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Sendung vom 29.04.2002

Franz Geiger Dramatiker und Drehbuchautor im Gespräch mit Dr. Wolfgang Habermeyer

Habermeyer: Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, ich begrüße Sie sehr herzlich zum heutigen Alpha-Forum. Unser Gast ist ein Mann, dessen Namen vielleicht nicht alle kennen, wer aber von Ihnen in den letzten 40 Jahre zumindest ein bisschen in den Fernseher geschaut hat, wird Werke von ihm kennen. Ich begrüße ganz herzlich den Drehbuchautor, Dramatiker und Regisseur Franz Geiger. Geiger: Grüß Gott. Habermeyer: Sie waren an einigen sehr, sehr bekannten Werken im deutschen Fernsehen beteiligt, speziell auch hier im Haus, im Bayerischen Rundfunk. Sie haben mitgemacht beim "Monaco Franze", bei "Der ganz normale Wahnsinn", bei den "Münchner Geschichten", beim "Millionenbauer" und Sie haben "Tatorte" gedreht und geschrieben. Wäre ich vorlaut, wenn ich sagen würde, dass der "Monaco Franze" das populärste Werk geworden ist, an dem Sie beteiligt waren? Geiger: Das kann man so sagen, ja. Es war auch für mich von den Erfahrungen her eine der schönsten und angenehmsten Arbeiten, nicht nur, weil der Helmut Fischer ein naher Freund von mir war, sondern weil im ganzen Team eine große Stimmigkeit geherrscht hat. Dies galt auch für meine Zusammenarbeit mit Helmut Dietl, der das Ganze ja initiiert hatte. Wir liegen ungefähr auf der selben Wellenlänge des Humors, wir sind beide auch Münchner: Wir kennen also die Münchner Vorstadt sehr gut. Das war eine wirklich überaus ideale Zusammenarbeit, an die ich die angenehmsten Erinnerungen habe. Habermeyer: Haben Sie beim Drehen schon gemerkt, dass das so eine Rakete werden kann, dass diese Serie so sehr in der Fernsehlandschaft bleiben wird, dass man sie immer wieder wiederholt? Geiger: Ich glaube, das merkt man nie. Man merkt nicht, wenn man künstlerisch arbeitet, ob es ein Erfolg oder ein Misserfolg wird. Das kann man nicht kalkulieren. Man ist dann halt selbst angenehm überrascht, wenn es ein Erfolg wird. Genauso wie man unangenehm überrascht ist, wenn es ein Misserfolg wird. Aber dieses Ausmaß an Zustimmung für diese Serie, das wir seitens des Publikums hatten und bis heute noch haben, das haben wir, wie ich glaube, alle nicht geahnt. Habermeyer: Sie haben das Stichwort schon gesagt: Sie sind genauso wie Helmut Dietl und Helmut Fischer Münchner. Ich will hier in diesem Gespräch einen kleinen Bogen spannen von Ihrer Kindheit in Schwabing bis heute. Und ich kann unseren Zuschauern versprechen, dass wir dabei ein sehr interessantes Leben kennen lernen werden. Sie sind 1921 als Sohn eines Kunstmalers in Schwabing auf die Welt gekommen. Wie sehen denn die ältesten Kindheitserinnerung aus, die Sie an diese Schwabinger Zeit haben? Geiger: Diese Erinnerungen sind eigentlich noch sehr präsent. Es ist ja merkwürdig, man erinnert sich oft an ganz frühe Eindrücke der Kindheit. Wir haben zuerst in der Giselastraße gewohnt. Damals wurde das wie "Gisellastraße" ausgesprochen, weil diese Straße eben nach der bayerischen Prinzessin Gisela benannt war, die man eben so ausgesprochen hat. Wenn früher in der Leopoldstraße ein Trambahnschaffner "Giselastraße" ausgerufen hätte, dann hätten die Leute bestimmt gesagt: "Moment, Moment, das ist die Gisellastraß. Habermeyer: Ach so. Wir sind wirklich im Bildungsfernsehen: Man lernt immer etwas Neues dazu. Geiger: Wir hatten da in der Giselastraße eine Atelierwohnung und ich kann mich heute noch sehr gut daran erinnern, wie wir damals immer diese paar Meter zum Englischen Garten vorgegangen sind. Ich gehe ja heute noch oft durch diese Straße: An und für sich hat sie sich im Charakter und in ihren Bauten gar nicht so sehr verändert. Das sind immer noch so diese alten Schwabinger Bürgerhäuser mit den Dachbodenateliers. So etwas baut man heute ja leider nicht mehr, aber damals hat es ja fast in jedem Schwabinger Haus ein Atelier gegeben. Habermeyer: In der heutigen Zeit wäre das freilich ein Luxus. Geiger: Ja, ein reiner Luxus. Ein Maleratelier ist jedenfalls für ein Kind etwas Herrliches. Habermeyer: Das ist wahrscheinlich wie ein Abenteuerspielplatz. Geiger: Ja, das ist ein Abenteuerspielplatz. So ein Atelier war ja groß und sehr hoch und da stand auch eine riesengroße Staffelei drinnen, auf die man hinauf kraxeln konnte. Man hat dann natürlich auch immer dem Vater seine Farben angepatzt und dann hat es wieder einen Krach gegeben. Ein Atelier war jedenfalls etwas Wunderbares. Mein Großvater war ja auch schon Kunstmaler gewesen: Er hatte sogar noch einen ganzen Kostümfundus. Ich fand also in meiner Kindheit quasi noch ein Jahrhundertwende-Atelier vor: mit spanischen Kostümen, mit allen möglichen Requisiten usw. Für ein Kind ist so etwas natürlich wunderbar. Habermeyer: Wenn Sie so an Ihre Kindheit in Schwabing zurückdenken: Worin besteht für Sie der auffälligste Unterschied zum Schwabing von heute? Was haben Sie für ein Gefühl, welches Gefühl vermittelt Ihnen diese Gegend, wenn Sie