreitag 37073 Göttingen W Göttingen e.V. Universitätsbund Geschäftsstelle nigung derUniversität. Aufbau derzentralen Alumni-Verei- lichkeit. EinaktuellesProjektistder W Dialogs zwischenWissenschaft und versitätsbundes istdieFörderungdes Ein besonderes Anliegen desUni- sität. turelle Veranstaltungen derUniver- Mittel fürwissenschaftlicheundkul- durch dieBereitstellungfinanzieller en. DiesgeschiehtinersterLinie Stärken zubewahrenundauszubau- gabe an,dazubeizutragen,diese Göttingen e.V. siehtesalsseine Auf- gung gegründeteUniversitätsbund Der 1918alsgemeinnützigeVereini- W kraft aufStudieninteressenteninaller programmen einehohe Anziehungs- Fächerspektrum undindenStudien- durch einebesondereVielfalt im ten RufinderForschung.Sieübt sta genießtweltweiteinenexzellen- Die traditionsreicheGeorgia Augu- Universität zustärken. sowie dasInnovationspotentialder Forschung undLehrezuverbessern Es giltdieRahmenbedingungenfür vates Engagementimmerwichtiger. Hochschulen zurückzieht,wirdpri- chende finanzielle Ausstattung der seiner Verantwortung fürdieausrei- in denensichderStaatverstärktaus materiell zuunterstützen.InZeiten, Georg-August-Universität ideellund Universitätsbund Göttingen„ihre“ sich zusammengeschlossen,umim gesellschaftlichen Bereichenhaben sowie Persönlichkeitenausallen Ve Lehrende, Ehemalige,Studierende, Der Universitätsbund el.: (0551)42062 elt aus. irtschaft, UniversitätundÖffent- ilhelmsplatz 1 rtreter vonWirtschaft undHandel unibund.gwdg.de www. t.1060000 600 Kto. 160 50 900 BLZ 260 V Kto. 52803 BLZ 26050001 Sparkasse Göttingen 550 501 Kto. 1 80024 BLZ 260 Dresdner BankGöttingen Kto. 04/06496 BLZ 26070072 Deutsche BankGöttingen 215 229 Kto: 6 30 400 BLZ 260 Commerzbank Göttingen Bankverbindungen es sichum wollen, gebenSiebittean,ob Spende zukommenlassen bund Göttingene.V. eine W Spenden 30 pro Jahr: Der Mindestbeitragbeträgt zu stärken. keit derGöttingerUniversität helfen, dieKonkurrenzfähig- Ihren SpendenundBeiträgen mit zu werden.Siekönnen Mitglied imUniver zen möchte,isteingeladen, Universitätsbundes unterstüt- fühlt unddie Aktivitäten des gust-Universität verbunden W Mitgliedschaft 60 zu beziehen. direkt vonderGeschäftsstelle Internetseite erhältlichoder schaft sindaufunserer Formulare fürdieMitglied- schaften, Vereine usw. olksbank Göttingen enn SiedemUniversitäts- er sichmitderGeorg-Au- € € handelt. ein bestimmtesProjekt Spende füreinInstitutoder eine zweckgebundene sitätsbundes oder für die Arbeit desUniver- eine allgemeineSpende für Privatpersonen für Firmen,Körper- sitätsbund

UNIVERSITÄTSBUND GÖTTINGEN E.V. EDITORIAL

Kulturen und Konflikte

Was bewegt Gesellschaften dazu, sich im Spiegelbild anderer Ge- sellschaften durch die Suche nach dem Ähnlichen und dem Anderen zu begreifen? Wie entwickeln sich aus den dabei entstehenden Bil- dern und der Abgrenzung der eigenen von fremden Kulturen Konflikte und Auseinandersetzun- gen, und wie lassen sich diese überwinden? Welche Rolle kön- nen dabei Subsysteme wie Reli- gion und Ethnizität spielen – mit ihren Identität stiftenden und da- wie Arabistik und Islamwissen- der insbesondere die Geisteswis- bei gleichzeitig Trennlinien auf- schaft, Ethnologie, Iranistik, Indo- senschaften in Göttingen in die La- bauenden Funktionen? logie und Soziologie die konkrete ge versetzt, hochaktuelle gesell- Die Beantwortung derartiger Analyse. Die Konstruktion kultu- schaftliche Fragestellungen aus Fragen steht im Focus der geistes-, reller Konflikte und ihre Legitimie- ganz unterschiedlichen Perspekti- kultur- und sozialwissenschaftli- rung bearbeiten Geschichte und ven zu beleuchten. Im Jahr der chen Disziplinen an der Universität Religionswissenschaft. Literatur- Geisteswissenschaften 2007 wol- Göttingen. Es gehört zu ihren Be- wissenschaftliche Fächer analy- len wir mit dieser Ausgabe unseres sonderheiten, diese Fragen nicht sieren wiederum die Besonderhei- Wissenschaftsmagazins »Georgia nur mit Blick auf die Gegenwart ten von Rhetorik und Semantik. Augusta« den großen Gewinn ver- sondern im historischen Verlauf der Die Rede vom »Kampf der Kultu- deutlichen, der aus dem Zusam- jeweiligen Interpretationsmuster zu ren« ist ebenso Thema wie Terror menspiel der verschiedenen Dis- untersuchen, dabei nicht allein die und Gewalt in der Welt oder der ziplinen gezogen werden kann, Geschichte Europas sondern auch Wandel von Werten und Normen und wünschen Ihnen eine anre- außereuropäische Entwicklungen in unserer eigenen Gesellschaft. gende Lektüre. zu verfolgen. Zum Thema »Kultu- Die Vielfalt der Fächer ist ein Prof. Dr. Kurt von Figura ren und Konflikte« leisten Fächer historisch gewachsener Reichtum, Präsident Cultures and Conflicts

What is it that drives societies to only with a view to the present but of values and norms within our define their identity in the mirror in the historical context of the re- own society. image of other societies by search- levant interpretational paradigms, Göttingen University’s rich and ing for the similar and the dis- scrutinizing not only European historically evolved diversity of similar? How do conflicts and history but also developments disciplines, particularly in the hu- clashes develop out of the images taking place beyond. On the topic manities, places scholars in a po- arising from this process as well as of »Cultures and Conflicts«, dis- sition to shed light on issues of from the demarcation of one’s ciplines such as Arabic and Is- particular societal relevance from own from other cultures, and how lamic Studies, Ethnology, Iranian widely differing perspectives. In can these be overcome? What and Indian Studies and Sociology this issue of our research journal role is played by subsystems such conduct the concrete analysis. »Georgia Augusta«, appearing as as religion and ethnicity, the func- History and Religious Studies it does in the Year of the Humani- tions of which engender identity, address issues concerning the ties 2007, we seek to highlight the yet also create dividing lines? making of cultural conflicts and considerable profit that can be At the University of Göttingen, their legitimation, whilst in Litera- drawn from the interplay of the the focus of disciplines in the ture Studies the special aspects of different disciplines. We wish you Humanities and Cultural and rhetoric and semantics are ana- stimulating reading. Social Studies lies on answering lysed. The »Clash of Civilisations« questions of this nature. It is one of comes under discussion here, as their distinguishing features that do terror and violence in far-flung Prof. Dr. Kurt von Figura such issues are investigated not regions of the world and the shift President INHALTSVERZEICHNIS KULTUREN UND KONFLIKTE

IDENTITÄT UND AGGRESSION RELIGION UND MACHT

Prof. Dr. Frank Kelleter Prof. Dr. Bernd Weisbrod 6Vielfalt in der Einheit 48 Das Charisma der Gewalt Kulturen des Konfliktes am Beispiel der Gewaltkommunikation und politische Religion Vereinigten Staaten von Amerika im 20. Jahrhundert 51 Graduiertenkolleg »Generationengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert« Prof. Dr. Thomas Kaufmann 56 Antichrist und Gottesgeißel Christlich-islamische Konfliktszenarien in Spätmittelalter und früher Neuzeit

Prof. Dr. Gerhard Lauer 14 Vom Kampf der Kulturen Ein Plädoyer gegen gängige Deutungsmuster

19 Zentrum für Theorie und Methodik der Kulturwissenschaften (ZTMK)

Prof. Dr. Brigitta Hauser-Schäublin 59 Graduiertenkolleg »Götterbilder – Gottesbilder – 24 Die Bombenattentate auf der »Insel der Götter« Weltbilder. Polytheismus und Monotheismus Hintergründe und Wirkungen der Anschläge von Bali in der Welt der Antike« 63 Zentrum für die Kulturen Europas und des Mittelmeerraumes in der Antike (KEMA) Prof. Dr. Reinhard Gregor Kratz 64 Die Texte vom Toten Meer Innerjüdische Konflikte im Zeitalter des Hellenismus

Prof. Dr. Ulrich Braukämper 32 Im Zeichen von Genozid und ethnischer Säuberung Araber gegen Afrikaner ? Hintergründe des Bürgerkrieges in Darfur

68 Centrum Orbis Orientalis – CORO Zentrum für semetistische und verwandte Studien 71 Science and Scientists as Bridge-Builders Die Universität Göttingen intensiviert ihre Zusammen- arbeit mit der Hebräischen Universität Jerusalem

Prof. Dr. Thomas Oberlies 40 Die Spirale der Gewalt Der Fall des Indischen Subkontinents

47 Göttinger Graduiertenschule für Geistes- wissenschaften Publikationen zu Ringvorlesungen der Georg-August-Universität Göttingen

Das Gehirn und sein Geist Hg. von Norbert Elsner und Gerd Lüer 3. Aufl., 248 S., 47 z.T. farb. Abb., € 19,–

Das Gen und der Mensch. Einblick in die Biowissenschaften Hg. von Gerhard Gottschalk 280 S., 83 z.T. farb. Abb., € 19,–

Europäische Jahrhundertwende Wissenschaften, Literatur und Kunst um 1900 Hg. von Ulrich Mölk 328 S., 51 z.T. farb. Abb., € 19,–

Wissenschaften 2001. Diagnosen und Prognosen Hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 256 S., 30 z.T. farb. Abb., € 19,-

Was ist der Mensch? Hg. von Norbert Elsner und Hans-Ludwig Schreiber 304 S., 56 z.T. farb. Abb., € 19,-

Abraham, unser Vater Die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam Hg. von Reinhard G. Kratz und Tilman Nagel 192 S., 3 Abb., € 18,- (z. Zt. vergriffen)

Orte der Literatur Hg. von Werner Frick, Gesa von Essen und Fabian Lampart 2. Aufl., 384 S., 72 Abb., € 28,-

Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur Hg. von Werner Frick, Gesa von Essen und Fabian Lampart 336 S., 25 Abb., € 28,-

Scientia poetica · Literatur und Naturwissenschaft Hg. von Norbert Elsner und Werner Frick 408 S., 66 z.T. farb. Abb., € 19,–

»... sind eben alles Menschen« Verhalten zwischen Zwang, Freiheit und Verantwortung Hg. von Norbert Elsner und Gerd Lüer ca. 304 S., z.T. farb. Abb., fester Einband, ca. € 19,– (lieferbar vorauss. ab 10/2005)

Alle Bücher sind im Wallstein-Verlag erschienen INHALTSVERZEICHNIS

Dr. Martin Riexinger Prof. Dr. Irene Schneider 72 Front gegen Darwin 100 Familienrecht in Afghanistan Der islamische Kreationismus in der Türkei Rekonstruktion der Rechtsordnung und Perspektiven für einen strukturellen Wandel

Prof. Dr. Andreas Grünschloß 78 Krieg und Frieden Prof. Dr. Hartmut Berghoff Die religiöse Repräsentation von Konflikten 108 Der Kampf um Volkswagen Corporate Governance in NS-Diktatur, Sozialer Marktwirtschaft und globalem Kapitalismus

84 Forschungsverbund: »Religion als Verhandlungsfeld von Konflikten«

NORMEN UND WANDEL KUNST UND KULT

Juniorprofessorin Dr. Claudia Diehl Prof. Dr. Simone Winko 86 Gescheiterte Integration? 116 Quadrego, Text Rain und Co. Neuere Befunde zur Eingliederung von Digitale Literatur zwischen Technik und Ästhetik Einwanderern in Deutschland 123 Promotionskolleg »Wertung und Kanon. Theorie und Praxis der Literaturvermittlung in der ,nachbürgerlichen’ Wissensgesellschaft«

Eva-Maria Silies 94 Liebeskulturen im Wandel Generationelle Konflikte um die Pille in den 1960er Jahren Prof. Dr. Heinrich Detering 124 Kunstreligion und Künstlerkult

134 Kontaktadressen der Autoren

136 Forschungseinrichtungen IMPRESSUM

Herausgeber: Der Präsident der Universität Göttingen in Zusammenarbeit mit dem Universitätsbund Göttingen e.V. Redaktion: Marietta Fuhrmann-Koch (verantwortlich), Beate Hentschel Englischsprachige Texte: Victoria Viebahn Wissenschaftlicher Prof. Dr. med. Matthias Bähr Beirat: Prof. Dr. Dr. Bertram Brenig Prof. Dr. Rüdiger Hardeland Prof. Dr. Reinhard Gregor Kratz Prof. Dr. Konrad Samwer Prof. Dr. Eva Schumann Ilse Stein Prof. Dr. Dr. h.c. Lutz F. Tietze Thedel von Wallmoden Prof. Dr. Simone Winko Für den Universitätsbund Göttingen e.V.: Prof. Dr. Horst Kern Prof. Dr. Jens Frahm Anschrift Georg-August-Universität Göttingen der Redaktion: Presse, Kommunikation und Marketing Wilhelmsplatz 1 37073 Göttingen Tel. (0551) 39-4342 Fax (0551) 39-4251 [email protected] www.uni-goettingen.de Gestaltung, Layout: Rothe Grafik, Georgsmarienhütte Hinrich van Hülsen, Osnabrück Druck: Druckhaus Fromm Auflage: 8.500 Exemplare Anzeigen: Anzeigenagentur ALPHA 68623 Lampertheim Tel. (06206) 939-220 Fax (06206) 939-221 Namentlich gekennzeichnete Artikel geben die Meinung des Verfassers wieder, nicht unbedingt die des Herausgebers oder der Redaktion. ISSN 0016-8157 Titel: Bamiyan: In den Fels gehauene Buddha-Statue, mit 55 Metern Höhe die größte der Welt. Die aus dem 3. Jahrhundert stammenden Figuren wurden von den Taliban im März 2001 zerstört. (ullstein-bild – AP)

Die bisher erschienenen Ausgaben der Georgia Augusta sind im Internet abrufbar unter www.uni-goettingen.de/wissenschaftsmagazin Georgia Augusta, Ausgabe 1 Leben braucht Vielfalt – Biodiversität (2002) Georgia Augusta, Ausgabe 2 Gehirn und Verstehen (2003) Georgia Augusta, Ausgabe 3 Europa – Alte und Neue Welten (2004) Georgia Augusta, Ausgabe 4 Materialien und Stoffe (2005)

Vielfalt in der Einheit Kulturen des Konfliktes am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika

Frank Kelleter

Moderne Gesellschaften differenzieren sich zunehmend aus und produzieren eine ständig wachsende Anzahl sozialer, ökonomischer, religiöser, ideologischer und lebensweltlicher Unterschiede. Die Vereinigten Staaten von Amerika standen von Beginn an vor der Aufgabe, eine heterogene und sozial dynamische Einwanderungsgesellschaft so zu beschreiben, dass sie als stabile Kultur erkennbar blieb. Welche Strategien der Konfliktbewältigung dazu in der nordamerikanischen Geschichte iden- tifiziert werden können, zeigt der Amerikanist Prof. Dr. Frank Kelleter vom Seminar für Englische Philologie der Georg-August-Universität Göttingen. Er stellt vier konkurrierende Modelle der Kon- fliktbewältigung durch Kommunikation vor: autoritärer Machtspruch, Schlichtung, Kompromiss und Konsens. Diese Kommunikationsmodelle werden mit vier Konzepten interkulturellen Zusammen- lebens verglichen, die in der Geschichte der USA einflussreich waren: Nativismus, melting pot, cultural pluralism, Hybridität. Die Konkurrenz dieser (zunächst nationalen) Konzepte vom 18. bis

Kinderspielplatz auf Ellis Island zum frühen 20. Jahrhundert nimmt zahlreiche Auseinandersetzungen vorweg, die heute auf inter- vor 1905 nationaler Ebene unter Begriffen wie »Globalisierung« diskutiert werden. KULTUREN UND KONFLIKTE

Konflikte lassen sich bekanntlich wartswissenschaften oft den An- hang unterschieden werden kön- nicht dadurch aus der Welt schaf- schein hat. nen: Streitbeilegung durch autori- fen, dass man Einsicht in ihre Das Fach Nordamerikastudien tären Machtspruch, durch Schlich- Nachteiligkeit erlangt. Jedes Kind kann zum Verständnis dieser Ge- tung vermittels einer dritten In- weiß, dass der Friede dem Krieg schichte insofern beitragen, als stanz, durch Kompromiss unter vorzuziehen ist, ohne dass dieses die nordamerikanische Kultur seit den Streitenden und durch delibe- Wissen die Welt friedlicher ma- Anbeginn geprägt war durch kon- rativen Konsens zwischen den chen würde. Oft scheinen Kon- kurrierende Versuche, eine hete- Streitenden. Das erste Modell – das flikte zwischen »Kulturen«, »Wer- rogene und sozial dynamische des autoritären Machtspruchs – tegemeinschaften«, »Religionen« Einwanderungsgesellschaft so zu stellt eine im Wesentlichen sub- oder »Ethnien« deshalb nahezu beschreiben, dass sie weiterhin jektive Form der Konfliktaufhe- unausweichlich. Konflikte, so eine als kohärente und stabile Kultur bung dar; sie ist potenziell will- Alltagsweisheit, entzünden sich erkennbar blieb. Zwei strukturell kürlich und ihre Akzeptanz beruht nun einmal an Differenzen. Und oft parallel verlaufende Debatten entweder auf Gewaltandrohung ist es nicht ein Wesensmerkmal in der US-amerikanischen Ge- oder auf dem Glauben an die der Moderne, dass sie sich zuneh- schichte antizipierten hierbei Natürlichkeit beziehungsweise mend ausdifferenziert, das heißt zahlreiche der Probleme, Positio- Gottgegebenheit autoritärer Herr- eine ständig wachsende Anzahl nen und Lösungsvorschläge, die schaft. Da sich die amerikanische sozialer, ökonomischer, religiöser, heute auf internationaler Ebene Revolution explizit gegen dieses – ideologischer und lebensweltli- unter Stichworten wie »Globali- europäisch konnotierte – Modell cher Unterschiede produziert? sierung« eine Rolle spielen: zum politischer Kommunikation defi- Nun finden die blutigsten Kon- einen die öffentliche Diskussion nierte, spielte es in der folgenden flikte aber ausgerechnet im Namen um Zweck und Form einer natio- Verfassungsdebatte keine positive der Differenzbeseitigung statt. nalen Bundesverfassung in den Rolle. Auch existierte nach der Kaum ein Krieg in der Neuzeit, späten 1780er Jahren, zum ande- Revolution gar keine solche Zen- der nicht im Namen eines kom- ren die Debatte um Massenein- tralmacht, die sich gegenüber den menden Friedens geführt wurde. wanderung aus Osteuropa, Süd- Einzelstaaten hätte durchsetzen Kaum ein kommender Friede, der europa und Asien zu Beginn des können. Das heißt aber nicht, dass nicht nach einem Krieg, oder we- 20. Jahrhunderts. sich die USA von klassischer nigstens nach der robusten Selbst- Im Folgenden möchte ich einige Machtpolitik befreit hätten. Auto- behauptung einer kollektiven idealtypische Lösungsvorschläge ritäre Formen der Konfliktlösung Identität, verlangt. In einer umfas- für kulturelle Konflikte vorstellen, sind in der nordamerikanischen send vernetzten Welt, in der die die in diesen Debatten verhandelt Geschichte nicht seltener anzu- Grenzen zwischen sozialen Grup- wurden. Mein Hauptaugenmerk treffen als in der europäischen. Im pen und ganzen Nationen zuneh- liegt dabei auf verschiedenen For- kulturellen Kontext der USA erhal- mend fragwürdig werden, gilt ge- men interkultureller Streitbeile- ten autoritäre Konfliktlösungsstra- rade das als konfliktreich, was die gung, das heißt auf konkurrieren- tegien allerdings die besondere (tatsächliche oder vermeintliche) den Modellen der Konfliktbewäl- Auszeichnung, dass sie sich erfolg- Einheit und Harmonie einer Le- tigung durch Kommunikation statt reich meist nur in einem aus- benswelt (tatsächlich oder ver- durch direkte Gewaltanwendung. drücklich antiautoritären, födera- meintlich) gefährdet. Die Frage Es sei in diesem Zusammenhang len und oft posteuropäischen Vo- nach dem Verhältnis von Toleranz daran erinnert, dass auch die Ver- kabular formulieren, propagieren und Identität – nach einer Politik, fassungsdebatte als eine interkul- und durchsetzen lassen. So bedarf die das Fremde »anerkennt«, ohne turelle Debatte geführt wurde, es zwar aufwändiger rhetorischer sich im Akt des Fremdverstehens musste sie doch dreizehn sehr un- Manöver, um die Declaration of In- selbst zu verlieren – ist somit zu terschiedliche Staaten, die in der dependence mit klassisch macht- einer Kardinalfrage moderner Po- Revolution ihre Souveränität er- zentrierten Interessen wie der litik, Kultur und Ästhetik gewor- langt hatten und danach durchaus Sklaverei oder der West-Expansion den. Und dies nicht erst, seitdem konträre Interessen vertraten, auf in Einklang zu bringen, aber die sich die Geistes- und Sozialwis- die kollektive Fiktion »Vereinigte US-amerikanische Kultur ent- senschaften den Kopf darüber zer- Staaten von Amerika« verpflichten. wickelt schon sehr früh solche brechen, was »Globalisierung« Möglichkeiten. heißt. Tatsächlich haben die Frage- Autoritärer Machtanspruch als Dabei ist es kein Zufall, dass stellungen, die wir unter diesem Modus der Streitbeilegung autoritäre Lösungen im Laufe der Titel versammeln, eine sehr viel Grob gesprochen sind es vier nordamerikanischen Geschichte ältere und verzweigtere Geschich- Modi kommunikativer Streitbeile- vor allem bei inter-ethnischen te, als es im Spiegel unser Gegen- gung, die in diesem Zusammen- Konflikten zur Anwendung kom-

8 Universität Göttingen IDENTITÄT UND AGGRESSION

men, und überall dort, wo ihre Die Schlichtung als herrschte sind hierbei zu altruisti- kommunikative Akzeptanz frag- Konfliktlösungsmodell scher Wahrhaftigkeit angehalten, würdig wird, direkte Gewaltan- Im Fall der Schlichtung – dem zur Internalisierung einer Position, wendung eher vorbereiten als ver- zweiten Modell kommunikativer die auf das Ganze blickt, statt ei- hindern helfen (etwa in den »Indi- Streitbeilegung – sind die Dinge gene Ziele zu verfolgen. anerkriegen« des 19. Jahrhun- anders gelagert. Hier greift ein Während der amerikanischen derts). Zu Beginn des 20. Jahrhun- Dritter ohne Drohung in den Streit Verfassungsdebatte spielte dieses derts, während der Immigrati- ein und versucht unter Berück- Modell eine ambivalente Rolle. onsdebatte, war es dann vor allem sichtigung der involvierten Inter- Einerseits erschien es den meisten der Nativismus – der US-amerika- essen eine Lösung zu finden, die Mitgliedern der neuen revolu- nische Ableger zeitgenössischer allen Parteien nachvollziehbar er- tionären Elite als problematisch, europäischer Rassetheorien –, der scheint. Die Akzeptanz des neu- ja sogar unaufgeklärt. Dies des- unter dem Anspruch kultureller tralen Richtspruchs beruht somit halb, weil die republikanische Homogenitätspflege ein System auf der Einsicht der Streitenden in Ethik eigentlich das Selbstver- »weißer Vorherrschaft« nicht nur die Weisheit oder – moderner – die ständnis der britischen Whig- als natürlich propagierte, sondern Interesselosigkeit des Schlichters. Ideologie bestimmte, von der sich mit föderal und lokalistisch sich Man kann dies als eine transsub- die Revolutionäre in der zweiten legitimierenden Terrorakten auch jektive Kommunikationspraxis be- Hälfte der 1770er Jahre gerade gewaltsam durchzusetzen ver- zeichnen, weil sie auf die Selbst- schweren Herzens zu lösen be- suchte. Zu Beginn des 21. Jahr- losigkeit aller Beteiligten setzt: des gonnen hatten. Andererseits blieb hunderts schließlich sind es nicht Schlichters, indem er eine neutra- die ideologische Herkunft der mehr primär inter-ethnische, son- le Position einnimmt, und der amerikanischen Revolutionäre dern inter-nationale Konflikte, die Streitenden, indem sie diese Posi- aus der Whig-Opposition unver- auf Seiten der USA autoritäre und tion anerkennen. Nicht selten er- kennbar, so dass noch der erste gewaltsame Lösungsversuche im scheint die schlichtende pouvoir Präsident der Vereinigten Staaten, antiautoritären und gewaltfeindli- neutre deshalb göttlich inspiriert. George Washington, sein Amt chen Gewand provozieren. Es Augenscheinlich steht dieses Kon- (durchaus entgegen der Vorgaben bleibt abzuwarten, ob solcher fliktlösungsmodell einem ethik- der Bundesverfassung) als das Amt Neoimperialismus ähnlich wie orientierten Politikverständnis na- eines gewählten patriot prince das nativist movement an der he, das von zahlreichen religiö- verstand und ausübte. Auch das letztlich begrenzten Strapazier- sen, aber auch von klassisch repu- nationale Motto e pluribus unum fähigkeit der eigenen Rhetorik blikanischen Regierungsmodellen (in Vielfalt geeint) hebt im Kern scheitert oder nicht. vertreten wird. Herrscher wie Be- auf ein transsubjektives Identitäts-

Fotos: Ellis Island Portraits 1905 – 1920 von Augustus F. Sherman. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Ellis Island Immigration Museum

Große Halle Ellis Island, vor 1916

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und dies selbst dort, wo der ethik- orientierte Einzelne an die selbst- lose Aufrichtigkeit seiner Motive glaubt. Dies war einer der zentra- len Einwände der Autoren der Fe- deralist Papers (James Madison, Alexander Hamilton, John Jay) ge- gen die Verfassungsgegner, die ei- nem klassisch republikanischen Politikverständnis nahe standen. In ganz ähnlicher Weise lautete in den 1910er Jahren ein frühes Haupt- argument gegen den melting pot, dass dieses Immigrationsmodell in Wirklichkeit die Vorherrschaft ei- nes dominanten Partikularinteres- ses stärke, indem es von Einwan- derern Anpassung an die bereits Ungarische Mutter mit ihren vier Töchtern, gegebenen Verhältnisse fordere. Ellis Island, frühes Aus eben diesen Überlegungen 20. Jahrhundert heraus verlagert der bürgerliche Liberalismus des 18. Jahrhunderts verständnis ab, das sich dann – ein Wunsch weniger nach gänz- den republikanischen Begriff des während der Immigrationsdebatte lich neuen Lebenswelten als nach Gemeinwohls von der Ethik in die des frühen 20. Jahrhunderts in der einem besseren Europa anderswo: sozioökonomische Wirklichkeit. weit verbreiteten, explizit gegen einer geeinten und national ent- Hiermit werden das dritte und das nativist movement entwickel- differenzierten europäischen »Kul- vierte Modell der Konfliktbewälti- ten Vorstellung von den USA als tur«. In den USA selbst war die gung möglich: die Streitbeilegung einem melting pot manifestierte: Vorstellung vom amerikanischen durch Kompromiss und durch de- Nationale, ethnische und religiöse melting pot dann auch stets kon- liberativen Konsens. Unterschiede sollen wie in einem troverser als im Außenblick auf Schmelztiegel amalgamiert wer- die USA, wo sie heute vor allem Konfliktbewältigung durch den. Das Ergebnis, so heißt es, ist in kanadischer Perspektive als po- Verhandlung und Kompromiss eine aus vielen Quellen sich spei- lemische oder kontradistinktive Finden streitende Parteien näm- sende, aber letztlich einheitliche Fremdzuschreibung existiert. lich einen Kompromiss, so stellt und verpflichtende amerikanische Das gilt für die Ethik republika- sich ihre Einigung infolge inter- Identität – ein Ganzes, das alle nischer Selbstlosigkeit generell: In subjektiver Kommunikation ein Partikularinteressen in sich vereint den späten 1780ern galten solche (und das auch, wenn statt Einzel- und auf sich ausrichtet. Modelle den Verfassungsbefür- personen organisierte Interessen- Es ist bezeichnend, dass das wortern – den Federalists – als gruppen miteinander in Konflikt Konzept des melting pot meist fragwürdig, weil sich das Ethos liegen). Die für dieses Modell ty- Hand in Hand mit einer stark des Gemeinwohls vom subjekti- pische Redeform ist die der Ver- eurozentristischen Perspektive auf ven Willkürentschluss möglicher- handlung oder des bargaining. Nordamerika auftritt. Die Metapher weise nur im Anspruch der In- Die Akzeptanz eines ausgehan- des amerikanischen Schmelztie- teresselosigkeit unterscheidet. Da delten Ergebnisses beruht auf der gels leitet sich im Wesentlichen nämlich auch ein unparteiischer Einsicht, dass sich hiermit zwar von J. Hector St. John de Crève- Schlichter über eine bloß sterbli- nicht das gewünschte Optimum, coeur, einem französischen Pan- che Vernunft verfügt, mag sich wohl aber ein realisierbares Maxi- Europäer des 18. Jahrhunderts, schnell herausstellen, dass der mum der eigenen Position durch- und von Israel Zangwill, einem Nimbus der Weisheit, der ihn um- setzen lässt. Für das konkrete britischen Zionisten des späten gibt, die Existenz partikularer Ab- Kommunikationsverhalten der 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sichten und Vorurteile verdecken Streitenden hat dies zur Folge, her. In beiden Fällen verbirgt sich hilft. Die transsubjektive Staats- dass sie als Interessenvertreter in hinter dem Lobgesang amerikani- bürgertugend erweist sich dann eigener Sache auftreten, das heißt scher Exzeptionalität der alte euro- schlimmstenfalls als eine ins Un- ihnen ist eher daran gelegen, päische Wunsch nach Heimat angreifbare gesteigerte Spiegelge- möglichst viel von der eigenen gewährender Selbstüberwindung stalt subjektiven Machtstrebens, Position durch die Verhandlungen

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zu bringen, als einmal gefasste movement als auch gegen die Me- mus verdankte sich nicht zuletzt Ziele aufgrund akzeptierter Ge- tapher vom Schmelztiegel ins ihrer tiefen Abneigung gegenüber genargumente zu modifizieren. Feld. Die USA als eine transnatio- modernen Populär- und Hybrid- Mit Jürgen Habermas gesprochen: nale Nation (Bourne) beziehungs- kulturen, die sie als Massen- und In Situationen des bargaining ist das weise als einen Ort des kulturellen Einheitskulturen ablehnten.) kommunikative Handeln der Ge- Pluralismus (Kallen) zu verstehen, Ungeachtet dieser Problemati- sprächsteilnehmer erfolgsorien- bedeutete für Bourne und Kallen, ken liegt die historische Stärke des tiert, nicht autoritäts- oder ethik- die kulturellen Eigenarten unter- intersubjektiven Kommunikati- orientiert (wie im subjektiven be- schiedlicher Ethnien, Religionen onsmodells darin, dass es für alle ziehungsweise transsubjektiven und Wertegemeinschaften ohne Beteiligten ohne Rekurs auf eine Modell). Konkret bedeutet dies, Assimilationsdruck anzuerkennen dritte Macht und ohne Gewalt- dass bestimmte Argumente vor al- und sogar im Namen nationaler androhung profitabel ist. Das Ethos lem deshalb vorgebracht werden, Diversität zu fördern. Die USA bil- der Kompromissbildung ist hier weil man sich von ihnen einen deten aus dieser Sicht eine tole- auf enge Weise mit der ur-liberalis- strategischen Vorteil verspricht, rante Patchwork-Kultur, in der tischen Hoffnung verknüpft, das und nicht notwendigerweise, weil noch die konträrsten Lebenswel- gesamte Praxisfeld internationaler man von ihrer Richtigkeit über- ten in gegenseitiger Akzeptanz ne- Beziehungen durch eine Globali- zeugt ist. So muss ein erfolgreicher beneinander existieren können – sierung des freien Handelsver- Verhandlungsführer stets darum ein Modell nationaler Identität, kehrs zu entmilitarisieren. Doch bemüht sein, die antizipierten Re- das in den 1970er Jahren unter weiß der Liberalismus sehr wohl aktionen des Gegenübers schon dem Titel multiculturalism neu um die Schwierigkeiten einer in die eigenen Aussagen mit ein- diskutiert und in Kanada sogar zur Kommunikationsform, die sich zubeziehen. Die Kompromiss- Staatsdoktrin erhoben wurde. Wie ausgerechnet auf der Grundlage bereitschaft der konkurrierenden bereits in den 1910er Jahren durchsetzungswilliger Partikular- Partei vorausgesetzt, stellt man machte der Multikulturalismus interessen behauptet. Deshalb etwa zu Beginn des Gespräches dabei auch stark essentialistische, muss der intersubjektive Verkehr Maximalforderungen, die man gar isolationistische und separatisti- (national wie international) so ge- nicht verfolgt, auf die man dann sche Kulturverständnisse populär deutet werden können, dass seine aber im kommenden Kompromiss und ist in dieser Form bis heute in Ergebnisse nicht nur in den Augen konziliant verzichten kann. weiten Teilen der Kulturwissen- der beteiligten Parteien, sondern Im Laufe der Verfassungsdebat- schaft einflussreich. (Es ist in die- auch im Ganzen – von einer über- te wurde dieses Modell in unter- sem Zusammenhang nicht überra- subjektiven Warte aus – vernünf- schiedlicher Akzentuierung so- schend, dass Bourne und Kallen tig erscheinen. Dies geschieht bei- Jakob Mittelstadt mit wohl von den Federalists als auch einen romantisch-sentimentalen spielsweise, wenn Adam Smith in seiner Familie, von den Anti-Federalists – von Begriff kultureller Authentizität The Wealth of Nations (1776) fest- 9. Mai 1905. den Befürwortern wie den Geg- und ethnischer Geschlossenheit stellt, dass der Handel eigennützi- Der Zettel auf der Brust des Vaters vermerkt den nern der Bundesverfassung – ver- vertraten; ihr Plädoyer für Pluralis- ger Individuen von »unsichtbarer zugewiesenen Wohnort. treten. Die Befürworter der Bun- desverfassung würdigten hierbei vor allem den Verzicht auf eine uniforme Gesinnungsethik, wäh- rend die Verfassungsgegner die souveränen Rechte der Einzelstaa- ten betonten, darunter zuvorderst das Recht, eigene Interessen zu vertreten, statt sich einem präten- diert interesselosen nationalen Gemeinwohl unterzuordnen, das letztlich doch nur mit den bereits durchgesetzten Interessen der do- minanten Staaten identisch sei. Mit ganz ähnlicher Motivation führten in den 1910er Jahren In- tellektuelle wie Randolph Bourne und Horace Kallen die Konzepte transnationalism und cultural plu- ralism sowohl gegen das nativist

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Hand« gelenkt dem Wohlstand al- situation und werden auf diese tikverständnis nahe, so wie es ge- ler zugute komme, und zwar ohne Weise der Kontingenz ihrer kon- gen Ende des 20. Jahrhunderts un- dass die Beteiligten dies beabsich- kurrierenden Interessen und Posi- ter anderem von Jürgen Habermas tigen müssten. Mit dieser verdeckt tionen gewahr. Der Blick auf die und John Dryzek neu formuliert metaphysischen Hilfskonstruktion diskursiven Bedingungen ihrer wurde: einer Herrschaftstheorie einer invisible hand koppelt der ideologischen Vorurteile eröffnet also, die sich zur Herstellung des Liberalismus den Begriff des repu- den Gesprächsteilnehmern also Gemeinwohls weder auf private blikanischen Gemeinwohls vom idealerweise die Möglichkeit, das Interessen (Liberalismus) noch auf Imperativ der Selbstlosigkeit ab eigene Handeln nicht mehr im staatsbürgerliche Tugenden (Re- und verlagert ihn ohne Verweis Hinblick auf den Kontrahenten, publikanismus) noch auf eine auf eine neutrale Macht ins öko- sondern im Hinblick auf den Ge- Synthese beider verlässt, sondern nomische und soziale Handeln genstand des Streits auszurichten, institutionelle Strukturen empfiehlt, der Individuen. Das Ergebnis ist der hierdurch zu einem Wissens- einrichtet oder festigt, die den Er- nicht selten eine Theologie der gegenstand wird. Argumente und folg öffentlicher Deliberation zu freiheitlichen Ordnung, die davon Interessen lassen sich nun vonein- befördern versprechen. Verein- ausgeht, dass man die Menschen ander trennen; das Gespräch hat facht gesagt zielt die prozeduralis- nur von autoritären Zwängen be- nicht mehr die Form einer kom- tische Politik, so wie sie erstmals freien müsse, um sie zu friedli- promissbereiten Verhandlung, systematisch in den Federalist Pa- chen und tugendhaften Staatsbür- sondern einer Konsens suchenden pers entworfen und dann mit Ab- gern zu machen. Deliberation. Konkret bedeutet strichen in den nationalen Regie- Eine der großen Ironien der dies, dass man sein Gegenüber rungsorganen der USA verankert nordamerikanischen Geschichte nicht überzeugen, sondern mit wurde, auf die Implementierung besteht darin, dass diese Theolo- ihm zusammen eine mehr als nur von Verfahrens- und Kommunika- gie freiheitlicher Ordnung zu Be- subjektive Sicht auf die Dinge er- tionsregeln, die das Geschäft des ginn des 21. Jahrhunderts die au- arbeiten möchte – weshalb Ge- Konflikt-Managements in einer toritärsten Formen US-amerikani- genargumente jetzt auch nicht heterogenen Gesellschaft vor scher Politik legitimieren hilft – mehr als Angriffe auf die eigene trans- und intersubjektiven Ent- während die Verfassungsautoren Position, sondern als hilfreiche stellungen so weit als möglich be- bei allem Liberalismus bereits Perspektivenerweiterungen ver- wahren. Der Begriff des Gemein- deutlich die Gefahren einer solch standen werden. Erzielt man wohls ist jetzt im institutionellen metaphysisch sublimierten Inter- schließlich einen Konsens, so System und seinen verfassungs- essenpolitik im Blick hatten. Das kann dieser Gesprächsabschluss mäßigen Strukturen (Prozeduren) vor allem von James Madison ent- nur vorläufig sein, denn zur For- selbst verankert, nicht mehr in der wickelte Modell der Konfliktbei- mulierung endgültiger Aussagen ethischen Aufrichtigkeit oder im legung, das schließlich auch die bedürfte es einer im Wortsinn un- interessegeleiteten Handeln der politischen Institutionen der USA endlichen Kommunikationsge- Individuen. in weiten Teilen bestimmen sollte, meinschaft, das heißt der Einbe- Dass die Bundesverfassung ih- setzte sich deshalb zum Ziel, die ziehung aller denkbaren subjekti- rem Selbstverständnis nach einem praktischen Defizite einer bloß in- ven Sichtweisen. Deliberative solchen Kommunikationsmodell tersubjektiven Kompromisspolitik Streitbeilegung entwirft sich somit verpflichtet ist, heißt freilich nicht, zu überwinden, um eine tatsäch- zwar auf das Ideal eines universa- dass die US-amerikanische Politik lich metasubjektive Kommunika- len Verständnisses hin, behält aber reibungslos nach diesem Modell tion zu ermöglichen. die Aufhebbarkeit – den sterbli- funktioniert. So war die Bundes- chen Ursprung – ihrer Lösungs- politik in inter-ethnischen Fragen Konsensfindung durch vorschläge im Auge. Die Akzep- schon während der Verfassungs- Deliberation tanz des Konsenses ergibt sich hier debatte – und dann vor allem im Die Streitenden streben hierbei aufgrund einer kollektiven Einsicht 19. Jahrhundert – durch Kompro- einen verständnis- und verständi- in die situative Plausibilität des misse zwischen den Nord- und gungsorientierten Konsens an. Gesprächsergebnisses. In diesem den Südstaaten geprägt, nicht Weder also betreiben sie reine Sinn wird der Streit nicht durch durch kollektive Konsensbestre- Partikular- oder Parteipolitik noch das stärkere, wahrhaftigere oder bungen. In ähnlicher Weise lief erheben sie den gefährlichen An- geschicktere Argument beigelegt, die Immigrationsdebatte des frü- spruch, die eigenen Interessen sondern durch das bessere Argu- hen 20. Jahrhunderts letztlich auf zugunsten eines idealistischen ment bis auf weiteres ausgesetzt. eine Reihe politischer Interessen- Gemeinwohls transzendiert zu Als idealtypische Kommunika- ausgleiche (zum Beispiel in Form haben. Vielmehr reflektieren sie tionsform steht dieses Modell ei- von Quotierungen) hinaus. Ein die gemeinsame Kommunikations- nem prozeduralistischen Poli- verständnis- und verständigungs-

12 Universität Göttingen IDENTITÄT UND AGGRESSION

orientiertes Modell interkulturel- tätsstiftung oder stehen unvermit- ist die Versuchung groß, Konflikte ler Konflikte jenseits der Positio- telt neben autoritären Inszenie- dadurch aus der Welt schaffen zu nen von nativism, melting pot und rungen einer unwidersprochenen wollen, dass man Differenzen be- cultural pluralism wurde dann populistischen Einheits- oder seitigt, statt sie in Austausch zu auch nicht etwa in der politischen Mehrheitskultur. In dieser Situation setzen und, wo nötig, zu ertragen. Diskussion, sondern in der Dich- tung, Dramatik und Erzählkunst ethnischer Minderheiten ent- wickelt. Wie so oft war es die Li- Prof. Dr. Frank Kelleter, Jahrgang 1965, studierte teratur, die die neuen Formen kul- Anglistik, Amerikanistik und Neuere Deutsche Litera- turellen Lebens als erste in den tur an der Universität des Saarlandes (Saarbrücken). Blick nahm und Worte hierfür Anschließend absolvierte er ein Masterstudium an der fand – Worte, deren Bedeutung Graduate School of Arts and Sciences der Washington und Tragweite bezeichnenderwei- University St. Louis (USA). Seine wissenschaftliche se erst sehr viel später im wissen- Laufbahn begann er an der University of Michigan, Ann Arbor (USA) schaftlichen und politischen Dis- und an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo er 1996 pro- kurs nachvollzogen und aufgear- moviert wurde und sich 2002 habilitierte. Im Jahr 2000 führte ihn ein von der DFG geförderter Forschungsaufenthalt an die New York Uni- beitet wurden, etwa in den gegen- versity (USA); 2005 war er Gastwissenschaftler an der University of wärtigen Diskussionen um post- California Berkeley. 2002 wurde Prof. Kelleter an die Universität Göt- koloniale und hybride Kulturen. tingen berufen. Hier lehrt und forscht der Amerikanist als Lehrstuhl- Zwei entscheidende Schwä- inhaber für Nordamerikastudien am Seminar für Englische Philo- chen des verständnis- und ver- logie. Prof. Kelleter ist Vorstandsmitglied des Göttinger Zentrums für ständigungsorientierten Konflikt- Theorie und Methodik der Kulturwissenschaften und arbeitet ins- modells liegen somit in seiner be- besondere in der Abteilung für Komparatistik mit. Außerdem ist er grenzten Durchsetzungsfähigkeit Mit-Initiator und Antragsteller des Promotionskollegs »Wertung und und in seinem kontrafaktischen Kanon: Theorie und Praxis der Literaturvermittlung in der ,nach- Idealismus, der sich beispielsweise bürgerlichen’ Wissensgesellschaft«. immer dann zeigt, wenn reale Machtverhältnisse und unverein- bare Interessendifferenzen durch From the beginning, North tion, conflict resolution through den Hinweis auf die universale American culture has been bargaining or compromise, and Gültigkeit deliberativer Rationa- determined by competing at- conflict resolution through delibe- lität in Abrede gestellt werden. tempts to describe a heteroge- rative consensus. These models Gleichwohl mag die starke Veran- neous and dynamic society as co- are then compared with, and rela- kerung prozeduralistischer Kom- herent and stable. Two public de- ted to, four competing concepts of munikationsformen in der US- bates in U.S. history, similar in inter-cultural co-existence in U.S. amerikanischen Kultur für die er- their structure, anticipated nume- history: nativism, the melting pot, staunliche Langlebigkeit und Funk- rous problems and positions cultural pluralism, and cultural tionstüchtigkeit des so begründeten which today are discussed at an hybridity. Critiquing the utility of Verfassungssystems mit verant- international level under such deliberative political processes, wortlich sein. Sollte dies zutreffen, headings as 'globalization': the the paper nevertheless argues that so ginge die gegenwärtig größte debate about purpose and form of the surprising longevity of the U.S. Gefahr für die US-amerikanische a federal Constitution in the late constitutional system owes some- Demokratie nicht vom angebli- 1780s and the debate about mass thing to its strong emphasis on de- chen Rechtsruck nationaler Politik immigration from Eastern Europe, liberative communication, as well und weniger noch von der oft miss- Southern Europe, and Asia in the as to the role played by artistic and verstandenen Religiosität der US- beginning of the twentieth century. literary modes of cognition in Bürger aus, sondern von der dra- This paper discusses how these fostering an understanding of matischen Erosion einer differen- debates produced competing pro- otherness. Thus, the largest threat zierten kritischen Öffentlichkeit posals for resolving cultural con- to U.S. democracy in the early nach 2001. Insbesondere literari- flicts. The main focus is on four twenty-first century is not the al- sche und künstlerische Erkenntnis- different models of conflict resolu- leged turn to the right in national formen, die in den USA traditionell tion through communication politics, nor the frequently mis- das Verständnis von Vielheit be- (rather than through physical force): understood religiousness of U.S. fördern (sozusagen e unus pluri- conflict resolution through autho- citizens, but the dramatic erosion bum), beschränken sich zuneh- ritarian decisions, conflict resolu- of a differentiated and criti- mend auf neo-sentimentale Identi- tion through third-party media- cal public sphere after 2001.

Georgia Augusta 5 | 2007 13 Bamiyan: In den Fels gehauene Buddha-Statue, mit 55 Metern Höhe die größte der Welt. Die aus dem 3. Jahrhundert stammenden Figuren wur- den von den Taliban im März 2001 zerstört.

© ullstein bild - AP IDENTITÄT UND AGGRESSION

Die Redeweise vom »Kampf der Kulturen« ist uns geläufig geworden. Aber stimmt sie? Was sind ihre Voraus- setzungen, was ihre Folgen – das sind Fragen, die verschiedene Kulturwissenschaften an der Georg-August- Universität Göttingen bearbeiten. Sie versuchen genauer zu verstehen, wie eine Gesellschaft überhaupt dazu kommt, sich als Kultur im Unterschied zu anderen zu begreifen. Wie gleichen Kulturen nach innen die immer zwischen Menschen vorhandenen Unterschiede aus und welche Strategien wählen sie nach außen, Eigenheiten und Andersheiten zu unterscheiden? Fragen dieser Art werden dringlicher, wenn Gesellschaften unter Bedin- gungen der so genannten Globalisierung heterogener zu werden scheinen und das Gefühl dafür verlieren, was ihre Gemeinsamkeiten sind.

Seltsame Bilder wurden vor knapp einem Jahr über die Handys auf Vom Kampf der Kulturen den Schulhöfen in Deutschland ausgetauscht. Sie zeigten eine Ein Plädoyer gegen gängige Deutungsmuster Kreuzung zwischen einer Ratte und einem Mädchen und er- Gerhard Lauer zählten dazu die folgende Ge- schichte. Da sei ein muslimisch erzogenes Mädchen nach einem Auslandsaufenthalt zurück zu ihren Eltern gekommen, wollte Die Geschichte vom Ratten- übersetzt wird. Damit wurde ein nichts mehr vom Koran wissen, Mädchen ist eine jener typischen Schlagwort und eine Interpretation sondern statt dessen nur noch urbanen Legenden, an denen nicht vorgegeben, die längst schon die westliche Musikvideos sehen, sei ein wahres Wort ist und die doch Öffentlichkeit erreicht hat. Nach darüber in Streit mit ihrer Mutter alles versammeln, was für den einer Allensbach-Umfrage im geraten und habe dabei den Koran Konflikt der Kulturen bezeich- Frühjahr 2006 glauben mehr als mit den Füßen getreten. Noch in nend ist. Da ist die eine Welt, in 65 Prozent der Deutschen, dass es derselben Nacht habe sich das der Aufklärung nur eine unterge- in absehbarer Zeit zu schweren Mädchen in dieses Zwitterwesen ordnete Rolle zu spielen scheint Konflikten zwischen der christlich aus Ratte und Mensch verwan- und die Aufklärung über Legen- geprägten, liberalen Welt des Wes- delt. Das Bild sei der Beweis für den nur zögerlich erfolgt, trotz al- tens und dem arabisch-muslimi- die Wahrheit der Geschichte. ler Bemühungen etwa des Zen- schen Kulturkreis kommt. Der 11. »Wenn du diese SMS mit dem Bild tralrats der Muslime in Deutsch- September 2001 scheint dem Recht erhalten hast«, so wurde angefügt, land, solchen Aberglauben zu zu geben. »dann sende diese Mail an zehn bekämpfen. In dieser Welt schei- Aber trifft eine solche Deutung Freunde weiter, sonst wird dich nen Ängste, Minderwertigkeitsge- zu? Warum leuchtet uns eine sol- Allah genauso strafen wie dieses fühle und Ressentiments bestim- che Interpretation ein, was sind Mädchen«. Nichts davon stimmt. mend zu sein; hier gibt es keine die Voraussetzungen dafür, was Nicht Allah hatte die Hand im offenen Gesellschaften, so wirkt sind die Funktionen und was die Spiel, sondern das Bild zeigt eine das von außen, aber Aggression. Folgen? Das sind Fragen der Kul- Silikon-Plastik der australischen Diese Kultur scheint die andere zu turhermeneutik und Leitfragen Künstlerin Patricia Piccinini (www. bedrohen, die sich selbst als auf- vieler der kulturwissenschaftli- patriciapiccinini.net -> We Are geklärt, liberal und offen versteht chen Fächer an der Universität Family). Mit ihrem Kunstprojekt und zugleich als hegemoniale Göttingen. Sie wollen präziser »Leather Landscape« wollte die Kultur mit ihren Musikvideos und verstehen, wie Gesellschaften Künstlerin auf die Zumutungen Filmen die andere Kultur ihrerseits überhaupt dazu kommen, sich als der modernen Gen-Technologie zu bedrohen scheint. Es ist, als Kultur im Unterschied zu anderen aufmerksam machen. Trotz aller würden zwei Welten aufeinander zu begreifen, wie sie nach innen Proteste der Künstlerin gegen den stoßen, die verschiedener nicht die immer zwischen Menschen Missbrauch ihrer Plastik ging das sein könnten. Der amerikanische vorhandenen Unterschiede ho- Bild des Ratten-Mädchens als Politologe Samuel P. Huntington mogenisieren und nach außen Ei- Drohgeschichte um die Welt. Aus hat für diese konfliktträchtige genheiten und Andersheiten un- dem Netz kopiert, kam es über Konstellation 1993 die einpräg- terscheiden. Wie heben sie aus verschiedene arabische Länder same Formulierung vom »Clash of dem Fluss der Handlungen etwas schließlich auf die Handys vor al- Civilizations« gefunden, die im als ihr eigenes kulturelles Erbe lem der türkischen Schülerinnen Deutschen noch einmal verein- heraus, zeichnen es aus und defi- und Schüler auch in Deutschland. facht als »Kampf der Kulturen« nieren sich darüber und unter-

Georgia Augusta 5 | 2007 15 KULTUREN UND KONFLIKTE

scheiden sich damit zugleich? darüber voraus, was Kultur sei. Sie anten bei Geschichtsphilosophen Wie gelingt es, unter den Bedin- ist selbst eine Deutung. Denn Kul- von Giambattista Vico vom An- gungen der so genannten Globali- turen können nur dann miteinan- fang des 18. Jahrhunderts über die sierung und der modernen Mas- der in Konflikt geraten, wenn man europäische Kulturphilosophie senmedien, wenn Gesellschaften annimmt, sie seien selbst separierte um den Ersten Weltkrieg, etwa bei heterogener werden, so etwas wie Einheiten, die zuerst über ihre Nikolai Danilewski, Reinhold kulturelle Gemeinsamkeit herzu- Grenzen nach außen gegeneinan- Niebuhr, Arnold Toynbee oder stellen? Es gehört zu den Beson- der antreten würden. Der Kultur- Oswald Spengler, bis hin zu den derheiten der Universität Göttin- begriff, wie ihn Thesen wie die Schriften verschiedener Muslim- gen, solche Fragen nicht nur mit von Samuel P. Huntington voraus- brüderschaften heute oder in sol- dem Blick auf die Gegenwart zu setzen, braucht die Annahme, chen Geschichtsmodellen wie de- beantworten, noch dabei allein Kulturen hätten einen der perso- nen Huntingtons und anderer. auf die Geschichte Europas zu nalen Identität vergleichbaren Sta- Die kulturalistische Auffassung schauen. Typisch für die geistes-, tus. Sie würden nach außen stärker steht quer zu jener anderen Auf- kultur- und sozialwissenschaftli- differieren als nach innen. Nicht fassung der Kultur, wie sie die chen Fächer in Göttingen ist viel- Weltanschauungen oder Ideologi- UNESCO prominent vertritt, der mehr, den historischen Verlauf en, nicht die harten Fakten der al- Auffassung von der Universalität solcher Interpretationsmuster zu len Kulturen vorausliegenden der Kultur. Es gibt nicht viele, sich untersuchen und dabei besonders ökologischen Bedingungen noch grundsätzlich unterscheidende die außereuropäischen Entwick- die staatlichen Entwicklungen Kulturen, sondern die eine Kultur lungen in den Blick zu nehmen. und Binnengliederungen sind aus- der Menschheit, so lautet hier die Fragt man so, dann tritt man einen schlaggebend, sondern das Ganze These. An ihr haben alle teil, Schritt zurück von den gängigen der jeweiligen Kultur. Man nennt gleich welcher Herkunft, Religion Deutungsmustern und versucht diese Auffassung auch Kulturalis- oder Sitte sie sind. Ein Angriff auf genauer zu beschreiben, was zu- mus, weil die Kultur – das sind einen Teil dieser universalen Kul- sammen kommen muss, damit dann Herkunft, Religion, Sprache, tur ist ein Angriff auf die Kultur der uns solche Redeweisen wie die Sitten und Gebräuche, Werte und Menschheit, so definiert es die vom ›Kampf der Kulturen‹ plausi- traditionelle Institutionen – be- Haager Konvention von 1954: bel erscheinen. stimmend dafür seien, was als ge- »Damage to cultural property, be- Die Redeweise vom ›Kampf schichtliche Größe zu handeln longing to any people whatsoever, der Kulturen‹ bildet nicht eine scheint. Diese Auffassung hat means damage to the cultural he- Berlin-Neukölln, Schüler Wirklichkeit ab, sondern setzt ih- selbst eine lange Tradition und fin- ritage of all mankind, since each der Rütli-Schule rerseits eine Reihe von Annahmen det sich in unterschiedlichen Vari- person makes its contribution to the culture of the world«. Die Ent- wicklung eines Rechtsinstituts des Weltkulturerbes ist eine Konse- quenz aus dieser Auffassung. 1975 hat die UNESCO ihre Auffassung von der Weltkultur als Konvention zwischen den in der UNO zusammengekommenen Staaten erstmals festgeschrieben. Historisch hat auch diese univer- salistische Auffassung der Kultur eine längere Geschichte. Sie knüpft an die antike Idee des Weltwunders an, wie sie schon der griechische Historiker Hero- dot beschreiben hat. Weltwunder wie der Koloss von Rhodos, die hängenden Gärten der Semiramis oder die Pyramiden von Gizeh seien Gemeingut der kultivierten Welt, eine Auffassung, die in der italienischen Renaissance und hier besonders im Kirchenstaat © ullstein - Schroth Nachfolger gefunden hat. Es sei

16 Universität Göttingen IDENTITÄT UND AGGRESSION

Aufgabe des Staates, so begann von aus, dass Konflikte auf Diffe- man in der Frühen Neuzeit zu ar- renzen innerhalb der Kulturen gumentieren, Kulturgüter von zurückgehen. außerordentlichem Rang durch Ob Konflikte zwischen den eigene Gesetze der Nachwelt zu Kulturen oder eher in den Kultu- erhalten und nicht den Zufällig- ren anzusiedeln seien, sind je- keiten von Privatinteressen auszu- weils Maximalpositionen, die in setzen. Diese Auffassung vom uni- dieser Zuspitzung kaum zutreffen. versalen Rang besonderer Kultur- Das zeigt auch das Beispiel des güter wurde verschiedentlich auf- »Ratten-Mädchens«: Die Kinder gegriffen. Das Königreich Frank- und Jugendlichen, die sich von reich etwa verbot im 17. Jahrhun- solchen Drohmeldungen ein- dert die Ausfuhr von Gemälden schüchtern lassen, teilen eher so- Nicolas Poussins, weil diese Ge- ziale als kulturelle Merkmale mit- mälde Eigentum des ganzen Landes einander. In armen, gerade erst seien und daher nicht Einzelnen nach Deutschland eingewander- gehören könnten. Die Französi- ten Familien finden derartige Ein- sche Revolution hat die universa- schüchterungen weit mehr Gehör listische Auffassung noch ver- als im türkischen Mittelstand. Ara- stärkt. In den Revolutionskämpfen bische und türkische Jugendliche am Ende des 18. Jahrhunderts liefern sich in vielen Städten hefti- musste entschieden werden, was ge Auseinandersetzungen. Nur mit den Hinterlassenschaften des von außen scheinen sie eine Ancien Régime zu geschehen ha- Gruppe zu sein. Von einer ge- be. Wem gehörten die Kunstschät- meinsamen Kultur kann kaum ge- ze, die Adel und Klerus angehäuft sprochen werden. Die Selbst- hatten? 1798 entschied das revo- wahrnehmung der Jugendlichen © ullstein - Heerde lutionäre Direktorium, es gebe ein ist eine ganz andere. Und den- ›Vorkaufsrecht‹ der Franzosen noch scheint den einen die Rede »Rütli tanzt – wir nicht nur für die Kulturgüter des vom Kampf der Kulturen so ein- Wie verwickelt die Dinge bei können auch anders« Feudalismus, sondern für alle leuchtend wie den anderen die genauerer Betrachtung sind, zeigt Musicalprojekt der Schülerinnen und Kunstwerke der Welt, die das Ge- Redeweise von der Universalität ein in der Weltöffentlichkeit weit- Schüler der Rütli Schule. nie der Freiheit des Menschen der Kultur. Sieht man genauer hin, hin sichtbares Beispiel: die Spren- ausdrücken. Kultur ist hier das dann sind beide Deutungen der gung der beiden monumentalen universelle Erbe der Menschheit, Kulturen und ihrer Konflikte Ver- Buddha-Statuen von Bamiyan in weil der Mensch gleich und frei einfachungen, aber eben wirksa- Afghanistan im Frühjahr 2001 geboren sei. Diese Auffassung der me Vereinfachungen. durch Milizen der Taliban. Die Kultur schloss immer mit ein, dass es auf seiner Rückseite auch den Vandalismus gebe, den gewaltsa- men Angriff auf dieses Erbe. 1794 hatte der Abbé Grégoire in seiner Schrift »Rapport sur les destruc- tions opérées par le vandalisme« nicht nur den Begriff des univer- sellen Kulturerbes geprägt, son- dern zugleich auch den des Van- dalismus. Auch der universalisti- sche Begriff der Kultur schließt al- so den Konflikt ein. Nur konzep- tualisiert er ihn anders als es die kulturalistische Auffassung tut. Während die kulturalistische Auf- fassung das Konfliktpotenzial als Folge der Unterschiede zwischen den Kulturen begreift, geht die universalistische Auffassung da-

