Magazin für Musik und Umgebung # 36 freiStil April/Mai 2011, € 2,00 – http://freistil.klingt.org

Gravida Laibach Tumido Label: FMP Live: Jandl-Show Buch: Tony Oxley IGNM: Vokalwettbewerb kurz+gut: J.B.Ulmer, W.Fuchs, illalog Elektro Guzzi, V Platten von 2666

GZ 05Z036172 M / P.b.b. / Verlagspostamt 4600 / Verlagspostamt Wels GZ M / P.b.b. 05Z036172 12 Seiten V:NM-Programm 1 e_may ´11

compose R & pe RF o me : k omponistinnen: Festival neueR und y music l ale Rodga R kia- d a t iziana b e R t homas l ehn e lisabeth h a R nik t homas gR ill s usanna g a R k laus l ang p ia Judith u nte R pe c ha R lotte s eithe e lisabeth s chimana p ia i sabel m und R m anuela eie R k atha R ina k lement m anuela k e R e lisabeth h a R nik c haya c ze R nowin

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Ausgabe LXXIV • April 2011 ringgesprächübergruppenimprovisation Theorie und Praxis improvisierter Musik

ema: Improvisieren(d) lernen

Mit Beiträgen von Helmut Bieler-Wendt, Corinna Eikmeier, Fred Frith, Reinhard Gagel, Hannes Heyne, Klaus Holsten, Roland Oesker, Matthias Schwabe, Walter Sons und Johannes Steiner  außerdem: Methodik, Forschung, Veranstaltungsberichte, Buch- besprechungen u.v.m.  Redaktion: Matthias Schwabe, Reinhard Gagel, Iris Broderius  herausgegeben vom Ring für Gruppenimprovisation

Zu beziehen über: www.impro-ring.de Ring für Gruppenimprovisation Musikalische Improvisation in  eorie und Praxis Wilskistr. 56, 14163 Berlin Tel: +49 (0)30 84 72 10 50, Fax: +49 (0)30 814 15 56 [email protected]

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Wie schon in der Vergangenheit, schmückt auch in der Gegenwart das Programm des Grazer V:NM-Festivals als freiStil-Beilage die Heft- mitte. Die Lektüre wird an dieser Stelle nachdrücklich empfohlen, vor allem aber der Festivalbesuch. Genosse Fufunjiru porträtiert die drei Ladies von Gravida, die sich endlich, kurz bevor sie zur unend- lichen Geschichte mutiert sein wird, auch auf der 2. Damn!-freiStil- Samplerin einfinden werden. Porträts von den durchaus heterogenen Bands Laibach und Tumido kom- men ebensowenig zu kurz wie ein Blick in „Die Ernst Jandl Show“, die (auf gut 40 Jahre zurückblickende) FMP-Labelgeschichte sowie viele kleine „kurz+gut“-Specials. Die IGNM sucht Chöre, wir suchen derweil Platz für alle Plattenrezensionen. So weit, so prima. Zu reden ist allerdings auch vom allseits beliebten Kaputtsparen der (freien) Kultur in diesem Land. Für uns z.B. bedeutet dieser Unfug um 10 Prozent weniger Geld von der Stadt Wels und um 20 Pro- zent vom Land Oberösterreich. Was das bringen soll, außer kritische Stimmen einzuschüchtern, sollte einmal jemand erklären. Was ma- chen die jetzt eigentlich mit unseren 100 bzw. 200 Euro? In die Por- tokassa legen? Investieren in ein Candle-Light-Dinner für eine Per- son? Oder einen halben Quadratmeter Grund kaufen? Wir wissen es nicht, gratulieren aber aufrichtig dazu, dass diese Sparbüchsen mit freiStil einen wirklich dicken Fisch an der Angel haben. Und während ich diese mehr oder weniger erfreulichen Geschehnisse noch schnell niederschreibe, um sie dann schleunigst in Druck zu schicken, erfahre ich vom Unfalltod eines lieben Freundes (siehe Seite 11) und seiner Frau. Es reicht jetzt endgültig. Diese Scheiß- sterberei hat jetzt augenblicklich aufzuhören. Auch in dieser Hinsicht gilt: Werft Sound ins Getriebe!

Andreas Fellinger aka felix

P.S.: Die von der Fa. Hoanzl gesponserten Konkord-Compilations für die ersten fünf freiStil-Neuabonnentinnen gingen weg wie die warmen Semmeln. Wir wünschen viel Vergnügen!

IMPRESSUM VERKAUFSSTELLEN freiStil, Magazin für Musik und Umgebung; http://freistil.klingt.org; HERAUSGEBER: Andreas Kulturverein Kino EBENSEE, KiG-Auslage GRAZ, SonntagsAbstrakt@Postgarage GRAZ, Bü- Fellinger (felix); REDAKTION: Eferdinger Straße 9/6, 4600 Wels, 07242/90 90 15, freistil@ cherstube GRAZ, Café Stockwerk GRAZ, Forum Stadtpark GRAZ, Graz Kunst/Werkstadt GRAZ, klingt.org, [email protected]; ABO: 15 Euro/Jahr (Inland), 25 Euro/Jahr (Ausland); GESTALTUNG, pmk Plattform Mobiler Kulturinitiativen INNSBRUCK, Kapu LINZ, Buchhandlung Alex LINZ, PRODUKTION: Johannes Zachhuber, [email protected]; TEXTE: marufura fufunjiru, Nina Stadtwerkstatt LINZ, Buchhandlung Mitterbauer PURKERSDORF, :it SALZBURG, Arge Kultur Polaschegg (pol), Bertl Grisser (bertl), Katrin Hauk (kat), Hannes Schweiger (HAN), Stephan SALZBURG, Musik Kultur ST. JOHANN/T, Röda STEYR, Jazzatelier ULRICHSBERG, Buchhandlung Blumenschein (blumen), Jonas Kolb (jonk), Ernst Mitter (mitter), Irene Suchy; FOTOS: J.J. Kucek, Neudorfer VÖCKLABRUCK, Medien Kultur Haus WELS, waschaecht@Alter Schl8hof WELS, Ex- Martin Behr, Saso Podgorsek, Zoe, Dagmar Gebers/FMP-Publishing, Tamara Dokk-Glawischnig, traplatte WIEN, Rote Laterne@Filmgalerie 8½ WIEN, Substance WIEN, ignm WIEN, mica WIEN, Doris Prlic, Ajtony Csaba, Thomas Hellmaier, www; ERSCHEINUNGSORT: 4600 Wels; DRUCK: Lhotzkys Literaturbuffet WIEN, Blue Tomato WIEN www.digitaldruck.at; BANK: Oberbank Wels, BLZ 15130, Konto Nr. 421049115 freiStil wird gefördert von Republik Österreich, Land Oberösterreich & Stadt Wels

Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz freiStil, Magazin für Musik und Umgebung. Medieneigentümer & Herausgeber: Andreas Fellinger, Eferdinger Straße 9/6, 4600 Wels. Grundlegende Richtung: freiStil schert sich um zeitgenössische improvisierte und komponierte Musik und deren ästhetische und soziale Umgebung.

3 HALL OF FEMMES

„Wir wollten explodieren“

Foto: J.J. Kucek

Ab sofort in der „hall of femmes“ und demnächst auf der 2. Damn!-freiStil-Samplerin: das italienisch-amerikanische Trio GRAVIDA, vorgestellt von Marufura Fufunjiru.

uf der Microsound-Mailingliste wurde vor zwei, drei Jahren einmal die Frage gestellt, wo auf der Welt es, musikalisch gesehen, gerade „Wir erkannten, welche Kraft das hatte, Aso spannend zugeht wie im New York der 80er Jahre des vorigen drei sehr starke Persönlichkeiten und Jahrhunderts (oder was weiß ich, wann es dort spannend war – mir wäre die Stadt selbst so erschlagend zu spannend, dass ich von der Musik eh unabhängige Musikerinnen plötzlich vereint.“ nichts mehr mitbekommen würde, scheiß Großstädte!). Die Antwort des Listenpapas Kim Cascone war schlicht und einfach: „I am an Italian!“. Recht hat er! (Anmerkung: Kim ist weder Frau noch Koreaner.) Italien also. Das Land, in dem männliches Selbstbewusstsein etwas schließen wir, als gebildete Mitteleuropäer, dass es dort auch Frauen geben bedeutet, das mir den Mageninhalt Richtung Himmel in die Welt drückt. muss. Und Schwangerschaft. Gravida, wie es in der Sprache der Stiefelbe- Andererseits aber eben auch die Heimat Urkumas, Bruno Dorellas, Andrea wohner heißt. Gravida? Gravida? (Betonung auf der ersten Silbe) Gravida? Gabrieles, Stefano Giusts, Matteo Uggeris und vieler anderer, bei denen ich Irgendetwas sagt mir das doch? mich gleich einmal entschuldige, dass ich sie hier nicht erwähnt habe. Ne- benbei an dieser Stelle auch noch aus tiefstem Herzen eine Entschuldigung Ah ja, in diesem Artikel geht es um Gravida. Und zwar die italienisch/ an den Herausgeber dieses Blattes für die infaltio...... inflatoi...... unflätige amerikanische Improvisationsgruppe bestehend aus, in numerischer Reihen- Verwendung des Genitivs, sorry, vom Genitiv. folge, IOIOI, Maryclare Brzytwa und Patrizia Oliva. Oder in Instrumenten Aber ich verliere mich. Die Rede war von italienischen Männern. Und gedacht: Gitarre, Stimme, Flöte, Max/Msp, Stimme, Electronics, Objekte, von italienischen Musikern. Da die aber auch irgendwoher kommen müssen, Effekte und Stimme. Wer Lust hat, kann sich jetzt einen Stift nehmen und

4 „Wir wollten explodieren“

die Namen mit den dazugehörigen Instrumenten verbinden. Was natürlich Eigentlich sollte dies kein Artikel werden, sondern ein Interview. Nach- nur geht, wenn man sie schon einmal live gehört hat. Und das sollte man! dem ich aber schon nach den ersten beiden Fragen Antworten in der Länge Gravida klingt wie eine Großstadt, gehört mit Ohren, die sich an das Land- einer ganzen freiStil-Ausgabe hatte, gab ich die Idee wieder auf. leben erinnern. Oder umgekehrt. Gravida klingt wie das Liebesleidjammern eines Erleuchteten. Oder wie dessen Gegenteil. Gravida klingt wie Musik, die „Ich schätze, mein Musikgeschmack kommt von der Erinnerung an die von einem Nashorn geboren wurde. Das schreibe ich aber nur, weil die Band Emotionen meiner Kindheit. Meine Eltern, die nicht redeten, während die im Augenblick so lange besteht, wie ein Nashorn trägt, also ca. 18 Monate. Waschmaschine rumpelte, das Bügeleisen pfiff, das Radio aus der Küche verzerrte, die Formel-Eins-Autos aus dem Wohnzimmer heulten, und mein „... zunächst spielten wir drei Solo-Sets in dieser Nacht des Wahnsinns, Gefühl der unterdrückten Wut, die all diese Klänge verband.“ So IOIOI in und dann improvisierten wir als Trio. So wurde Gravida geboren. Wir er- diesem Interview. Eine schöne Beschreibung der Musik Gravidas, finde ich. kannten, welche Kraft das hatte, drei sehr starke Persönlichkeiten und un- Nur dass sich die Wut in enorm viel Liebe und Sorgfalt verwandelt zu haben abhängige Musikerinnen plötzlich vereint. Es war wie eine BOMBE! Wir scheint. Nur dass das alles keine „zufälligen“ Sounds mehr sind, sondern mit wollten explodieren, mehr und immer mehr“, beschreibt Patrizia Oliva den viel Bedacht erimprovisierte Klangwelten von einer Intensität und Schönheit, ersten Auftritt, der durch viele, viele Zufälle zustande gekommen war. Nun, wie man sie nicht allzu oft findet. Ich höre in der Musik Gravidas ihre fun- ich habe zwar noch nie ein Kind bekommen, aber das klingt weniger nach dierte musikalische Ausbildung und ihr Aufbegehren dagegen, von denen sie Geburt als nach Sex, dreckigem, lautem, schweißtriefendem Sex. Hm ... mir im Interview erzählt haben. All das aber, ohne dass es von irgendwelcher ein bisschen ungeschickt von mir, mitten im Artikel über den Orgasmus zu Bedeutung wäre. Ihre Musik steht weit über solchen Kategorien. Sie ist ein schreiben. Wie weitermachen? Rauchen wir einmal eine, oder? freies Schwingen, Schweben und Fließen, ein ewiges Mäandern zwischen Auflösung und Konzentration. Befruchtung, Schwangerschaft, Geburt. Das Wogen der Gezeiten. Die Mond und der Sonne. Katzen. Ziemlich psychede- „Ich schätze, mein Musikgeschmack kommt lisch der ganze Scheiß, den die Ladies da machen.

von der Erinnerung an die Emotionen meiner Die Biografien der drei Musikerinnen weisen einige Parallelen auf. Alle Kindheit ... und mein Gefühl der unterdrückten hatten früh Kontakt mit Musik beziehungsweise Klang, alle begannen früh, Wut ...“ sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Vor allem die beiden Italienerinnen, IOIOI und Patrizia Oliva, berichten von schweren Zeiten, aus denen sie gestärkt und verändert herausgestiegen sind (es beweist sich immer wie-

5 dann aber fast nur allein. „Gruppentanz” ist ihr zu wenig anarchistisch, weil da immer jemand führt und die Freiheit der anderen einschränkt. Ihr „Menschen sind langweilig. Das einzige, das geht es um Einssein und Fließen, egal ob allein oder in der Gruppe, denn auch ihre Soloauftritte empfindet sie nicht wirklich als solche. „Ich stehe sie interessiert, ist, sich wichtig zu machen trotzdem immer in Beziehung zu irgendetwas. Es steht mir nicht frei, zu mit ihrer erbärmlichen Scheiße und ihren 100 Prozent zu tun, was ich will. Ich versuche zu hören und zu verstehen, persönlichen Geschichten.“ was da mit mir spielt – die äußere Welt, die innere Welt, zufällige, flüchtige Klänge und Formen ...” der, dass Künstler leiden und hungern müssen – ich danke also hier den Patrizia Oliva hingegen scheint sich in allen möglichen Formationen wohl- Förderstellen dieses Landes für ihre umsichtige Politik!). Eine Nonne in der zufühlen. Solo, im Duo mit Stefano Giust am Schlagzeug als Camusi oder mit viel gehassten Klosterschule, die die Liebe zum Gesang förderte (und sich ebendiesem und Silvia Kastel (Synth, Stimme) und Ninni Morgia (Gitarre) bald darauf schwanger ins Leben verabschiedete) oder das Unverständnis als -Krautrock-in-Hippie-Fetzen-Formation Carver. der Landbevölkerung für eine junge Frau, die mit ihrer Stromgitarre ordent- Die Amerikanerin Maryclare Brzytwa arbeitet, nachdem ihre letzte Veröf- lich abkrachte und die wie Satan brüllte. Auf Bergen mit dem Echo spielen fentlichung eine sehr konzentrierte, durchdachte, „gezähmte” war, in der es (und manchmal antwortende Kinder), mit Salsabands touren, immer wieder unter anderem viel um Spieltechniken ging, zur Zeit an einem Metal-Solo- mehr oder weniger akademische Ausbildungen auf allen möglichen Gebieten Release, wo ihre Computerprogramme ihre Flöte in brachiale, verzerrte Gitar- (Umberto Eco, Fred Frith, ...) und dem Gesang der Vögel lauschen. Hier renwände verwandeln. Und wo ordentlich geschrieen wird. „Ready to rage!” wird nicht getrennt und kategorisiert, hier wird gestaunt und erforscht. Hier Neben diesen unzähligen Solo- und Duo-Releases der drei Damn (kein begnügt man sich nicht damit, Dinge beim Namen zu nennen, hier wird Tippfehler, sondern quasi eine Ankündigung), haben Gravida bisher zwei direkt und wahrhaftig erfahren. Im Leben, wie in der Musik. CDs veröffentlicht. Die erste auf Incisioni Rupestri und im Jänner letzten Ich habe vorhin geschrieben, dass die Wut von der Liebe abgelöst wurde. Jahres eine auf Setola di Maiale, zusammen mit Kanoko Nishi (Koto) und Gravida würden mir dafür auf die Finger hauen (was ich allerdings schon Stefano Giust (Objekte und Stimme). selbst erledigt hab‘): „Menschen scheinen in Denkschulen zu vertrauen. Dass Beim Interpenetration-Festival des mit uns eng befreundeten Labels chma- sie Namen nennen können: Stockhausen, Nono, Berio, Russolo, blabla, Neue fu nocords sind sie in allen möglichen Formationen aufgetreten: Gravida, Musik, blablabla. Aber das ist nur Politik! Alles ist nur Mode und Politik. Ich Carver, Patrizia Oliva, IOIOI ... und heuer ist das Flöten-Metal-Projekt von bin keine Politikerin! Die meisten Musikerinnen sind in Wirklichkeit nichts Maryclare Brzytwa geplant. Alles sorgfältig in Videoform dokumentiert. Du/ anderes als Politikerinnen. Darum hat ihre Musik auch nichts wirklich Neues, Sie, liebe Leserin, hast/haben jetzt also die Möglichkeit, den Arsch aus dem nichts Aufrichtiges, nichts Wahres. Ich sage ... die Vögel allein! Sie sind die Bett zu bewegen und dir das Ganze gleich anzuhören: wahren Experimentalmusikerinnen. Menschen sind langweilig. Das einzige, das sie interessiert, ist, sich wichtig zu machen mit ihrer erbärmlichen Scheiße Gravida (das komplette Konzert in drei Teilen) und ihren persönlichen Geschichten.“ http://tinyurl.com/5u63qvf Nicht sonderlich kompromissbereit, die Gören. Kein Wunder also, dass Carver, Patrizia Oliva, IOIOI (und vieles mehr) sie sehr viel solo arbeiten. IOIOI spielte zwar in einigen Punkbands, tourte http://www.youtube.com/user/marufura