dort spazieren gehen? Welcher Unterschied fällt Ihnen am meisten auf? Geiger: Es war stiller, es war ruhiger. Und es war auf der anderen Seite aber auch origineller. Ich kann mich z. B. noch deutlich daran erinnern, dass es da in meiner Kindheit den so genannten Wurzelsepp gegeben hat. Das war ein älterer Herr professoralen Auftretens, der sich jedoch wie ein alter Germane kostümierte: im Winter wie im Sommer! Er hatte einen großen Bart und trug immer eine Toga und um die nackten Füße diese Schnürsandalen gebunden. Habermeyer: Auch Jesuslatschen genannt. Geiger: Ja, mit so einer Schnürung rauf bis zum Knie. Er hatte dazu noch einen Wanderstab und eine Umhängetasche. Er sah also aus, wie aus einem Germanenfilm entsprungen. In diesem Aufzug lief er jahrelang durch Schwabing, sodass die Leute oft sagten: "Ah, da kommt wieder der Wurzelsepp". Er saß auch immer in der Staatsbibliothek: Offenbar war das ein sehr gelehrter Mann! Dem Vernehmen nach soll er "drunten in Freimann", also dort, wo wir uns jetzt hier im Studio befinden, eine kleine Hütte besessen haben, ganz ähnlich der heutigen Hütte vom "Väterchen Timofei", also diesem russischen Geistlichen auf dem Olympiagelände. Dort, neben dieser Hütte, hat er auch seine Kohlrabi angebaut. Er hatte auch noch den Spitznamen "Kohlrabi-Apostel". Kohlrabi-Apostel hat es damals aber noch mehr gegeben in München. Wenn man durch das Schwabing der Akademiegegend gegangen ist, hat man schon damals viel Exotik gesehen. In diesen zwanziger Jahren haben dort auch viele russische Emigranten gelebt, die nach der Russischen Revolution ins Exil gegangen waren. Es gab auch Esoterikläden: Ja, auch das hat es schon damals sehr häufig gegeben. In der Adalbertstraße waren z. B. gleich ein paar von diesen Esoterikläden. Dementsprechend hat es natürlich auch jede Menge Esoterikzirkel gegeben. Das war alles also schon sehr Schwabingerisch, wie man heute sagen würde. Das alles hatte freilich nicht diesen Kommerzaspekt wie heute. Heute ist ja letztlich alles Schwabing und daher auch nichts mehr Schwabing. Habermeyer: Sie haben ja, da Sie im Jahr 1921 geboren wurden, diese dramatische Zeitenwende dann ganz bewusst mitbekommen. Wie sehen Ihre Erinnerungen an das beginnende Jahr 1933 aus? Hat sich damit für Sie konkret etwas verändert in Ihrem Leben? Geiger: Ich würde da gerne noch ein wenig weiter zurückgreifen in der Zeit: Bereits die Endzwanziger und die beginnenden dreißiger Jahre waren für einen Schulbuben wie mich – ich ging damals in die Türkenschule, also in die Schule in der Türkenstraße – ganz merkwürdig. Es fand damals eine absolute Militarisierung des öffentlichen Lebens statt. Das heißt, die Nazis hatten ihre SA, aber auch die Sozialdemokraten hatten ihren "Reichsbanner", die Kommunisten ihre "Rotfront" und die Deutschnationalen ihren "Stahlhelm". Sie hatten auch alle ihre eigenen Uniformen: Sie trugen einen Gürtel mit Koppel und Schulterriemen usw. Sie sind also alle sehr militant aufgetreten und haben auch ganz offenbar alle in ihren militärischen Kategorien gedacht. Die Akademiestraße war der Versammlungsplatz, wenn es irgendwelche Kundgebungen oder Aufmärsche gegeben hat: Dort hat es zwischen den Gruppen oft die wildesten Prügeleien gegeben, worauf immer wieder die Polizei einschreiten musste. Die Polizei war damals ja noch beritten – zur Freude von uns Buben. In der Schellingstraße, also an der Grenze zwischen Maxvorstadt und Schwabing, war damals der “Völkische Beobachter”. Ich hatte in der Türkenschule einen Lehrer namens Bürkle: Das war ein richtig schöner, linker, sozialdemokratischer Volksschullehrer. Eines Tages, lange vor 1933, hat er plötzlich zu uns gesagt: "Buben, kommt mal hierher ans Fenster und schaut runter auf die Türkenstraße!" Wir stürmten ans Fenster und sahen nach unten. "Dort unten geht er, der Schlawiner!" Dort unten ging tatsächlich der Hitler mit seinem Hund. Er hatte einen Trachtenjanker an und ging vor in die Redaktion zum “Völkischen Beobachter”. Der Bürkle meinte bei seinem Anblick: "Buben, wenn Ihr nicht lernt, wird er euch später dafür recht hunzen! Ihr werdet noch an mich denken!" Das muss so im Jahr 1931 gewesen sein. Das war also schon eine sehr aufgeregte Atmosphäre: viel militanter als heute. Auch die Toleranz der politischen Gruppen untereinander war wesentlich geringer als heute. Habermeyer: Aufgrund welcher Umstände haben Sie sich denn damals von all dem geistig distanzieren können? Ich habe in einem kurzen Abriss Ihres Lebenslaufs gelesen, dass Sie immerhin im Jahr 1940, just als Hitler England den Krieg erklärte, aus reinem Trotz als englischer Lord verkleidet durch Schwabing gelaufen sind. Geiger: Ja, das stimmt. Wenn Sie es mir erlauben, dann würde ich hier gerne noch ein wenig ausholen. Denn wenn man über diese Zeit spricht, dann muss man sich auch Zeit nehmen. Ich kam 1932 als Schüler ans Max- Gymnasium hier in Schwabing. – Später bin ich dann ins alte Realgymnasium gewechselt, weil ich vor dem Altgriechischen davongelaufen bin und