Georgia Augusta 5 | 2007 17 KULTUREN UND KONFLIKTE

Zerstörung scheint ein drastischer dieses religiösen Gebots wurde kulturelle Tatsache. Auch das Ta- Beleg für den Konflikt zwischen über die Jahrhunderte offensicht- liban-Regime und seine Aus- den Kulturen zu sein. Hier hat ei- lich nicht ganz so eng gefasst, wie legung des Islams sind ihrerseits ne Kultur, die islamisch geprägte, es die Rede von der einen Kultur, Folgen der inner-islamischen Aus- gewaltsam ihren Geltungsan- die gegen andere stünde, sugge- einandersetzungen um die moder- spruch gegen eine andere, die riert. Hinzu kommt, dass die Sta- nen Pluralisierungen auch der buddhistisch geprägte, durchge- tuen für die lokale Bevölkerung muslimischen Lebenswelten, wie setzt und damit den Universalis- aufgrund ihrer touristischen Be- sie nicht zuletzt mit der sowjeti- mus der westlichen Kultur provo- deutung als Ressource für ihr schen Besetzung in Afghanistan ziert. Kulturalisten wie Hunting- Überleben dienten. Daher richte- Einzug hielten. ton sagen: »Wir wissen, wer wir te sich die Sprengung durch aus- Zu der Verwirrung der schein- sind, wenn wir wissen, wer wir ländische Milizionäre des Tali- bar evidenten Konfliktlinien trägt nicht sind und gegen wen wir ban-Regimes auch gegen die dort bei, dass die Buddha-Statuen sind«. Den Universalisten ist die ansässige Hazara-Bevölkerung, nicht Ausdruck einer universellen Sprengung dagegen vor allem ein persisch sprechende Schiiten. In Kultur sind, sondern eines be- Akt des Vandalismus gegen das der Gewaltsamkeit der Sprengung stimmten historischen Moments. Kulturerbe der Menschheit. Ent- stehen sich nicht einfach Kultu- Sie gehen auf den graeco-buddhis- sprechend bemüht sind derzeit ren, sondern lokale Traditionen, tischen Synkretismus der Gandha- Organisationen wie das ›Interna- radikalisierte Auslegungen von ra-Zeit zurück, als sich hellenis- tional Council on Monuments and der einen, einheitlichen Kultur al- tische Einflüsse durch die Erobe- Sites (ICOMOS)‹, die Statuen wie- ler Muslime und globale Aufmerk- rungszüge Alexander des Großen derzuerrichten. samkeiten für das Weltkulturerbe mit Traditionen der indischen Die Konfliktlinien sind aber gegenüber. Erst mit der Sprengung Kunst vermischt hatten und die verwirrender als es beide Interpre- wurde versucht, die Statuen zum ersten, dann für die asiatische tationen erkennen lassen und be- Gegenstand eines Kampfes der Welt insgesamt vorbildlichen Dar- dürfen einer differenzierten Be- Kulturen zu machen und den uni- stellungen Buddhas hervorbrach- trachtung: Da ist zunächst festzu- versalistischen Anspruch des Wes- ten. Dies zeigt sich darin, dass die stellen, dass beide Statuen mehr tens herauszufordern. Erst damit Buddhas in diesen Darstellungen als tausend Jahren im islamisch entstanden jene klaren Konfliktli- eine Toga tragen. Das wieder geprägten Umfeld erhalten wor- nien, die uns nur zu vertraut sind. sichtbar zu machen, ist eine der den sind, obgleich das islamische Sie sind der Effekt einer gewaltsa- Aufgaben der Kulturwissenschaf- Verbot, Menschen abzubilden, men Inszenierung, aber nicht des- ten gegen alle Vereinfachungen. Geltung besaß. Die Auslegung halb schon eine unumgängliche Kulturen sind – so betrachtet – we-

Fundamentalistische Taliban-Kämpfer prä- sentieren im März 2001 die leeren Nischen der gesprengten Buddha- Statuen von Bamiyan

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18 Universität Göttingen IDENTITÄT UND AGGRESSION

der in sich ruhende Einheiten, die als solche gegeneinander kämp- Zentrum für Theorie und Methodik fen, noch sind alle Kulturen gleich der Kulturwissenschaften (ZTMK) unmittelbar zu der einen Mensch- heit. Sie sind selbst in sich unter- schieden und unterscheiden sich (red.) Im Zentrum für Theorie und meinschaft finanzierte Kolleg nicht zuletzt auch darin, wie sie Methodik der Kulturwissenschaf- »Generationengeschichte« unter mit den Konflikten innerhalb ihrer ten (ZTMK) haben sich an der dem Dach des ZTMK. Im Bereich selbst umgehen, diese Konflikte Georg-August-Universität Göttin- Studium gehören der Bachelor- nach außen kommunizieren und gen Wissenschaftler und Wis- Studiengang »American Studies« umgekehrt Deutungen von außen senschaftlerinnen zusammenge- sowie der Magisterstudiengang nach innen tragen und dort zu ei- schlossen, die sich mit aktuellen »Komparatistik. Allgemeine und nem Teil ihrer eigenen Kultur ma- und fachübergreifenden Fragen Vergleichende Literatur- und Kul- chen können. Die Ghandara-Zeit der Kulturwissenschaften befas- turwissenschaft« dem Zentrum hat eine andere Lösung für die Be- sen. Sie kommen unter anderem an. Das seit 2001 bestehende gegnung mit einer von ihr zu- aus den Fächern Neuere deutsche Zentrum für Komparatistische Stu- nächst verschiedenen Kultur, der Literatur, Amerikanistik, Mittlere dien (vgl. Georgia Augusta 3/ der Griechen, gefunden als die Ta- und Neuere Geschichte, aber 2004, Seite 84) wurde eingeglie- liban in ihrer Auseinandersetzung auch Europäische Ethnologie, dert und führt als Abteilung Kom- mit den tatsächlichen und ver- Kunstgeschichte, Indologie und paratistik innerhalb des ZTMK sei- meintlichen westlichen Entwick- Arabistik. Ziel des im März 2006 ne Arbeit fort. lungen. Die Rede vom ›Kampf der gegründeten Zentrums ist es, ge- Das ZTMK fungierte bereits im Kulturen‹ ist so gesehen selbst Re- meinsame Forschungsvorhaben Jahr 2006 als Plattform für zahlrei- sultat einer bestimmten Deutung zu koordinieren, Nachwuchsför- che Tagungen, die die Breite der von Kultur, eine wirkungsmächti- derung und interdisziplinäre Stu- Forschungsfragen des Zentrums ge, aber keine zwingende. Dieser diengänge zu betreiben und inter- verdeutlichten und überregionale Logik des Kulturellen gehen die nationale Forschungskontakte zu Aufmerksamkeit auf sich zogen: Kulturwissenschaften nach. knüpfen und zu festigen. Dem »Konzert und Konkurrenz. Die Das Beispiel der zerstörten Zentrum gehören Wissenschaftle- Künste und ihre Wissenschaften Buddhas von Bamiyan zeigt, wie rinnen und Wissenschaftler aus im 19. Jahrhundert« (Mai), »Ame- sehr die Redeweisen vom ›Kampf der Philosophischen und der The- rican Studies as Media Studies. der Kulturen‹ eine spezifische ologischen Fakultät an. Direktor Jahrestagung der Deutschen Ge- Auffassung des Begriffs der Kultur des ZTMK ist der Literaturwissen- sellschaft für Amerikastudien« (Ju- ist, nicht einfach das Bild einer schaftler Prof. Dr. Gerhard Lauer. ni), »Prädikat ’Heritage’. Wert- Wirklichkeit. Umgekehrt ist auch Dem Zentrum gehören die schöpfungen aus kulturellen Res- die universalisierende Rede vom Emmy-Noether-Forschergruppe sourcen« (Juni), »Klassizistisch-ro- Weltkulturerbe in der Versu- »Romantikrezeption, Autonomie- mantische Kunst(t)räume. Imagi- chung, die oft genug gewaltsamen ästhetik und Kunstgeschichte« so- nationen im Europa des 19. Jahr- Unterschiede einzuebnen und wie die Forschergruppe »Religion hunderts und ihr Beitrag zur kul- alle Kultur einer ästhetisierend- als Verhandlungsfeld von Konflik- turellen Identitätsfindung« (No- musealen Deutung zu unterzie- ten« (vgl. Seite 86) an. Außerdem vember), »Kriminalitätsgeschichte hen, so als wären etwa die drasti- arbeiten das Promotionskolleg im Wandel. Interdisziplinäre Per- schen Unterschiede in der na- »Wertung und Kanon« sowie das spektiven von der Frühneuzeit zur turräumlichen Ausstattung der von der Deutschen Forschungsge- Moderne« (November). verschiedenen Regionen dieser Erde zu vernachlässigen. Der jüngste Bericht zur Änderung des Weltklimas von Nicholas Stern lässt im Gegenteil erwarten, dass denen zwischen Natur und Kultur von kulturalistischen wie univer- die nackten Ungleichheiten in und solchen, wie es dazu kommt, salistischen Deutungen der Kultur den Folgelasten der globalen Er- dass Deutungen geglaubt werden hält, nimmt man dann auch Phä- wärmung die Unterschiede noch und damit Teil der Wirklichkeit nomene wahr, die vielfach über- vergrößern und vermutlich The- werden, auch wenn diese so un- sehen werden. Für die meisten sen vom ›Kampf der Kulturen‹ zutreffend sein sollten wie die Ge- von uns ist Literatur ein hohes Kul- noch einmal forcieren werden. schichte vom Ratten-Mädchen. turgut. Übersehen wird dabei die Die Kulturwissenschaften fragen Mit diesem Blick auf die Kultu- gegenwärtig wohl erfolgreichste nach solchen Zusammenhängen, ren, der gleichermaßen Abstand Literatur. Für keine andere werden

Georgia Augusta 5 | 2007 19 KULTUREN UND KONFLIKTE

höhere Voraushonorare bezahlt. In Deutschland verhindert der Fö- Gemeint ist eine Literatur wie die deralismus vergleichbare kultur- »Left-Behind«-Serie. Sie erzählt politische Stellungnahmen. Aber von den letzten Tagen der Mensch- der Sache nach findet die gleiche heit, vom Endzeitkampf gegen Transformation auch hierzulande Gog und Magog, in dem die wah- statt. In solchen Auseinanderset- ren Christen zusammen mit den zungen um Globalisierung, Mas- verloren geglaubten zehn Stämmen senmedien und ihre kulturellen Israels die tausendjährige Welt- Folgen haben die Kulturwissen- herrschaft einleiten werden. Mehr schaften wie alle Wissenschaften als 12 Bände enthält die Serie für nur selten etwas unmittelbar Ver- Erwachsene, mehr als 40 Bände wertbares beizutragen. Sie sind die The Kids Box Sets, Musik-CDs, keine Agenturen für Proteste etwa Handy-Nachrichtensysteme und gegen die »Googlisation«. Stel- Computerspiele kommen hinzu, lung bezieht der Bürger, nicht der ein geschlossenes Universum, um Wissenschaftler. Aber vielleicht ist die Welt als Kampfplatz der Kultu- es keine der unvornehmsten Auf- ren zu deuten. Auch und gerade gaben der Wissenschaften, gegen solche populären Bücher für Mil- die terribles simplificateurs auf die lionen von Lesern gehören zu den Unterschiede zu verweisen, die Gegenständen der Kulturwissen- sich im Prozess der kulturellen schaften. Sie erst führen vor Au- Wandlungen ergeben, gerade gen, wie Kultur gemacht wird und wenn diese Unterschiede für ganz wie sie wirkt. andere Zwecke instrumentalisiert Wie sehr Kultur derzeit viele der werden. Deutlicher hat es 1908 uns vertrauten Koordinaten ver- der Schriftsteller Karl Kraus in sei- lässt und sich dramatische Ände- ner Zeitschrift »Die Fackel« ge- rungen abzeichnen, zeigen nicht sagt: »In der Politik empfindet nur religiöse, politische und so- nämlich immer auch der die ziale, sondern auch gegenwärtige Überraschung, der sie inszeniert. mediale Wandlungen der Kultur. [...] Die Politik macht die Welt zur Die Konflikte um die Transforma- Kinderstube. Die Großen wissen tion unserer kulturellen, vielfach genau, was am Weihnachtsbaum auf das Buch gestützten Bestände hängt, aber wenn die Tür geöffnet in digitale Formate ist ein solcher wird, müssen sie doch ›Ah!‹ sa- Vorgang der Veränderung, der für gen. Sonst hören die Kleinen auf, viele nur ein technischer Transfer- ans Christkindl zu glauben«. Vorgang ist, den Unternehmen wie ›Google‹ betreiben. Bei nähe- Literatur: rer Analyse aber ist diese Transfor- Nicole Gnesotto / Giovanni Grevi (Hg.), mation ein kulturpolitischer Vor- The New Global Puzzle. What world for the gang von nachhaltiger Wirkung EU in 2025? Paris 2006. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kul- auf unser zukünftiges kulturelles turen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im Selbstverständnis. Hier wird der- 21. Jahrhundert, Hamburg 1997. zeit von Wenigen entschieden, was Jean Noël Jeanneney, Quand Google défie nach welchen Regeln aus den Kul- l'Europe. Plaidoyer pour un sursaut, Paris 2005. turen bewahrt und für zukünftige Patricia Piccinini, Homepage der Künstle- Jahrhunderte gespeichert wird, rin: http://www.patriciapiccinini.net. damit auch, was nicht aufgezeich- William F. Ruddiman, Plows, Plagues, and net wird, was nicht mehr aufzu- Petroleum. How Humans took control of finden ist und aus der kulturellen climate. Princeton 2005. Nicholas Stern, The Economics of Climate Erinnerung fallen wird. Nicht zu- Change. The Stern Review, Cambridge 2006 fällig haben Bibliothekare wie der (s. auch http://www.hm-treasury.gov.uk/in- Direktor der Pariser Bibliothèque dependent_reviews/stern_review_econo- mics_climate_change/stern_review_re- nationale Jean Noël Jeanneney port.cfm) gegen die »Googlisation« der Kul- Foto: Mike Schmidt Kulbhushan Warikoo (Hg.), Bamiyan. Chal- turen scharfen Einspruch erhoben. lenge to world heritage, New Dehli 2002.

20 Universität Göttingen IDENTITÄT UND AGGRESSION

Speaking of a »Clash of Ci- vilisations« has become an Prof. Dr. Gerhard Lauer, Jahrgang 1962, studierte von everyday phenomenon. But does 1982 bis 1989 Germanistik, Philosophie, Deutsch als this expression depict our true Fremdsprache, Musikwissenschaften und Judaistik an situation? At first glance, we iden- den Universitäten Saarbrücken, Tübingen und Mün- tify drastic examples, such as the chen. An der Ludwig-Maximilians-Universität Mün- story of the »Girl-Rat«. A year ago, chen (LMU) wurde er 1992 promoviert. 1992 bis 1994 messages containing threats ap- arbeitete er erst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und anschließend peared on the displays of mobile als Assistent von Prof. Dr. Wolfgang Frühwald. Im Jahr 2000 habili- telephones, particularly those of tierte er sich und wurde für diese Forschungsarbeit mit dem Habili- Muslim school children. They fea- tationspreis der Universität München ausgezeichnet. Studien- und tured a picture of a girl cross-bred Forschungsaufenthalte führten den Literaturwissenschaftler an die with a rat. The story accompany- Universitäten Princeton (USA), Oxford (Großbritannien) und Jerusa- lem (Israel). Im Jahr 2002 nahm er den Ruf an das Seminar für deut- ing the picture related that Allah sche Philologie der Universität Göttingen an, dessen Direktor er ist. had turned the girl into a rat be- Prof. Lauer ist Gründungsdirektor des Göttinger Zentrums für Theo- cause she had turned her back on rie und Methodik der Kulturwissenschaften (2005) und eingebunden her orthodox upbringing and dis- in die Graduiertenkollegs »Generationengeschichte« und »Wertung regarded the Koran. Anyone recei- und Kanon« sowie die International Max Planck Research School ving this text message should pass »Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit«. it on, thus fighting against »un- belief«. Another culture ruled by superstition, intolerance and anti- pathy seemed here to be penetra- ting and fundamentally challen- ging, western, liberal culture. towns and cities. Only from out- culture of all Muslims, and global Another example is the demoli- side do they appear to be one attention towards this site of world tion of the monumental Buddha group. It would, therefore, hardly heritage. Equally, the demolition Statues of Bamiyan on the part of be correct to speak of a common was an attempt to render the sta- Taliban militia. Here too, different culture. The picture of the »Girl- tues an object of a »clash of civili- cultures appear to be meeting and Rat« is actually a picture of a sations«. Cultural Studies wish to conflicting irreconcilably. On one sculpture by an Australian artist achieve a closer understanding of side, we perceive a radical inter- (www.patriciapiccinini.net –> We how societies even begin to dif- pretation of Islam and thus a cul- Are Family), who uses her piece of ferentiate themselves as a culture ture which fights against religions work to protest against the im- from others. How do they balance such as Buddhism without surren- positions of modern genetic tech- out these ever-present differences der. On the other side, there is a nology. between people on an internal le- western universality that con- Such differentiation within the vel and which outward strategies ceives the statues as a piece of cul- layers of conflict surrounding the do they employ to separate com- tural heritage of interest to tourists concept of culture has become an mon ground from that which is rather than as the expression of a object of investigation for the de- different? The disciplines within particular religiosity. partments of Social and Cultural the Arts and Humanities of the Acloser look dissolves these Studies and Humanities at the University of Göttingen deal with simple opposites; indeed, the the- University of Göttingen, not least such different research areas as sis of a »Clash of Civilisations« lo- with the aim of demonstrating that the disturbing simultaneity of plu- ses plausibility. The threatening even speaking of a »Clash of Civi- ralism and homogenisation of cul- messages about the »Girl-Rat« do lisations« is itself part of an inten- ture through the Internet or the not only circulate within the one, ded simplification of culture. book series on the apocalyptic apparently homogenous culture The demolition of the Buddha struggle between followers of of the Muslim minority. They are, statues of Bamiyan was carried Christ and Gog and Magog, which for instance, much more likely to out against the will of the local po- has found little readership in Ger- find their audience in poor immi- pulation and was part of the op- many, yet is a bestseller on a grant families who have only re- pression of the Hazara people, the world-wide level. They do so with cently taken up residence in their Persian-speaking Shiites. Juxta- a view to discovering how socie- new country, than within the Tur- posed in the violence of the demo- ties negotiate their cultural identi- kish middle classes. Arab and Tur- lition are not simply cultures, but ties, not least with each other, un- kish young people are subject to also local traditions, radicalised der the conditions of globa- intense conflicts in many German interpretations of the one, unified lisation.

Georgia Augusta 5 | 2007 21 Vielfalt studieren – Geisteswissenschaften und mehr

Als traditionelle Voll- Ägyptologie und Koptologie · Allgemeine Sprachwis- Göttingen im Jahr der universität verfügt senschaft · American Studies · Antike Kulturen (Ein- Geisteswissenschaften Göttingen über ein Fach-Bachelor) · Arabistik/Islamwissenschaft · Ar- 2007 historisch gewachse- chäologie der Klassischen und Byzantinischen Welt · nes, außerordentlich Biologie (nur Lehramt) · Chemie (nur Lehramt) · Deut- breites Fächerspektrum, das sich insbesondere durch sche Philologie (auch Lehramt: Deutsch) · Englische eine große Vielfalt geisteswissenschaftlicher Diszipli- Philologie (auch Lehramt: Englisch) · Erdkunde (nur nen auszeichnet. Diese fachliche Ausdifferenzierung Lehramt) · Ethnologie · Evangelische Religion (nur ermöglicht durch die neuen gestuften Studiengänge Lehramt) · Finnisch-Ugrische Philologie · Franzö- in besonderer Weise ein interdisziplinäres Studium. sisch/Galloromanistik (auch Lehramt: Französisch) · Dies gilt vor allem für die Studienprogramme des Geschichte (auch Lehramt: Geschichte) · Geschlech- Zwei-Fächer-Bachelor, in dem zwei gleichberechtig- terforschung · Griechische Philologie (auch Lehramt: te Fächer kombiniert werden. Griechisch) · Indologie · Informatik (nur Lehramt) · Federführend für den Zwei-Fächer-Bachelor ist die Iranistik · Italienisch/Italianistik (auch Erweiterungs- Philosophische Fakultät. Mit 33 Fächern beteiligt sie fach Italienisch im Lehramt) · Kulturanthropologie/Eu- sich an dem breiten Studienprogramm, das derzeit in ropäische Ethnologie · Kunstgeschichte · Lateinische seiner Gesamtheit 45 Fächer aus zehn Fakultäten um- Philologie (auch Lehramt: Latein) · Lateinische Philo- fasst. Neben der philosophischen Fakultät sind dies logie des Mittelalters und der Neuzeit · Mathematik die Biologische Fakultät, die drei Fakultäten für Phy- (nur Lehramt) · Musikwissenschaft · Philosophie (auch sik, Chemie und Mathematik, die Fakultät für Geo- Lehramt: Philosophie) · Physik (nur Lehramt) · Politik wissenschaften und Geographie, die Sozialwissen- (auch Lehramt: Politik) · Portugiesisch/ Lusitanistik · schaftliche, die Wirtschaftswissenschaftliche, die Rechtswissenschaft · Religionswissenschaft · Romani- Theologische sowie die Juristische Fakultät. sche Philologie · Skandinavistik · Slavische Philologie (auch Lehramt: Russisch) · Soziologie · Spanisch/ Hispanistik (auch Lehramt: Spanisch) · Sport (auch Lehramt: Sport) · Turkologie und Zentralasienkunde · Ur- und Frühgeschichte · Volkswirtschaftslehre · Wer- te und Normen (nur Lehramt) · Wirtschafts- und Sozialgeschichte www.phil.uni-goettingen.de

Foto: Peter Heller

Bei zwei Bomben- explosionen in Nacht- clubs in Kuta auf der Insel Bali wurden im Oktober 2002 mehr als 200 Menschen getötet. Ein Polizist bewacht die Ruinen.

© ullstein bild – AP Die Bombenattentate auf der »Insel der Götter« Hintergründe und Wirkungen der Anschläge von Bali

Brigitta Hauser-Schäublin KULTUREN UND KONFLIKTE

Die Bombenattentate 2002 und 2005 in den Ferienorten auf Bali schockierten die Weltöffentlichkeit. Angehörige der fundamentalistischen islamischen Terrororganisation Jemaah Islamiyah verübten Anschläge auf Touristen, denen aber auch eine große Zahl von Hindu-Balinesen zum Opfer fielen. Dass Begriffe wie »Kultur« und »Reli- gion« hier als Erklärungsmuster zu kurz greifen, zeigt Dr. Brigitta Hauser-Schäublin, Professorin am Institut für Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. In ihrem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützten Projekt »Tempel und Rituale als Wirkungsfeld politischer Akteure in Bali« untersucht die Wissen- schaftlerin politisch und religiös motivierte Vorstellungen, Entscheidungen und Handlungen im Zuge der radi- kalen Dezentralisierung Indonesiens nach dem Fall des Suharto-Regimes. Ihre Beobachtung ist, dass lokale und regionale Gruppen sich unter den veränderten Bedingungen des Nationalstaates und einer von außen empfun- denen Bedrohung (Bombenattentate) verstärkt auf ihre eigene Tradition und Religion zurückberufen, was zu ei- ner Ethnisierung führt und neue Konflikte begründen kann.

Die Attentate 2002 und 2005 linesischen Experten durchgeführ- gen, von hinduistischer Kultur ge- Am Samstagabend des 1. Oktober ten Untersuchungen nach dem prägten indonesischen Insel als 2005 spazierten drei junge Män- Anschlag von 2002 ergaben, dass Ausdruck eines Konflikts zwi- ner in drei populäre Restaurants in die unmittelbaren Drahtzieher der schen Kulturen zu verstehen? den beiden Touristenorten Jimba- fundamentalistischen islamischen Wenden sich radikale islamisti- ran und Kuta an der Südküste von Terrororganisation Jemaah Isla- sche Aktivisten gegen eine ver- Bali in Indonesien. Jeder begab miyah angehörten. Diese Organi- schwindend kleine hinduistische sich dorthin, wo größere Gruppen sation ist mit Al-Qaeda offensicht- Minorität Indonesiens und gegen von Gästen beim Abendessen lich vernetzt (Gunaratna 2002) »den Westen«, der durch die jun- saßen. Dort blieben sie stehen und und agiert in ganz Südostasien gen westlichen Touristen symboli- ließen die Bomben detonieren, (Conboy 2006). Die drei Haupt- siert wird, die bei den Anschlägen die sie in Tupperware-Gefäßen in verantwortlichen, Amrozi, Ali ums Leben kamen? Geht es letzt- ihren Rucksäcken bei sich trugen Gufron und Imam Samudra, soll- lich um den Kampf des Islam ge- (Conboy 2006:VII). 23 Menschen, ten im August 2006 hingerichtet gen Andersgläubige, gegen die ein darunter die drei Selbstmordatten- werden. Ihre Anwälte legten je- »heiliger Krieg« geführt werden täter, wurden getötet und über doch kurz vor der Vollstreckung muss? Haben wir es also mit ei- 120 Personen verletzt. Drei Jahre Berufung gegen das Urteil ein. Da nem »Kampf der Kulturen«, der nach dem verheerenden Bomben- die Bewohner Balis gegen die Ver- Religionen zu tun? anschlag in einem Nachtklub in zögerung der Hinrichtung, die Diese Schlussfolgerung wäre Kuta – der Ort wird vor allem von nach ihrem Willen in Bali durch- zu einfach. Und sie ist falsch, weil jungen Menschen aus der ganzen geführt werden sollte, protestier- dadurch gewalttätige Auseinan- Welt besucht –, bei dem über 200 ten, wurden die Verurteilten aus dersetzungen unbesehen auf Personen, darunter auch sechs Sicherheitsgründen auf eine klei- »Kultur« und »Kulturen« reduziert Deutsche, getötet worden waren, ne, Java vorgelagerte Insel ge- werden. Der Kulturbegriff, der da- zeigte dieses zweite Attentat, dass bracht. Auch das Attentat von bei zur Anwendung gelangt, ist ei- der erste Anschlag keineswegs zu- 2005 stand in enger Verbindung ner, der homogenisiert und verall- fällig an diesem als »Insel der Göt- mit Jemaah Islamiyah; die drei gemeinert. Die Ursache von Kon- ter« und »Insel der tausend Tem- Hauptverantwortlichen wurden flikten wird dadurch auf eine ab- pel« bekannten Urlaubsziel statt- im September 2006 zu Strafen strakte kollektive soziale Einheit gefunden hatte. Bekanntlich han- zwischen acht bis 18 Jahren Ge- (Angehörige einer »Kultur« als delt es sich bei dem, womit Bali fängnis verurteilt. In Indonesien Gesellschaft) und auf eine rein und Indonesien um Touristen wer- gärt es jedoch weiter. Im März ideelle Ebene (Einstellungen, Geis- ben, gerade um »Kultur«. Es sind 2007 wurden mehrere Terrorver- teshaltungen, »Religion«) verla- die vornehmlich hinduistisch ge- dächtige auf Java festgenommen gert. Dabei werden Fragen nach prägten Traditionen, von denen und größere Mengen von Spreng- Streitigkeiten über ökonomische die üppigen und farbenfrohen stoff konfisziert. Gleichzeitig kün- Ressourcen zumindest als eine Tempelfeste, Tänze und Rituale digten führende Köpfe des Terror- Ursache (Schlee 2004), also Fra- verschiedenster Art zweifellos die netzwerkes weitere Bombenatten- gen nach den konkreten Lebens- attraktivsten sind. Bali ist, wie ein tate auf Bali an. Handelt es sich bedingungen, ausgeblendet. Ein balinesischer Autor geschrieben dabei um leere Drohungen oder solcher Kulturbegriff gibt vor, dass hat »ein Fisch im weiten Meer des um konkrete Hinweise? Und wa- das, was damit bezeichnet wird, Islams« (Palguna 2006: 2). rum gerade Bali? einheitlich und eindeutig sei. Er Die schnellen, mit Hilfe von Sind die Attentate von islamis- erzeugt Einheiten – »Kulturen«. Er Spezialisten aus verschiedenen tischen Fundamentalisten auf die suggeriert, dass sich eine Kultur Staaten unter der Leitung eines ba- ökonomischen Zentren der winzi- klar gegen eine andere abgrenzen

26 Universität Göttingen IDENTITÄT UND AGGRESSION

lässt und die Welt demzufolge aus gebend für die Entwicklung von gen »auf den Knien« um Hilfe bit- kulturellen Einheiten besteht, die islamistischen Terrororganisationen ten. Damit dem Staat die dringend entweder nebeneinander oder an. Folgende Punkte lassen sich benötigte Finanzhilfe gewährt sich mehr oder weniger diametral konkretisieren: wurde, wurde dieser zu einer Rei- gegenüberstehen und sozusagen Islamische Gesellschaften in he von Konzessionen gezwungen. auf nahezu unvermeidlichem Südostasien haben anteilsmäßig Dazu gehörten der Rücktritt Su- Konfliktkurs laufen. weniger internationale Entwick- hartos und die Entlassung Ost- Alle in diesem Kulturbegriff lungshilfe aus »dem Westen« er- timors in die Unabhängigkeit. enthaltenen Annahmen wider- halten, als ihr prozentualer Anteil Dieser »Handel«, als Ausdruck sprechen jedoch den Gegeben- an der Bevölkerung der »Dritten westlichen Imperialismus verstan- heiten einer globalisierten Welt, Welt« rechtfertigen würde (Ki- den, verletzte das Selbstwertge- in der sich klar abgrenzbare Ein- vimäki 2003:16). Das bedeutet, fühl vieler Indonesier und kränkte heiten kaum mehr ausmachen las- dass die Ressourcen ungleich ver- sie zutiefst (Kivimäki 2003:16). sen. Bei genauerem Hinsehen ent- teilt wurden. Der Einmarsch der USA in die deckt man – abgesehen von allen Viele Gruppen innerhalb Indo- islamischen Staaten Afghanistan Formen der Migration – ständig nesiens gelangten im Verlauf des und Irak wurde von vielen Indo- neue soziale, ideelle, materielle, autoritären, von Korruptionsaffä- nesiern als Zeichen verstanden, finanzielle, technologische und ren gekennzeichneten Regimes dass Rechtsstaatlichkeit und inter- informationstechnische Verknüp- Suharto von 1967 bis 1998 zu der nationale Abkommen von den fungen und Verflechtungen, in Ansicht, dass die Regierung nicht Ländern, die gerade Indonesien welche heute alle Menschen in in der Lage oder nicht Willens sei, diesbezüglich anmahnten, nach unterschiedlichem Maß einge- im Namen und Interesse der Be- eigenem Gutdünken auf die Seite bunden und aktiv sind. völkerung zu regieren. Vielmehr geschoben werden können. Der Ein Perspektivenwechsel ist werde die arme, vor allem ländli- willkürliche Umgang mit Rechts- deshalb unerlässlich, wenn wir che Bevölkerung immer ärmer staatlichkeit – so die Meinung vie- uns um Erklärungen für Konflikte und die reiche, vor allem die mit ler Menschen, die sich selbst als bemühen. Aus sozialwissenschaft- Personen und Institutionen des Teil einer unterprivilegierten isla- licher Perspektive ist ein Zugang Staates verwobene Bevölkerung, mischen Mehrheit sehen – legt na- erforderlich, der nach den konkre- auf Kosten der Armen immer rei- he, dass gegen solche Hegemoni- ten Menschen, den Handelnden, cher. Missmut und Unzufriedenheit en mit gewaltlosen politischen fragt; den Milieus und sozialen mit der eigenen Regierung mach- Methoden nichts auszurichten ist Netzwerken, denen sie verhaftet ten sich breit (Thorning 2003:10). (Kivimäki 2003:18). Amrozi und sind und in denen sie agieren so- Die ökonomische Krise (»Asien- sein Bruder Ali Imron – zwei der wie nach den Motiven und Zielen, krise«), die 1997 begann, traf den Drahtzieher der Attentate von die sie haben. Dies bedeutet, dass indonesischen Staat sowohl wirt- 2002 – verkündeten, dass sie stolz nicht »Kulturen« miteinander im schaftlich als auch politisch. Indo- darauf seien, aus ärmlichen Ver- Konflikt stehen, sondern Men- nesien musste die USA und west- hältnissen Javas zu stammen und schen. Dabei spielen Identitäten, liche Finanzinstitutionen sozusa- trotzdem in der Lage gewesen sei- die sie sich erschaffen haben, und die Werte und Normen, auf die sie Imam Samudra, der sich berufen, eine zentrale Rolle. zweite Hauptverdäch- tige der Bomben- Versucht man, dieses Postulat um- anschläge von Kuta, zusetzen, so zeigt sich, dass die Bali, wird nach Bombenattentate in Bali einer dif- seiner Gerichtsverhand- lung von Polizisten ferenzierteren Erklärung bedür- abgeführt. fen. Ich möchte nun im Folgenden versuchen, die Komplexität der Hintergründe der Attentate und ihre Wirkung aufzuzeigen.

Internationale und nationale politische Hintergründe Zahlreiche Autoren sehen die so- ziale und politische Situation In- donesiens, der größten islami- schen Nation, in der zweiten Hälf- te der 1990er Jahre als ausschlag- © ullstein bild - AP

Georgia Augusta 5 | 2007 27 KULTUREN UND KONFLIKTE

Dollar pro Jahr stammt etwa die zahl ausländische Touristen: es Hälfte aus dem Tourismus auf Bali. waren 87 Australier, zwei Neu- Zwischen 35 und 40 Prozent der seeländer, vier Niederländer, drei ausländischen Touristen, die Indo- Dänen, 23 Briten, ein Italiener, nesien besuchen – und dazu sechs Deutsche, vier Franzosen, kommt eine ständig wachsende ein Portugiese, ein Pole, fünf Zahl von indonesischen Touristen –, Schweden, drei Schweizer, ein reisen gezielt nach Bali. Aller- Grieche, sieben Amerikaner, zwei dings gehört inzwischen ein Brasilianer, ein Ecuadorianer, Großteil der Tourismusbetriebe, zwei Kanadier, zwei Südafrikaner, der Immobilien und des Bodens zwei Japaner, ein Taiwaner und nationalen und internationalen In- zwei Koreaner. Die zweithöchste vestoren. Nach dem Bombenat- Zahl der Opfer waren jedoch mit tentat von 2002 fiel die Zahl der 38 Personen Indonesier. Bei den ankommenden Touristen von fast Attentaten vom 1. Oktober 2005 einer Million (2001) auf 611.000 war das Verhältnis zwischen aus- (2003) Personen (Pacific Asia Tra- ländischen und indonesischen vel Association, Oktober 2005). Opfern noch extremer: 15 Indo- Im Juni 2006 lagen die Besucher- nesier mussten ihr Leben lassen, zahlen 20 Prozent unter denen während vier Australier sowie ein des Juni 2005, wobei Erdbeben Japaner starben. Verletzt wurden und der Tsunami auf Java auch ei- 68 Indonesier, 19 Australier und ne Rolle gespielt haben mögen. vier Japaner. Foto: Brigitta Hauser-Schäublin Mit den Attentaten wurde der Die ausländischen Touristen indonesische Staat sowohl poli- galten als Symbole von wirtschaft- Denkmal für die Opfer des Attentats 2002, en, einen fundamentalen Schlag tisch getroffen, da er sich als un- lichen und politischen Hegemoni- errichtet auf dem gegen »die westlichen Nationen« fähig erwies, die Attentate zu ver- en; der Anschlag richtete sich Gelände von einem zu führen (Fealy 2003:4). hindern, als auch ökonomisch. nicht gegen sie als Einzelperso- der zerstörten Nacht- clubs. Diese nationalen Bedingungen Der Einbruch im Tourismusge- nen, sondern gegen ein pauscha- auf dem Hintergrund internatio- schäft hatte für die nur 5.561 Qua- lisiertes Feindbild vom »Westen« naler Beziehungen reichen als Er- dratkilometer große Insel und ihre – selbst wenn, wie die Liste der klärung für die Geschehnisse in Bevölkerung katastrophale Auswir- Nationen zeigt, diese Ausländer Bali von 2002 und 2005 jedoch kungen: Tausende Arbeitnehmer, keine einheitliche Zuordnung er- nicht aus. Hinzu kommen die inter- die direkt oder indirekt im Touris- lauben. Auch die »flankierenden« und transnationalen Beziehungen mus beschäftigt waren, wurden im Bombenattentate auf das Marriott- zwischen Terrornetzwerken, vor Herbst 2002 von einem Tag auf Hotel in der Hauptstadt Jakarta am allem jene zu Al-Qaeda, ohne die den anderen arbeitslos. Hunderte, 5. August 2003, bei dem zwölf sich die südostasiatischen radikal- wenn nicht sogar tausende von Menschen ums Leben kamen und islamistischen Bewegungen in Klein- und Mittelunternehmen, bei- über 150 verletzt wurden, sowie dieser Form nicht hätten ent- spielsweise Zulieferungsbetriebe auf die Botschaften der USA in Ba- wickeln können. Die Verbindung und Transportunternehmen, muss- li (2002) und Australien in Jakarta zwischen Jemaah Islamiyah und ten Bankrott anmelden. Selbst- (2004) verdeutlichen, dass die An- Al Qaeda – ihre Ideologie, ihre In- verständlich waren davon – wie schläge »dem Westen« galten. terpretation des 11. September als übrigens auch von den Attentaten Warum nahmen die Terroristen islamistisches Fanal und ihre tech- – zahlreiche muslimische Zuwan- so eine hohe Anzahl von einhei- nisch-materielle Logistik – waren derer von anderen Inseln betroffen. mischen Opfern in Kauf? Zweifel- letztlich entscheidend für die Bali- los spielte auch die Tatsache eine Attentate. Die Opfer – eine Bilanz Rolle, dass die Träger der (hindu-) Auf Bali, die dank ihrer farben- balinesischen Kultur nicht islami- Warum Bali? prächtigen, expressiven kulturel- schen Glaubens sind. Es handelte Bali liegt im Schnittpunkt ver- len Manifestationen eine ökono- sich aus der Sicht der Terroristen schiedenster Akteure, die durch misch florierende Insel ist, sollten um Andersgläubige, die zudem Bombenattentate alle gleichzeitig durch die Bombenanschläge von die mit nationalen und internatio- getroffen wurden: Die Insel ist ei- 2002 und 2005 in erster Linie nalen Investoren (die oft in Kor- ne der wichtigsten touristischen westliche Touristen getroffen wer- ruptionsaffären verwickelt wa- Einnahmequellen Indonesiens; den. Tatsächlich waren die Opfer, ren), kooperierten – und dabei von den rund fünf Milliarden US- Männer und Frauen, in der Mehr- noch selbst profitierten.

28 Universität Göttingen IDENTITÄT UND AGGRESSION

Die Rolle von ‚Religion’ wältigen. Sie führten sofort ein nen« und ihrer eigenen »traditio- beziehungsweise ‚Kultur’ großes Reinigungsritual durch, nellen« Institutionen, ob »Fremde«, Die Anschläge von 2002 fanden das alles Schreckliche beseitigen das heißt indonesische Staatsbür- in Nachtclubs statt. Diese galten und das Gleichgewicht der Welt ger aus anderen Distrikten und (und gelten) auch bei vielen Hindu- wieder herstellen sollte: die Har- Provinzen, bleiben können und Balinesen als Einrichtungen, die mit monie von Mikrokosmos und Ma- unter welchen Bedingungen. Dekadenz und dem Verlust morali- krokosmos, die als Voraussetzung scher Richtlinien (unter anderem für Wohlergeben und friedliches Auswirkungen: Prozesse der Prostitution und Drogenhandel) in Zusammenleben gilt. Rückbesinnung und Ethnisierung Verbindung gebracht wurden. Die Eine weitere, nachhaltigere Re- Die lokalen, regionalen und pro- Auslöschung dieser Orte wurde aktion setzte erst nach und nach vinziellen Institutionen, die sich auch mit islamischer Moral und ein und formte sich zu einer kul- über »Kultur« legitimieren, gewin- Religion begründet. Die Drahtzie- turell begründeten, politischen nen immer mehr an Macht – offen- her beriefen sich auf fundamenta- Bewegung, die sich verstärkte, je sichtlich auf Kosten derjenigen des listische geistliche Führer, wie et- deutlicher das Ausmaß des wirt- Nationalstaates. Damit wächst wa Abu Bakar Bashir, einem der schaftlichen Schadens wurde, den auch das Potenzial für horizonta- spirituellen Führer von Jemaah Is- die Attentate angerichtet hatten. le, sprich intra-gesellschaftliche, lamiyah, die zum Heiligen Krieg Ausgangspunkt war eine Rückbe- und vertikale Konflikte, das heißt gegen »den Westen« aufriefen. Nach seiner Haftentlassung im Ju- ni 2006 interpretierte er die Natur- katastrophen, die Indonesien heim- suchten (Erdbeben, Vulkanaus- brüche, Tsunami) als Strafe Gottes für die mangelnde Moral Indone- siens. Er forderte die Einführung einer islamischen Rechtsordnung, wie The Strait Times in Singapore vom 26. Juni 2006 berichtete. Die Attentate richteten sich, wie ich aufgezeigt habe, nicht primär gegen »die balinesische Kultur« an sich oder gegen den balinesischen Hinduismus. Jean Couteau wies darauf hin, dass die Bürger von Kuta, wo der verhee- rende Anschlag von 2002 statt- fand, diesen nicht als gegen sich oder ihre Religion gerichtet inter- Beileidsbekundungen pretierten (2003:43). Der erste sinnung der Hindu-Balinesen auf solche zwischen lokalen/regiona- kanadischer Angehöri- Hilfstrupp, der nach dem An- ihre eigene »traditionelle« Kultur. len Gruppen und dem National- ger von Opfern nach den Attentaten schlag von 2002 auf dem Schau- Sie drückte sich in einem Ruf nach staat und seinen Institutionen. in Kuta platz des Schreckens eintraf, war »ajeg Bali« aus, dem Schulter- (Sukma 2005:3). Hier setzt mein eine islamische Hilfsgruppe, die schluss der (Hindu-) Balinesen. DFG-Forschungsprojekt mit dem Foto: Brigitta Hauser-Schäublin von einem seit langem in Bali an- Sich an »traditionellen« kulturellen Titel »Tempel und Rituale als Wir- wesenden Moslem geleitet wurde. Werten orientierend, machen die kungsfeld politischer Akteure in Es begann in Kuta danach kein Akteure dieser Bewegung von der Bali« an, in welchem ich diese ‚Glaubenskrieg’ oder gar ein nach dem Fall Suhartos eingeführ- Prozesse erforsche: Auf der Mikro- »Krieg zwischen den Kulturen«. ten Dezentralisierung immer stär- ebene untersuche ich die Vorstel- Aber: Die Attentate, die auch das ker Gebrauch, indem sie kultur- lungen, Entscheidungen und touristische Image der Insel und spezifische Werte und Institutionen Handlungen von politischen und das damit verbundene Selbstver- als Eckpfeiler für den politischen religiösen Akteuren unter den ver- ständnis der Balinesen im Kern und wirtschaftlichen Umgang etwa änderten Bedingungen, sowie die trafen, wirkten auf die (Hindu-) mit (Arbeits-)Migranten (vor allem Interaktionen zwischen Eingeses- Balinesen zurück. Und sie ver- aus Java) formulieren – mit weit senen und Zugewanderten. Vor suchten, das Unheil mit ihren ei- reichenden Folgen. So liegt es heu- allem interessieren mich die kul- genen kulturellen Mitteln zu be- te in den Händen der »Eingesesse- turellen Reformprozesse und die

Georgia Augusta 5 | 2007 29 KULTUREN UND KONFLIKTE

Tatsache, dass politische Akteure Heute jedoch sind, wie ich zu Die Gründe und Ziele von Kon- immer mehr auch religiöse zeigen versucht habe, die Rahmen- flikten können, wie das Beispiel Arenen für ihre Anliegen nutzen. bedingungen anders. Es sind nicht Bali gezeigt hat, vielschichtig und Die Rückbesinnung auf »Tradi- nur die weltweiten Verflechtun- weltweit verwoben sein. Die Aus- tion« und Religion einer sozialen gen unterschiedlichster Art; auch tragung oder Manifestation von Gruppe, die sich auf eine gemein- der Nationalstaat ist ein neues, Konflikten findet jedoch an einem same Kultur beruft, zieht jedoch durch die Kolonialmächte weltweit konkreten Ort statt, dem zwar im- unter den Bedingungen des Natio- verbreitetes politisches Organisa- mer ein symbolischer Gehalt bei- nalstaates – und das zeigen meine tionsprinzip, das bezüglich der gemessen wird, aber oft auch von Untersuchungen deutlich – eine soziokulturellen Gruppen, die es Zufälligkeiten abhängen kann. Ethnisierung nach sind. Eine sol- unter einem gemeinsamen Schirm Nicht zufällig sind die Prozesse, che ist in Bali ein relativ neues vereinigt, oszilliert zwischen Viel- die dadurch lokal und regional in Phänomen: Hindus und Moslem heit/Vielfalt und Einheit/Gemein- Gang gesetzt werden und die zu lebten jahrhundertelang friedlich samkeit und damit den Keim so- neuen Konflikten führen können, nebeneinander. Die niederländi- wohl zur Abgrenzung als auch zur deren Entwicklung und Dimensio- schen Kolonialbeamten hatten im Homogenisierung in sich birgt. nen unabsehbar sind. 19. Jahrhundert erstaunt notiert, dass die Menschen offensichtlich problemlos miteinander zusam- This article deals with the that set in locally, on the island of men lebten. Verwundert stellten complex background and the Bali, after the Bali Bombings. These sie fest, dass religiöse Vorstellun- consequences of the Bali Bombing processes in which Hindu-Balinese gen und Praktiken nicht als Mittel carried out by Islamist terrorists in religion and tradition became more zur Abgrenzung von anderen so- 2002 and 2005. The interrogation and more important also in matters zialen Gruppen dienten. Vielmehr of the convicts showed that they of politics have been supported or zählten religiöse Unterschiede als understood their attacks on the re- even reinforced by the Indonesian Varianten des Glaubens und der staurants in tourist resorts mostly move to decentralization after the Gottesverehrung. visited by foreign tourists as a fight fall of Suharto. This new policy al- against the West. Nevertheless it lows provinces to autonomically

Literatur: would be too easy to explain the shape their political, social and Barton, Greg 2005: Jemaah Islamiyah. attacks in terms of conflicts bet- economic life to an extent never Radical Islamism in Indonesia. Singapore: ween cultures, or between the »Is- before experienced since the com- Ridge Books. lam« and »the West«. There are ing into being of the Indonesian Conboy, Ken 2006: The second front. Inside many national, international and nation. This has led to a drawing of Asia’s most dangerour terrorist network. Ja- karta/Singapore: Equinox. transnational reasons that led to the boundaries between villages and Couteau, Jean 2003: After the Kuta bom- upsurge of violent Islamistic move- districts within a province but bing. In search of the Balinese Soul. Antro- ments in Indonesia and Southeast even more between what is con- pologi Indonesia 70:41-59. Asia on the whole. My research sidered the autochthonous Fealy, Greg 2003: Hating Americans: Jemaah Islamiyah and the Bali bombings. project deals with the processes population and immigrants. In: IIAS Newsletter 31:3-4. Gunaratna, Rohan 2002: Inside el-Qaeda: Global Network of Terror: New York: Co- lumbia University Press. Kivimäki, Timo 2003: Terrorism in Indo- Prof. Dr. Brigitta Hauser-Schäublin studierte Ethnolo- nesia. In: NIASnytt3:15-18. gie, Soziologie und Volkskunde an den Universitäten Palguna, IBM Dharma 2006: Prolog: Bali, Basel (Schweiz) und München. Mit einer Forschungs- turis, dan teroris. In: Palguna, IBM Dharma arbeit über die Frauen bei den Iatmul auf Papua-Neu- (ed.): Bomb teroris dan ‘bomb sosial’. Per- guinea wurde sie 1975 promoviert. Sie habilitierte sich spektif korban dan relawan, pp. 1-22. Den- pasar: Yayasan Kanaivasu. 1985 in Basel mit dem Thema Kulthäuser in Nord-Neu- Schlee, Günther 2004: Taking sides and guinea. 1992 wurde die Wissenschaftlerin an das Institut für Ethno- constructing identities: reflections on con- logie der Georg-August-Universität Göttingen berufen. Als Gastpro- flict theory.The journal of the Royal Anthro- fessorin lehrte und forschte sie an der Columbia University, New pological Institute, vol. 10,1:135-156. York (1993), der New School for Social Research in New York Sukma, Rizal 2005: Ethnic conflicts in Indo- (1994), am Dartmouth College, Hanover, New Hampshire (1996) nesia: causes and the quest for solution. In: Snitwongse, K. and W.S. Thomspon (ed.): sowie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris Ethnic conflicts in Southeast Asia, pp. 1-4. (2006). Feldforschungen führten die Ethnologin mehrfach nach Singapore: Institute of Southeast Asian Stu- Papua-Neuguinea und Indonesien. Ihre Arbeitschwerpunkte liegen dies. in der Gender Forschung, der Ethnologie des Raumes und seiner po- Thorning, Ruben 2003: Terrorism and coun- litischen Organisation sowie der Ethnologie des Körpers. ter-terrorism in Southeast Asia: Which is the greater threat? NIASnytt, 3:10-18.

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Bürgerkrieg zwischen der sudanesischen Regierung und den Rebel- lenbewegungen »Sudan Liberation Movement Army« (SLA) und »Justice and Equality Movement« (JEM) – eine weinende Frau in einem Flüchtlingslager am Grenzübergang zum Tschad.

© ullstein - Still Pictures Die Miliz der »Djandjawid« ver- setzt die Bewohner der westsuda- nesischen Provinz Darfur in Angst und Schrecken. Die arabischstäm- migen »Geisterreiter« werden im wesentlichen für die Gewaltaktio- nen, Überfälle auf Dörfer und Gehöfte, Tötung von Menschen, Vergewaltigungen, Plünderungen und Vertreibungen verantwortlich gemacht, sind aber nur ein Akteur in den kriegerischen Auseinander- setzungen. Der Göttinger Ethno- loge und Afrikaexperte Prof. Dr. Ulrich Braukämper erläutert die Hintergründe dieses ethnisch ge- prägten Konflikts, der vor rund 20 Jahren begann und sich zu einem verheerenden Völkermord und Flüchtlingsdrama ausgeweitet hat.

Im Zeichen von Genozid und ethnischer Säuberung Araber gegen Afrikaner? – Hintergründe des Bürgerkrieges in Darfur

Ulrich Braukämper KULTUREN UND KONFLIKTE

Der Bürgerkrieg in der westsuda- stießen bislang auf vehemente Ab- und ab den 1990er Jahren wurden nesischen Provinz Darfur ist einer lehnung der sudanesischen Regie- von der sudanesischen Regierung der verlustreichsten und folgen- rung. Schätzungen gehen davon kaum noch Forschungsgenehmi- schwersten Konflikte des begin- aus, dass der Bürgerkrieg seit 2003 gungen an Ausländer erteilt. Ana- nenden 21. Jahrhunderts. Die zwischen 200.000 und 400.000 lysen über die Genese und den Weltöffentlichkeit erfährt zwar Menschenleben gefordert, gewal- Verlauf der Kriegshandlungen in nur vergleichsweise wenig über tige Sachgüter und Ernten zerstört der Darfur-Region können sich so- die militärischen Auseinanderset- sowie über zwei Millionen Ein- mit nur in geringem Umfang auf zungen und die menschlichen wohner von ihren Wohnsitzen authentische Augenzeugenbe- Tragödien in dieser schwer zu- vertrieben hat, von denen rund richte stützen. Mein zentrales For- gänglichen Wüsten- und Savan- ein Zehntel grenzüberschreitend schungsinteresse lag – mit einem nenregion. Doch sind nicht nur im Nachbarland Tschad Zuflucht Schwerpunkt der empirischen Ar- der Sudan und die Nachbarstaaten suchten. Genozid und »ethnische beiten bei den arabischsprachigen Libyen, Tschad und die Zentral- Säuberungen« finden in einem Rindernomaden Süd-Darfurs – auf afrikanische Republik davon be- Ausmaß statt, wie derzeit wohl in der Verknüpfung von räumlicher troffen, sondern immer dring- keinem anderen Gebiet der Welt. Mobilität und ethnischen Wand- licher wird auch von der UNO, Trotz dringlicher Appelle interna- lungsprozessen. Es zeichnete sich der Afrikanischen Union (AU), tionaler Helfer vor Ort konnte die deutlich ab, dass das zuvor über- den Europäern und Amerikanern Versorgung der Flüchtlinge in den wiegend friedliche Zusammenle- die Notwendigkeit eines Eingrei- sudanesischen und tschadischen ben der verschiedenen Volksgrup- fens artikuliert. Die bislang zur Lagern aufgrund des schwierigen pen einer zunehmend spannungs- Schlichtung des Konfliktes ent- Zugangs – vor allem während der geladenen Atmosphäre wich. sandten 7.000 Soldaten der AU Regenzeit – und der zu geringen Darfur mit einer Fläche von verfügen weder über das militäri- Lieferkapazitäten der UNO und 496.000 Quadratkilometern fast sche Potenzial noch über das »ro- privater Organisationen nur unzu- so groß wie Frankreich wird von buste Mandat«, die Gewalttätig- reichend gesichert werden. etwa sechs Millionen Menschen keiten in Darfur zu beenden. Pla- Was seit März 2003 weltweit in bewohnt, die über 30 ethnischen Vertriebene Frau mit ihrem Kind im Flücht- nungen, sie durch ein Kontingent die Berichterstattung der Medien Einheiten (arabisch qabail = lingslager Abu Shouk im von UNO-Truppen zu verstärken, einzugehen begann, war die Eska- »Stämme«) angehören. Die Majo- Norden Darfurs lation eines Konfliktes, der sich rität bilden Gruppen, die der alt- schon seit zwei Jahrzehnten ab- ansässigen nilo-saharanischen zeichnete. Für den Sudan setzte Sprachfamilie angehören, wie damit eine neue schwerwiegende zum Beispiel die namengebende Krise zu einem Zeitpunkt ein, als Gruppe der Fur (arabisch Dar Fur der seit 1983 andauernde Bürger- = Land der Fur; oder For), die fast krieg Nord gegen Süd durch einen ein Drittel der Gesamtbevölke- Friedensschluss am 9. Januar 2005 rung ausmachen. Die Einwande- beendet wurde. Während die rung arabischer Gruppen aus dem Konfliktursachen und Frontlinien Osten und Norden setzte im 14. in dieser Auseinandersetzung ver- Jahrhundert ein, und Sudan-Ara- gleichsweise einsichtig erschie- bisch wurde die Verkehrssprache nen – der arabisch-islamisch ge- der gesamten Region. Einige der prägte Norden des Landes gegen autochthonen Gruppen, wie die den schwarzafrikanischen und Berti und Birgid, gaben ihre ur- teilweise christianisierten Süden –, sprüngliche Sprache völlig zugun- sind sie für den Darfur-Konflikt sten des Arabischen auf, ohne sehr viel schwieriger begreifbar. dass damit allerdings ein Wandel Gegenwärtige Ereignisse konnte des ethnischen Identitätsbewusst- ich nicht dokumentieren, doch seins einherging. Bis in das begin- führte ich in mehreren Feldaufent- nende 20. Jahrhundert waren die halten zwischen 1981 und 1987 Fur und die Massalit Träger hierar- ethnologische Untersuchungen in chisch organisierter mächtiger Darfur durch. Die Sicherheitslage Staatswesen, während die Araber war schon damals wegen einer zumeist in egalitären Stammesver- Dürrekatastrophe 1984/85 und bänden als Wanderhirten lebten. dadurch verstärkter interethni- Gewaltsam ausgetragene Kon- © ullstein - AP scher Konflikte überaus prekär, flikte zwischen ethnischen Grup-

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pen, bedingt vor allem durch ge- der Ethnien Darfurs erfuhr eine Schwert ausgefochten worden genseitigen Viehdiebstahl, durch erste schwere Belastungsprobe waren und vergleichsweise gerin- Flurschäden nomadischer Herden durch die Dürrekatastrophe in den ge Verluste an Menschenleben in den Feldern der sesshaften Bau- Jahren von 1972 bis 1974. Vor- forderten, nahm seit den 1980er ern, durch Dispute über Landbe- dem hatten die Bewohner der Jahren die Bewaffnung mit moder- sitz und Wasserrechte, gehörten dünn besiedelten Savannen im nen Schnellfeuergewehren (Ka- im 20. Jahrhundert zum Lebens- Süden der Provinz, die halbnoma- lashnikov und G 3) dramatisch zu. alltag der Bewohner von Darfur. dischen Baggara-Araber, den Zu- Aufgrund des großen Angebotes Sie vollzogen sich jedoch stets in zug bäuerlicher Siedler aus den der von Schmugglern aus Libyen einem lokal begrenzten Rahmen von Trockenheit heimgesuchten und den Bürgerkriegszonen des und wurden durchweg von den Sahel-Gebieten ohne größeren Tschad angebotenen Waffen politischen Führern der beteilig- Widerstand hingenommen. 1984 konnten vor allem Viehhalter für ten Gruppen ohne die Einbezie- ließ jedoch eine erneute Dürre bei den Gegenwert von etwa zwei hung des staatlichen Gewaltmo- den Menschen der niederschlags- Rindern in den Besitz von Sturm- nopols beigelegt. Allianzen waren reicheren Savannen die Befürch- gewehren gelangen. Zudem gab dabei stets wandelbar und for- tung entstehen, dass ein weiteres der sudanesische Staat sein Ge- Bewaffnete Mitglieder mierten sich in Konfliktfällen oft Teilen der offenkundig schwin- waltmonopol teilweise dadurch der Sudan Liberation Ar- spontan. Außerdem bestand zu my (SLA) in Nord-Darfur Beginn der 1980er Jahre bei den Bewohnern Darfurs noch eine ausgedehnte Grundlage gemein- samer sozio-ökonomischer und wirtschaftlicher Interessen. Sie fühlten sich solidarisch gegenüber einer Staatsregierung, die nach ih- rer Überzeugung die zentrale Re- gion des Niltales massiv bevor- zugte und den Westen – wie auch andere »periphere« Teile des Lan- des – vernachlässigte. Was die re- ligiöse Orientierung anging, so waren sie sunnitische Muslime mit zahlreichen Anhängern der islamischen Tidjaniyya-Bruder- schaft. Mit großer Mehrheit unter- stützten sie die Hizb al-Umma, die aus der sudanesischen Mahdisten- Bewegung des späten 19. Jahr- hunderts hervorgegangene politi- © ullstein bild - Reuters sche Partei, die von 1985 bis zum Militärputsch von 1989 mit demo- denden Ressourcen ihre eigene auf, dass er »Stammesmilizen« kratischer Legitimierung regierte. Existenz bedrohen würde. Als un- (Murahilin), vor allem Baggara- Alle diese Tatbestände wirkten als mittelbare Folge brach ein teils of- Araber in Süd-Darfur und der öst- verbindende Elemente ganz offen- fen geführter teils latenter Klein- lich benachbarten Provinz Kordo- kundig im Sinne einer die ethni- krieg im Gebiet meiner damaligen fan, mit modernen Waffen ver- schen Grenzen überschreitenden Feldforschung aus, zum Beispiel sorgte, um sie als militärischen kulturell-politischen Eigenheit der zwischen den Ethnien der Fellata Puffer gegen die Rebellen der »Su- Darfurer gegenüber der Zentralre- und Qimr, in dem bis 1985 über dan People’s Liberation Army« gierung und dem Rest des sudane- 200 Menschen getötet wurden. In (SPLA) im Süden des Landes ein- sischen Staates. Das Ausmaß der der Zeit meines letzten Darfur- zusetzen. In solchen »gewaltoffe- sich gegenwärtig vollziehenden Aufenthaltes 1987 war die Sicher- nen Räumen« konnten lokale Gewalttätigkeiten erscheint des- heitslage bereits so prekär gewor- »Warlords« weitgehend das Ge- halb unerwartet und umso schwe- den, dass LKWs zahlreiche der die schehen bestimmen. Im April rer erklärbar. Marktorte verbindenden Pisten 1987 verübten die Milizen ein Das überwiegend friedliche, nicht mehr befuhren. Massaker an 1.000 Angehörigen oft sogar durch freundschaftliche Während die bisherigen Kon- des Dinka-Volkes, die vor den Allianzen geprägte Miteinander flikte zumeist nur mit Lanze und Kriegswirren nach Ad-Dai’en in