Villalog, Alter Schl8hof Wels, 4. Februar kurz + gut

ieses Menü muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Elektro Guzzi, Stadtwerkstadt Linz, DYo La Tengo und Sonic Youth auf der Grundlage von analo- gem Techno – und als Beilage eine Extraportion, ja ein ganzer 18. Februar Kübel voller Krautfleckerl. Wunderbar abgefahrene, spinnerte, Elektro Guzzi, Live P.A. trotz allen naheliegenden Vergleichen unvergleichliche Musik. (Macro / wordandsound.net) Das Mischungsverhältnis macht nämlich das Besondere von Villalog aus. Das wird einem während eines der leider viel zu etzt weiß man bei Elektro Guzzi eh theoretisch schon ziem- seltenen Auftritte bewusst. Jlich genau, worum’s geht – und dennoch wirft eine/n die Hübsch auch, dass in einem so spontanen wie völlig formlosen Spielpraxis förmlich aus den Schuhen. Techno auf analogem ... Jetzt haben sie’s parat, frage nicht! Zu hören auf ihrer brand- Festakt Bernhard Fleischmann – der formidable Unterhaltungs- Instrumentarium, ganz ohne Laptops, Loops etc.: Wenn’s nur neuen Platte, die in London von Lee „Scratch“ Perrys Tonmeister elektroniker sitzt bei Villalog hinter der Schlagzeugbudel – zehn dabei bliebe! Aber nein, diese Erfindung birgt bei allem Vorwis- des Vertrauens, Brendon „Octave“ Harding, für das großen On- Jahre nach ihrem letzten Schl8hof-Auftritt als fixes Bandmit- sen live noch ungeahnte Überraschungen und Eigendynamiken. line-Elektronikmagazin Resident Advisor aufgenommen und in glied adoptiert wird. Damit wird endlich das distanzierende Angefeuert wird Elektro Guzzi von Bernhard Breuer, dem fan- Wien von Patrick Pulsinger völlig neu gemixt wurde. Kurz gesagt: „featuring“ aufgelöst und Fleischmann, dessen „Duo 505“ mit tasievollsten Schlagzeuger, der sich denken lässt, insofern als Auf dieser Platte geht die Post ab, aber modern! Bassist Jakob Herbert Weixelbaum als Vorspeise des Abendmenüs eine etwas er in dieser maschinellen Musik die Balance zwischen Mensch Schneidewind hält den Rhythmus, Gitarrist Bernhard Hammer dünne Suppe reichte, auf gleicher Höhe mit Marc Muncke aus und Maschine genial zu halten versteht. Auf dieser Grundlage variiert in melodischen Skizzen die Klangfarben, Schlagzeuger München an seinem vorsintflutlichen Moog-Synthesizer und Mi- haben die Kollegen leichtes Spiel. Ein Spiel, auf das die Welt Bernhard Breuer wechselt zwischen beiden Elementen – in- chi Duscher aus Neuhofen/Krems an der Stromgitarre sorglos offensichtlich gewartet hat. Wie anders wäre zu erklären, dass sofern, sicher zufällig, die gleiche Aufgabenverteilung wie im weiterarbeiten. Und woran? An Psychedelik pur, an eigen- und Elektro Guzzi nach dem Debüt vor einem Jahr vom Fleck weg klassischen Hendrix-Trio. Die zehn, dramaturgisch einwandfrei hintersinniger Musik mit erheblichen virtuellen Rauchschwaden von den attraktivsten Bühnen Europas engagiert wurden. Und gebauten Stücke tragen neben abstrakten auch konkrete Titel, und unwiderstehlicher Groove. Fazit: Was für eine tolle, immer das, obwohl sie noch gar kein komplettes Programm, Repertoire wie Vogelgrippe oder Hexenschuss. Und das Beste ist sowieso noch sträflich unterschätzte Band! und Konzept parat hatten ... immer, sich bei den Platten-Präsentationskonzerten oder sonsti- gen Live-Gelegenheiten ein Bild von dieser zauberhaften Combo zu machen. Andreas Fellinger

6 Foto: Zoe

„Stumme Hunde und stille Wasser sind gefährlich.“(Volksmund)

Stumme Hunde und stille Wasser sind Gigi Gratt und Bernhard Breuer zum Glück zurzeit und eigentlich überhaupt nicht. Darum sind sie auch nicht gefährlich. Man traf sich am Rande ihres Konzerts mit MIR (siehe Freistil #30) und MONNO in Linz zu einem Plauscherl zur und über die neue Platte und 10 Jahre TUMIDO.

igi Gratt und Bernhard Breuer haben sich in den letzten Jahren zu Hochwassers der Donau im Sommer 2010, welche dort am Staudamm in die fixen und qualitätssichernden Größen der hiesigen „experimental, Tiefe stürzten. „Ungeheure Energie, chaotisch, dreckiges Wasser, Strudeln, Gnoise, impro, whatever“-Musiklandschaft gespielt. Sei es nun in Lärm wie weißes Rauschen, der Sog, ja genau, der Sog, und trotz allem wun- getrennten Projekten – wie im Punk-kosmonautischen Guitarero-Wahnsinn derschön anzusehen“, so die beiden. Man fühlte sich erinnert an die eigene NI oder in der Post-Freejazz-Band Braaz sowie in der TripHop-Apokalypse Musik und zugleich inspiriert für neues, und so entwickelte sich eben dann Metalycée und dem Minimal-LiveAct Elektro Guzzi – oder eben gemeinsam: aus diesem Bild, man könnte sagen: ein Konzept. Das Cover von „Hunde“ ist in und mit Tumido. eines jener Fotos von Michaela Riess (aka Zoe) aus ihrer Zwischenfisch-Foto- Nun, im zehnten Jahr von Tumido, veröffentlichen die beiden ihre neue Serie, die Platte durchsichtiges Vinyl – und live werden die beiden Musiker LP „Hunde“ (siehe Review). Als Inspiration, Ausgangspunkt und Identifi- auf der Bühne (über den Mann hinter bzw. vor der Bühne später mehr) von kation diente dem Duo ein anfangs eher zufälliger Anblick der gewaltigen genau jenem Video bestrahlt, welches man damals bei den Schleusen an der Wassermassen aus den Schleusen des Kraftwerkes Ottensheim während des Donau, in die Tiefe hinab blickend, aufgenommen hat.

7 Zusammenspiel von Bass und Schlagzeug. „Tumido“, auf der anderen Team „goon“ – wird mir erzählt. Die Zusammen- Doch weicht auf „Hunde“ der harmonische arbeit von Tumido und den „goon-boys“ hat sich seit ihrem ersten Aufein- Schwerpunkt des letzten Releases dem sound­ andertreffen („Tumido & Stefan Rois, zach records, 2005) von Aufnahme zu ästhetischen. Auf diesem Fundament entsteht Aufnahme intensiviert. Als „logisch“ bezeichnet Bernhard Breuer deshalb eine sensible, transparente Sounddichte und auch die Entscheidung, Mario Stadler nicht nur als Tontechniker, sondern -tiefe, welche bei dem titelgebenden Track in zugleich, gewappnet mit Effekten, als Mitmusiker für das aktuelle live-Set fast widersprüchlicher brachialer Dunkelheit mit an Bord zu nehmen, und quasi Tumido live zu remixen. endet. Spaciger Trance-Techno-Industrial- Seit zehn Jahren also machen Tumido die Welt unsicherer. Ob nun ge- Noise-Trip. „Potop“ (Seite 2) lässt ansatzwei- TUMIDO se Tumido›sche sehnsüchtige Klänge zu, doch meinsam einsam oder verbündet mit anderen. Neben der bereits erwähnten hunde werden diese meist von einem lärmgroovigen Zusammenarbeit mit Stefan Rois ist das Projekt Tumdio+Bulbul für Gigi Interstellar / rec: 10 Sog in die Tiefen der Energie gezogen, dort ver- Gratt und Bernhard Breuer ein ständig wiederkehrendes Highlight. Anfangs Gigi Gratt (b, tp), Bernhard Breuer (dr, tp) schluckt und zersetzt. Dank der Feinfühligkeit wohl auch ein wenig große Brüder, von welchen man viel lernen konnte, des Duos und einer superben Arbeit von Mario weil selbst noch grün hinter den Ohren, aber vor allem Brüder im Geist. Im zehnten Jahr ihres Schaffens legt Stadler und Manuel Mitterhuber, welche für das Duo einen neuen Longplayer vor. Erschie- Die Chemie passte von Anfang an und tut es immer noch – wie könnte es, Aufnahme und Mixing verantwortlich zeigen, nen auf dem wunderbaren Label Interstellar, treffen fünf sympathisch durchgeknallte Musiker aufeinander, nicht so sein! ist Tumido eine große Platte gelungen, welche durchsichtige 12 inch, zwei Songs. Seit ihrer Dass Tumido und die Musiker, welche hinter und für Tumido stehen, nun neben ihrer Dynamik vor allem davon lebt, letzten Platte „The Orgy“ waren die beiden Mu- selbst schon einiges erlebt haben, zeigt sich auch in ihrer Ruhe, so sagen sie dass die Dichte des Materials sich nicht wie siker Gigi Gratt und Bernhard Breuer jeweils mir, mit welcher sie die Band mittlerweile betreiben. Als ihrer beider Start in undurchsichtiger, dickflüssiger Morast über sehr umtriebig, und das hört man auch. Eine eine_n ergießt, sondern ein spannendes Im- die Welt der Bands und der Musik stellt Tumido nun einen Heimathafen für neuerliche Wendung, weg von der beinahen mer-und-immer-wieder-Hören verspricht und die beiden dar, zu welchem sie immer wieder zurückkehren. Ohne Stress und Straighness von „The Orgy“, hin zu mehr Expe- hält. „Und laut hören!“, wie Richard Herbst, Druck funktioniert Tumido jetzt. Kein Stress wegen Monster-Tour booken, rimenten. Unerschütterliches Fundament war einer der Interstellar_innen, mir empfahl. unzählige Tonträger verkaufen zu müssen etc. – und beweisen muss man und ist noch immer das markant rhythmische (blumen) auch niemandem mehr etwas. Passieren all diese Dinge doch, so freut man sich natürlich, aber wenn nicht, dann eben nicht. Und es liegt wohl auch an Und parallel zum visuellen Aspekt gehen auch die Überlegungen auf den vielen anderweitigen Projekten, welche für das Geld zum Leben, Startum musikalischer Ebene: kaum Strukturen – soweit dies überhaupt möglich und jede Menge Konzerte sorgen, dass Tumido so relaxt passiert, wie es eben ist –, jede Menge Energie, welche sich vor allem in einer Sogkraft zeigt, passiert. Umso kompromissloser können sie deswegen auch agieren. Und Dreck und Lärm und am Ende in eine Dichte, ähnlich der von weißem Rau- um so befreiender empfinden beide ihr gemeinsames Miteinanderarbeiten. schen, mündend. Methodisch versuchten Tumido dies zu erreichen, indem Die aktuelle Platte ist auf dem Label Interstellar Records erschienen, sie besser vorbereitet denn je das Studio betraten. Einerseits, und zwar auf welches zum wiederholten Mal beweist, eine Nase für some of the hottest der Seite des Sounds und ihren Vorstellungen davon, welche sich seit „The und most exciting shit in town zu haben. Dass man sich seit Jahren kennt, Orgy“ durch die verschiedenen Zusammenarbeiten mit Musiker_innen weiter schätzt und befreundet ist, sei erwähnt, ändert aber nichts am eben Geschrie- entwickelt und sensibilisiert hatten. Andererseits mit kaum Vorbereitung in benen. Und „Hunde“ noch heiß und ofenfrisch in den Händen wird schon Sachen Songwriting. Zwar gab es eine kurze intensive Probezeit vor den Auf- am nächsten Projekt geplant: Zum 10-Jahre-Jubiläum wollen Gigi Gratt und nahmen, „geschrieben“ wurde das Material, und eben nicht Songs, doch erst Bernhard Breuer ein Tumido-Orchester gründen, das live ein Best-of aus im Studio, in mehreren Impro-Sessions. Aber nicht in klassischer Jam-Natur, ihrer Geschichte darbringen soll. Wo und wann und wie, das ist noch nicht d.h. Strukturen während des Spielens zu entwickeln und damit zu arbeiten, confirmed – deswegen: Ohren und Augen offen halten, das sollte man sich sondern bei einem Thema zu bleiben, bis sich dieses zu Tode gespielt, oder nicht entgehen lassen. Stephan Blumenschein zu etwas Neuem transformiert hat; aber definitiv anti-zyklisch zu verfahren, mit dem Fokus auf Intensität und Energie. tumido.klingt.org Neben den tumidoesquen Bass-und-Schlagzeug-Elementen hört man auf den zwei Tracks von „Hunde“ ein effektbeladenes, düsteres Soundclustering. Tumido live: Dass dieser dichte Sound nicht zu einer eindimensionalen dicken Soundflä- 4. April, Menza pri Koritu, Ljubljana, mit Preglow che geworden ist, zeigt das sich entwickelte Verständnis der beiden Musiker 5. April, Club Velbloud, Ceske Budejovice, mit Preglow für die Soundtiefe. Und natürlich hat das auch mit der Aufnahmetechnik, 6. April, Pod Lampou, Pilsen, mit Preglow den zwei von drei Herren von goon-studios – Manuel Mitterhuber und Mario 7. April Groovestation, Dresden, mit Preglow & Osis Krull Stadler – zu tun. Von Effektgeräte-Schlachten – auf der einen Seite Team 13. April, Alter Schl8hof Wels, mit Sao Paulo Underground feat. Rob Mazurek

Erfassung musikalischer Ausdrucksformen, das National Folk oder Contemporary Christian Rap k u r z + g u t erleben wir Jahr für in diversen Best-of-Listen, nehmen durch Bruchstücke markante Formen in denen die besten Musiken der Welt keinen an, andere bleiben „formlose“ Splitter. Zur Er- Wolfgang Fuchs, Eingang finden (können), weil sie weder Jazz öffnung in der „Grand Petit Galerie“ des Linzer „Vinyl Shredder“, Grand Petit noch Pop noch Klassik etc. zuzuordnen sind. Gasthauses Roter Krebs zieht Laudator Andre Galerie @ Roter Krebs Linz, Fuchs reagiert insofern darauf, als er Platten Zogholy Parallelen von Fuchs‘ Arbeit zu Gilles 2.–22. Februar mit dem Hammer zerstört resp. shreddert und Deleuzes poststrukturalistischer Schrift „Diffe- die zerschlagenen, kleinen Teile über diese renz und Wiederholung“. Destruktion und De- olfgang Fuchs, der als Turntablist Tag für „Genres“ auf weißen Karton klebt. Sichtbar ge- konstruktion, sagt er, gehen bei Fuchs Hand in WTag mit Schallplatten bzw. dem Material macht wurde „Vinyl Shredder“ auf zwei Fenstern Hand. Das Material Vinyl, zuletzt in den 5-inch- Vinyl zu tun hat, hat daraus ein neues Kunst- des Roten Krebsen, somit von außen und innen Arbeiten „empties“ in Nickelsdorf (siehe freiStil werk generiert. Ausgangsidee war die plastische einsehbar, dazu ein Bild im Raum und eines am #27), die nur das Innerste samt Auslaufrille Umsetzung des Irrsinns, der aus der Beschlag- Damenklo. einer Platte übrigließen, setzt Wolfgang Fuchs wortung von mp3-Files nicht weniger als 148 Komplett sinnentleerte bzw. auf die somit naht- aber nicht bruchlos fort. Id3-Genres hervorbrachte. Klassifizierungsmo- Spitze ihrer substanziellen Sinnentleerung Andreas Fellinger delle eignen sich schon grundsätzlich nicht zur gebrachte Bezeichnungen wie Euro-House,

8 Foto: Martin Behr

Wollt Ihr den totalen Sound?