stattdessen lieber Französisch lernen wollte. – Auch dort am Max-Gymnasium hat man die veränderten Zeitläufe gemerkt: Selbst an so einem humanistischen Gymnasium war diese Militarisierung spürbar. Ich war gerade mal elf Jahre alt und es hieß schon damals vor dem Unterricht: "Setzen! Aufstehen! Setzen! Aufstehen! Das geht alles nicht schnell genug!..." Wir hatten einen wirklich völlig spinnerten Klassenlehrer: Er kontrollierte jeden Tag, ob wir ein sauberes Taschentuch dabei hatten und ob wir saubere Fingernägel hatten. Heute ist so etwas an einer Schule ja undenkbar. Habermeyer: Gott sei Dank. Geiger: Ja, Gott sei Dank. Aber damals setzte mit solchen Dingen bereits eine Disziplinierung ein, die noch gar nichts mit dem eigentlichen Nazismus zu tun hatte. Dass ich selbst damals all dem gegenüber eine große Distanz bewahren konnte, hatte ich eigentlich meinem Elternhaus zu verdanken. Denn ein Maler ist ja nicht im öffentlichen Dienst angestellt: Insofern ist er eben auch nicht erpressbar. Er musste nicht bei der Partei sein usw. Ein freier Beruf ist eben nicht kontrollierbar. Mein Vater war ein guter Spätimpressionist: Für ihn war die französische Malerei so ungefähr der Olymp, den es zu erreichen galt. Die französischen Maler waren Götter für ihn. Er war also ein sehr frankophiler Mensch und so wurde ich eben auch erzogen. Ich wurde, wie man so schön sagt, zur kritischen Distanz erzogen. Habermeyer: War es denn aufgrund der Art und Weise, wie Ihr Vater gemalt hat, nicht doch auch spürbar, dass sich die Zeiten verändert hatten? Denn dieser Stil in der Malerei war damals ja gar nicht mehr angesagt. Das wurde doch in die Nähe von entarteter Kunst gestellt und deswegen ist es, wie ich vermute, bei Ihnen zu Hause auch wirtschaftlich nicht mehr so gut weitergegangen. Natürlich war Ihr Vater nicht im öffentlichen Dienst und aus diesem Grund auch nicht erpressbar, aber wenn ein Maler keine Aufträge mehr bekommt, dann ist das ja auch nicht so lustig. Geiger: Gut, das hat sich schon bemerkbar gemacht. Aber in einem Malerhaushalt geht es in finanzieller Hinsicht sowieso immer rauf und runter. Das hat mir in meinem späteren Berufsleben übrigens sehr geholfen: Die Frage, ob ich Geld habe oder nicht, war für mich nicht die allerentscheidendste Frage. Gut, das Geld ist wichtig, aber es ist doch nicht so wichtig, wie man gemeinhin annimmt. In meiner Kindheit habe ich also ein ständiges Auf und Ab der wirtschaftlichen Verhältnisse in unserem Haushalt miterlebt. Habermeyer: Das hat Sie dann quasi abgehärtet. Geiger: Ja, das hat mich für spätere Zeiten wirklich sehr abgehärtet. Aber es war trotz allem freilich immer noch ein bescheidenes Leben möglich. Es war nicht so, dass mein Bruder und ich irgendwie größere Entbehrungen hätten durchleiden müssen. Nein, es war ein einfaches Leben und es war auch ein bescheidenes Leben, aber ich glaube, es war trotz allem ein schönes Leben. Wir haben also keine wirkliche Not gelitten. Habermeyer: Als Sie damals als Lord durch Schwabing gelaufen sind, war Ihnen da eigentlich bereits bewusst, wie gefährlich das u. U. sein kann? Oder hatte das eher mit einem Gegen-den-Stachel-Löcken des Jugendlichen zu tun? Oder war da Ihrerseits die Gefahr bereits klar erkannt? Geiger: Es war so, dass wir damals eigentlich alle Musikfreaks waren, wie man heute sagen würde, wir waren Jazzer. Wir haben schon damals Louis Armstrong gekannt, wir kannten Glenn Miller. Die ganze amerikanische und englische Jazzszene war uns also durchaus bekannt. Das war natürlich schon auch ein ganz bewusster Protest. Sicher, wir waren auch vorsichtig, aber uns war klar, dass sie so richtig gar nichts hätten unternehmen können gegen uns. Denn wir haben ja nichts Böses gemacht. Wir waren halt nur höchst lächerlich gekleidet für damalige Verhältnisse: mit schwarzen Röhrenhosen, mit weißen Gamaschen, mit hoch geschlossenem Kragen, mit Goggs, mit gerolltem Regenschirm in der Hand usw. Damit haben wir eben Chamberlain und Konsorten nachgemacht. Sicherlich haben manche Leute gesagt: "Ja, wir lauft Ihr denn 'rum?" Unsere Altersgenossen jedenfalls haben sehr wohl gemerkt, was wir damit eigentlich ausdrücken wollten. Was aber wollten wir sagen? Wir wollten eigentlich nur sagen, dass uns die individuelle Freiheit auch dieses gestatten sollte. Auf individuelle Freiheitsrechte zu pochen, war damals natürlich nicht sehr angesagt. Habermeyer: Es ist dann in Ihrem Leben allerdings doch noch ein bisschen gefährlicher geworden. Sie haben nämlich als Übersetzer gearbeitet und dabei Kontakt zum französischen Widerstand bekommen. Daraufhin sind Sie eingesperrt worden: Wie lange waren Sie eingesperrt? Geiger: Nicht ganz zwei Jahre. Habermeyer: Eine unangenehme Erinnerung? Geiger: Ja, schon. Eingesperrt zu sein, ist natürlich nie eine angenehme Sache. Ich gehöre aber nicht zu den Leuten, die daraus nun einen regelrechten Kalvarienberg machen würden. Ich war während dieser ganzen zwei Jahre eben ein Untersuchungshäftling. Ich saß dabei in einem