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Süd-Darfur geflohen waren. Mit gonismus zwischen autochtho- – Der sudanesische Bürgerkrieg Billigung der Regierung haben die nen Afrikanern nilo-saharani- Nord gegen Süd und die damit Murahilin seitdem Plünderungs- scher Sprachzugehörigkeit und verbundene Schaffung ara- züge gegen die schwarzafrikani- später eingewanderten Arabern bisch-stämmiger Milizen füh- schen Ethnien des Süd-Sudan und ist auch nicht in »Erbfeindschaf- ren zu einer Akzentuierung des der Nuba-Berge von Kordofan ten« oder klaren sozio-kulturellen arabischen Selbstverständnis- ausgeführt, die mit einer massen- Abgrenzungen erkennbar. Selbst ses, das von der Regierung ge- haften Verschleppung von Men- die physischen Unterschiede er- fördert wird. schen an die Sklaven-Razzien des scheinen infolge erheblicher Mi- – Gleichfalls appelliert wird an 19. Jahrhunderts erinnerten. Der schungen vor allem der Baggara das latent vorhandene Bewusst- Friedensschluss von 2005 been- Süd-Darfurs mit afrikanischen Sa- sein einer dergestalt in der Ge- dete zwar solche Gewaltaktionen, vannen-Bauern gering. Wenn schichte angelegten Benachtei- doch fanden die Murahilin ihre sich dennoch immer deutlicher ligung, dass afrikanische Eth- Fortsetzung in den berüchtigten eine Frontstellung Araber gegen nien, vor allem die Fur, stets das Djandjawid des Darfur-Krieges. Afrikaner abzeichnet, so handelt politisch, ökonomisch und kul- Auch in den zentralen und es sich hier offenbar um ein jun- turell tonangebende Element nördlichen Teilen von Darfur be- ges Konstrukt, das politischen In- der Region waren. gannen die Kampfhandlungen zu teressen erwuchs, um komplexe eskalieren, die Khartoum jedoch Gegensätze in einer möglichst Die afrikanisch-stämmigen Be- als wenig bedeutsame »tribal klaren Trennlinie sichtbar zu ma- wohner Darfurs betrachten ihrer- clashes« auszugeben bemüht war, chen. Da die sudanesische Zen- seits mit zunehmendem Argwohn, obwohl 1989 schätzungsweise tralregierung schon im Krieg dass der Süd-Sudan zwar eine 5.000 Fur und 400 Araber getötet Nord gegen Süd durch den Ein- größere Autonomie erhalten soll, wurden. 1998/99 lösten Konflikte satz der Murahilin erfolgreich auf ihnen selbst im Westen jedoch ei- zwischen Massalit und Rizayqat- die »arabische Karte« gesetzt hat- ne zunehmende Marginalisierung Arabern interne Fluchtbewegun- te, bot sich ein dezidiertes Feind- droht. An den Schalthebeln der gen von über 100.000 Menschen bild »(Schwarz)-Afrikaner« an der zentralstaatlichen Macht haben aus, von denen viele die Grenze neuen Bürgerkriegsfront in Darfur sie immer weniger Anteil. Ihre nach Tschad überquerten. Auch an. Wie ich selbst beobachten Einschätzung, dass in den inter- andere Ethnien, wie die Zaghawa, konnte, begannen die sich als ethnischen Auseinandersetzun- Tama und Midob, wurden Opfer Araber klassifizierenden Bewoh- gen seit den 1980er Jahren die Re- von Vertreibungen, Plünderungen, ner Süd-Darfurs – einschließlich gierung in Khartoum zumeist den Vergewaltigungen und Tötungen. der aus Westafrika eingewander- arabischen Widerpart favorisiert 2002 begann sich der Aufruhr die- ten Fellata (Fulbe) - in den 1980er hatte, war wohl nicht unbegrün- ser von Militär, Polizei und arabi- Jahren ihre afrikanisch-stämmi- det. Neuerdings rufen auch die in schen Stammeskriegern beson- gen Nachbarn zunehmend mit den letzten zehn Jahren entdeck- ders drangsalierten Gruppen dem als pejorativ verstandenen ten Förderstätten von Erdöl in Dar- großflächig auszubreiten. Die sich Sammelbegriff Zurqa oder Zuruq fur bei den Kontrahenten des Kon- vordem nur diffus abzeichnende zu bezeichnen. Im klassischen fliktes eine gesteigerte Rivalität Frontstellung »Araber gegen Afri- Arabisch steht zurqa (Sg. azraq) um die künftige Nutznießung und kaner« mündete dann ein Jahr für ein bläulich schimmerndes gerechte Verteilung dieser Res- später in den bislang verheerend- Schwarz, das mit moralischer source hervor. sten Bürgerkrieg Afrikas im 21. Verderbtheit, Mißgunst und Nie- Die stetige Zunahme von Miss- Jahrhundert ein. dertracht assoziiert wird. Für die trauen, Hass und gewaltsamen Anders als für den langjährigen Entstehung dieser negativen Übergriffen auf beiden Seiten Krieg zwischen Nord- und Süd- Sichtweise seitens der Araber in mündete schließlich 2003 in der Sudan sind religiöse Gegensätze den interethnischen Beziehungen Gründung von zwei gegen die Re- als ein bedeutsamer Hintergrund lassen sich die folgenden Tatbe- gierung gerichteten Widerstands- für den Darfur-Konflikt auszu- stände anführen: bewegungen der afrikanischen schließen. Die Bewohner der Pro- Darfurer. Die Sudan Liberation vinz sind Muslime und durch die – Dürrekatastrophen rufen einen Army (SLA) rekrutierte sich vor staatliche Geschichte der letzten wachsenden Konkurrenzkampf allem aus der Mehrheitsethnie 130 Jahre eng mit dem arabischen um die agrarischen Ressourcen der Fur, und die als Ableger der Nord-Sudan verbunden. Ein Anta- hervor. gesamtsudanesischen, fundamen-

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talistisch orientierten National bereits auf Gerüchte eines An- am 5. Mai 2006 kurzfristig die Islamic Front (NIF) hervorgegan- rückens von Djandjawid in den Hoffnung auf einen Friedens- gene Justice and Equality Move- Umkreis der größeren Städte, wie schluss geweckt. Während der ment (JEM) stellte sich als eine Nyala und El-Fashir, ins Innere der größte Teil der SLA einer Einigung mehr multiethnische Plattform des von SLA und JEM kontrollierten mit der Regierung zustimmte, be- Widerstandes dar. Gegen diese Gebiete oder in den Tschad flieht. harrten eine kleinere Fraktion so- beiden Rebellenorganisationen Das Risiko grenzüberschreitender wie die zweite Befreiungsorgani- setzte die sudanesische Regierung Razzien nehmen die »aus dem sation JEM jedoch auf einer Fort- nicht nur die reguläre Armee und Nichts auftauchenden« und pani- setzung des militärischen Wider- die Luftwaffe ein, sondern sie mobi- schen Schrecken verbreitenden standes. Khartoum weigert sich, lisierte aus arabischen Gruppen die Geisterreiter jedoch bewusst in der Resolution 1706 zuzustim- Miliz der Djandjawid oder »Geis- Kauf. Jagd- und Beutezüge sind im men und die im Süd-Sudan bereits terreiter« (der Name ist abgeleitet Ethos der Baggara-Araber traditio- bestehende UN-Mission (UNMIS) von jinn = Geist und jawad = nell stark verwurzelt, und es wird auf Darfur auszudehnen mit dem Pferd). Die UNO-Resolution 1593 der staatlichen Autorität deshalb Ziel, die dort stationierten Trup- hatte die Entwaffnung der im schwer fallen – nachdem sie die pen der Afrikanischen Union Nord-Süd-Bürgerkrieg eingesetz- waffentechnische Aufrüstung der durch ein Kontingent von rund ten Murahilin gefordert, was je- Stammesmilizen in einer kurz- 10.000 Blauhelmsoldaten und Po- doch nur partiell geschah, so dass sichtigen Politik selbst forcierte –, lizisten aufzustocken. Wenn sol- Teile der Kämpfer ohne Verzug für die sich jeglicher staatlichen Ord- che Bemühungen erneut fehl- den neuen Waffengang eingesetzt nungsmacht widersetzenden Rei- schlagen, werden Morde, Zer- werden konnten. Die Djandjawid terkrieger zu entwaffnen. Darin störung, Vertreibung, Hunger und rekrutierten sich hauptsächlich liegt jedoch eine der zentralen Flüchtlingselend sich in der Regi- aus den arabischen Ethnien der und absolut vordringlichen Forde- on wohl auf unabsehbare Zeit Bani Balba, Bani Husayn, Maha- rungen sowohl der Darfur-Oppo- fortsetzen. mid und Eregat, während die süd- sition als auch der internationalen Flüchtlingsjunge aus lichen Rizayqat und andere Halb- Gemeinschaft an die sudanesi- Darfur. Seit 2003 starben nomaden aufgrund interner Riva- sche Regierung. bei den bewaffneten Auseinandersetzungen litäten den Milizen weitgehend Trotz internationaler Bemü- rund 300.000 Men- fern blieben. hungen um eine Beendigung ge- schen, Millionen wurden Obwohl exakte Augenzeugen- hen die Kampfhandlungen mit vertrieben. berichte und Daten nur in gerin- Angriffen der Regierungsarmee gem Umfang verfügbar sind, ist da- und der Djandjawid-Milizen und von auszugehen, dass ein Groß- Gegenattacken der Aufständi- teil der Gewaltaktionen, Überfälle schen unvermindert weiter. In der auf Dörfer und Gehöfte, Tötung nigerianischen Hauptstadt Abuja von Menschen, Vergewaltigun- geführte Verhandlungen hatten © ullstein - Lineair gen, Plünderungen und Vertrei- bungen auf das Konto der irregu- lären »Geisterreiter« geht. Sie sind mit modernen Schnellfeuerge- Prof. Dr. Ulrich Braukämper, Jahrgang 1944, studierte wehren ausgerüstet, auf eigenen Ethnologie an der Universität Köln und wurde 1969 Kamelen oder Pferden beritten mit einer Arbeit über den Einfluss des Islam in Nord- oder auch mit geländegängigen Kamerun promoviert. Anschließend arbeitete er bis Fahrzeugen ausgestattet. Da sie 1995 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frobenius- Institut für Afrika-Forschung in Frankfurt am Main. nicht den Disziplinregeln unter- 1990 habilitierte sich der Afrikaexperte an der Ludwig-Maximilians- worfen sind, welche die reguläre Universität München und folgte 1995 einem Ruf an das Institut für Armee – zumindest im Prinzip – Ethnologie der Georg-August-Universität Göttingen. Über Jahre be- beachtet, sind ihre Angriffe oft von reiste der Wissenschaftler den afrikanischen Kontinent und führte besonderer Brutalität. Töten, Zer- Feldforschungen vor allem in Äthiopien, Somalia, Sudan, Kamerun stören und Beutemachen vollzie- und Nigeria durch. Seine thematischen Forschungs- und Interes- hen sich offenbar mit einer sol- sensschwerpunkte sind Migration, Nomadismus, sozio-religiöse chen Zügellosigkeit, dass die Be- Systeme und Kulturökologie. völkerung angegriffener Gebiete

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Although the extremely vio- colonial sultanate of Darfur and ethnic sources. The Sudanese ar- lent stage of the present Dar- their political orientation was pre- my retaliated with regular forces fur conflict does not predate the dominantly associated with the which were supported by Arab- year 2003, serious clashes be- Hizb al-Umma, the party of Suda- recruited militias, the Djandjawid. tween different groups of the re- nese Mahdism. Also the notion of The UN resolution 1593 which gion could be observed already physical differences has never had demanded the disarmament two decades before, i.e. in the played an important role. Apart of the Murahilin had proved to be 1980s, when the author conduc- from »ordinary« conflicts over de- inefficient. They partly continued ted his field research. Darfur, the structions caused by nomadic their military actions under the westernmost province of the Su- herds in the fields of peasants and new label Djandjawid or were re- dan bordering Libya, Chad and theft of livestock, people had placed by irregulars of various the Central African Republic, is in- peacefully lived side by side. The Arab groups, mainly Bani Halba, habited by ca. 6 million people. disastrous drought of 1984, how- Bani Hussein, Mahamid and Ere- Politically and economically it ever, which resulted in a south- gat. Equipped with modern rifles has been marginalized by the ward exodus of many people from they attack settlements of African government in Khartoum. There- the famine-stricken sahel regions groups who are collectively clas- fore, a growing mood of bitterness to more hospitable savannah sified as allies of the rebels. and resistance arose among the areas mostly occupied by semi- The war in Darfur has mean- autochthonous population of the nomadic Baggara Arabs, pro- while become the most disastrous area, the Nilo-Saharan-speaking voked a new sense of ethnic rival- conflict at the beginning of the Fur, Massalit, etc. The exploration ry over the dwindling economic new millennium. Estimations of oil fields at the beginning of the resources. Obviously, by this time amount to 200,000 to 400,000 new millennium has increased the the groups defining themselves as people killed and ca. 2 million ex- mistrust of the Darfurians to be Arabs started using the term Zurga pelled from their homes. excluded from the benefits of the for people of »African« pro- 7,000 soldiers of the African valuable resources. In principle, venance. It refers to a dark or shi- Union (AU) have so far been un- the allegation of being margina- ning blue which is associated in able to stop the violence, and a lized »westerners« in the Sudan the Islamic tradition with moral more far-reaching international also referred to the Arab part of the inferiority and crookedness. Thus, intervention is firmly rejected by population, which had become a decidedly negative connotation the Sudanese government. Nego- established in Darfur from the was introduced in the process of tiations on the solution of the con- 14th century onwards. The Suda- creating a new concept of an flict which are presently going on in nese government, however, suc- enemy and the antagonistic gap the Nigerian capital Abuja have not cessfully employed a policy of Arab-Zurga henceforth entered yet raised the realistic hope of a deci- »divide and rule« by artificially the political discourse generating sive breakthrough with regard provoking antagonism between its fatal consequences. to a solid peace agreement. autochthonous Africans and Arabs. From the late 1980s onwards During the civil war between the violent clashes between Arabs northern and the southern Sudan, and »African« groups such as Fur, Literatur: Massalit, Zaghawa, Tama, Qimr, Abdel Ghaffar M. Ahmed and Leif Manger Arabic »tribal militias« (Murahi- (Hrsg.) · 2006 Understanding the Crisis in lin) were armed and mobilized by etc., dramatically escalated and Darfur. · Listening to Sudanese Voices. Uni- the government as a buffer against resulted in several thousands of versity of Bergen: Centre for Development Studies. the rebels of the »Sudan People’s victims and more than 100,000 Braukämper, Ulrich Liberation Front« (SPLA). They be- displaced persons and refugees 1992 Migration und ethnischer Wandel. Un- came a model for the Djandjawid crossing the border to Chad. It is tersuchungen aus der östlichen Sudanzone. (»ghost riders«), the irregulars and bewildering to observe that just at Stuttgart: Steiner. notorious raiders of the civilian the time when the way to a peace- 1996 »Ethnische Konflikte in Grenzgebieten zwischen Nord- und Süd-Sudan«. In: Pörtge, population in Darfur after 2003. ful solution of the civil war in the Karl-Heinz (Hrsg.), Forschungen im Sudan. In former times, the border southern Sudan was paved, two Erfurter Geographische Studien Bd. 5, S. 187- lines separating the two blocks of military organizations were foun- 201. adversaries, the Africans and the ded in Darfur which started 2000 »Management over Conflicts and Fields among the Baggara Arabs of the Sudan Belt«. Arabs, have always proved to be attacking the government posi- In: Nomadic Peoples NS 4 (1), S. 37-49. negligible in Darfur. They are all tions on a large scale in 2003: the Flint, Julie and Alex de Waal Sunnite Muslims sharing similar Sudan Liberation Army (SLA) 2005 Darfur. A Short History of a Long War. traditions of law schools and mainly recruited by Fur and the London, New York: Zed Books. Prunier, Gérard brotherhoods; historically they Justice and Equality Movement 2005 Darfur. The Ambiguous Genocide. Lon- were mostly rooted in the pre- (JEM) as a platform of multiple don : Hurst & Company.

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Kulturen im Konflikt – wo, wenn nicht in Indien, dem Kontinent mit einer Bevölkerung von weit mehr als einer Milliarde Menschen, un- terschiedlichen Religionen und einer gravierenden sozialen Ungleichheit, fragt der Indologe und Reli- gionswissenschaftler Prof. Dr. Thomas Oberlies. Er führt die Leser ein in die von religiösen Motiven überformte Ge- schichte des Subkontinents nach seiner Entlassung aus der englischen Kolonialherrschaft im Jahr 1947. Vor allem am Bei- spiel der von einem aggressiv vorgetragenen hinduistischen Nationalismus geprägten Bharatiya Janata Party (BJB) zeigt er, wie religiöse Konstruktionen zur politischen Machterhaltung instrumentalisiert werden und im In- und Ausland ihre Wir- kung nicht verfehlen.

Die Spirale der Gewalt

Der Gott Vishnu und seine Gattin Lashmi, Der Fall des Indischen Subkontinents die Göttin des Glücks, reiten auf dem Vogel Garuda Thomas Oberlies © ullstein - Archiv Gerstenberg IDENTITÄT UND AGGRESSION

Kulturen im Konflikt – wo, wenn und dadurch die oftmals entstel- Staat auf. Wo immer sich diese nicht in Indien? Weit über eine lenden Berichte und Schilderun- Ströme kreuzen, kommt es zu Milliarde Menschen, die sich in gen auch der Geschehnisse in In- Ausbrüchen schlimmster Gewalt. unterschiedlicher Zahl und geo- dien ins rechte Licht zu rücken. Gleiches geschieht im Osten des graphischer Verteilung zu Hindu- Fächer wie Arabistik, Iranistik, Landes, wo Ostpakistan, das nach- ismus, Jainismus, Sikhismus, Islam, Ethnologie, Kulturanthropologie malige Bangladesh, geschaffen Christen- und Parsentum bekennen und Indologie können die konkre- worden war. Die genaue Zahl der und in teils klaustrophobischer te historische Analyse von Kon- Opfer ist unbekannt. Schätzungen Enge aufeinanderleben. Sieht man flikten leisten, die Religions- gehen von bis zu einer Million Er- einmal vom Parsentum, einem wissenschaft sich der Frage ihrer mordeter aus. Und selbst Gandhi Ableger der Religion Zarathustras Konstruktion und Legitimierung wird ein Opfer der Gewalt. Weil vor allem in der Gegend um Bom- widmen, literaturwissenschaft- sein Verhalten vielen als muslim- bay – jedem Indienreisenden durch liche Fächer die besondere Rheto- freundlich gilt, wird er, noch ehe die »Türme des Schweigens« be- rik und Semantik analysieren. Am Indien das erste Jahr seiner Unab- kannt –, und dem Jainismus, einer interdisziplinären Göttinger »Zen- hängigkeit feiern konnte, von ei- besonders in Gujarat und Südin- trum für Theorie und Methodik dien verbreiteten, extreme Formen der Kulturwissenschaften« erfor- der Gewaltlosigkeit praktizieren- schen Wissenschaftlerinnen und den Religion, ab, sind Anhänger Wissenschaftler unterschiedlicher der übrigen Religionen immer Fächer »Religion als Verhandlungs- wieder in gewalttätige Konflikte feld von Konflikten«. Auch im kon- miteinander geraten. Während kreten Fall Indien gilt es zu fragen, auf lokaler Ebene die communal was gerade das kulturelle Sub- riots, wie diese Auseinanderset- system Religion über seine iden- zungen genannt werden, oft durch titätsstiftende und dabei Trenn- religiös bedingte Verhaltensfor- linien aufbauende Funktion hinaus men – Schlachtung von Kühen bei der Erzeugung von Konflikten durch Muslime oder hinduistische leistet. Prozessionen mit Götterbildern auch durch vorwiegend muslimi- Die blutige Geschichte eines sche Wohngegenden – bedingt jungen Staates sind, sind die flächendeckenden Am 15. August 1947 erlangt die Konflikte so gut wie immer Folge Kolonie British India nach langen des Kampfes um blanke politische Jahren des Ringens unter der Macht. Führung Mahatma Gandhis und An Hand dieser politisch moti- Jawarhalal Nehrus die Unabhän- vierten und zum Teil auch poli- gigkeit von der britischen Krone. tisch organisierten Konflikte lässt Die so sehr herbeigesehnte Frei- sich die Geschichte des nach- heit wird allerdings in der Folge kolonialen Indiens skizzieren. In von ungeheuren Greueltaten über- der hier notwendigen Zeitraffung schattet. Die Religionsgruppen © ullstein - Still Pictures erscheint sie noch blutiger, als sie der Sikhs, der Muslime und der Indira Gandhi ohnehin war. Angesichts des er- Hindus treten in einen erbitterten nem fanatischen Hindu gemeu- (1917 bis 1984), schreckenden Szenarios mag es und mit großer Brutalität geführ- chelt. Erstaunlicherweise bedeu- Ministerpräsidentin Indiens in den Jahren kühl, ja unterkühlt erscheinen, die ten Kampf, der nicht zuletzt Folge tete Gandhis Tod das schnelle Ende 1966 bis 1977 und Phänomene wissenschaftlich zu des Strebens der Muslime nach ei- der Gewalt. Und mit Gandhi ver- 1980 bis 1984. betrachten und zu untersuchen. nem eigenen unabhängigen Staat schwand auch die Religion für na- Doch ist es eine der Aufgaben der ist. Mit der Ziehung der Radcliffe- hezu 40 Jahre aus der indischen Indologie, Verzerrungen und Über- Linie als Grenze zwischen dem Politik, um dort in unheilvoller treibungen, wie sie im Falle In- neu geschaffenen Staat Pakistan Rolle wieder zu erscheinen. diens alltäglich und fast schon sa- und dem »alten« Indien setzen Bei der ersten Wahl zum indi- lonfähig sind, entgegenzutreten. riesige Flüchtlingsströme ein. Etwa schen Parlament (Lok Sabha) im Die Georg-August-Universität sechs Millionen Sikhs und Hindus Jahre 1951 errang die Kongress- Göttingen bietet nun vielfältigste müssen aus Pakistan nach Indien partei, die die Nachfolge der na- Möglichkeiten, Konflikte, ihre Er- fliehen, noch mehr Muslime wer- tionalen Unabhängigkeitsbewe- zeugung, Steuerung und Lösung, den aus Indien vertrieben und ma- gung angetreten war, eine sichere wissenschaftlich zu beleuchten chen sich in den neuen Muslim- Zweidrittelmehrheit. Die Opposi-

Georgia Augusta 5 | 2007 41 KULTUREN UND KONFLIKTE

tion wurde von einem großen Par- eingeschränkt wurden, setzte die gresspartei war somit der Führung teienspektrum gebildet, das von anstehenden Wahlen aus und ließ durch die charismatische Gandhi- der Kommunistischen Partei am sämtliche Parteiführer der Oppo- Familie, eine Art indisches Gegen- linken bis zur Indischen Volkspar- sition inhaftieren – die erste und stück zum Kennedy-Clan, be- tei, dem Bharatiya Jan Sangh, am einzige Diktatur im unabhängigen raubt, was ihren ohnehin seit län- rechten Rand reichte. Erster Minis- Indien. Die 1977 ganz überra- gerem eingeleiteten Niedergang terpräsident des freien Indien wur- schend angesetzten Neuwahlen beschleunigte. de Nehru. Bei seiner Kongress- verlor Indira Gandhi und die Der 77er-Koalition der Janata partei und in seiner Familie sollte Macht wechselte von der lange Party war auch der rechts-natio- die Macht über das Land für herrschenden Kongresspartei zu nalistische Bharatiya Jan Sangh dreißig Jahre verbleiben. Denn einer Koalition, die sich bald zu (BJS) beigetreten, dem auf diese nach Nehrus Tod im Jahre 1964 einer neuen Partei, der Janata Party, Weise der Einstieg in den »main- und einem kurzen Interregnum der Volkspartei, zusammenfand. stream« der indischen Politik ge- des Kongresspolitikers Shastri Die politische Orientierungslosig- lang. Mit dem Abstieg der Kon- übernahm Nehrus Tochter Indira keit der Janata Party bescherte In- gresspartei machte die Bharatiya Gandhi das Amt der Ministerpräsi- dira Gandhi 1980 noch einmal Janata Party (BJP), wie sich der BJS dentin. Zunächst als Platzhalterin die Rückkehr an die Macht. Als sie nach seinem Ausstieg aus der Ko- L. K. Advani und weitere auserkoren, um die Verdienste ih- im Juni des Jahres 1984 der Beset- alition nannte, einen erstaunli- BJP-Funktionäre bei der res Vaters in der Wahl von 1967 in zung des Goldenen Tempels in chen Aufstieg. Nach der Wahl von Auftaktveranstaltung der Stimmen für die Kongresspartei Amritsar durch militante Sikhs in 1989 stützte sie die Minderheits- »Bharat Suraksha Yatra«, einer neuerlichen Pro- umzumünzen, regierte sie das der Operation »Blue Star« ein blu- regierung unter der Führung der pagandatour der BJP, Land in der Folge mit immer feste- tiges Ende setzen ließ – unsinni- Janata Party. Als aber deren Füh- am 6. April 2006 rer, der Premier Vishvanath Pratap Singh, im Herbst 1990 den BJP- Präsidenten Advani, der sich an die Spitze einer verbotenen, quer durch Nordindien nach Ayodhya ziehenden Wagenprozession kurz vor dem Ziel verhaften ließ, zer- brach das Bündnis. Als besonders verhängnisvoll sollte sich der Sieg der BJP bei den 92er-Wahlen im indischen Bundesstaat Uttar Pra- desh erweisen. Dort liegt die Stadt Ayodhya, und die Zerstörung ihrer Babri-Moschee am 6. Dezember 1992 durch mehrere hundert mili- tante Hindu-Nationalisten sollte zum Symbol des Kampfes des be- drohten hinduistischen Indiens werden. Diese Moschee soll Babur, der Begründer der Mogul- Foto: BJP Dynastie, im Jahre 1528 an der Geburtsstätte des Gottes R¯ama auf rer Hand. 1969 spaltete sie die gerweise genau am Tag des Ge- den Ruinen des Tempels, der die Kongresspartei und entledigte sich denkens an das Martyrium des Geburt dieser Inkarnationen Vish- dadurch der alten konservativen Sikh-Gurus Arjun Dev –, wurde nus feierte, errichtet haben. Die Garde. Mit der Rest-Kongresspar- sie vier Monate später von ihren BJP und mit ihr verbündete Orga- tei errang sie in den vorgezogenen Sikh-Leibwächtern ermordet. Wa- nisationen wie der »Nationale Wahlen von 1971 und einem er- ren es hier Sikhs, die die Schän- Freiwilligendienst« (Rashtriya folgreichen Krieg gegen den Erz- dung ihres Hauptheiligtums und Svayamsevak Sangh) und der feind Pakistan einen überwältigen- die Zerstörung der Autographen »Welt-Hindu-Rat« (Vishva Hindu den Wahlsieg. Als aber in der Fol- ihrer Gurus rächten, fiel Indiras Parishad), deren Ziel die Gestal- ge ihre Macht rasch schwand, ver- Sohn Rajiv, der seiner Mutter als tung eines neuen hinduistischen hängte sie 1975 den nationalen Premier folgte, 1991 einem An- Indiens ist, hatten auf die Schlei- Notstand, in dessen Folge die bür- schlag tamilischer Separatisten fung der Moschee seit 1986 hin- gerlichen Grundrechte drastisch aus Sri Lanka zum Opfer. Die Kon- gearbeitet und sie durch so ge-

42 Universität Göttingen nannte feierliche Prozession zu Ehren R¯amas quer durch Nordindien unmittelbar vorbereitet. Die Ereignisse von Ayodhya stürzten Indien in eine tiefe Krise, die drastisch verschärft wurde, als am 12. Mai 1993 die Explosion eines Dutzends von Sprengsätzen Bom- bay erschütterte, fast 300 Menschen in den Tod riß und es in der Folge zu schwe- ren Übergriffen gegen Muslime kam. Nutz- nießer der Tumulte war die BJP, die aus den Wahlen des Jahres 1999 als Siegerin hervor- ging. Sie schürte nun erst recht das Misstrauen gegen und den Hass auf die nicht-hinduisti- sche Bevölkerung Indiens. Seinen traurigen Höhepunkt erreichte ihr Feldzug im Jahr 2002, als es in Gujarat, einer der Hoch- burgen der BJP, zu regelrechten Pogro- men gegen Muslime kam, nachdem ein Brandanschlag auf einen Zug mit Kar-Sevaks, den Handlangern der Par- tei, verübt worden war, die aus Ayodhya zurückkehrten – unverrichteter Dinge im übrigen, da ein Gericht den Baube- ginn des R¯ama-Tempels ausgesetzt hat- te. Der Gegenschlag einer muslimi- schen Terrorzelle kostete 27 Hindus in Gandhinagar das Leben. Können die Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen auf eine lange und dunkle Geschichte zurück- blicken, kam es seit 1998 erstmals zu Über- griffen auch gegen die christliche Minder- heit. Weltweites Entsetzen löste die heim- tückische Verbrennung eines australi- schen Priesters und seiner zwei minder- jährigen Söhne im Bundesstaat Orissa im Jahre 1999 aus. Ihm war vorgewor- fen worden, Hindus mit Gewalt zum Christentum konvertiert zu haben. Die Bekehrung von 1.000 Kastenlosen zum Islam in Südindien im Jahre 1981 war ein Trauma für die Hindu- Nationalisten, und die große Wir- kungslosigkeit indischer Gesetze, eben auch jenem, das gewalt- same Konvertierung unter Strafe stellt, ließ es angemessen er- scheinen, christlichen Missio- naren auf andere Weise Einhalt zu gebieten. Bei den Wahlen von 2004, in deren Vorfeld die Hindu- Nationalisten eine erbärmli- che Schmutzkampagne gegen die italienische Christin Sonia Gandhi, die Witwe Rajivs, geführt hatten, erlitt die Der heilige Mann in BJP eine erstaunlich deutliche Niederlage, Varanasi Foto: Marcus Fornell KULTUREN UND KONFLIKTE

ein säkularer Staat zu sein. Doch das bedeutet in erster Linie und vor allem, dass alle Religionen gleich behandelt werden und dass anerkannte Minderheiten unter Schutz stehen. Es gilt somit zu fra- gen, was gerade das kulturelle Subsystem Religion über seine identitätsstiftende und dabei Trennlinien aufbauende Funktion hinaus bei der Erzeugung von Konflikten leistet und an welcher Elefanten gehören Stelle bevorzugt welche Elemente zum Stadtbild von © Marcus Fornell Jaipur (Rajasthan) zum Einsatz kommen. Besonders interessant sind im Kontext des die ihr die von ihr völlig im Stich tonierten Bomben in Benares. Hindu-Nationalismus die religiö- gelassene Schicht der Armen und Während hier das Ziel gläubige se Konstruktion des Konfliktes und Ärmsten in Indiens Dörfern bei- Hindus waren, richtete sich der die gleichfalls religiöse Legitima- brachte: Die Selbstmorde über- Anschlag in Malegaon in Maha- tion seiner Folgen, wobei letzteres schuldeter Bauern wendeten das rashtra am 11. September 2006 mit in signifikanter Weise gegenüber Blatt zu Gunsten der Kongresspar- 31 Toten und Hunderten Verletz- ersterem zurücktritt. Was die reli- tei. Gleichwohl blieb die BJP trotz ten gegen Muslime. Und es steht giöse Konstruktion des Konfliktes ihrer Abwahl immer noch zweit- zu befürchten, dass sich die Spira- betrifft – nach außen gegen Pakis- stärkste Kraft im indischen Parla- le der Gewalt weiterdrehen wird. tan gerichtet, nach innen gegen ment. Und die von ihr gesäte Ge- die Muslime –, kommt der die in- walt geht noch immer auf. So kam Nation, Volk, Kultur – dische Gesellschaft so sehr cha- es 2004 in Poona zur Zerstörung ohne Religion? rakterisierende Traditionalismus des weltberühmten Bhandarkar Der Wahlslogan der BJP aus dem in den Blick. Während deutsche Institutes, weil diesem in einem Jahre 1998 forderte »one nation, Politiker, trotz allem, was wir Vorwort eines Buches über Shivaji, one people, one culture«. Verhar- auch von ihnen gewohnt sind, auf den Begründer des Marathen- ren wir kurz bei diesen Tripty- einiges Unverständnis stoßen Reiches, gedankt worden war. chon. Lediglich »one culture«, würden, bemühten sie bei Wahl- Das wurde als Verunglimpfung nicht aber »one religion«. Also: kampfkundgebungen laufend ei- dieses als Inbegriff des erfolgrei- Religion Teil von Kultur? Ohne für nen Helden etwa des Nibelungen- chen Kampfes gegen die muslimi- den Moment um die Motive der liedes, kommt dem bereits ge- sche Fremdherrschaft verehrten BJP-Ideologen zu wissen, sei fest- nannten Gott R¯ama für die hindu- Königs empfunden. Gegen den gehalten, dass es tatsächlich erst nationalistische Politik eine wich- Autor des Buches, den amerikani- ab einer gewissen Komplexität tige und ständig in Anspruch ge- schen Indologen Laine, wurde ein von Kultur möglich ist, von Kultur nommene Rolle zu. Denn jedem Haftbefehl erlassen, der zu voll- und Religion als distinkten Hindu ist die Geschichte dieses strecken ist, wenn Laine das Land Größen zu sprechen. Zwar nimmt Helden und seiner ihm in auf- betritt. Im März letzten Jahres de- auch Indien für sich in Anspruch, opferungsvoller Treue verbunde- nen Ehefrau Sít¯a seit frühester Reinigendes Bad im Kindheit vertraut. Und ihre Anzie- heiligen Fluss Ganges hungskraft ist ungebrochen: Als in Varanasi zwischen Januar 1987 und Juli 1988 das indische Fernsehen eine Verfilmung des R¯am¯ayana aus- strahlte, saßen Woche um Woche 100 Millionen Inder vor den Bild- schirmen. R¯amas Kampf gegen das Böse, nach dessen Beseiti- gung er das »goldene Zeitalter« seiner Herrschaft, des R¯amar¯ajya, heraufführt, lässt sich besonders gut politisch und demagogisch in- © Marcus Fornell strumentalisieren: Die von ihm

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bekämpfte Unwelt ist die des sä- mutlich zeigen, wie vorsichtig Soir von»radikalen Islamisten und kularen Staates und insbesondere man mit solch plakativen Etiket- ihrem Guerillakrieg gegen die die des muslimischen Bevölke- tierungen wie dem omnipräsenten christliche Kultur«. Und eine brei- rungsanteils. Offen, wie der R¯ama- »Heiligen Krieg« zu sein hat. te Öffentlichkeit war nur zu gerne Mythos nun einmal ist, fügt er sich Denn diese suggerieren eine Do- bereit, dies glauben zu wollen. einer solchen depravierten Aus- minanz religiöser Motive und In- Nicht nur gegen absurde Vergan- deutung ebenso wie der durch – teressen gegenüber machtpoliti- genheits- und Gegenwartsverzer- paradoxerweise – Gandhi, für schen und ökonomischen, die so rung durch Hindu-Nationalisten den »R¯amas Herrschaft« der In- nicht gegeben ist. In höchst trans- und gegen die Bedrohung der begriff einer von Ungleichbe- parenter Weise geschah eine Presse- und Meinungsfreiheit handlungen jedweder Art freien solch religiöse Überformung eines durch erschreckend breite Kreise Demokratie war. Konfliktes nicht im fernen Indien, des Islams, sondern auch gegen sondern gewissermaßen vor unse- das Schüren von Kultur- und Reli- Machtkonstruktionen und reli- rer Haustür. Als im Herbst 2005 gionskonflikten in unseren Lan- giöse Überformung Jugendliche der Pariser Banlieues den gilt es anzutreten. Und we- Man mag sich scheuen, die wis- marodierend durch Pariser Vor- nigstens eine unangenehme, hart- senschaftliche Beschäftigung auf städte zogen, Autos in Brand setz- näckige und enervierende Gegne- alle Aspekte von Konflikten zu ten und Geschäfte plünderten und rin – und ein schmerzender Sta- richten, etwa auf die Frage, ob die zerstörten, war dies die gewalttäti- chel im Fleisch – sollte dabei besondere Brutalität religiöser ge Auflehnung einer Generation »Wissenschaft« sein. Und eine Konflikte Folge der fehlenden Pro- von Immigranten, die Frankreich kräftige Stütze für die so oft und so fessionalisierung der (ungeschul- zwar ins Land gelassen hatte, de- sehr vermisste Zivilcourage und ten) »Gotteskrieger« ist. Und man nen die französische Gesellschaft gegen das so leichte Wegsehen wird sich vielleicht keine Freunde jedoch den Zutritt verweigerte und und Weghören – auch ihrer eige- machen, wenn man die Konflikt- sie an ihren Rand und darüber nen Vertreter. strategie der Hindu-Nationalisten hinaus drängte. Hier machten ab- mit der Feindbildkonstruktion ei- grundtief verzweifelte junge Men- Schlangenbeschwörer in Rajpur nes George W. Bush vergleicht, schen auf sich aufmerksam. Die der das Phänomen, gegen das er Gewaltexzesse, die sich das gan- seinen mit religiöser Symbolik ze Jahr über in der Zerstörung von und Rhetorik überfrachteten Feld- Autos, Bushaltestellen, Telephon- zug führt, zum Teil selbst erst ge- zellen und städtischen Einrichtun- schaffen hat und täglich neu gen entladen hatten, waren offen- schafft. Wichtig indes ist, dass kundig völlig »unreligiös«. Nach Konflikte auf breitester Basis un- den Vorfällen des 3. November tersucht werden. Und wenn denn wurde dieser Aufstand zu einem die Funktion, die Religion im Ein- Konflikt der Kulturen und zu ei- zelfall und im hypostasierten All- nem Krieg der Religionen hochsti- gemeinfall spielt, differenziert lisiert. Wider besseres Wissen herausgearbeitet ist, wird sich ver- sprach das Boulevard-Blatt Françe Foto: Marcus Fornell

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Cultures in conflict – where differentiated analysis, what will to do with »religion«. But after the else but in India? There, well be concluded, in all likelihood, is events of November 3, the turmoil over a billion human beings in di- just how wary one must be in was dressed up as a clash of verse numbers and geographic attaching such gross labels as that cultures, as a war between the distributions identify as Hindus, of the omnipresent »holy war«. religions. In full knowledge of the Jains, Sikhs, Muslims, Christians For if these labels suggest any- distortions it was spreading, the and Parsees; what’s more, they thing, it is that religious motives tabloid Françe Soir wrote of »radi- congregate in, at times, claustro- and interests predominate over cal Islamists and their guerilla war phobic proximity. No doubt we power-political and economic against Christian culture«. And a must make an exception for the ones, and this is simply not the broad section of the public was Parsees, who adhere to an off- case. quite ready to buy into this. shoot of Zoroastrianism and are Now there took place recently So we need to oppose not just mainly concentrated in Bombay – (and in all transparency too) just the absurd distortions of the past which visitor to India does not such a religious »painting over« of and present put out by the Hindu know of the »Towers of Silence«? a conflict situation – not, as it nationalists, not just the menacing – and for the Jains too with their happens, in far-away India, but of a free press and free speech by utter rejection of all forms of right on our own doorstep. When dismayingly broad sections of the violence, who are chiefly confined in the fall of 2005 hordes of young Islamic world – we must also to Gujarat and South India, yet it people from Paris’s banlieues em- make a stand against the fomen- is a fact that the adherents of the barked on a rampage in the inner- ting of cultural and religious con- other religions have repeatedly city areas, setting fire to cars and flicts in our own part of the world. and violently clashed. While on plundering shops and businesses, And if »scholarship« is to play a the local level communal riots (as destroying everything in their role here, let it be that of an irk- these altercations are called) are path, there could be no mistaking some, dogged, and energizing op- often triggered by religion-related the symptoms: it was a full-scale position, not to say painful thorn practices – the slaughtering of and violent revolt by a whole in the flesh. Let us scholars be a cows by Muslims or processions generation of immigrants, human bulwark for a civil courage so bearing effigies of this or that Hin- beings who France had allowed to often missing yet so very much du god which pass through pre- cross its borders but who French missed. Let us resist in our own dominantly Muslim parts of town society still refused to accept, ranks the easy urge to look – overarching conflicts are, with resorting instead to marginaliza- away and stop our ears. few exceptions, precipitated by a tion or worse. Here young people struggle for naked political power. driven to the brink of despair One may hesitate to train a were sending out a signal of sorts. scholarly eye on all aspects of The orgy of violence, which took such conflicts, let alone address a whole year to vent itself in the the delicate issue of whether the destruction of cars, bus stops, especial brutality of religious con- telephone booths, and urban flicts derives from a lack of profes- infrastructure, clearly had nothing sionalism on the part of the (un- trained) »holy warriors«. Nor, perhaps, will one make any friends by likening the conflict Prof. Dr. Thomas Oberlies, Jahrgang 1958, studierte strategy of the Hindu nationalists Indologie, vergleichende Religionswissenschaft, Ethno- to the hostile stereotyping of a logie, Klassische Philologie und Archäologie an der George W. Bush, who has himself Universität Tübingen von 1977 bis 1984. Im Jahr 1986 partly created (and daily creates wurde er an der Universität Hamburg promoviert und habilitierte sich in Tübingen 1991. Von 1991 bis 1994 anew) the bogeyman against war er an der Universität Würzburg tätig, anschließend bis 2000 an which he then wages a campaign der Universität Freiburg. Nach Stationen in Zürich, Bonn und Würz- laden with religious symbolism burg lehrt und forscht der Indologe seit 2002 an der Universität and rhetoric. Nevertheless, it is Göttingen und ist Direktor des Seminars für Indologie und Tibetolo- important that conflicts should be gie. Prof. Oberlies ist Herausgeber der Zeitschrift Studien zur Indo- studied as broadly as possible. logie und Iranistik. Seine wichtigsten Publikationen sind Die Reli- And if therefore the function of gion des Rgveda. . (Erster Teil Wien 1998; Zweiter Teil Wien 1999), religion (in particular cases as A Historical Grammar of Hindi (Graz 2005) und Der Hinduismus well as in the much-vaunted (Frankfurt 2007). general sense) is subjected to

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Göttinger Graduiertenschule für Geisteswissenschaften

(red.) Die Göttinger Graduierten- tenschule wurde eine vernetzte Zum gegenwärtigen Zeitpunkt schule für Geisteswissenschaften Plattform für herausragende For- sind in der Graduiertenschule wurde im Sommer 2005 gegründet schung und strukturierte Ausbil- sechs Promotionsprogramme zu- und nahm ihre Arbeit zum Winter- dung für Nachwuchswissenschaft- sammengeführt: Die Literaturver- semester 2006/2007 auf. Sie ist ei- ler im gesamten Bereich der Geis- mittlung in der nachbürgerlichen ne gemeinsame Einrichtung der teswissenschaften geschaffen. Die Gesellschaft, die interdisziplinäre Philosophischen und der Theolo- philosophische und die theologi- Umweltgeschichte sowie die Ge- gischen Fakultät. Die Universität sche Fakultät können dabei auf ei- nerationengeschichte im 19. und Göttingen hat ihre Doktoranden- ne Tradition herausragender aka- 20. Jahrhundert und die Mittelalter- ausbildung auf strukturierte Pro- demischer Leistungen zurück- und Frühneuzeitforschung sind motionsprogramme umgestellt und blicken. Gemeinsam verfügen sie Kollegs, die die Philosophische Fa- je eine Schule in den Gesellschafts- über eine in Deutschland nahezu kultät einbringt. Ein Programm der wissenschaften sowie für die Na- einzigartige Vielfalt an Fächern Theologie beschäftigt sich mit turwissenschaften und die Mathe- und Zentren. Beide Fakultäten Glaube, Ethik, Bildung und Organi- matik eingerichtet. Ziel ist es, ex- und die gemeinsame Graduierten- sation; dem Poly- und Monotheis- zellente Forscherinnen und For- schule profitieren von der intensi- mus in der Antike ist ein von bei- scher auf international konkur- ven Zusammenarbeit mit der Aka- den Fakultäten getragenes Gra- renzfähigem Niveau an der Geor- demie der Wissenschaften zu Göt- duiertenkolleg gewidmet. gia Augusta auszubilden. Die Gra- tingen und der Niedersächsischen Den Vorstand der Graduierten- duiertenschule bemüht sich daher Staats- und Universitätsbibliothek, schule bilden Prof. Dr. Heinz- intensiv darum, bestqualifizierte aber auch von internationalen Günther Nesselrath als Sprecher, Studierende aus aller Welt anzu- Forschungs- und Ausbildungsko- Prof. Dr. Florian Wilk, Prof. Dr. ziehen, und hat zu diesem Zweck operationen mit bedeutenden Thomas Kaufmann und Prof. Dr. ein attraktives Stipendienpro- Partnern in aller Welt. Gerhard Lauer. gramm aufgelegt. Die Einrichtung koordiniert und unterstützt einzelne Promo- tionsprogramme und Graduier- tenkollegs, sorgt insbesondere für die Qualitätssicherung und über- nimmt übergreifende Aufgaben wie die Vermittlung von Metho- denkenntnissen und Schlüssel- qualifikationen. Mit ihrem Ausbau zu einer umfassenden Graduier-

Georgia Augusta 5 | 2007 47 Die Bereitschaft, für das Vaterland zu sterben und zu töten, garantiert seit der Erfindung des Nationalismus die moderne Form der Verewigung des politi- schen Kollektivs. Sie definiert den Nationalismus als politische Religion. Die Bereitschaft zu töten und zu sterben ist aber auch die absolute Form der Selbst- prüfung, die zu den »Epiphanien der Moderne« (Charles Taylor) zählt, der In- begriff einer identitären Sehnsucht, die über das sterbliche Ich hinausweist. Beide Elemente verbinden sich in einer revolutionären Gewaltdynamik, die die politische Gewaltkommunikation bis heute bestimmt.

Bild: Felix Albrecht, 1930 RELIGION UND MACHT

Die Dynamik des Ge- mik. Es geht dabei also nicht etwa mehr an eine tiefere Bedeutungs- waltprotests scheint in um die Verortung der RAF im Kon- schicht, die in der säkularen Mo- der zweiten Hälfte des text der spezifisch deutschen Ge- derne eine religiöse Dimension 20. Jahrhunderts in West- walt-Tradition – »Hitlers Kinder« transportiert, die wahrzunehmen europa historisch fast obsolet waren sie jedenfalls nicht minder uns heute schwer fällt, auch wenn geworden zu sein, sieht man ein- als die Opportunisten der deut- wir wie selbstverständlich davon mal vom Terrorismus in den schen Nachkriegsgesellschaft –, ausgehen, dass die fundamentalis- 1970er Jahren in Deutschland sondern um die Frage, warum Ge- tische Gewalt als Ausgeburt reli- und Italien und dem Bomben- waltkommunikation unter be- giösen Eifers zu verstehen ist. terror der ETA und der IRA ab. stimmten Bedingungen so »an- Betrachtet man die konkreten Der politische Protest er- steckend« sein kann, wie sie es in Bedeutungszusammenhänge, die scheint ansonsten kontrollier- der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- in den Gewaltkulturen der Zwi- bar, er hat erkennbare Träger derts war. Soziologen und schenkriegszeit rhetorisch und und Motive sowie Konjunktu- Pädagogen versuchen die An- praktisch aufgerufen werden, ren und Rituale. Politische Ge- steckung der Gewalt in Begriffen dann wird plausibel, dass es bei walt ist in diesem Blick wenig wie »Gewaltspirale« und »Nach- der politischen Gewaltkommuni- mehr als eine Steigerung dersel- ahmungstäter« zu erfassen, be- kation möglicherweise nicht nur ben sozialen Tatsache. Sie gilt ent- weder als symbolisch kalkulierte Sprache des Protests oder – auf der anderen Seite – als ganz un- Das Charisma der Gewalt historischer Ausweis des mensch- Gewaltkommunikation und politische Religion lichen Wolfscharakters. Damit ver- im 20. Jahrhundert schwindet die historische Gewalt- kommunikation zur Erzwingung Bernd Weisbrod der nationalen Wiedergeburt, des identitären Selbst und des revolu- tionären Subjekts, die die deut- sche Geschichte zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schuldigen auch die Medien we- auf die jeweilige Begründung, ge- so sehr geprägt hat, fast ganz aus gen ihres prekären Verstärker-Ef- sellschaftliche Eskalation oder dem Blickfeld. Politische Gewalt fekts oder fordern ein besonderes Eindämmung der Gewalt, sondern ist aber kein Alptraum der Vergan- Aufmerksamkeitsregime für ge- auf die Gewalt selbst als eine im genheit, der Alptraum der Gewalt waltbereite Jugendliche. Aber die Kern »religiöse Sprache« ankommt. lastet auch auf der Gegenwart, Brauchbarkeit der »Sprachen der Historisch gab es immer ideologi- nicht nur wegen des Zivilisations- Gewalt« (Jan Philipp Reemtsma) sche Gründe für Gewalt, die als bruchs des Holocaust und nicht erschließt sich keineswegs nur aus Legitimation angeführt und ge- erst seit dem 11. September 2001. jeweils konkreten Motivationen glaubt wurden. Man kann die Er- Vor diesem Hintergrund stellt und Kalkülen der Täter oder aus scheinungsformen oder die Ver- sich die Frage, wie sich Historiker dem polizeilichen oder medialen teilungshäufigkeit der Gewalt- dieses Gegenstandes annehmen »framing« eines Gewalt-Ereignis- ereignisse oder das soziale Profil können, ohne dem Kern der ses. Politische Gewalt ist »an- oder die Gruppenbindung der politischen Gewalt auszu- steckend« aus vielen Gründen, »Militanten« mit Gewinn studie- weichen, nämlich nicht und sie folgt auch im internatio- ren, unklar bleibt aber die perfor- nur ihrer Funktion in ihrer nalen Maßstab nicht gleichblei- mative Begründung des »Status«, Zeit, sondern ihrer eige- benden sozialen Regeln. Ihr per- der mit dem Gewaltakt selber nen historischen Dyna- formativer Charakter rührt viel- kommuniziert wird. Die Abfolge

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der Gewaltformen, etwa im öster- Bewunderung« in der Männer- die das Ergebnis gerade jeder po- reichischen Bürgerkrieg der Zwi- gruppe sollte nicht nur sozialpsy- litischen Steuerbarkeit entzieht. schenkriegszeit, lässt sich phäno- chologisch erklärt werden, etwa Wichtig für die selbst-erklärten menologisch gut beschreiben: die als gewaltsames »Übergangs- »nationalen Revolutionen« des Vermischung von klassischen Ele- ritual« in der geschlossenen Män- 20. Jahrhunderts – sowohl in Ita- menten aus Hungerkrawallen und nergemeinschaft. Es ist sicher rich- lien wie in Deutschland – er- politischer Destabilisierung, die tig, dass in der SA die aggressive scheint aus dieser Definition immer wieder beschworene »Ge- Abfuhr der eigenen Frustration als zweierlei, zum einen der innere walt der Unterlegenen« aus Man- »kommunikativer Appell« zur Zusammenhang von kriegerischer gel an gewaltfreien Alternativen, »programmähnlichen Konsens- Gewalt und (gegen)revolutionärer schließlich die Eskalation der so- stiftung« eingesetzt wurde. Aber Gewalt als Erbe des Ersten Welt- zialen Militarisierung im terroristi- entscheidend ist, dass in der Dy- kriegs und zum andern die quasi- schen Kampf. Diese Art der namik physischer Gewaltanwen- religiöse Überhöhung der »Ent- historischen Gewaltfor- dung um ihrer selbst willen eine scheidung« durch Gewalt. Die ab- schung folgt dabei der eigene Sprache der Erlösungser- solute Definition des äußeren »Eisbergtheorie« der zwingung, quasi des politischen Feindes nährte die Suche nach Sozialprotestforschung: Wunders, zu erkennen ist. dem inneren Feind, das war auch Die Gewaltstrategien Sicherlich, die Geschichte der bei Carl Schmitt der eigentliche der Bürgerkriegspar- politischen Gewalt hat eine länge- Zweck der Freund-Feind-Bestim- teien kommuni- re Tradition. Aber die absolute Be- mung als das Selbst – das Propri- zieren quasi freiung von der Vergangenheit – um – der Politik. Kein besseres mitein- dieser revolutionäre Traum der Beispiel lässt sich hier denken als ander Moderne – produzierte eine uner- die offene Wut der enttäuschten und las- löste säkulare Hoffnung, die in der Offiziere im und nach dem Kapp- sen sich bis revolutionären Gewalt gespei- Putsch oder die von der offenen zur Akzeptanz der chert worden ist. Man kann davon Front im Baltikum zurück ins Justiz oder Ver- ausgehen, dass es zum Kennzei- Reich getragene Blutspur der Frei- folgung als Ant- chen der modernen Revolution korps. Ernst Troeltsch, der kluge wort auf einen po- gehört, dass sie mit Gewalt und Beobachter dieser gegenrevolu- litischen Konflikt Terror, Bürgerkrieg und Staaten- tionären Bewegung in der frühen mit sozialer Op- krieg, Bildersturm und Glaubens- Weimarer Republik, hat diesen portunitätsstruktur kämpfen einhergeht. Dafür lassen Zusammenhang in seinen Spekta- lesen: Die Gewalt ist sich nicht nur am französischen tor-Briefen klar erkannt: »Sie (die dabei im Prinzip immer und russischen Beispiel viele Be- militaristische Gesellschaft) will nur Mittel zum Zweck. lege finden. Dies gilt in gewissem schneidig mit Gewalt den Knoten Bei näherer Betrachtung Sinne auch für die revolutionäre zerhauen und glaubt, daß sich zeigt sich jedoch, dass sich Gewalt in der deutschen Zwi- dann alles schon von selber wie- der innere Zusammenhalt in schenkriegszeit, sowohl in der der finden wird. So haben diese den politischen Kampfver- Form der Nachkriegswirren, wie Kreise ja auch den Krieg aufge- bänden selbst – etwa bei in dem selbst inszenierten Ge- faßt. .... Auch diese Desperado- den italienischen Squadri waltfeldzug der Nationalsozialis- Stimmung hat ja am Schlusse des und der SA – nicht ohne ten zur Machtergreifung, auch Krieges nicht gefehlt. All das kehrt weiteres aus ihrem politi- noch nach 1933. Die Angst, die nun im inneren Krieg wieder, nur schem Programm oder sie beschworen, hatten sie selber daß jetzt der Klassenstandpunkt ihrem Sozialprofil als politi- produziert. Es ist diese Logik der ganz anders und bewußter vor- sche und soziale Verlierer er- Angst, der vermeintliche Zwang herrscht als während des Krieges.« schließen lassen, wie es aus den des absoluten Neuanfangs, der Die Gewalt als Garant der selbst Lebensgeschichten »alter Kämp- Sprung ins jetzige Jenseits, dessen erzwungenen politischen Wende fer« bekannt ist, sondern aus der absoluter Beleg die rücksichtslose setzt den kriegerischen Endkampf- »Vergemeinschaftung durch Ge- Gewalttat ist, rücksichtslos auch Habitus absolut und kehrt, wie walt« (Sven Reichardt) selbst. Die- gegenüber sich selbst. Diese Be- Carl Schmitt erkannt hat, auch se entscheidungslogische (»pra- reitschaft versprach die Selbst- später in der Selbstweihe als Parti- xeologische«) Wende in der histo- Sakralisierung durch Gewalt. Die san der Weltrevolution wieder. rischen Gewaltforschung zeigt politische Gewalt ist also nicht Der berühmte Anti-Chaos-Re- den Effekt der Selbstviktimisierung nur Mittel zum Zweck, sondern – flex, der der deutschen Revolution durch Gewalt. Aber auch die Ak- einmal in Gang gekommen – eine in Weimar den Garaus machte, kumulation von »Respekt oder gar eigene historische Produktivkraft, kaum dass sie sich ihrer friedli-

50 Universität Göttingen RELIGION UND MACHT

Graduiertenkolleg »Generationengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert«

(red.) Das von der Deutschen For- wissenschaftlichen Tragfähigkeit dies«) begründet werden. Die ein- schungsgemeinschaft (DFG) ge- und Aussagekraft des Generatio- zelnen Forschungsbereiche be- tragene Graduiertenkolleg »Ge- nenbegriffs, der in den letzten Jah- handeln Probleme der familiären nerationengeschichte. Generatio- re eine zunehmende Verbreitung Sozialisation (Lebenslauf, Lebens- nelle Dynamik und historischer in den Kultur- und Sozialwissen- alter, Genealogie), der Güter- und Wandel im 19. und 20. Jahrhun- schaften gefunden hat. Welche Chancenverteilung (Generations- dert« wurde am 1. April 2005 ge- Rolle spielen »Generationen« für wechsel im Betrieb und Wohl- gründet. In ihm arbeiten zur Zeit die Entwicklung kultureller Stile, fahrtsgenerationen), der kulturellen 16 Doktorandinnen und Dokto- die Gestaltung politischer Konflik- Stilbildung (Generationalität und randen sowie ein Postdoktorand te, die Verteilung materieller Res- emotionale Regime in der Litera- aus den Geschichts-, Sozial- und sourcen, die Beschleunigung der tur), der historischen Tradierung Kulturwissenschaften unter Betei- historischen Tradierung und die (Generationsgedächtnis und Er- ligung von neun Professorinnen Organisation von Erinnerung und zählgenerationen) sowie der Poli- und Professoren. Sprecher und Ini- Gedächtnis? Im Zentrum des Kol- tisierung und Verarbeitung von tiator des Kollegs ist der Göttinger legs stehen die Kritik an der hero- persönlicher Erfahrung im Gene- Neuzeithistoriker Prof. Dr. Bernd isch-dramatischen »Generationa- rationenverbund (»politische« und Weisbrod. Das Graduiertenkolleg lisierung« von politischen Konflik- »stille« Generationen). Seit seiner »Generationengeschichte« ist ein- ten und die Untersuchung der Gründung hat das Graduiertenkol- gebunden in die »Göttinger Gra- »Generationalität« als zentraler leg eine Vielzahl von öffentlichen duiertenschule für Geisteswissen- Kategorie von Erfahrungsprägung Vorträgen, Tagungen und Work- schaften, die gemeinsam mit einer und Selbstthematisierung seit dem shops veranstaltet. Im September naturwissenschaftlichen und ei- Ende des 18. Jahrhunderts. Im Ver- 2006 fand zuletzt eine internatio- ner mathematischen Graduierten- bund historisch arbeitender Kul- nale Tagung über »Generations in schule die Doktorandenausbildung tur- und Sozialwissenschaftler soll Europe – European Generations« an der Georg-August-Universität »Generation« neben Klasse, Ge- am Europäischen Hochschulinsti- Göttingen neu strukturiert und schlecht und Ethnizität als spezifi- tut in Florenz (Italien) statt. ausrichtet. sche historische Differenzkatego- Weitere Informationen zum Den Ausgangspunkt von For- rie der Moderne in einem interdis- Kolleg sind im Internet unter schung und Lehre des Kollegs bil- ziplinären und transnationalen www.generationengeschichte.uni- det die kritische Überprüfung der Forschungsfeld (»Generation Stu- goettingen.de zugänglich.