LAIBACH haben sich und ihre Rezipientinnen niemals in sichere Distanz vor dem Faschismus gebracht. Ein Lokalaugenschein bei den großen Analytikern des Totalitarismus im Nationaltheater und in der Umetnostna Galerija von Maribor.

op ist Musik für Schafe, und wir sind als Hirten verkleidete Wölfe.“ Die Musik dafür kramten Laibach aus ihrem reichhaltigen Fundus her- Dieses für ihre Verhältnisse eher plump-eindeutige Motto haben vor, im stetigen Wechsel von wagnerischem Bombast und brutalem Macho- „PLaibach ihrem 2006 erschienenen Album „Volk“ beigegeben, einer Techno, zwischen dem grandiosen DAF-Cover „Alle gegen alle“ und einer Sammlung von 14 Nationalhymnen, von der deutschen und US-amerika- Neufassung des Schlagers „Mama Leone“, alles natürlich vorgetragen in der nischen bis zur chinesischen und jener des fiktiven Staates NSK, dessen typisch schneidig-martialischen Kostümierung der Musiker (wo Wave und Fa- Bürger Laibach von Anbeginn waren. Die Platte operiert generös mit einem schismus eine irritierende Liaison eingehen) und begleitet von den derzeit für der zwei wesentlichen musikalischen Stilmerkmale von Laibach, dem Pathos die Band typischen Visuals, die auch schon einmal christliche Kreuze, Kru- (das andere ist das Martialische). Mit einer extrem verlangsamten Version ken- und Hakenkreuze ornamentalisieren und schnell aneinanderschneiden. der Marseillaise eröffneten Laibach auch die Performance „Evropa danes“ im Nationaltheater Maribor (15. und 16. Februar). Basierend auf einem 75 Die totalitäre Maskerade, die diese antitotalitäre Band seit beinahe 30 Jahre alten Text des Schriftstellers Miroslav Krleza, erarbeitete der Regisseur Jahren dem realen, politischen Totalitarismus entgegensetzt, hat sich im Haris Pasovic mit dem Schauspieler Miki Manojlovic, dem Choreografen Lauf der Jahre, ungeachtet der fundamentalen politischen Veränderungen, und Tänzer Edward Clug und eben Laibach ein theatralisches Statement, in gar nicht so stark gewandelt. Die Faszination ihrer künstlerischen Strategi- dem der verzweifelt agitierende Text Krlezas, der am Vorabend des Zweiten en, ob sie sich nun am Jugoslawien Titos oder am Neo-EU-Staat Slowenien Weltkriegs entstanden war, als Prisma zu einer Verortung des heutigen Europa entzündete, ist ungebrochen: Die Faszination einer sich via Manifest und Slo- diente. Pasovic und Clug entwarfen verstörende Bilder, Laibach lieferte den gan selbsterklärenden und stilisierenden Kunst und Musik, deren scheinbare Sound der Nationen und Ideologien, an denen das tanzende Individuum sich Eindeutigkeit beständig Verstörungen und Irritationen entstehen lässt. Und aufrichtete und zerschellte. natürlich viele Missverständnisse evoziert, die Laibach stets mit einkalkuliert

9 Foto: Saso Podgorsek

haben. Ihr kluges Theater betrieb die Band immer so rigide ernsthaft, dass es Credo des Laibach-Kollektivs übrigens, das es explizit in einem frühen Kon- die Rammstein hörende Dumpfbacke von nebenan natürlich für bare Münze zeptpapier festhielt (wer solche genauer liest, findet zwischen allerhand nahm. Eine banale Parodie waren ihre Enttarnungen von musikalischen irritierenden Slogans sehr wohl ebenso aufschlussreiche Selbstauskünfte Ästhetiken nie. Weder „Geburt einer Nation“ (nach Queens „One Vision“) über ihre Kunst). noch „Opus dei“ (nach Opus’ „Live is life“), um einmal die berühmtesten Laibach zählen zu der leider sehr überschaubaren Menge von Musikern, Beispiele zu nennen, erschöpften sich in fundamentaler Kritik durch thea- deren Denken ähnlich konzeptionell wie jenes von ernst zu nehmenden tralische Affirmation, sie waren immer auch von der Faszination für Inhalt bildenden Künstler angelegt ist. Die Kulturgeschichte ist für Laibach eine und Form der transportierten Sache getragen, und sei es auch für so etwas riesige Materialsammlung, aus der sie sich zu bedienen verstehen. Um einen wie eine faschistische Ästhetik. wahren Assoziationssturm zu entfesseln, der Zeichensysteme förmlich kol- labieren lässt. (Wie sie das auch in ihren allesamt als High-Concept-Art zu verstehenden Musikvideos schaffen, kann man sich auch daheim anschau- Retrospektive in Maribor en: etwa bei „Tanz mit Laibach“ auf Youtube, in dem Prolo-Techno zum modernen Totentanz aufgebläht wird, samt kulturpessimistischen Slogans, Laibach war niemals daran gelegen, sich selbst oder ihre Rezipienten in schaurigen Frauenchören und Kinderreimen, eine Art industrial Parteitag). sichere ironische Distanz zu bringen. Im Nationaltheater Maribor ging zu den Die Ausstellung dokumentiert gut, wie Laibach Kollektivierung, Staat, Moral, stampfenden Technobeats plötzlich das Saallicht an, einige unauffällig in den Industrialisierung immer wieder neu verhandeln und thematisieren. Sitzreihen platzierte Performer begannen sich in einer zackigen Choreografie „Actually, it is constantly doing one and the same thing: it draws atten- zu bewegen, in deren Zuge sie auch den „deutschen Gruß“ vollführten. Selbst tion to the fundamental phantasms, the phantasmic myths and constructs wenn diese konkrete Szenerie eher etwas unbeholfen anmutete, illustrierte on which our national identfication is based“, meinte Slavoj Zizek über sie ganz gut die Strategie Laibachs, ihr Publikum immer wieder gnadenlos zu die Kunst von NSK. Wie Laibach auch in ihren bildnerischen Arbeiten die verstricken, ihre Totalitarismus-Analyse am lebenden Objekt zu vollziehen. Aufmerksamkeit auf Strukturen und Phantasmen der Kunst lenken, zeigt die Dass Laibach das zwar nicht subtiler, aber auch viel zwingender können, Schau eindringlich. Etwa in einer Magritte-Paraphrase, in der sie den Künstler zeigten sie 2003 anhand der Performance „Einkauf“. In ihrer typischen, an statt einem Naziaufmarsch eine unverdächtige Landschaft malen lassen, SS-Uniformen erinnernden Aufmachung, schlenderten sie durch eine Shop- oder in einer Installation zum Verhältnis von Museum und Reliquie, welche ping Mall in Ljubljana: Konsumzombies in Reiterhosen und -stiefel beim Aquarelle von berühmten Museumsbauten eingelegten menschlichen Hän- Schaufensterbummel. Das Video zu dieser Performance ist derzeit (bis 17. den gegenüberstellt. Was zeigt, wie weit Laibachs Denken über den Komplex April) in der Umetnostna Galerija Maribor zu sehen, die dem bildnerischen Totalitarismus/Kollektivismus/Industrialisierung letztlich weit hinausreicht Werk von Laibach eine groß angelegte Retrospektive widmet. und analytisch viel tiefer greift. Bertl Grisser Dabei lässt man ausgiebig Revue passieren, wie Laibach immer wieder virtuos das Verhältnis von Kunst und Ideologie thematisieren – ein altes

10 Mues, der Geiger Andreas Schreiber, der gern mit dem Bogen den Teufel an die Wand malt – und der britische Schlagzeug-Veteran John Marshall. Jandls Gedichte werden an diesem Abend um ihre Themen und Komplexe gruppiert; etliche da- von stammen aus seinem letzten zu Lebzeiten publizierten Band „Letzte Gedichte“, in denen er recht unverblümt über Prozesse des Alterns, des körperlichen Verfalls und des nahenden Todes schreibt. Andere Passagen kreisen um die Phä- nomene Sex, Gott und Krieg. Die Musik dazu zeigt sich immer der Poesie angemessen, nicht fehlen dürfen freilich der „Choral“ und, in Anlehnung an Hanns Eisler, das „Solidaritätslied Nr. 2“, das Glawischnig ursprünglich „Snowman’s Lullaby“ nannte. Mit diesen und ein paar weiteren, weit ausholenden, sich dynamisch steigernden Stü- cken gerät der Soundtrack zur Sprachkunst Ernst Jandls in die Umgebung von Abdullah Ibrahim oder dem Liberation Orchestra von Charlie Haden – und bleibt doch in jeder Faser dieses vibrieren- Die Coolness alter Meister den Abends eigensinnig. Alles das wird ausgestattet mit einer immen- sen Portion Leidenschaft und einem so großen „Die Ernst Jandl Show“, Wien Museum, 14. November bis Herz, dass es den Rezensenten ausnahmsweise 13. Februar + Dieter Glawischnig, Dietmar Mues, Andreas zum Urteil hinreißt: Die Alten sind viel cooler als die Jungen. Und im besagten Fall auch jünger. So Schreiber & John Marshall, Ehrbar Saal, Wien, 13. Jänner darf es die Leute im altertümlich präparierten Saal nicht wundern, dass Glawischnig, Mues, Schrei- ber & Marschall am Ende des Poesiekonzerts – ch sein sprachenkunstler“, wusste einst Ernst terview über seine Lieblingsmusiken. Und alles noch bevor Dietmar Mues als allerletzte Zugabe „iJandl von sich zu berichten. Zum Jahreswech- gipfelnd in einem kurzen Video eines heutzutage „Ottos Mops“ auf Sächsisch vorgetragen haben sel widmete ihm das Wien Museum eine große unvorstellbaren Literaturhappenings in der Albert wird – den Ehrbar Saal ordentlich rocken. Personale, die mittlerweile 366. Ausstellung in der Hall, London: Wir schreiben das Jahr 1965, als Andreas Fellinger Geschichte des Hauses. Zu bestaunen war eine Jandl vor rund 7.000 frenetischen Zuschauerin- faszinierende Schau bzw., richtiger, eine Show. nen/hörerinnen und Haschrebellinnen im Beisein Die Ausstellung: Die Ernst Jandl Show, aktuelle Ganz zu Recht fand dieser Begriff Verwendung, von Allen Ginsberg und anderen Heroes dieser Station: Literaturhaus Berlin, 11. März bis 15. Mai zumal er auf die multidimensionale Dimension des Zeit rezitiert, nein, eine Jandl-Show liefert. Pop Der Katalog: Bernhard Fetz, Hannes Schweiger Künstlers Ernst Jandl und seine außergewöhnliche aus besseren Zeiten, sozusagen. Ein vergleichs- (Hg.), Die Ernst Jandl Show, Residenz Verlag, Popularität Bezug nimmt, wie Intendant Wolfgang weise schwacher Trost für Leute, die diese fabel- 160 Seiten, Hardcover (22 x 27 cm), 22.90 Euro Kos im Vorwort zum Ausstellungskatalog erklärt. hafte Ausstellung im Wien Museum versäumt ha- (1. Auflage vergriffen, 2. in Vorbereitung) Bernhard Fetz und (nicht unser) Hannes ben: Noch bis 15. Mai ist „Die Ernst Jandl Show“ Die DVD: Ernst Jandl vernetzt, Multimediale Schwei­ger von der Österreichischen Nationalbib- im Literaturhaus Berlin zu bewundern. Wege durch ein Schreibleben, Zone Media / L. liothek bzw. vom Ludwig Boltzmann Institut ha- Boltzmann Institut / Österr. Nationalbibliothek ben ganze Arbeit geleistet und eine pralle Fülle an ndes ereignete sich nicht nur in der Jandl-Show (nur während der Ausstellung erhältlich) Dokumenten und anderen Ausstellungsexponaten selbst, sondern auch in deren Rahmenprogramm I P.S.: Unmittelbar vor Drucklegung dieser Ausgabe zusammengetragen und thematisch gegliedert: Wundersames. Ernst Jandls Langzeit-Spezi Die- erfahren wir, dass Dietmar Mues von einem Ham- Jandls Herkunft und Einflüsse werden ebenso ter Glawischnig, zuletzt mit dem Jandl-Programm burger Autofahrer tödlich verletzt wurde. Der Mann illustriert wie seine Existenz als experimenteller „jedes ich nackt“ auf Hochtouren, gelang einmal fuhr in eine Gruppe Fußgänger, dabei kamen auch Dichter (Stichwort: konkrete Poesie), als Lehrer, mehr die Symbiose aus Dichtung und musikali- Mues‘ Gattin Sibylle und der Autor und Wissen- als Grenzüberschreiter, als Körperkünstler, aber scher Wahrheit. Mit dabei: der vom alten Meister schafter Günter Amendt zu Tode. Ein Nachruf folgt auch als Lebensgefährte von Friederike Mayröcker einst selbst autorisierte Jandl-Interpret Dietmar in unserer nächsten Ausgabe. – und nicht zuletzt als eingeschworener Jazzfan. Herausragend gelangen die Hör- und Sehsta- tionen im Wien Museum. Etwa wenn er auf hin- reißende Weise ein Dadagedicht von Hugo Ball rezitiert. Oder wenn er einen deutschen Spießer in aller Höflichkeit, aber kompromisslos darauf hinweist, dass Dichtung keiner von außen aufge- zwungenen Norm unterliegt, sondern ihr zuwider handeln muss. Oder der Blick auf die Covers eines Teils von Jandls Plattensammlung, die von Duke Ellington und Dizzy Gillespie über John Zorn und James Blood Ulmer bis zu Yo La Tengo und Patti Smith reichte. Und gleich daneben ein Radioin- Foto: Tamara Dokk-Glawischnig 11 Der Chor macht die Musik

In jener kleinen Welt der Neuen Musik, wo die Diskussion beim groß- oder kleingeschriebenen N/n anfängt, haben wir von der IGNM wieder eine Idee gehabt: Wir wollen eines jener Genres fördern, das im Konzertleben quasi unhörbar geworden ist und für Komponierende kaum mehr eine professionelle Umsetzungsmöglichkeit bietet.

Foto: Ajtony Csaba Foto: Zoldlomb Keskeny

s geht um gegenwärtige Musik für Vokalen- völkerverbindende Hymne schlechthin zu singen. werk: Wie konventionell oder innovativ ist der sembles. Ein vergessenes Genre: Mauricio Man singt „Seid umschlungen, Millionen“ – jenes Vorschlag, welche Chor-Kompositionserfahrungen EKagel, Dieter Schnebel, Otto M. Zykan, Werk, das zur offiziellen Europahymne auserko- hat der oder die EinreicherIn? Hans Werner Henze komponierten dafür, Adriana ren worden ist, und will damit Mulitkulturalität, Hölszky, André Jolivet, Wolfgang Rihm, Jörg Wid- Gemeinsamkeit, Kultur und allen guten Sanges- Gemeinsam mit Ajtony Csaba, dem Leiter des mann, Beat Furrer. Es entstand eine feine Kunst, willen abdecken. von ihm neu begründeten Jeunesse Kammer- manchmal subversiv, in Bewegung dargestellt, Und doch, auch wenn 82.000 im Land singen, chors, haben wir die Auswahl getroffen. In den begleitet, aber nicht übertönt, von Instrumenten. fehlt etwas: Es gibt derzeit bei keinem Konzert- von uns getroffenen Kategorien dürfen an ihren Seit dem Ende des ORF-Chors in den späten veranstalter Österreichs einen Vokal-Ensemble- Aufträgen arbeiten: 80er Jahren gibt es keinen Chor mehr in Öster- Zyklus; nicht nur die Komponierenden, sondern reich, der sich hauptberuflich dem Konzertre- auch die Hörenden haben fast schon vergessen, Vokaltheater/vocal theatre: pertoire widmen kann. Ja, es gibt tolle Chöre, dass es das Stimmen-Hören in feinem Zusam- Mirela Ivicevic den Arnold-Schönberg-Chor, den Singverein der menklang abseits von Bach und Händel und von Samu Gryllus Gesellschaft der Musikfreunde, die Wiener Sing- Opernchören gibt. Was tun? akademie; es gibt Opernchöre, die mit zusätzli- Nachdem wir mit „Musik im Diskurs“ 2010 Nonsense: chen Konzerten die Grenzen ihrer Kapazitäten schon eine Einstimmung versucht haben – bei Ansgar Beste ausloten, guten Willens zwar, aber einfach in Werken von Harnik, Kühr und Logothetis –, rief Brian Harman ihrer Probenzeit begrenzt. Ja, Österreich singt, die IGNM 2010 einen Vokalwettbewerb, einen Ying Wang und gerade wurde die Präsidentin des Chorver- „Call for Scores“ aus: Wir eröffneten drei Kate- Jörg Ulrich Krah bandes Österreich, Dkfm. Anneliese Zeh, mit dem gorien: Nonsense, Vokaltheater und Nicht-litur- Professorinnen-Titel geehrt. Österreich singt, und gische Musik. Nichtliturgische Musik: der ORF filmt mit: beim größten Chor Österreichs. Eingereicht sollten Konzepte werden, nicht Benedikt Burkhardt Der ORF lädt in Zusammenarbeit mit dem öster- vollendete Werke. Und die Jury, die sich aus Vor- Dániel Péter Biró reichischen Chorverband alle Chöre Österreichs standsmitgliedern, aus Chorleitern und Chorleite- zu einem Wettbewerb ein: „eine kulturelle Volks- rinnen, aus Chor-Mitgliedern im In- und Ausland Jetzt komponieren die PreisträgerInnen, und bewegung, wie es sie noch nie gegeben hat“. zusammensetzte, hatte daraufhin eine schwieri- wir bereiten uns auf ein Konzert im Radiokultur- Die Besten werden bei der Eröffnung der Wie- ge Aufgabe. Renate Burtscher, Ingrun Fusseneg- haus vor. Was nicht heißt, das wir vom Vorstand ner Festwochen am 13. Mai 2011 auf dem Rathaus- ger, Steven Takasugi, Simon Vosecek und Bruno die Hand in den Schoß legen. Aber davon das platz teilnehmen, die Anderen an Außenstellen Strobl zerbrachen sich den Kopf: Ist das Konzept nächste Mal. Irene Suchy in den Bundesländern. Tausende sollen sich auf spannend, trauen wir dem Komponisten oder der dem Wiener Rathausplatz versammeln, um die Komponistin die Vollendung zu? Und das Hand-