Wehrmachtsgefängnis. Das heißt, ich hatte das Glück, dass mein Verfahren vor dem Reichskriegsgericht abgewickelt wurde. Das Reichskriegsgericht war immerhin das höchste Kriegsgericht in Deutschland. Dort hat man eine, wie ich das nennen möchte, scheinbare Korrektheit an den Tag gelegt. Ich war Untersuchungshäftling und als solcher durfte ich auch lesen und schreiben. Das war wirklich sehr komisch, denn ich hatte in meiner Zelle ein ganzes Bücherbord stehen. Darunter befand sich auch sehr viel französische Literatur. Die Zensur hatte eigentlich einen Stempel in diese Bücher gemacht, aber die Zuständigen im Gefängnis konnten eh kein Französisch. Insofern war das also auch wiederum egal. Der Druck war ein anderer. Erstens hat man fast gebrüllt vor Hunger. Das Essen war nämlich absolut minimal. Der zweite Grund war, dass die Wehrmachtsgerichtsbarkeit zwar korrekt, aber trotz all dieser Korrektheit auch sehr unmenschlich war. In einer Zelle in der Nähe befanden sich mal ein paar nette Salzburger Buben, richtige Buben waren das noch: Sie hatten auf einer Alm im Radio englische Sendungen abgehört. Sie wurden einfach an die Wand gestellt und erschossen. Das waren doch noch Buben! Buben, bei denen man eigentlich sagen müsste, selbst dann, wenn das Abhören von Feindsendern sehr unerwünscht ist, kann man doch einen jungen Menschen deswegen nicht ins Jenseits befördern! Das hat man aber ganz korrekt und kaltblütig nach Gesetzeslage gemacht. Natürlich war das sehr, sehr unmenschlich. Ich selbst habe jedoch in dieser Zeit viel gelesen und auch quasi schon gearbeitet. Ich habe nämlich u. a. die "Antigone" von Anouilh übersetzt. Habermeyer: Das ist unser nächstes Stichwort, denn Sie sind dann schon relativ bald nach dem Krieg nach Paris gegangen. Geiger: Es war so: Ja, ich bin schon sehr früh nach Paris gekommen. Ich war zunächst Dramaturg am Staatstheater hier in München. Zu der Zeit hat eines Tages mal der alte Paul Verhoeven, also der Vater von Michael Verhoeven, zu mir gesagt: "Franz, da gibt es in Frankreich einen Autor, der heißt Annullig." - "Nein, der heißt Anouilh!" - "Ja, auch gut. Meinst du, wir können dieses Stück irgendwie hierher bekommen?" Ich antwortete ihm dann: "Meinst du die 'Antigone'? Die habe ich fertig übersetzt bei mir in der Schublade liegen!" Das hat er mir zunächst einmal gar nicht geglaubt. Es war aber natürlich so gewesen, dass ich dieses Stück völlig unbedacht übersetzt hatte: Vom Verlagswesen, von Stoffrechten, von Buchrechten hatte ich doch gar keine Ahnung gehabt. Ich hatte das eigentlich nur für mich übersetzt, damit es mir nicht langweilig wird im Gefängnis und damit ich im Training bleibe mit dieser Sprache. Es war jedenfalls so, dass mir Verhoeven sagte, ich müsste nun die Rechte dafür besorgen. Allein schon eine Reise nach Baden-Baden war damals ein Riesenabenteuer. Es gab noch keine Bahnverbindungen und deswegen musste ich als Passagier mit Autos und Lastwagen dorthin fahren. Ich kam letztlich doch irgendwie in Baden-Baden an und ging dort zum zuständigen Theateroffizier. Der wollte mich gleich mal einsperren, weil ich da offenbar literarischen Diebstahl begangen hatte. Ich fragte ihn dann aber doch, ob man denn diesen Herrn Anouilh nicht anrufen könne: Vielleicht kann man ja mit ihm verhandeln, dass ich die Aufführungsrechte fürs Residenztheater in München bekomme. Ich bin diesem Offizier offenbar sehr auf die Nerven gegangen, sodass er irgendwann nachgab und Anouilh in Paris tatsächlich angerufen hat. Anouilh meinte, ich solle doch einfach mal zu ihm nach Paris kommen. Einfach mal nach Paris kommen! Als wenn das so leicht gewesen wäre. Aber auch für diesen Theateroffizier war der Name "Anouilh" offenbar doch sehr beeindruckend, sodass ich letztlich einen französischen Militärurlaubsschein bekam. So kam es, dass ich in diesem Jahr 1947 unter lauter französischen Soldaten in einem Militärurlauberzug nach Paris gefahren bin. Ich hatte von diesem Offizier für die Reise noch zehn Francs in die Hand gedrückt bekommen: Das war gerade mal der Gegenwert für eine Schachtel Zigaretten. Das war alles wirklich recht merkwürdig. Ich kam jedenfalls im Gare de l'Est an und bin dann bis nach Neuilly zu Fuß gelaufen: Das waren ungefähr 20 Kilometer! Denn ich hatte ja nicht mal Geld für den Bus oder die Metro. Das war jedenfalls mein erster Kontakt mit Paris. Da kam man aus dem völlig zerstörten München, in dem die Trambahnen noch nicht wieder richtig fuhren, wo selbst in der Türkenstraße noch eine so genannte Bockerlbahn fuhr, um die Trümmer wegzuschaffen, da kam man also aus diesem zerstörten München in eine Stadt, die ganz anders war, in der das Leben pulsierte, in der die Auslagen voll waren, in der die Lichter brannten usw. Das hat mich wirklich fast umgehauen! Etwas anderes war noch sehr merkwürdig. Ich latschte da diese vielen, vielen Kilometer durch die Stadt und traf dabei immer wieder auf deutsche Soldaten, denen hinten auf dem Rücken mit weißer Farbe "PG" aufgemalt war: "prisonnier de guerre", also "Kriegsgefangener". Sie kehrten dort in Paris die Straße! Wenn man da selbst so durch die Straßen und an ihnen vorbeigeht, sagt man sich natürlich: "Ich träume. Ich spinne doch!" Es war alles wirklich fast unbegreiflich für mich. Gut, ich kam dann irgendwie zu Anouilh: Das war ein sehr angenehmes Gespräch. Er sah sich meine Übersetzung an und lies sie dann noch von jemandem lesen, der gut Deutsch und Französisch sprach. Zum Schluss sagte er zu mir: "Das ist in Ordnung. Macht das in München!" Daraus hat sich dann entwickelt, dass ich auch seine späteren Stücke ins Deutsche übersetzt habe. Habermeyer: Sie haben nicht nur ein oder zwei Stücke von Anouilh übersetzt, sondern... Geiger: ...fast 50. Habermeyer: Ohne Franz Geiger gäbe es also sozusagen keinen Anouilh in Deutschland. Geiger: Na ja, er wäre so und so gekommen und übersetzt worden. Habermeyer: Wir müssen in Ihrer Biographie nun sozusagen ein bisschen auf die Tube drücken. Irgendwann zu Beginn der fünfziger Jahre kam dann, wie Sie das selbst einmal genannt haben, der "Engel der Versuchung" über Sie. Denn Sie wurden plötzlich gefragt, ob Sie nicht Interesse hätten, Drehbücher zu schreiben. Das haben Sie in den fünfziger Jahren für das deutsche Kino auch gemacht. Sie waren u. a. beteiligt an einem der damals wohl wichtigsten Filme, nämlich an "Lola Montez" von Max Ophüls. Einige Zuschauer werden vielleicht noch wissen, dass in diesem Film ein gewisser Peter Ustinov einen Zirkusdirektor spielte... Geiger: Ja, und dass u. a. auch die Martine Carol mitgespielt hat. Habermeyer: Ging dies dann eigentlich nahtlos zum Fernsehen über oder hatten Sie irgendwann doch das Gefühl, dass in "Opas Kino", wie es später hieß, das, was Sie machen wollten, nicht möglich war? Oder war das Fernsehen halt einfach eines Tages da und dieser Übergang eher unmerklich? Geiger: Nein, es war so, dass mich das Fernsehen eigentlich immer schon interessiert hat. Mich hat es deswegen interessiert, weil in den fünfziger und sechziger Jahren diese großen Fernsehspiele gemacht wurden. Denken Sie nur mal an den unvergessenen Franz Peter Wirth oder meinetwegen an Peter Beauvais. Das war alles noch sehr nah am Theater. Man kann sagen, dass diese Fernsehspiele quasi nur die Verlängerung des Staatstheaters mit anderen Mitteln darstellten. Das hat mich doch sehr gelockt: Ich habe also schon von mir aus den Kontakt mit dem Fernsehen gesucht. Es war ja auch so, dass man da schon aus anderen Bereichen seine persönlichen Beziehungen aufgebaut hatte. Der Franz Josef Wild, der dann hier die Fernsehspielabteilung unter sich hatte, war Regieassistent an den Kammerspielen gewesen in der Zeit, als ich drüben auf der anderen Seite der Maximilianstraße am Staatstheater gearbeitet habe. So kam es, dass für mich der Übergang vom Film hin zum Fernsehen eigentlich ein unmerklicher, ein gleitender war. Darüber hinaus will ich aber aus heutiger Sicht sogar noch etwas behaupten: Ich weiß, dass mir die folgende Bemerkung puristische Cineasten bestreiten werden, aber ich bin wirklich der Meinung, dass der Unterschied zwischen Kinofilm und Fernsehen so groß gar nicht ist, wie er von den Cineasten gerne gemacht wird. Habermeyer: Es wird auch gesagt, dass des deutsche Kino u. a. deshalb so schlecht sei, weil das Fernsehen dort, wo es gut sein will, auch wirklich gut ist und so die guten Leute eben oft zum Fernsehen kommen. Geiger: Das Fernsehen hat natürlich viele Talente absorbiert, die, wenn es das Fernsehen nicht gegeben hätte, möglicherweise beim Film gelandet wären. Viele Fernsehregisseure, die hier gute Arbeiten gemacht haben, hätten sicherlich auch beim Film gute Arbeiten gemacht – und haben ja auch in der Tat z. T. beim Film gute Arbeiten gemacht. Ich sehe also diesen Gegensatz zwischen hier Film und dort Fernsehen eigentlich als nicht so gravierend an. Gut, es gibt sicherlich gewisse Unterschiede, aber die sind für einen Autor eigentlich weniger von Belang als für einen Regisseur oder einen Kameramann, denn für die beiden gelten in der Tat andere Gesetze. Aber der Autor, der eine Geschichte erzählt, merkt keinen gravierenden Unterschied. Gut, man kann leicht sagen, dass man für den Film große Geschichten und fürs Fernsehen kleine Geschichten machen muss. Habermeyer: Das stimmt so eben auch nicht: Es gibt große Kinofilme mit kleinen Geschichten! Geiger: Eben. Wenn ich hier nur mal das Beispiel von "Pretty Woman" anführen darf: Das war ein wahnsinnig großer Kinoerfolg. Aber was ist das? Eine kleine, eine ganz kleine Geschichte – und trotzdem war das großes Kino. Für den Autor ist der Unterschied jedenfalls weniger fühlbar als für diejenigen, die das dann umsetzen müssen. Habermeyer: Zu Beginn der siebziger Jahre fing dann im Bayerischen Fernsehen im Zusammenhang mit den Serien in diesem berühmten Vorabendprogramm etwas an, das man dann im Nachhinein – damals wusste man das freilich noch nicht – den so genannten "Münchner Stil" genannt hat. Die erste Serie, für die das gilt und mit der das alles anfing – nach eh schon recht guten Serien wie z. B. den "Seltsamen Methoden des Inspektor Wanniger" – waren die "Münchner Geschichten". Die erste Serie, die also unter den "Münchner Stil" gezählt wird, waren diese "Münchner Geschichten" mit u. a. Günter Maria Halmer und Therese Giehse. Geiger: Ja. Habermeyer: Da waren Sie freilich bereits mit dabei: Der Helmut Dietl hat diese Serie gemacht und Sie haben dafür zwei der Folgen geschrieben. Geiger: Es ist so: Wir – wenn ich hier mal für den Helmut Dietl, den Helmut Fischer und all die anderen sprechen darf – haben gar nicht gemerkt, dass wir da so etwas "anzünden", dass wir etwas machen, was später einmal als so genannter "Münchner Stil" empfunden wurde. Ich glaube, dieser Erfolgt hat vor allem mit Folgendem zu tun: So eine Geschichte muss eine Heimat haben und geerdet sein, sie muss ein Milieu haben, das der Zuschauer kennt und das er nachvollziehen kann. Denn wir haben ja eigentlich nichts anderes gemacht, als eben keine großen Mordgeschichten, keine großen Abenteuer zu schreiben. Wir haben stattdessen eigentlich nur geschaut, wie es in der Vorstadt zugeht: Und das ist eben auch abenteuerlich auf seine Weise! Es geht also darum, dass man hinhört, dass man den Leuten beim Reden zuhört und dass man den Leuten genau zusieht. Das war es eigentlich schon. Wenn man dann eine Realität in der Weise hat, dann muss man diese Realität natürlich verkürzen und komprimieren. Komprimieren heißt aber verdichten – und damit sind wir natürlich schon wieder beim Dichten, gell. Auch die "Polizeiinspektion 1" war ja eine BR- Produktion. Ich behaupte, dass ich derjenige war, der diese Geschichte erfunden hat. In dieser Serie hat man ja z. B. auch zum ersten Mal diese später so berühmte Paarung Uschi Glas und Elmar Wepper sehen können. Wir haben uns bei dieser Serie gesagt, dass sie wirklich mitten aus dem Milieu kommen muss. Der Produzent Ringelmann hat mich mit meinem ersten Entwurf zum Pressesprecher der Münchner Polizei geschickt. Dieser Mann war entsetzt, er hat zu mir gesagt: "Das geht ja gar nicht. Sie stellen da eine Polizei dar, die in Wirklichkeit viel ungemütlicher ist." - "Nein," habe ich gesagt, "das ist der Trick. Diese Leute müssen auch mal gschlampert sein, müssen selbst auch mal Fehler machen dürfen." Eine Polizei wird nämlich dann populär, wenn sie sich genauso menschlich verhält, wie alle anderen auch. Genau das ist dann aufgegangen. Die "Polizeiinspektion 1" war wirklich ein Renner. Wissen Sie, wo das noch ein ganz großer Renner war? In der Tschechoslowakei und in der DDR. Denn man hat dort gesagt: "Ja, wenn das Leben bei uns so wäre, dann wäre das ja ganz kommod, dann wäre das ja ganz angenehm." Habermeyer: Damit sind natürlich andere Bilder transportiert worden als meinetwegen beim "Derrick", der ja im Ausland ebenfalls unglaublich beliebt war. Geiger: Die "Polizeiinspektion 1" hat jedenfalls der Popularität der Münchner Polizei unglaublich auf die Sprünge geholfen. Später haben sie sich sogar bedankt bei mir und zu mir gesagt: "Wir haben jetzt plötzlich ein viel leichteres Arbeiten. Plötzlich kommen die Leute auf uns zu und sagen: 'Ah, Sie sind auch wie der Sedlmayr in der Polizeiinspektion!'" Das hat eigentlich vieles gelockert. Man muss sich ja in Erinnerung rufen, was davor alles los gewesen war: Da hatte es diese berühmten Schwabinger Krawalle geben, da hatte es diese fürchterlichen Sachen im Jahr 1968 und folgende gegeben usw. usf. Aus all dem heraus hatte sich ein Bild der Polizei entwickelt, das nicht so ganz günstig war für sie. Diese Serie hat der Münchner Polizei also sehr genützt. Obwohl es ja so war, dass die Leute, die da in der Serie mitgespielt und Polizisten dargestellt haben wie der Griesser, der Sedlmayr usw. eigentlich bereits damals – und heute natürlich erst recht – viel zu alt für den Außendienst im Revier waren. Aber das war egal: Das hat man hingenommen. Das war ein schönes Arbeiten damals und das hat eben auch mit zu diesem "Münchner Stil" beigetragen. Habermeyer: Im "Millionenbauer" trat dann der Helmut Fischer in mehreren Folgen in einer Rolle auf, die einen leichten Hinweis auf das abgab, was er in späteren Drehbüchern von Ihnen hauptsächlich spielen sollte. Denn damals war er zum ersten Mal nicht mehr nur dieser staubtrockene Assistent von Gustl Bayrhammer im "Tatort", sondern dieser Stenz, also zum ersten Mal jemand, der immer irgendwie etwas mit Frauen am Laufen hat und bei dem eben nicht immer alles so ganz koscher abläuft. Geiger: Diese Rolle hieß "Reiter Louis": Das war eine Figur, wie man sie im unmittelbaren Umfeld der Großstadt sehr oft antreffen kann. Das ist eine Figur, die für das Bauernleben nicht mehr geeignet ist, aber auch in der Stadt noch nicht ganz zu Hause ist. Das ist jemand, der im Äußerlichen so ein bisschen das Stenzenhafte imitiert. Ja, das habe ich damals dem Helmut auf den Leib geschrieben. Denn das Pech vom Helmut, der ja mit seinem dunklen Äußeren fast schon wie ein “romanischer” Held wirkte, bestand bis dahin