Georgia Augusta 5 | 2007 51 KULTUREN UND KONFLIKTE

chen Möglichkeiten besonnen die »eine Haupterfahrung beher- erzählten Lebensgeschichten von hatte, produzierte in gewissem zigen: Kein Verhandeln, sondern einzelnen Gewalttätern die Tat Sinne selber das mörderische Schießen und rücksichtsloses Be- durchaus als biographisches Chaos, das sich über den Kapp- fehlen«. Gegen vermeintliche Rä- Schlüsselereignis, als persönliche Putsch und den Hitler-Putsch bis delsführer oder Hetzer brauchte »Epiphanie«. In der quasi-religiö- zum Reichstagsbrand als die ima- man keine Begründung mehr: sen Überhöhung der »Entschei- ginierte Gegenrevolution aus- »man ermordet diese ›Hunde‹ dung« durch politische Gewalt wies: Immer sollte der rote Feind durch Schuß oder Gift, jedes Mit- lässt sich ein ähnlicher Effekt be- zum Losschlagen provoziert wer- tel ist recht.« obachten. Darauf fußt nämlich den, um endlich den wohlvorbe- Es lässt sich zeigen, dass die auch schon bei Max Weber die reiteten Entscheidungsschlag füh- Radikalisierung des Gewaltpro- »revolutionäre Gewalt« des Cha- ren zu können. Es ist die Logik der gramms durch die veränderten rismas, das auf »Offenbarungs- gegenrevolutionären Gewalt, dass »Sagbarkeitsregeln« von Politik und Heroenglauben« beruht und sie ihre Revolution braucht und bis zur Machtergreifung eskalier- den Menschen eine innere Um- erschafft. Dieses Implantat der te, obwohl der parlamentarische kehr und Buße abverlangt. Natür- rücksichtslosen Gewalt in die Po- Betrieb lange einen Anschein von lich ist das Charisma nach Weber litik, wie sie schon in den Statuten Normalität bewahren konnte. nur eine mögliche Determinante der mörderischen Organisation Rein sozialpsychologische oder revolutionären Umbruchs, aber Consul gefordert wurde, zielte ideologische Erklärungen solcher erst die Gewalt selbst, so scheint darauf, »bei großen inneren Unru- Gewaltschübe versagen jedoch es, entscheidet, und sie entschei- hen deren völlige Niederwerfung vor dem eigentlichen Geheimnis det, indem sie dieser religiösen zu erzwingen und durch die Ein- der Gewalt, wie es aus der revolu- Sehnsucht entspricht. setzung einer nationalen Regie- tionären Gewaltkommunikation In Adolf Hitlers Selbstbild ist rung die Wiederkehr der heutigen bekannt ist, nämlich jene epipha- dieser religiöse Überschuss eines Verhältnisse unmöglich zu ma- nischen Elemente in jeder demon- innerweltlichen Zerstörungs- und chen«. Das politische Ziel war es strativen Gewaltkommunikation, Erlösungsglaubens mit Händen zu zweifellos, die Revolution rück- die sich dem Betrachter ganz un- greifen. In »Mein Kampf« hat er

Angehörige der SA-Stan- gängig zu machen, das Mittel da- mittelbar erschließen, weil er sie das Parteiprogramm der NSDAP darte »Feldherrnhalle« zu die Übertrumpfung durch Ge- als die ultimative Sprache der Ent- zu einem »politischen Glaubens- marschieren zum mor- walt, auch durch die Feme in den scheidung erkennt. In der Lesart bekenntnis« ausgerufen, nicht nur, gendlichen Wecken über die Straße Unter eigenen Reihen: Nur Männer sind des symbolischen Interaktionis- um die widersprüchlichen Festle- den Linden in Berlin, zu gebrauchen, so heißt es dort, mus findet sich jedenfalls in den gungen, etwa in der Eigentumsfra- 30. Januar 1938 ge, zu entschärfen und sich als In- stanz der letzten Auslegung un- entbehrlich zu machen. Er forder- te vielmehr von seiner Gefolg- schaft dieselbe »fanatische Un- duldsamkeit« und den »apodikti- schen Glauben«, die, wie er mein- te, »geradezu jüdische Wesensart verkörper(n)«. Weltanschauung steht hier eben weder für eine spe- zifische Ideologie oder Idee, und sei sie noch so gewaltsam, son- dern allein für den »Heroismus« des Gewalt-Glaubens, der erst zu wirklichen »Kreuzzügen« er- mächtigt, und dazu, »Zwang mit Zwang« und »Terror mit Terror« zu brechen. Das ist der reine »My- thos der Gewalt«, der sich schon mit ganz ähnlichen Vergleichen – mit dem Urchristentum oder den napoleonischen Soldaten – in Georges Sorels »Reflexions sur la violence« von 1908 findet. Auch © ullstein bild bei Sorels »Mythos des General-

52 Universität Göttingen streiks« ging es im Kern ja nicht um diese oder jene Art des Sozialismus, sondern vor allem um den Nachweis der »Moralität der Gewalt«. Die »vo- lonté de délivrance«, der Erlösungs- wille, erlaubt erst den Einsatz bewuss- ter Gewaltsamkeit. Bei Sorels Mythos handelte es sich um nichts anderes als um die revolutionäre Zuspitzung durch Gewalt, die vitalistische Vor- wegnahme des Kommenden in der heiligen Praxis der Gewalt selbst. Diese Forderung nach der »pro- duktiven« Kraft der gewaltsamen Zer- störung, die praktische Vermählung mit dem Gewaltprinzip einer jeden Politik, das ist die eigentliche politi- sche Aussage des Gewaltkults der Zwischenkriegszeit. Sie begründet die Selbstwahl des Opfertäters, der sich in der Gewaltpraxis findet und bindet. Diese mythische Dimension der Ge- waltkommunikation führt zum Kern der heutigen Debatte über die politi- schen Religionen in der Moderne. Kei- ne Frage, sowohl der italienische Fa- schismus wie der Nationalsozialismus lassen sich als ein gut inszenierter Fall von »politics of salvation« verstehen. Der gewaltsame Aufstieg der tota- litären Bewegungen schuf eine neue symbolische Ordnung, deren Attrakti- vität bei einem großen Teil der Wählerschaft uns heute trotz aller op- portunistischen Interessen rätselhaft erscheint. Die Entfesselung konträrer Interessen und der auf Dauer gestellte Ausnahmezustand in der Systemzeit lassen aber trotz des politischen Toten- kults und der »pseudo-religiösen Ele- mente« der Führerverehrung kaum auf die Ausbildung einer konsistenten Glaubenslehre jenseits der Rassen- ideologie schließen (Hans Mommsen). Tatsächlich ergibt sich aber bei näherer Betrachtung der konkreten Gewaltkommunikation, dass es bei der Entscheidung dieser Frage über- haupt nicht auf die Glaubensinhalte oder die Rituale ankommt, weswegen auch alle Versuche zu kurz greifen, den religiösen Charakter des National- sozialismus aus einer schlechten Ko- pie christlicher Weltanschauungsele- mente zu rekonstruieren. Wie Ernst Voegelin, der den Begriff der politi- schen Religion 1938 aus der Taufe ge- Bild: Felix Albrecht, 1930 KULTUREN UND KONFLIKTE

hoben hat, selbst rückblickend muss, die sich durch die Gewalt ansagte, hatte der Wiedergeburt einräumt: Der Begriff ist irre- selber bindet und auch die Nicht- der Nation ein »Opfer« gebracht! führend, weil es dabei im Kern Gläubigen zu Komplizen macht. Noch waren es immer nur die an- weder um das Dogma noch um Es genügt das Gefühl von rück- deren, aber im Doppelsinn des den Ritus geht, wohl aber um die sichtslosem Einsatz und demons- deutschen Wortes »Opfer« trägt spezifische Sprache der »Religio- trativem Gewaltexzess, das eben jeder demonstrative Gewaltakt sität«. Die Lehre ist daher weniger nicht nur der Wunschtraum jegli- nach René Girard Spurenelemente von Belang als das Bekenntnis, cher asymmetrischen Kriegfüh- der Selbstheiligung in sich. und das entscheidende Bekennt- rung, sondern immer schon das Das historische Prinzip der Ge- nis war in der Sprache der Gewalt Geheimnis des religiös motivier- waltkommunikation ist, so zeigen zu sprechen. Der »Kult des Wil- ten Terrorismus ist, der seine Erfül- diese Forschungsergebnisse, seit lens« (J.P. Stern), der sich von An- lung »in the mind of God« sucht der Entfesselung der revolutio- fang an in der Gewaltstrategie der (Mark Juergensmeyer). Es genügt nären Gewalt in der Moderne von Bewegung spiegelte, und der zü- die Ahnung einer Grenzüber- der Überbietung des Diesseitigen gellose Aktionismus sind gerade, schreitung, die außer-alltägliche durch das performative Verspre- wie Klaus Vondung argumentiert, Verfügungsgewalt eben gewalt- chen der Selbsttranszendenz ge- »ein besonderes Kennzeichen der sam demonstriert. Nichts über- prägt. Das ist die »religiöse« Spra- politisch religiösen Erregung«. In raschte die Täter der Machtergrei- che der politischen Gewalt, die der Gewaltreligion der Zwischen- fung mehr als die populäre Zu- auch in der zweiten Hälfte des 20. kriegszeit zeigt sich eine Religion stimmung, die nach dem kaltblüti- Jahrhunderts nicht verstummte. der Haltung, nicht der Inhalte, des gen Staatsmord im »Roehm- Sie kehrte in den postkolonialen Glaubenwollens, nicht des Glau- Putsch« vom Juni 1934 aus allen Kämpfen wie in der Stadtguerilla bens. Das Geheimnis des Natio- Landesteilen gemeldet wurde. wieder, aber erst die Welle des nalsozialismus liegt daher mögli- Aber nicht, wie Carl Schmitt de- fundamentalistischen Terrorismus cherweise gar nicht in der Formu- kretierte, weil der Führer »das hat uns wieder daran erinnert, lierung »Verführung und Gewalt«, Recht schützt«, obwohl die Sehn- dass es nicht eine bestimmte Reli- wie ein bekannter Buchtitel heißt, sucht nach Ruhe und Ordnung gion ist, die die Gewalt heiligt, sondern in der »Verführung durch geschickt ausgespielt wurde. Son- sondern dass es die Gewalt ist, die Gewalt«, nämlich durch die reli- dern weil von dieser Art der de- sich selber heilig spricht und ihre giöse Sprache der entscheidenden monstrativen Gewaltkommunika- »Opfer« fordert. Das haben die und reinigenden Tatbereitschaft. tion eine »religiöse« Kontaminati- Anhänger der politischen Religio- Das bedeutet nun nicht, dass es on ausging: Der Täter, als der sich nen in der ersten Hälfte des 20. zu einer vollen Identifikation mit der Führer zu erkennen gab, und Jahrhunderts am eigenen Leib bit- der tatbereiten Gruppe kommen der allem »Abartigen« den Kampf ter erfahren.

Political violence negotiates a line of exclusion which, Prof. Dr. Bernd Weisbrod, Jahrgang 1946, studierte beyond the study of social protest, Geschichte, Politik und Anglistik an der Universität marks the revolutionary transgres- Heidelberg und der Freien Universität Berlin. Als Wis- sion of modern politics ever since senschaftlicher Assistent war er an der Ruhr-Univer- the French Revolution. After the sität in Bochum tätig und Fellow am Deutschen Histo- rischen Institut London (Großbritannien). Im Jahr First World War a war-born culture 1990 folgte er einem Ruf an die Georg-August-Universität Göttingen, of violence provided the symbolic an der er seither als Professor für Mittlere und Neuere Geschichte frame for often demonstrative bru- lehrt und forscht. Gastprofessuren führten den Wissenschaftler mehr- tality in political conflict, which fach in die USA, nach Oxford (England) sowie an die Hebrew Univer- broke loose of the political cal- sity of Jerusalem (Israel). Im vergangenen Jahr war er Fellow am Euro- culation of means and ends and päischen Hochschulinstitut Florenz (Italien). Prof. Weisbrod ist Spre- showed all signs of irrational esca- cher des Göttinger DFG-Graduiertenkollegs »Generationengeschichte. lation. The performative character Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. of such violence transported a re- Jahrhundert« und Mitglied mehrerer historischer Arbeitskreise und ligious meaning into secular mo- wissenschaftlicher Kommissionen im In- und Ausland. Seine Ar- dernity, which is hard to fathom beitsschwerpunkte liegen in der englischen Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts und der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. nowadays although we are con- stantly reminded of the religious fervour in fundamentalist terro-

54 Universität Göttingen RELIGION UND MACHT

rism. This violent »contagion« is at (George Sorel) which deliberately charisma of violence. It is, there- the centre of the research project, drew on fundamental forms of re- fore, not sufficient to look for ritual which by looking closely at the ligious life. The manful assertion or dogma alone, when defining historical »praxeology« of political in the violence of the SA and the these political movements as poli- violence argues that intrinsic values squadri was, therefore, not just tical religions. The »cult of will« of violence must be taken into con- about male bonding or social and the »myth of violence« pre- sideration when defining fascist frustration. It played out a reviva- tended to offer ultimate proof of movements as political religions. list experience of self-victimisa- the »extra-ordinary« power of vic- Historical context and political tion which defined the violent act timisation, which, according to legitimation certainly define the of transgression as a proof of René Girard, confers holy status. format and changing face of vio- fundamentalist politics in itself. In the historical context of the in- lent conflict in the civil war which Demonstrative political vio- terwar years culture of violence the raged in Austria and in Italy as lence thus can also be seen as a emotional mechanism of the pro- well as the proxy civil war which deliberate public performance of mise of a »politics of salvation« was unleashed by the National a quasi-religious urge for salva- through violence can be studied Socialists later in the Weimar Re- tion, which even condoned mur- as a model for the »religious lan- public as a way to spread fear and derous excesses. By the degree to guage« of violence and the trans- terror. Yet, we find that in this ex- which Adolf Hitler himself bought formation of extreme political treme state of political violence into this double-play of violent movements into political religions elements of a self-propelled ratio- transgression – not just with his also in other circumstances. In the nale are at work, which tend political confessions, but even face of modern fundamentalist ter- towards its escalation and even- more with his actual involvement rorism it may serve as a reminder tual self-destruction. The experi- in murder such as in the so-called that it is not necessarily the violence ence and the show of excessive »Roehm-Putsch« – he profited which is in the religion but the reli- violence in political conflict fed from the extra-ordinary fascina- gion which is in the violence on a veritable »myth of violence« tion which is conferred by the that needs to be confronted.

Georgia Augusta 5 | 2007 55 Niklas Stör: Türkischer Reiter, um 1529 RELIGION UND MACHT

Als die von dem ersten christli- bekehrbar hielt, bildet ein Motiv, bensstreiter winkten Ablassgnaden, chen Kaiser Konstantin im Jahre das Denken, Fühlen, Handeln, Heilsangebote also, die von quä- 330 gegründete römische Reichs- kollektive Mentalitäten und Selbst- lender Fegefeuerpein befreiten hauptstadt Konstantinopel am 29. verständnis des »christlichen Eu- und einen umgehenden Einzug Mai 1453 durch die Truppen des ropa« in mehr oder minder star- des Verstorbenen in die ewige jungen osmanischen Sultans Meh- kem Maße mitbestimmte. Seeligkeit verbürgten. Die Tatsa- med II. erobert und das Ende des Nicht zuletzt der Leitbegriff, in che, dass die ersten Druckschrif- byzantinischen Reiches besiegelt dem sich der christliche Okzi- ten, die mit der Gutenbergschen wurde, ging nicht nur ein aurati- dent, die unter der Jurisdiktionsge- Erfindung hergestellt wurden, Tur- scher Symbolort der Christenheit walt des römischen Papstes ge- cica waren oder Ablassbriefe für dahin. Der Untergang Konstanti- sammelte lateineuropäische Chri- den Kreuzzug gegen die Osma- nopels löste in der okzidentalen Christenheit vielmehr ein Bedro- hungssyndrom aus, dessen Fern- Antichrist und Gottesgeißel wirkungen im wahrsten Sinne des Wortes globale waren. Denn die Christlich-islamische Konfliktszenarien in Spätmittelalter Entdeckungsfahrten Vasco da und früher Neuzeit Gamas und Christoph Kolumbus’ sollten auch dazu dienen, die Thomas Kaufmann Einschließung des Christentums in seine europäischen Kernländer, die durch die osmanische Expan- sion im Laufe des 15. Jahrhunderts stianitas, als religiöse und kultu- nen, illustriert, dass auch die me- dramatisch verstärkt worden war, relle ‚Einheit’ entwarf, erfand und dientechnische Revolution des aufzusprengen, um in »Indien« imaginierte – Europa – verdankte 15. Jahrhunderts mit der Türken- »Christen und Gewürze« zu fin- seine neuerliche Konjunktur der gefahr innerlich zusammenhing. den und die Abhängigkeiten von Abgrenzung gegenüber dem Tür- Türkengefahr und Medienrevo- muslimischen Händlern zu über- ken im Gefolge der Eroberung lution bedingten einander gerade- winden. Die Synchronie der Ent- Konstantinopels. Die Beschwö- zu: Das Bedrohungsimaginarium deckung Amerikas und des Ab- rung der Einheit des »christlichen der Europa verwüstenden Türken schlusses der Reconquista, der Europa« gegen die bedrohlichen steigerte die Nachfrage nach ent- Rückeroberung der muslimischen Glaubensfeinde aus dem Osten sprechenden Druckschriften, die

Restherrschaft in Spanien, die mit erhielt durch die prominente Ver- informierten, warnten, Gräuel be- Anonym, 1529 der Eroberung Granadas im Jahr wendung des Europa-Begriffs in schrieben oder Endzeitszenarien (Illustration Liedtext 1492 vollendet wurde, war alles einer Reichstagsrede Enea Silvio von Jörg Darpach) andere als zufällig: Die vereinig- Piccolominis, des späteren Paps- ten Königreiche Kastilien und Ara- tes Pius II. von 1454, eine nach- gonien standen in lebendiger haltige Popularisierung. Nach- Konkurrenz zur führenden portu- dem die barbarischen Türken die giesischen Seefahrernation, be- Christen schon vorher aus Afrika günstigten den Aufstieg des han- und Asien vertrieben hätten, ha- delskapitalistischen Bürgertums ben sie nun in Europa selbst, »das und wussten eine missionarisch- heißt in unserem Vaterland (pa- expansive, kämpferisch anti-isla- tria), in unserem eigenen Haus, in mische Kirche an ihrer Seite. Auch unserer Heimat« zugeschlagen wenn sich das diffizile und kom- und die Christenheit zu Boden ge- plexe Geflecht, das zur geogra- worfen. Europa, die im Papst spi- phischen Expansion Europas rituell repräsentierte Einheit der führen sollte, nicht auf einen Nen- Christenheit, solle sich in der Ver- ner herunterrechnen lässt: Die teidigung gegen den gemeinsa- Konkurrenz zur islamischen Welt, men Feind als militärisch-politi- die man seit 1453 vornehmlich als sche Handlungseinheit formieren barbarisch und aggressiv wahr- und der Bedrohung seiner Exis- nahm, bußtheologisch als Gottes- tenz und seiner Identität durch geißel oder apokalyptisch als Anti- konzertierte Abwehrmaßnahmen christen entschieden ablehnte, für in Form von Kreuzzügen entge- kaum besiegbar und praktisch un- gentreten. Dem christlichen Glau-

Georgia Augusta 5 | 2007 57 KULTUREN UND KONFLIKTE

entwarfen, und die entsprechende verstärkten bußtheologische Wer- schen Bedrohungskonjunkturen Publizistik schuf und verbreitete tungen und geschichtstheologi- immer wieder angefacht wurde, eben dies, was sie voraussetzte: sche Deutungsmuster, die die Un- sistierte den Fremden aus dem das Bild des barbarischen Chris- abwendbarkeit eines nahe bevor- Osten als das Gegenteil des Eige- tenfeindes, der immer bedrohli- stehenden endzeitlichen Gesamt- nen. Im Rahmen der Alteritätskon- cher näher rückte, immer größere sieges des Türken über die ver- struktion des Türken, die ihm das Anforderungen der Gegenwehr kommene Christianitas einschärf- Christliche und Europäische kon- provozierte, als göttliche Zuchtru- ten und das schuldhafte Versagen trastiv gegenüberstellte, spielte te immer unbarmherzigere Schlä- ihrer politischen Repräsentanten, die Religion eine Schlüsselrolle, ge der Vergeltung auf die unbuß- die zu konzertierten Aktionen ge- denn allein auf dem religiösen fertige Christenheit niedergehen gen den gemeinsamen Feind aus Feld ließ sich jene Eindeutigkeit ließ und immer umfassendere Eigennutz unfähig waren, in gewinnen, die in Bezug auf ande- Strategien der Heilsvorsorge erfor- schärfstem Tone geißelten. Dass re kulturelle Betätigungsfelder, in derlich machte. Das als massive sich auch Luther für die Botschaft denen der Türke zumeist eindeu- reale, imaginierte oder gefühlte eines inkriminierten und inhaftier- tig als überlegen galt, nicht zu ge- Bedrohung erlebte osmanische ten Franziskanermönchs namens winnen war. Die eindrucksvollen Reich bildete den einen »ab- Johannes Hilten empfänglich kulturellen Höchstleistungen des stoßenden Pol« (Le Goff) der Iden- zeigte, der angekündigt hatte, Türken auf dem Gebiet der Archi- titätsbildung und -behauptung des dass der Türke um 1600 kommen tektur, des Militärwesens, der hö- christlichen Europa. und ganz Europa vernichten wer- fischen Repräsentationskunst, der Die Dramatik der Türkengefahr de, stellte ihn nicht in einen Ge- Disziplinierung der Untertanen speiste sich natürlich nicht zuletzt gensatz zu der Mehrzahl seiner und der Frauen, die in Reisebe- aus den Nachrichten über die mi- Zeitgenossen. Allenfalls darin, schreibungen oder Gefangen- litärischen Erfolge der Osmanen. dass der Wittenberger Theologie- schaftsberichten europaweit be- Denn diese Nachrichten enthiel- professor ständig im Angesicht kannt gemacht, ja geradezu em- ten nicht nur die unumgänglichen dieser Türkendrohung lebte – er phatisch geschildert wurden, be- Fakten – 1516 die Eroberung Syri- hatte die Hiltensche Prophetie mit wertete man zumeist als Blendwerk ens, 1517 die Einnahme Ägyptens Kreide an die Wand seiner Stu- des Teufels, das dazu dienen soll- und die Zerstörung des Mamlu- dierstube geschrieben –, unter- te, die Christenheit an ihrem Eige- ken-Reichs, 1521 die Eroberung schied ihn wohl von einigen sei- nen irre zu machen und zur Ver- Belgrads, 1522 die Eroberung von ner Mitmenschen. leugnung des Glaubens an ihren Rhodos, 1526 die Schlacht bei Die Furcht vor der als Gottes- Heiland Christus zu veranlassen. Moha´cs und Beendigung eines strafe gedeuteten endzeitlichen unabhängigen ungarischen König- Inbesitznahme Europas durch die reichs, 1529 die erste osmanische Türken, die durch die militäri- Belagerung Wiens, 1538 der Sieg

Sebald Beham: über die venezianische Flotte, Die Belagerung 1541 die Eroberung Budas und die Belgrads 1521, 1522 Annexion Mittelungarns –; die Nachrichten transportierten oder RELIGION UND MACHT

Graduiertenkolleg »Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike«

(red.) Die Erforschung des span- Theologischen Fakultät angesie- regelmäßig veranstalteten Sympo- nungsreichen Verhältnisses von delt und interdisziplinär angelegt. sien nach Göttingen kommen. Polytheismus und Monotheismus An dem umfangreichen For- Symposien und Vorlesungsreihen sowie die Auswirkungen der reli- schungs- und Ausbildungspro- fanden zu den Themen Pantheon giösen Systembildungen auf das gramm sind folgende Fachgebiete und Politik (2004), Gott und die Weltbild und die Weltgestaltung und Lehrstühle beteiligt: Ägypto- Götter bei Plutarch (2005), Die in der orientalischen und grie- logie, Altorientalistik, Iranistik, Welt der Götterbilder (2005),

chisch-römischen Antike steht im Mittelpunkt des Graduiertenkol- leg »Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder« an der Universität Göttingen. Das Kolleg nahm zum Wintersemester 2004/2005 seine Arbeit auf und ist in die neu struk- turierte Doktorandenausbildung im Rahmen der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften einge- Arabistik und Islamwissenschaf- Christen und Muslime im Dialog bunden. ten, Klassische Philologie (Gräzis- (2006) sowie Zorn und Barmher- Obwohl die drei Weltreligionen tik und Latinistik) sowie Evangeli- zigkeit der Götter (2006) statt. Im Judentum, Christentum und Islam sche Theologie mit den Fächern Sommersemester 2007 gestaltet heute als monotheistische Religio- Altes Testament, Neues Testament das Kolleg die zentrale Ringvorle- nen in Erscheinung treten, haben und Orientalische Kirchenge- sung der Universität. Sie trägt den sie alle eine polytheistische Vorge- schichte/Ökumenische Theolo- Titel »Vorsehung, Schicksal und schichte, in der viele Götter mit- gie. Die Judaistik ist ebenfalls ko- göttliche Macht« und eröffnet die einander und mit dem einen Gott operativ angeschlossen. Sprecher zweite Förderperiode, die sich auf in Konkurrenz standen. Anhand des Kollegs, dem gegenwärtig 15 die Erforschung personaler und ausgewählter Fallbeispiele wer- Doktoranden und Doktorandin- nicht-personaler Gottesvorstel- den die historischen, kultur- und nen angehören, zwei Postdokto- lungen konzentriert. Mit der Ring- geistesgeschichtlichen Wurzeln randen und zehn Kollegiaten im vorlesung präsentiert sich das Kol- der drei monotheistischen Weltre- Gaststatus, sind Prof. Dr. Dr. h.c. leg im Rahmen des »Jahres der ligionen freigelegt und so ein Bei- Hermann Spieckermann und Prof. Geisteswissenschaften 2007«. trag zum tieferen Verständnis ihres Dr. Reinhard Gregor Kratz. gegenwärtigen Erscheinungsbil- Darüber hinaus sind internatio- Reinhard Gregor Kratz, Hermann des geleistet. nale Forscher unter anderem aus Spieckermann (Hg.) Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Das Graduiertenkolleg ist an den USA, der Türkei und Israel Polytheismus und Monotheismus in der der Philosophischen und an der dem Kolleg verbunden, die zu den Welt der Antike, 2 Bde., Tübingen 2006

Georgia Augusta 5 | 2007 59 KULTUREN UND KONFLIKTE

Doch der Türke – so ein Grund- »Köhler-Glaube« (fides carbona- Türken als des Anderen seiner zug der religionskulturellen Apo- ria), also ein bloß autoritätsgene- selbst, als Depravations- oder In- logetik der Turcica des 15. und 16. riertes, nicht personal angeeigne- versionsgestalt des Eigenen, basier- Jahrhunderts – verdanke seine tes Fürwahrhalten: »Denn was te auf Emotionen der Faszination Macht, Größe und Strahlungskraft soll das geglaubt oder bekandt und der Furcht, der Attraktion und der diabolischen Herabsetzung heissen / es ist kein Gott / denn der der Aversion. Diese spätmittelalter- der kirchlichen Lehre, von der er einig Gott? Was ist denn derselbi- frühneuzeit-spezifische Dialektik ausgegangen sei. Die noch durch ge? Und wie heisset er? Davon der Gefühlslagen im Verhältnis aktuelle Feuilletons geisternde weis kein Türk nichts zu sagen / zum Türken, aus der allmählich das These, der Islam basiere im Kern und ist eben so viel gesagt / als aufklärerische Vexierbild des wei- auf einer christlichen Häresie, spreche einer / ich gleub einen sen und edlen Orientalen empor- wurzelt in den spätantiken häre- Gott / ich weis aber nicht / wer er steigen sollte, setzte eine wohl für siologischen Deutungstraditionen ist. Das ist eben der recht Köhlers den lateineuropäischen Kulturraum seit Johannes Damaszenus. Auf- Glaub. Den Glauben können im Ganzen charakteristische Inten- grund ihrer Herkunft aus einem auch die Teuffel sprechen [...].« sität der Feindeswahrnehmung, Milieu christlichen Renegatentums Die christliche Wahrnehmung der gründlichen Beschreibung sei- verfüge die »secta« der »Mecho- des Türken erfolgte aus einer Per- ner Besonderheiten, der peniblen metistae« oder »Theorici« (so eine spektive der krisenhaft erlebten ethnographischen Episteme frei. Etymologie für die Türken) über militärisch-politischen Unterle- Die Darstellung der Sitten und Ge- spirituelle Kräfte, mit deren Hilfe genheit heraus. Der Türke kon- bräuche, der Riten, Lebens- und Er- sie die Christen verführen könne frontierte die lateineuropäische nährungsgewohnheiten, der Hy- und eine exakt entsprechende Ge- Christenheit mit ihren eigenen Or- giene, der religiösen Praktiken, genreligion, eine Anti-Kirche, aus- ganisationsschwächen. Und das aber auch der militärischen und bildete. Als diabolisch pervertier- Europakonzept diente den habs- politischen Organisationsformen tes Derivat des Eigenen konnte die burgischen Kaisern eben dazu, je- bildete einen integralen Bestandteil türkische Religion von christli- ne Einheit als handlungsfähige der lateineuropäischen Auseinan- chen Apologeten deshalb nach Größe ideenpolitisch zu inszenie- dersetzung mit dem Türken. Und Maßgabe der eigenen okzidenta- ren und zu postulieren, deren das selbst auf das Gebiet der Koran- len Tradition taxiert und kritisiert in nationale, territoriale, schließ- studien drängten die Europäer vor, werden: Die Türken kennen keine lich konfessionelle Sonderinteres- nicht zuletzt stimuliert durch den Erbsünde, dem Beschneidungsri- sen zersplitterte Europa entbehrte ersten Druck einer lateinischen tual fehle jede sakramentale Qua- und derer es doch so dringend be- Koranübersetzung in Basel (1543, lität, ihre Theologie sei, vergli- durfte, um gegen den Türken zum mit Vorreden Luthers und Me- chen mit der christlichen, närrisch Erfolg zu kommen. Als Gegenbild lanchthons). Man bemächtigte sich und banal, der Koran repräsentie- der eigenen, der europäischen Dif- also des Fremden und Feindli- re eine abwegige Fehlinterpreta- ferenz- und Pluralitätserfahrung chen, das man militärisch nicht tion biblischer Traditionen und erschien der Türke als Inbegriff ei- niederzuringen vermochte, auf liefere nichts anderes als ein star- nes monolithisch geschlossenen, dem Weg des kulturellen Verste- res Regelwerk zur Einübung von autoritär gesammelten, machtvoll hens und der analysierenden Kadavergehorsam. Die Fixierung geeinten Herrschaftssystems. Durchdringung der siegreichen auf die Einzigkeit Allahs, Monoto- Die religionskulturelle und po- fremden Macht. Aus der Krise der Niklas Stör: notheismus des Islam, sei ein litiktheoretische Konstruktion des militärischen Unterlegenheit folgte Türkenzug, 1523 kein fundamentaler kultureller Selbstzweifel der Europäer, da man sich der eigenen, der christlichen Wahrheit religiös gewiss war. Der konfessionelle Gegensatz, der die innere Zerrissenheit Latein- europas im 16. Jahrhundert dra- matisch steigerte, dürfte mittelbar dazu beigetragen haben, den christlich-islamischen beziehungs- weise türkisch-europäischen An- tagonismus zu reduzieren oder zu transformieren. Denn man ent- deckte nun allenthalben Türken in den anderen Konfessionen. Die Katholiken sahen etwa im protes- tantischen Ikonoklasmus eine Tur- kisierung des Christentums, die Lutheraner denunzierten die ka- tholische Ritenobservanz als ser- vilen Turkismus, die Lutheraner warfen den Calvinisten in Bezug auf die Christologie türkischen Arianismus vor, und Vertreter des »linken Flügels« der Reformation hofften auf die Osmanen, die die ganze repressive Ordnungswelt der verfassten Kirchentümer hin- wegfegen und das Gottesreich heraufführen sollten. Doch auf der politischen Ebene des Reichstages war es nicht zu- letzt die »Türkenfrage«, die die Zusammenarbeit der konfessio- nell konkurrierenden Stände- blöcke erforderlich machte und insofern integrativ wirkte. Die Protestanten ließen sich ihre Un- terstützung der kaiserlichen Tür- kenabwehr mit der Bestandsiche- rung der eigenen konfessionellen Existenz politisch abkaufen. Auch im Kontext des europäischen Bündnissystems spielte das osma- nische Reich spätestens seit den 1530er Jahren eine zentrale Rolle, gleichviel, ob man es religiös per- horreszierte und kulturell dämoni- sierte. Im Modus des Handelsgü- tertransfers, der sublimem Beob- achtung, der Attraktion, aber auch der Strittigkeit und der mit der tür- kischen Kultur gegebenen Her- ausforderung für das kulturelle Selbstverständnis Europas war die

Türkei lange vor dem türkischen Sebald Beham: Mokka in Europa angekommen. Ibrahim Pascha, 1529 KULTUREN UND KONFLIKTE

The conquest of Constanti- nople by the troops of the Prof. Dr. Thomas Kaufmann, Jahrgang 1962, studierte Ottoman Empire (1453) triggered evangelische Theologie an den Universitäten Münster, off a threat syndrome in the Chris- Tübingen und Göttingen. An der Georgia Augusta tian Occident, the effects of which wurde er 1990 promoviert und habilitierte sich für das were in the truest sense of the Fach Kirchengeschichte im Jahr 1994. 1996 über- word global, for the voyages of nahm er eine Professur an der Ludwig-Maximilians- discovery undertaken by Vasco da Universität München. Vier Jahre später (2000) nahm er den Ruf an Gama and Christopher Columbus die Georg-August-Universität Göttingen auf den Lehrstuhl für Kir- were also intended to find »Chris- chengeschichte an. Im gleichen Jahr war er als Gastprofessor an der tians and Spices« in »India« and to Ecole pratique des Hautes études in Paris (Frankreich) tätig. Im Jahr put an end to dependence on 1998 erhielt der Theologe den Akademiepreis der Berlin-Branden- Muslim merchants. Competition burgischen Akademie der Wissenschaften. Prof. Kaufmann ist im Vorstand des Zentrums für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung with the Islamic world, which (ZMF), Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen so- since 1453 had been largely per- wie Mitherausgeber verschiedener theologischer und kirchenge- ceived as barbaric and aggressive, schichtlicher Monographienreihen und Fachzeitschriften. provides a motive which to a grea- ter or lesser extent determined the thinking, feeling, behaviour, col- lective mentalities and sense of news of the Ottoman’s military the Turk’s view of the world, which identity of »Christian Europe«. successes: 1516 the conquering of contrasts the »Christian« and the The prevailing concept, in which Syria, 1517 the taking of Egypt »European«, religion played a key the Christian Occident, the Latin- and the destruction of the Mama- role. The Turk, one was convinced, European Christianitas united un- luke empire, 1521 the conquering owed his power, greatness and der the jurisdiction of the Roman of Belgrade, 1522 the conquering charisma to the diabolic demotion pope, designed, invented and of Rhodes, 1526 the Battle of Mo- of the church teaching which had imagined itself as a religious and hacs and the end of an indepen- been his starting point. The Turk cultural »unit« – Europe – , owed dent Hungarian kingdom, 1529 confronted Latin-European Chris- its latest revival to its separating it- the first Ottoman siege of Vienna, tendom with its own organisa- self off from the »Turk« after the 1538 the victory over the Venetian tional weaknesses. And the con- conquest of Constantinople. The fleet, 1541 the conquest of Buda cept of Europe made it possible for Ottoman Empire, regarded as a and the annexation of Central the Hapsburg emperors to stage massive, real or perceived threat, Hungary. The fear of the Turk taking and to postulate that »unit« as formed the one »counter-pole« possession of Europe, felt to be an capable of acting on its own ac- (Le Goff) in Christian Europe’s for- apocalyptic divine punishment, count in the realm of political mation and assertion of its iden- detained the »stranger« from the thought, something that Europe tity.The drama of the Turk danger, east as the opposite of one’s own was lacking, split as it was into na- of course, is fed not least by the people. Within the framework of tional, territorial and finally con- fessional interests. As a contrast of his own, the European experience of differences and plurality, the Turk seemed to be the quintessence of a monolithically closed, autho- ritarianly collected, powerfully united system of rule. The confes- sional contrast which dramatically intensified the inner turmoil of the Latin-Europe in the 16th century contributed towards reducing Turkish-European antagonism as the Turk was discovered every- where in the other confessions. On the political level it was not least the Turkish question that made co-operation between competing points of view necessary and thus had an integrating effect.

62 Universität Göttingen RELIGION UND MACHT

Zentrum für die Kulturen Europas und des Mittelmeerraumes in der Antike (KEMA)

(red.) Das Zentrum für die Kulturen kultät das Institut für Ökumeni- semester 2006/2007 in den von Europas und des Mittelmeerraumes sche Theologie und orientalische der Philosophischen Fakultät an- in der Antike (KEMA) wurde 2004 Kirchengeschichte. Direktor des gebotenen Zwei-Fächer-Bachelor- als interdisziplinär ausgerichtete KEMA ist der Altphilologe Prof. Studiengang integriert sind. Gleich- wissenschaftliche Einrichtung der Dr. Peter Kuhlmann vom Seminar zeitig bietet das KEMA den Mono- Philosophischen Fakultät in Ko- für Klassische Philologie. Fach-Studiengang »Antike Kultu- operation mit der Theologischen Die Einwerbung und Betreu- ren« an, der in seiner inhaltlichen Fakultät an der Universität Göttin- ung von Drittmittelprojekten und Vielfältigkeit und strukturellen gen gegründet. Das Zentrum hat damit die Förderung des wissen- Flexibilität ein bundesweit bisher das Ziel, die Forschungs- und Lehr- schaftlichen Nachwuchses ist eine einzigartiges Angebot darstellt. aktivitäten auf dem an der Georgia wesentliche Aufgabe des Zentrums. Das Spektrum umfasst die Fächer Augusta traditionell bedeutenden In Planung ist dazu die Einrich- Altorientalistik, Ägyptologie, Kop- Gebiet der Altertumswissenschaf- tung einer Forschergruppe zur Ent- tologie, Ur- und Frühgeschichte, ten weiterzuentwickeln sowie stehung und Entwicklung der Al- Alte Geschichte, Klassische Ar- fächerübergreifende Forschung tertumswissenschaften unter Be- chäologie, Griechische Philologie, über die antiken und vorantiken rücksichtigung der besonderen Lateinische Philologie, Spätantike Kulturen Europas und des Mittel- Stellung der Universität Göttin- und Christlicher Orient. Gegen- meerraumes voranzutreiben. gen. Das Zentrum und seine Mit- stand der Ausbildung sind die Kul- Weiterhin ist die Entwicklung, glieder kooperieren national und turen des frühen europäischen Rau- Organisation und Koordinierung international mit zahlreichen Wis- mes sowie des Mittelmeeres und neuer geisteswissenschaftlicher senschaftseinrichtungen. Es sind seiner Peripherie, vor allem das ur- Studiengänge im Rahmen der Ba- dies unter anderem das Deutsche und frühgeschichtliche Europa, chelor-Master-Struktur eine der Archäologische Institut in Berlin Griechenland, das Römische Reich, Hauptaufgaben des Zentrums. mit Dependencen in Athen (Grie- Syrien-Palästina, Ägypten und Me- Dem KEMA gehören die Seminare chenland), Kairo (Ägypten), Madrid sopotamien. Der Bachelor-Studien- für Altorientalistik, für Ägyptologie (Spanien) und Rom (Italien) sowie gang »Antike Kulturen« wird in ei- und Koptologie, für Ur- und Früh- die Hebrew University Jerusalem nen für 2009/2010 geplanten Mas- geschichte und für Klassische Phi- (Israel) und die Facheinrichtungen ter-Studiengang einmünden. lologie an. Beteiligt sind des wei- der Universitäten Basel (Schweiz) In der Öffentlichkeit wird sich teren das Althistorische Seminar, und Oxford (Großbritannien). das KEMA zum Jahr der Geistes- das Archäologische Institut, die In der Lehre werden am Zen- wissenschaften 2007 im Winter- Abteilung Christliche Archäologie trum die Fächer aus dem Bereich semester 2007/2008 mit einer und Byzantinische Kunstgeschichte der Altertumswissenschaften ko- Vortragsreihe zum Thema »Stadt sowie aus der Theologischen Fa- ordiniert, die seit dem Winter- in der Antike« präsentieren.

Georgia Augusta 5 | 2007 63 Sie gewähren Einblick in Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums, die vor über 2000 Jahren die Gemü- ter in Palästina bewegten. Die Rede ist von den Überresten der annähernd 900 Handschriften hebräischer, aramäischer und griechischer Texte, die in den Jahren 1947 bis 1956 in der Wüste Juda bei der Ruinenstätte Chirbet Qumran und weiteren Orten am Toten Meer gefunden wurden. Sie stammen aus der Zeit zwischen 250 vor und 150 nach Christus. Von besonderem Interesse sind dabei die Zeugnisse der Gemeinschaft von Qum- ran. Sie geben Einblick in das Leben und die radikale Ideenwelt dieser besonderen Gruppierung des antiken Ju- dentums. Die Qumranforschungsstelle an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen beschäftigt sich mit diesen Zeugnissen der jüdischen Religionsgeschichte, die bei ihrer Entdeckung vor rund sechzig Jahren großes Aufsehen erregt.

Die Texte vom Toten Meer Innerjüdische Konflikte im Zeitalter des Hellenismus

Reinhard Gregor Kratz

Zu berichten ist von einer Arbeit, die vergleichsweise in der Stille geschieht: die wissenschaftlichen Vorhaben der Qumranforschungsstelle an der Georg- August-Universität Göttingen. Hier werden die Texte vom Toten Meer in dreierlei Hinsicht untersucht: erstens auf ihre materielle Beschaffenheit, zweitens auf ihre sprachliche Gestalt, und drittens auf ihre literatur- und theologiegeschichtliche (mithin auch religions- oder kulturgeschichtli- che) Stellung im Kontext der Überlieferung des antiken Judentums. In der einen oder anderen Weise haben alle drei Aspekte mit den Konflikten zu tun, von denen die Texte zeugen. Die materielle Rekonstruktion Die Originale der Handschriften bestehen aus Leder oder Papyrus und befinden sich in einem sehr schlechten Zustand. Nur neun der Einige der Höhlen scheinen rund 900 Handschriften, also ein schon im Altertum entdeckt und Prozent des gesamten Materials, teilweise ausgeplündert worden zu sind annähernd vollständig als sein. Und um 800 n. Chr. schreibt Schriftrolle erhalten. Von den und Sadduzäern durch religiösen ein Patriarch, Timotheus I. von Se- übrigen sind nur kleinere oder Rigorismus auszeichnete. Die Be- leukia, er habe von glaubwürdi- größere Bruchstücke übrig geblie- schreibung stimmt in vielen Punk- gen Zeugen gehört, dass zehn Jah- ben. Doch haben die Beschädi- ten mit dem Bild überein, das man re zuvor in einer Felshöhle in der gungen auch ihr Gutes: Von Hart- aus den Texten vom Toten Meer von Nähe von Jericho Bücher in he- mut Stegemann, dem 2005 ver- der Gruppierung gewinnt, die sich bräischer Schrift gefunden wor- storbenen ehemaligen Leiter der hier einfach »die Gemeinschaft« den seien – durch einen Zufall, in- Forschungsstelle, wurde ein Ver- (hebräisch: ha-yachad) nennt. dem der Hund eines arabischen fahren entwickelt, wie man an- Vor solchem Hintergrund nimmt Jägers verschwand und nicht hand von Bruchkanten, Löchern es nicht wunder, dass diese Ge- mehr zurückkehrte, sein Herr ihm und sonstigen Spuren der materi- meinschaft alles daran setzte, ihre bis in die Felshöhle folgte und dort ellen Beschaffenheit den Ort der heiligen Schriften nicht in die die Bücher entdeckte. Natürlich Fragmente in einer Schriftrolle be- Hände von Heiden fallen zu las- wissen wir nicht, ob diese Funde stimmen und mit einigem Glück sen. Obwohl sie gar nicht aktiv an in den uns bekannten Höhlen von den Umfang der ganzen Rolle be- den beiden jüdischen Aufständen Qumran oder anderswo gemacht rechnen kann. Hierfür sind Höhe gegen die römische Oberherr- wurden. Doch sprechen die geo- und Breite einer Textspalte (Ko- schaft in Palästina der Jahre 66 bis graphische Lage und die Fund- lumne) auszumessen, Zeilen und 74 n. Chr. und 132 bis 135 n. Chr. umstände eigentlich dafür. Buchstaben zu zählen, Nahtränder beteiligt war, musste auch sie das Was von den Schriftrollen und sich gleichende Beschädi- Schlimmste befürchten. Solange übrig geblieben und nicht durch gungsprofile zu identifizieren und es noch ging, wickelte man die Wind und Wetter oder durch frü- deren Abstände in Relation zur Schriftrollen sorgsam in Leinen- here Funde verloren gegangen ist, Wicklung einer Schriftrolle zu be- tücher ein und barg sie in Tonkrü- wurde erst 1947 wieder entdeckt rechnen. Auf diese Weise wurde gen, als dann die Zeit drängte, – wiederum durch einen Zufall. in Göttingen bereits eine ganze brachte man sie auch ohne Be- Diesmal war es ein arabischer Reihe von materiellen Rekon- hältnisse in die Höhlen, um sie vor Hirtenjunge, der einer entlaufe- struktionen durchgeführt, deren den heranrückenden römischen nen Ziege nachging oder, wie es Ergebnisse in die Edition der Texte Soldaten, die sie verunreinigen in anderen Berichten heißt, gern eingegangen sind. und vernichten würden, in Sicher- Steine in Felsspalten warf und Fragmente der Hand- Der schlechte Erhaltungszu- heit zu bringen. Hier lagen sie und dabei einen der Tonkrüge traf, in schriften von Qumran. Abbildungen: Qumran- stand, der diese Arbeit nötig macht, waren der Witterung ausgesetzt. denen die Schriftrollen lagerten. forschungsstelle der erzählt von der bewegten Ge- Universität Göttingen schichte der Handschriften. Sie wurden in elf Höhlen am Nord- westende des Toten Meeres depo- niert, um sie vor der Vernichtung durch die Römer zu retten. Woher sie stammen und wer sie versteckt hat, ist schwer zu sagen. Es gibt gute Gründe, die Texte in den Höhlen mit der Siedlung in Chirbet Qum- ran zusammen zu sehen und bei- des mit der Gruppe der Essener in Verbindung zu bringen, von de- nen antike Quellen berichten. Die Essener gelten als eine besonders fromme Gruppe, die sich im Un- terschied zu den aus dem Neuen Testament bekannten Pharisäern

Georgia Augusta 5 | 2007 65 KULTUREN UND KONFLIKTE

Die weitere Geschichte bis zur Das Qumran-Lexikon hebräischen und aramäischen Entdeckung der letzten Höhle im Nachdem die erste Edition der Texte vom Toten Meer erarbeitet. Jahr 1956 ist geprägt von den po- Textfunde Anfang 2000 von einem In einer eigens dafür konzipierten litischen Konflikten im ehemali- internationalen Editorenteam un- Datenbank werden sämtliche Tex- gen britischen Mandatsgebiet und ter der Herausgeberschaft von te und Lesungen einzelner Stellen den Rivalitäten zwischen den be- Professor Emanuel Tov (Jerusalem) erfasst und für jedes einzelne Wort teiligten Gruppen und Staaten, die offiziell abgeschlossen wurde und (Lemma) die sprachgeschichtliche um die Besitz-, Eigentums- und in 39 Bänden der Reihe »Discover- Ableitung geklärt (Etymologie), Publikationsrechte an den Schrift- ies of the Judaean Desert« (DJD) die belegten Formen gebucht rollen wetteiferten. Um diese Ge- und einigen anderen Ausgaben (Morphologie) und die verschie- schichte haben sich zahlreiche nahezu vollständig vorliegt, ist die denen Bedeutungen dokumentiert Legenden gebildet, die bis heute Qumranforschung in eine neue (Semantik). das Bedürfnis der Medien nach Phase getreten. Eine der zentralen Auch diese Arbeit hat etwas Skandalen befriedigen, sich aber Aufgaben besteht in der philologi- mit den Konflikten zu tun, von de- alle längst als falsch herausgestellt schen und lexikographischen Er- nen die Texte Zeugnis geben. Sie haben. Richtig ist, dass es sich um schließung der Texte. Durch die ist einer Sprache gewidmet, die in den wohl spektakulärsten und Entdeckung der Texte vom Toten den Texten vom Toten Meer eine wichtigsten Handschriftenfund Meer hat sich die Basis unseres Art Renaissance erlebte. Bis dahin des 20. Jahrhunderts handelt. Wissens über die hebräische und war das Hebräische, das nur noch In den Jahren 1956 bis 1958 aramäische Sprache erheblich von Priestern und Gelehrten ge- wurden die Handschriften von verbreitert. Denn in Qumran wur- pflegt wurde, weitgehend vom verschiedenen Ländern Stück um den nicht nur die ältesten Hand- Aramäischen verdrängt worden, Stück für das Israel-Museum (un- schriften der Bibel gefunden, der Amtssprache im Westen des ter israelischer Verwaltung) oder sondern auch die hebräischen persischen Reiches (539 bis 333 v. das Rockefeller-Museum in Jeru- und aramäischen Originale von Chr.), die in der ganzen Zeit des salem (bis 1967 unter jordani- jüdischen Schriften, die bisher nur Zweiten Tempels (520 v. Chr. bis scher Verwaltung) angekauft und in sekundären Versionen vor- 70 n. Chr.) die gesprochene Spra- ihre Erforschung einem internatio- lagen, das heißt in griechischer che der Juden in Palästina blieb. nalen Team von Wissenschaftlern oder äthiopischer Übersetzung, Mit Alexander dem Großen und übertragen. Dieses Team machte sowie Schriften, die wir bis dahin seinen Nachfahren kam das Grie- sich sogleich daran, die Tausende gar nicht kannten. Die Texte chische dazu, das zunächst vor al- von Fragmenten, die schon durch schließen eine sprachgeschichtli- lem von den Juden in der ägypti- so viele Hände gegangen waren, che Lücke, die bisher zwischen schen Diaspora gesprochen und zu identifizieren und zu sortieren, dem Biblischen und dem späteren geschrieben, mit der Zeit aber auch zu katalogisieren und zu fotogra- Rabbinischen Hebräisch bezie- von Juden in Palästina – neben dem fieren, zu entziffern und zu veröf- hungsweise Aramäisch klaffte. weiterhin dominierenden Aramäi- fentlichen. Auf dieser grundlegen- In einem zunächst von der schen – angenommen wurde. den Arbeit baut die materielle Re- Deutschen Forschungsgemein- Sowohl im Mutterland wie in konstruktion auf, die heute in Göt- schaft (DFG) finanzierten, seit dem der Diaspora war man bemüht, tingen geleistet wird und mit der 1. Januar 2006 an der Akademie den Glauben der Väter und mit Wiederherstellung mancher Texte der Wissenschaften zu Göttingen ihm die jüdische Identität im Ge- (wie 4QMidrEschat durch Privat- im so genannten Akademienpro- wand der neuen Sprachen zu be- dozentin Dr. Annette Steudel oder gramm von Bund und Ländern an- wahren. So finden sich schon in 4QpHos durch Dr. Roman Viel- gesiedelten Langfristprojekt wird der Bibel, in den Büchern Esra hauer) nicht unwesentlich dazu in Göttingen mit den modernsten und Daniel, aramäische Passagen. beigetragen hat, die innerjüdi- Mitteln der elektronischen Daten- Aber es wurden auch ganze schen Konflikte besser zu verste- verarbeitung ein philologisches Schriften, die der Bibel sehr nahe hen, die sich damals abspielten. Lexikon über die nichtbiblischen stehen, in aramäischer Sprache

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abgefasst und die Bibel selbst für handeln, die Regeln ihres Zusam- den gottesdienstlichen Gebrauch menlebens enthalten und ihre ins Aramäische übertragen. Sol- Ideen entfalten, in hebräischer che Übersetzungen heißen Targu- Sprache geschrieben. Das ist ein mim. Im ägyptischen Alexandrien Hebräisch, welches sich stark am entstand die griechische Überset- biblischen Wortschatz orientiert, zung der Torah, der fünf Bücher aber – etwa mit der Selbstbe- Mose, denen nach und nach die zeichnung ha-yachad »die Ge- anderen biblischen Bücher folg- meinschaft« – auch eigene Wege ten. Nach der Legende wurde die geht. Auf diese Weise machte die Torah von 72 Priestern aus Jerusa- Gemeinschaft von Qumran ihren lem in 72 Tagen übersetzt, wes- Anspruch geltend, im Unterscheid wegen das griechische Alte Testa- zu vielen anderen jüdischen ment die »Septuaginta« (die »70«, Gruppierungen, insbesondere sol- abgekürzt LXX) heißt. Die große chen, die sich der Hellenisierung kritische Edition der Septuaginta öffneten, das ganze und wahre entsteht in Göttingen, ebenfalls im (biblische) Israel zu repräsentieren. Rahmen eines Langfristprojekts der Akademie der Wissenschaften, Rechtgläubigkeit und Ketzerei dem »Septuaginta-Unternehmen«. Die Auseinandersetzung über die Doch nicht alle waren mit die- Frage, wer das ganze und wahre ser Entwicklung einverstanden. Israel repräsentiere, führt unmit- Nicht ganz zu Unrecht befürchte- telbar in das dritte Gebiet, das von te man, dass die Verwendung der der Göttinger Qumranforschungs- neuen Sprachen einen Einfluss auf stelle bearbeitet wird: die Stellung das Denken und die Lebensge- der Texte vom Toten Meer im Rah- wohnheiten habe und das Juden- men der Literatur- und Theologie- tum von seinen Wurzeln, den geschichte des Judentums in hel- Überlieferungen der Väter, ent- lenistischer Zeit. In den vergange- fremde. Aus diesem Grunde be- nen sechzig Jahren wurde dazu sann man sich wieder auf das He- schon viel gearbeitet und man- bräische, die Sprache der heiligen ches geleistet, doch steht die For- Schrift und Gottes selbst, wie es in schung nach Vollendung der Erst- einer in frommen Zirkeln und so publikation aller Texte auch in die- auch in Qumran viel gelesenen ser Hinsicht noch ganz am Anfang. Schrift, dem Jubiläenbuch, heißt: Ein Problem, dem sich die Göt- wenden andere Gattungen und Das Hebräische wurde Abraham tinger Forschungen in besonderer Bilder und enthalten andere Ideen auf Geheiß Gottes von einem En- Weise widmen, stellen die von der – gewissermaßen eine Welt für gel eingegeben und ist seither die Gemeinschaft von Qumran selbst sich, in die sich die Gemeinschaft Sprache Israels. verfassten Texte dar. Während die von Qumran zurückgezogen hat. Zwar haben sich in Qumran Abschriften von biblischen und Es ist eine Welt, die stark dualis- auch Handschriften vieler aramäi- ihnen verwandten Büchern in das tisch geprägt ist und von der es- scher Werke sowie Exemplare der Bild passen, das man sich bisher chatologischen Naherwartung lebt, griechischen Übersetzung der vom Judentum zur Zeit des Zwei- in der die »Söhne des Lichts« ge- biblischen Schriften gefunden, die ten Tempels gemacht hat, fallen gen die »Söhne der Finsternis« zweifellos geschätzt wurden. die typisch qumranischen Schrif- Krieg führen, in der alles seit der Doch sind diejenigen Schriften, ten aus dem Rahmen: Sie spre- Schöpfung vorherbestimmt ist und die von der Gemeinschaft selbst chen eine andere Sprache, ver- die dem heiß ersehnten Ende ent-

Georgia Augusta 5 | 2007 67 Centrum Orbis Orientalis (CORO)

(red.) Das Centrum Orbis Orienta- gung der semitischen Sprachen trum in der Vermittlung der klassi- lis (CORO) – Zentrum für semitis- und Kulturen und der wechselsei- schen und orientalischen Alter- tische und verwandte Studien ist tigen kulturellen Einflüsse beste- tumswissenschaften an eine brei- eine wissenschaftliche Einrich- hen vielfältige Anschlussmöglich- tere interessierte Öffentlichkeit. tung, die gemeinsam von der Ge- keiten. Dem Zentrum gehören da- Eingebunden in das CORO sind org-August-Universität Göttingen her auch Vertreter der Ägyptolo- das Graduiertenkolleg »Götterbil- und der Akademie der Wissen- gie, der Alten Geschichte, der der – Gottesbilder – Weltbilder«, schaften zu Göttingen getragen Klassischen und der Christlichen die Emmy-Noether-Forschergruppe wird und seit Dezember 2005 be- Archäologie, der Iranistik, der »Ratio Religiones« sowie die Spra- steht. Dem Zentrum gehören Wis- Klassischen Philologie und der chenschule »Ludus Linguarum«. senschaftlerinnen und Wissen- Religionswissenschaft an. Direk- Thematisch beschäftigt sich das schaftler der Philosophischen und tor des Coro ist der Göttinger CORO mit der Konfiguration, der Theologischen Fakultät an. Theologe Prof. Dr. Reinhard Gre- Transformation und Interaktion Sein besonderes Profil besteht in gor Kratz. der drei wichtigsten Überliefe- der Focussierung auf die semiti- Ziel des CORO ist es, Forschung rungsbereiche der klassischen sche Sprachenfamilie, die sich und Lehre in den semitischen Phi- und orientalischen Antike und ih- über einen Zeitraum vom 3. Jahr- lologien und angrenzenden Fach- res Nachlebens: Religion, Politik tausend vor Christus bis in die Ge- richtungen in Göttingen zu koor- (einschließlich Recht) und Weis- dinieren und die interdisziplinären heit. Im Zentrum sind Projekte zur Kooperationen der Geisteswissen- Grundlagenforschung, zum kul- schaften auszubauen. Es will eine turhermeneutischen Diskurs so- organisatorische Plattform für die wie zur Ausbildung und Förde- in Göttingen an der Universität rung des Nachwuchses vereinigt und in der Akademie vorhandene und miteinander vernetzt, die ei- altertumswissenschaftliche Kom- nem dieser Bereiche oder ihrem petenz bieten, um die Entwick- Zusammenspiel gewidmet sind. lung und Planung gemeinsamer Derzeit sind dem CORO neun sol- Forschungsvorhaben, die Koordi- cher Projekte der Akademie und nation interdisziplinärer Studien- der Universität angegliedert, dar- genwart entwickelt und über wei- gänge und eine effiziente Nach- unter die Vorhaben »Lexikalische te geographische Räume verbrei- wuchsförderung zu ermöglichen. Listen aus Assur« und das »Göttin- tet hat. Als Basisfächer sind die Darüber hinaus werden im Rah- ger Prosopographische Lexikon« Altorientalistik (Keilschriftfor- men des CORO bestehende natio- (beide gefördert durch die Deut- schung), die Bibelwissenschaften nale und internationale Koopera- sche Forschungsgemeinschaft), das (Altes und Neues Testament), die tionen (besonders mit arabischen Editionprojekt »SAPERE« (bisher orientalische Kirchengeschichte Ländern und Israel, aber auch den gefördert durch die Thyssen-Stif- sowie die Arabistik und Islamwis- USA, Kanada, den Niederlanden tung, angemeldet für das Akade- senschaft beteiligt; für die Juda- und skandinavischen Ländern) ge- mienprogramm von Bund und Län- istik bestehen Kooperationen. pflegt und weiterentwickelt. Eine dern) sowie die Qumranforschung Aufgrund der vielfältigen Verzwei- besondere Aufgabe sieht das Zen- und die Septuaginta-Edition.

68 Universität Göttingen RELIGION UND MACHT

gegengeht, ein Ende freilich mit geistliche und die weltliche Macht legung der biblischen Überliefe- Schrecken für die Gottlosen und an sich und gründeten einen jüdi- rung, sind in das rabbinische Ju- Genugtuung für die Frommen. schen Staat, nominell auf der Ba- dentum eingegangen, das nach Doch bleibt es nicht bei den sis der Torah, faktisch jedoch nach der Zerstörung des Tempels zwei- Ideen: Die Texte geben auch Aus- hellenistischem Vorbild. Die Pole- fellos den Hauptstrom bildete. kunft darüber, was man zu tun mik der Gemeinschaft von Qum- Aber auch andere Religionen oder und zu lassen hat, um nicht zu ran richtet sich gegen beide, die Kulturen sind auf solche Gruppen den Gottlosen, sondern zu den Hellenisten und die Repräsentan- angewiesen. Sie sind es, die an al- Frommen zu gehören, die allein ten des neuen jüdischen Staates. ten oder an alt ausgegebenen neu- Israel repräsentieren und das end- Die Anzeichen einer fanati- en Grundlagen festhalten und die zeitliche Gericht überstehen. schen religiösen Sekte scheinen Identität im Wechsel der Zeiten Ihre Sprache und radikale Ideen- durchaus gegeben. Doch gleich- und Moden bewahren. Sie sind es, welt lassen die Gemeinschaft von zeitig bringen die Texte vom Toten die bei aller notwendigen Verän- Qumran als das erscheinen, was Meer unser Bild vom Hauptstrom derung und Anpassung an neue man eine fundamentalistische des Judentums durcheinander und politische oder kulturelle Umstän- Sekte nennen würde. Und tat- werfen eine Reihe ungelöster Fra- de in Erinnerung rufen oder fest- sächlich unterscheidet sich die gen auf. So ist es die Gemein- stellen, was unaufgebbar ist, will Gemeinschaft von allen anderen schaft von Qumran, die die bibli- sich eine Religion oder Kultur Gruppen des damaligen Juden- schen Schriften tradiert, auslegt nicht selbst aufgeben. Dass solche tums, von denen wir Kenntnis ha- und befolgt. Welche Rolle die To- Gruppen Konflikte erleben oder ben, und sieht sich auch selbst rah und die anderen biblischen provozieren, versteht sich von von ihnen und der sie umgeben- Schriften für die Priester und selbst. Unter welchen Bedingun- den heidnischen Umwelt strikt ge- Schreiber am Zweiten Tempel in gen sie zum Mittel der Gewalt trennt. Es besteht Anlass zu der Jerusalem gespielt hat, wissen wir greifen, ist schwer vorauszusagen. Vermutung, dass das Oberhaupt nicht. Sollte die Gemeinschaft Im Falle von Qumran lässt sich der Gemeinschaft von Qumran, von Qumran Recht damit haben, studieren, wie kompliziert der der so genannte »Lehrer der Ge- dass man am Tempel das Gesetz Umgang mit solchen Gruppen ist, rechtigkeit«, Anspruch auf das nicht kannte oder es mit seiner Be- aber auch, welche Bedeutung sie Amt des Hohenpriesters hatte, folgung nicht ganz so genau gewinnen können. Vom damali- aber übergangen oder sogar aus nahm? Gehört vielleicht die bibli- gen Zentrum des Judentums, dem seinem Amt entfernt wurde. Ver- sche Überlieferung selbst gar Tempel in Jerusalem, separiert, hat antwortlich dafür waren die Mak- nicht wirklich zum Hauptstrom diese Gemeinschaft die biblische kabäer und späteren Hasmonäer. des Judentums, sondern repräsen- Überlieferung in Ehren gehalten. Im Namen Gottes und der Torah tiert die Literatur einer religiösen Ohne ihr Gewaltpotenzial zu ent- waren sie einst ausgezogen, um Minderheit, die erst nach und falten, das in ihrer Literatur durch- gegen die Hellenisierung des Ju- nach an Einfluss gewonnen hat aus enthalten ist, wurde sie von dentums zu kämpfen und die reli- und zum Inbegriff des Judentums den römischen Truppen verfolgt gionspolitischen Reformen rück- wurde? und vernichtet. Und doch hat das gängig zu machen, die die helle- Man wird jedenfalls sagen Alte Testament, die Überlieferung, nistische Partei in Jerusalem mit müssen, dass ohne solche extre- der diese Gemeinschaft wie kaum Unterstützung durch den König men Gruppen wie die von Qum- eine andere ihrer Zeit verpflichtet Antiochus IV. (175 bis 164 v. Chr.) ran das Judentum kaum überlebt war, überlebt und zwei Weltreli- durchgesetzt hatte. Nachdem sie hätte. Viele der Ideen und Prakti- gionen hervorgebracht: Judentum dies erreicht hatten, rissen sie die ken, vor allem die Pflege und Aus- und Christentum.