12 ordnet kaum ein, von gelegentlichen Verweisen auf die Literatur abgesehen. Transferdenken, das z.B. auch die Begrifflichkeit reflektiert, in der über Vertikale Musik sogenannte frei improvisierte Musik, gerade auch von vielen Musikern wie Oxley selbst gesprochen wird: Davon findet sich leider nichts dergleichen. Kurth lässt Oxley (was ihm als Musiker nicht zu verdenken ist) immer wieder auch typische Leer- nzählige Stunden hat der Journalist Ulrich stalten, die eine Timeline verschleiern und andere phrasen über Improvisation sprechen, ohne diese UKurth, seines Zeichens langjährig tätig für die Höreindrücke bewirken. zu kommentieren. Dies ist schade, aber dennoch WDR-Jazzredaktion und in dieser Funktion auch Nicht von ungefähr war die Musik Weberns birgt diese Biografie viel Interessantes, gerade zu Organisator zahlreicher Projekte mit Tony Oxley, eine der bedeutendsten Impulsgeber für Oxleys den Anfängen der frei improvisierten Musik. mit dem Schlagzeuger und Perkussionisten Ge- eigene Gedankenfindung, wurde doch die Fra- Nina Polaschegg spräche geführt. Die Anfrage, doch seine Biografie ge nach einem neuen Zeitverständnis auch in zu schreiben, kam vom Musiker selbst, einem der Komponistenkreisen der Zeit heftigst diskutiert. Ulrich Kurth, The 4th Quarter of the Triad. Pioniere der frei improvisierten Musik in Europa, Und Oxley interessierte sich durchaus für dieses Tony Oxley – Fünf Jahrzehnte improvisierter Musik dessen Eigenleistung als solche manchmal tat- Geschehen. Pausendurchsetzte, unabhängige Ein- Wolke Verlag, 256 Seiten, 24 Euro sächlich zu wenig wahrgenommen wird. In acht zelereignisse statt linearen Entwicklungen, den Kapiteln erzählt Kurth Historisch-Biografisches Augenblick im Fokus statt eines melodisch-rhyth- als Hintergrund für die ausführlichen Beschrei- misch-harmonischen Ziels vor Augen, scheinba- bungen verschiedener zentraler Besetzungen und re Statik statt horizontaler Bewegung, lose, aber Analysen wichtiger Konzerte und Tonträger. Er nicht völlig unzusammenhängend; so beschreibt geht mehr oder weniger chronologisch vor, auch Tony Oxley immer wieder sein Konzept der ver- wenn die Unterkapitel, die meist entweder Kern- tical music. Dass er manchmal auch übers Ziel besetzungen Oxleys und/oder wichtigen musika- hinausschießt und sein eigenes Konzept ziemlich lischen Weggefährten gewidmet sind, gelegent- dogmatisch wirken kann, wird v.a. dann deutlich, liche Sprünge notwendig machen. Ästhetische wenn er seine Musik als demokratische Selbstbe- Positionen Oxleys werden meist nicht gesondert hauptung adelt und im Gegensatz dazu in Evan abgehandelt, sondern in den Textfluss integriert. Parkers zirkulargeatmeten Klangströmen schon Die wohl wichtigste Entwicklung Oxleys Tendenzen zu einer Entfremdung (hin zum kom- (u.a. zusammen mit den Kollegen seines frühen merziellen Markt, so scheint durch) sieht. Hier Joseph Holbroock Trios, mit dem er schon Mitte und gelegentlich auch in Andeutungen andernorts der 1960er Jahre den Weg in die freie Improvisa- offenbart sich dann doch nicht allein der sich ein tion erkundet hatte) ist seine Auffassung einer wenig von der Improvisationsgeschichtsschrei- „vertical music“, die er von einer „horizontal bung vernachlässigt fühlende Improvisator Oxley, * „Meine Damen und Herren: Wer wirklich ein music“ abgrenzt. Horizontal, so Oxley, verlaufe sondern auch derjenige, der plakativ den – Ver- Tröpfchen auf dem heißen Stein zur Weltenver- nicht nur der Jazz, sondern jegliche time-bezo- zeihung – Größenwahn vieler Kulturschaffender besserung beitragen möchte, der gehe doch bitte gene Musik. In vertikaler Musik gehe es darum, reproduziert, die immer noch die Ansicht vertre- nach Bangladesh und helfe vor Ort, unterstütze die ein alternatives Ordnungssystem zu entwickeln, ten, sie seien schon aufgrund ihrer Kunst kleine Ärzte ohne Grenzen, sorge dafür, dass Kinder in Kin- eher Klangblöcke und Texturen zu schichten, dem Weltenverbesserer.* derheimen in Sri Lanka nicht fast verhungern müs- Sound höchste Priorität einzuräumen. Für Oxley Ulrich Kurth sammelt Fakten, O-Töne des sen ... – aber der sei ehrlich zu sich und gestehe ein, als versiertem und gefragtem (Jazz-)Schlagzeu- Prota­go­nisten und vieler seiner Weggefährten, er dass die Musik selbst keine politische Aktion sein ger bedeutete dies in rhythmischer Hinsicht z.B. fasst zusammen. Leider kommentiert er selten, er kann. Auch wenn man sich als Kulturschaffender komplexe rhythmische Verschachtelungen zu ge- interpretiert so gut wie gar nicht, vergleicht wenig, dies als Ziel seiner Arbeit gerne wünschen würde.“

„RAF-Terrorist“ gefasst, geriet in eine Schieße- raum für nachrufe rei, verletzte dabei einen Polizisten schwer und wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt, von denen Peter-Paul Zahl (1944—2011). er zehn absitzen musste. 1979, während seiner Haft, erschien Zahls Roman „Die Glücklichen“, Der deutsche Schriftsteller Peter-Paul Zahl war das zu einem Kultbuch der „68er Generation“ in den 1960er Jahren aktiver Teil der Studenten- avancierte. 1985 übersiedelte er nach Jamaica, bewegung und der Außerparlamentarischen Op- wo er weiterhin schrieb, vor allem Schelmenro- position (APO). Der gelernte Offsetdrucker gab mane, Texte zu seiner deutschen Vergangenheit „Spartacus. Zeitschrift für lesbare Literatur“ und und – mehrfach ausgezeichnete – Krimis. Am die anarchistische Zeitschrift „Agit 883“ heraus 24. Jänner ist Peter-Paul Zahl 66-jährig in Port und schloss sich der klandestinen Organisation Antonio/Jamaica verstorben. „Up against the wall, Motherfuckers!“ an, die darauf spezialisiert war, schwarzen GIs aus Ber- liner Kasernen die Flucht nach Schweden zu ermöglichen. 1972 wurde er als mutmaßlicher

13 k u r z & g u t

James Blood Ulmer „Odyssee“, dürfen sie dann jeweils ein Solo absolvieren, der Soundtheatre Wels, 8. Februar Charles Burnham an der Geige und der Warren Benbow am Schlagzeug. ie Alten sind viel cooler als die Jungen, Teil D2. Es könnte theoretisch als Redundanz aus- Zusammenfassung: Der Sound dieses Trios gelegt werden, wenn James Blood Ulmer sein ist unsterblich, erst recht in jener Transparenz Odyssee-Projekt eins zu eins so interpretiert wie wie im Soundtheatre. Man möchte ihm stunden- schon vor 25 Jahren. Oder waren es 125? Nein, wenn nicht tagelang lauschen, Ulmer durchsetzt man schrieb das Jahr 1983, in dem eine Studio- ihn mit intelligenter Groove und lässt die tiefe, und eine Live-in Montreux-Platte des Odyssee- sexy Stimme vibrieren. Extrem charmant. Den Trios herauskamen. Und eins zu eins stimmt Inhalt versteht man nur unzureichend, meistens auch nur bedingt, zeigt „Blood“ sich heute etwas geht’s wohl um Frauen, die den Sänger bzw. sei- weniger fingerflink und flexibel als damals. Un- ne Protagonisten verlassen haben, warum auch gebrochen gilt freilich: Wozu ein Plektrum, wenn immer, eh wurscht. So geht das ausgiebig dahin – ein Daumen auch genügt? Praktisch haben wir es bis ein ausgesprochen gut gelaunter James Blood allerdings mit einem coolen Hundling zu tun, der Ulmer auf die Uhr blickt und mit den Worten „My seine Sache, die wir jetzt kurzerhand Free-Blues goodness!“ den Lauf, nein, den Flug der Zeit be- nennen wollen und den er vor Lichtjahren bei Or- klagt. Die Zugabe spielen wir lieber gleich jetzt, nette Coleman gelernt hatte – Stichwort: Harmo- sagt der Sitzgitarrist Ulmer, dann sparen wir uns lodics – und in der „No Wave“-Bewegung auf die das Hinaus- und wieder Hereinkommen, wenn Spitze seiner Zeit trieb, so unablässig wie lustvoll ihr einverstanden seid. Jungsein und die Regeln in die Gegenwart fortsetzt, dass sie immerfort brechen hat nämlich nix mit Kindereien zu tun. nach Zukunftsmusik klingt. Seltsamerweise ver- Sondern ein bissel mit Bequemlichkeit und viel halten sich Bloods Kollegen viel zu respektvoll mit Coolness. Siehe oben. Andreas Fellinger dem alten Meister gegenüber, fordern ihn viel zu wenig heraus. Ja nichts falsch machen, brav sein, gute Noten kassieren, so in der Art. Dafür

Foto: Thomas Hellmaier

raum für notizen

escheiterte Geschichte. Geplant war eine Ge- * Fragen an Wolfgang Schlag: über so etwas wie ein Monopol auf migrantische Gschichte in der Reihe „Sounds of Migration“ Musiken in Österreich? zum Thema der von Wolfgang Schlag (ORF, Festi- 1 5 val „Glatt und Verkehrt“) von Lotus herausgege- Herr Schlag, Sie haben – mit Unterstützung Nach welchen Kriterien haben Sie die vielen benen 4-CD-Box „Migrant Music Vienna“. Darauf durch die Stadt Wien – nicht weniger als vier Beiträge der „Migrant Music Vienna“ ausge- versammelt sind Musiken von nicht weniger als CDs unter dem Titel „Migrant Music Vienna“ sucht? Bieten Sie einen Querschnitt durch alles, 61 Bands aus 41 Ländern, die, temporär oder für auf Lotus Records herausgegeben. Was hat Sie was in Wien an Musik vorhanden ist? Haben Sie immer, in Wien aktiv waren bzw. sind. Nach an- zu dieser umfangreichen Publikation bewogen? etwas bewusst ausgelassen, und hegen Sie Vor- fänglicher Bereitschaft geruhte Herr Schlag, unse- 2 lieben ästhetischer oder (kultur)politischer Art? re (selbstverständlich kritischen) Fragen* lieber „Ich kann mich gar nicht entscheiden. Ist Wenn ja, welche? doch nicht zu beantworten und auch mehrfa- alles so schön bunt hier“, sang einst Nina Ha- 6 ches Nachfragen zu ignorieren. Gut, dann an- gen auf ihrer ersten Platte. Welchen Stellenwert Ziemlich oft taucht in den liner notes bzw. in dersrum, denkt sich – naiverweise, wie sich bald nimmt diese Buntheit der vielen Wiener Musiken den Besetzungslisten der Name Otto Lechner auf. herausstellen sollte – die Redaktion und befragt für Sie ein? Inwiefern war der Akkordeonist wichtig für die sieben der an der CD-Box beteiligten Musikerin- 3 Zusammenstellung dieser 4-CD-Box? nen. Ohne damit zu rechnen, dass auch diese In welchem Verhältnis stehen in Ihren Am- 7 – mit der einzigen, löblichen Ausnahme von Alp bitionen die emanzipativen Bestrebungen mi- Wie würden Sie allgemein das gesellschaft- Bora – jegliche Auskunft verweigern. Aus dieser grantischer Musiken zu ihrem Dekor bzw. zur liche Klima in Wien beschreiben? Worin sehen merkwürdigen, gescheiteren Geschichte drängen Behübschung (harter) Alltagsrealität? Anders Sie die Gründe für das aktuelle Wahlergebnis, sich weitere Fragen auf: Ist die österreichische gefragt: Wie wichtig sind Ihnen die Menschen das nicht weniger als 26 Prozent für eine rechts- Weltmusikszene a) unkommunikativ?, b) unko- hinter den Musiken? extreme Partei brachte, die alles (ihr) Fremde operativ?, c) uninteressiert?, d) sprachlos?, e) 4 mit Mitteln bekämpft, die in zivilisierten Staaten hermetisch abgeriegelt? oder gar f) Mafia-ähnlich Sie moderieren im ORF-Bildungssender Ö1 selbstverständlich untersagt sind? strukturiert? Wir werden es solange nicht wissen, Weltmusiksendungen und organisieren auch bis uns jemand darüber aufklärt. das Festival „Glatt und Verkehrt“. Verfügen Sie

14 K l e i n e L abelkunde (15)

Jost Gebers mit William Parker, 1998, © Dagmar Gebers / FMP Publishing

„Es fing an 1968, zum ersten von Berliner Musikern organisierten Anti- Festival, das eine hitzige Kampfansage an die an die Berliner Jazztage war. Geburtsort war das Undergroundlokal ‘Quartier des Quasi­modo‘, ein finsteres Loch. So erbost war man in den Sturm-und-Drang-Zeiten einer neuen Generation von Musikern auf die gesamte etablierte Szene, dass Jazzkritiker, wie ein handgemaltes Schild am Eingang warnte, den doppelten Eintrittspreis zu zahlen hatten. Der Autor schwieg beschämt über seine Profession.“ Die Geschichte eine Vorreiterrolle eingenommen, sondern auch Zeitpunkt der europäischen Studentenbewegun- betreffend der Organisation von Konzerten und gen 1968, um die bereits erwähnten Musiker Mit obigen Worten beginnt der Jazzkritiker Festivals mit Musikern dieses Zirkels. Namen Brötzmann, Kowald, Schlippenbach und Jost Ge- Werner Panke im Jahr 1975 seine Erinnerungen wie Brötzmann, Kowald, Schlippenbach, Reichel bers (er spielte damals noch Bass), stellte es sich ans erste Total Music Music Meeting, aus dem u.v.a.m. sind untrennbar mit FMP verbunden. FMP neben den Konzertaktivitäten zur Aufgabe, bald die Free Music Production hervorgehen soll- Die seit 1968 als Alternative zu den mit Starauf- anhand von Tonträgern auf unabhängige Weise te. Fast ein Vierteljahrhundert später, 1999, bi- geboten der Mainstream gespickten Jazzevents europäische, frei improvisierte, akustische Musik lanziert Hannes Schweiger in Jazzlive #125 unter veranstalteten Konzertreihen „Total Music Mee- zu veröffentlichen. Der Löwenanteil der Aufnah- dem Titel „European Echoes of a Living Music“ ting“ und folglich „Workshop Freie Musik“ sind men, und daran hält man bis heute fest, entstand 30 Jahre Free Music Production: aus der europäischen Veranstaltungslandschaft bei den Konzertveranstaltungen. Jost Gebers, der „... Wohl kein anderes Label ist in den letzten nicht mehr wegzudenken und gelten heute als alsbald sein Instrument beiseite legte, nahm in drei Dekaden des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten internationalen Präsentati- Personalunion als Produzent, künstlerischer Lei- so unmittelbar mit der Entwicklung der europäi- onsforen improvisierter Musik. Zudem hatte das ter und Tontechniker fortan die Geschicke von schen Free Music/Improvisierten Musik in Verbin- Auftauchen der FMP die Gründung ähnlicher FMP in die Hand. dung zu bringen wie die 1968 ins Leben gerufene Initiativen innerhalb Europas zur Folge (ICP, BV- Später kam Dieter Hahne, der sich um die Plattenfirma Free Music Production, kurz FMP. HAAST, Incus). kaufmännischen und organisatorischen Belange Doch nicht nur hinsichtlich der Produktion von Doch zurück zur Tonträgerproduktion. Ge- kümmert, hinzu. Bis dato ist FMP keine Platten- Tonträgern mit frei improvisierter Musik hat FMP gründet als Kooperative, nicht von ungefähr zum firma nach gängigem Muster und als Non-Profit-