ja darin, dass ihn die Fernsehregisseure eigentlich immer in ernsthaften Liebhaberrollen eingesetzt hatten. In diesen Rollen war er aber nie wirklich gut: Denn er war doch der geborene Komiker, ein Komiker freilich mit einem sehr feinen Humor. Er war, wenn man es genau betrachtet, eigentlich ein tragischer Komiker: Er war sozusagen ein Tragikkomiker. Habermeyer: Es war in seinem Spielen immer ein "kleiner Sprung" drin. Geiger: Ja, es war immer ein "kleiner Sprung" drin, d. h. es war bei aller Lustigkeit immer eine tiefe Melancholie mit dabei. Wenn er mit seinen Bernhardineraugen immer so ganz speziell geschaut hat, dann war da plötzlich noch eine Wehmut mit dabei, wie sie nur ganz wenige Schauspieler ausdrücken konnten. Habermeyer: Ist Ihnen denn beim "Millionenbauer", als er diese Rolle spielte, zum ersten Mal aufgefallen, dass solche Rollen eigentlich genau das sind, was der Helmut Fischer machen muss? Oder war es Ihnen schon länger klar, sodass Sie das beim "Millionenbauer" einfach nur umgesetzt haben? Geiger: Ich war ja der älteste Freund vom Helmut: Ich kannte ihn seit 1945, als er noch ein ganz junger Bursch war. Nein, es war so, dass man dieses spezifische Talent von ihm vorher schon einmal hat sehen können: Das war viele, viele Jahre vorher in dem Horvath-Stück "Die italienische Nacht" am Residenztheater, wo er mitspielte. Damals schon habe ich zu ihm gesagt: "Siehst du, das ist es!" In diesem Stück spielte er so einen verlogenen SA- Mann, der ein Mädchen verführt. Eingebettet war das in diesen wunderbaren und verfremdeten Horvath'schen Dialekt. Seit diesem Stück war mir eigentlich sehr genau klar, was er eigentlich spielen müsste. Aber es bedurfte einer gewissen Überzeugungsarbeit bei den Produzenten, bis sie das eingesehen haben. Habermeyer: Wie machen Sie das, wenn Sie für den Helmut Fischer im "Monaco Franze" oder im "Millionenbauer" so ein Drehbuch schreiben? Fahren Sie da aufs Land hinaus, setzen sich in die Wirtshäuser und hören den Leuten beim Reden zu? Wovon lassen Sie sich inspirieren? Wie finden Sie die Sprache dieser Leute? Sicher, Sie sind ja selbst auch hier geboren und sprechen selbstverständlich perfekt Bayerisch, aber es gibt doch Unterschiede im Dialekt zwischen einem Schwabinger und jemanden, der am Standrand bzw. draußen auf dem Land einen Bauernhof hat. Geiger: Während der Arbeit mache ich das nicht. Ich glaube jedoch, dass ich ganz offenbar mit dieser Neigung geschlagen bin, wirklich immer und überall zu hören. Ob ich nun in Bayern oder in Franken bin, ich höre immer ganz genau zu, wie die Leute reden: Mir macht dieses Zuhören, mir macht dieses Reden der Leute natürlich auch Spaß. Ich liebe eben Sprache. Als wir das dann in den Filmen jeweils umgesetzt haben, war das für uns eigentlich eine absolute Selbstverständlichkeit. Ich musste da also nicht erst nach der richtigen Sprache suchen. Bei den Figuren ist das freilich anders. Es ist nämlich so, dass man immer erst die Figuren suchen muss: Man muss Figuren finden, von denen jeder glaubt, sie zu kennen. Das ist der ganze Witz. Habermeyer: Und diese Figuren kennt dann sogar noch jeder außerhalb von Bayern. Geiger: Genau, solche Figuren erkennt man dann immer. Denn es gibt ja doch diese so genannten Archetypen, diese Erztypen, die immer und überall fast gleich sind. Die ganze Menschheit ist eigentlich nichts anderes als ein großes Ensemble mit ungefähr sieben, acht Hauptfächern! Habermeyer: Wie in der Commedia dell'arte. Geiger: Ja, das ist reine Commedia dell'arte. Es geht also eigentlich immer um die Suche, welchen Menschen, welchen Menschenschlag man darstellen will. Ich sage immer, wenn man drei, vier gute Charaktere gefunden hat, von denen man glaubt, dass sie mitteilenswert sind, dann hat man fast schon eine Geschichte beisammen. Denn eine Geschichte stellt sich fast von selbst ein, wenn ich sie aus den Charakteren heraus entwickle. Ich halte nämlich nichts davon, sich vor einem Drehbuch hinzusetzen und eine Konstruktion für die zu schreibende Geschichte zu machen. Das muss man nachher machen, wenn man seine Charaktere gefunden hat. Man darf nicht vorher mit der Konstruktion anfangen. Habermeyer: Sie haben neben Ihrer Arbeit als Übersetzer, Regisseur und Drehbuchautor auch selbst Theaterstücke geschrieben. 