Georgia Augusta 5 | 2007 69 KULTUREN UND KONFLIKTE

The Göttingen Qumran Re- search Centre (Göttinger Prof. Dr. Reinhard Gregor Kratz, Jahrgang 1957, stu- Qumranforschungsstelle) associa- dierte evangelische Theologie und Gräzistik an den ted with the Faculty of Universitäten Frankfurt am Main, Heidelberg und of the Georg-August Universität Zürich (Schweiz). 1987 wurde er an der Universität devotes its attention to the study of Zürich promoviert, an der er sich 1990 für das Fach ancient texts and documents re- Altes Testament habilitierte. Von 1991 bis 1995 war lating primarily to the history of Prof. Kratz als Privatdozent in Zürich sowie als Heisenberg-Stipen- Jewish religion. Their discovery diat der DFG tätig und nahm anschließend (1995) den Ruf an die Ge- sixty years ago had caused quite a orgia Augusta als Professor für Altes Testament an. Prof. Kratz ist seit sensation as well as provoking 1999 Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, war several heated arguments and 2002/2003 Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin und conflicts. Equally, the documents 2006/2007 Visiting Research Fellow in Christ Church (Oxford). Prof. Kratz leitet die Qumranforschungsstelle an der Theologischen Fakultät offer a rare insight into the con- sowie das Septuaginta-Unternehmen und das Projekt »Hebräisches flicts within ancient – und Aramäisches Wörterbuch über die nicht-biblischen Texte vom To- conflicts that stirred the emotions ten Meer«, die beide an der Akademie der Wissenschaften angesie- of the people in Palestine 2000 delt sind. Er ist Direktor des Coro – Centrum Orbis Orientalis, zwei- years ago. Here, we are speaking ter Sprecher des Graduiertenkollegs »Götterbilder – Gottesbilder – of the fragmentary remains of al- Weltbilder« sowie Partnerschaftsbeauftragter der Universität für die Ko- most 900 manuscripts of Hebrew, operationen mit den israelischen Universitäten. Die Forschungs- and Greek texts that can schwerpunkte von Prof. Kratz sind die Literatur und Theologie des Al- be dated between 250 B.C.E and ten Testaments, Altorientalistische und Israelitische Prophetien so- 150 C.E., discovered between 1947 wie das Judentum in persischer und hellenistisch-römischer Zeit. and 1956 in the Judean desert in the vicinity of the ruins Chirbet Qum- dictionary will be a significant step maic was the colloquial and Greek ran and at several other locations towards a better understanding of the official language. The Helleni- alongside the Dead Sea. the Hebrew language between the zation of Judaism is countered by However, one must report of older biblical Hebrew and the later the Hebraization of tradition. work that takes place to a large ex- Rabbinic Hebrew and Aramaic. Finally, the literary and theolo- tent in the recluse of a scholar’s The last task of the Research gical aspect leads us directly into study: the scholarly enterprise of Centre is conducted mainly by tensions and conflicts within Ju- Qumran Research Centre. Here, doctoral work. Here, the question daism regarding the right path the Dead Sea Scrolls are scruti- of the relationship between the during the Period of the Second nized under three aspects: first Dead Sea Scrolls, the biblical tra- Temple (539 B.C.E – 70 C.E.). their material texture, second their dition and the extra-biblical Jewish Qumran upsets our traditional linguistic character, and third their literature of the Second Temple picture of post-exilic Judaism de- literary and theological (i.e. their Period is addressed. This question rived from the Bible, in which a religious and cultural) position is especially relevant for those Jewish community is centred on within the context of other ancient texts that were written at Qumran the Temple in Jerusalem and is Jewish traditions. itself and address topics relating to keeping the Jewish law, i.e. the The first task is devoted to re- the community there. Torah. Separated from the Temple constructing the original format of In a way all three aspects of this and the centre of Judaism, a radi- each scroll as well as placing the research are related to the con- cal sectarian group held the bibli- fragments. This is done by looking flicts witnessed in the texts them- cal tradition in reverence and put at the damage as well as the ma- selves. The place of discovery as it into practice. Without using terial consistency of each frag- well as the fragmentary condition their violent potential, a potential ment. The second task, formerly of the texts bear witness to the vio- that can be found in their writings funded by the Deutsche For- lent end of the religious commu- itself, this group is – together with schungsgemeinschaft (DFG) and nity under Roman rule. Assemb- the insurgents of 66-74 C.E. and now attached to the Academy ling the fragments via material re- 132-135 C.E. – persecuted and (Akademie der Wissenschaften zu construction illuminates several annihilated by the Romans. In Göttingen), consists of the compi- conflicts of the times that were spite of this, the tradition to which lation of a philological dictionary previously unknown to us. The this community adhered, the Old of the non-biblical texts from the linguistic character of the Hebrew Testament, survived and became Dead Sea, both Hebrew and Ara- of several texts shows an intentio- the founding document of two maic. It is done by using state-of- nal return to the language of the world religions: Judaism the-art database technology. This fathers during a period when Ara- and Christianity.

70 Universität Göttingen Science and Scientists as Bridge-Builders Die Universität Göttingen intensiviert ihre Zusammenarbeit mit der Hebräischen Universität Jerusalem

(red.) Die Georg-August-Universität Göttingen ist der Disciplines of European Ethnology and Folklore in Ger- Überzeugung, dass vorurteilsfreie und innovative For- many and Israel« angesiedelt, das mit Forschungs- schungskooperationen Brücken zwischen Kulturen geldern aus dem Niedersächsischen Vorab der Volks- und Völkern bauen. Wissenschaftliche Zusammenar- wagenStiftung finanziert wird. Auf Göttinger Seite ist beit leistet damit über den inhaltlichen Gewinn hinaus daran das Institut für Kulturanthropologie/Europäi- einen Beitrag zur Verständigung und Konfliktlösung. sche Ethnologie beteiligt. Wissenschaftler der Hebräi- Die Kooperationen zwischen der Georgia Augusta mit schen Universität Jerusalem wirken auch an dem neu- Universitäten in Israel und Palästina sind dafür bei- en »Centrum Orbis Orientalis – Zentrum für semitisti- spielhaft und fördern den Dialog mit dieser Region. sche und verwandte Studien« mit. Eine gemeinsame Unter dem Motto »Science and Scientists as Bridge- Lösung von Problemen vor Ort, wie sie beispielswei- Builders in the Middle East« stellten die Universität se in der Wasserbewirtschaftung auftreten, wird in ei- Göttingen und die Hebräische Universität Jerusalem nem Projekt an der Universität Göttingen mit dem Ti- gemeinsame Forschungsprojekte Europa-Politikern tel »Groundwater artificial recharge based on alter- und Entscheidern aus der europäischen Wirtschaft am native sources of water: advanced integrated techno- 28. November 2006 in Brüssel vor. Die Partneruni- logies and management« zusammen mit israelischen versitäten hatten dazu auch die palästinensische Uni- und palästinensischen Wissenschaftlern und weiteren versität Al-Quds eingeladen. Die drei Hochschulen europäischen Partnern erarbeitet. präsentierten sich in der viel beachteten Veranstal- Am 7. März 2006 hatten die Hebräische Universität tung mit erfolgreichen Beispielen wissenschaftlicher Jerusalem und die Georg-August-Universität ihre Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. langjährigen Wissenschaftskontakte mit einem Part- Wissenschaftliche Kontakte zwischen der Hebräi- nerschaftsvertrag auf eine neue Basis gestellt. Die Ver- schen Universität Jerusalem und der Universität Göt- einbarung, die der Göttinger Universitäts-Präsident tingen bestehen bereits seit mehr als 30 Jahren und Prof. Dr. Kurt von Figura an der Universität in Jerusa- waren 1975 durch ein erstes Partnerschaftsabkommen lem unterzeichnete, umfasst neben der Entwicklung geregelt gewesen. Von 1975 bis 1990 wurden jähr- und Durchführung gemeinsamer Forschungsvorhaben lich gemeinsame wissenschaftliche Konferenzen auch den Austausch von Studierenden und Dozenten durchgeführt; eine Tradition, die mit einer Konferenz sowie die gegenseitige Versorgung mit Lehr- und For- im Juni 2006 in Göttingen wieder aufgenommen wur- schungsmaterialien. Partnerschaftsbeauftragter der de. In den Geisteswissenschaften ist das Projekt »Per- Georgia Augusta ist der Theologe Prof. Dr. Reinhard spectives on Cultural Studies: A Critical History of the Gregor Kratz.

Georgia Augusta 5 | 2007 71 KULTUREN UND KONFLIKTE

Anfang 2006 vermeldete der Guardian, dass ein wachsender Anteil der englischen Studienanfänger im Fach Biologie die Evolutionstheorie ablehne. Ohne die Dinge beim Namen zu nennen, wurde hinzugefügt, dass es sich um Angehörige ethnischer Minderheiten handele. Offener äußerte sich ein Jahr zuvor der Volkskrant über muslimische Oberschüler und Studenten in den Niederlanden, die ihre Lehrer von der Unhaltbarkeit des Dar- winismus überzeugen wollen. Offenkundig geht in Europa die organisierte Kritik an der Evolutionstheorie nicht mehr allein von kleinen Zirkeln protestantischer Sektierer aus. Bei der Recherche, worauf dies zurückzuführen sein könnte, stößt man bald auf Webseiten, in denen der Darwinismus als Unfug abgewertet und für alle ge- sellschaftlichen Übel verantwortlich gemacht wird. Dabei mag überraschen, dass diese Propaganda aus der Tür- kei stammt, einem Land, dass nach der kemalistischen Kulturrevolution in der internationalen Diskussion um die Evolutionstheorie kaum präsent war. Tatsächlich jedoch, so der Islamwissenschaftler Dr. Martin Riexinger vom Seminar für Arabistik und Islamwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen, wird seit den späten 1990er Jahren auf internationaler Ebene eine Auseinandersetzung geführt, die in der Türkei schon sehr viel früher begonnen hat.

Lamarckistische Evolutionstheo- Er propagierte den Darwinismus rien, die auf den französischen jedoch nicht losgelöst von breite- Botaniker und Zoologen Jean- ren weltanschaulichen und politi- Baptiste de Langmarck (1744 – schen Erwägungen. Cevdet war 1829) zurückgehen, fanden im überzeugter Materialist und Athe- 19. Jahrhundert Eingang in die En- ist. Zudem begeisterte er sich wie zyklopädien der verwestlichten viele Darwinisten seiner Zeit für Bildungsschicht. Seinen ersten Für- Rassetheorien. Er schlug deshalb sprecher fand der Darwinismus vor, das biologische Niveau der bei den osmanischen Türken in Türken wieder zu erhöhen, indem Abdullah Cevdet (1869 – 1932), man sprachlich verwandte, aber der bei seinem Studium an der nach seiner Auffassung weniger medizinischen Hochschule mit den modernen Naturwissenschaf- ten in Berührung gekommen war. RELIGION UND MACHT

degenerierte Ungarn »einkreuzt«. vismus diente. Kemal, der sich ab Bis in die 1980er Jahre sollte sich Beides trug nicht dazu bei, die Re- 1934 Atatürk (Vater aller Türken) daran nichts ändern. putation der Evolutionstheorie in nannte, baute die türkische Ge- Dies bedeutete aber keines- religiösen Kreisen zu fördern. sellschaft so grundlegend um. Die wegs, dass die Evolutionstheorie in Als nach dem Zusammenbruch Naturwissenschaften und ihre der Türkei unumstritten war. Be- des Osmanischen Reiches Musta- praktische Anwendung sollten ga- reits in der Zeit des osmanischen fa Kemal 1923 die türkische Repu- rantieren, dass die Gesellschaft Reiches formulierten religiöse Au- blik ausrief, initiierte er zugleich nach rationalen Regeln funktio- toren ihre Einwände gegen den ein Säkularisierungsprogramm, als niert. Dazu musste der konservati- Darwinismus. Eine Schlüsselrolle dessen weltanschauliche Grund- ve »Störfaktor« Religion ausge- kommt hierbei einem Schriftstel- lage der Fortschrittsoptimismus schaltet werden, von ein paar ler und Aktivisten aus einer der des französischen Positi- Konzessionen für unbelehrbare arabischen Provinzen des Reiches Kreise in abgelegenen Provinzen zu: Husain al-Jisr (1845 – 1909) einmal abgesehen. Gegenüber lebte in Tripolis im heutigen Liba- der darwinschen Evolutionstheo- non. Dort gründete er die erste rie bestanden keine Berührungs- Schule, die Muslimen säkulare ängste und so wurde sie integra- Bildung vermittelte. Gleichwohl ler Bestandteil des Biologie- betrachtete er die geistige Ent- unterrichts in der Türkei. wicklung Europas durchaus nicht positiv, mehr noch irritierte ihn aber, dass sie von manchen Mus- limen kritiklos übernommen wur- de. Zur Huldigung an den in fort- schrittlichen Kreisen verhassten Sultan Abdülhamid II verfasste er eine Abhandlung, in der er betonte, dass Islam und mo- derne Naturwissenschaft vereinbar seien. So sollte den Anfeindungen der Religion durch die vom Materialismus

Front gegen Darwin Der islamische Kreationismus in der Türkei

Martin Riexinger KULTUREN UND KONFLIKTE

infizierten säkular gebildeten in einem Dorf der entlegenen Pro- theke aus jenen neue Strukturen Schichten Einhalt geboten wer- vinz Bitlis geboren. Seine Vorfah- entwickeln würden. den. Dabei integrierte er die zu ren waren Gelehrte, die im lokalen Politisch unterstützte Said Nursi dieser Zeit unter Muslimen noch Rahmen bekannt waren. Er wurde zunächst Mustafa Kemal als jener keineswegs akzeptierte nach- früh in die Religionsschulen der sich anschickte, Griechen und Al- kopernikanische Astronomie, eig- Umgebung geschickt, um eben- liierte aus Anatolien zu vertreiben. nete sich die Harmonie des Son- falls die Laufbahn eines alim ein- Als jedoch offenkundig wurde, nensystems doch trefflich als Be- zuschlagen. Dabei eignete er sich dass seine Vorstellungen nicht mit weis für das weise Walten des die Werke, nach denen das Arabi- der radikalen Säkularisierung der Schöpfergottes. Die Evolutions- sche und die Grundlagen von Re- Kemalisten vereinbar waren, brach theorie verwarf er jedoch. Aller- ligion und Recht unterrichtet wur- Nursi mit ihnen. 1925 wurde er dings nicht nur, weil sie im Wi- den, mit einer derartigen Ge- schließlich in die Verbannung in derspruch zu den Koranversen schwindigkeit an, dass er in den das Dorf Barla im Südwesten es über die Erschaffung des Men- östlichen Provinzen schnell als Landes gezwungen, wo er seinen schen steht. Aus seiner Sicht »Wunder der Epoche« zu größerer Schülern seine Lehren diktierte. konnte eine Theorie, die dem Bekanntheit gelangte. Seine Pro- Nach der Ablösung der Kema- blinden Walten des Zufalls so minenz blieb nicht auf die Ge- listen 1950 und dem Ende des große Bedeutung zumisst, nicht lehrtenschaft beschränkt. Tahir Einparteiensystems durch die die Zweckmäßigkeit der Lebewe- Pa¸sa, der Gouverneur der Grenz- Machtübernahme der Demokrati- sen und ihrer Organe erklären. provinz Van, hörte von ihm und schen Partei von Adnan Menderes Die Schrift fand nicht nur in den lud ihn in seine Residenz ein. Erst (1899 – 1961), konnte Said Nursi arabischen Reichsteilen Anklang. dort lernte Said Nursi die türkische freier agieren. Mit dem Kommu- In das osmanische Türkisch über- Sprache richtig. Diese Sprach- nismus trat für ihn nun jedoch ein setzt, fand sie auch in den Kern- kenntnisse eröffneten ihm den Zu- neuer Gegner in Erscheinung, provinzen viele Leser. Übertra- gang zur gut ausgestatteten Biblio- dessen Lehren auf der Grundlage gungen in die Sprachen Urdu und thek des Gouverneurs. Auf diesem des Materialismus beruhen. Er un- Tatarisch verschafften ihr bei den Wege kam er mit der modernen terstützte nicht nur die von Men- Muslimen in Indien und Russland Naturwissenschaft in Kontakt, die deres forcierte Anbindung der Tür- Aufmerksamkeit. er im Sinne von al-Jisr mit dem Is- kei an den Westen. Er propagierte lam aussöhnen wollte. Vor allem nun auch, dass Muslime und Said Nursi und die Bewegung jedoch betonte er, dass in der Na- Christen gemeinsam der kommu- der Nurcus tur keine Eigenkausalität wirke, da nistischen Gottlosigkeit entgegen- Von Husain al-Jisrs Abhandlung alle Ereignisse direkt auf das Wir- treten sollten. zeigte sich auch ein Religions- ken Gottes zurückführen seien. Nach dem Tod Said Nursis im gelehrter kurdischer Herkunft tief Die Vorstellung, dass sich aus Ma- Jahr 1960 blieben seine geistigen beeindruckt, von dessen Lehren terie von selbst eine Ordnung ent- Erben, die Nurcus. Die »Anhänger beeinflusst sich in den 1920er Jah- wickele, sei absurd, denn wer des (göttlichen) Lichts« – so die Junge Türkin in Berlin, im ren eine kulturelle Oppositionsbe- würde denn annehmen, dass sich Bedeutung – blieben der politi- Hintergrund ein Portrait des türkischen Staats- wegung gegen den Kemalismus beim Zusammenschütten aller schen Ausrichtung zur »rechten gründers Mustafa formierte: Said Nursi wurde 1876 Tinkturen und Pasten einer Apo- Mitte« hin treu, obwohl sich 1971 Kemal Atatürk mit der Nationalen Ordnungspar- tei von Necmettin Erbakan erst- mals eine politische Organisation in der Türkei formierte, die sich an den Ideen arabischer und pakista- nischer Islamisten orientierte. Als nach 1970 in der Türkei die Aus- einandersetzung zwischen »links« und »rechts« eskalierte, positio- nierten sich die Nurcus eindeutig im rechten Lager, doch suchten sie mit den Marxisten nicht die ge- waltsame, gar bewaffnete Kon- frontation, sondern die intellektu- elle Auseinandersetzung. Dazu hat sicher beigetragen, dass die Foto: Mike Schmidt Nurcus ihre Anhängerschaft unter

74 Universität Göttingen RELIGION UND MACHT

Bildungsaufsteigern aus der Provinz fanden, die an den damals von der »Linken« dominierten Hochschulen marginalisiert wurden.

Fethullah Gülen und die Verbindung zum Kreationismus In dieser Situation bezog Fethullah Gülen als erster Nurcu ausführlich Stellung gegen die Evolutionstheo- rie. Dieser junge Prediger der staatlichen Religions- behörde stammte aus der ostanatolischen Provinz Erzurum, wo er 1938 geboren wurde. 1966 wurde er nach Izmir, also in die am stärksten verwestlichte Stadt des Landes, versetzt. Hier fand er mit seinen Reden ins- besondere bei Studenten großen Anklang. In den fol- genden Jahren wandten sich weitere Autoren dem The- ma zu, so dass sich der Kampf gegen die Evolutions- theorie zu einem der wichtigsten Inhalte in den Publi- kationen der Nurcus entwickelte. Ihr Ziel war es, dem Marxismus die geistige Grundlage zu entziehen, indem sie nachwiesen, dass der Materialismus auf der irrigen Annahme beruhe, dass sich die Materie von sich aus zu komplexeren Formen organisiere. Unterstützung für ihre Thesen fanden sie außerhalb der Türkei im amerikanisch-protestantischen Kreatio- nismus, der zu dieser Zeit einen Wiederaufstieg erleb- te, nachdem er sich für einige Jahrzehnte aus der Öf- fentlichkeit zurückgezogen hatte. In der Türkei waren seine Vertreter wohl auch deswegen zu Prominenz ge- langt, weil sie mehrfach zu Expeditionen an den Ararat aufgebrochen waren, um dort Überreste der Arche Noah zu finden. In die türkische Sprache übersetzt wurden die Pamphlete der amerikanischen Kreatonisten von dem Dozenten Âdem Tatlı, der als einziger Biologe Par- tei gegen die Evolutionstheorie ergriff. Allerdings zitier- ten die islamischen Kreationisten die protestantischen nur ausschnittsweise. Die für jene so wichtige Frage des jungen Alters der Erde spielte für Muslime keine Rolle, da der Koran keinen der Genesis vergleichbaren detail- lierten Bericht über die Schöpfung und die ersten Ge- nerationen der Menschheit enthält. Die Polemiken der Nurcus gegen die Evolutionstheorie gewannen im reli- giösen Lager insgesamt an Popularität, so dass sich nun auch Autoren aus dem Lager der Islamisten und der Na- tionalisten dem Thema zuwandten. Die große Zeit des islamischen Kreationismus in der Türkei begann 1980. In jenem Jahr putschte das Militär zum dritten Mal. Dieses Mal geschah dies jedoch nicht wie 1960 und 1971 mit der Absicht, die Türkei auf den Weg des unverfälschten Kemalismus zurückzuführen. Stattdessen beabsichtigte das Militär nun, die Linke zu zerschlagen. Deshalb erschien es sinnvoll, den Umsturz religiös zu legitimieren. In ihrer Mehrheit ließen sich die Nurcus allerdings nicht für dieses Ziel einspannen. Eine starke Minder- heit, zu der auch Gülen und Tatlı gehörten, wurde je- doch dafür gewonnen. Aus den ersten Wahlen nach dem Putsch ging im Jahr 1982 die Mutterlandspartei

Georgia Augusta 5 | 2007 75 KULTUREN UND KONFLIKTE

Der Weg zum islamistischen Schließlich ist die türkische Regie- Kreationismus rung beständig bestrebt, ihre Ab- Der studierte Innenarchitekt kehr vom Islamismus zu unter- Adan Oktar, der unter dem Pseu- streichen, um ihr Ziel des türki- donym Harun Yahya publiziert, schen Beitritts zur Europäischen steht für eine internationale Kom- Union nicht zu gefährden. ponente im Kampf gegen die Evo- Beeinflusst von den Aktivitäten lutionstheorie. In den 1980er Jah- Oktars entstand in der Diaspora, ren versuchte der 1956 geborene aber auch in anderen islamischen Muslim Jugendliche der Istanbuler Ländern, in denen die Evolutions- High Society auf den Pfad islami- theorie nicht freudig begrüßt wor- scher Tugend zurückzuführen. den war, jedoch nie eine systema- Außerdem stellte er neben Trakta- tische Kampagne gegen sie ge- ten über die jüdisch-freimaureri- führt wurde, eine kreationistische sche Weltverschwörung Abhand- Literatur, die sich an türkischen lungen wider die Evolutionstheo- Vorbildern orientiert und türki- rie zusammen, die sich an den sche Autoren als Autoritäten zi- © ullstein bild – AP Schriften der Nurcus orientierten. tiert. Unter den Bedingungen des Nach dem Putsch vom Auf größeres Interesse stieß er da- radikalen Säkularismus in der Tür- 12. September 1980: (Anavatan Partisi) von Turgut Özal mit jedoch vorerst nicht. Das än- kei hatten also dort konservative Panzer vor der Hagia siegreich hervor. Ihr gehörten ne- derte sich einschneidend, als er Muslime Antworten entwickelt, Sophia in Istanbul ben Wirtschaftsliberalen zahlrei- entdeckte, welche Möglichkeiten die da auf Akzeptanz stießen, wo che ehemalige Islamisten an, da- ihm das neue Medium Internet sich Muslime mit ähnlichen Fra- runter Vehbi Dinçerler, der zum eröffnete. Er ließ seine Werke ins gestellungen konfrontiert sahen. Bildungsminister ernannt wurde. Netz stellen und in diverse Spra- Mittlerweile wirkt der islami- Unter seiner Amtsführung wurde chen übersetzen, wodurch er un- sche Kreationismus auch auf die eine von Âdem Tatlı geleitete Kom- ter den Muslimen in der Diaspora USA zurück, von wo er viele sei- mission eingesetzt, die das Ziel aber auch in Südostasien schnell ner Anregungen bezog. Mustafa verfolgte, die Evolutionstheorie zu Prominenz gelangte. Er grün- Akyol (Jahrgang 1972), ein ehema- aus den türkischen Lehrplänen zu dete eine Stiftung zur Verbreitung liger Mitarbeiter Oktars, der sich streichen. Dieses Ziel wurde nicht seiner Lehren, die nun beständig mit ihm überworfen hatte, propa- ganz, aber doch teilweise erreicht: Referenten zu islamischen Ge- giert heute eine islamisch einge- Zwar wurde die Evolution selbst meinden und Studentenvereinen färbte Variante der »Intelligent nicht aus den Biologiebüchern ge- weltweit entsendete, um die Evolu- Design« Theorie, eines Kreationis- strichen, jedoch wurden die be- tionstheorie zu verteufeln. Mehr- mus ohne Sintflut und junges sonders anstößigen Teilaspekte fach lud er führende Vertreter des Erdalter. Er wurde 2004 als Sach- der natürlichen Zuchtwahl und amerikanisch-protestantischen verständiger vor den Bildungsaus- der Abstammung des Menschen Kreationismus zu Kongressen in schuss des Staates Kansas bestellt, entfernt. In einem neuen Pflicht- die Türkei ein, um zu suggerieren, als dieser darüber debattierte, ob fach »Religion und Ethik« wurde seine Thesen genössen internatio- diese Weltanschauung gleichbe- hingegen ganz unverblümt gegen nales wissenschaftliches Ansehen. rechtigt neben der Evolutions- die Evolutionstheorie polemisiert. In der Türkei traten ihm nur ei- theorie im Biologieunterricht ge- Während der Kreationismus nige wenige Akademiker entge- lehrt werden solle. Die Einladung politisch triumphierte, ließ das In- gen, die politisch zum Teil der eines Muslims diente den Befür- teresse an der Evolutionstheorie in »nationalen Linken« nahe stehen, wortern dieses Vorhabens dazu, religiösen Kreisen erheblich nach, einer sektiererischen Verbindung den Einwand zu entkräften, Intel- nicht zuletzt, weil der Marxismus von Marxismus und Kemalismus. ligent Design sei wissenschaftlich in der türkischen Gesellschaft Man darf vermuten, dass die Mit- verbrämte christliche Theologie. kaum mehr eine Rolle spielte. In glieder der gegenwärtig regieren- Der Vorgang ist ein kurioses Bei- die Lehrpläne kehrte die Evolu- den Adalet va Kalkinma Partisi spiel dafür, dass selbst die sonst so tionstheorie in den 1990er Jahren (AKP) mehrheitlich der Evolutions- scharfe Konfliktlinie zwischen ohne größeres Aufsehen zurück. theorie nicht wohl gesonnen sind. strengen Muslimen und amerika- Ab 1999 gewann die Auseinan- Wenngleich es zu Versuchen kam, nischen Evangelikalen überwun- dersetzung jedoch erneut an Be- Lehrer einzuschüchtern, die die den werden kann, wenn man mit deutung. Und vor allem gewann Evolutionstheorie unterrichten, der darwinistischen Evolutions- sie eine neue internationale Di- gab es bis jetzt keine Bestrebun- theorie einen gemeinsamen Geg- mension. gen, die Lehrpläne zu ändern. ner ausgemacht hat.

76 Universität Göttingen RELIGION UND MACHT

Recently an Islamic brand of the lack of precise statements in guages. Thus he soon found inte- creationism seems to be on the Coran. rest among Muslims in the Wes- the rise among Muslim communi- Islamic creationism gained po- tern diaspora and Southeast Asia. ties in the West. It is inspired by litical support after the 1980 coup As a consequence, an Islamic crea- publications from Turkey which which was directed primarily tionist literature based on Turkish are spread via the internet. To a against the left. Although in 1984 models and citing Turkish writers certain degree this development is the Department of Education issued as authorities began to flourish surprising because the secularist a creationist white book calling for elsewhere. In addition he invited politics of the last decades were equal treatment of the theory of evo- leading American creationists to often considered as having relega- lution and creationism in schools, conferences in order to bolster his ted the country to a marginal role this did not lead to the complete claims for scientific credibility. in the formation of Islamic dis- deletion of Darwinism from the Recently the repercussions of courses. textbooks, whereas fierce anti- the »export of creationism« to In Turkey the resentment evolutionist polemics were intro- Turkey have been felt in the US. against the theory of evolution can duced in the textbooks for reli- Mustafa Akyol (born 1972) an erst- be traced back to the late 19th gious education which had by now while collaborator of Oktar was century. It was inspired by the become a compulsory subject. invited to a hearing of the Kansas Risala hamidiyya of Husayn al-Jisr In the calming political atmos- Department of Education, which (1845 – 1909) from contemporary phere of the 1980s and ‘90s the had to clear the question whether Lebanon who demonstrated that issue lost its importance in Tur- Intelligent Design was to be con- this concept contradicts the idea key. Nevertheless the Turkish de- sidered a theory that deserved of a conscious and benevolent bate gained international promi- equal treatment in biology les- creator. He inspired the Kurdisch nence at the end of the last deca- sons. The backing of a Muslim for scholar Said Nursi (1876 – 1960) de. Adnan Oktar (born 1956), this concept should undermine who initiated a cultural resistance alias Harun Yahya, a lay preacher the objection that it is Christian movement against the secularisa- who was until then a minor figure, theology. The case is an odd ex- tion promoted by the Kemalist ré- discovered the internet as the ideal ample showing that even the con- gime after 1923. In the 1950s medium for spreading his message. flict ridden line separating strict when he was allowed to act more Furthermore he had his text pam- Muslims from American evan- freely, communism became his phlets translated into various lan- gelicals can be overcome. next target. In the 1970s his followers, the Nurcus i.e. disciples of the (di- vine) light opposed the left-wing forces in the escalating conflict between Turkey’s political camps. But instead of engaging in violence they decided to de-legitimize Marxism by undermining materia- lism as its philosophical foundati- on. Hence they began to cam- paign against the theory of evolu- tion systematically. The most im- portant figures in this context are Dr. Martin Riexinger, Jahrgang 1968, studierte Islam- Fethullah Gülen (born 1938), a wissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Neuere preacher who was pipular among Geschichte an der Universität Tübingen. Sein Studium religious students in Izmir, the schloss er 1997 mit dem Magistergrad ab. Im Jahr country’s most Westernized city, 2002 wurde er an der Universität Freiburg mit einer and dem Tatlı, a lecturer of bio- Arbeit über »Sana’ullah Amritsari und die Ahl-i Hadis im Punjab unter britischer Herrschaft« promoviert, die 2004 mit dem logy. They drew inspiration from Forschungspreis der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft aus- American Protestant creationism gezeichnet wurde. In den Jahren 2004 und 2005 war Dr. Martin which was re-emerging as a con- Riexinger als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt siderable cultural factor in the same »Nurculuk« am Orientalischen Seminar Freiburg tätig. Im Oktober decade. However, they differed 2005 wechselte er an das Seminar für Arabistik und Islamwissen- with regard to details, especially schaften der Georg-August-Universität Göttingen, an dem er seine the age of Earth which is not a re- Forschungen fortsetzt. levant question for Muslims due to

Georgia Augusta 5 | 2007 77 Krieg und Frieden Die religiöse Repräsentation von Konflikten

Andreas Grünschloß

Hernando de Soto am Mississippi, 21. Mai 1541. Kolorierte Gravur

© ullstein - Granger Collection Die Untersuchung religiös bedingter oder religiös legitimierter Konflikte ist ein Dauerthema in vielen kulturwissenschaftlichen Fachdisziplinen, und die Frage nach »Krieg und Religion« – oder umgekehrt: nach »Religion und Frieden« – beschäftigt nicht nur die universitäre Öffentlichkeit. Sind Religionen als soziale und kognitive Systeme überhaupt friedensfähig, oder neigen sie auf- grund der ihnen eigenen Systemkonstitution nicht eher zu einer geradezu chronischen Allergie gegenüber allem religiös Fremden und damit gegenüber jeglicher Form theologischer, spiritu- eller und ritueller Alterität? Derartige Fragen haben nach den Terroranschlägen vor sechs Jahren neue Konjunktur erhalten. Auch der so genannte Karikaturenstreit Anfang des Jahres 2006 lieferte ein plastisches Beispiel für die mögliche Dramatisierung und Eskalation interkultureller Kon- fliktlagen, wenn sie auf die Ebene einer religiösen Auseinandersetzung transponiert und in einem dezidiert religiösen Diskursfeld neu inszeniert werden. Am »Zentrum für Theorie und Methodik der Kulturwissenschaften« widmet sich ein neu gegründeter interdisziplinärer Forschungs- verbund an der Georg-August-Universität diesem Thema der religiösen Repräsentation und Re-Interpretation von Konflikten und erforscht »Religion als Verhandlungsfeld von Konflikten«. KULTUREN UND KONFLIKTE

Es gibt nicht einfach die Aggressi- Agitatoren herangezogen wird: Der europäische Blick: konfligie- on – beziehungsweise die Frieden – Hier liefert die Bezugnahme auf rende Bilder aztekischer Religion stiftende Religion, sondern Reli- das religiöse Diskursfeld ein zu- Interkulturelle Begegnungen gionen setzen gleichermaßen sätzliches Reservoir von Bewer- erzeugen wechselseitige Bilder Möglichkeiten zu Krieg und Frie- tungskriterien, mit denen auch ko- der Anderen, deren Spektrum von den aus sich heraus. Diese Er- loniale Identitätsverletzungen neu exotischer Faszination bis zu kenntnis stellt sich schnell ein, verarbeitet werden können. Fremdenhass und Polemik reicht; in manchen Fällen überlagern sich wenn man die uns zugängliche (2) Religionen vermitteln als prä- Welt der Religionen näher be- gende Sozialisationsinstanzen ei- exotische Faszination und xeno- trachtet und nach den inhärenten ne Vielzahl von expliziten Wer- phobische Verunglimpfung sogar Motivationskriterien für Krieg tungsgesichtspunkten und unter- gegenläufig. Religiöse Motive oder Frieden zu fragen beginnt. schwelligen Normen, die gerade spielen hierbei häufig eine wichti- Lohnender als diese statisch-ab- in der Wahrnehmung und Bewer- ge Rolle. Die Wahrnehmung der strakte und phänomenologisch tung des kulturell und religiös An- Neuen Welt und ihrer indigenen klingende Frage nach der Krieg deren und Fremden nachhaltige Religionstraditionen in Europa lie- oder Frieden verhindernden Kraft Kriterien für Akzeptanz und Ab- ferte seit dem 16. Jahrhundert eine lehnung bilden: Diese Wahrneh- von einzelnen Religionsgebilden lang andauernde Tradition von mung des religiös Fremden mit re- erscheint jedoch die kontextspezi- Beispielen dieser widersprüchli- ligiösen Augen liefert oft verzerrte chen und geradezu konfliktiven fische Frage nach den diskursiven Bilder, die viel über die jeweilige Bedingungen und Auswirkungen, religiöse Prägung verraten: Inter- Konstruktion des Edlen Wilden ei- wenn konkrete Konflikte (welcher kulturelle Begegnungen und inter- nerseits und der Dämonisierung Art auch immer) religiös neu ge- religiöse Verständigung sind da- jener fremden Kulturen und Reli- deutet und verhandelt werden. her immer wieder von diesem re- gionen – bis hin zur Konstruktion ligiösen Deutungskonflikt ge- monströser Erfindungen. Drei paradigmatische Ebenen prägt. Die aufwändig illustrierten Rei- lassen sich unterscheiden: (3) Religiöse Neugründungen, so seberichte, die in dem Frankfurter (1) Religion kann zum Beispiel in genannte »Neureligiöse Bewe- Verlag der De Bry-Familie von Anspruch genommen werden, die gungen« oder »Neue Religionen«, 1590 bis 1634 mehrsprachig er- ethnisch-nationale Identität und gehören überall auf der Welt zu schienen, bildeten für ganz Euro- »Reinheit« eines Landes bezie- den üblichen Verdächtigen auf al- pa ikonographisch-ästhetisch und hungsweise eines Volkes zusätz- len Ebenen gesellschaftlicher Ver- narrativ nachhaltige Vorlagen aus. lich religiös-mythologisch zu legi- ständigung: Als abweichende For- »Der Indianer Religion und Gottes- timieren. Dies zeigt etwa die stei- men von Religion werden sie dienst« (Abbildung Seite 84) wur- meist mit klischeehaften Stigmati- le Karriere der jüngsten Göttin des de dabei, wie in der Abbildung aus sierungen als Sekten, destruktive hinduistischen Pantheons, »Bhar- der Reihe Americae (Band 4, Kulte, schlechte Magie, Aberglau- atmata« (»Mutter Indien«), die als ben und Pseudo-Religion kon- 1594) zu sehen ist, auf eine Teu- numinose Personifikation des in- frontiert oder mit traditionellen felsverehrung festgelegt, die kei- dischen Subkontinents besonders Ketzerhüten (Satanismus, Poly- nerlei Anhalt an der indigenen gerne von hindu-nationalistischen theismus, Synkretismus etc.) unter Selbstwahrnehmung hat, sondern Häresieverdacht gestellt. Religiöse zur Gänze europäischen Stereo- und weltanschauliche Innovatio- typen und Konventionen ent- nen, die sich ohnehin meist expli- sprungen ist. Diese diabolische zit oder implizit von Formen etab- Seite der Rekonstruktion indige- lierter Religion abgrenzen, erzeu- ner Religionskulturen tritt in der gen ein neues Konfliktfeld, dem europäischen »Karriere« des azte- dann weit über den rein religiösen kischen Gottes Huitzilopochtli Binnendiskurs hinaus mit Elemen- ten aus dem Arsenal religiöser Po- besonders deutlich zutage, der lemik begegnet wird. Als Beispiel schließlich unter dem Namen ist hier Scientology zu nennen, »Vitzliputzli« als Satansgehilfe so- der mit den Begrifflichkeiten »fun- gar in die deutsche Folklore Ein- damentalistische Sekte« und »Ma- gang findet und ikonographisch gie« begegnet wird. als bocksbeiniger europäischer Da Thomas Oberlies (vgl. S. 40) Teufel mit Fledermausflügeln dar- mit dem Beispiel Indien einen Bei- gestellt wird, dem jegliches india- trag zur ersten Konfliktebene lie- nisches Ursprungsgepräge fehlt. fert, werden im Folgenden Ebene Schon die ersten spanischen zwei und drei illustriert. Missionare konnten in den Gott-

80 Universität Göttingen GEORG-AUGUST-UNIVERSITÄT GÖTTINGEN

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN

Vorsehung, Schicksal und göttliche Macht

17. April 2007 · Prof. Dr. Jörg Rüpke · Universität Erfurt Öffentliche Ringvorlesung Göttliche Macht ohne Gesicht Sommersemester 2007 Eine religionswissenschaftliche Sondierung Dienstag um 18 Uhr c.t. 24. April 2007 · Prof. Dr. Brigitte Groneberg · Universität Göttingen Anzû stiehlt die Schicksalstafeln Aula am Wilhelmsplatz Vorherbestimmung im Alten Orient 8. Mai 2007 · Prof. Dr. Heike Sternberg-el Hotabi · Universität Göttingen »Ich besiege das Schicksal« Isis und das Schicksal in der ägyptischen Religion Göttingen im Jahr der 15. Mai 2007 · Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath · Universität Göttingen Geisteswissenschaften Wenn Zeus an seine Grenzen kommt 2007 Die Götter und das Schicksal bei Homer 22. Mai 2007 · Prof. Dr. Philip G. Kreyenbroek · Universität Göttingen Wie frei ist die Wahl? Determination und moralische Entscheidung im Zoroastrismus 29. Mai 2007 · Prof. Dr. Dr. Karl Kardinal Lehmann · Bischof von Mainz Gott und Macht Ein religionsphilosophischer Versuch 5. Juni 2007 · Prof. Dr. Reinhard G. Kratz · Universität Göttingen Gottes Geheimnisse Vorherbestimmung und Heimsuchung in den Texten vom Toten Meer 12. Juni 2007 · Prof. Dr. Hermann Spieckermann · Universität Göttingen Wenn Gott schweigt Jüdische Gedanken zu Schicksal und Vorsehung aus hellenistischer Zeit 19. Juni 2007 · Prof. Dr. Reinhard Feldmeier · Universität Göttingen Wenn die Vorsehung ein Gesicht bekommt Theologische Transformationen im Neuen Testament 26. Juni 2007 · Prof. Dr. Peter A. Kuhlmann · Universität Göttingen Die Macht des Numinosen in der Welt Prodigien und Götterwille in Rom 3. Juli 2007 · Prof. Dr. Florian Wilk · Universität Göttingen Verblendet oder verstockt? Gottes Macht und der Misserfolg des Evangeliums in der Sicht des Paulus 10. Juli 2007 · Prof. Dr. Tilman Nagel · Universität Göttingen »Was dich trifft, hätte dich nicht verfehlen können« Islamische Konzepte der Vorherbestimmung 17. Juli 2007 · Prof. Dr. Martin Tamcke · Universität Göttingen Heuschrecken, Dürre und Mongolen Gott und die Katastrophen in der syrischen Literatur

Eine Vorlesungsreihe des Graduiertenkollegs »Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike« Verantwortlich für das Programm: Prof. Dr. Hermann Spieckermann und Prof. Dr. Reinhard G. Kratz Kontakt: Sven Petry (Koordination) · [email protected] KULTUREN UND KONFLIKTE

heiten der Azteken kaum etwas scheint, schaffte zwar keine derar- Gestalt zu erblicken, die als eine anderes als diabolische Gestalten tigen Monster, wirkte sich in ihrer Vorbereitung auf das Evangelium entdecken. Vor allem die blutige Wirkungsgeschichte aber nicht anzusehen wäre – wenn es sich Seite der aztekischen Rituale mit minder unrealistisch und verzer- nicht vielleicht sogar um einen ihren extensiven rituellen Tötun- rend aus. In religiöser Hinsicht versprengten Apostel Jesu gehan- gen (Herzopfer und ähnliches) setzt sich dieser exotisierende delt habe. Auch die einheimi- und die in ihrem Verhalten schwer Diskurs bis heute in der modernen schen Chronisten haben sich dann berechenbaren Trickster-Gestal- Indianerromantik und dem damit an der Gestalt Quetzalcoatls ab- ten wie Tetzcatlipoca lieferten An- verbundenen Bild einer ökolo- gearbeitet, wenn sie heilsge- lass für eine vernichtende Kritik an gisch edlen Spiritualität fort, die in schichtlich positive Inseln in ihrer einheimischen Religionsvorstel- der völlig fiktiven Rede des so ge- vorchristlichen Vergangenheit zu lungen und -praktiken: »Sie sind nannten Häuptling Seattle (»Diese identifizieren suchten. Heute fin- sehr schwarz, sehr schmutzig, Erde ist uns heilig«) besonders gut det sich Quetzalcoatl daher in vie- sehr ekelhaft«; die, die ihr da für greifbar ist und daher nach wie len Strängen esoterischer Glau- Gott haltet, »sie sind sehr entsetz- vor über esoterische Büchertische bensrichtungen als Lichtgestalt lich und zum Leute-übergeben- verkauft und bereitwillig ange- wieder – eine europäische Karrie- machen,« lautete bereits die Ein- nommen wird. re, die dem »diabolischen« Huit- schätzung der Franziskaner in Blickt man noch einmal in die zilopochtli versagt blieb. In der ihrem Religionsgespräch mit azte- Kolonialzeit zurück, dann fällt »Kirche Jesu Christi der Heiligen kischen Adligen aus dem Jahr auf, dass nur die alte mesoameri- der Letzten Tage« (Mormonen) 1524, kurz nach der Eroberung kanische Gottheit Quetzalcoatl wird Quetzalcoatl sogar mit dem Mexikos. Die Rekonstruktion in- (beziehungsweise Kukumatz, Ku- auferstandenen Christus identifi- dianischer Religiosität im Sinne kulkan) dem Schicksal einer pau- ziert, der ja gemäß dem Buch einer Teufelsverehrung bildete da- schalen diabolischen Abqualifi- Mormon in Amerika gewirkt ha- her auch das grundlegende Leit- zierung entgangen ist. In man- ben soll. motiv europäischer Wahrnehmung chen spanischen Quellen wird er Exotische Faszination, christli- der Neuen Welt und ihrer indige- als Vorbote einer besseren Religi- che Heimholung und diabolische nen Religion in der Folgezeit. on angesehen, da er angeblich Abqualifizierung – in diesem Die umgekehrte, scheinbar keine Menschenopfer verlangt ha- Spannungsfeld bewegen sich die freundliche Variante des so ge- be. Auch in den Mythen um den Repräsentationen aztekischer Re- nannten »Edlen Wilden«, wie sie toltekischen Priesterkönig Topilt- ligion bis heute, was sich auch an- schon in den Aufzeichnungen von zin Quetzalcoatl vermochte man gesichts moderner Ausstellungen Kolumbus in seinem Bordbuch er- Hinweise auf eine prophetische zur aztekischen Kultur gut bele-

Abbildung »Der Indianer Religion und Gottes- dienst« aus den Reise- berichten des Frankfur- ter De Bry-Verlags 1594

82 Universität Göttingen RELIGION UND MACHT

gen lässt. Aber nicht nur die Reli- schaft, die enorme Passungsqua- gion der Azteken, auch alle ande- litäten zu dem Kanon etablierter ren Formen kulturell anderer und Kulturwerte in westlichen Indu- fremder Religionen sind meist in striegesellschaften aufweist: Dies einem ähnlichen Spannungsfeld wird in den scientologischen konfligierender Repräsentationen Machbarkeitsphantasien mit ih- angesiedelt, in dem sich Religi- rem instrumentell-technologischen ons- und Kulturkonflikte spiegeln. Herangehen (»religious technolo- gy«) an alle Lebensbereiche oder Das Sekten-Paradigma: dem ökonomischen Expansions- Konfliktfeld Scientology streben besonders deutlich. Inso- Abgesehen von Nachrichten fern erweist sich Scientology eben über Formen einer fanatisierten gerade nicht als abweichend, son- und politisierten Inanspruchnah- dern in fundamentaler Überein- me des Islams hat in den letzten stimmung mit ihrem Ursprungs- Jahrzehnten kaum ein religiöses kontext. Auch die pauschal unter- Konfliktthema die Schlagzeilen stellten Vorwürfe einer durchgän- derartig bestimmt wie die Bericht- gigen Gängelung und Absorbie- erstattung über – in der Öffent- rung von Mitgliedern lassen sich lichkeit so genannte – Sekten. Al- am Beispiel Scientology kaum ve- ternative religiöse oder weltan- rifizieren, da viele Mitglieder rela- schauliche Gruppen und Bewe- tiv locker und geradezu volks- gungen wurden seit jeher und kirchlich an den Kursangeboten überall auf der Welt aller mögli- teilnehmen, während die klassi- cher moralisch üblen Taten oder schen Aussteigerberichte vielfach magischer Scharlatanerie ver- eine vollständige Absorption in die dächtigt. Heutzutage treten dezi- Gruppe berichtet haben. Gerade dierte Vorwürfe der Gehirnwä- im Fall von Scientology steht die sche, ökonomische und physische wissenschaftliche Aufarbeitung Ausbeutung oder psychische Pa- der sich gegenseitig bedingenden thologieverdächtigungen der Füh- Diskurse von Devianzkonstruktion rer und Mitglieder neben die al- noch in den Anfängen. lenthalben unterstellten Formen Deutlich wird bei der Beschäf- abweichenden Verhaltens hinzu. tigung mit Scientology, dass die Das hinsichtlich dieser allgemein interne so genannte Ethik einer- konnotierten Gefährlichkeit eben seits auf der individualethischen doch weitestgehend ernüchternde Seite zwar traditionelle morali- und Entwarnung signalisierende sche Werte propagiert, wie sie Ergebnis der »Enquete-Kommissi- beispielsweise in der Broschüre on« des Deutschen Bundestages »Der Weg zum Glücklichsein« zum Thema »Sogenannte Sekten besonders gut greifbar sind, ande- und Psycho-Gruppen« aus dem rerseits aber im Bereich der Insti- Jahr 1998 fand in diesem einseitig tutionen-Ethik (beziehungsweise stigmatisierenden Chor wenig des internen Rechts) von holz- Gehör. Selbst der Paradefall schnittartigen Freund-Feind-Sche- Scientology ist nach wie vor nur mata ausgeht, die zu einer dualis- ganz selten einer informierten, tisch-manichäischen (nach dem nüchternen Untersuchung zuge- persischen Religionsstifter Mani, führt worden, wie es beispielswei- der im 3. Jahrhundert nach Chris- se die in Göttingen entstandene tus wirkte) Weltsicht und einem Studie von Gerald Willms »Scien- entsprechenden Hang zu Ver- tology – Kulturbeobachtungen schwörungstheorien führen. Nicht jenseits der Devianz« versucht hat von ungefähr haben sich in die- (Bielefeld 2005). Bei genauerem sem Bereich der scientologischen Hinsehen entpuppt sich Sciento- Ethik und dem darin programma- logy danach als Beispiel einer mo- tisch angelegten Umgang mit © ullstein bild - AP dernen Weltanschauungsgemein- außen stehenden Kritikern und Demonstration von Scientology-Anhängern in Frankfurt 1998

Georgia Augusta 5 | 2007 83 KULTUREN UND KONFLIKTE

Zweiflern auch die meisten kriti- und Heilslehren, die religionswis- Sinne eines möglichst unpartei- schen Stellungnahmen formiert. senschaftlich und diskursanaly- ischen Beitrags zur Aufklärung der Ethik bedeutet im Bereich der Ins- tisch zu untersuchen sind. Dieser öffentlichen Auseinandersetzung titution Scientology nämlich we- Aufgabe stellt sich die Religions- um Gruppen mit alternativer Reli- sentlich: a) Gegenabsichten aus wissenschaft – nicht zuletzt im giosität und Weltanschauung. der Umgebung zu entfernen und b) Fremdabsicht aus der Umge- bung zu entfernen (Richtlinien- brief von 1968). An solche und Forschungsverbund »Religion als ähnliche programmatische For- mulierungen – inklusive einiger Verhandlungsfeld von Konflikten« konfliktträchtiger Handlungsan- weisungen zur Handhabung von Zweiflern und Kritikern – konnten (red.) Wissenschaftler der sechs internationales Kooperationsvor- sich vielfältige Formen eines Tota- Fächer Indologie, Iranistik, Islam- haben erfolgreich geknüpft. litarismusverdachts anschließen. wissenschaft / Arabistik, Ethnolo- Bei der religiösen Umkodierung Angesichts des eher bescheidenen gie, Soziologie und Religionswis- von Konflikten werden Elemente Wachstums der Organisation – die senschaft haben sich in dem For- der religiösen Tradition – Sprache, Schätzungen von weltweit circa schungsverbund »Religion als symbolisches, narratives und iko- 500.000 bis 600.000 aktiven Scien- Verhandlungsfeld von Konflikten« nisches Repertoire sowie etablier- tologen verweisen sogar eher auf zusammengeschlossen. Der Ver- te Praktiken– herausgelöst und auf Stagnation – liegt die oft gefürch- bund ist Teil des Zentrums für bestimmte, selektiv wahrgenom- tete Unterwanderung der Gesell- Theorie und Methodik der Kultur- mene, Konfliktfelder bezogen. schaft jedoch in weiter Ferne. wissenschaften (ZTMK). Bei der Häufig werden Analogien zu his- Nachwuchsforschungsprojekte gegenwärtigen Aktualität des The- torischen oder mythischen Kon- über derartige, im gesellschaftli- mas religiöser beziehungsweise flikten hergestellt, wodurch der chen Diskurs als notorisch kon- religiös bedingter Konflikte be- betreffende Konflikt mythologisch fliktträchtig erscheinende neureli- steht häufig die Vorstellung, dass identifiziert und gedeutet wird. giöse Gruppen und Themen sind Religionen als solche konflikt- Diese selektive Bezugnahme auf daher ein aktueller Bestandteil trächtig sind oder unmittelbar zu »altes« religiöses Inventar muss religionswissenschaftlicher For- Konflikten beitragen. Hier sieht der aber nicht nur – wie im Falle fun- schung in Göttingen: zum Bei- Forschungsverbund seine Aufgabe damentalistischer Rhetorik – zur spiel auch neuheidnische Spiritu- darin, die Inanspruchnahme reli- Verschärfung von Konflikten alität und Netzwerke, Zeugen Je- giöser Deutungsmuster bei Kon- führen; diese Strategie kann auch hovas, Satanismus als Stereotyp, flikten umfassender zu untersu- eine Deeskalation und Unter- Aussteigerberichte aus Neuen Re- chen. Religion soll hierbei als drückung des Konflikts anstreben ligiösen Bewegungen, aber auch »Diskursfeld« anvisiert werden, oder auch eine Lösung jenseits weltanschaulich motivierte Dis- auf dem Konflikte (neu) gedeutet, des Konfliktes suchen. Untersucht kurse im Bereich der so genannten verhandelt und inszeniert werden. werden soll hierbei jeweils die so- Prä-Astronautik, in denen Wissen- Mit der Vorlesungsreihe »Neuer ziale Dynamik: Wer greift wann schaftsverdruss und Religionskri- Streit mit alten Feinden?« stellte mit welcher Intensität und Be- tik konvergieren und alternative, sich der Verbund im Winterseme- rechtigung auf das religiöse Deu- populäre Religionstheorien mit ster 2006/2007 vor. Weitere For- tungsinventar zu, welche Aus- extraterrestrischen Astronauten- schungsaktivitäten sind derzeit in schnitte aus dem Deutungsinven- göttern à la Erich von Däniken Planung: Sie reichen von der hin- tar werden weshalb selektiert, propagiert werden. du-nationalistischen Propaganda welche sind diskursiv zugänglich, in Indien über nationale Rekurse etabliert und wie wird die Darstel- Schlussbemerkung auf die »Alte Religion« Zarathu- lung des Konfliktes öffentlich und Es sind daher nicht nur manifes- stras im Iran oder Konflikte zwi- medial vermittelt? Letztlich fragen te beziehungsweise reale Konflikte, schen missionierenden Weltreli- die Göttinger Wissenschaftler, die von Religionen provoziert gionen und indigener Religiosität welche neuen Konfliktfelder und oder verschärft werden, sondern in Afrika und Neuguinea. Erste Konfliktarten innerhalb oder zwi- auch Interpretationskonflikte um Verbindungen zur Forschergruppe schen Religionen beziehungswei- die Gültigkeit, den Wert (oder »Religious Actors in Conflict se zwischen Religionen und ande- Unwert) oder gar eine grundsätz- Areas« an der Hebrew University, ren gesellschaftlichen Bereichen lich unterstellte Gefährlichkeit be- Jerusalem (Israel) wurden für ein entstehen können. stimmter (neu)religiöser Gruppen

84 Universität Göttingen RELIGION UND MACHT

Religions are often per- ceived as conflict-provoking entities. As a matter of fact, how- Prof. Dr. Andreas Grünschloß, Jahrgang 1957, absol- vierte eine Schreinerlehre und studierte anschließend ever, there is conflict-potential as Evangelische Theologie, Psychologie und Religions- well as potential for peace in al- wissenschaft an den Universitäten Tübingen, Heidel- most every religion on earth. berg und Chicago (USA). Im Jahr 1992 wurde er an der Rather than drawing phenomeno- Universität Heidelberg mit einer Arbeit über das wis- logically upon such static levels of senschaftliche Oeuvre des Religions- und Islamwissenschaftlers Wil- meaning, religion should be ad- fred C. Smith promoviert. Von 1987 bis 2001 war der Theologe als dressed as »a field of negotiating Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Assistent und Hochschuldozent an conflicts«: various actors seem to der Universität Mainz tätig. Im Jahr 1998 habilitierte er sich dort mit draw upon religion in order to einer systematisch-religionswissenschaftlichen Studie über Formen harden (or soften) their discourse interreligiöser Fremdwahrnehmung. Seit 2002 ist Dr. Andreas Grün- about conflict according to chan- schloß Professor für Religionswissenschaft an der Universität Göt- tingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die systematische Religions- ging contextual needs and plausi- wissenschaft, interreligiöse Wahrnehmungs- und Austauschprozes- bilities. Religion can, thus, be se, frühe Erscheinungsformen des Buddhismus, Aztekische Religion »used« to amplify ethnic conflict sowie Neureligiöse Bewegungen der Moderne und Gegenwart. Prof. potential or nationalistic tenden- Grünschloß ist Mitglied des Forschungsverbundes »Religion als Ver- cies (as, for example, in India); re- handlungsfeld von Konflikten«. ligion is also an important factor in many intercultural encounters, influencing various »images« and »stereotypes« of the »other« – of- »magic«, idolatry, immorality or pears in fundamental congruence ten conflicting or contradictory various forms of deviant and pa- with it. Nevertheless, conflict po- images, as can be illustrated in the thological behavior are attributed tential can still be perceived in the case of representations of Aztec to such movements. Scientology so-called »ethics« of the organi- religion in Europe. is one of the major targets in these zation and its programmatic way A third level of conflicts can be discussions about new spiritual of »handling« doubters and cri- identified in the discussions about movements: but as research has tics. The ongoing public debates »new« religious movements or al- shown, far from being »deviant« about such new religious move- ternative world views: patterns of a from the commonly shared out- ments are therefore an important »sect«/»cult« paradigm are stressed look of modern industrial socie- area of religious studies re- here in public discourses, and ties, Scientology’s world view ap- search.

Georgia Augusta 5 | 2007 85 KULTUREN UND KONFLIKTE

»Die Integration ist gescheitert!« – mit diesem Aufmacher beschrieb der SPIEGEL vor einigen Jahren den Status Quo im Einwanderungsland Deutschland. Es sollte nicht das letzte Katastrophenszenario bleiben, das im Hin- blick auf die Lage der Migrantinnen und Migranten und ihrer Nachkommen in der Öffentlichkeit gezeichnet wurde. Dabei bleibt häufig unklar, auf welchen zeitlichen Bezugsrahmen und auf welche Gruppen sich diese Aussagen beziehen, auf welchen empirischen Evidenzen sie beruhen, welche Dimension von Integration be- trachtet und was darunter verstanden wird.

Wer zählt zur Gruppe Gescheiterte Integration? der »Ausländer«? Nahezu jede/r zehnte in Neuere Befunde zur Eingliederung von Einwanderern Deutschland lebende Bürger/in in Deutschland besitzt eine andere Staatsange- hörigkeit als die Deutsche. Jede/r Claudia Diehl Fünfte wies 2005 einen Migrations- hintergrund auf, das heißt er oder sie ist nach Deutschland einge- wandert oder ist ein Kind im Aus- land geborener Eltern. Gut die Aussagen über den »Erfolg« oder Diesem Hintergrund Rechnung Hälfte dieser Bevölkerung mit Mi- »Misserfolg« des Integrationspro- tragend, werden in dem vorlie- grationshintergrund sind Deut- zesses einer Einwanderungsgruppe genden Beitrag einige neuere Be- sche, vor allem Eingebürgerte sind eigentlich nur im Generatio- funde zu den Eingliederungsver- oder Aussiedler. Analysen zur In- nenverlauf möglich und sinnvoll. läufen in Deutschland lebender tegration von Einwanderern be- Dies gilt vor allem für Merkmale Einwanderer dargestellt. Das wich- wie beispielsweise die Sprach- tigste Ergebnis sei an dieser Stelle kenntnisse, die sich über die Zeit bereits vorweggenommen: Unab- nur wenig ändern. Bei Analysen hängig davon, welcher Aspekt der im Zeitverlauf stellt sich häufig Integration betrachtet wird, nimmt auch das Problem, dass Verände- diese selbst bei den gering qualifi- rungen in der Zusammensetzung zierten Einwanderergruppen im der betrachteten Gruppe unbe- Generationenverlauf zu. Aller- achtet bleiben. So werden etwa dings schreitet dieser Prozess bei immer wieder die bewusst als ge- den unterschiedlichen Gruppen ring Qualifizierte angeworbenen unterschiedlich schnell voran, und »Gastarbeiter« mit den höher qua- hinter diesem generellen Trend lifizierten Zuwanderern von heute verbergen sich möglicherweise verglichen. Zudem stellt sich die gegenläufige Entwicklungen bei Lage sehr unterschiedlich dar, je kleinen, aber »problematischen« nachdem, welche Dimension der Subgruppen. Bevor diese Aussa- Eingliederung (Bildungssystem, gen genauer erläutert und empi- soziale Kontakte, Identifikation risch untermauert werden, gilt es mit Deutschland etc.) betrachtet aber einige zentrale Kategorisie- wird. Und schließlich fehlen in rungen und Begrifflichkeiten zu vielen Bereichen zuverlässige Da- klären. ten, so dass als empirische Belege häufig »Alltagsbeobachtungen« herangezogen werden. Diese be- ziehen sich naturgemäß auf be- sonders sichtbare und nicht not- wendigerweise »typische« Sub- gruppen der ausländischen Bevöl- kerung wie innerstädtisch kon- zentriert lebende und – etwa an- hand ethnischer Merkmale wie dem Kopftuch – klar identifizier- bare Einwanderer. NORMEN UND WANDEL

ziehen sich in Deutschland meist nicht auf die im Ausland geborene Bevölkerung, sondern auf Perso- nen ohne deutschen Pass. Damit bleiben gerade besonders »erfolg- reich« integrierte Einwanderer aus- geblendet. Umgekehrt sind viele in Deutschland geborene Nach- kommen der ersten Einwanderer- generation im juristischen Sinne Ausländer. Erst seit dem Jahr 2000 sind die Kinder von seit länge- rem legal im Land lebenden ausländischen Eltern von Geburt an Deutsche. Die quantitativ-empiri- sche Forschung zur Inte- gration von Einwande- rern in Deutschland be- zieht sich meistens auf die als so genannte Gast- arbeiter zugewanderten Ausländer und ihre Nach- kommen. Über die Integra-

© ullstein bild - CARO/Ponizak Damit steht die Gruppe im Zen- trum des Interesses, auf die die These von der »gescheiterten Inte- gration« abzielt. Die vorgestellten Ergebnisse beruhen auf zwei für Forschungszwecke viel genutzten Datensätzen, dem sozio-oekono- mischen Panel und dem Mikro- zensus (siehe Kasten).