15 Unternehmen konzipiert. 1969 erschien die erste Der Verlag ganzen Reichtum dieser vier Jahrzehnte, der die LP mit dem Manfred Schoof Orchestra, in dem fast ganze Zeit über ein symbolischer, nie ein öko- alle namhaften freien Improvisatoren jener Zeit Der 1985 von Jost Gebers gegründete FMP Mu- nomischer Reichtum war, widerspiegelt: FMP, Im vertreten waren. Titel: „European Echoes“. Die- sikverlag wurde 1992 von Anna Maria Ostendorf Rückblick – In Retrospect, 1969-2010. ser unterstrich das anfängliche Hauptaugenmerk, übernommen und unter dem Namen FMP-Publi- Auf 218 Seiten im Format 30,5 mal 30,5 Zen- das auf der Dokumentation der Entwicklung der shing weitergeführt und intensiviert. Grund für timeter findt sich jede Menge an Texten, Statisti- europäischen (deutschen) Free Music lag. Koope- diese Aufteilung war, mit der Verlagsarbeit eine ken, Aufzählungen – und viele fantastische, von ration mit ähnlich denkenden oben erwähnten Or- größere Effizienz zu erreichen, da diese umfang- Dagmar Gebers fabrizierte Fotos aus vier Dekaden ganisationen und deren MusikerInnen in Europa reiche Arbeit bei der Free Music Production (FMP) Free Music Production. stellten sich alsbald ein und unterstrichen die quasi nur „nebenbei“ erfolgen konnte. Neben den Wolfram Knauer vom Jazzinstitut Darmstadt internationale Bedeutung der FMP-Familie. Einer verlagsüblichen Arbeitsfeldern (Registrierung, eröffnet – nach einer, mit Tinte und Gouache ihrer weiteren großen Verdienste war, dass sie als Einstufung, Kontrolle der Abrechnungen) fand (das Original misst 120 x 100 cm) auf Leinwand erste, und dies bereits in den 70er Jahren, mit Hil- seitdem eine deutlich verstärkte und zusätzliche gemalten Würdigung durch Peter Brötzmann – fe der Musik symbolisch die Mauer niederrissen Promotion für die CDs des FMP-Labels statt und mit einem historischen Abriss aus subjektiver und Kontakt bzw. Austausch mit den kompro- damit auch eine stärkere Präsenz in der Öffent- Perspektive den Reigen applaudierender Autoren misslosen Improvisatoren der ehemaligen DDR lichkeit. Zusätzlich wurden auf Wunsch einiger (Autorinnen kommen nicht zu Wort). Von den pflichten und deren Musik erstmals im Westen Musiker, deren Eigenproduktionen und/oder deutschen Musikjournalisten erinnert Felix Klo- veröffentlichten. Veröffentlichungen bei anderen Labels in diese potek u.a. daran, dass die Krise kein Phänomen Apropos international: Der Kontakt zu ameri- Promotion einbezogen. Daneben wurden in loser der Jetztzeit ist. „... in den angeblich so goldenen kanischen Innovatoren konnte nicht ausbleiben. Folge auch umfangreiche Noten Editionen erstellt, 70er und 80er Jahren stand das Label kurz vor Einer der ersten, der zum FMP-Zirkel stieß, war und zwar nicht nur der mit FMP verbundenen dem Aus. Ohne den Zuspruch von außen hätte Steve Lacy. Es folgten Projekte mit Frank Wright, Musiker/Komponisten. Gebers hingeschmissen: Mal intervenierte Peter Noah Howard, Andrew Cyrille u.a. Diese Initia- Da die Bemusterung der Medien durch die Brötzmann, der sich wie kein anderer Musiker tiven gipfelten in der 1986 begonnenen Zusam- Lizenznehmerin bereits im ersten Jahr der Ver- für das Label engagierte und mit einer wahren menarbeit mit dem Phänomen . Bis tragslaufzeit mehr als zu wünschen übrig ließ, Flut an Zukunftsplänen Gebers überzeugte, das heute ist die Zusammenarbeit mit herausragenden wurde von FMP-Publishing eine CD-Kleinserie Label noch weiterzuführen. Mal war es eine kluge US-amerikanischen Persönlichkeiten ein wichtiger (Auflage je 15 Stück) aufgelegt. Diese Produktio- Kulturpolitikerin wie Nele Hertling, die Gebers in Aspekt in der Veröffentlichungspolitik von FMP, nen sind ausschließlich für Sendezwecke bei den Berlin immer wieder die Räume für freie musikali- und sie bot diesen in ihrem Heimatland jahre- deutschen Rundfunkanstalten vorgesehen – ein sche Erfahrung öffnete ...“ – während Wolf Kamp- lang von den Plattenfirmen negierten Musikern Verkauf wurde ausgeschlossen. Inhaltlich handelt mann seinen Textbeitrag auf die kritischen Jahre die Möglichkeit für unabhängige Plattenproduk- es sich um ehemalige LP-Titel, Alternative Takes ab 1998 konzentriert, als das Label ein weiteres tionen. Der Austausch Europa – Amerika, das von zu bereits bestehenden Veröffentlichungen sowie Mal dem Untergang geweiht schien. Verkauf des solch charismatischen Persönlichkeiten wie z.B. um unveröffentlichtes Material. Alle Aufnahmen Labels, Gründung des Verlags, erbitterte Konflikte Butch Morris, Sam Rivers, Charles Gayle, William wurden von Jost Gebers komplett überarbeitet mit Helma Schleif, erbitterte Gegenwehr durch Parker repräsentiert wird, ist auf einer Fülle von und von Jonas Bergler gemastert, in Einzelfällen Gebers‘ Gattin Anna Maria Ostendorf usw.usf. CDs dokumentiert. Höhepunkt war bisher die auch neu gemischt. arbeitet sich in kurzen Themen- grandiose, elf CDs umfassende Edition von Cecil Jost Gebers: „Es geht vor allem um die Kontrol- blöcken am FMP-Phänomen ab und nimmt in Taylors mehrmonatigem Stipendiat in Berlin 1988. le und Anrechnung der Tantiemen und Lizenzen seinem Text besonderen Bezug auf das Verhält- Hiermit wurde der Beziehung zwischen alter und von Kompositionen, die bei FMP verlegt sind. – nis des Labels zu Musikern (keine Musikerinnen) neuer Welt eine völlig neue Bedeutung und Di- Leider bis hin zu Prozessen, wenn die Urheberechte aus der DDR, in der Noglik aufwuchs und aktiv mension erschlossen. ... eklatant verletzt werden! Im Augenblick läuft zum war. Bernd Mehlitz, ehemaliger Musikreferent Ende 1991 stellte FMP die LP-Produktion zu- Beispiel eine Klage gegen einen bekannten Label- am Berliner Kulturamt und Politiker, gegenwärtig gunsten der CD völlig ein, und auch das LP-Archiv betreiber und Veranstalter in Berlin.“ hauptsächlich Maler, bilanziert seine Erfahrungen wurde aufgelöst. Etliche der alten Platten werden mit Gebers, mit dem Total Music Meeting, dem bereits zu Liebhaberpreisen gehandelt. Doch ab Das Buch Label und den jährlich zu vergebenden Kompo- und zu werden, nach Gebers Dafürhalten, legen- sitionsstipendien. däre Aufnahmen auf CD wiederveröffentlicht. Der Jetzt, nach gut 40 Jahren, ist das Label an sei- Der amerikanische Musikkritiker Bill Shoema- CD-Katalog umfasst mittlerweile über 100 Produk- nem Ende angelangt. Nur mehr der Verlag lebt ker parliert in freier Assoziation über die Wahr- tionen (inklusive der zweiten Veröffentlichungs- weiter. Eine bedeutende Ära der improvisierten nehmung von FMP aus US-Perspektive – unter schiene „FMP OWN“, auf der Künstler die Mög- Musik dies- und jenseits des großen Teichs liegt in besonderer Berücksichtigung seines persönlichen lichkeit zu Eigenproduktionen haben). Mit den den letzten Zügen. Ein durchaus folgenschwerer Anhaltspunkts freier Musik in Europa, Alexander Möglichkeiten der CD kann jetzt noch effizienter Anlass für Jost Gebers, der diese Ära mitgeprägt Schlippenbachs „The Living Music“. Und als ein- dem „Work in Progresss“-Charakter improvisier- hat wie kaum ein anderer, um ein wahres Mons- ziger Musiker kommt Ken Vandermark zu Wort. ter Musik Rechnung getragen werden, und auch terunternehmen zu bewerkstelligen. So legt er am Sein „Blick von außen“ reflektiert sein frühes In- mit dem optischen Erscheinungsbild geht FMP Ende der äußerst lebhaften Labelgeschichte ein teresse am FMP-Universum, ausgelöst durch Pe- eigene ästhetische Wege. ...“ in jeder Hinsicht luxuriöses Paket vor, das den ter Brötzmanns „Machine Gun“-Album, das ihm

16 sein Freund, der Musikwissenschafter, Journalist, Speicher (as), Heiner Reinhardt (ts), Gert Anklam Veranstalter und mittlerweile Galerieleiter John CD 02 (FMP CD 138): In Berlin / Steve Lacy - (bs), Johannes Bauer (tb) Corbett vorspielte. Dieses Interesse führte auch Solo 1975 & Quintett 1977 – Unveröffentlicht. Liner Notes: Bert Noglik zur persönlichen Bekanntschaft zu Brötzmann, – Steve Lacy (ss), Steve Potts (as) Irène Aebi CD 10 (FMP CD 146): Live In Berlin / MANU- der nach einem Auftritt des NRG-Ensembles ihn (c), Kent Carter (b), Oliver Johnson (dr) ELA plus 1999 und Mars Williams umarmte und sagte: „Ich er- – Reissue: Solo (LP Stabs) & Quintet (2. Seite – Rüdiger Carl (cl, akk, claviola), Jin Hi Kim kenne mich in eurem Spiel wieder.“ Die weitere Follies). Liner Notes: Bill Shoemaker (komungo), Hans Reichel (g, dax), Carlos Geschichte darf als bekannt vorausgesetzt wer- CD 03 (FMP CD 139): Messer und… / Schwei- Zingaro (v) den: die Gründung des Chicago Tentet, finanziert zer/Carl/Moholo 1975/77 – Unveröffentlicht. Liner Notes: Felix Klopotek aus Vandermarks McArthur-Preisgeld, und was – Rüdiger Carl (as, ts, cl, fl), Irène Schweizer – CD 11 (FMP CD 147): Was Da Ist (live) / alles daraus entstand und immer noch entsteht. (p), Louis Moholo (dr) Peter Kowald 2000 Besonderen Respekt nötigt Vandermark die ins – Reissue: LP Messer & 1. Seite Tuned Boots. – Peter Kowald (b, voc) Leben gerufene Musiker-Selbstermächtigung und Liner Notes: Ulrich Kurth – Unveröffentlicht. Liner Notes: Ulrich Kurth die Kontinuität der Free Music Production ab. CD 04 (FMP CD 140): At Quartier Latin / – CD 12 (FMP CD 148): Stretto / Tristan Über die genannten Texte und die Fülle an Schlippenbach Quartet 1975/77 Honsinger & Olaf Rupp 2010 phänomenalen Bildern hinaus finden sich im – (ss, ts), Alexander von Schlip- – Tristan Honsinger (c), Olaf Rupp (g) FMP-Rückblick eine Dokumentation aller live penbach (p), Peter Kowald (b), – Unveröffentlicht. Liner Notes: Clifford Allen und/oder auf CD vertretenen Musikerinnen, sämt- (perc) FMP, Im Rückblick – In Retrospect, 1969-2010 licher Festivals und Einzelkonzerte, ein Auflistung – Reissue: LP The Hidden Peak & 2. Seite Mit Beiträgen (alle Artikel in Deutsch und Eng- aller Workshops und sonstigen Specials – sowie Three Nails Left. Liner Notes: Klaus Kürvers lisch) von: Wolfram Knauer, Felix Klopotek, Ken ein Katalog aller erschienenen LPs, Singles, CDs & CD 05 (FMP CD 141): Wolke in Hosen / Brötz- Vandermark, Bert Noglik, Bill Shoemaker, Wolf LP/CD-Boxen samt Covers. Ein Prachtband. mann Solo 1976 Kampmann, Bernd Mehlitz sowie Statements von – Peter Brötzmann (cl, sax) Peter Brötzmann & Jost Gebers Die CDs – Reissue: erste Brötzmann-Solo-LP. Liner Fotos von Dagmar Gebers, Auflistung aller Dem LP-Format des Buchs entsprechend (12 Notes: Thomas Millroth Künstler/Musiker und Projekte seit 1968, Kata- inch), umfasst die FMP-Box im Umfang von nicht CD 06 (FMP CD 142): UND?...plus / Malfatti/ logteil mit allen LPs, Singles und CDs plus Covers, weniger 32 mal 32 mal 5 Zentimeter folgende Wittwer 1977 218 Seiten + 12 CDs, 250 Euro zwölf CDs, die alle auch einzeln erhältlich sind: – Radu Malfatti (tb), Stephan Wittwer (g) – Reissue: LP UND? & Bonus Track. Liner www.fmp-publishing.de CD 01 (FMP CD 137): Baden-Baden ’75 / Glo- Notes: Felix Klopotek be Unity Orchestra & Guests 1975 CD 07 (FMP CD 143): Piano Solo / Fred Van – Enrico Rava, Manfred Schoof, Kenny Wheeler Hove 1981/86 (tp), Anthony Braxton (as), Peter Brötzmann – Fred Van Hove (p) (sax, cl), Rüdiger Carl (as, ts), Gerd Dudek – Reissue: LP Prosper 1981 & LP Die Letzte (ss, fl), Evan Parker (ss, ts), Michel Pilz 1986. Liner Notes: Rob Leurentop (bcl), Günter Christmann, Albert Mangels- CD 08 (FMP CD 144): Close Up / Die Like A dorff, Paul Rutherford (tb), Alexander von Dog 1994 Schlippenbach (p), Peter Kowald (b, tuba), – Peter Brötzmann (sax, tarogato, cl), Toshinori Buschi Niebergall (b), Paul Lovens (dr) Kondo (tp, e), William Parker (b), Hamid – Unveröffentlicht (Ausnahme: “Jahrmarkt” Drake (dr, perc) von Kowald, erstveröffentlicht bei PoTorch Unveröffentlicht. Liner Notes: David Keenan als LP) CD 09 (FMP CD 145): Choral-Konzert / Man- – Liner Notes: G. Fritze Margull, Alexander fred Schulze Bläser Quintett 1998 von Schlippenbach/Rüdiger Carl, Martin – Paul Schwingenschlögl (tp), Manfred Hering

freiSpruch Das Haus, in dem die verschwundenen Schriftsteller lebten, lag in einer riesigen Gartenanlage mit vielen Bäumen und Blumen und einem Schwimmbecken, um das herum weiße, gusseiserne Tischchen und Liegestühle gruppiert waren. Im hinteren Teil, im Schatten hundertjähriger Eichen, befand sich ein Boule-Platz, und dahinter begann gleich der Wald. Als sie ankamen, saßen die verschwundenen Schriftsteller im Speisesaal beim Essen und verfolgten im Fernsehen die Nachrichten. Es waren viele Schriftsteller, und fast alle Franzosen, was Archimboldi überraschte, der niemals gedacht hätte, dass Frankreich so viele verschwundene Schriftsteller besaß. aus: Roberto Bolaño, 2666, Verlag Hanser