1999 wurde von Ihnen am Münchner Volkstheater ein Stück uraufgeführt, das "Die Nacht mit Adolf" hieß. Es geht darin um eine Hausbedienstete, die in ihrem religiösen Wahn nicht nur auf Jesus "abfährt" und ihm einen Hausaltar einrichtet, sondern die noch ein "anderes Problem" hat. Geiger: Auch hier muss ich wieder ein wenig weiter ausholen: Es ist nämlich so, dass ich diese Dame selbst noch gekannt habe. Es hat in Murnau tatsächlich eine Hausangestellte gegeben, ungefähr Mitte 50, die einerseits in ihrer Jesusliebe ganz streng katholisch war und die zugleich das Kunststück fertig brachte, zu all den Heiligen dieser Welt auch den Adolf Hitler zu rechnen. In diesem Stück baut sie sich also einen eigenen kleinen Hausaltar: Das hatte sie in der Realität auch so gemacht. Alles Weitere in dem Stück ist allerdings Fiktion. Es ist also Fiktion, dass die Familie, bei der sie arbeitet, dann einen verkleideten Schauspieler kommen lässt, der ihr den Hitler vorspielt, um sie von diesem Wahn zu befreien usw. Aber diese Figur hat es tatsächlich gegeben. Als die Amerikaner dann 1945 einrückten, widerfuhr dieser Frau eine unerhörte Publizität: Da kamen die Reporter von "Time" und "Life" an und sagten zu ihr, sie solle diesen Altar nicht abbauen, sondern sich vor ihm aufstellen, damit sie dort photographiert werden und Interviews geben könne. Sie ist dann aber ein paar Jahre später recht plötzlich gestorben. Das war jedenfalls die Figur in der Realität, nach der ich meine Figur in dem Stück gemodelt habe: eine sehr bayerisch empfundene Figur, also einschließlich solcher Dinge wie Altötting und all dieser bäuerlichen Frömmigkeit. Zu dieser bäuerlichen Frömmigkeit gehören ja sogar noch ein paar heidnische Aspekte mit hinzu. Dieser Bauernkatholizismus ist ja in der Tat manchmal kurzgeschlossen... Habermeyer: ...mit dem, was vorher da war, mit dem Erbe aus der so genannten Heidenzeit. Geiger: Insofern erschien mir diese Figur also schon sehr interessant. Habermeyer: Wie ist es Ihnen denn gegangen beim Schreiben dieses Stücks? Es ist ein Stück, das im Jahre 1939 spielt. Wie war es für Sie selbst, sich noch einmal so intensiv an diese Zeit zurückzuerinnern? In diesem Stück beschreiben Sie z. B. sehr subtil die Angst der Menschen damals. Aus der heutigen Zeit mögen diese Dinge geradezu aberwitzig erscheinen: Der Hausherr und seine Gattin unterhalten sich da z. B. darüber, dass sie sich im Beisein eben dieser Hausangestellten nicht mehr so laut unterhalten dürfen, dass sie aufpassen müssen, weil sie sonst von ihr verpfiffen werden. Die beiden streiten dann miteinander und im Laufe dieses Streits wirft er, der Hausherr, ihr, der Hausfrau, vor, sie solle doch ganz den Mund halten, denn sie hätte doch ihren Abituraufsatz damals über Rosa Luxemburg geschrieben. So etwas ist nachgerade lächerlich, aber auf der anderen Seite ist das selbstverständlich nicht nur lächerlich, denn diese Ängste damals waren ja real und hatten auch einen realen Hintergrund. Geiger: Ja, das war schon die absolute Realität. Es gab damals diesen so genannten "deutschen Blick": Das war ein Blick, mit dem man sich immer erst genau umgesehen hat, bevor man mit seinen Bekannten und Freunden sprach. Ich habe in den sechziger Jahren mal einen Besuch in der DDR gemacht und dort habe ich genau diesen gleichen Blick wieder gefunden wie in der Nazizeit. Manche Leute mögen das nicht hören, aber ich habe das Nazi-Regime und das DDR-Regime immer schon als gleitenden Übergang empfunden. Gut, die Vorzeichen mögen andere gewesen sein, ob aber der Betreffende Blockwart oder in der DDR dann sonst wie geheißen haben mag, halte ich für egal: In beiden Fällen wurde die Bevölkerung eingeschüchtert. Selbst Leute mit Parteiabzeichen hatten doch in der Nazizeit Angst! Harmlose Witze konnten jedenfalls unglaubliche Folgen haben: Wegen solcher Witze ist man, wenn man verpfiffen wurde, nach Dachau gekommen! Daran musste ich mich beim Schreiben wirklich nicht besonders erinnern: Wenn man diese Zeit selbst erlebt hat, dann ist einem das ganz einfach präsent, denn so etwas vergisst man nicht. Habermeyer: Wir haben noch eine gute Minute Zeit. Sie unterrichten ja Drehbuch und haben daher auch Studenten. Wenn Sie heute jungen Leuten gegenübertreten, was sagen Sie ihnen? Worauf sollen sie aufpassen? Was würden Sie also in Zukunft im Hinblick auf die Drehbücher im Fernsehen wünschen? Geiger: Ich sage immer: "Lasst die Technik nicht überwuchern. Man muss nicht mit wahnsinnig großem Aufwand seine Geschichten erzählen! Schaut euch stattdessen die Menschen genau an!" Es ist nämlich nichts so interessant wie der Mensch selbst. Der Mensch ist eigentlich das, worum wir uns zu kümmern haben beim Erzählen von Geschichten und nicht diese großen Abenteuergeschichten. Diese großen Abenteuer mag es auch brauchen, wenn man Geschichten erfinden will, für mich jedoch ist der Mensch immer alles! Ich persönlich mag jedenfalls diese großen Geschichten nicht so gern, ich mag viel lieber die kleine Geschichte, die jedoch sehr viel über den Menschen erzählt. Habermeyer: Ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen für dieses wunderschöne Gespräch. Geiger: Ich bedanke mich. Habermeyer: Die Zeit verging wie im Flug. Es war so, wie ich mir das schon vorher gedacht hatte: Man könnte mit Ihnen mindestens noch drei Stunden weiter sprechen. Für heute sind wir jedoch am Ende angelangt. Vielleicht kommen wir ja ein anderes Mal wieder zusammen. Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, das war unser Alpha-Forum mit dem Drehbuchautor, Regisseur und Dramatiker Franz Geiger. Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen, bis zum nächsten Mal, auf Wiedersehen.

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