»Eingliederung«, »Integration«, »Assimilation« oder »Multi- kulturalismus«? Die Begriffe Eingliederung, In- Foto: Mike Schmidt tegration und Assimilation wer-

Demonstration der den wie viele sozialwissenschaft- Türkischen Gemeinde tion neuer und zahlenmäßig be- für die Spätaussiedler, die in vie- liche Begriffe uneinheitlich ver- in Deutschland vor deutender Gruppen wie zum Bei- len Datensätzen gar nicht mehr wendet. Im Fall dieser Termini dem Innenministerium in Berlin-Moabit im spiel Einwanderer aus Polen gibt als Gruppe mit Migrationshinter- kommt erschwerend hinzu, dass Januar 2007. es bislang nur wenige gesicherte grund identifizierbar sind. sie im öffentlichen und im wissen- Die erste Generation Befunde. Dies ist nicht zuletzt da- Auch die hier präsentierten schaftlichen Diskurs eine jeweils Gastarbeiter demons- triert für die doppelte rauf zurückzuführen, dass ihr An- empirischen Befunde und Studien unterschiedliche Konnotation auf- Staatsbürgerschaft. teil an der ausländischen Bevölke- beziehen sich auf – ausländische weisen. Der Terminus »Eingliede- rung trotz stark gestiegener Zu- und eingebürgerte – »Arbeitsmi- rung« stellt einen sehr allgemein zugszahlen noch relativ gering ist. granten« der ersten Einwanderer- gehaltenen Oberbegriff dar. Von Wichtige Datenquellen lassen da- generation und ihre in Deutsch- vielen quantitativ-empirisch ar- her nur beschränkt Analysen über land geborenen oder in jungen beitenden Migrationsforscherin- diese Gruppen zu. Ähnliches gilt Jahren zugewanderten Kinder. nen und -forschern wird der prä- zisere und gut operationalisierba- re Begriff der »Assimilation« ver- wendet. Darunter wird meist die Die Datenbasis Angleichung von Einheimischen und Einwanderern im Hinblick Die in Deutschland wichtigsten Datenquellen für quantitativ- auf bestimmte Merkmalsvertei- empirische Sekundäranalysen zu den Eingliederungsverläufen von lungen verstanden (beispielsweise Einwanderern und ihren Nachkommen sind das sozio-oekonomi- im Hinblick auf den Anteil der sche Panel (SOEP) und der Mikrozensus (MZ). Beim SOEP handelt Abiturienten in beiden Gruppen). es sich um eine seit 1984 vom Deutschen Institut für Wirtschaft Dabei werden verschiedene Assi- (DIW) durchgeführte Befragung, bei der jedes Jahr dieselben Haus- milationsdimensionen unterschie- halte (sowie neu in diese Haushalte gezogene bzw. hineingeborene den; eine völlige Angleichung Personen ab einem bestimmten Alter) zu ihren Einstellungen und zwischen Einwanderern und Ein- Verhaltensweisen in verschiedenen Lebensbereichen befragt wer- heimischen im Hinblick auf ihre den. Anders als in vielen anderen Erhebungen sind die als Gastar- Arbeitsmarktsituation (»strukturel- beiter zugewanderten Nationalitätengruppen im Stichprobenver- le Assimilation«) kann also zu- fahren des SOEP überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil ver- nächst einmal unabhängig von ih- treten, so dass die Daten auch für einzelne Nationalitäten noch aus- rer kulturellen Assimilation be- sagekräftig sind. Beim Mikrozensus handelt es sich um eine amtli- trachtet werden. Der Begriff der che und für die Befragten verpflichtende Querschnittserhebung von Integration bezieht sich hingegen einem Prozent aller Haushalte in Deutschland. Der MZ wird jähr- häufig auch auf »pluralistische« lich von den statistischen Landesämtern durchgeführt. Jedes Jahr Eingliederungsformen, bei der wird ein Viertel der Stichprobe ausgetauscht. Die Fallzahlen sind Einwanderer dauerhaft eine kultu- höher als im SOEP, allerdings werden im MZ nur die Themenge- rell und möglicherweise auch biete abgedeckt, die Gegenstand der amtlichen Statistik sind. In- ökonomisch distinkte Gruppe im haltlich sind Analysen auf der Grundlage des Mikrozensus daher auf Aufnahmeland bleiben. Letzteres Fragen aus den Bereichen Demografie, Bildung, Arbeitsmarkt, Mo- ist etwa der Fall, wenn eine Grup- bilität und Gesundheit beschränkt. pe ihre eigene »ethnische Ökono- mie« ausbildet.

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Aussagen darüber, wie wün- Das bereits erwähnte sozio-oeko- schenswert »Assimilation« im Sin- nomische Panel gestattet einen ne einer völligen Angleichung von Einblick in die Selbsteinschätzung Minderheit und Mehrheit ist, sind der Deutschkenntnisse der ersten mit dem wissenschaftlichen Assi- und zweiten Einwanderergenera- milationsbegriff nicht verbunden. tion. Aus Platzgründen werden Als Idealfall wird oft eine Gesell- hier nur die Ergebnisse zu den tür- schaft betrachtet, in der »Assimi- kischen sowie den ehemals als lation« von Einheimischen und Gastarbeiter zugewanderten Ein- Einwanderern im Hinblick auf die wanderern aus den EU-15 Staaten besetzten Positionen, etwa auf (Italien, Spanien, Griechenland) dem Arbeits- und Wohnungs- dargestellt. Wie Abbildung 1 zeigt, markt und im Bildungssystem, mit spricht die zweite Generation der kultureller und religiöser Vielfalt als Arbeitsmigranten Zugewan- einhergeht. Obwohl dieses Kon- derten durchweg häufiger sehr gut zept einer »multikulturalistischen« deutsch als die Angehörigen der Gesellschaft vermutlich auf breite ersten Generation. Zustimmung stößt, besteht fak- Der Zweitsprachenerwerb von tisch oft eine enge Koppelung Migranten schreitet vor allem im zwischen dem Ausmaß der »struk- Generationenverlauf voran. Dies turellen« und der »kulturellen« ist unter anderem darauf zurück- Eingliederung. Dies gilt gerade in zuführen, dass dieser mit zuneh- einem »späten« Einwanderungs- mendem Alter langsamer vonstat- Foto: Mike Schmidt land wie der Bundesrepublik, in ten geht und größere Mühen er- der das Zuzugsgeschehen lange fordert (Esser 2006). Diese »Logik« In Deutschland leben- Zeit durch die Einwanderung ge- des Zweitspracherwerbs zeigt sich gesellschaftlichen Systemen in der Türke präsentiert ring Qualifizierter geprägt war. bei der sprachlichen Assimilation mehrfacher Hinsicht eine Schlüs- türkisches Selbstbewusst- sein Kulturelle Differenz wird von den beider hier betrachteter Gruppen, selstellung im Integrationsprozess Einheimischen oft erst dann tole- wenngleich auf unterschiedlich zu: Zum einen eröffnen sich Zu- riert, wenn eine Gruppe einen ho- hohem Niveau. Türkische Ein- wanderern, die zum Beispiel Schu- hen gesellschaftlichen Status er- wanderer der ersten und auch len außerhalb der Innenstädte reicht hat. Ein Beispiel dafür ist die noch der zweiten Generation ge- besuchen und die die überpropor- weithin akzeptierte und in ihrer ben seltener als solche aus den tional von Minderheiten besetzten Bedeutung eher »symbolische« EU-15 Staaten an, dass sie »sehr Nischen des Arbeitsmarkts verlas- oder »folkloristische« Pflege der gut« oder »gut« deutsch sprechen. sen haben, viel mehr Kontaktmög- auf das Land der (Ur-)großeltern Der Status von Migranten im lichkeiten mit den Mehrheitsan- bezogenen kulturellen Praktiken Bildungssystem und auf dem Ar- gehörigen. Zum anderen wird für und Identifikationen bei den eu- beitsmarkt wird häufig als wich- letztere die Interaktion mit den ropäischen Einwanderern der tigster Eingliederungsindikator be- Einwanderern »interessanter«, da vierten und fünften Generation in trachtet. Tatsächlich kommt diesen diese mehr Ressourcen (zum Bei- den USA. Abbildung 1

Sprachkenntnisse und die Ein- »Ich spreche sehr gut deutsch« gliederung im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt Der Erwerb der Sprache des Aufnahmelandes steht oft zu Be- ginn des Eingliederungsprozesses und beginnt häufig sogar bereits vor der Migration. Sprachkennt- nisse sind die notwendige, wenn- gleich nicht hinreichende Voraus- setzung für den Zugang zu den so- zialen Netzwerken (zum Beispiel den Freundschaftsnetzwerken) und Herkunftsland Türkei Italien, Spanien, Griechenland den Statussystemen (zum Beispiel dem Arbeitsmarkt) im Zielland.

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spiel Macht, Humankapital oder besaßen im Jahr 1998 44 Prozent (vgl. auch Seibert und Solga 2006). wichtige soziale Kontakte) besit- der 18-jährigen Deutschen das Sie sind im Hinblick auf die Ar- zen. Aus der großen Anzahl der Abitur oder besuchten die Klas- beitsmarktintegration schlechter Befunde über die Positionierung senstufen 11 bis 13, aber nur 23 gestellt als Deutsche mit ver- von Einwanderern und Personen Prozent der gleichaltrigen Türken, gleichbaren Bildungsabschlüssen. mit Migrationshintergrund im Bil- 19 Prozent der Italiener und 30 Worauf diese Differenzen zurück- dungssystem und auf dem Arbeits- Prozent der Spanier und Portugie- zuführen sind, ist bislang nicht markt lassen sich einige relativ sen (Kristen und Granato 2004). endgültig geklärt. Unterschiede in eindeutige herauskristallisieren: Allerdings ist der Anteil bei allen den Sprachkenntnissen, fehlende Die erste Generation der in der Gruppen im Zeitverlauf gestiegen. soziale Kontakte, die bei der Job- Rekrutierungsperiode der 1950er Bei der Erklärung dieser Unter- suche behilflich sein könnten, bis 1970er Jahre Eingewanderten schiede spielt die in Deutschland aber auch Benachteiligungen sei- besaß naturgemäß relativ wenig generell geringe soziale Mobilität tens der Arbeitgeber sind mögli- Humankapital im Sinne von Bil- die zentrale Rolle: Vergleicht man che Ursachen für diese Situation. dungsabschlüssen und berufli- Kinder ausländischer und deut- chen Zertifikaten. Dieses verlor scher Eltern mit ähnlichem Bil- Identifikation und soziale durch die Migration noch zusätz- dungs- und beruflichem Hinter- Kontakte: Gibt es Anzeichen für lich an Wert, etwa durch die grund, so unterscheiden sich diese eine Re-ethnisierung türkischer Nichtanerkennung ausländischer im Hinblick auf ihren Schulerfolg Einwanderer? Bildungsabschlüsse. Außerdem nicht mehr wesentlich (ebd.). Die Es wird häufig argumentiert, fehlten dieser Gruppe viele mittel- Unterschiede zwischen deut- dass vor allem jüngere türkisch- bar arbeitsmarktrelevante Res- schen und ausländischen Kindern stämmige Einwanderer auf ihre sourcen wie Sprachkenntnisse stellen damit in erster Linie keine ökonomische Schlechterstellung mit einem sozialen und »identifi- kativen« Rückzug in die eigene © ullstein bild - ddp ethnische Gruppe reagieren. Bei diesem Prozess wird auch der so- zialen Ausgrenzung eine wichtige Rolle zugeschrieben, sind doch Türkinnen und Türken Umfrage- ergebnissen zufolge in der deut- schen Bevölkerung deutlich unbe- liebter als andere Ausländergrup- pen (Kühnel und Leibold 2003). So populär allerdings die ur- sprünglich aus den USA stammen- de These von einem »ethnischen Revival« bei der zweiten Einwan- derergeneration war und ist, so wenig empirische Belege gibt es für sie (Diehl und Schnell 2006). Sie bezieht sich vor allem auf zwei Aspekte der Eingliederung: Die sozialen Kontakte zu Deut- schen und die Identifikation mit

Die Bildungsministerin dem Aufnahme- bzw. dem Her- von Nordrhein-Westfalen, oder soziale Kontakte und Netz- ethnischen, sondern soziale Un- kunftsland. Ähnlich wie die Barbara Sommer, werke. Die niedrigen Bildungsab- terschiede dar. Dieses Muster setzt Sprachkenntnisse können auch besucht im Februar 2007 eine Bonner Real- schlüsse und beruflichen Positio- sich beim Übergang auf den Ar- diese beiden Merkmale anhand schule, die an dem nen der ersten Einwanderergene- beitsmarkt fort, das heißt die des sozio-oekonomischen Panels Schulversuch »Islam- ration sind daher wenig er- Schlechterstellung ausländischer im Zeit- und Generationenverlauf kunde in deutscher Sprache« teilnimmt. klärungsbedürftig. Arbeitnehmer reflektiert in erster untersucht werden. Etwas anders verhält es sich bei Linie ihre niedrigen Bildungsab- Im Hinblick auf die soziale Ein- der Generation ihrer Nachkom- schlüsse (Granato und Kalter gliederung – gemessen am Anteil men. Auch für sie zeigen Analy- 2001). Eine Ausnahme von diesem derer, die mindestens einen Deut- sen mit dem Mikrozensus eine an- Muster stellt allerdings die Grup- schen unter ihren drei besten haltende Schlechterstellung. So pe der türkischen Einwanderer dar Freunden haben – zeigt sich, dass

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die zweite Generation deutlich mehr enge Kontakte zu Deut- Mindestens ein/e Deutsche/r unter den drei Personen, mit denen schen besitzt als die erste. Ein Ver- viel Zeit verbracht wird gleich der Einwanderer aus der Türkei und aus der »alten« EU deutet außerdem darauf hin, dass die soziale Eingliederung ähnlich wie der Spracherwerb eher im Ge- nerationen- denn im Zeitverlauf stattfindet. Der Anteil derer, die enge deutsche Freunde haben, stagniert im hier betrachteten Zeitraum zwischen 60 bis 70 Pro- zent bei den türkischstämmigen Einwanderern und zwischen 70 Herkunftsland Türkei Italien, Spanien, Griechenland bis 80 Prozent bei den aus EU-15 Abbildung 2 Staaten stammenden Einwande- rern der zweiten Generation (vgl. Abbildung 2). »Wie sehr fühlen Sie sich als Deutsche/r« · Anteil: »Voll und ganz« Ein etwas anderes Muster zeigt sich im Hinblick auf die identifi- kative Eingliederung. Auf die Fra- ge »Wie sehr fühlen sie sich als Deutsche/r?« antworteten im Jahr 2001 gut 30 Prozent der türkisch- stämmigen und 40 Prozent der eu- ropäischen (EU-15) Einwanderer der zweiten Generation »voll und ganz«. Dieser Anteil lag bei der ersten Generation deutlich niedri- ger. Anders als die anderen hier Herkunftsland Türkei Italien, Spanien, Griechenland betrachteten Indikatoren ist er Abbildung 3 aber auch im Zeitverlauf gestie- gen, und zwar bei den Türkinnen und Türken stärker als bei den EU- »Wie sehr fühlen Sie sich dem Land verbunden, aus dem Sie oder Ihre 15 Bürgerinnen und Bürgern (vgl. Familie kommen?« Abbildung 3). Nahezu parallel dazu ist der Anteil derer, die angeben, sich ausschließlich als Mitglied ihres Herkunftslands zu fühlen, im Un- tersuchungszeitraum stark gesun- ken und lag im Jahr 2001 bei den Angehörigen der zweiten Genera- tion bei allen hier betrachteten Gruppen bei nur noch rund 10 Prozent (vgl. Abbildung 4). Herkunftsland Türkei Italien, Spanien, Griechenland Einbürgerung und politisches Abbildung 4 Interesse Grafiken: Diehl und Schnell, 2006 Obschon vergleichsweise we- nig untersucht, ist die »politische land lebenden Arbeitsmigranten landes gebunden ist und mit der Eingliederung« nicht nur ein und ihre Nachkommen einbürge- Einbürgerung nur wenige rechtli- wichtiger Integrationsindikator, rungsberechtigt. Da in Deutschland che Vorteile verbunden sind, stellt sondern auch ein Integrations- der Erwerb des deutschen Passes diese Entscheidung eine weit rei- katalysator: Zum einen sind mitt- in der Regel an die Aufgabe der chende und bewusste »Zugehörig- lerweile die meisten in Deutsch- Staatsbürgerschaft des Herkunfts- keitsentscheidung« dar. Zum an-

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deren gewinnen Einwanderer mit Prozent der türkischen Einwande- derzeit zur Verfügung stehenden dem deutschen Pass das Wahl- rer einbürgern lassen. Mit steigen- Daten nicht ohne weiteres beant- recht und damit die Möglichkeit, den Eingebürgertenzahlen nehmen wortet werden. Es zeigt sich zwar im Aufnahmeland effektiv ihre In- für Einwanderer nicht nur die Mög- im Generationen- und teilweise teressen zu vertreten und so ihre lichkeiten zur politischen Partizi- auch im Zeitverlauf ein – in der öf- Integration zu fördern. pation zu, sondern auch die An- fentlichen Debatte, wie eingangs Im Hinblick auf die Einbürge- reize, sich für das politische Ge- geschildert, häufig übersehener – rung nehmen die türkischstämmi- schehen im Aufnahmeland zu in- Trend hin zu mehr Kontakten mit gen Einwanderer insofern eine teressieren. Dieses Interesse ist bei Einheimischen, besseren deut- Sonderstellung ein, als sie sich im Einwanderern nicht zuletzt auf- schen Sprachkenntnissen, einer Vergleich zu anderen Arbeitsmi- grund ihrer jahrelangen politischen stärkeren Identifikation als »Deut- granten besonders häufig einbür- Exklusion deutlich niedriger als sche/r« und einem steigenden An- gern lassen. Dies gilt nicht nur im bei Deutschen. Dies gilt selbst teil an Migranten mit höheren Bil- Vergleich mit den ohnehin den dann, wenn im Hinblick auf Alter dungsabschlüssen. Offen ist aber Einheimischen rechtlich weitge- und Bildung ähnliche Gruppen dennoch, ob sich bei kleinen Sub- hend gleichgestellten EU Bürge- von Deutschen und Ausländern gruppen von Einwanderern ge- rinnen und Bürgern, sondern auch miteinander verglichen werden. genläufige Tendenzen zu dem mit anderen Drittstaatenangehöri- hier gezeichneten Muster zeigen – gen wie den Einwanderern aus Künftiger Forschungsbedarf: und wie verbreitet diese sind. dem Gebiet des ehemaligen Ju- Die Gruppenebene Auch Erkenntnisse über Eingliede- goslawien, die zudem weitaus Wenngleich eine empirisch rungsprozesse, die sich eher auf häufiger als eingebürgerte Türkin- untermauerte Analyse der Einglie- die Gruppenebene beziehen, sind nen und Türken ihren alten Pass derungsmuster von Migranten zur bislang meist auf lokale Untersu- behalten (dürfen). Insgesamt be- Versachlichung der öffentlichen chungen oder Fallstudien be- trachtet haben sich in den letzten Debatte beitragen kann, so kön- grenzt. Dies gilt etwa für die Ent- zehn Jahren jährlich circa drei nen doch viele Fragen anhand der stehung einer bereits angespro-

Universität Göttingen 92 © ullstein - aslu NORMEN UND WANDEL

chenen wirksamen Interessenver- There is a broad consensus generation. Migrants’ cognitive tretung von Einwanderern oder in the public debate that mi- and social assimilation, for exam- die Institutionalisierung einer reli- grants’ integration process into ple, stagnates over time but the giösen Infrastruktur der in German society has come to a number of those second-generation Deutschland lebenden Minder- standstill and that ethnicity has individuals who feel totally Ger- heiten. Auch die häufig als »ethni- become increasingly important man increased – not only from the sche Community« bezeichneten for their identity, behavior, and so- first to the second generation, but lokalen Netzwerke von Migranten cial networks. Many aspects of also over time. Homeland related sind bislang nur ansatzweise be- this statement are conceptually indicators such as migrants’ fee- schrieben worden. Hier besteht unclear and supporting evidence ling of belonging to their or their noch viel Forschungsbedarf. Ganz is often impressionistic in nature. parents’ country of origin by no gleich, um welchen Aspekt der In the article, the often stated means suggest that Turkish mi- Eingliederung es im Einzelnen assumption that labor migrants in grants’ less-progressed structural geht, lohnt dabei stets die ver- turn away from integra- assimilation is accompanied by a gleichende Betrachtung mit den tion and reaffirm their ethnicity is tendency to compensate for their klassischen Einwanderungslän- scrutinized by summarizing re- comparatively disadvantaged so- dern, allen voran den USA. Bei cent empirical findings about their cial status by reaffirming home- diesem Blick über den Atlantik er- identificational, cognitive, social, land-oriented attitudes. weisen sich viele hierzulande auf- and structural assimilation proces- Overall, empirical evidence geregt diskutierte Prozesse als we- ses. It starts out by presenting an suggests that there is change, and niger neu als angenommen – und overview and a methodological that the direction of change points dies gilt nicht nur für die Einglie- critique of the current debate about toward assimilation. However, derungsverläufe der Minderheit, particularly Turkish migrants’ sup- these results do not preclude that sondern auch für die Reaktions- posed reluctance to assimilate. a small subgroup of migrants muster der Mehrheit. Drawing from studies based on whose structural assimilation has data from the German Micro-Cen- failed might have become more sus and the German Socio-Econo- homeland-oriented or even hold mic Panel, trend analyses of diffe- anti-integration attitudes. rent hostland- and homeland-rela- Empirical evidence is also limi- Literatur: ted indicators are presented. Re- ted with regard to migrants’ in- Diehl, C. und R. Schnell 2006: »Reactive Ethnicity« or »Assimilation«? Statements, sults are displayed separately for tegration on the group level. Evi- Arguments, and First Empirical Evidence for first- and second-generation mi- dence about the emergence of an Labor Migrants in Germany. International grants from Turkey and the EU. »ethnic lobby« in Germany, about Migration Review 40: 786-816. Not all assimilation-related in- migrants’ religious infrastructure, Esser, H. 2006: Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des dicators undergo considerable or about the patterns of residential Spracherwerbs von Migranten. Frankfurt am change over time but all indica- segregation is so far mostly Main. tors show a substantial difference limited to case studies. Granato, N. und Kalter, F. 2001: Die Persis- between the first and the second tenz ethnischer Ungleichheiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Diskriminierung oder Unterinvestition in Humankapital? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial- psychologie 53: 497-520. Prof. Dr. Claudia Diehl, Jahrgang 1968, studierte Kristen, C. und N. Granato 2004: Bildungs- investitionen in Migrantenfamilien. S. 123- Soziologie und Psychologie an der Universität Mann- 141 in: K.J. Bade und M. Bommes (Hrsg.): heim. Dort wurde sie im Jahr 2001 im Fach Soziologie Migration-Integration-Bildung. Grundfra- mit einer Arbeit über die Partizipation von Migranten gen und Problembereiche. Osnabrück. in Deutschland promoviert. Berufliche Erfahrungen Kühnel, S. und J. Leibold 2000: Die anderen sammelte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des und wir: Das Verhältnis zwischen Deut- schen und Ausländern aus der Sicht der in Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (1995 bis Deutschland lebenden Ausländer. S. 111- 2001) und am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Wies- 146 in: R. Alba, P. Schmidt, M. Wasmer baden) (2002 bis 2006). Studien- und Forschungsaufenthalte führten (Hrsg.): Blickpunkt Gesellschaft 5. Deutsche sie in den USA an das Migration Policy Institute in Washington DC, und Ausländer: Freunde, Fremde oder Fein- die State University of New York at Albany und die Indiana Univer- de? Empirische Befunde und theoretische Erklärungen. Westdeutscher Verlag. sity in Bloominton, Indiana. Die Wissenschaftlerin führte zahlreiche Seibert, H. und H. Solga 2005: Gleiche empirische Studien zu Fragen der Migration sowie der Einbürgerung Chancen dank einer abgeschlossenen Aus- und Integration durch. Seit Juni 2006 ist Dr. Diehl Juniorprofessorin bildung? Zum Signalwert von Ausbildungs- für Migration und Ethnizität am Institut für Soziologie der Universität abschlüssen bei ausländischen und deut- Göttingen. schen jungen Erwachsenen. Zeitschrift für Soziologie 34: 364-382.

Georgia Augusta 5 | 2007 93 Kommunarde Rainer Langhans und seine Mitbewohnerin Uschi Obermaier in München, 1969

© ullstein - KPA Liebeskulturen im Wandel

Generationelle Konflikte um die Pille in den 1960er Jahren

Eva-Maria Silies KULTUREN UND KONFLIKTE

Für Frauen und Paare brachte die Verhütung mit der »Pille« sexuelle Befreiung und größere Selbstbestimmung in der eigenen Lebensplanung. Für konservative und kirchliche Kreise bedrohte sie das Leitbild der Familie und die tradierte Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen. Die Pille prägte eine ganze Generation von Frauen und ermöglichte ihnen eine Erfahrung, die sie elementar von ihrer Mütter- und Großmüttergeneration unter- schied und die vermutlich sowohl ihre Töchter- als auch ihre Enkelinnengeneration nachhaltig beeinflussen wird. Welche Konflikte mit Einführung der Pille auf dem deutschen Markt im Jahr 1961 einhergingen und wie eng sie mit dem gesellschaftlichen Wandel der späten 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland ver- bunden waren, untersucht ein Promotionsprojekt im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Generatio- nengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert« an der Georg- August-Universität Göttingen.

Es war eine Neuerung, die zu- milie als Kern des gesellschaftli- fentlich artikulierte – nicht nur auf nächst fast unbemerkt daher kam. chen Lebens galt, sozialisiert wor- der Straße gegen Politik und Wirt- Als die Pille im Juni 1961 in der den waren. Sie konnten mit der schaft, sondern auch im privaten Bundesrepublik auf den Markt ge- Pille eine Erfahrung machen, die Raum, wenn es um Freizeitgestal- bracht wurde, wussten nur einige sie elementar von ihrer Mütter- tung, Musik- und Modegeschmack ausgewählte Gynäkologen und und Großmüttergeneration unter- und um voreheliche Beziehungen noch weniger Frauen von diesem schied: Sie konnten in eigener Ver- ging. Die moralische Haltung in neuen Verhütungsmittel; der Phar- antwortung, auf sicherem Weg und der bundesrepublikanischen Ge- makonzern Schering, der die Pille ohne komplizierte Anwendung sellschaft der frühen Sechziger in Westdeutschland einführte, be- über ihre Fruchtbarkeit bestim- war dabei durchaus ambivalent: trieb zunächst eine defensive Ver- men und so ihre Lebensplanung Ein Großteil der jungen Paare marktungsstrategie, da man, ge- wesentlich bewusster gestalten als praktizierte vorehelichen Ge- prägt durch die konservativen und vorherige Frauengenerationen. schlechtsverkehr und verstieß da- sexualitätsfeindlichen fünfziger Die Durchsetzung der neuen mit gegen das Gebot der Jungfräu- Jahre, den Wirbel um potenzielle Art der Verhütung war aber ge- lichkeit vor der Ehe, wurde aber moralische Auswirkungen fürch- prägt von Konflikten verschiedens- spätestens, wenn die Frau schwan- tete. Aber es dauerte nur wenige ter Art. Konservative Moralhüter ger wurde, durch gesellschaftli- Jahre, und die Pille war nicht nur fürchteten um die sexuelle Unbe- chen Druck zur Eheschließung 100 Prozent aller Bundesbürger scholtenheit der Jugend, religiöse gedrängt. Schätzungen zufolge bekannt, sondern wurde auch von Meinungsführer um den Erhalt waren bis zu 40 Prozent der jungen einer stetig wachsenden Zahl von von Ehe und Familie, Ärzte um Ehefrauen bei der Hochzeit bereits Frauen als Verhütungsmittel ange- das Ansehen ihrer Zunft und ihre schwanger, und noch Ende der wendet. (Abbildung 1) berufliche Autorität und Eltern um Sechziger Jahre betrug der Anteil Die Frauen, die als erste von die Zukunft ihrer Töchter und der Ehepaare, bei denen beide der Pille profitierten, waren die Söhne. Dem gegenüber stand eine Partner unter 21 Jahren waren, 7,6 zwischen 1935 und 1950 gebore- junge Generation, die mit wach- Prozent. nen Frauen, die in der Nach- sendem Selbstbewusstsein die Für junge, unverheiratete Frau- kriegszeit groß geworden und im moralischen und sittlichen Vor- en war es zunächst aber schwierig, christlich-konservativen Klima stellungen ihrer Eltern ablehnte die Pille überhaupt zu erhalten, der Adenauer-Zeit, in der die Fa- und den Protest zunehmend öf- denn viele Ärzte verschrieben die Pille generell nur an verheiratete Frauen, die bereits mehrere Kin- der hatten. Sie fürchteten, die jun- Abb. 1: Zahl der Pillen- gen Mädchen würden sich ansons- nutzerinnen [in Mio.] ten ungehindert „sexuellen Aus-

Nach: Dose, Ralf: Die schweifungen” hingeben. Für jun- Durchsetzung der ge Mädchen und unverheiratete chemisch-hormonel- Frauen, die auf diese sichere Art len Kontrazeption in der Bundesrepublik der Verhütung nicht verzichten Deutschland. Berlin wollten, blieb als Ausweg nur, 1989, S. 27. sich die Pille über Mütter, ältere Freundinnen oder Schwestern zu besorgen. Gegen Ende der sechzi- ger Jahre wurden vor allem unter Studentinnen Adresslisten von

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Ärzten ausgetauscht, die die Pille lung zur Liebe vor der Ehe habe, breitet Hysterie über den morali- auch an unverheiratete Frauen oh- das »schnelle Genießen« aber schen Bruch der jungen Generati- ne größere Untersuchungen und dennoch nicht typisch für sie sei. on mit traditionellen Verhaltens- unangenehme Fragen ausgaben. Liebe werde als etwas Natürliches normen oftmals verdeckte, dass Neben den Ärzten fürchteten empfunden, nicht als etwas, das junge Leute sich in vielen Berei- auch zahlreiche andere Zeitge- als Problem zu behandeln sei. Ins- chen noch stark an den Vorstel- nossen, geprägt vom konservati- gesamt verhalte sich die Jugend lungen ihrer Eltern orientierten, ven Lebensgefühl der fünfziger des Jahres 1963 sogar angepasster wenn sie auch in einigen Punkten Jahre, den Verlust des sittlichen an den vorgegebenen Moralkodex unbeirrt ihre eigenen Ansichten Anstands der Jugend und den Zer- als die des Jahres 1949. Und eine lebten. Von einem flächengreifen- fall der Familie als Kern der bun- Umfrage unter Studenten im Jahr den Wandel im sexuellen Verhal- desrepublikanischen Gesell- schaftsvorstellungen. Die Sorge um die Familie stand auch in der katholischen Kirche im Mittel- punkt der Diskussion über die Pil- le; für junge, unverheiratete Frau- en wurde sie hier generell abge- lehnt. Zwar war nach dem Zwei- 1966 zeigte, dass sich diese in ten kann erst in den siebziger Jah- ten Vatikanischen Konzil eine ihren Einstellungen zwar weit von ren gesprochen werden, lange Neuorientierung der katholischen der offiziellen Moral entfernt und nach der medialen Aufklärung Kirche initiiert worden, aber tradi- sich ein eigenes System an Se- durch Oswalt Kolle und der ersten tionelle Familienleitbilder blieben xualnormen erschaffen hatten, in Flut von Abbildungen nackter weiterhin bestehen und wurden dem die Anwendung von Verhü- Körpern in Zeitungen und Zeit- vom päpstlichen Lehramt immer tungsmitteln fest etabliert war, der schriften. wieder bestätigt. So untersagte vorehelicher Geschlechtsverkehr Gegen Ende der sechziger Jah- Papst Paul VI. katholischen Ehe- aber überwiegend an einen festen re waren es vor allem die Studen- paaren 1968 nach jahrelanger kir- Partner gebunden blieb. Daran ten, die lautstark und öffentlich- cheninterner Diskussion die Nut- zeigt sich, dass die medial ver- keitswirksam gegen starre gesell- zung der Pille ebenso wie die an- derer künstlicher Verhütungsmit- Frauen demonstrieren tel. Viele Ehepaare bestanden für Gleichberechtigung und das Recht auf Ab- aber, unterstützt von einer breiten treibung im Mai 1971. Front der Moraltheologen, auf ih- rer eigenen Gewissensentschei- dung und sahen es für ein glückli- ches Ehe- und Familienleben als unerlässlich an, die Zahl und den Abstand der Kinder selbst zu be- stimmen. Dies führte zu einer Dis- tanzierung gegenüber der Kir- chenautorität und einer Stärkung des kritischen Selbstbewusstseins vor allem unter jungen Kirchen- mitgliedern. Immer wieder zeigten Umfra- gen und wissenschaftliche Unter- suchungen, dass die Sorge um den Verfall der Moral bei der Jugend unbegründet war. Eine Umfrage, die 1963 im Magazin »Stern« ver- öffentlicht wurde und die aktuelle Moral mit der von 1949 verglich, als eine ähnliche Untersuchung durchgeführt worden war, kam zu dem Ergebnis, dass die junge Ge- © picture-alliance / VOTAVA neration zwar eine freiere Einstel-

Georgia Augusta 5 | 2007 97 KULTUREN UND KONFLIKTE

schaftliche Vorgaben und die aus theoretisch diskutiert als praktisch Thrombosen, Embolien und ver- ihrer Sicht moralische Heuchelei gelebt wurde – viele Frauen sahen schiedenen Krebsarten zu erkran- ihrer Elterngeneration protestier- sich weiterhin hauptverantwort- ken. Diese Debatten wurden me- ten. Sexualität spielte dabei eine lich für Kindererziehung und Or- dial aufgegriffen und schürten bei wichtige Rolle, die Forderung ganisation des Lebensalltags. Aus vielen Frauen die Angst, mit der nach sexueller Befreiung wurde dieser Erkenntnis entwickelte sich Pille ein unkalkulierbares gesund- ebenso erhoben wie die Gleich- zunächst die Gründung von so ge- heitliches Risiko einzugehen, das behandlung von Männern und nannten »Kinderläden«, in denen durch den sicheren Verhütungs- Frauen und eine Umorientierung sich Mütter (und einige wenige schutz nicht aufgewogen werden in der Kindererziehung. Die Pille Väter) kollektiv und nach antiau- konnte. Immer mehr Frauen sahen bot den Aktivistinnen und Aktivi- toritären Prinzipien um die Kinder die permanente Verfügbarkeit für sten der Studentenbewegung da- kümmerten und so ein neues Bild Sexualität mit Männern, die durch bei die Möglichkeit, ihre Sexua- von Kindererziehung und Familie die Pilleneinnahme ermöglicht lität frei auszuleben und sich ihre kreierten. Zugleich begannen sich und von den männlichen Sexual- Partner auszusuchen, ohne Angst die Frauen auch in anderen Berei- partnern ausgenutzt wurde, nega- vor einer Schwangerschaft haben chen selbst zu organisieren und tiv. Im Zuge der feministischen zu müssen. Das, was heute als sich mit feministischen Fragen Beschäftigung mit dem weibli- »sexuelle Revolution« bezeichnet auseinanderzusetzen. Spätestens chen Körper und alternativen Le- wird, wurde allerdings damals mit der Selbstbezichtigung von bensentwürfen setzten zahlreiche von vielen Frauen schon bald über 300 Frauen, abgetrieben zu Frauen, die jahrelang die Pille ge- nicht mehr als befreiend empfun- haben, die von Alice Schwarzer nommen hatten, diese wieder ab den. Weiterhin lag die Verantwor- organisiert und im Juni 1971 im und kehrten zu Verhütungsmetho- tung für eine sichere Verhütung »Stern« veröffentlicht wurde, war den zurück, die sie – oder oftmals bei ihnen, viele der studentenbe- die Frauenbewegung als Vertre- eher ihre Mütter – in den fünfziger wegten Männer setzen ungefragt tung der Interessen von Frauen für und sechziger Jahren wegen ihrer voraus, dass ihre Partnerinnen die Frauen öffentlich präsent. Unsicherheit nur ungern verwen- Pille schluckten und Unkosten Die Frauenbewegung begann det hatten: Temperaturmethode, und häufig auftretende Nebenwir- schnell, sich kritisch mit der Pille Knaus-Ogino, Enthaltsamkeit. kungen in Kauf nahmen. Ein und anderen Arten der Verhütung Die Nutzungszahlen, die trotz wachsender Anteil von Frauen auseinanderzusetzen. Immer wie- der Kritik an der Pille in den sieb- empfand die antibürgerliche Paro- der wurde dabei über die Neben- ziger Jahren noch anstiegen be- le »Wer zweimal mit demselben wirkungen und Langzeitfolgen der ziehungsweise konstant blieben, pennt, gehört schon zum Estab- Pille debattiert, denn von Anfang zeigen, dass die Pille dennoch ein lishment« als Belastung für ihr an hatten viele Frauen unter er- Erfolg war. Was sich veränderte, emotionales Gleichgewicht und heblichen Nebenwirkungen der war das Verhütungsverhalten ihre Lebensplanung. Zudem zeig- hoch dosierten Pillen gelitten. insgesamt. Es wurde zunehmend te sich, dass die Forderung nach Schon seit Mitte der sechziger Jah- abhängig gemacht von der mo- Gleichberechtigung von Männern re wurde in medizinischen Fach- mentanen Lebensphase bezie- Aktion Leben: und Frauen gerade von den akti- kreisen das erhöhte Risiko für hungsweise dem Charakter der Demonstration gegen ven Linken der Bewegung eher Pillennutzerinnen diskutiert, an Beziehung, in der sich die Frauen die Fristenlösung 1971 befanden. Kaum eine Frau mehr nutzte nur eine bestimmte Verhü- tungsmethode in der ganzen Zeit ihrer Fruchtbarkeit, sondern vari- ierte diese. Fragt man Frauen, die zwischen 1940 und 1955 geboren wurden, gibt es kaum eine, die nicht wenigstens kurz die Pille ge- nommen hat. Fast alle bezeichnen sie als »Erlösung« oder »Erleichte- rung«, haben aber im Lauf der Zeit zu anderen Verhütungsmethoden gewechselt. Dennoch war für diese Gruppe von Frauen die Pille eine generationelle Erfahrung, durch

© picture-alliance / IMAGNO/Barbar die sie sich elementar von ihrer Müttergeneration unterschieden.

98 Universität Göttingen NORMEN UND WANDEL

Sie hatten für die Pille kämpfen The pill was introduced in would lead to the decline of mo- müssen, konnten aber dadurch Er- West Germany in 1961, but ral decency, a concern shared by fahrungen mit Sexualität und Le- it took a couple of years until it other moral authorities such as bensplanung machen, die ihren was widely known and accepted the Catholic Church. When Pope Eltern verwehrt geblieben waren. among German women. It was Paul VI. finally forbade Catholic Die unterschiedlichen Konfliktli- mainly women born between women to use the pill in 1968, a nien moralischer, religiöser und 1935 and 1950 who first profited wide front of Catholic couples de- machtbedingter Art, die sich in from the pill. The pill as a safe, re- cided to make their own decision der Auseinandersetzung um die liable and uncomplicated method in this question based on their in- Pille aufzeigen lassen, zeugen von of contraception enabled them to dividual consciences, and dis- der Abgrenzung der jungen Gene- control their fertility and to plan tanced themselves from the ration, die sich im Verlauf der their lives much better than their church’s authority. sechziger und frühen siebziger mothers or grandmothers could. During the course of the Stu- Jahre von ihrer Elterngeneration From the outset, conflicts dents’ Movement, men and wo- nicht nur löste, sondern auch öf- occurred about the moral dimen- men enjoyed the sexual freedom fentlichkeitswirksam distanzierte. sion of the pill. The younger ge- the pill made possible. But the so- Auch wenn der Konflikt um die neration expressed their dissatis- called »sexual revolution« did not Pille heute in der medialen De- faction with their parents’ moral constitute real liberation for wo- batte und der Selbstinszenierung standards more and more openly. men: they still felt responsible for der meist männlichen so genann- Many young people had pre- contraception and had to take on ten »68er« keine oder nur eine marital sexual relationships, but the physical and psychic risks and marginale Rolle spielt, hat er für were forced to marry when the side-effects. The Women’s Move- fast alle Frauen dieser Generation woman became pregnant – and ment which emerged in the early mehr bewegt als Straßenkämpfe up to 40% of women were preg- 1970s took a critical look at the und Protestkultur. Diese private, nant at the time they got married. pill and spoke out for the use of zunächst nur im Stillen gemachte But surveys showed that most natural contraception. Erfahrung, die aber immer lauter young people did not embark on in die öffentliche Wahrnehmung a dissipated sexual life but still getragen wurde, machte für viele followed their parents’ example: Frauen das Private politisch. Die in most cases, premarital sex Pille, ob sie genommen wurde was still connected to one single oder nicht, prägte eine ganze Ge- partner. But nonetheless, the number of neration von Frauen und ermög- For a long time, unmarried wo- pill users in West Germany re- lichte ihnen einen Prozess der men had difficulties obtaining a mained relatively high in the Selbstdefinition und Bewusstseins- prescription for the pill from their seventies. Contraceptive beha- findung, von dem die Töchter- doctors and approached instead viour itself changed, becoming in- und wohl auch noch die Enkelin- their mothers, sisters, and friends. creasingly dependent on the cha- nengeneration der ersten Pillen- But not only doctors were afraid racter of the relationship between nutzerinnen profitieren werden. that widespread use of the pill men and women, and on the phase of their lives. For women born be- tween 1935 and 1950, the pill was a generational experience that se- parated them from older generations Eva-Maria Silies, Jahrgang 1978, studierte Mittlere und and gave them possibilities in terms Neuere Geschichte, Politikwissenschaft und Medien- of life quality and life planning not und Kommunikationswissenschaft an den Universitä- previously available. The fight for ten Mainz, Tours (Frankreich) und Göttingen. Als Sti- the pill and the discussions around pendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes it were more formative for women schloss sie ihr Studium im Mai 2004 mit dem Magis- in this generation than the public tergrad an der Georgia Augusta ab. Seit April 2005 ist sie Kollegiatin self-representation of the so- im DFG-Graduiertenkolleg »Generationengeschichte. Generatio- nelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhun- called »68ers«. This made their dert«. In diesem Rahmen arbeitet Eva-Maria Silies an ihrer Promotion private experiences into a politi- zu dem Thema »Liebe, Last und Lust. Die Pille als weibliche Gene- cal affair and initiated a process rationserfahrung 1960-1980«. 2006 forschte die Nachwuchswissen- of self-definition and construction schaftlerin für drei Monate als Visiting Scholar am Institut for Histo- of a female identity from which rical Research in London (Großbritannien). their daughters and grand- daughters still profit.

Georgia Augusta 5 | 2007 99 KULTUREN UND KONFLIKTE

Für den Aufbau einer politischen Ordnung in Afghanistan ist die Herstel- lung der Rechtssicherheit und Rekonstruktion des Rechtssystems zentral. Unter dem Taliban-Regime waren Frauen von Bildung und Beruf ausge- schlossen und wurden im Familienrecht auf der Grundlage einer radikalen Auslegung des islamischen Rechts extrem benachteiligt. Deshalb ist es das Anliegen der internationalen Gemeinschaft, hier besondere Hilfestellung zu leisten. Das Projekt »Afghanisches Familienrecht«, an dem das Semi- nar für Arabistik und Islamwissenschaft der Georg-August-Universität Göt- tingen federführend beteiligt ist, hat Gesetzgebung, Rechtsprechung, Rechtspraxis und gesellschaftliche Situation von Frau und Familie in Afghanistan untersucht und wird mit den gewonnenen Erkenntnissen ei- ne Neugestaltung des afghanischen Familienrechts begleiten. Familienrecht in Afghanistan Rekonstruktion der Rechtsordnung und Perspektiven für einen strukturellen Wandel

Irene Schneider

Die Prognosen für eine Entwick- ten. Dazu stellt es für die afghani- lung hin zu mehr politischer Stabi- schen Juristinnen und Juristen ei- lität in Afghanistan sind im Winter ne Diskussionsplattform über die und Frühjahr 2007 kritisch. Zentral spezifisch afghanischen Probleme für den Aufbau einer politischen im Bereich des Familienrechts und Ordnung in dem zentralasiati- ihre möglichen Lösungsansätze schen Land ist auch die (Wieder)- sowie rechtsvergleichend einen herstellung der Rechtssicherheit Blick auf die Entwicklungen in und Rekonstruktion des Rechts- den Familienrechten anderer isla- systems in einem seit mehr als mischer Länder zur Verfügung. zwanzig Jahren von Krieg und An dem Vorhaben sind das Se- Bürgerkrieg, Invasion, militäri- minar für Arabistik und Islamwis- schen Aktionen und Fremdbesat- senschaft der Georg-August-Uni- zung geprägten Land. Da unter versität Göttingen, das Max- dem Taliban-Regime, das von Planck-Institut für ausländisches 1996 bis 2001 das Land be- und internationales Privatrecht herrschte, Frauen von Bildung (Hamburg) sowie die School of und Beruf ausgeschlossen und im Oriental and African Studies (Lon- Familienrecht auf der Grundlage don) und die International Islamic einer radikalen Auslegung des is- University of Malaysia beteiligt. Es lamischen Rechts extrem benach- wird vom Auswärtigen Amt der teiligt worden waren, ist es das Bundesrepublik Deutschland über Anliegen der internationalen Ge- den Zeitraum von 2004 bis 2007 meinschaft, hier besondere Hilfe- gefördert. In der ersten Phase fand stellung zu leisten. Das Projekt eine so genannte Fact-Finding- »Afghanisches Familienrecht« hat Mission statt. Von Dezember 2004 sich einerseits die Bestandsauf- bis Februar 2005 wurden die nahme der Gesetzgebung, Recht- wichtigsten familienrechtlichen sprechung, Rechtspraxis und ge- Informationen auf verschiedenen sellschaftlichen Situation von Frau Ebenen, an den Universitäten, in und Familie zur Aufgabe gemacht den Gerichten und bei den Nicht- und will zum anderen eine even- regierungsorganisationen (NGOs), tuell anstehende Gesetzesnovel- gesammelt, die spezifischen Pro- lierung im Familienrecht beglei- bleme herausgearbeitet und in ei-

100 Universität Göttingen Kabul, Juni 2004

Foto: Irene Schneider KULTUREN UND KONFLIKTE

chen Normen westlicher Prägung und »islamischem« Recht ist in un- terschiedlicher Ausprägung cha- rakteristisch für alle islamischen Länder. Hinzu kommt eine dem islamischen Recht inhärente plu- rale Struktur. Die Scharia ist kein monolithischer Block, sondern beruht auf der Exegese der heili- gen Texte (Koran und Aussagen des Propheten) und ist schon in der Vormoderne von durchaus kon- trären Regelungen und Normen in den Bereichen des privaten und öffentlichen Rechts gekennzeich- net. Afghanistan ist geprägt durch das Recht der sunnitisch-hanafiti- schen Rechtsschule, weist aber Foto: Martin Hilbert auch schiitisches Recht in einigen

Sowjetischer Panzer Gebieten auf. als Spielplatz nem Bericht zusammengefasst. In Die afghanische Rechtsgeschichte In der neueren Geschichte des Istalif, Provinz Parwa einer zweiten Phase wurde im Ju- mit Blick auf die aktuelle Situation Landes konkurrieren moderne mit ni 2006 in einer mit knapp 50 Teil- Afghanistan hat eine reiche und traditionell-konservativen Ausle- nehmern aus Justiz und Politik be- vielfältige Rechtsgeschichte und gungen. So erlebte Afghanistan setzten Konferenz in Kabul über eine komplexe Rechtskultur: Un- bereits in den 20er Jahren des 20. Lösungsmöglichkeiten der spezifi- ter wissenschaftlichem Aspekt ist Jahrhunderts eine erste Phase der schen sich aus diesem Bericht ab- die Koexistenz und Interaktion der Reformierung des islamischen Fa- zeichnenden Probleme beraten. verschiedenen Teilrechtssysteme milienrechts durch König Ama- In der dritten und abschließenden (Stichwort: Rechtspluralismus) nullah, der von 1919 bis 1929 re- Phase werden die Ergebnisse der von besonderem Interesse. So be- gierte. Viele seiner Reformen gingen Feldforschung und Konferenz wis- kennt sich das Land in seiner neu- der sehr traditionell orientierten senschaftlich ausgewertet. Darü- en Verfassung vom Jahr 2004 in und noch stark durch Stammes- ber hinaus soll ein Lehrbuch ent- Artikel 7 zur Einhaltung der inter- strukturen geprägten Gesellschaft stehen, in dem die Diskussions- nationalen Menschenrechtspakte, allerdings zu weit, so dass der Kö- beiträge und Lösungsmöglichkei- zugleich aber auch zum Islam als nig teilweise zur Rücknahme der ten zusammengefasst werden. Staatsreligion, so dass kein Gesetz Reformen gezwungen wurde. Bevor ich die Ergebnisse der im Gegensatz zu den »Überzeu- Weitere Reformen, vor allem im beiden bereits abgeschlossenen gungen und Regeln« des Islam ste- Hinblick auf eine Gleichstellung Projektphasen vorstelle, möchte hen kann (Artikel 2 und 3 der Ver- der Geschlechter, erfolgten in den ich kurz auf die Rechtsgeschichte fassung). Der sich aus der paralle- 70er Jahren – das Familiengesetz- und aktuelle Rechtslage in Afgha- len Nennung ergebende Span- buch stammt aus dem Jahr 1977 – Männerrunde nistan eingehen. nungsbogen zwischen rechtli- und in der Zeit der sowjetischen Provinz Parwa Besatzung (1979 bis 1986). Unter den Taliban (1996 bis 2001) wur- de dieser Entwicklungsprozess ge- stoppt und eine zutiefst konserva- tive Interpretation des islamischen Rechts gewaltsam durchgesetzt, die Mädchen und Frauen sogar am Schul- und Universitätsbesuch hinderte. In der Nachkriegsära ist eine enorme Diskrepanz zwi- schen den rechtlichen Regelun- gen des Familiengesetzbuches von 1977 und der fehlenden Durchsetzung desselben zu ver- Foto: Martin Hilbert zeichnen. Es gibt kaum Familien-

102 Universität Göttingen NORMEN UND WANDEL

gerichte, das Gesetzbuch ist vie- schaftlich-traditioneller, islamisch- mit 60-jährigen Männern verhei- len Afghanen nicht bekannt. Statt rechtlicher und modern-west- ratet). Familien versprechen die dessen wird in der Praxis traditio- licher Rechtswerte zu Tage ge- Kinder einander oft schon im nell-islamisches Recht und/oder fördert. Einige wichtige Punkte Säuglingsalter, um die Bande zwi- Gewohnheitsrecht angewandt, sind: schen den Familien zu stärken. häufig nicht von Gerichten, son- 1. Eine Verlobung gilt – im Ge- 5. Polygamie ist nach dem dern von so genannten dschir- gensatz zum (vor)modernen isla- FamGB zwar erlaubt, aber an die gas/schuras, traditionellen Instan- mischen Recht und der Regelung Gleichbehandlung der Frauen zen auf Stammesebene bezie- im Familiengesetzbuch (FamGB) auch in Bezug auf die Unterhalts- hungsweise im dörflichen Kon- – bereits als ebenso bindend wie zahlung des Mannes gebunden. text. Ein weiterer das Familien- eine Heirat. Eine Lösung wird als Sie ist in Afghanistan, trotz der recht kennzeichnender Faktor ist Verletzung der Ehre der Familie daraus resultierenden enormen fi- die patriarchalische Gesellschafts- der Frau empfunden, die Frau hat nanziellen Belastung für den struktur im Zusammenspiel mit dann kaum mehr Möglichkeiten, Mann, noch relativ häufig. In be- dem paschtunischen Sittenkodex, einen Ehepartner zu finden. stimmten vom Krieg profitieren- dem so genannten Pasthunvali. 2. Neben dem islamischrecht- den Gruppen (»warlords«), aber Zentral ist hier der Begriff der Eh- lich erforderlichen an die Braut auch in einer neuen städtischen re. Diese ist kein individuelles, gezahlten Brautgeld (»mahr«), das Mittelschicht hat eine Zweit- oder sondern ein tief in der Gesell- der Frau als Absicherung im Fall Drittheirat den Stellenwert eines schaft verwurzeltes Konzept; eh- der Scheidung oder des Todes des Statussymbols. renhaftes Verhalten von Männern und Frauen garantiert die Stabi- lität der Gesellschaft. Im Fall des unehrenhaften Verhaltens einer Frau wird nicht nur die eigene, sondern die Ehre der gesamten Sippe verletzt, für deren Aufrecht- erhaltung die männlichen Mitglie- der der Familie beziehungsweise die Sippe zuständig sind. Ein Beispiel aus der Rechtspre- chung mag die Relevanz dieser gesellschaftlichen Konzepte und ihre Interaktion verdeutlichen: Kinderheirat und Zwangsehe sind nach dem Afghanischen Familien- gesetzbuch aus dem Jahr 1977 verboten, das Heiratsalter ist für Mädchen auf 16, für Jungen auf 18 Jahre festgelegt. Dennoch ord- Foto: Irene Schneider nen Richter häufig die Verheira- Konferenz zum Familien- tung von Mädchen unterhalb die- recht in Afghanistan im Juni 2006 ser Altersgrenze an, um sie – nach Ehepartners dient, das aber finan- 6. Eng damit verknüpft ist die eigenen Aussagen – vor den Kon- ziell gesehen in Afghanistan keine Problematik der Scheidung. Sie ist sequenzen einer illegitimen Se- große Rolle spielt, wird vor allem nach islamischem Recht ohne xualbeziehung – beispielsweise ein »walwar« genannter und meist weiteres möglich, allerdings weit- der Tötung durch ein Familienmit- erheblicher Betrag an den Vater gehend (wenn auch gerade im glied, meist durch den Bruder – zu der Braut bezahlt. modernen islamischen Recht: schützen. Die Rechtsprechung 3. Es gibt gegen die gesetzliche nicht ausschließlich) eine Präro- beugt sich mithin dem Druck der Regelung (Art. 61 ZGB) praktisch gative des Mannes. Im afghani- gesellschaftlich-tribalen Normen. keine Registrierung von Ehe- schen gesellschaftlichen Kontext schließungen wie auch Geburten, ist sie jedoch verpönt, sie gilt als Phase I: die Fact-Finding-Mission Scheidungen und Todesfällen. eine Ehrverletzung der Familie der Eine kurze Feldforschung 2004/ 4. Kinderheiraten sind häufig, Frau. Die Möglichkeit für die Frau, 2005 in der ersten Phase des Pro- der Altersunterschied zwischen im Ehevertrag die eventuelle jekts hat zahlreiche Diskrepanzen den Ehepartnern ist oft enorm Zweitheirat ihres Mannes als und Überschneidungen gesell- groß (14-jährige Mädchen werden Scheidungsgrund zu stipulieren

Georgia Augusta 5 | 2007 103 KULTUREN UND KONFLIKTE

(entsprechende Eheverträge sind kum geworden und mithin zum sollte, so ein Vorschlag, an den zum Beispiel im Iran die Regel), Austragungsort zentraler gesell- Schulen unterrichtet werden. wird von afghanischen Frauen schaftlicher Konflikte um die Isla- Die Ergebnisse der Konferenz aufgrund der gesellschaftlichen mizität der Familie als Basisein- lassen sich folgendermaßen zu- Ächtung der Scheidung nicht ge- heit der Gesellschaft, um die Iden- sammenfassen: Es zeigte sich bei nutzt. Frauen scheinen statt des- tifikation mit den zentralen, für is- allen Teilnehmern ein großes In- sen eher bereit, eine Zweitehe ih- lamisch gehaltenen Werten der teresse und ein großer Bedarf an res Mannes zu akzeptieren. Gesellschaft, nämlich Erziehung Informationen zu den konkreten und Familienstruktur. klassischen Rechtsnormen der Phase II: die Konferenz in Kabul An der Konferenz vom 12. bis einzelnen islamischen Schulen Vor dem Hintergrund dieser For- 14. Juni 2006 nahmen 48 Juristen, wie auch zu modernen Interpreta- schungsergebnisse wurde im Juni Politiker des Justizministeriums tionen spezifisch familienrechtli- 2006 eine Konferenz in Afghanis- und Mitglieder von Nichtregie- cher Koranverse und den Entwick- tan mit Teilnehmern vor allem aus rungsorganisationen (NGOs) aus lungen im Familienrecht in den dem juristischen Umfeld geplant. dem gesamten Land teil. Ein Vier- anderen islamischen Ländern. Be- Zu den Teilnehmern gehörten tel von ihnen waren Frauen, da- sonders Marokko (2004) und muslimische Gelehrte ebenso wie runter mehrere Professorinnen der Ägypten (2000) haben hier in zen- moderne Rechtsanwälte und Rechts-Fakultät von Kabul, die tralen Fragen in den letzten Jahren Richter. Sie sollte in Kabul, Herat Vorsitzende des Jugendgerichts in moderne, an der Gleichberechti- und Mazar-i Sharif stattfinden, Kabul und die Vorsitzende des Fa- gung der Geschlechter orientierte wurde aber kurzfristig auf Kabul miliengerichts in Kabul, sowie Reformwerke vorgelegt. Dieses beschränkt, da die Afghan Inde- Vertreterinnen von NGOs. Insge- große Interesse an Informationen pendant Human Rights Commis- samt wurde der Workshop von rechtfertigt die Notwendigkeit der sion in Herat mit der Begründung, den Teilnehmern als großer Erfolg geplanten Abfassung eines famili- das Thema sei zu brisant, ihre Be- bewertet, die Diskussion war le- enrechtlichen Lehrbuchs. teiligung absagte. Diese Absage ist bendig, teilweise kontrovers. Zu Zusammenfassend kann man einmal vor dem Hintergrund der Beginn war es allen afghanischen sagen, dass sich die Diskussion in angespannten politischen Lage Teilnehmern ein Bedürfnis, auf die denjenigen Punkten am lebhaftes- und dem Wiedererstarken der Ta- katastrophalen Folgen des Krieges ten entwickelte und auch die liban zu sehen. Sie reflektiert aber beziehungsweise des Bürgerkrie- Rechtsrealität mit einbezog, in de- auch die zentrale Stellung des Fa- ges, auf die erbärmliche Wirt- nen nicht unmittelbar islamische milienrechts, in dem sich, wie in schaftslage, die fehlende Infra- Maßstäbe betroffen waren. Das einem Brennglas, der Konflikt struktur, die hohe Analphabeten- galt zum Beispiel für die Verlo- zwischen westlichem, als impe- rate sowie die mangelnde Ausbil- bung, die nach Ansicht einer rialistisch empfundenem, und au- dung und Information der Bevöl- Richterin gesetzlich zu regeln sei thentischem »islamischem« Recht kerung über ihre Rechtslage hin- – obwohl sie islamrechtlich nicht konzentriert. Die Diskurse um die zuweisen. Familienrechtsbera- bindend ist. Sie verwies auf zahl- Position der Frau sind in der isla- tungsstellen in den Provinzen sind reiche Fälle, in denen sich Braut- mischen Welt längst zum Politi- dringend nötig, Familienrecht leute als bereits verheiratet be- trachteten, obwohl sie nur verlobt Straße in Charikar, waren. Provinz Parwa Über die Ablehnung des »un- islamischen« walwar wurde schnell Einstimmigkeit erzielt, wenn auch kein Vorschlag ge- macht wurde, wie man diese enorm kostspielige Praxis beseiti- gen oder zugunsten des Braut- gelds (das die Frau finanziell absi- chert) aufheben könne. Auffallend im afghanischen Kontext auch im Vergleich zu an- deren islamischen Ländern ist die Abneigung gegenüber der Regis- trierung, die islamischrechtlich nicht umstritten ist. Auch in den Foto: Martin Hilbert höheren Schichten der Gesell-

104 Universität Göttingen NORMEN UND WANDEL

schaft wird praktisch keine Ehe- schließung registriert. Dies wurde durchweg als Problem anerkannt. Die durch die Registrierung ent- stehende Rechtssicherheit wurde positiv bewertet. Die Frage, wa- rum eine solche Formalie Schwie- rigkeiten verursache, wurde durch zwei Hinweise beantwortet: Ers- tens sei es unehrenhaft. Zweitens schrecke die Registrierung in Büros in Gerichtsgebäuden die Brautleute ab. (Staatliche) Gerich- te werden gemieden. Es wurden Vorschläge gemacht, die Regis- Foto: Irene Schneider trierung in unabhängigen Institu- Markt in Kabul, 2006 tionen zu etablieren oder sogar rekurrierten auf dieses Prinzip, um kurs ist, wie in allen islamischen dem örtlichen Molla zu übertragen. gegen nicht (korrekt) verschleierte Ländern zu Beginn des 21. Jahr- Offen wurde die Frage der Kin- Frauen und bartlose Männer vor- hunderts, nur auf der Grundlage derheirat wie auch die Problema- gehen zu können. Die Wiederein- einer modernen, an den Men- tik des oft erheblichen Altersunter- führung dieses Amtes, im August schenrechten und Frauenrechts- schieds der Ehepartner diskutiert 2006 von der afghanischen Regie- pakten orientierten Auslegung der und von allen Beteiligten als ein rung beschlossen, erscheint symp- Scharia möglich. Rein säkulare Problem gesehen. Dies ist inso- tomatisch für den sich zuneh- Ansätze oder gar eine Trennung fern erstaunlich, als im klassi- mend an traditionell-islamischen von Religion und Staat ist in den schen islamischen Recht die Hei- Werten orientierenden Diskursen islamischen Ländern auch bezie- rat für Mädchen ab neun Jahren, im Land, der die in vielen Punkten hungsweise gerade nach der mi- für Jungen ab circa 12 Jahren (mit ausreichenden Regelungen des litärischen Intervention in Afgha- der Geschlechtsreife) durchaus Familiengesetzes ignoriert. nistan und Irak keine Diskussions- vorgesehen, in den modernen is- Dagegen bilden die Bereiche option, da sie nach herrschender lamischen Familienrechten – so der Polygamie und Scheidung of- Meinung mit einer imperial-west- auch im afghanischen – allerdings fenbar ein gesellschaftliches Tabu. lichen Vereinnahmung gleichge- durch feste Altersgrenzen unmög- Weder war es möglich, eine Rück- setzt wird. Im afghanischen Kon- lich gemacht ist. Auch konservati- meldung über die gesellschaftli- text wäre bereits eine Anwendung ve Juristen sahen hier aber Hand- chen Praktiken in diesen Bereichen des Familiengesetzes von 1977 lungsbedarf. Eine vorgeschlagene zu erhalten, noch Lösungsstrategi- ein erheblicher Fortschritt. Bezüg- Lösungsmöglichkeit, die bei mo- en für eine größere Rechtsgleich- lich der Registrierung wurden of- derner orientierten Juristen auf Be- heit von Frauen zu diskutieren. fenbar inzwischen erste Schritte denken stieß, bestand im Rück- eingeleitet und Formulare entwor- griff auf das islamisch legitimierte Ausblick fen. Mit ihrer Durchführung wäre Konzept des »al-amr bil-ma’ruf- Die juristisch-wissenschaftliche zumindest ein gewisses Maß an wa-n-nahy en al-man-Kar« (Be- Auseinandersetzung mit dem af- Rechtssicherheit für beide Eheleu- fehlens des Guten und Abwehrens ghanischen Familienrecht erfor- te verbunden. Viele Probleme des zu Missbilligenden). Dabei dert eine Differenzierung der ver- mussten aber auch bei dieser Kon- handelt es sich um ein koranisches, schiedenen Rechtsebenen und ei- ferenz völlig unerwähnt bleiben: in der islamischen Staatsrechtleh- ne konzeptionelle Strategie zur etwa die Frage der Position der re verankertes Prinzip, welches Analyse auch der komplexen ge- Ehepartner in der Ehe (Gehorsam auf der individuellen Ebene dem sellschaftlichen und wirtschaftli- der Frau gegen Unterhaltsrecht) Einzelnen die Möglichkeit gibt, chen Rahmenbedingungen und und der Kinderrechte. Es bleibt zu seinen Mitmuslim auf unethisches ihrer Interaktion mit rechtlichen – hoffen, dass diese Fragen auch Verhalten hinzuweisen, während islamischrechtlichen und ge- weiterhin durch internationale es auf staatlicher Ebene Grundla- wohnheitsrechtlichen – Regeln, Kooperation einer Klärung zuge- ge für die Religionspolizei ist. In Normen und Praktiken mit dem führt werden können, die dem af- Saudi-Arabien und Iran ist ihr In- Ziel, die Geschlechterdiskriminie- ghanischen Kontext angemessen terpretationsrahmen stark an tra- rung, deren Aufhebung in der Ver- ist, und dass es in einem weiteren ditionell-islamischen Moralvor- fassung explizit gefordert ist (Arti- Schritt möglich sein wird, diese stellungen orientiert; die Taliban kel 22), einzuschränken. Der Dis- Konzepte behutsam umzusetzen.