17 Hört, Hört!

ONJT+ STEAMBOAT SWITZERLAND / bells FELIX PROFOS get out of my room ONJT+ P l a t t E N V o n 2 6 6 6 lonely woman Grob / No Man’s Land / rec: 08 beide: Doubt / rotelaterne.at / rec: 10 Dominik Blum (h-org, e, synth, voc), Marino Otomo Yoshihide (g), Mizutani Hiroaki (b, Pliakas (b), Lucas Niggli (dr, perc) ANGÉLICA CASTELLÓ SOHRAB Das Naheverhältnis von Lucas Niggli im kalimba), Yoshigaki Yasuhiro (dr, perc) + bestiario a hidden place (LP) Sachiko M (sinus), Jim O’Rourke (synth) besonderen und Steamboat Switzerland im allge- Angélica Castelló (voc, paetzold-fl, p, ukulele, toys, Touch / Cargo/Dense / rec: 10 meinen zum Schweizer Komponisten Felix Profos Zwei individuelle Lieblings-, wenn nicht field-rec) Sohrab Sepehri (e, samp, field-rec) wurde in freiStil #35 hinreichend thematisiert. gar Initiationsstücke legt Otomo Yoshihide in sei- mosz / mosz.org / rec: 07-10 Hier folgt – nach der prächtigen „Profos“-Per- nem New Jazz Trio+ vor. His favourite things. Auf Sohrab hat seinen Namen aus einem cussion-Platte von Niggli & Zumthor – die etwas zwei Platten, die dieser Teufel von einem Gott an „Außerdem bin ich gerade mit Mons- Gedicht und bedeutet soviel wie „rotes Wasser“, härtere Probe aufs Exempel – und greift in bester einem einzigen Tag eingespielt hat. Wer werden tern wegen meiner neuen Solo-CD ‚Bestiario‘ aber auch „Blut“. Er ist daheim in Teheran, Stonerrock-Manier von Beginn an in die Vollen. den 5. August seit dem Jahr 2010 als Otomo- beschäftigt.“ Das gestand, damals noch et- gründete eine Punkband, verlegte sich auf Solo- Ein Drone geht auf Reisen. Verzwickte Rhythmik, Coverversions-Tag zu begehen haben. Hier finden was kryptisch, Angélica Castelló im Zuge des Elektronik, lebt völlig isoliert vom Kunst- und mit den Mitteln der Brutalität vereinfacht und auf sich zwei Versionen von Albert Aylers „Bells“, freiStil-Gesprächs über die „Mole“-Platte des Weltgeschehen da draußen in den westlichen den Punkt gebracht. So gesehen, ist „Get out of zuerst als Single herausgebrachte Live-Aufnah- Low Frequency Orchestra mit Wolfgang Mitterer. Metropolen und sucht gegenwärtig um den Sta- my room“ die beste Melvins-Platte seit Jahren. me aus 1965, dort sechs Interpretationen von Verglichen mit so manchem Früh(reif)werk ande- tus als politischer Flüchtling an. Annäherungen Insgesamt sechs Versionen von oder Annähe- Ornette Colemans „Lonely Woman“, dem ersten rer, hat sich Castelló für ihr Solo-Debüt lange Zeit an diese Metropolen sind stets mit weiten Umwe- rungen an Profos‘ Titel-gebendes Stück lockert Track auf „Shape of Jazz to come“, 1959. Zwei gelassen. Jetzt, zum genau richtigen Zeitpunkt, gen verbunden. Aber mit welcher Brillanz er diese das wüste Trio mit ebensolchen Improvisationen Referenznummern, die im Bühnenleben Otomos wie im Nachhinein gesagt werden muss, kommt Umwege geht! Weitläufige, hektargroße Klang- auf – sofern an den Begriff der Auflockerung in immer wieder und immer in verschiedenen Zu- „Bestiario“ als vielköpfige Gestalt ans Tageslicht. flächen gehen auf sein künstlerisches Konto, dieser Mischbeton-Dichte überhaupt gedacht sammensetzungen bzw. Kontexten aufgetaucht Weder voreilig noch unmotiviert noch torschluss- Sphärisches und Atmosphärisches finden sich werden darf. Härte und Hitze werden verlangt. sind. Wie Leuchtbojen aus einem Meer, einem panisch. Individuell krass unterschiedlich, aber darin im Überfluss. Rätselhaft genug, wie dem Immerhin absolvieren diese fünf Improvisationen „ocean of sounds“, wie David Toop seinen mitt- ihren unterschiedlichen Individuen markant und Iraner an einer weit entfernten Ecke der Welt die- den Canossagang durch die Mikrowelle, von der lerweile Klassiker zeitgenössischer Musiklitera- perfekt angemessen strukturiert Castelló ihre sen Sound gewinnt; den typischen Touch-Sound, „first heat“ bis zur „fifth heat“. Das Unwort des tur betitelt hat. Stücke. Immer heftiger wuchernd, gestaltet sich wenn man so will. Die spielerische Anhäufung Zeitmanagements bringt es mit sich, dass wir Der unsterblichen „Lonely Woman“ hul- etwa „La Fontaine 1“, eine achteinhalb Minuten und Schichtung von Klängen, wie wir sie an Bios- lediglich bis zur „second heat“, während der wir digt Otomo gleich zweimal solo. Einmal mit und lange, vorwiegend düstere Musik. Dann hebt die phere, Fennesz, Oren Ambarchi und Philip Jeck allem Anschein nach im Maschinenraum des einmal ohne Strom gewinnt er dem Coleman- Orgel an. Ist es Wolfgang Mitterer, ist es Johann so lieben. Lediglich an einer kurzen Stelle dringt Steamboat untergebracht werden, zeitlich nen- Evergreen erstaunliche Facetten ab, im Trio Sebastian Bach? Eine Tragödie, eine Farce? Egal, Schreigesang aus dem kreativen Klangnebel. Wo nenswerten Umfang errechnen können. Ab dann und erst recht im Trio+ nähert man sich aus wir befinden jedenfalls mitten in Peru, genauer genau wir uns befinden, ist nicht zu eruieren, bis zum bitteren Ende halten sie uns konsequent Blickwinkeln dem Motiv, die sich Ornette wohl nie gesagt in „Lima“. Mit einemmal taucht aus hei- sowohl wegen dieses Nebels als auch wegen der unter der Minutengrenze gedeckelt. Das kannten träumen ließ. Mit einem Paukenschlag kommen terem Himmel, der sich bei Castelló gern etwas Plattenaufschrift, die nicht erkennen lässt, auf wir Landpomeranzen schon von einem Unterneh- die „Bells“ in Fahrt, als handelte sich um die bedeckt hält, einer dieser zauberhaften, anrüh- welcher Seite sich die jeweils drei Titel (Susanna, men namens Naked City. Aber nicht so bei Blum, „Hell’s Bells“ seiner australischen Kollegen aus renden russischen Frauenchöre auf. ‚Ksenia‘ Somebody, Pedagogicheskaya Poema / Himmel Pliakas & Niggli: Die sind nämlich Seefahrer, fes- der Gleichstrom/Wechselstrom-Abteilung. Unter heißt das gute Stück, und es schmückte schon über Tehran, A Hidden Place, Zarrin) befinden. seln uns an Bord der Steamboat Switzerland und betont fieser Beteiligung von Sachiko M und vor die erste Damn!-freiStil-Samplerin. Und weiter Fad im Sinn von esoterisch wird diese Platte den- lassen uns den Miniaturen hinterherhecheln, die allem Jim O’Rourke wird uns der Ayler mit dem geht’s in dieser aufregenden, brodelnden Tonart noch nie – vorausgesetzt freilich, man mag die- sie uns als ozeanische Prügelknaben vorsetzen. Vorschlaghammer eingetrichtert. Hardcore-Free- weit jenseits von l’art pour l‘art. „Ich verwende se schwebenden, abstrakten, sich nicht fixieren Schnell, aber herzlos. En passant (oder wie das jazz vom Gröbsten, aus dem wir bis zuletzt nicht für meine abstrakte Musik immer konkrete An- lassenden Skulpturen, deren konkrete Ausmaße am Wasser heißt) alchimieren sie Komposition heraus dürfen. Soviel Strenge muss sein. Weniger lässe“, erklärt Castelló. Häufig geht es darin um uns Sohrab verheimlicht oder günstigstenfalls als und Improvisation zur Komprovisation. Ah, jetzt brutal, aber um nichts weniger intensiv verläuft Abschiede, um Verluste und um den Neubeginn Echos andeutet. Soziale Plastiken als Spuren im geht ein reinigender Wolkenbruch hernieder, Don- die „Bells“-Auslegung durch Otomos personell danach, wie Andreas Felber in den liner notes he- Sand (© Howard Carpendale) einer Wüste aus ner und Blitz. Sagte schon H.C. Artmann gern: unverstärktes New Jazz Trio. In der Schwerkraft rausarbeitet. So gesehen, ist ‚Bestiario‘ auch ein Sound. „Himmel über Tehran“ heißt, offenbar in Alle Wetter! (felix) liegt die Lyrik, erst am Limit wird es richtig schön. trauriges, vor allen Dingen aber ein drängendes, Anlehnung an den Wim-Wenders-Film, ein Track, Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mitunter gewaltiges, vor Spannung brutzelndes dessen Name pars pro toto für das ganze Album rotiert der gute Albert im Grab – vor Vergnügen. Album. Eine Platte wie ein Thriller. Und eine mit stehen kann. Tolle Platte! vielen kleinen Monstern drin.

ZAVOCC und dem für Dicht- und Kittmasse zuständigen aus Volksmusik & der Zutat von ‚Was auch ben. Die Hörerwartung wird unterlaufen, nicht on tour Elektroniker Raimund Vogtenhuber mit ‚ZaVoCC immer‘. Da sind 15 hochkonzentrierte Details als Gag, sondern mit sinnhafter Notwendigkeit, Zach / zach-records.com / rec: 10 on Tour‘ ein erfreuliches Tondokument auf den einer Erforschungstour der Innenwelten eines einer wirklich stringent nachvollziehbaren Ent- Markt gebracht. Das wirklich schöne CD-Cover Improvisationsensembles entstanden, die beim wicklungsreise auf der Suche nach der Essenz Werner Zangerle (sax), Raimund Vogtenhuber (Artwork: Anna Zangerle) verspricht allerdings Hören Aufmerksamkeit und Ruhe voraussetzen. des musikalischen Miteinanders. Eine lohnende (e), Christoph Cech (p) mehr Idylle, als dann tatsächlich geboten wird. Dafür wird man dann jedoch reich belohnt mit Klangreise an die Gestaden der Kompromisslo- Der in Wien lebende Salzburger Werner Und das ist gut so. Es gibt schon genug von liebenswert vertrackten, unüblichen Klängen, die sigkeit und Integrität. (mitter) Zangerle hat mit Christoph Cech am Klavier diesen ironisch herabgebrochenen Hybriden sich im Ohrgang verhaken und lange dort blei-

18 Hört, Hört!

VIENNA CLARINET CONNECTION ULTRALYD Gitarren, einem Zusammenspiel aus improvi- Mit gleich zwei Alben ruft sich uns der electric woods inertiadrome sierter und notierter Musik, der Verschmelzung Turntablist und Elektroniker Ignaz Schick in Erin- cracked anegg / Lotus / rec: 10 Rune Grammofon / Cargo / rec: 10 der Stile Jazz, Folk, Noise und Ambient sowie der nerung. Ganz so, als ob wir ihn schon vergessen Verbindung musikalischer Aufnahmen, die zu hätten. Mit Dawid Szczesny aus Polen, auch er Helmut Hödl (cl), Rupert Fankhauser, Wolfgang Kjetil T. Moster (sax), Anders S. Hana (g, unterschiedlichen Zeiten und in differierenden ein Elektrolurch, hat Schick schon einmal, da- Kornberger (bcl), Hubert Salmhofer (basset synth), Kjetil D. Brandsdal (b), Morton J. Olsen Kontexten entstanden sind. Herausgekommen mals auf dem NV°-Label, eine Platte eingespielt. horn), Karen Asatrian (keyb), Reinhardt (dr, vibes) ist ein extrem facettenreiches Klangerlebnis aus Das hier ist ein Mitschnitt, der live in Genf ge- Winkler (dr) Die norwegische „Rock in Opposition“- heterogenen Ausgangsmaterialien, die beim Hö- macht und auf Tonträger gepresst wurde. Als ich Was das Musikland Österreich abseits Szene überzeugt und beeindruckt jetzt schon seit hepunkt des Albums mit dem passenden Titel „A das Duo live in Linz sah, wurde mir die Sache des hochsubventionierten Exportartikels ‚Klassik‘ längerem mit Originalität, Radikalität und Offen- Few Plateaus“ in eine durchwegs stimmige song- als feinnervig, auf den mikrotonalen Bereich alles zu bieten hat, zeigt unter anderem dieser herzigkeit. Deren ProtagonistInnen überschreiten writerische Narration gefügt wurden und mit ihren konzentriert bewusst – aber in absehbarer Zeit schöne, in sich schlüssige, mutige Tonträger lustvoll Grenzen, vernetzen unterschiedlichste nicht-linearen Klangverästelungen rhizomartige etwas zu eintönig. Vielleicht funktioniert diese der Formation ‚Vienna Clarinet Connection‘. Die Klangästhetiken und liefern ihren Beitrag, dass Strukturen à la Deleuze und Guattari musikalisch stille Größe optisch weniger als rein akustisch. einzelnen Stücke sind ausschließlich Eigenkom- Rock ein Abenteuer bleibt. Beispiele sind nicht nachzeichnen. (jonk) Immerhin klingt die CD wesentlich besser, als positionen, geben den unangestrengt genreüber- nur Supersilent, Elephant9 oder es die Erinnerung versprach. Um Häuser bes- greifenden Klangvehikeln Zeit für angemessene (siehe weiter unten), sondern auch das eruptiv SCHNELLERTOLLERMEIER ser, weil ungleich spannender, gestaltet sich Entwicklung und bieten so Unterhaltung auf ho- sich gerierende Kollektiv Ultralyd. Die Jungs brei- zorn einen ehmer üttert stem!! die deutsch-italienische Kooperation mit dem hem Niveau und zärtlicher Disparität. Der um- ten einen massiven, brachial gespielten Gruppen- Veto / vetorecords.ch / rec: 10 elektroakustischen Perkussionisten Andrea sichtige, virtuose Holzblasvierer (sie haben alle sound, in dem solistische Alleingänge außen vor Belfi, dessen jüngste Soloplatte an dieser Stelle Andi Schnellmann (b), Manuel Troller (g), eine kammermusikalische Heimat, sind es also bleiben, vor sich aus. Das Epizentrum bilden bereits in Richtung Himmel gelobt wurde. Hier David Meier (dr) gewohnt, diese nuancierten Interaktionsmecha- martialische rhythmische Klangblöcke, getragen ereignet sich bedeutend mehr als mit Szczesny, nismen umzusetzen) wird von den beiden (Wahl-) von den Toms und E-Bass – während subtil ge- „Das Ganze ist ein seltsam‘ Ding!“, und diese Ereignisse gehen nicht ohne gehörige Kärntnern Karen Asatrian (sie stammt aus Ar- spielte Cymbeln flirrende Schlieren ziehen. Jene kommt der Hörerin in den Sinn. Allerdings nicht Abenteuerlust vonstatten. Vor allem Belfis Ein- menien) und Reinhardt Winkler (Steiermark) Klangblöcke explodieren einerseits in simplen, im Sinne des Zitats von Friedrich Schiller, bezogen fallsreichtumg macht „The Myth ...“ zum Gold- kongenial unterstützt und damit zum homoge- monotonen Abfolgen, andererseits in differen- auf ein Worträtsel, sondern auf das musikalische stück. Und weil das Haptische auch immer eine nen Sechser erweitert. Das klingt einmal jazzig, ziert dargebotenen vertrackten Polyrhythmen. Die Schaffen und Selbstverständnis der Schweizer Rolle spielt: Beide CDs sind in schön-schlichtem kantig, poppig, aber immer wie aus einem Guss. Einheiten folgen einer festgelegten Sequenz und Schnellertollermeier. Zusammengesetzt aus den Kartoncover auf dem uruguayischen Label Zarek ‚Museumswalk‘, ‚Funky Blues‘, ‚Psalm‘ und der preschen mit enormer Impulsivität dahin. Das leicht modifizierten Nachnamen Schnellmann, erschienen – und gleichzeitig auf Zangi von Ignaz ‚Tango For VCC‘ ragen aus der interessanten CD Klangvokabular von Saxofon und Gitarre, welches Troller und Meier, die auf der Musikhochschu- Schick. (felix) noch heraus. Aber, das kann man getrost jetzt großteils über diverseste Effektgeräte gejagt wird, le Luzern und der Swiss Jazz School Bern den schon sagen, das kann nicht alles gewesen sein. verdichtet sich darum herum zu dissonanten, Umgang mit ihren Instrumenten studiert haben, WERNER PUNTIGAM & Dieses Projekt sollte uns noch viele Überraschun- teils geräuschdominierten Klangcollagen. Diese bietet der Bandname einen ersten Vorgeschmack MATCHUME ZANGO gen liefern können. (mitter) setzen sich aus kleinen Motiven zusammen, die auf die Schrulligkeit und Eigenheit des Trios. Der maputo repetitiv mit minimalistischen Verschiebungen Sound des Debüts, das auf dem jungen Luzerner ATS / Extraplatte / rec: 10 COLIN VALLON TRIO ausgebreitet werden. Eine temporeiche Musik Label Veto-Records veröffentlicht wurde, ist auch rruga von erheblicher Sogkraft und mit ruppiger Ader. nicht eindeutiger als dessen kryptischer Titel Werner Puntigam (tb, perc, voc), Matchume Zango (perc, steel drums, e, voc) ECM / Lotus / rec: 10 Man könnte es Minimal-Hardcore-Techno- „Zorn einen Ehmer üttert Stem!!”. Dissonante Trash nennen. Die Fetzen fliegen ordentlich im Klanggefüge, freie Improvisation und grooviger Da haben sich zwei getroffen, die unge- Colin Vallon (p), Patrice Moret (b), Samuel „Inertiadrome“-Gebräu. (HAN) Free Jazz wechseln sich ab mit der gitarrenlas- mein lustvoll ein paar gemeinsame musikalische Rohrer (dr) tigen Direktheit noisigen Hardcores, die in ein Runden drehen. Diese langjährige Zusammenar- Wenn man schon die österreichische ALEXANDER SCHUBERT regelrechtes Wummern in den Ohren münden. beit, die in den Projekten ‚Mo Some Big Noise‘ Musikszene lobt, was soll man dann zu den plays sinebag Mitunter knüppelt das Trio munter drauf los und oder dem Ensemble ‚Timbila Muzimba‘ nachzu- lieben Nachbarn aus der Schweiz sagen: Wahn- Ahornfelder / A-Musik/Dense / rec: 10 fährt mit zahllosen halsbrecherischen Breaks in- hören ist, macht die traumwandlerisch sichere, sinn, mehr fällt mir dazu kurz nicht ein, welchen strumentale Achterbahn. Kurzzeitig gehen zwar auf wirklich blindes Verständnis basierende Alexander Schubert (e, field-rec); Gäste: gewaltigen Output an tollen Musikern, Ensemb- bei manchen Stücken etwas die Spritzigkeit und Kooperation so relaxt und unverkrampft groovy. Nora-Louise Müller (cl), Sven Kacirek (dr), les, Projekten es da ständig zu bestaunen gibt. Unbekümmerheit verloren. Aber kompensiert wird Auf dem dicht ausgelegten Perkussionsteppich Jonathan Shapiro (perc), Oliver Schwerdt Wollte man die Übersicht nicht verlieren, müsste das spätestens wieder bei “Love in the Time of wuchtet der Posaunist Puntigam seine Sounds (p), Oliver Gutzeit (sax), Brian O›Reilly (b), man zum eigenen Korrespondenten für diesen Cholera”, bei dem das Wechselspiel von jazzigen ins noisige Getümmel. Das abwechslungsreiche Matthias Koole (g) ‚Musikkontinenten‘ werden. Colin Vallon hat sich Klanggewittern, groovigen Passagen und flirren- Miteinander der beiden Musiker wird durch die beharrlich einen Rang in der ersten Riege der zeit- Auf „Plays Sinebag“ frönt der Komponist, den Gitarren zu einem der Höhepunkte der Fahrt Klammer der kurzen ‚Street Scenes‘ zusammen- genössischen Pianisten erarbeitet. Diese sinnliche Musiker, Multimediakünstler und Festivalkurator gebracht wird. Irgendwo an den Ufern des Vier- gehalten. Das klingt nach authentischen Feld- Genauigkeit, die Transparenz bei aller Introvertiert- Alexander Schubert vermeintlich seinen poppigen waldstättersees feilt ein junges Schweizer Trio aufnahmen und schafft zusätzliche Atmosphäre. heit, macht es für den Zuhörer so spannend, bei Klangvorlieben. Scheinbar zumindest. Schwan- eifrig an seiner Interpretation von “The Shape of Maputo, die Hauptstadt von Mozambique, liefert der Entstehung seiner Stücke quasi live dabei zu kend zwischen arhythmischen Percussions, Jazz to Come”. (jonk) damit den Soundtrack für die feine Kooperation sein. Im Klanglabor wird das Monster geboren, und field recordings, gluckernden Klangschnipseln dieser afro-europäischen Kommunikationsform. siehe da, es ist ein wunderschönes musikalisches und warmen Elektro-Akustik-Passagen, ist das IGNAZ SCHICK & Tänzelnde Rhythmen, nervöse elektronische Kind unserer Zeit geworden. Die Virtuosität des Pi- Album sehr weit von einem zugänglichen Pop- DAWID SZCZESNY Klangsplitter und kunstvoll variierte Polyrhyth- anisten ist nicht der Erwähnung wert, sie wird dem Album entfernt, der der Hörerin prophezeit wird. live in geneva men sind auf dieser CD genauso zu hören wie jeweiligen Stück und seiner Stimmung untergeord- Allerdings war dies von dem Tausendsassa Zarek / Zangi/Dense / rec: 08 sehnsuchtsvoll schmachtende Ruf-und- Antwort- net; Vallon erlaubt sich keine Selbstgefälligkeiten. Schubert, der neben universitären Abschlüssen Sequenzen. Wippende Zehen und lächelnde Ge- Ignaz Schick (tt, objekte, e), Dawid Szczesny Trotzdem darf man die gleichberechtigten Kollegen in Biologie und Informatik auch einen Master in sichter können nicht irren: Musik für Bauch und (e) an Bass & Schlagzeug nicht vergessen. Patrice Multimedialer Komposition an der Hamburger Herz – und hektisch kann man morgen auch noch Moret (u.a. Uri Caine, Ellery Eskelin, Matthieu Mi- Hochschule für Musik und Theater absolvierte ANDREA BELFI & IGNAZ SCHICK sein. (mitter) chel) & Samuel Rohrer (u.a. Charles Gayle, Claudio und gegenwärtig an seiner Dissertation zu ges- the myth of persistence of vision Puntin, Peter Herbert) machen aus ‚Rruga‘ erst tischen Elementen von Kompositionen arbeitet, revisited VERNERI POHJOLA die außergewöhnlich gute Klaviertrioplatte. Wie nicht ernsthaft zu erwarten. Vielmehr liegt der Zarek / Zangi/Dense / rec: 09 aurora einfühlsam und zart da miteinander kommuni- Pop-Appeal von „Plays Sinebag“ in dessen hy- Andrea Belfi (dr, perc, gong, e, loop, ACT / edel Austria / rec: 09 ziert wird, wie liedhaft die Stücke sich zu einem bridem Charakter verborgen: einer Kombination feedback), Ignaz Schick (tt, objekte, bogen, Ganzen zusammenfügen, ist bemerkenswert. Alle aus Elektronika und akustischen Instrumenten Verneri Pohjola (tp), Juhani Aaltonen (fl), e, perc) Sterne für diese Produktion. (mitter) wie Klarinette, Percussions, Saxofon oder Folk- Pepa Päivinen (fl, bcl), Ilmari Pohjola (tb), Aki

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Rissanen (p), Pekka Pohjola, Antti Lötjönen, ÖNCZKEKVIST Elektronik neue klangfarbliche Tiefen beige- AVA MENDOZA Ville Herrala (b), Joonas Riipa, Mika Kallio, o.t. mischt. Bei manchen Songs, wie dem Titeltrack shadow stories Olavi Louhivuori (dr), Antti Tikkanen, Minna Eigenverlag / oncz.org / rec: 10 „Descending“ oder „Ritual Observance“, wabern Resipiscent / resipiscent.com / rec: 06-09 pensola (v), Atte Kilpeläinen (viola), Thomas die amorphen Klangteppiche allerdings scheinbar Manon Bancsich (p), Rudolf Terland Ava Mendoza (g) Djupsjöbacka (c) ziellos wie unmotiviert umher, und die ätherische Bjørnerem, Bernhard Schöberl, Ondrej Sedlák Einen Liebesbrief an unverwüstliche Lie- Der Trompeter Verneri Pohjola, Sohn des Atmosphäre neigt wiederholt dazu, in relative (g), Max Bogner (g, e, voc), Frøydis Dahlø, der schreibt die Gitarristin Ava Mendoza in ihren legendären Pekka Pohjola, legt mit ‚Aurora‘ eine Eintönigkeit umzukippen. Ganz im Gegensatz zu Gabriele Drab, Ruth Kerschner, Stefanie Neu- „Shadow Stories“. Lieder mit Geschichte und mit überzeugende Arbeit vor. Bis auf das Stück ‚Con- spannungsgeladenen Tracks, wie dem Opener huber, Katrin Hauk (fl), Gloria Damijan (toy-p), Geschichten werden in ihrem Solo-Debüt-Album cierto De Aranjuez‘ (Joaquin Rodrigo) stammen „1200 Sundays“ oder dem Höhepunkt „Emanu- Kjetil Hanssen (e, objekte), Agnes Hvizdalek gefeiert. Etliche davon sind Oldschool-America- alle Kompositionen auf dieser CD vom Leader ella“, in dem sich flirrende Gitarrenmelodien ih- (voc), Bernd Klug (b), Réka Kutas (c), Daniel na, einige davon in der recht grobkörnigen Qua- selbst. Als hätte V.P. für jeden einzelnen Titel ren Weg unaufhaltsam durch ein zwölfminütiges Lercher (e), Henrik Munkeby Nørstebø (tb), lität einer Shellack-Ästhetik – in der Ablehnung eine eigene Stimmung gesucht und diese mit den komplexes Netz von impressionistischen Sound- Lucia Vítková (akk), Pavel Zlámal (cl); Gäste: der Glätte der jüngsten Soloplatte von Marc Ribot tollen Musikern, einer interessanten Mischung landschaften bahnen. In der Zusammenschau George Cremaschi (b), Isabelle Duthoit (cl), (siehe freiStil #35) nicht ganz unähnlich. Kein aus gestandenen Routiniers (Juhani Aaltonen, ist die erste Kollaboration von Motzer und Reuter Franz Hautzinger (tp), Manon Liu Winter (p), Wunder, dass Nels Cline, mit dem zusammen sie Pekka Pohjola) und aufstrebenden Jungen, auch sehr gut gelungen und beschreibt trotz zeitweiser Burkhard Stangl (g) in Wels bei unlimited 25 auftrat, ihr in den liner gefunden. Die kompositorisch strikten Vorgaben karger Landstriche beschauliche Inseln betören- Das junge Improvisationsorchester läu- notes Blumen streut und ihrer Saitenarbeit, die werden mit den Improvisationsanteilen klug ver- der Ruhe. (jonk) tet den Ring frei zur nächsten Runde. Ursprüng- bekannte Motive mit unbekannten, überraschen- bunden, und es wird dadurch ein leicht schwe- lich als Kooperation zwischen Freischärlerinnen den Ausbrüchen konfrontiert, aufrichtigen Tribut bender Sound generiert, dem man das Filigrane, DANIEL MARTIN MOORE aus Österreich und Norwegen konzipiert, hat sich zollt. Dem Rezensenten sind die Songs, auf die fein Gearbeitete ob der stupenden Musikalität der in the cool of the day das aus gegenwärtig 32 Musikerinnen im Alter sich Mendozas Interpretationen beziehen, leider Band nicht anmerkt. So soll es ja sein. Wenn man Sub Pop / Trost / rec: 09 von 18 bis 30 Jahren bestehende Ensemble um fast zur Gänze unbekannt, mit einer Ausnahme: beim Titel ‚For Three‘ ein ganz klein wenig an eine tschechische Säule erweitert. Es gastierte Kürzlich hat die deutsche Künstlerin Mi- einer Melodie unter dem Titel „Kiss of fire“, ur- Tomasz Stanko erinnert wird, dann ist das keine eine Woche lang für einen Workshop in Tabor chaela Meise ein Konzeptalbum veröffentlicht, auf sprünglich „el chiclo“. Das schmälert freilich den Kritik, sondern nur ein Hinweis darauf, wohin und wechselte von dort in den Wiener echoraum dem sie alte Kirchenlieder interpretiert. Losgelöst Lustgewinn, der sich gern während des direkten der Zug mit dem Lokführer Verneri Pohjola an der zum Schlusskonzert und ins Orf-Radiokulturhaus vom engeren religiösen Kontext, soll „Preis dem Vergleichs der Auslegungen einstellt. Aber auch Spitze fährt. Überzeugend. (mitter) zur CD-Aufnahme. Das umfangreiche Auskund- Todesüberwinder“ die poetischen Qualitäten die- ohne Vorkenntnisse besticht Ava Mendoza durch schaften von Form, Struktur, Material und Dy- ses traditionellen Materials überprüfbar machen. ihren zupackenden und zugleich verspielten Stil. PHAEDRA namik durch die jungen Experimentellen spiegelt Abgesehen davon, dass die Postironie bisweilen Alter Swing, Psychedelica, Rückkoppelungen, the sea diese Aufnahme eins zu eins wider. Musikalisch bizarre Blüten treibt und der Versuch, historische harter Blues. Meine Favoriten: die aufeinan- Rune Grammofon / Cargo / rec: 10 teilweise ganz unterschiedlich sozialisierte Wirklichkeiten und Traditionen zu adaptieren, der folgenden, assoziationsreich übereinander Ingvild Langgard (voc, g, p, zither, harm, keys, Youngsters praktizieren hier das offene Spiel auch höchst fragwürdige Traditionen mitein- geschichteten „Penumbra: The Age of Almost mbira, div), Henrik Langgard (akk, b), Thora und das Erforschen brauchbarer, nützlicher schließen kann, sollte man im Auge behalten, Living“ und „In My Dreams“. Und so nebenbei Dolven Balke (voc, mbira, zither), Bjarne Handlungsmuster und Texturen. Ohne Hierar- dass Meises Projekt wohl nur so bizarr erscheint, eignen sich die „Shadow Stories“ auch als Platte Gustavsen (harm, cl), Erland Dahlen (perc, chie, ohne Dirigentschaft, aber dafür mit umso weil es in Deutschland mit deutschem Material für den Musikschulunterricht. (felix) säge), Mikael Lindqvist (hammond, keyb, p), mehr Herz und Engagement. Und alles wurde in stattfindet. In den USA, ein „God‘s own country“ Lise Sorensen (v, viola), Kai Svestad (vib), Eigenregie, also selbstbestimmt gestaltet: die wie nur was, gehört solcherlei fix zum ästheti- ANDY MANNDORFF Frode Jacobsen (b, keyb), Ole Oystedal (g), CD, das Booklet (Text: Agnes Hvizdalek, Layout: schen Repertoire. Der aus Kentucky stammende dirt & soil Songwriter Daniel Martin Moore legt mit „In the Rolf-Erik Nystrom (sax) Lasse Marhaug) und vor allem die frische, nichts cracked anegg / Lotus / rec: 10 cool of the day“ einen sehr persönlich gefärbten Mit dem Debüt von Phaedra, hinter dem und niemanden imitieren wollende Musik. Auto- Kommentar zu alten Kirchenliedern und -Hymnen Andy Manndorff (g), Clemens Wenger (p, e), sich die norwegische Sängerin und Multiinstru- nomie rules im ÖNCZkekvist, das unbedingt im vor, die ihn von Kindheit an geprägt hätten. Im Stomu Takeishi (b), Ted Poor (dr) mentalistin Ingvild Langgard aus Oslo verbirgt, Auge behalten und auf die Hereinnahme weite- impressionistischen, filigran-goldenen Gewand Aus der ruhigen Ecke, in der er mit schlägt das Label Rune Grammofon eine eher rer Verbündeter aus anderen Ländern überprüft entfaltet sich dieser sensible Appalachian Soul, seinem letzten hervorragenden Gitarrentrio (mit ungewöhnliche Richtung ein. Bekannt durch werden will. (felix) bisweilen gar mit leicht jazzigem Einschlag, zu Achim Tang am Bass und Reinhardt Winkler am Veröffentlichungen norwegischer KünstlerInnen höchst entspannter Musik. Da singt und jubelt Schlagzeug und der wunderbaren CD-Einspielung im Bereich der experimentellen Elektronika, TIM MOTZER / MARKUS REUTER man voll Zuversicht und Glauben an den großen ‚You Break it – You Own it‘) kurz gewohnt hat, Avantgarde-Jazz oder der improvisierten Musik, descending Hirten, neben einigen alten Hymnen hat Moore ist der großartige, leider viel zu wenig präsente beschreitet „The Sea“ in erster Linie eines: die 1K / Dense / rec: 10 selbst ein paar Songs eingeschummelt, die sich Musiker mit diesem ‚dreckigen Vierer‘ wieder he- Pfade klassischer Singer-Songwriterinnen. Sei es Tim Motzer (g, e), Markus Reuter (g, e); Gäste: nahtlos einfügen. Johnny Cash, natürlich, hat rausgekommen. Manndorff, einer, der sich nicht die vokalbasierte Instrumentierung mit Akustik- Theo Travis (fl), BJ Cole (g), Pat Mastelotto ähnliches Material aufgenommen. Während verbiegen lässt, der zu Recht an sich glaubt, Gitarren, Streichinstrumenten, Akkordeon, Kla- (traps, buttons), Doug Hirlinger (perc) man bei Cash vermeint, dem Leben selbst beim dem Genres und Schubladendenken lächerlich rinette, Piano und viel viel Atmosphäre. Oder Mit „Descending“ erscheint auf 1K Re- Singen zuzuhören, ist die Aufarbeitung Moores erscheinen, hat immer sein ‚Ding‘ gemacht, und der musikalische Kategorienmix aus Folk und cordings die erste Kollaboration zwischen den naturgemäß manierierter, künstlicher. Was in dafür hat ihn der kleine österreichische Markt Psychedelia mit einer Prise Soul. Oder auch der beiden Gitarristen Tim Motzer aus Philadelphia diesem speziellen Fall vielleicht gar kein Nach- dementsprechend rüde behandelt, um nicht zu gewählte Name Phaedra – eine der tragischen und dem deutschen Markus Reuter, der insbe- teil sein muss, ästhetisiert es doch den Inhalt sagen, bestraft. Sein Werdegang ist den Interes- Figuren der klassischen griechischen Trauerspie- sondere für seine Spielart der Touch-Guitar oder wohltuend. Eine herrlich klingende Platte eines sierten bekannt, ihm selbst ist die Erwähnung, le –, der sich wiederum in den Songtextthemen Tapping bekannt ist. Eine Anschlagtechnik, bei hierzulande viel zu unbekannten Riesentalents mit Jasper Van’t Hof gespielt zu haben, wichtiger Vergänglichkeit, Endzeit und Sterblichkeit sowie der die Saiten mit den Fingerkuppen auf das mit ausgeprägtem Folk-Hang (man höre etwa als die ständige Reduktion auf die kurze Mitglied- einem deutlichen Hang zum Esoterischen und Griffbrett gedrückt werden und die Motzer kei- seine gelungene Appalachen-Platte „Dear Com- schaft beim damals prosperierenden Vienna Art Spirituellen niederschlägt. Einzig aufgebrochen nesfalls für frickelige Gitarrenheldeneskapaden panion“, die er gemeinsam mit einem hierzulande Orchestra. Mit völlig neuer Besetzung und geän- wird das klassische Singer-Songwriterinnentum missbraucht, sondern geschickt filigrane und ebenso unbekannten Musiker namens Ben Sollee derter Zielvorgabe wird das hervorragend aufge- in den feinen Unterschieden der Arrangements: In sphärische Ambientklänge erzeugt. Das Album aufgenommen hat), auch wenn einem der ten- nommene ‚Dirt & Soil‘ zum noisigem Feger. Darf den leicht widerhakenden Akkordmustern, in den basiert in erster Linie auf dem Mitschnitt eines denziell reaktionäre Gegenstand dieser Vergan- Clemens Wenger in seine Keyboardhusarenritte verschwommenen Elektronikunterlegungen und gemeinsamen Konzerts der beiden von 2008. genheitsbewältigung und -verklärung bisweilen tranceartig verfallen, rammt Stomu Takeishi an in den unerwarteten Wendungen der traumwand- Den ursprünglichen Improvisationen Motzers und doch saures Aufstoßen beschert. (bertl) der Bassgitarre groovende Stützpfeiler ins mu- lerischen Gesangsbögen von Ingvild Langgard, Reuters wurden im Nachhinein durch zusätzliche sikalische Gelände und trommelt Ted Poor mit die den zeitlos schönen Folk-Songs verhuschte Overdubs mit wogenden Altflöten von Theo Travis, der Intensität eines Getriebenen, als wäre er der und zuweilen nonkonformistische Konnotationen samtenen Percussions von Pat Mastelotto, Pedal- junge Jim Black, die Kollegen vor sich her. Aber hinzufügen. (jonk) Steel-Gitarren von BJ Cole und mit sphärischer es wäre nicht Manndorff, wenn es sich bei ‚Dirt