Georgia Augusta 5 | 2007 105 KULTUREN UND KONFLIKTE

The project »Afghan Family ready to accept polygamous Islamic law). However, the ques- Law«, sponsored by the marriages of their husbands than tions of polygamy and divorce German Foreign Office, intends to obtain legal divorce. (which are regulated in the Quran) primarily to give a survey of the At the conference, which took were only discussed with re- post-Taliban legal system and place in Kabul from 12th to 14th June luctance, which indicates that secondly aims to develop strategies 2006, Afghan jurists discussed pos- these subjects touched upon reli- for the implementation of human sible solutions to these problems. gious as well as social taboos. It rights standards and towards more It can be stated that the discussion can be stated that a comprehen- equality between the sexes. The was especially lively in those sive analysis of the existing legal interactions of different legal sys- areas which concerned non- systems, their interaction (and tems in the country (international Islamic, customary law. Whereas conflict) and their relation to social

Foto: Martin Hilbert

Zwei kleine Verkäufer vor ihrem Laden law, statutory law, Islamic law [in the need for registration was practice is a task which has to be Istalif, Provinz Parwa its different variances] and custo- acknowledged, the necessity for undertaken first before legal con- mary law, mainly Pashtunvali) re- the payment of the Islamic dower cepts and strategies can be elabo- veals certain areas of conflict: En- was discussed but also an agree- rated for a development towards gagement is (unlike in Islamic law) ment was reached to ban child more justice, equality between regarded as a binding tie which marriages (which are accepted in the sexes and implementa- must lead to marriage. From this classical, albeit not in modern tion of the rule of law. fact a confusion often arises be- tween betrothal and marriage. This could be prevented by registration, which is legally pre- Prof. Dr. Irene Schneider, Jahrgang 1959, studierte scribed (see Family law of 1977 Islamwissenschaft, Geschichte und Soziologie an den Art. 61), but not practised. Islamic Universitäten Freiburg, Göttingen und Tübingen. dower, paid to the bride (mahr) – a Ihren Magistergrad erhielt sie 1983 in Tübingen. Nach means of financial security for the Tätigkeiten in Köln und Frankfurt am Main wurde Ire- woman after divorce or death of ne Schneider 1989 in Tübingen promoviert. Von 1990 the husband – does not play an bis 1997 war sie Wissenschaftliche Assistentin am Orientalischen important role in Afghan legal tra- Seminar der Universität Köln, an der sie sich 1996 habilitierte. dition, instead a payment called Anschließend forschte die Islamwissenschaftlerin an der State Uni- walwar is given to the bride’s versity of New York (USA), übernahm eine Lehrstuhlvertretung in father. Child marriages and poly- Kiel und forschte innerhalb eines DFG-Projekts zur Rechtsgeschichte gamy are common, The restric- des Irans. Im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs zum Thema Nomadismus im Iran des 19. Jahrhunderts war die Wissenschaftlerin tions laid down in statutory law von 2001 bis 2003 an der Universität Halle tätig. Im Jahr 2003 wurde (Family law 1977) on the basis of Irene Schneider an das Seminar für Arabistik und Islamwissenschaft Islamic law are not respected in der Universität Göttingen berufen. Ihre Forschungsschwerpunkte practice. Divorce is not accepted sind das Islamische Recht, Staat, Gesellschaft und Geschlechter- in the Afghan society (but possible forschung in islamischen Ländern, Nomadismus und Sesshaftigkeit both in classical Islamic law and im Iran, die Rekonstruktion und Quellenkunde der frühislamischen modern statutory law). As a con- Geschichte sowie Fragen des Islams in Deutschland. sequence, women seem more

106 Universität Göttingen Als Universität der Aufklärung im Jahr 1737 gegründet, zeichnet sich die Georgia Augusta bis heute durch die Vielfalt ihrer Diszi- plinen und Fächer in Forschung und Lehre aus. Diese historisch Göttingen im Jahr der gewachsene Breite prägt insbesondere die Göttinger Geistes- wissenschaften. Diese sind eng mit der Akademie der Wissen- schaften zu Göttingen verbunden, die wenige Jahre nach Grün- Geisteswissenschaften dung der Georgia Augusta 1751 ihre Arbeit aufnahm und die in- 2007 nerhalb der europäischen Akademiebewegung des 17. und 18. Jahrhunderts die erste war, die in enger Anlehnung an eine Uni- versität entstand. Zur Zeit sind an 14 ihrer geisteswissenschaft- lichen Langfristprojekte Göttinger Wissenschaftler in verant- wortlicher Position beteiligt.

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN Veranstaltungen zum Jahr der Geisteswissenschaften

Zur Feier des Jahres der Geisteswissenschaften 2007 werden Wissenschaftler der Göttinger Akademie quer durch das Land reisen und in verschiedenen Städten Einblicke in ihre Arbeiten geben. »Geisteswissenschaften unterwegs« hat die Göttinger Akademie ih- re Vortragsreihe genannt, zum einen, weil die Akademie mit ihren Kooperationspartnern verschiedene Städte und Regionen Nord- deutschlands aufsucht; zum anderen, weil die Vorträge den Wandel geisteswissenschaftlichen Forschens illustrieren sollen. Nach Stationen in Lübeck, Braunschweig, Lüneburg und einer zentralen Veranstaltung am 5. Mai 2007 in Göttingen unter dem Titel »Eigensinnige Lesarten. Die Geisteswissenschaften und ihre Texte« wird die Reihe im Juni in Hannover fortgesetzt.

13. Juni 2007 · 18.00 Uhr »Man muß etwas Neues machen um etwas Neues zu sehen.« Neues Rathaus, Hannover Der Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg und die Edition seines naturwissenschaftlichen Nachlasses Prof. Dr. Ulrich Joost

21. Juni 2007 · 20.00 Uhr Leibniz als Grundlagenforscher. Fürstenberghaus, Münster Ein Beitrag zur Verantwortung von Wissenschaft Prof. Dr. Martin Schneider

12. Juli 2007 · 20.00 Uhr Vom Zwang zur Verschwendung im Gehäuse der Macht Landesmuseum für Natur und Mensch, Oldenburg Prof. Dr. Werner Paravicini

14. September 2007 · 19.00 Uhr Orts- und Familiennamen in und um Buxtehude Buxtehude·Museum für Prof. Dr. Jürgen Udolph Regionalgeschichte und Kunst, Buxtehude

8. Oktober 2007 · 19.30 Uhr Den Stein zum Reden bringen. Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim Die Entzifferung der Inschriften des oberägyptischen Tempels von Edfu Prof. Dr. Dieter Kurth

18. Oktober 2007 · 20.00 Uhr Pax Europae durch Recht und Verfahren Oberlandesgericht Celle Prof. Dr. Wolfgang Sellert

10. November 2007 · 16.00 Uhr Die Neue Bach-Ausgabe Kloster Loccum, Rehburg-Loccum Prof. Dr. Martin Staehelin Konzertbeginn: 18.30 Uhr Abschlußkonzert Johann Sebastian Bach Messe in h-Moll KULTUREN UND KONFLIKTE

Einige der großen Traditionsunternehmen Deutschlands sind in jüngster Zeit in die Kritik geraten. Wenn der massive Abbau von Stellen gleich- zeitig mit der sprunghaften Zunahme der Gewinne und der Vergütungen der Vorstände verkündet wird, drängt sich manchem Beobachter der Ein- druck auf, dass es den Großkonzernen allein um die Gewinnmaximie- rung für ihre Anteilseigner geht. Kapitalmarktgetriebener globaler Kapi- talismus statt Sozialer Marktwirtschaft? Haben wir es auf dem Konflikt- feld Unternehmen mit einem »Kampf der Kulturen« zu tun? Anhand der Geschichte des VW-Konzerns zeigt der Wirtschaftshisto- riker Prof. Dr. Hartmut Berghoff vom Institut für Wirtschafts- und Sozial- geschichte der Georg-August-Universität Göttingen, dass die besonderen historischen Konstellationen, unter denen VW in der Zeit des National- sozialismus entstand und in der Nachkriegszeit weitergeführt wurde, bis in die heutige Zeit wirken. Kann der »Rheinische Kapitalismus« bezie- hungsweise das »Modell VW« unter veränderten Weltmarktbedingungen weiter erfolgreich sein – oder ist die Zeit dieser für Deutschland iden- titätsstiftenden Unternehmenskultur abgelaufen? Der Kampf um Volkswagen Corporate Governance in NS-Diktatur, Sozialer Marktwirt- schaft und globalem Kapitalismus

Hartmut Berghoff

Unternehmen sind Konfliktfelder, beitgebern und Arbeitnehmern. In in denen divergierende Interessen Streiks und Aussperrungen prallen von Kapitaleignern, Managern unter anderem Gegensätze über und Mitarbeitern aufeinander- die Entlohnung sowie die Arbeits- stoßen. Edward Freeman führte bedingungen aufeinander, zuwei- 1978 den Begriff »stakeholder« len in destruktiver und sogar ge- für alle Gruppen ein, die von un- walttätiger Form. ternehmerischen Entscheidungen Aus wirtschaftshistorischer Per- betroffen sind beziehungsweise spektive ist die Überführung von diese beeinflussen. Zu ihnen zäh- Arbeitskämpfen in relativ koope- len unter anderem auch Kunden, rative Arbeitsbeziehungen eine Anwohner, Behörden und Ge- der großen Stärken des Standortes werkschaften (Abbildung 1). Zieht Deutschland. Abbildung 2 zeigt, man den Kreis der Stakeholder so wie die ersten Jahrzehnte des 20. weit und definiert das Unterneh- Jahrhunderts von Grundsatzkon- men als offenes, potenziell von flikten überschattet waren und widerstreitenden Interessen be- wie sehr sich die Tarifparteien der drohtes System, stellt sich das Fin- Bundesrepublik um einen kon- den und Bewahren tragfähiger struktiven Umgang miteinander Kompromisse als große Heraus- bemühten. forderung dar. Ohne Arrange- Die Forschung wendet sich seit ments, die Interessenkollisionen einiger Zeit verstärkt anderen moderieren und zumindest einen Konfliktlinien zu. Kapitaleigner, Minimalkonsens herstellen, kön- die nur an schnellen Renditen in- nen Unternehmen auf Dauer teressiert sind, können Firmen rui- nicht überleben. Der von der For- nieren. Im 19. Jahrhundert geriet schung am meisten beachtete etwa die Maschinenfabrik Esslin- Konflikt verläuft entlang der »Klas- gen in eine Krise, als die Aktionäre senlinie«, nämlich zwischen Ar- auf hohe Dividenden bestanden

108 Universität Göttingen »Fordismus« im Volkswagenwerk in den 1950er Jahren

Alle Fotos: Archiv der Volkswagen AG, Wolfsburg KULTUREN UND KONFLIKTE

schaft, die sich in den 1950er Jah- ren etabliert hat. Seit den späten 1970er Jahren wird dieses Modell jedoch zunehmend in Frage ge- stellt, vor allem durch die Lehren neoliberaler Ökonomen und die Abbildung 1: Dynamik der Globalisierung. Die Stakeholder der damit verbundenen Konflikte las- Unternehmung sen sich anschaulich anhand des Quelle: Volkswagenkonzerns darstellen. Hartmut Berghoff, 2005 wurde bekannt, dass meh- Moderne Unter- nehmensgeschichte. rere Landtagsabgeordnete rechts- EIne themen- und widrig Bezüge von VW erhielten. theorieorientierte Dann flog auf, dass sich leitende Einführung, Paderborn, 2004, S. 56 Mitarbeiter über Tarnfirmen auf kriminelle Weise bereichert hat- ten. Einige Manager und Betriebs- und darüber Rücklagen für künf- Die langfristige Ausrichtung räte ließen sich ferner Urlaubsrei- tige Investitionen vernachlässigten. von Unternehmen gehört neben sen und Prostituierte von VW be- Daher kam es in der rasch wach- entschärften sozialen Konflikten, zahlen. Kritiker sahen darin Symp- senden Firma zu bedrohlichen Li- einer intensiven politischen Regu- tome überfälliger Reformen der quiditätsengpässen. Erst unter lierung, hohen Sozialstandards deutschen Wirtschaft. 2003 hatte dem Eindruck dieser Krise besan- sowie der Koordination der Wirt- schon die EU-Kommission ein Ver- nen sich die Aktionäre 1882 auf schaft durch Politik, Verbände, fahren gegen die Bundesrepublik eine maßvollere Ausschüttungs- Gewerkschaften, Kartelle und eingeleitet, da das VW-Gesetz politik. Auch setzten die Banken Banken zu den wichtigsten Kenn- von 1960 das Unternehmen künst- einen neuen Vorstandsvorsitzen- zeichen der Sozialen Marktwirt- lich vor den Marktkräften abschir- den durch, der weder durch Fami- lienbeziehungen noch durch Ak- tienbesitz voreingenommen war. Gesetz über die Überführung der Anteilsrechte an der Volks- wagenwerk GmbH in private Hand (kurz »VW-Gesetz«) von 1960 In diesem Fall mussten die Eigen- tümer also gegenüber anderen 1. Höchststimmrecht, das heißt ein Aktionär, der mehr als 20 Prozent Stakeholdern zurücktreten und der VW-Stimmrechtsaktien hält, darf in der Hauptversammlung nur sich von der Maximierung kurz- höchstens 20 Prozent seiner Stimmen nutzen. 2. Sperrminorität, das Abbildung 2: fristiger Erträge zugunsten der Be- heißt für wichtige Beschlüsse bedarf es einer Mehrheit von über 80 Streiks und Aussperrun- wahrung langfristiger Kontinuität Prozent der Stimmen. Ein Aktionär, der 20 Prozent der Stimmrechte gen in Deutschland 1899 bis 1993. Verlore- verabschieden. Mit dieser Politik oder mehr hält, verfügt in Kombination mit dem Höchststimmrecht ne Arbeitstage in Tau- war der Lokomotivenhersteller über ein Vetorecht. 3. das Land Niedersachsen hat zwei Sitze im Auf- send je 100.000 nicht- über 100 Jahre lang sehr erfolg- sichtsrat, die zumeist der Ministerpräsident und der Wirtschaftsmini- landwirtschaftlich Be- ster besetzen. schäftigte (1949 bis reich. Als jedoch der Schienenver- 1993 nur Westdeutsch- kehr gegenüber dem Automobil Eine feindliche Übernahme ist damit ausgeschlossen. Das Land verfügt mit land) zurückfiel, übernahm 1965 Daim- 18 Prozent des Stammkapitals über eine Vetoposition, da die im Streu- Quelle: Ludger Lindlar, ler-Benz das Unternehmen und besitz gehaltenen Aktien auf der Jahreshauptversammlung nur zu einem Das mißverstandene stellte den Lokomotivenbau ein. kleinen Teil präsent sind. So werden aus 18 Prozent Landesanteil immer Wirtschaftswunder, deutlich über 20 Prozent, so dass das Land in einer sehr starken Positi- Tübingen 1997 on ist. Auch der Bund besitzt das Recht auf zwei Sitze im Aufsichtsrat, hat es aber mit der Privatisierung seiner Aktien 1988 verloren, könnte es aber durch den Kauf von zwei Aktien jederzeit wieder aktivieren. Für die Europäische Union (EU) handelt es sich um einen Verstoß ge- gen den Vertrag über den freien Kapitalverkehr und die Niederlas- sungsfreiheit, da Investoren aus anderen EU-Staaten benachteiligt wür- den. Der Aufsichtsrat könne zudem Entscheidung etwa zugunsten nie- dersächsischer Standorte und zum Schaden anderer Länder fällen. Land und Bund sprechen dagegen von international üblichen Gestal- tungsmitteln des Aktienrechts. Über das Verfahren wird voraussicht- lich in diesem Jahr entschieden.

110 Universität Göttingen NORMEN UND WANDEL

me und zum Spielball nationaler die Produktion jedoch auf sich von Gewinnen, und das schien politischer Interessen mache. warten. Es gab ja noch nicht ein- am besten durch persönliche Ver- Was sind die Ursachen dieser mal eine Fabrik für dieses Auto. traute gewährleistet. Normale Kon- Konstellation? Wieso besitzt das In Zeiten der Aufrüstung fehlte es trollstrukturen schienen überflüssig Land so viele VW-Aktien und an Rohstoffen, Devisen und Ar- zu sein. Ferdinand Porsche nutzte zwei Sitze im Aufsichtsrat? Wa- beitskräften und die Industrie ver- seinen Freiraum zum eigenen rum darf es mit nur 18 Prozent der schleppte das Projekt weiterhin. Wohl, denn er konnte fast nach Stammaktien in der Hauptver- Daher übertrug Hitler es 1937 Belieben Verträge für VW mit der sammlung ein Veto ausüben, wo- einer von ökonomischen Beden- eigenen Firma abschließen, von für man sonst mehr als 50 Prozent ken nicht gehemmten Parteiorga- der die Familie bis heute direkt der Aktien benötigt? Weshalb nisation, nämlich der Deutschen profitiert. Auch holte er mit Anton zeichnet sich VW durch eine so Arbeitsfront (DAF). Mit ihrem Piëch seinen Schwiegersohn ins große Nähe zur Politik aus? Wa- Einstieg wurde der jahrelange Top-Management. rum sind die Gewerkschaften im Stillstand überwunden. Die DAF 1945 beschlagnahmten die Aufsichtsrat so stark, und wieso versprach sich von diesem Pres- Briten das Unternehmen. Bis zu liegen die Löhne weit über dem tigeprojekt, ihre Freizeitorganisa- einer endgültigen Entscheidung üblichen Niveau? tion »Kraft durch Freude« (KdF) sollte es treuhänderisch verwaltet aufzuwerten. werden. Es nahm aber einen uner- Das politische Unternehmen Das 1940 fertig gestellte Werk warteten Aufschwung und wurde Keine dieser Besonderheiten ist produzierte aber statt PKW Militär- zum wichtigsten deutschen Auto- ohne einen Blick in die Geschich- fahrzeuge und zunehmend Rüs- produzenten. 1948 ernannten die te zu verstehen, denn VW war von tungsgüter. Es profitierte erheblich Briten Heinrich Nordhoff, einen Anfang an ein politisches Unter- vom Krieg und Tausenden von erfahrenen Opel-Manager, zum nehmen. Der Autonarr Adolf Hit- Zwangsarbeitern. Die Besetzung Generaldirektor. Zwar standen ler träumte von einem massen- von Geschäftsführung und Auf- ihm formal nach wie vor die Bri- motorisierten Großreich mit hy- sichtsrat der Volkswagenwerk ten vor, doch hatte er in der Praxis permodernen Autobahnen. Die GmbH belegen die Verachtung für weitgehend freie Hand. Auch das persönliche Vorliebe des Dikta- die bislang üblichen Formen der war ein Grund für den rapiden tors war aber nur ein Grund für die Corporate Governance (grundle- Aufschwung, den VW nach der Entscheidung zum Bau des VW- gende Verhaltensregeln der Wirt- Währungsreform von 1948 nahm. Werks. Es ging auch um die Ab- schaft). Porsche wurde gleichzei- Die Gründung der Bundesrepu- sicherung seiner Macht. Er wusste tig zum Geschäftsführer und Auf- blik im Frühjahr 1949 legte die um das propagandistische Poten- sichtsrat berufen. Er sollte sich al- Rückgabe des Werks in deutsche zial der Massenmotorisierung. so selbst kontrollieren. Es ging der Hände nahe. Doch damit bahnten Autos waren in Deutschland noch Diktatur ja um die bedingungslo- sich ganz neue Probleme an. Abbildung 3: Adolf Hitler, Ferdinand immer Luxusprodukte. Hitler leg- se Unterordnung des Unterneh- Denn wem gehörte das Volks- und Ferry Porsche bei te einen Verkaufspreis von 990 mens, nicht um das Erwirtschaften wagenwerk eigentlich? der Grundsteinlegung Reichsmark für den Volkswagen des VW-Werkes 1938 fest, was deutlich unter den Prei- sen anderer Kleinwagen und unter den Selbstkosten lag. Kein Wun- der, dass die Autoindustrie alles andere als begeistert war. Zwar konnte sie Hitler seinen Wunsch nicht offen abschlagen, aber sie verschleppte das Projekt, das ihr erhebliche Verluste eingebracht hätte. Daher fand sich mit Ferdin- and Porsche nur ein Außenseiter, der Besitzer eines kleinen Kon- struktionsbüros, dazu bereit, Hit- lers Projekt voranzutreiben. Es ge- lang ihm tatsächlich, in kurzer Zeit ein einfaches, innovatives Auto zu entwickeln. Trotz der Prä- sentation von Prototypen und Hit- lers ständiger Ankündigung ließ

Georgia Augusta 5 | 2007 111 KULTUREN UND KONFLIKTE

Die DAF war aufgelöst wor- schaft des Bundes zurückziehen. übertarifliche Löhne und Sozial- den. Ihr Vermögen hatte sie 1933 Als nach der Bundestagswahl im leistungen ableiteten. Dieses Ar- den vom NS-Regime zerschla- September 1949 eine konservati- gument stieß bei VW tatsächlich genen Gewerkschaften geraubt. ve Regierung unter Konrad Aden- auf offene Ohren. Hinzu kamen die Zwangsbeiträge auer an die Macht kam, änderte das In den 1950er Jahren wurde von Millionen Mitgliedern. Daher Land seine Haltung. Denn die SPD VW zum bundesdeutschen Vor- hatten die Gewerkschaften einen in Hannover befürchtete nun, dass zeigeunternehmen, das von ei- gut begründbaren Anspruch. Das Bundeswirtschaftsminister Lud- nem Export- und Produktionsre- Werk selbst war maßgeblich von wig Erhard VW privatisieren und kord zum nächsten eilte. Nordhoff ausländischen Zwangsarbeitern damit Niedersachsen ausbooten setzte auf die Großserienprodukti- aufgebaut und zum Teil von KdF- werde. Daher forderte die Landes- on des Käfers nach amerikani- Sparern, die für ihre Einzahlungen regierung plötzlich vehement die schem Vorbild. 1965 arbeiteten fast keine Autos erhalten hatten, finan- Verantwortung für das Werk. 100.000 Menschen bei VW. Das ziert worden. Wem sollte also die- Die britische Militärregierung dynamische Wachstum ermög- ses Unternehmen gehören? Den reagierte 1949 mit Verordnung lichte eine großzügige Mitbestim- Gewerkschaften, den Mitarbei- 202, in der es hieß: »Solange die mung und Gewinnbeteilung der tern, den Zwangsarbeitern, den zuständigen deutschen Behörden Arbeitnehmer. Das waren aber Alliierten, dem Bund als Rechts- keine anderweitigen Vorschriften keineswegs Ergebnisse von Streiks nachfolger des NS-Staates oder erlassen haben, hat das Land Nie- – ganz im Gegenteil. dem Land Niedersachsen, dem dersachsen die Kontrolle im Na- Nordhoff, dessen soziale Ein- das gesamte DAF-Vermögen sei- men und unter Weisung der Bun- stellung der katholischen Sozial- nes Territoriums zustand? Die Mi- desregierung ... über ... die Volks- lehre entstammte, schuf eine pa- litärregierung nahm das Werk auf- wagenwerke ... [auszuüben].« An triarchalische Unternehmenskul- grund der ungeklärten Ansprüche Unklarheit war das kaum zu über- tur. Er nutzte die hohen Gewinne zunächst von dieser Regelung bieten. Die Frage der Eigentümer- zur Zahlung überdurchschnittli- aus, bot dem Land Niedersachsen schaft blieb nach wie vor offen. cher Löhne und führte bereits dann aber im Juni 1949 eine di- Missverständnisse und Konflikte 1954 Erfolgsprämien ein. Damit rekte Kontrolle des Werkes an. zwischen Bund und Land waren wollte er auch der Fluktuation und Doch der sozialdemokratische vorprogrammiert. Die eigentums- dem Facharbeitermangel abhelfen. Ministerpräsident schreckte vor rechtlichen Ansprüche der Ge- VW orientierte sich nicht primär den unbekannten Verbindlichkei- werkschaften wurden übrigens am Aktionärsinteresse, sondern ten VWs zurück. Daher wollte sich abgewiesen, wovon diese aber ei- setzte auf lange Horizonte und die Abbildung 4: Betriebsversammlung Niedersachsen auf die Rolle eines nen moralischen Anspruch auf ei- Belange von Management und im Volkswagenwerk Treuhänders unter der Schirmherr- ne starke Mitbestimmung und Belegschaft. Möglich war das nur Wolfsburg 1960 in einer extrem günstigen Markt- konstellation und aufgrund zweier Großaktionäre, nämlich Land und Bund, die nicht auf die Gewinn- maximierung drängten und der Sozialen Marktwirtschaft ver- pflichtet waren. Mit anderen Worten, die damaligen Rahmen- bedingungen ermöglichten eine Koalition von Management und Belegschaft. Der heute kontrovers diskutierte Haustarifvertrag von Volkswagen, der deutlich bessere Konditionen als der Metalltarifvertrag enthält und zu höheren Lohnstückkosten als bei Wettbewerbern führt, hat in den 1950er Jahren seinen Ur- sprung. Die großzügige Tarif- und Sozialpolitik passte schon damals weder den Arbeitgeberverbänden noch der Bundesregierung. Doch der oft eigenwillig agierende Nord-

112 Universität Göttingen NORMEN UND WANDEL

hoff ließ sich nicht hineinreden. Solange er vorzügliche Bilanzen vorlegte, wagte es auch niemand, seine Spielräume zu beschneiden. Die graue Eminenz der Deutschen Bank, Hermann Abs, der mächtig- ste Bankier der frühen Bundesre- publik, bemerkte einmal zutref- fend über Nordhoff: »Sie wissen gar nicht, wie schön es ist, Chef ei- nes Unternehmens zu sein, von dem man nicht weiß, wem es ge- hört.« Nordhoffs ungewöhnlich große Macht beruhte darauf, dass er die Mitarbeiter durch Privilegi- en auf seine Seite zog und die un- klaren Eigentumsverhältnisse ihm eine wirksame Kontrolle der Kapi- Abbildung 5: taleigner ersparte. »Der Spiegel« Heinrich Nordhoff mit urteilte 1955 über »König Nord- Belegschaft 1955 hoff« treffend: »Mit dem Gewicht des Produktionserfolges und der auf sein Sozialprogramm einge- sierung, die vor allem Wirtschaft Namen VolkswagenStiftung eine schworenen Belegschaft ist Nord- und FDP forderten, wurde frei. der wichtigsten Institutionen der hoffs Industrie-Monarchismus kri- Allerdings war die Volkswagen- deutschen Wissenschaftsförde- senfest.« werk GmbH juristisch gesehen rung ist. Zweitens gingen die ver- Nordhoff war ein autoritärer immer noch herrenlos und wurde bleibenden 40 Prozent der Aktien Patriarch, was sich auch in seiner nur treuhänderisch von Bund und zu je gleichen Teilen auf Bund Selbstinszenierung widerspiegelt. Land verwaltet. Aber die Mi- und Land über. Schließlich wur- Für ein PR-Foto ließ er mehrere schung aus ungeklärten Eigen- den auch die oben schon disku- 10.000 Arbeiter aus den Werkhal- tumsverhältnissen und spektaku- tierten und von der Europäischen len heraustreten und die Produkti- lärem Erfolg machte VW zum po- Union attackierten Regelungen on anhalten (Abbildung 5). Die litischen Symbol. Während Lud- (Stimmrechtsbegrenzung, Sperr- Voraussetzungen für die Ausbil- wig Erhard auf eine Privatisierung minorität sowie Entsendung je dung eines solchen autoritär-patri- drängte, wollte Finanzminister zweier Aufsichtsräte von Bund archalischen Führungsstiles waren Fritz Schäffer nicht auf die Ein- und Land) festgeschrieben. günstig. Mit dem Käfer besaß VW nahmen zugunsten des Bundes- In den 1960er Jahren rächte es eine ergiebige »cash cow«, die jah- haushaltes verzichten. Gewerk- sich, dass die Umwandlung der relang in gigantischen Serien oh- schaften und SPD verteidigten das Rechtsform und die Teilprivatisie- ne große Veränderungen produ- Vorzeigeprojekt öffentlicher Wirt- rung zwar die Corporate Gover- ziert werden konnte. schaft. Betriebsrat und Belegschaft nance auf dem Papier vollständig Mit dem Erfolg wuchsen die waren strikt gegen die Privatisie- verändert hatten, aber Nordhoff bis Begehrlichkeiten. Das Land ver- rung, fürchteten sie doch um ihre zu seinem Tod im Jahr 1968 auto- suchte 1953, VW vollständig in tariflichen und sozialpolitischen kratischer Alleinherrscher blieb. seinen Besitz zu bringen, was aber Privilegien. Nordhoff hielt die Pri- So mangelte es an einer strategi- der Bund nicht zuließ. Neben den vatisierung grundsätzlich für sinn- schen Antwort auf die Käfer-Krise, erfolglosen Gewerkschaften mel- voll, zumindest solange seine denn das einstige Vorzeigemodell deten auch die ehemaligen KdF- Macht erhalten blieb. war mittlerweile veraltet. Nord- Wagen-Sparer Ansprüche an. Die Nach zähen Kämpfen ergab hoff hielt halsstarrig am Käfer als Forderungen der knapp 337.000 sich zwischen 1956 und 1960 ein einzigem Hauptmodell fest, und Sparer konnten durchaus die Exis- bis heute wirkender politischer niemand konnte ihn umstimmen. tenz des Unternehmens gefährden. Kompromiss. Es kam erstens zu ei- Noch im Totenkult schlug sich Erst als 1954 der Bundesgerichts- ner Teilprivatisierung, wobei die ganz auf Nordhoff zentrierte hof urteilte, dass ein Vertrag nur Kleinaktionäre 60 Prozent der Ak- Managementkultur nieder. Sein zwischen Sparern und DAF be- tien erhielten. Der Verkaufserlös Leichnam wurde aufgebahrt und standen habe, entschärfte sich die kam der ‚Stiftung Volkswagen- die Belegschaft konnte persönlich Situation und der Weg zur Privati- werk’ zugute, die heute unter dem Abschied nehmen.

Georgia Augusta 5 | 2007 113 KULTUREN UND KONFLIKTE

seine großen Leistungen: Hoch- wertige Qualitätsprodukte, Expor- terfolge, soziale Stabilität und Wohlstand für viele. Man solle ei- gene Erfolgsmodelle nicht über Bord werfen, da sie zur deutschen Gesellschaft besser passten als die Konzepte anderer Wirtschaftskultu- ren. Beide Seiten argumentieren nicht ohne Eigeninteressen, denn die potenziellen Gewinne und Verluste sind hoch. Welche Positi- on sich in den nächsten Jahren durchsetzen wird, kann man noch nicht absehen. Sicher ist jedoch, dass Volkswagen für die deutsche Wirtschaft erneut ein Wegweiser und ein Symbol sein wird.

Literatur: Edelmann, Heidrun, Heinz Nordhoff und Volkswagen. Ein deutscher Unternehmer im amerikanischen Jahrhundert, Göttingen 2003. Abbildung 6: Heinrich Nordhoff mit Noch nachhaltiger als die von gäbe es heute in der Automobil- Mommsen, Hans u. Grieger, Manfred, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im einem Modell des der autokratischen Unternehmens- industrie weltweite Überkapazitä- Käfers 1957 Dritten Reich, Düsseldorf 1996. kultur hervorgerufene und erst in ten. Die Verteidiger des Modells, Nicolaysen, Rainer, Der lange Weg zur den 1970er Jahren überwundene die in Deutschland bislang in der VolkswagenStiftung. Eine Gründungsge- Krise prägten die in der Nach- Überzahl sind, argumentieren, schichte im Spannungsfeld von Politik, kriegszeit entstandenen Struktu- dass es sich um ein Kernstück der Wirtschaft und Wissenschaft, Göttingen 2002. ren das Unternehmen, das nahezu Sozialen Marktwirtschaft, mithin Richter, Ralf, Ivan Hirst – Britischer Offizier zum Symbol der »Deutschland um die Identität der Bundesrepu- und Manager des Volkswagenaufbaus, AG« wurde. Zu den zentralen blik handele. Sie verweisen auf Wolfsburg 2003. Kennzeichen des VW-Modells gehören: Die enge Verflechtung von Wirtschaft und Politik, die Ab- schirmung von internationalen In- Prof. Dr. Hartmut Berghoff ist seit 2001 Direktor des vestoren, die Privilegierung von Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Managern und Mitarbeitern, star- Georg-August-Universität Göttingen. Nach dem Stu- ke Gewerkschaften und hohe So- dium in Bielefeld, Berlin und London war der Wirt- zialleistungen und über die Volks- schaftshistoriker in Bielefeld, Tübingen, Koblenz wagenStiftung eine Bevorzugung (WHU) und Berlin (HU) tätig. Zu seinen Forschungs- des Gemeinwohls gegenüber pri- feldern gehört die Unternehmens-, Konsum- und Globalisierungs- vaten Profitinteressen. geschichte. Zuletzt hat er die Fachbücher »Moderne Unterneh- Dieses Modell wird nicht nur mensgeschichte« und – zusammen mit Jakob Vogel – »Wirtschafts- aufgrund der aktuellen Skandale geschichte als Kulturgeschichte« (beide 2004) sowie »Marketing- kontrovers diskutiert. Für die Kriti- geschichte« (2007) veröffentlicht. Er ist zudem verantwortlicher Her- ker ist es angesichts der Vorherr- ausgeber der »Zeitschrift für Unternehmensgeschichte«. 2002 wur- de der Wirtschaftshistoriker an das Wissenschaftskolleg zu Berlin schaft des kapitalmarktgetriebe- (Center for Advanced Study) berufen. 2005 erhielt er für seine wis- nen, globalen Kapitalismus nicht senschaftliche Arbeit den renommierten Alfred Chandler Preis der mehr zeitgemäß. Der Standort Harvard Business School. Die mit der Auszeichnung verbundene Deutschland und die Volkswagen Gastprofessur in Harvard nahm Prof. Berghoff im Sommersemester AG könnten auf Dauer nur mit- 2006 wahr. Am Göttinger Institut forschen er und seine Mitarbeiter halten, wenn sie sich grundlegend unter anderem zur Geschichte von Volkswagen und weiterer deut- verändern und historischen Bal- scher Traditionsunternehmen. last abwerfen würden. Immerhin

114 Universität Göttingen NORMEN UND WANDEL

Since the end of the Second mass market. The political impe- Volkswagen Law of 1960, are still World War the German mo- rative to produce a low-price pro- – with some modifications – in del of the Social Market Economy duct irrespective of profit conside- force today. However, the Europe- has been highly successful in many rations explains why the private an Union holds that the law cont- ways. It has regularly produced car industry soon lost interest in radicts its rules on the free move- pragmatic compromises and bal- this economically dubious project. ment of capital and the right of anced divergent claims of various After 1945, the company was ta- establishment, as it makes it sub- stakeholders. Among the most dis- ken over by the British military stantially less attractive for foreig- tinctive features of this system government. Once the transfer ners to acquire VW shares. (»Rhenish Capitalism«) were in- into German hands was decided This article argues that due to tensive political intervention, high in principle, it turned out that the these historical reasons a highly social standards, and the collabo- question of ownership was heavily specific form of corporate gover- ration of trade unions and em- contested between the unions, the nance emerged at Volkswagen, ployers’ associations. The capabi- Lower Saxon and the German which favoured management and lity of creating consensual solutions Federal Government and other the workforce to the detriment of of economic conflicts has been a groups. In the end a political com- shareholders and international in- much envied feature of this model. promise led to partial privatisa- vestors. At company level, this culture tion, while Lower Saxony and the A very specific corporate culture was in many ways epitomized by Federal Republic received 20 per- and a strong level of political the car manufacturer Volkswagen. cent of the nominal share capital interference were the results. It has been a political company each together with various prefe- Whether this culture is sustainable from its very beginning. The Ger- rence rights which guaranteed in the future or will be overturned man Labour Front, Hitler’s pseudo control and made unfriendly take- by the European Court of Justice union, founded it for the produc- overs impossible. These regu- and the forces of globalisa- tion of an inexpensive car for the lations, laid down in the famous tion remains to be seen.

Luftaufnahme des Volks- wagen-Werks in den 1950er Jahren

Georgia Augusta 5 | 2007 115 Wo finden Sie die neueste Literatur? Nein, nicht in der Buchhandlung. Dort stehen al- lenfalls die neuesten Exemplare der ,alten, weil gedruckten’ Literatur – Bücher von Günter Grass, Judith Hermann oder Daniel Kehlmann. Das wirklich Neue dagegen finden Sie auf CD ROMs oder Ð noch avancierter Ð im Internet, und zwar nur dort: die di- gitale Literatur, eine neue Form der Literatur, die ohne das digitale Me- dium nicht existieren könnte. In dreifacher Hin- sicht birgt diese Litera- tur Konfliktpotenzial: Sie steht in einem internen Spannungsverhältnis, lässt bei Lesern oder Nutzern zwei heterogene Kulturen aufeinanderprallen und provoziert die Literatur- wissenschaft zur Revision ihrer Verfahren und Be- griffe. Die Literaturwis- senschaftlerin Prof. Dr. Simone Winko vom Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Univer- sität Göttingen stellt Di- gitale Literatur als Ge- genstand literaturwissen- schaftlicher Forschung vor. An der seit 2004 be- stehenden Göttinger Ar- beitsstelle für Theorie der Literatur erforscht sie unter anderem grundle- gende literaturwissen- schaftliche Konzepte für das multimediale Genre. Quadrego, Text Rain und Co. Digitale Literatur zwischen Technik und Ästhetik

Simone Winko KULTUREN UND KONFLIKTE

Was ist ‚digitale Literatur’? 1. Nichtlinearität: Sie besteht rem Hinsehen bereits ihre Be- Digitale Literatur gibt es – sieht aus mehr oder minder großen zeichnung. Bis vor wenigen Jahren man von einigen Vorläufern ab – Texteinheiten, die auf unter- gab es den Begriff der gedruckten seit Ende der 1980er Jahre. Micha- schiedliche Weise, und das heißt Literatur oder, neudeutsch, der el Joyces »Afternoon, a Story« nicht nur in linearer Abfolge, über ‚Printliteratur’ nicht – warum auch? von 1987 gilt als eines der ersten Hyperlinks miteinander verbun- Literatur lag im Normalfall in ge- Exemplare und hat mittlerweile den sind (Hypertext-Prinzip). druckter Form vor; und wenn es den Status eines Klassikers inne. 2. Multimedialität: Sie enthält sich um ein Manuskript handelte, Heute findet sich digitale Literatur nicht nur Schriftzeichen, sondern über das man sprach, dann reichte in Form von Hyperfictions, visuel- auch verschieden große Anteile es, diese Vorstufe des gedruckten ler Poesie und kollaborativen an visuellen und akustischen Ele- Textes als solche zu benennen. Es Schreibprojekten überwiegend im menten. gab also keine Notwendigkeit da- Internet. Mit diesem neuen Typ 3. Doppelter Text: Digitale Lite- für, eigene Begriffe zu entwickeln, literarischer Texte sind nicht digi- ratur besteht immer aus einem die angeben, in welchem Medium talisierte Drucktexte gemeint, zweifachen Text: dem Text, den Literatur vermittelt wird. Das än- nicht also der nun auch als elek- wir auf der Bildschirm-Oberfläche derte sich mit dem Aufkommen tronischer Text in das Netz gestell- sehen, und dem digitalen Code des digitalen elektronischen Me- te »Faust« oder die auf CD ROM ‚hinter’ dieser Oberfläche, heute diums; nach längerem Suchen, zugängliche Lyrik des Göttinger in der Regel eine HTML-Seite mit begleitet von zahlreichen Kontro- Hainbundes. Das wäre digitali- Abschnitten in JavaScript. versen, Polemiken und Schlich- sierte Literatur. Sie ist unter den 4. Interaktivität: Leser müssen tungsversuchen, hat sich im deut- Bedingungen eines anderen Me- selbst aktiv werden und die Texte schen Sprachraum der Begriff diums entstanden – den Bedin- verändern oder selbst gestalten. ‚digitale Literatur’ durchgesetzt. gungen der ‚alten’ Schriftkultur So können sie zwischen mehreren Diese Bezeichnung verbindet und ihrer Schreib- und Druck- Möglichkeiten wählen, indem sie zwei Bereiche, die traditioneller- techniken – und trägt in ihrer Er- die Textblöcke in unterschiedli- weise als gegensätzlich gedacht scheinungsform deren Spuren. cher Reihenfolge miteinander werden: Technik und Ästhetik. Die neue, digitale Literatur dage- kombinieren, oder sie können ei- Damit steht die neue, hybride gen benötigt die digitale Technik genen Text eingeben. Kunstform der digitalen Literatur nicht nur zu ihrer Vermittlung, Während die Merkmale 3 und in einem Spannungsfeld, das li- sondern auch zu ihrer Erschaffung 4 für alle Beispiele digitaler Litera- terarischen Texten bis dahin fremd und ihrer Rezeption. Sie lässt sich tur gelten, finden sich 1 und 2 gewesen zu sein scheint: Sie ist nur am Bildschirm lesen; sie aus- zwar häufig, sind aber nicht obli- ein technisches Produkt und zu- zudrucken und in Buchform zu gatorisch. gleich ein ästhetischer Gegen- bringen, würde ihren Charakter stand; ihre Qualitäten werden von völlig verändern. Spannungsreiche Verbindung den Bedingungen beider Bereiche Digitale Literatur unterscheidet zweier Kulturen bestimmt, und diese sind hetero- sich in vier Aspekten von ge- Den internen Konflikt digitaler gen. Das ästhetische Anliegen steht Alle Abbildungen druckter Literatur: Literatur verdeutlicht bei genaue- im Konflikt mit den Beschränkun- aus »Quadrego« von Stefan Maskiewicz KUNST UND KULT

gen des technisch Machbaren, die kommt; mit Kunst aber hat er Quadrego/start.htm>). Es ist eine technischen Kategorien passen nichts zu tun. Erzählung über eine multiple Per- nicht zu einem noch immer an au- Ähnlich skeptisch reagierte an- sönlichkeit und zugleich eine Kri- tonomieästhetischen Vorgaben fangs die Mehrzahl der Literatur- minal- und Liebesgeschichte. Die ausgerichteten Kunstbegriff. wissenschaftler. Sie erkannte digi- Erzählinstanz ist unzuverlässig, Diesem internen Spannungs- talen Texten den Status von Kunst- schon allein deshalb, weil die Le- verhältnis zwischen der ästheti- werken gar nicht erst zu und sah ser nicht genau wissen, welcher schen und der technischen Kom- in ihnen allenfalls eine Spielerei der zunächst vier, dann fünf Figu- ponente digitaler Literatur ent- für Technikbegeisterte, keines- ren, aus denen sich die Protagonis- spricht eines, das sich als Konflikt- wegs aber einen ernst zu nehmen- tin zusammensetzt, sie trauen potenzial zwischen den viel be- den Gegenstand literaturwissen- können. Es sind zahlreiche Durch- schworenen ‚zwei Kulturen’ fas- schaftlicher Forschung. Auch in gänge durch den Text möglich, sen lässt: Es betrifft ihre Rezeption. diesen Reaktionen herrscht die Ent- und in jedem Durchgang gewin- Als Teilhaber einer ästhetisch ge- gegensetzung von ästhetischem nen die Leser immer genauere In- prägten Kultur haben literarisch Wert und technischem Aufwand formationen über das, was sich sozialisierte Leserinnen und Leser vor. Was aber ‚Normallesern’ frei- überhaupt ereignet hat, ohne zu bestimmte Erwartungen an litera- gestellt ist – etwa das Festhalten wissen, ob diese Informationen rische Texte ausgebildet. Literatur an überlieferten ästhetischen Kon- vollständig sind. Zugleich erhal- soll nicht allein unterhalten, son- ventionen –, erweist sich bei Wis- ten sie Einblick in fünf Charaktere, dern etwa wichtige Bereiche des senschaftlern als problematisch. ihre Eigenschaften, Gedanken Lebens thematisieren und Werte Der Hinweis auf die fehlende und Obsessionen. Diese Informa- vermitteln; sie soll komplexe Nar- ästhetische Qualität einzelner Pro- tionen werden nicht allein sprach- rationen enthalten, anspruchsvol- dukte ist kein Argument gegen die lich, sondern auch visuell vermit- le Symbolik und ein gewisses Maß Erforschung eines neuen Genres. an Selbstreflexivität aufweisen. Als solches wird die digitale Lite- Jedes Einzelwerk wird (nur selten ratur von einer kleineren Gruppe reflektiert) in den Kontext der li- literatur- und medienwissenschaft- terarischen Tradition gestellt und licher Forscher betrachtet, die die vor ihrem Hintergrund beurteilt. neuen Texte in den Gegenstands- Im Rahmen dieser Tradition wird bereich des Faches integrieren. die Dignität anspruchsvoller lite- Seit den 1990er Jahren werden die rarischer Texte gerade aus der Op- Erzähltechniken und Funktions- position ästhetischer Maßstäbe – weise der Hyperfictions, die Viel- und damit der ihnen genügenden falt digitaler Literatur und ihre Be- Kunstwerke – gegen Werte ge- ziehung zur Bildenden Kunst oder wonnen, die im pragmatisch be- zum Computerspiel untersucht, stimmten Alltag vorherrschen und im deutschsprachigen Raum bei- die dem naturwissenschaftlich- spielsweise von Roberto Sima- technischen Bereich zugeordnet nowski, Christiane Heibach, Beat werden. Zu ihnen zählen Werte Suter und anderen. Hier ist es vor wie ‚Machbarkeit’ oder ‚Fort- allem die Beziehung zur Tradition schritt’, Werte, denen der techni- avantgardistischer Literatur, unter sche Bestandteil der digitalen Lite- deren Blickwinkel die digitale Li- ratur verpflichtet ist. Praktisch be- teratur wahrgenommen, unter- telt. In einem mehrfach in Qua- trachtet, bedeutet dies, dass be- sucht und beurteilt wird. drate unterteilten Bild lassen sich reits die Herstellungs- und die Re- die verschiedenen Figuren in In- zeptionsbedingungen der digita- Ein Beispiel: »Quadrego« von teraktionen miteinander bringen. len Literatur Hindernisse darstel- Stefan Maskiewicz Dabei zeigt zum Beispiel der len, die die Aufnahme in den Das neue Genre schließt an die langsame Übergang von einem ästhetischen Gegenstandsbereich Konventionen gedruckter Literatur Gesicht zu einem anderen deut- erschweren. Auf eine Formel ge- an und entwickelt sie mit neuen lich, dass eine andere Persönlich- bracht: Literaturliebhaber erken- medialen Mitteln weiter. Wie aber keit in den Vordergrund tritt; ver- nen dem Computer allenfalls die sieht diese Weiterentwicklung aus? steckter indiziert der sich lang- Rolle einer erweiterten Schreib- 2001 veröffentlichte Stefan Mas- sam vollziehende Wechsel der maschine und eines praktischen kiewicz »Quadrego«, einen Text, Augenfarbe auf einer der Seiten, Geräts zu, mit dem man schnell der zu den Hyperfictions zählt dass hier intern der Sprecher und zeitgemäß an Informationen (

Georgia Augusta 5 | 2007 119 KULTUREN UND KONFLIKTE

ne Informationen und kodiert sie weitert werden, damit die multi- literarischen Hypertexts ist. Da in verschiedenen, komplementär medialen Produkte beschrieben verschiedene Durchgänge durch eingesetzten Medien; auf diese und analysiert werden können. ein und denselben Text unter- Weise erzeugt er besonders kom- Zum anderen sind technische Kom- schiedliche Ergebnisse hervorbrin- plexe bedeutungstragende Struk- petenzen erforderlich, wenn man gen können, ändert sich das ‚Wie’ turen. den ‚zweiten Text‘, also den Text einer Erzählung und eventuell so- »Quadrego« ist ein Beispiel für hinter der Bildschirm-Oberfläche, gar das ‚Was’, also die erzählte einen literarischen Hypertext, der berücksichtigen will. Der Quell- Geschichte. Beide sind aber Merk- alle vier oben genannten Merk- text muss gelesen und der Pro- male eines Textes, die für eine li- teraturwissenschaftliche Interpre- tation von großer Bedeutung sind. Worauf also soll die Interpretation einer Hyperfiction wie »Quadre- go« fußen: auf dem Informations- potenzial? Auf allen im Text ange- legten Erzählsträngen? Auf den ak- tualisierten Pfaden? Also, zusam- menfassend, auf dem Text in seiner Potenzialität oder auf dem tat- sächlich wahrgenommenen Text in seiner ganzen ‚Zufälligkeit’? Alle vier der oben angeführten Merkmale digitaler Literatur for- dern dazu auf, den Begriff ‚Text’so zu erweitern, dass er auch Beson- derheiten des neuen Phänomen- bereichs erfassen kann. Die erfor- derliche Anpassung betrifft drei Komponenten, die für eine Be- stimmung des Textbegriffs wichtig sind: das Textmaterial, den Wort- laut und das Resultat des ‚Verste- hens’, das Produkt kognitiver Operationen. So ist zu klären, ab male erfüllt: Er ist nicht-linear und grammcode zumindest soweit wann ein multimediales Produkt multimedial aufgebaut, er ist in- verstanden werden können, dass kein Text mehr ist, und es ist die teraktiv und seine Oberfläche seine Wirkungsweise nachvoll- Variabilität der Texte in ein Modell wird von einem dahinter stehen- ziehbar wird. Und schließlich zu bringen. Bisher gab es keine den Text bestimmt. müssen Begriffe gefunden wer- Texte, die in einem ähnlichen Ab- Zugleich ist er ein Beispiel für den, um auch die Bestandteile der hängigkeitsverhältnis zueinander einen literarisch anspruchsvollen Texte erfassen zu können, die kei- stehen, wie es bei dem Bild- Erzähltext, der sich mit dem Hin- ne ‚Botschaft’ vermitteln, sondern schirmtext und dem ihn hervorru- weis auf seine technischen Spiele- ein ästhetisches Spiel mit visuel- fenden Kodierungs- oder Pro- reien nicht abtun lässt. len Effekten präsentieren. In »Qua- grammtext der Fall ist. Auch diese drego« sind das zum Beispiel die Beziehung gilt es theoretisch zu Herausforderungen wechselnden grafischen Orna- erfassen. Zudem sind die Bedin- an die Literaturwissenschaft mente und Bildausschnitte in den gungen, unter denen digitale Lite- Texte wie dieser stellen die Lite- Nebenfenstern. ratur verstanden wird, empirisch raturwissenschaft vor mehrere Darüber hinaus hat digitale Li- weiter zu erforschen und texttheo- Herausforderungen. So reicht das teratur das Potenzial, etablierte li- retisch zu reflektieren. herkömmliche textorientierte Ins- teraturwissenschaftliche Begriffe Solche theoretischen Konse- trumentarium nicht aus, soll die in Frage zu stellen. Dies betrifft so quenzen der digitalen Literatur für digitale Literatur angemessen er- grundlegende Konzepte wie ‚Au- grundlegende literaturwissen- fasst werden. Literaturwissen- tor’, ‚Text’, ‚Leser’, ‚Interpretati- schaftliche Konzepte werden un- schaftliche Kompetenzen müssen on’, und ‚Bedeutung’. So ist zum ter anderem in der Göttinger Ar- zum einen um kunst-, musik- und Beispiel nicht klar, was eigentlich beitsstelle für Theorie der Literatur filmwissenschaftliche Begriffe er- die Basis der Interpretation eines untersucht.

120 Universität Göttingen KUNST UND KULT

Die Literatur der Zukunft? traditionellen Literaturbetrieb nur Verteilungskämpfe um das öko- wenig irritieren, die Literaturge- nomische, aber auch um das sym- schichtsschreibung wird ihr ein bolische Kapital im Bereich der schmales Kapitel widmen, wichtige Literatur und, allgemeiner, der Folgen jedoch hat sie für die litera- Kultur, sind nicht neu. Sie prägen turtheoretische Forschung und ihr auch die Geschichte der Medien- Interesse an Grundlagenkonzepten. entwicklung und treten immer Inzwischen entwickelt sich das dann auf, wenn ein neues Medi- Forschungsobjekt weiter: In vielen um beansprucht, Funktionen zu neuen Kunstwerken ist die sprach- übernehmen, die vorher einem liche Komponente stark zurückge- anderen vorbehalten waren. Harro treten und liefert nur noch das Segeberg hat im Anschluss an me- Wort- oder Buchstaben-Material dienhistorische Forschungen Mi- für wechselnde Konstellationen. chael Gieseckes die typischen In »Text Rain« (1999) von Camille Phasen in der Durchsetzung neuer Utterback und Romy Achituv bei- Medien skizziert: Auf eine ideelle spielsweise reagieren Buchstaben Vorlauf-Phase, in der ein neues auf eine Projektion des Nutzers: Medium und seine Techniken be- Sie interagieren mit dem Körper reits ‚vorgedacht’ werden, folgt ei- und können aufgefangen und ge- ne erste Phase der Durchsetzung, sammelt werden. in der das neue Medium noch an Auch wenn das Material von die alten Modelle angelehnt, je- »Text Rain« Buchstaben und Wör- doch mit ins Utopische gehenden ter sind, handelt es sich hier je- Annahmen über abzusehende doch nicht mehr um digitale Lite- Folgen verbunden wird. In der ratur. Digitale Kunst wie diese zweiten Phase gelingt dem neuen sprengt die Grenzen, die digitale Medium der Durchbruch, und es Literatur erweitert hat. richtet sich nun dezidiert gegen Kleine Linkliste zur digitalen Literatur Frank Klötgen: Spätwinterhitze – die alten Medien. Hat es sich Johannes Auer: Kill the poem – http://www.internetkrimi.de/spaetwinterhitze/ durchgesetzt, schließt eine ‚ent- http://auer.netzliteratur.net/kill/killpoem.htm index.html spannte’ dritte Phase der Koopera- Susanne Berkenheger: The worldwatchers – Stefan Maskiewicz: Quadrego – http://www.worldwatchers.de/ http://www.leeon.de/showroom/Quadrego/ tion an, in der alte und neue Me- start.htm Susanne Berkenheger: Die Schwimmmeis- dien zusammenwirken oder fried- Beat Suter: hyperfiction.ch. Hyperfictions und terin – http://www.berkenheger.netzlitera- Netzliteratur im deutschen Sprachraum – lich nebeneinander existieren. tur. net/ouargla/websprudel/browser.htm Aus der Sicht der Befürworter der http://www.hyperfiction.ch/sprungbrett/ M.D. Coverley: Fibonacci’s Daughter – (‚Sprungbrett’ zu weiteren deutschsprachi- alten Medien entspricht dieser http://califiahome.com/Fibonacci/ gen Hyperfictions) Dreiteilung die Abfolge von an- Michael Joyce: Twelve Blue – Roberto Simanowski: Digitale Literatur? – http://www.eastgate.com/TwelveBlue/ fänglicher Skepsis gegenüber dem http://www.t-online.de/literaturpreis/essay/ index.htm Neuen, anschließender heftiger polemischer Abwertung und letzt- lich der Anerkennung der neuen Prof. Dr. Simone Winko studierte Germanistik, Philo- Leistungen. Die digitale Literatur sophie und Anglistik an den Universitäten Kiel und als eine an das neue Medium ge- München. An der Münchner Ludwig-Maximilians-Uni- bundene Kunstform befindet sich versität erhielt sie 1984 den Magistergrad und wurde offenbar im Übergang von der 1989 promoviert. Mit einem Stipendium der Deut- zweiten zur dritten Phase: Auf die schen Forschungsgemeinschaft (DFG) arbeitete sie polemische Ausgrenzung folgt von 1990 bis 1992 im Forschungsprojekt »Literaturwissenschaftliche nun die Akzeptanz und die Ein- Semantik«. Ihr ebenfalls durch die DFG gefördertes Habilita- gliederung in die Gegenstandsbe- tionsvorhaben zur Kodierung von Emotionen in poetologischen und lyrischen Texten um 1900 schloss sie im Jahr 2001 mit der Habilitation reiche der entsprechenden Diszi- und der Lehrbefugnis für Neuere deutsche Literatur an der Univer- plinen. Die Literatur der Zukunft sität Hamburg ab. Eine Vertretungsprofessur führte sie anschließend wird die digitale Literatur sicher für zwei Semester an die Universität Kiel. Zum Wintersemester nicht; vielmehr existiert sie unbe- 2003/2004 wurde Simone Winko auf den Lehrstuhl für Neuere deut- helligt neben den weiterhin domi- sche Philologie an die Georg-August-Universität Göttingen berufen, nierenden gedruckten Texten. Als an der sie seither lehrt und forscht. kulturelles Phänomen wird sie den

Georgia Augusta 5 | 2007 121 KULTUREN UND KONFLIKTE

Digital literature is a rela- The internal tension just men- noticed when looking at the first tively new kind of literature. tioned results from the fact that reactions of literary scholars to- Leaving a few forerunners aside, it within digital literature two fields wards digital literature: The vast has been published since the late are closely linked up which are majority of professional academic nineteen-eighties. It can be regar- traditionally seen as opposites: readers disapproved of these texts ded as new form of literature, be- technology and aesthetics. Thus as being uninteresting, as being cause it is different from printed digital literature turns out to be a aesthetically inferior or simply as forms of literature in four aspects: hybrid phenomenon: It is at the being no more than a folly of tech- In most cases it is organized in a same time both a technical pro- nology-fanatic amateurs; among non-linear way, i.e. as a hypertext; duct and a work of art, and its cha- literary scholars, it was only a it is usually characterized by mul- racteristics are determined by small group of enthusiasts who timedia elements and interactivity conditions of both fields. There- regarded digital literature as a demanding the active participa- fore aesthetic aims are bound to serious object of research. tion of the reader during the rea- clash with the restraints of what is Looking at digital literature ding process. Also, behind the technically possible; technologi- from a slightly more rational point (first) text on the surface of the cal categories are not compatible of view, however, it is obvious that screen, there is always another with common aesthetic concepts, this new form of literature is a (i.e. a second) text determining the which until today are still based challenge at least for the theory of way the first text appears on the on the belief in the autonomy of literature and its interpretation. If, screen. Without the digital medi- works of art. as a literary scholar, you intend to um, without the PC, partly also On the level of the reception of analyze and interpret digital lite- without the internet, digital litera- digital literature, this internal rature (e.g. non-linear, interactive ture can neither be produced by tension (i.e. the tension between hyperfiction), you are faced with its authors nor received by its rea- technology and aesthetics we find several problems: You quickly ders. This new form of literature within digital literature) corres- realize that the terms and methods potentially leads to conflicts in at ponds to another specific tension: which are traditionally used to least three different areas resp. for the clash between the »two cult- describe texts are far from suf- at least three different reasons: be- ures« mentioned above: As mem- ficient. And you realize just as cause it is characterized by a cer- bers and participants of a certain quickly that it is also entirely un- tain internal tension; because it aesthetic culture, readers, in the clear which text should be regar- leads to a clash between two hete- course of their literary socializa- ded as the basis for or object of rogeneic cultures among its readers tion, have built up certain expecta- your interpretation: Is it the or users; and because it challen- tions with view to literary texts; »second text« behind the text on ges scholars in the field of literary these expectations have been the surface? Or is it the – in all studies to reconsider and partly built up towards the background likelihood varying – results of even revise their traditional terms of a distinction or even opposition different reading processes of and methods. between aesthetic values and several individual users? The most pragmatic values of the readers’ convincing answers to these every-day world, which is domina- questions seem to be offered by ted by scientific-technological an approach which looks at both values. Digital literary texts, how- texts together as »the« text of a ever, frequently disappoint the hyperfiction and which at the same readers´ literary expectations; in- time adapts the traditional terms stead, they have certain characte- and methods for the description ristics which tend to be a hindrance and analysis of literature to its new for the readers to classify digital li- object of research. This is one of terature as aesthetic phenomena. the important tasks of literary (This is the case even on a very ba- theory today – and it is one of the sic level, for example when readers fields of literary scholars working are faced with the fact that digital in the »Section for Literary Theo- literature cannot be read on paper, ry« at the »Department of German but must be read on the screen of Philology« at Göttingen Universi- a PC.) These disappointments of ty: They work on questions of literary expectations have lead to (re)conceptualizing literary theo- certain reservations on the part of ries, terms and methods in the age the readers of digital literature – of digital literature. reservations which can also be

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Promotionskolleg »Wertung und Kanon. Theorie und Praxis der Literaturvermitt- lung in der ‚nachbürgerlichen’ Wissens- gesellschaft«

(red.) Theorie und Praxis der Lite- ten oder Medien wertvoll sind. raturvermittlung in der ‚nachbür- Betreut werden die Dissertations- gerlichen’ Wissensgesellschaft vorhaben von Professorinnen und steht im Mittelpunkt des neuen Professoren der Universitäten geisteswissenschaftlichen Promo- Bern (Schweiz), Frankfurt am tionskollegs »Wertung und Ka- Main, Gießen, Heidelberg, Siegen non« an der Universität Göttin- und Göttingen. Zu den beteiligten gen. Zwölf Promotions-Stipendia- Fächern gehören neben der Deut- tinnen und -Stipendiaten und ein schen Philologie die Amerikanis- Postdoktorand untersuchen den tik, Anglistik, Komparatistik, Ro- aktuellen Literaturmarkt, wobei manistik und Slawistik. Das Stu- die Forschungsvorhaben mit be- dienprogramm umfasst außerdem rufspraktischen Anteilen verbun- Workshops und Blockseminare zu den sind. Den Hintergrund der literaturtheoretischen und metho- Fragestellung des Kollegs bildet dologischen Fragestellungen. eine gesellschaftliche Entwicklung, Das Promotionskolleg »Wer- in der bildungsbürgerliche Werte tung und Kanon« wird von der der Hochkultur und damit auch das VolkswagenStiftung mit rund Buch als ihr Leitmedium an Be- 950.000 Euro für den Zeitraum deutung verloren haben. Der Lite- von dreieinhalb Jahren gefördert. raturmarkt und die Vermittlung von Institutionell ist das Kolleg am Literatur haben sich beschleunigt, Göttinger Zentrum für Theorie und neue Medien sowie andere und Methodik der Kulturwissen- Mechanismen der Wissensregu- schaften angesiedelt und Mitglied lierung und Kommunikation ha- der Göttinger Graduiertenschule ben an Raum gewonnen. Den- für Geisteswissenschaften. noch, so die Beobachtung, gibt es Sprecher des Kollegs sind die ein großes Interesse an einem ver- Göttinger Germanistinnen Prof. bindlichen Literaturkanon. Wel- Dr. Claudia Stockinger und Prof. che Rolle ein solcher Kanon in ei- Dr. Simone Winko sowie der Her- ner zunehmend unübersichtlich ausgeber und Honorarprofessor werdenden Gesellschaft noch an der Universität Göttingen, spielen kann, wird unter anderem Heinz Ludwig Arnold. Außerdem in den Dissertationen erforscht. bilden Vertreter von namhaften Neben der wissenschaftlichen deutschen Verlagen (dtv, S. Fi- Arbeit absolvieren die Stipendia- scher, Friedrich, Verlagsgruppe tinnen und Stipendiaten Volonta- Holtzbrinck, Hanser, Klett und riate und Praktika in renommier- Klett-Cotta, J.B. Metzlersche Ver- ten deutschen und internationalen lagsbuchhandlung, Rowohlt, Verlagen. Die Doktoranden ler- Suhrkamp, TEXT + KRITIK / Kind- nen so zukünftige Berufsfelder ler Literatur Lexikon und Wall- kennen. Durch diese enge Vernet- stein) einen »Verlegerbeirat«, der zung von Theorie und Praxis kön- die Arbeit des Kollegs begleitet. nen zudem Forschungsergebnisse erzielt werden, die ihrerseits für www.wertungundkanon.uni- die Praxis in Verlagen, Zeitschrif- goettingen.de

Georgia Augusta 5 | 2007 123 KULTUREN UND KONFLIKTE

Zu den »Kulturen« oder jedenfalls kulturellen Teilsystemen, die in Europa seit dem 18. Jahrhundert und in variierenden Erscheinungsformen bis in die Postmoderne hinein im Konflikt gestanden haben, gehören eine nach Autonomie strebende Kunst und die Religion. In dieser Geschichte nun hat sich ge- rade das so versöhnlich klingende Konzept einer »Kunstreligion« als ein besonders umkämpftes Gebiet erwiesen. Etabliert hat sich der Begriff, seit seiner fast beiläufigen Einführung in Friedrich Schleierma- chers »Reden über die Religion« (1799), als Teil ästhetischer Diskurse bis zum Ende des deutschen Ide- alismus. Erst in den letzten Jahren aber hat sich seine Verwendung über diesen halbwegs terminologi- schen Gebrauch hinaus erheblich erweitert. Während er den meisten einschlägigen Lexika und Wör- terbüchern noch immer keinen eigenen Eintrag wert ist, scheint er in der Literaturwissenschaft wie in der Kulturkritik fast allgegenwärtig. So fördert die Gegenprobe mit »Google« mit einem Tastendruck Tausende von Einträgen zutage; sie reichen von der Kunstkritik bis zum New-Age. Kunstreligion und Künstlerkult

Heinrich Detering

Eine differenzierte Typologie und schöpferisch etc.« Solche Attribu- schaft. (Die Analogiefälle im politi- Funktionsbeschreibung dessen, ierungen könnten im Gegenteil, schen Bereich liegen offen zutage.) was zwischen dem 18. Jahrhundert und gerade in ihrer umgangs- und der Gegenwart als »Kunst- sprachlichen Unschärfe, wesent- Kunstreligion? religion« beschrieben werden liche Indikatoren kunstreligiöser In welcher Weise kann von kann, ist noch immer ein Deside- Entwürfe darstellen. Was ich zei- »Kunstreligion« sinnvoll die Rede rat. Eine komparatistische Tagung, gen will, lässt sich vorweg thesen- sein? Entstehen kann der Begriff die im Januar 2007 in Göttingen haft so resümieren: Mit und infol- erst in dem historischen Augen- stattgefunden hat, und eine Reihe ge der funktionalen Ausdifferen- blick, in dem die Begriffe »Kunst« unterschiedlicher Forschungsvor- zierung und wechselseitigen Kon- und »Religion« sich, im Zuge ihrer haben an der Georgia Augusta ha- turierung von »Kunst« und »Reli- funktionalen Ausdifferenzierung ben es mit diesem sehr weitläufi- gion« im 18. Jahrhundert erhebt zu voneinander kaum abhängigen gen Forschungsfeld zu tun. Im Fol- sich eine verbreitete Forderung gesellschaftlichen Teilsystemen, genden soll nur ein kleiner Teil nach ihrer Synthese; zu ihrer Be- wechselseitig konturieren: also dieses Feldes durchwandert wer- zeichnung entsteht die Rede von um die Mitte des 18. Jahrhunderts. den. Nicht um die Entwicklung »Kunstreligion«. Und der Begriff ist abgeleitet. theoretischer Entwürfe selbst soll Zwischen dem per definitio- »Kunstreligion« ergibt sich aus ei- es hier gehen, sondern nur um ei- nem bedingten Spiel einer auto- ner emphatischen Bezugnahme nige besonders signifikant erschei- nomen Kunst aber und dem reli- von Kunst auf »Religion« mit dem nende Spannungen zwischen der- giösen Anspruch auf die Vermitt- Ziel (oder jedenfalls dem Ergeb- artigen Konzepten und kulturellen lung eines Unbedingten ergibt nis) eines andersartigen, jedoch Praktiken von »Kunstreligion«. sich eine fundamentale und pro- zumindest gleichberechtigten Zu- Dabei spielen gerade solche duktive Spannung. Deren Auflö- gangs zu einem Numinosen. Phänomene eine besondere Rolle, sung müsste entweder in den Ver- Aber was ist »Religion«? Um die Ernst Müller in seiner instruk- zicht der Kunst auf religiöse An- eine handhabbare Präzisierung tiven Studie über »Ästhetische Re- sprüche münden oder in eine dieses schwierigen Begriffs zu ge- ligiosität und Kunstreligion in den Kunst, die sich wieder der Religi- winnen, empfiehlt sich ein Rück- Philosophien von der Aufklärung on unterordnet. Kunstreligiöse griff auf einen bis heute grundle- bis zum Ausgang des Idealismus« Praktiken tendieren – von Beginn genden Versuch einer funktiona- (2004) als »bloße inhaltsleere Epi- an – zu einem kompensatorischen len Bestimmung. »Religion« be- theta« ausschließt: »die Attribuie- Aufschub dieser Spannung durch stimmt Émile Durkheim 1912 als rung von Kunstwerken oder Künst- Personalisierung: durch einen ein »solidarisches System von lern als göttlich, heilig, inspiriert, Personenkult individueller Autor- Überzeugungen und Praktiken,

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Der Dichter Stefan George (1868 bis 1933)

Foto: Jacob Hilsdorf Ullstein Bild

Georgia Augusta 5 | 2007 125 KULTUREN UND KONFLIKTE

die sich auf heilige […] Dinge […] flexion auf mindestens zwei Wei- Begriffs 1799. Schleiermacher beziehen«, institutionalisiert in ei- sen Karriere gemacht. Einerseits in versucht, bestimmte Formen des ner »moralischen Gemeinschaft«. der geschichtsphilosophischen Erlebens, die von der autonom ge- Dieses System umfasst erstens Diskussion in und seit Georg wordenen Kunst ermöglicht wer- theoretisch-textförmige Aspekte, Wilhelm Friedrich Hegels »Phä- den, zu integrieren in ein dement- also »Glaubensüberzeugungen«, nomenologie des Geistes« (1807). sprechend modifiziertes religiöses die sich teils als »Mythen«, teils als Dort erscheint der Begriff im VII. System. (Eine ausführliche Analy- »Dogmen« artikulieren. Sie entfal- Teil, und er bezeichnet diejenige se der entsprechenden Passagen ten die Lehre von einem Numino- historische Epoche, in der Reli- habe ich im jüngst erschienenen sen, das als Heiliges vom Profa- gion sich in Kunst artikuliert habe, Schleiermacher-Band der Göttin- nen geschieden ist und das, wenn das Kunstwerk als Medium reli- ger Akademie der Wissenschaften man hier Rudolf Ottos Begriffe giöser Erfahrung erlebt worden sei unternommen.) Der Begriff einer eintragen darf, als »fascinosum« – also ein klassisch-romantisch »Kunstreligion« bezieht sich dann zunächst vor allem auf diejenigen Eigenschaften eines Kunstwerkes, die prinzipiell jederzeit geeignet sein können oder sollen, dem Re- zipienten mithilfe künstlerischer Verfahren Erfahrungen zu eröff- nen, wie sie ansonsten der Reli- gion vorbehalten waren – sei es in der Rezeption des Werkes selbst, sei es durch dieses hindurch, etwa im Sinne einer Sensibilisierung für Erfahrungen Gottes in der Natur, in der Liebe, in anderen Kunst- werken usf. »Kunstreligion« wird damit auch als ein vermittelndes Drittes postuliert zwischen religio revelata und religio naturalis, mit Schnittmengen in beiden Richtun- gen: Die jedermann zugängliche ästhetische Erfahrung soll als Offenbarungs-Erfahrung gedeutet oder gleichsam propädeutisch auf Friedrich Daniel Ernst diese bezogen werden. Insofern Schleiermacher Schleiermacher selbst schon hier, (1768 bis 1834) beiläufig und ohne systemati- Theologe und Philo- soph, nach einer Zeich- schen Anspruch, den Begriff des © ullstein bild nung von F. Krüger, ästhetisch-religiösen »Virtuosen« lithographiert von Gentili ins Spiel bringt, leistet er freilich ungewollt schon jener Verengung seines Konzepts zum Künstler- Kult Vorschub, die bereits in der wie als »tremendum« erfahren imaginiertes Griechenland. Der Romantik einsetzt. werden kann. »Religion« umfasst Begriff bleibt bezogen und be- Der Begriff »Kunstreligion« ist zweitens sozialpragmatische As- schränkt auf die eine historische also abgeleitet; er impliziert einen pekte, die das »religiöse Leben« Konstellation; bezeichnenderwei- mehr oder weniger emphati- einer Gemeinschaft und ihrer ein- se erscheint er in der systemati- schen Bezug von als eigenständig zelnen Mitglieder umfassen: in schen Entfaltung von Hegels »Äs- vorausgesetzter »Kunst« auf eine Gestalt von Institutionen ein- thetik« nicht. logisch und empirisch vorgängige schließlich bestimmter Praktiken Eng benachbart, aber eben »Religion« (und womöglich auf ritueller Verehrung, einer be- durch den Anspruch auf systema- eine als vorgängig gedachte Ein- stimmten Ethik und eines spezifi- tische Geltung von diesem Ge- heit von »Kunst« mit »Religion« schen Ethos. brauch verschieden war Schleier- im Sinne einer funktionalen oder »Kunstreligion« hat als Termi- machers – soweit ich sehe – über- instrumentellen Unterordnung). nus romantisch-idealistischer Re- haupt früheste Verwendung des Diese logische und empirische

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Reihenfolge legt jedoch noch kei- In diesem wie den folgenden zum Numinosen gewinnt und, ne Rangfolge fest, etwa im Hin- kunstreligiösen Konzepten des 18. solchermaßen autorisiert, ver- blick auf unterschiedliche Grade und 19. Jahrhunderts ist die Be- bindliche religiöse Wahrheit zu von Legitimität, Authentizität oder ziehung der Kunst auf die empiri- verkünden vermag, dessen Dich- ahnliches Historische wie syste- sche Person des Künstlers kontin- tung also in derselben Weise matische Voraussetzungen für die gent (denn nur um das Vermittelte heilsvermittelnd werden kann wie Rede von »Kunstreligion« sind. soll es gehen, nicht um den Ver- das Wort der Bibel. Im Wortsinne (1) die funktionale Ausdifferen- mittler). In ihrer kulturellen Praxis als Heilige Schrift wird rezipiert, zierung von »Kunst« und »Religi- ist sie es nicht. Das zeigt sich was Klopstock im Messias verkün- on« zu voneinander prinzipiell schon in ihrem in Deutschland det, durch gemeinsame Schriftle- abhängigen (wenngleich vielfältig frühesten und aller romantischen sung und Andacht neben der Bi- aufeinander Bezug nehmenden) Rede von »Kunstreligion« voraus- bel, nicht selten auch anstelle der gesellschaftlichen Teilsystemen, gehenden Beispiel. Bibel. Klopstocks religiöse Kunst also ein Prozess, der sich in Euro- konvergiert mit der kirchlichen pa etwa ab der Mitte des 18. Jahr- »Klopstock!« Religion, weil die hier verkündete hunderts umfangreich vollzieht. Friedrich Gottlieb Klopstock Wahrheit dieselbe zu sein scheint Erst seit dieser Zeit können beide repräsentiert mit der christianisier- wie in Schrift und Tradition. Allein in einem Verhältnis der Funktions- ten Variante eines poeta vates, ei- die antikische Feierlichkeit des äquivalenz gedacht und zentrale nes Dichter-Sehers also, das lange Hexameters und das Zurücktreten Begriffe und Konzepte aus der Be- Zeit wirkungsmächtigste Leitbild dogmatischer Differenzierungen schreibung des einen Systems in kunstreligiöser Konzepte in der gegenüber der frommen Empfin- die des anderen übernommen Entstehungsphase der Genieästhe- dung scheinen die Differenz zu werden; tik: den Typus des autonomen markieren zwischen Poesie und (2) eine wesentliche und em- Dichters nämlich, der aufgrund Dogmatik – auch wenn Klop- phatische Bezugnahme der Kunst besonderer Inspiration Zugang stocks Engelschöre und Satansdar- auf das von der vorgefundenen Religion vorausgesetzte Heilige; (3) das Bestreben der Kunst, unter den Bedingungen von (1) bestimmte Funktionen der Religi- on zu übernehmen. (4) Schließlich muss das vor- ausgesetzte religiöse System sei- nerseits so weit destabilisiert, so krisenhaft verunsichert sein, dass es nach Impulsen aus anderen Be- reichen der Kultur sucht – und nach kultureller Praxisrelevanz. Dies ist die Situation, in die hinein Schlegel und Novalis schreiben und auf die Schleiermacher rea- giert; sie wird fortan in unter- schiedlichsten Ausprägungen wiederkehren. »Kunstreligion« kann bean- spruchen, Heiliges zu verkünden und Heil zu vermitteln; sie kann ein Priestertum begründen, Hier- archien und Kultgemeinschaften entwickeln, Lebensregeln formu- lieren und so fort. In jedem Fall aber sind diese Bezüge sowohl durch Schnittmengen wie durch Differenzen bestimmt – ohne Der Dichter Schnittmengen wäre nicht von Friedrich Gottlieb Klop- © ullstein - AKG Pressebild stock (1724 bis 1803) »Kunstreligion«, ohne Differenzen Kopie des Gemäldes nicht von »Kunstreligion« zu reden. von Jens Juel

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dass er ‚sich beweihräuchern weihter Arm / Vom Altar Gottes lässt’: dass also an die Stelle des Flammen nehme«. Vor allem aber vom poetischen Priester vermittel- preist er den Herrn als einen ihm ten Heiligen die Heiligkeit des eigentlich nur graduell Überlege- poetischen Priesters tritt. nen: »O du mein Meister, der du Weltruhm erlangte die Urszene, gewaltiger / Die Gottheit lehr- an der dieses Umschlagen von test!« Kein poetischer Evangelist Klopstocks Christentum in den redet so, sondern eher schon ein Kult Klopstocks vorgeführt wird poetischer Heilsvermittler, der mit wie im Schauversuch. Wenn im Vollmacht schreibt und nicht wie Werther von Johann Wolfgang die Schriftgelehrten. von Goethe die erschütterte Lotte Diese Personalisierung eines das Gewitter abziehen und den kunstreligiösen Programms wird »Bogen des Friedens« aufleuchten sich bald weiter entfalten: in den sieht, so müssten ihr, zufolge des legendenhaften Künstlerviten von kunstreligiösen Konzepts, die ent- Wilhelm Heinrich Wackenroders sprechenden Verse aus Klopstocks Kunstliebendem Klosterbruder Frühlingsfeier auf der Zunge lie- und bei anderen Romantikern, auf gen oder ein Gebet an den, der die differenzierend einzugehen © ullstein - Granger Collection dort verkündet und gepriesen hier nicht der Ort ist, die aber al- wird. Ihr religiöses Ergriffensein lesamt nicht nur eine heilige Kunst

Stéphane Mallarmé, aber artikuliert sich allein im Aus- verkünden, sondern auch Künstler (1842 bis 1898) sprechen des Autor-Namens: als Heilige. Dies zu konstatieren französischer Dicher. stellungen der Bibel wenig, John »Klopstock!« sagt sie unter Trä- heißt nicht, ein ausschließliches Ölgemälde von Eduard Manet, 1876 Miltons Paradise Lost hingegen nen, und mehr als dieses Wort Entweder – Oder zu behaupten. umso mehr verdanken. sagt sie nicht. Dem entspricht Zweifellos aber vollzieht sich hier Die Verehrung, die dem heili- Werthers Kommentar, der nun sei- eine Bewegung, eine signifikante gen Wort gilt, färbt auf dessen Ver- nerseits den »allzu oft entweihten Akzentverschiebung. künder ab: Einerseits erscheint der Namen« Klopstocks anruft, der in Dichter nur als Medium eines Lottes Mund wieder geweiht, ja »Prophet im verbrannten transzendenten Text-Urhebers, als »vergöttlicht« worden sei. Dieser Strauche« heteronomer Mittler eines göttli- Vorgang ist genau genommen Die äußerste Sakralisierung der chen Wortes. Insofern der Prophet weit anstößiger als die bekannten Kunst und daraufhin des Künst- aber zugleich als autonomer Au- Berichte von frommen Pfarrern, lers, die sich hier erst andeutet, tor auftritt, gilt dasselbe Wort an- auf deren Altar der Messias neben wird sich mit wirkungsmächtiger dererseits als seine Hervorbrin- der Bibel gelegen habe. Wird im Emphase an unterschiedlichen gung; in dieser Perspektive er- letzteren Fall eine menschliche Entstehungsorten der Moderne scheint der Vermittler des Wortes Dichtung dem Wort Gottes beige- vollziehen. Stéphane Mallarmés zugleich als dessen Schöpfer. Die- ordnet, weil sie es deutend und Symbolismus erhebt den Autor se Ambivalenz lohnt es genauer preisend erschließt, so wird dort zum Vermittler eines Numinosen, anzusehen, weil sie ein bis weit in allein die Person des Dichters sak- das nun kein höheres Wesen mehr die Moderne konstitutives, ja in ralisiert – nicht nur als priesterli- ist, sondern nur die Sprache ihr nochmals radikalisiertes Span- cher Mittler, sondern als selbst selbst. Oder sollte man sagen: die nungsverhältnis bezeichnet. heilige, ja geradezu dem Göttli- Sprache als ein höheres Wesen, Klopstock, so lautete seinerzeit chen angenäherte Gestalt. Denn als ein Mysterium eigenen Rechts? ein populäres Spottwort, ziehe nun das besagen Werthers Worte ja Noch 1951 hat Gottfried Benn, in wieder einmal von Herrenhaus zu ganz buchstäblich: geheiligt wer- dieser Hinsicht ein später Nach- Herrenhaus, »um Weihrauch ein- de sein Name. fahre Mallarmés (wie auf je ande- zusammeln«. Was besagt diese Diese Rezeption greift nur auf re Weise auch Edgar Allan Poes Metapher eigentlich? Sie stilisiert und spitzt zu, was dem Klopstock- und Martin Heideggers) die den Dichter zum Priester, der am schen Werk selbst als Rezeptions- sprachmetaphysische Grundlage Altar mit heiligen Gegenständen angebot schon mitgegeben ist. In dieser Poetik als eine kunstreligiö- umgeht, und sie beschreibt inso- einem poetologischen Paratext, se formuliert, wenn er erklärt, weit das Kunstprogramm des Mes- der Ode An den Erlöser, bittet der »dass Worte eine latente Existenz sias-Dichters durchaus zutreffend. Autor Christus um Belehrung und besitzen, die auf entsprechend Die Pointe besteht nun darin, dass um Ermächtigung zum dichter- Eingestellte als Zauber wirkt und Klopstock Weihrauch einsammelt, priesterlichen Amt: »daß mein ge- sie befähigt, diesen Zauber wei-

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terzugeben. Dies scheint mir das selbst. Ein Konkurrenzverhältnis letzte Mysterium zu sein, vor dem bestünde dann nicht mehr zwi- unser immer waches [...] Bewusst- schen Religion und Kunst, son- sein seine Grenze fühlt.« Damit dern zwischen alter und neuer Re- aber wird die Rezeption des Wort- ligion. Kunstwerks wieder zur Initiation Auf diese Spannungen hat zu- in ein Mysterium. Was als Auto- erst, mit aller analytischen Schär- nomieästhetik des rationalen Kal- fe und aller rhetorischen Verve, küls einsetzte, mündet (hier wie der abtrünnige Wagnerianer Frie- etwa auch bei Ezra Pound) in die drich Nietzsche hingewiesen. Weitergabe eines Zaubers durch Derselbe Nietzsche aber, der den »entsprechend eingestellten« Richard Wagners Kunstreligion so Autor als einen Eingeweihten: ei- effektvoll als scheinhaften Effekt nen privilegierten Mystagogen. artistischer Raffinesse dekonstru- Nicht anders im politisch ent- ieren will, konstruiert gleichzeitig gegengesetzten Lager der deut- selbst seine eigene Variante kunst- schen Nachkriegs-Poetik. Die religiöser Selbstermächtigung – Selbstaufforderung des aus dem eine Variante, die das Unterneh- Exil zurückkehrenden Stephan men einer Kunstreligion selbst zu- Hermlin ermahnt sich 1946 in ei- gleich auf die Spitze treiben und nem so knappen wie kategori- aufheben soll. (Die Selbstvergött- schen Vers: »Als Prophet sprich im lichung, auf die das schließlich verbrannten Strauche«. Was heißt hinausläuft, wird durch ihre pa- das? Dass der Strauch, von dem thologischen Begleitumstände ent- aus Gott Mose anredet und aus- schieden begünstigt, sollte aber sendet (also inspiriert und autori- nicht voreilig mit ihnen verrech- siert) »verbrannt« sei: diese Vor- net werden.) aussetzung variiert Nietzsches Eine genauere Analyse der Proklamation des »Todes Gottes«. Spätschriften könnte zeigen, wie Bemerkenswert an Hermlins Me- Nietzsche hier die vielleicht fol- tapher ist erst die Selbstverständ- genreichste kunstreligiöse Figur lichkeit, mit der er an der erkalte- der Klassischen Moderne konstru- ten Feuerstelle verharrt, mit der er iert. Ich deute hier nur resümie- festhält an der autorisierenden rend an, in welchen Schritten sich Sendung des »Propheten«. diese Konstruktion vollzieht. Im Um dieselbe Zeit wie Mallar- Antichrist macht Nietzsche – in mé proklamiert und praktiziert polemischer Opposition gegen Richard Wagner mit Vehemenz das kirchliche Dogma wie gegen und Tatkraft eine Kunst, die als au- die liberale Leben-Jesu-Forschung tonome alle herkömmlichen reli- – den historischen Jesus zunächst giösen Systeme ersetzen und sich überraschenderweise zum Kron- selbst als eine gewissermaßen zeugen der eigenen Sache, indem ästhetische Gegen-Kirche etablie- er ihn so weit wie möglich dem ei- ren soll. Folgerichtig errichtet er genen Dionysos-Modell annähert. um seine eigene, zugleich pro- In Ecce homo nähert sich dann ein phetische und priesterliche Per- Ich, das zugleich als autobiogra- son herum ein ganzes System reli- phisch und als rein textförmig aus- giöser Institutionen, mit eigenen gegeben wird, in wechselnden Mythen und Dogmen, Kulten und Spielzügen dieser Rolle an. In den Ritualen, Gebräuchen und Ge- letzten Briefen endlich, die noch bäuden. Im Erfolgsfall allerdings den psychophysischen Zusam- (der ja dann doch nur partiell ein- menbruch kunstvoll inszenieren, getreten ist) hätte dies hinauslau- tritt der Schreiber selbst, als empi- © ullstein - Granger Collection fen müssen auf eine Selbstaufhe- rische Person, in diese Rolle ein: bung der Freiheit einer autono- als zerrissener Dionysos und als men Kunst für alle Beteiligten, mit der in der Erniedrigung siegreiche Friedrich W. Nietzsche (1844 bis 1900) deutscher Philosoph Ausnahme allenfalls des Urhebers Gekreuzigte. Paradox ist diese und Dichter. Ätzung von Hans Olde.

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Selbsterhöhung in der Kombinati- fahr, seine ästhetische Komple- Sprecher erfüllt, ist nur das Echo on des Unvereinbaren: Einerseits xität, und das heißt auch: seine für seiner eigenen; das »heilige feu- setzt sie die Proklamation vom unser Thema aufschlussreiche er«, als dessen Funke er sich be- »Ich als Wortspiel« voraus und be- Selbstreflexivität zu unterschät- greifen will, hat er vor den Augen stätigt sie, ebenso wie die Dekon- zen. In einer durchgängigen ästhe- seiner Leser selbst erst entzündet. struktion von Kategorien wie tischen Brechung nämlich entfal- Indem Georges Gedichte sich (an- »Wahrheit« oder »Identität« zu Ef- tet sich der Maximin-Komplex als ders als etwa noch Rainer Maria fekten arbiträrer Diskurse. Ande- Exempel einer »Neuen Mytholo- Rilkes Stundenbuch) aus der Auto- rerseits aber gibt sie dieser De- gie«, die sich als verbindlicher rität einer Gottheit ableiten, die konstruktion eine subjektförmige Kultus konstituieren will, sich zu- sie selbst zu allererst als Gottheit Gestalt: die Doppel-Gestalt näm- gleich aber – und im Widerspruch konstituieren, entstellen sie das li- lich zweier als antagonistisch ein- dazu – immer auch als hochge- neare Inspirationsgeschehen zu geführter Gottheiten, die in der triebenes Spiel potenzierter Fiktio- einem zirkulären Selbstverhältnis Auflösung, als Zerrissener oder Ge- nen zu erkennen gibt. Beides er- des schreibenden Ich. In den Ma- kreuzigter, erst ganz sie selbst sind. gibt sich aus Georges Auseinan- ximin-Gedichten geschieht das Nach Nietzsches Zusammen- dersetzung mit Nietzsche. explizit in der Adaption trinitäts- bruch wird diese komplexe Struk- Ausdrücklich leiten sich die theologischer Gedanken: »Nun tur von einer rasch einsetzenden Maximin-Gedichte aus einer pro- wird wahr was du verhiessest: Hagiographie bald reduziert zur grammatischen Wendung gegen / Dass gelangt zur macht des Thro- einsinnigen Vergöttlichung des Nietzsche ab, aus dem Willen zur nes / Andren Bund du mit mir Diskursbegründers. Sie konstitu- Konstruktion gegenüber dessen schliessest – / Ich geschöpf nun iert sich nicht mehr nur im Medi- permanenter Dekonstruktion: »Er- eignen sohnes.« Der Neue Bund um der Schrift, sondern primär als schufst du götter nur um sie zu endet in der Selbstermächtigung Bild. Dessen vermeintliche Evi- stürzen / Nie einer rast und eines und Erhöhung des Vatergottes, der denz umgeht die rhetorischen Pa- baues froh?« Schon Fortgang und diesen Sohn erst gezeugt hat. Er, radoxien und Brechungen, die der Schlussverse dieses Nietzsche- der nur transparenter propheti- Textvorlage eingeschrieben wa- Gedichts, nun gelte es, sich zu scher Mittler eines Heiligen sein ren. Nunmehr durchaus span- »bannen in den kreis den liebe wollte, wird zur opaken Verkörpe- nungsfrei umfasst die Merkmals- schliesst«, deuten auf die Begrün- rung dieses Heiligen selbst. Nicht matrix die Zeichen des Dionysos, dung einer Kultgemeinschaft vor- das Bild Maximins ist bekanntlich der Verausgabung, des Rausches, aus, in deren Zentrum als »Stern zur Ikone des Bundes geworden, der Ekstase mitsamt denjenigen des Bundes« die dezisionistisch sondern ersatzweise dasjenige des Leidens, des Todes, des Op- gesetzte (und wie bei Nietzsche seines Schöpfers. Auch das vorerst fers. So erst geht sie ein ins kollek- offen synkretistische) Gottheit Ma- letzte und wagemutigste Unter- tive Archiv der Moderne. ximin stehen soll. Von dieser Gott- nehmen einer postwagnerschen Die äußerste Zuspitzung und heit aus wären dann womöglich deutschen Kunstreligion endet so Aporie dieses Konzepts markiert, auch wieder verbindliche Wahr- im Personenkult um einen Künstler. in der erklärten Nachfolge Nietz- heit und Weisung zu erlangen, sches, Stefan Georges »Maximin«- vermittelt durch das Amt des »Graceland« Kult, seine (mit Thomas Manns Dichters als eines durch Inspirati- Die Erhebung eines Künstlers maliziöser Formulierung zu spre- on autorisierten Propheten. Tat- zu einer zugleich dionysischen chen) »hochverspielte Deifizie- sächlich scheint in einigen Texten und christomorphen Gottheit lässt rung eines Lieblingsjüngers« – der diese Klopstocksche Grundkons- sich in wiederum signifikant ernstliche Versuch also, dem Jün- tellation triumphal wiederherge- kulturspezifischen Ausprägungen gerkreis um den Dichter dessen stellt: »Ich bin ein funke nur vom auch – und ähnlich vielfältig – in jung verstorbenen Liebling als heiligen feuer / Ich bin ein dröh- der amerikanischen Popularkultur gleichsam antikisch-vergöttlich- nen nur der heiligen stimme.« des 20. Jahrhunderts beobachten. ten »Stern des Bundes« zu religiö- Doch was genau sagt die Stim- Dort haben sie seit den sechziger ser Verehrung zu empfehlen. ‚Max me? Der neugierig beobachtende Jahren umfangreiche Wirkungen Kronberger aus Schwabing ist Max Weber hat konstatiert, das entfaltet, dort sind sie am intensiv- Gott’: Wer die anachronistische Grundproblem des Maximin- sten durchgespielt und problema- Setzung dieses Satzes nur als bio- Experiments liege darin, dass die- tisiert worden. Das verdient hier graphische Kuriosität wahrnimmt ser Gott nichts sage und dass sich darum einen abschließenden oder, wie vorgeschlagen worden über ihn beim besten Willen Blick. (Damit wird keine Konti- ist, als sozialpsychologisches In- nichts mehr aussagen lasse als sei- nuität mit deutscher Romantik diz eines epochenspezifischen ne postulierte Göttlichkeit selbst. und Frühmoderne postuliert; die Narzissmus, der steht in der Ge- Die »heilige stimme«, die den spezifisch amerikanischen Tradi-

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tionen der Romantik- und frühmo- Bildes. Seither werden an seinem halb weniger Jahre einen Weg von dernen Popularkultur machen Grab auf dem Père–Lachaise- der Auratisierung zur Apotheose. ähnliche Entwicklungen und Pro- Friedhof dem Dionysos Opfer dar- Dabei fungieren Reminiszenzen bleme durch wie die französische, gebracht. Die bekümmerte Fried- an kunstreligiöse Konzepte nur als englische, deutsche »Kunstreligi- hofsverwaltung muss hier täglich on«, geht aber trotz mancher Fi- nicht nur Blumen und selbstver- liationen sehr eigene Wege. Mir fasste Gedichte beseitigen, son- kommt es hier auf Analogien, dern auch zerbrochene Flaschen, nicht auf Genealogien an.) Min- Einwegspritzen und Kondome. destens begünstigt wird die pop- Rockmusik als dionysische Myste- kulturelle Entfaltung kunstreligiö- rienreligion: selten ist dieses ge- ser Praktiken dadurch, dass hier wiss nicht christliche, aber doch der »Werk«-Begriff nicht mehr nur entschieden kunstreligiöse Pro- das vom hervorbringenden Künst- gramm so konsequent verwirk- ler abgelöste Artefakt umfasst, licht worden wie im Fall von Jim sondern immer schon die multi- Morrison. (Auch wenn Pop-Histo- mediale Gesamtheit aus Text, Mu- riker hier auch an Kurt Cobain sik und Performance mit der ins- oder Ian Curtis denken können.) zenierten Figur des Künstlers selbst. Und auch hier hat sich die Kult- »There are things that are known praxis sehr rasch und ausschließ- and there are things that are un- lich konzentriert auf die Figur des known; in between there are priesterlichen Vermittlers selbst. doors.« 1965 wird dieser Satz des Es ist sein Bild, dem die Verehrung romantischen Kunstpriesters Wil- gilt, bis zu Internet-Kunstwerken liam Blake zum Gründungsmotto wie dem Bild des Verewigten in einer sehr kalifornischen Rock- Lederkluft und mit Engelsflügeln. band, die ein junger Dichter mit Der zweite, ungleich populäre- musikalischen Ambitionen in Los re Fall von Kunstreligion in der Angeles gründet. Sie nennt sich Popkultur bietet so etwas wie die The Doors, und ihre Konzerte ver- triumphale Schwundstufe dieses sprechen eine Initiation in »things Prozesses. Während der Kult um that are unknown«. Rasch neh- Morrison in der Tat so etwas wie men sie den Charakter von Diony- einen Mythos, eine Lehre und ei- sien an, in denen schließlich auch ne daraus resultierende Praxis die Grenze zwischen Bühne und umfasst, die dann in der Figur des © ullstein bild - KPA Publikum aufgehoben wird. An- Lehrers personalisiert werden, wird Elvis Presley gleichsam zum getrieben von ekstatischer Musik, Bob Dylan, Drogen und der sexuellen Energie Maximin des Pop: eine Gottheit, US-amerikanischer des Dichter-Sängers Jim Morrison von der nichts mehr auszusagen Instrumente eines reinen Perso- Dichter, Folk- und selbst, kommt es zu orgiastischen ist als ihre Göttlichkeit selbst. nenkults. Die Auratisierung voll- Rockmusiker Überschreitungen, angesichts de- Nur wenige und vergleichsweise zieht sich im allabendlichen Ritu- rer Nietzsches Schilderungen dio- schwache Rezeptionsangebote al auf der Showbühne in Las Ve- nysischer Feste nicht übertrieben sind es hier, aus denen in der al- gas. Während das Orchester Also erscheinen. Morrisons Selbstinsze- lerdings überwältigenden Rezep- sprach Zarathustra intoniert, tritt nierungen entwerfen eine zeit- tion durch eine glaubenswillige der Übermensch auf die Bühne gemäß-popkulturelle Variante je- Kultgemeinschaft die gleichsam (»Superman« nennt er sich iro- ner synkretistischen Erlöserfigur, nackte Form der Sakralisierung ei- nisch), die er erst nach seiner völ- die paradigmatisch von Nietzsche nes Künstlers entwickelt – und ligen Verausgabung wieder ver- entwickelt worden war: eine dann freilich durch die Trash- und lassen wird. Physischen Anteil an dionysisch laszive Verkörperung Camp-Aspekte der Inszenierung der Epiphanie können auch ent- von Geschlechtlichkeit, Rausch wieder ironisiert – wird. Auch El- fernte Gläubige dank der Reliqui- und Musik – in der Position des vis entwickelt Praktiken der Kunst en gewinnen, die nun den Schall- Gekreuzigten. Morrisons Drogen- und des Körpers, die in der Einheit platten beigefügt werden: Stoff- tod in Paris, nur sechs Jahre nach von Songs, Performance und Le- fetzen seiner Auftrittsgarderoben. Gründung der Band, erscheint in bensstil des Künstlers zum media- Schon damit setzt eine Transfor- der Rezeption durch die Kultge- len Ereignis werden können. Sein mation eines Helden der counter- meinschaft als Bestätigung dieses populäres Image beschreibt inner- culture zur christomorphen Künst-

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ler-Gestalt einer Nationalreligion land« dokumentiert. Gerade am sich als Kulisse erhebt. »Elvis ein. Sie setzt sich fort in verbreite- medialen Umgang mit diesem lebt«, lautet der Jubelruf seiner ten Bildern wie einer Aufnahme Namen aber wird dann der Funk- Gemeinde; im Internet finden sich aus dem Spielfilm Blue Hawaii, tionswandel der Figur deutlich: Fan-Homepages wie »Jesus and die den Sänger als männliche und Nun wird Elvis erhoben zur Ehre Elvis – Coincidence or Cosmic erotisierte Variante der Heiligen von Altären, die für seinen Kult Plan?«; selbst noch die ebendort Bernadette im Gebet an einer Ma- erst errichtet werden müssen; von präsentierte, parodistische Dar- riengrotte zeigt. Sie vollendet sich nun an wird Graceland zum Lour- stellung eines Herz-Jesu-Bildes mit jedoch erst post mortem, am Grab des der Popkultur. Hierher werden Elvis’ Gesicht bestätigt die kunst- des Erlösers im Gnadenland. Als Wallfahrten organisiert, mitsamt religiöse Transformation: Zarathus- Elvis dieses Anwesen 1957 er- Devotionalienhandel und stiller tra, Dionysos, der Gekreuzigte. warb, folgte die Inszenierung noch Andacht im »Meditation Garden« Nach Elvis (und wohl auch in- folge dieses Kults) hat dieselbe Popkultur, die solche kunstreligiö- sen Praktiken hervorgebracht hat, sie mit beträchtlicher artistischer Raffinesse wieder subvertiert. Und auch hier sind Konzepte wieder- gekehrt, die um 1800 erstmals ent- wickelt worden sind. Bob Dylans viel bewunderte Strategien einer ironischen Subversion kunstreligi- öser Erwartungen ähneln den Ver- fahren romantischer Ironie aufs Haar. Dem Wahrheits- und Au- thentizitätsverlangen einer glau- benswilligen Fangemeinde antwor- tet hier ein permanenter Medien- und Rollenwechsel, eine poten- zierte Selbstreflexivität des Werks und der Künstlerfigur selbst – und ein geradezu unerschöpflicher Einfallsreichtum in der Inszenie- rung paradoxer Autorschaft. Diese Strategien sollen seine Auftritte immunisieren gegen diejenigen kunstreligiösen Anmutungen, mit denen auch er massiv konfrontiert ist – und die er gleichsam als Schwungrad ausnutzt, um die Dif- ferenz von religiöser Kunst und Religion wieder zu markieren. Dafür will ich abschließend nur ein ganz einfaches Beispiel an- führen. Nach der letzten Strophe von It ain’t me babe tritt der Sän- ger im Konzert beiseite in die Reihe Das Grab Jim Morrisons seiner Begleitmusiker und spielt (1943 bis 1971) auf © ullstein - Business Picture dem Friedhof »Père nun mit ihnen instrumental wei- Lachaise« in Paris. ter; in der Mitte steht, im Schein- werferlicht, das leere Mikrophon: »It ain’t me you’re lookin’ for« – einem ganz calvinistischen Sche- am Grab, das am Ende jeder die Konzertbühne wird zur deikti- ma: Der sichtbare Erfolg von Dis- Führung durch die Weihestätte er- schen Ellipse. Wie auf andere Wei- ziplin und Erwerbsfleiß verdankt reicht wird. Hier ruht der Heilige se Madonna (nomen est omen), so sich der frommen Demut des Be- unter dem ewigen Licht vor einem resümiert Dylan sakralisierende sitzers, die der Name »Grace- Weiher, hinter dem »Graceland« Kunstauffassungen, Inspirations- KUNST UND KULT

modelle und christomorphe Künstlerrollen in unterschiedlichs- Prof. Dr. Heinrich Detering, Jahrgang 1959, studierte ten Varianten, um sie zu demen- Germanistik, Theologie, Philosophie sowie Skandina- tieren und mit ihrer Hilfe sein vistik an den Universitäten Heidelberg, Odense (Dä- Werk insgesamt als eine solche nemark) und Göttingen. Nach dem 1. Staatsexamen deiktische Ellipse zu inszenieren: (1988) arbeitete er drei Jahre lang in der Göttinger Ar- als Verweis auf ein Absolutes, das beitsstelle zur Herausgabe der Werke von Heinrich nur als das eschatologisch Andere von Meißen (‚Frauenlob’). 1988 wurde er in Göttingen promoviert aufscheint. Das heilige Feuer und war im Anschluss Assistent des Göttinger Germanisten Albrecht brennt noch, aber er bleibt außer Schöne. 1993 folgten die Habilitation und die Erlangung der Lehr- Sichtweite; auf der Oberfläche befugnis für Neuere deutsche Literatur. Nach einer Vertretungspro- des Kunstwerks zeigt sich nur sein fessur für Komparatistik in München (1994/1995) wurde Heinrich flackernder Widerschein. Detering 1995 an die Universität Kiel berufen. 2005 nahm er den Ruf an die Universität Göttingen auf den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an. Prof. Detering war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin (2001/2002); Gastpro- fessuren führten ihn an die Universitäten nach Irvine (USA), Aarhus The functional differentiation (Dänemark), Bergen (Norwegen), St. Louis (USA) und Mainz. Er ist and reciprocal outlining of Mitglied der Göttinger, der Mainzer sowie der Dänischen Akademie ‘art’ and ‘religion’ in the 18th Cen- der Wissenschaften und der Deutschen Akademie für Sprache und tury has given rise to a widespread Dichtung; daneben ist er Mitglied im Beirat des Wissenschaftskollegs. demand for their synthesis. The Prof. Detering erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen und ist term ‘art-religion’ emerged in Ger- in leitender Funktion engagiert in der Storm- und in der Thomas- man Romanticism to describe this Mann-Gesellschaft. synthesis. On the one hand, inter- disciplinary research in Göttingen is endeavouring to historically re- construct theories and practices connected with this term. On the ted to, indeed has reduced itself to other hand, an attempt is being a personality cult of individual made to find a systematic-termi- authorship under the instrumental nological classification of ‘art-reli- use of role patterns such as those gion’ that can be employed be- of the prophet, the priest, the yond its historical origin. saint, the saviour. (Political equi- There exists – ab initio – a fun- valents are obvious). The belief damental and productive tension that finds no binding message re- between the – per definitionem – directs itself toward the messen- conditional and relative interrela- ger; and that which is prophesised tionship of autonomous art and a takes on the characteristics of the religious claim to convey the ab- prophet. In doing so, the focus of solute, ‘the holy’. The dissolution interest shifts increasingly from of this tension must in theory ei- the work itself to its preconditions ther lead art to relinquish its reli- and concomitants. gious claims, or to a self-abolish- These concepts and practices ment of religious art in religion it- reveal a remarkable longue durée, self – whether in its traditional (cf. reaching from the 18th Century to Schleichermacher) or its new form today’s popular culture. The paper (cf. Wagner). will give examples ranging from From their very beginnings, art- Klopstock to Elvis Presley and religious practices have tended to other pop artists. In doing so, the compensate for and defer this ten- question of whether we are dea- sion through personalisation. Art- ling with genealogies or analogies religion is constantly constricted is often hardly decidable (and in to a point where it becomes the fact of secondary importance). It cult of the artist. The crisis of the seems that a collective dynamic of subject in early modernity has cultural practice becomes visible; only intensified this tendency. Art- a dynamic which cannot be religion has again and again shif- reduced to individual ‘cases’.

Georgia Augusta 5 | 2007 133 KONTAKTE

Autoren Prof. Dr. Reinhard Gregor Kratz Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Hartmut Berghoff Theologische Fakultät Georg-August-Universität Göttingen Vereinigte Theologische Seminare, Altes Testament Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Telefon +49 (0)551 39-7129 oder -7130, Fax +49 (0)551 39-2228 Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen [email protected] Telefon +49 (0)551 39-5521, Fax +49 (0)551 39-12433 [email protected] Prof. Dr. Gerhard Lauer Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Ulrich Braukämper Philosophische Fakultät Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Deutsche Philologie Sozialwissenschaftliche Fakultät Abteilung Literaturwissenschaft (Neuere deutsche Literatur) Institut für Ethnologie Käte-Hamburger-Weg 3 , 37073 Göttingen Theaterplatz 15, 37073 Göttingen Telefon +49 (0)551 39-7527, Fax +49 (0)551 39-19556 Telefon +49 (0)551 39-7655, Fax +49 (0)551 39-7359 [email protected] [email protected] Prof. Dr. Thomas Oberlies Prof. Dr. Heinrich Detering Georg-August-Universität Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Philosophische Fakultät Philosophische Fakultät Seminar für Indologie und Tibetologie Seminar für Deutsche Philologie Waldweg 26, 37073 Göttingen Abteilung Literaturwissenschaft (Neuere deutsche Literatur) Telefon +49 (0)551 39-13300 Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 Göttingen [email protected] Telefon +49 (0)551 39-12450, Fax +49 (0)551 39-7511 [email protected] Dr. Martin Riexinger Georg-August-Universität Göttingen Juniorprofessorin Dr. Claudia Diehl Philosophische Fakultät Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Arabistik und Islamwissenschaft Sozialwissenschaftliche Fakultät Papendiek 16, 37073 Göttingen Institut für Soziologie Telefon +49 (0)551 39-4399, Fax +49 (0)551 39-9898 Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen [email protected] Telefon +49 (0)551 39-3328, Fax +49 (0)551 39-7692 [email protected] Prof. Dr. Irene Schneider Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Andreas Grünschloß Philosophische Fakultät Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Arabistik und Islamwissenschaft Theologische Fakultät Papendiek 16, 37073 Göttingen Vereinigte Theologische Seminare, Religionswissenschaft Telefon +49 (0)551 39-4398, Fax +49 (0)551 39-9898 Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen [email protected] Telefon +49 (0)551 39-7126, Fax +49 (0)551 39-7488 [email protected] Eva-Maria Silies Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Brigitta Hauser-Schäublin Philosophische Fakultät Georg-August-Universität Göttingen Graduiertenkolleg »Generationengeschichte, Generationelle Dyna- Sozialwissenschaftliche Fakultät mik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert« Institut für Ethnologie Humboldtallee 3, 37073 Göttingen Theaterplatz 15, 37073 Göttingen Telefon +49 (0)551 39-7233, Fax +49 (0)551 39-9290 Telefon +49 (0)551 39-7656, Fax +49 (0)551 39-7359 [email protected] [email protected] Prof. Dr. Bernd Weisbrod Prof. Dr. Thomas Kaufmann Georg-August-Universität Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Philosophische Fakultät Theologische Fakultät Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Vereinige Theologische Seminare, Kirchengeschichte Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen Telefon +49 (0)551 39-4664, Fax +49 (0)551 39-4632 Telefon +49 (0)551 39-7143, Fax +49 (0)551 39-7488 [email protected] [email protected] Prof. Dr. Simone Winko Prof. Dr. Frank Kelleter Georg-August-Universität Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Philosophische Fakultät Philosophische Fakultät Seminar für Deutsche Philologie Seminar für Englische Philologie, Abteilung Nordamerikastudien Abteilung Literaturwissenschaft (Neuere deutsche Literatur) Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 Göttingen Käte-Hamburger-Weg 3 , 37073 Göttingen Telefon +49 (0)551 39-7586, Fax +49 (0)551 39-9666 Telefon +49 (0)551 39-7518, Fax +49 (0)551 39-19556 [email protected] [email protected]

134 Universität Göttingen www.alumni.uni-goettingen.de E-Mail: [email protected] T T W Bernd Hackstette Alumni-Büro Georg-August-Universität Göttingen Kontakt Partner: UniversitätsmedizinGöttingen,MedizinischeMikrobiologie der Seuchenkontrolle« »Tropen- undKatastrophenmedizinmitbesondererBerücksichtigung 23. bis27.Juli2007 SeminarfürDeutschePhilologie, Abteilung InterkulturelleGermanistik Partner: Interkulturelle undkulturkontrastivePerspektiven« »Deutschland unddieWende inLiteratur, SpracheundMedien: 8. bis13.Juli2007 wissenschaftlichen EinrichtungenderUniversitätan: mit Alumni GöttingenbietetimJuli2007zweiExpertenseminareinZusammenarbeit Heimatland, tätig. arbeitet haben.Siesindinzwischenwiederim Ausland, nichtnotwendigerweiseim Kooperationsabkommen mindestenseinSemesterhierstudiert,geforschtoderge- versität GöttingenerworbenhabenoderimRahmenvon Austauschprogrammen oder schaftler oderLehrbeauftragteentwedereinenerstenBildungsabschlussanderUni- Gefördert werdenkönnenBildungsausländer, diealsStudierende,Graduierte,Wissen- sowie dieVerpflegung. Anreise ausdem Ausland undinländischeReisekosten,dieHotel-Unterbringung Seminaren. ÜbernommenwerdenmitUnterstützungdesDAADdieKostenfür Göttingen ausländischen Alumni dieweitgehendkostenfreieTeilnahme anExperten- Im RahmendesProgramms Alumni-Plus ermöglichtdieGeorg-August-Universität Alumni-Plus versität GöttingendieKontaktezuihrenausländischen Alumni. zur wissenschaftlichenFortbildunginihremFachgebiet–zugleichintensiviertdieUni- dierende undWissenschaftler erhaltenin Alumni-Expertenseminaren dieMöglichkeit Augusta ihrinternationales Alumni-Engagement weiteraus:EhemaligeGöttingerStu- dert durch denDeutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD)bautdieGeorgia netportal stehtsiemitmehrals12.000EhemaligeninallerWelt inVerbindung. Geför- schungsuniversitäten. ÜberdenVerein Alumni Göttingene.V. unddas Alumni-Inter- Wi Für dieGeorg-August-Universität GöttingensindihreehemaligenStudierendenund bietet Expertenseminarefürinternationale Absolventen Alumni Göttingene.V. elefax: +49 (0)551/39-1813276 elefon: +49 (0)551/39-13276 ilhelmsplatz 1·37073Göttingen ssenschaftler wichtigePartneraufdemWeg hinzueinerderbedeutendenFor-

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Forschungseinrichtungen

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Promotionskolleg »Wertung und Kanon. Theaterstraße 7 Theorie und Praxis der Literaturvermittlung 37073 Göttingen in der ,nachbürgerlichen’ Wissensgesellschaft« Telefon +49 (0)551 39-5362 Käte-Hamburger-Weg 3 Fax +49 (0)551 39-5365 37073 Göttingen [email protected] Telefon +49 (0)551 39-10346 Präsident: Prof. Dr. Herbert W. Roesky Fax: +49 (0)551 39-7511 [email protected] DFG-Graduiertenkolleg »Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Sprecher: Prof. Dr. Claudia Stockinger, Prof. Dr. Simone Winko, Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike« Prof. Heinz-Ludwig Arnold Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen Centrum Orbis Orientalis (CORO) Telefon +49 (0)551 39-7146 Zentrum für semetistische und verwandte Studien Fax +49 (0) 551 39-2228 Theologische Fakultät [email protected] Platz der Göttinger Sieben 2 Sprecher: Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Spieckermann, Hausbriefkasten 5 Prof. Dr. Reinhard Gregor Kratz 37073 Göttingen Telefon +49 (0)551 39-7129 DFG-Graduiertenkolleg »Generationengeschichte. Fax: +49 (0)551 39-2228 Generationelle Dynamik und historischer Wandel [email protected] im 19. und 20. Jahrhundert« Direktor: Prof. Dr. Reinhard Gregor Kratz Humboldtallee 3 37073 Göttingen Zentrum für die Kulturen Europas und des Mittelmeerraumes Telefon +49 (0)551 39-13727 in der Antike (KEMA) Fax +49 (0)551 39-9290 Weender Landstraße 2 [email protected] 37073 Göttingen Sprecher: Prof. Dr. Bernd Weisbrod Telefon +49 (0)551 39-7496 [email protected] Göttinger Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Sprecher: Prof. Dr. Peter Kuhlmann Humboldtallee 19 37073 Göttingen Zentrum für Theorie und Methodik der Kulturwissenschaften Telefon +49 (0)551 39-4692 Seminar für Deutsche Philologie, Abteilung Literaturwissenschaft Fax +49 (0)551 39-4682 (Neuere deutsche Literatur) [email protected] Käte-Hamburger-Weg 3 Sprecher: Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath 37073 Göttingen Telefon +49 (0)551 39-7527 Forschungsverbund Religion als Verhandlungsfeld von Konflikten Fax +49 (0)551 39-19556 Theologische Fakultät, Vereinigte Theologische Seminare [email protected] Platz der Göttinger Sieben 2 Sprecher: Prof. Dr. Gerhard Lauer 37073 Göttingen Telefon +49 (0)551 39-7126 Fax +49 (0)551 39-7488 [email protected] Kontakt: Prof. Dr. Andreas Grünschloß

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136 Universität Göttingen E-Mail: [email protected] Fax: (0551)48832 T jeweils von9bis12Uhr Montag bisFreitag 37073 Göttingen W Göttingen e.V. Universitätsbund Geschäftsstelle nigung derUniversität. Aufbau derzentralen Alumni-Verei- lichkeit. EinaktuellesProjektistder W Dialogs zwischenWissenschaft und versitätsbundes istdieFörderungdes Ein besonderes Anliegen desUni- sität. turelle Veranstaltungen derUniver- Mittel fürwissenschaftlicheundkul- durch dieBereitstellungfinanzieller en. DiesgeschiehtinersterLinie Stärken zubewahrenundauszubau- gabe an,dazubeizutragen,diese Göttingen e.V. siehtesalsseine Auf- gung gegründeteUniversitätsbund Der 1918alsgemeinnützigeVereini- W kraft aufStudieninteressenteninaller programmen einehohe Anziehungs- Fächerspektrum undindenStudien- durch einebesondereVielfalt im ten RufinderForschung.Sieübt sta genießtweltweiteinenexzellen- Die traditionsreicheGeorgia Augu- Universität zustärken. sowie dasInnovationspotentialder Forschung undLehrezuverbessern Es giltdieRahmenbedingungenfür vates Engagementimmerwichtiger. Hochschulen zurückzieht,wirdpri- chende finanzielle Ausstattung der seiner Verantwortung fürdieausrei- in denensichderStaatverstärktaus materiell zuunterstützen.InZeiten, Georg-August-Universität ideellund Universitätsbund Göttingen„ihre“ sich zusammengeschlossen,umim gesellschaftlichen Bereichenhaben sowie Persönlichkeitenausallen Ve Lehrende, Ehemalige,Studierende, Der Universitätsbund el.: (0551)42062 elt aus. irtschaft, UniversitätundÖffent- ilhelmsplatz 1 rtreter vonWirtschaft undHandel unibund.gwdg.de www. t.1060000 600 Kto. 160 50 900 BLZ 260 V Kto. 52803 BLZ 26050001 Sparkasse Göttingen 550 501 Kto. 1 80024 BLZ 260 Dresdner BankGöttingen Kto. 04/06496 BLZ 26070072 Deutsche BankGöttingen 215 229 Kto: 6 30 400 BLZ 260 Commerzbank Göttingen Bankverbindungen es sichum wollen, gebenSiebittean,ob Spende zukommenlassen bund Göttingene.V. eine W Spenden 30 pro Jahr: Der Mindestbeitragbeträgt zu stärken. keit derGöttingerUniversität helfen, dieKonkurrenzfähig- Ihren SpendenundBeiträgen mit zu werden.Siekönnen Mitglied imUniver zen möchte,isteingeladen, Universitätsbundes unterstüt- fühlt unddie Aktivitäten des gust-Universität verbunden W Mitgliedschaft 60 zu beziehen. direkt vonderGeschäftsstelle Internetseite erhältlichoder schaft sindaufunserer Formulare fürdieMitglied- schaften, Vereine usw. olksbank Göttingen enn SiedemUniversitäts- er sichmitderGeorg-Au- € € handelt. ein bestimmtesProjekt Spende füreinInstitutoder eine zweckgebundene sitätsbundes oder für die Arbeit desUniver- eine allgemeineSpende für Privatpersonen für Firmen,Körper- sitätsbund

UNIVERSITÄTSBUND GÖTTINGEN E.V. Wissenschaftsmagazin der Georg-August-Universität Göttingen Ausgabe 5 · Mai 2007 Kulturen und Konflikte G der Georg-August-Universität Göttingen W issenschaftsmagazin Herausgegeben vom Präsidentender Universität inZusammenarbeit mitdem Universitätsbund Göttingen EORGIA A K UGUSTA LUE UND ULTUREN Geisteswissenschaften Göttingen Ausgabe 5· Mai2007 K ONFLIKTE

im Jahrder 2007