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& Soil‘ nur um Noise und Energie handeln wür- des Zwischenreichs der Platte. Auch erahne und Joseph Oganga (voc, nyatiti), Paul Wau Orche- Empören. Vorliegende Edition feiert Jonos fünf- de. Selbstverständlich wird dieser Ruppigkeit eine erhoffe ich immer wieder erlösend Trauriges, doch stra (voc, perc, vuvuzela), Swaleh Mwatela zehnjähriges Bühnenjubiläum und ist eine neu Portion Ruhe und Gelassenheit gegenübergestellt, verschlucken die düster-beklemmenden Texte – Orchestra (voc, perc) u.a. eingespielte Werkschau dieses Zeitraumes. Klingt und dann merkt man doch die Kontinuität (in der „They never found the body. […] as if she never Fünf Wochen lang war der Experimental- nach mehr, viel mehr. (HAN) Abfolge der Tonträger des Musikers), die auf den even existed“ – jede Zuflucht und jeden Ausweg. Drummer und Elektronik-Produzent Sven Kaci- allerersten Blick nicht bemerkbar war. Man hört Abschließend („Louse“) noch einmal wütend an rek auf Einladung des Goethe-Instituts Nairobi JÆ das reife Werk eines Gitarristen, der macht, was der Gurgel gepackt, blutwahnsinnigen Augen sich jenseits der Trampel- und Safari-Pfade mit Auf- balls and kittens, draught and strangling rain ihm gefällt und wichtig erscheint, und nicht, was konfrontiert sehend, verzweifelte Entschlossen- nahmegeräten unterwegs. Sammelte Stimmen, der Markt (scheinbar) verlangt. Keep going on. heit. Der Soundtrack, knister-knasternd, die Musiken, Impressionen. Daheim in Hamburg bas- Hubro / SunnyMoon / rec: 10 (mitter) letzten schweren Atemzüge in Trompeten ge- telte er daraus kleine, kompakte Stücke, 15 an Jessica Sligter (voc, g, p, fl), Jan Martin quetscht, hofft zu überdauern. Messer werden der Zahl, die er Puzzle-artig zu einer akustischen Smordal (voc, g), Daniel Meyer Gronvold (voc, OLGA MAGIERES / TETSUO gewetzt. „Because if you don›t kill yourself, I Landkarte zusammenfügte. Das klingt theoretisch ukulele), Kyrre Laastad (dr, perc), Rivind FURUDATE will be forced to kill you. Beautiful liar. Blood etwas problematischer, als es praktisch klingt. Lenning (tp), Martin Taxt (tuba), Ole Henrik introduction of „blue of noon“ sucking junky. Baby faced killer. Thief con crook Weil das Beste an dieser Platte ist: „The Kenya Moe, Kari Ronnekleiv (v), Juhani Silvola (bg, MonotypRec. / No Man’s Land / rec: 10 cunt.“ Eine DVD mit einem Live-Konzert aus XY Sessions“ kommen ganz und gar unaufgeregt mandoline), Andreas Lowe (p), Andreas Olga Magiere (p), Tetsuo Furudate (sounds); ist auch dabei, die leider mein Laptop nicht fraß, daher, ohne artsy-fartsy, ohne symbolische Lonmo Knudsrod (perc), Espen Reinertsen Christophe Charles (rezitation) doch die Stills aus dem Booklet lassen Bestes Überhöhung und ohne kolonialistische Unter- (ts, fl), Viljam Nybacka, Havard Skaset (g), Jo erahnen. Unbedingte Empfehlung für den Kopf- Eine höchst eigensinnige Produkti- werfung. Zart und smart begleitet Sven Kacirek Berger Myhre (b) hörergebrauch. Ich wünsche schöne Albträume. an Marimba, Vibrafon und anderem Perkussions- on geht erneut aufs Konto des Warschauer (blumen) Schön und wunderbar altmodisch zu- MonotypeRec.-Trios. Auf der einen Seite: die dä- instrumentarium die Sounds der Kenianerinnen, gleich klingt dieser Erstling der aus Utrecht stam- nische, in Kopenhagen und Jerusalem klassisch hauptsächlich hergestellt an Perkussion und dem menden holländischen Sängerin Jessica Sligter, MARCO LOBOS E CONVIDADOS landesüblichen Saiteninstrument Nyatiti sowie ausgebildete Pianistin, die sich bald avancierten bahia die sich mit diesem wunderbaren Konglomerat Ausdrucksformen öffnete und auf ihrer ersten durch die vielen Vokalismen, die sich bis hin aus norwegischen Musikern, bestehend aus al- Jawo / jawo-records.com / rec: 10 Platte u.a. die Saxofonistin Lotte Anker featuret; zu jenen der 80-jährigen Sängerin Ogoya Nengo len möglichen Stilrichtungen (aus den Bands der auf der anderen Seite: der vom Film und Theater Marco Lobos (perc), Marcio Tubino (ts, fl), erstrecken. Auch nicht zu unterschätzen: Ein zu- Gruppen um Splashgirl, Streifenjunko, Christian kommende Tetsuo Furudate, der seit einiger Zeit Walter Lang (p), Sven Faller (b), Gerwin rückhaltender, ja legerer Swing durchweht dieses Wallumrod, Rockettothesky stammend), zu einer mit Büchner-Interpretationen für Aufsehen sorgt. Eisenhauer (dr) hübsche, sympathische Album. (felix) verschworenen Projektgruppe zusammengefun- Dieses gemischte Duo bearbeitet mit gemischten Deutsch-brasilianische Freundschaft, den hat, um eine Mischung aus Folk, Rock, Jazz JONO EL GRANDE Stilmitteln den Text „Le Bleu du Ciel“ von George das kann man sich gerne gefallen lassen. Keine und Blues zu machen. Nicht zu vergessen oder phantom stimulance Batailles, der im Booklet auf Englisch unter dem gehässigen Fouls, keine taktischen Scharmüt- zu unterschätzen ist das psychodelische Ele- Titel „Blue of noon“ abgedruckt ist und im franzö- zel. Nur der unbedingt Wille, die Zuhörer gut zu Rune Grammofon / Cargo / rec: 10 ment dieser Musik. Die glockenhelle Stimme der sischen Original von Christophe Charles rezitiert unterhalten. Der Perkussionsderwisch Marco Jono El Grande (g, voc, div), Eivind Henjum Sängerin schwebt über verhaltenen Klavierklän- wird. Zur Anwendung gelangen: improvisiertes Lobo wischt, reibt, knetet, wirbelt und liebkost (b, g), Erik Lokra (sax), Stefan Ibsen Zlatanos gen, rankt sich an reduzierten Gitarrenclustern Klavier, harte, lautstarke Einschübe, das Lesen seine Felle und Hölzer und erweckt alle anderen (p, rec), Erik Fossen Nilsen (xyl, vib, perc), empor und sorgt auch dort für gute Laune, wo des Texts vor sanfter Geräuschkulisse, wieder di- selbstgebastelten Klangerzeuger zu tempera- Terje Engen (dr, perc), Petter Kragstad (synth), Traurigkeit und Schatten die Themen der Stücke verse Brechungen, klassische Klaviermusik von mentvollem Leben, lässt dabei den Mitmusikern Tarjei Grimsby (tb), Mr. Ohm (säge, viola), beherrschen. Annette Peacock könnte mit ihrer Chopin und Bach, schlussendlich der Ausklang trotzdem genug Raum, um sich ruhig entfalten Aish Fretox (schrei) skurrilen Reduktionsmethode, dem Zulassen mit Songs von Warren und Gershwin. In dieser von Kitsch und Formelhaftem in ihrer Musik, zu können. Kein egomanisches Zurschaustellen Der Mann mit dem poetischen Namen beträchtlichen Spannweite spielt sich diese feine, bei dieser Produktion Pate gestanden haben. von technischen Tricks und vertrackten rhythmi- ist Musiker, Komponist, Dirigent und umtriebiger ganz und gar eigensinnige Musik ab. (felix) Das Fehlen jeglicher Beschleunigungselemente schen Patterns, sondern eine gelassene, völlig Freigeist des experimentellen Rockzirkels Nor- macht ‚Balls and Kittens, Draught and Strangling unprätentiöse Reise in die Exotik brasilianischer wegens. Wie einer seiner wichtigsten Einfluss- Rain‘ zum unaufgeregten musikalischen Begleiter LYDIA LUNCH & PHILIPPE PETIT Musik abseits der gängigen Klischees und Vor- nehmer spielt auch er Gitarre. Virtuos und hinge- twist of fate (CD + DVD) und zum sicheren Tipp für die vielen Stunden, die urteile. Kein Wunder, dass Marco Lobos schon bungsvoll. Dieser Jemand ist niemand geringerer man sinnierend vor dem offenen Kamin sitzt, in MonotypeRec. / No Man’s Land / rec: 10 bei vielen Größen Brasiliens seine musikalische als . Ganz in dessen Geiste, ohne in einem. Hoffentlich hören wir bald, was die Slig- Lydia Lunch (voc, g, field-rec), Philippe Petit Visitenkarte abgegeben hat. Bekannte Namen, den Verdacht eines Plagiats zu kommen, entwirft ter so als Nächstes machen wird; wir berichten (e, tt, field-rec, perc, synth, orgel, p, ballone, mit denen er gespielt hat, wie Maria Bethania, Mr. El Grande (witziges Pseudonym) wahnwitzige darüber. (mitter) messer) Milton Nascimento, Gilberto Gil oder Ivan Lins Arrangements, in die er spannungsreiche Dyna- sprechen für Lobos‘ Vielseitigkeit und Virtuosität. „Twist of fate“ eröffnet gleich mit Lydia mikrotationen, verschachtelte Rhythmuskaprio- Souverän am Klavier: Walter Lang, der das Ge- len und halsbrecherische Tempoverschiebungen HOT CLUB Lunchs super haunting voice: „Now you broke bräu mit leichter Hand zusammenhält und auch straight outta bagnolet (LP) my heart again, I saw you like a dream on the hineinpackt. Wie „good old Frank“ ist auch Jono für so manches Highlight mit überraschenden MonotypeRec / No Man’s Land / rec: 08 TV screen“. Die verrauchte Stimme und ihr Aus- ein Meister der Stop-and-go-Technik, ein Magier Volten und kunstvoll entschleunigten Tempi sorgt. der atemberaubenden Brüche und stilistisch nicht Alexandre Bellenger (tt), Jac Berrocal (tp, druck paaren sich; teuflisch multipersönlich. Sven Faller stellt seinen mächtigen Tieftöner im- Der „filthy little angel“ aus dem ersten Track dingfest zu machen. Da rasen knochentrockene voc), Francois Fuchs (b), Dan Warburton (v) mer zum richtigen Zeitpunkt in den Mittelpunkt Rock-Grooves, begleitet von schneidenden Blä- erscheint im Kopfkino. Herausragend, die wun- des Geschehens. Beim Titel ‚Curio‘ darf dann die Leicht erkennbar, nimmt diese Combo derbaren Soundwelten und -collagen, welche serstakkati dahin, jazzige Klangmalereien kreu- namentlich aufs legendäre „Quintette du Hot Flöte von Marcio Tubino jubilieren, dass es eine zen den Weg, alles taucht plötzlich in comichafte Phillipe Petit entwirft: verstörend schön, Ahnun- helle Freude ist. Temperamentvoll. Fein. (mitter) Club de France“ Bezug, das 1934 von Django gen aus einem Zwischenreich. Monoton schwebt Unruhe, ehe eine heitere Vaudeville-Melodie das Reinhardt & Stephane Grappelli ins Leben geru- die Orgel, zwischen oszillierenden bauchlosen Ruder herumreißt, und retour. Und in all dieser fen wurde; ein frühes, historisch weitreichendes, SVEN KACIREK Ansammlung von harmonischen, melodischen Klängen und noisigem Flimmern. (Petit betreibt the kenya sessions ausschließlich aus Saiteninstrumenten beste- auch die Pandemonium Records – u.a. Guapo und rhythmischen Purzelbäumen, die kaum Zeit hendes Jazzensemble. Turntablist Alexandre Pingipung / Kompakt/A-Musik/Dense / rec: 08 – und teilte sich die Bühne u.a. mit Faust oder zum Verschnaufen lassen, nimmt sich der Meis- Bellenger ruft auf dieser Platte jene alte Zeiten dem Kammerflimmer Kollektief.) Lunch & Petit Sven Kacirek (marimba, p, dr, vib, perc), ter die Muße für konzise, exakt formulierte Soli in der Hochblüte des Chansons in Erinnerung, die verführen in eine mehr dunkle als surreale Welt, Okumo Korengo (voc, nyatiti), Owino Koyo bestem Rockduktus. Unbedingt erwähnt werden der Trompeter und Sänger Jac Berrocal – laut Dan durchsetzt von immer schwärzer werdender (voc, perc), Rangala Village Community (voc), muss auch die bestechende Umsetzung durch Warburton – in- und auswendig kennt. Mit diesen Stimmung. Verzaubernd. Die Stimme kippt stän- Ogoya Nengo (voc), Chimanga Kayamba das vielköpfige Ensemble, welches mit extremer Vorkenntnissen gewappnet, lustwandelt man auf dig zwischen melodiös und spoken word und flüs- Orchestra (voc, kayamba), Jack Nyadundo Gelassenheit, Meisterschaft und Verständnis diesem seltsamen, stellenweise richtig schril- ternd geschrieen, unterstreicht die träumerische Orchestra (dr, nyatiti, perc, keyb), Olith Ratego für Jonos verstiegene Visionen zur Tat schreitet. len, grotesken Album zwischen französischen Atmosphäre der Zerrissenheit, des Paranoiden, (voc), Ali Khamed Ali Orchestra (voc, fl, perc), Eine ideale Stimulation zum Querdenken und sich Liedern und Improvisation gleichwertig dahin

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und schreckt in seinem Lustwandeln selbst vor improvisatorisches Fantasieren. Lobenswert sein kann, aber in diesem Fall geglückt ist. Das mehr ist als die Summe seiner Teile. Die Magie punktueller Karaoke-Ästhetik nicht zurück. Mutig, ist auch der Umstand, dass die Grobschnittler Album umfasst düstere Balladen, spacige Songs des interessanten Duospiels liegt ja darin, die und live vermutlich lustig. (felix) ihr Repertoire nicht routiniert herunterspulen, und eruptive Sprechgesangsnummern („Mr Rab- beiden Einsamkeiten der Protagonisten zu einer sondern fortwährend umkrempeln. Melodische, bit“, „Only Cherries“), bei welchen ich sofort an kurzfristigen Liaison der möglichen Gemeinsam- ERDEM HELVACIOGLU / ROS harmonische wie rhythmische Ergänzungen, Mr. Eddy aus Olga Neutwirths Musiktheater „Lost keiten zu überlisten, und das wird von Lehman & BANDT aber auch aktuelle klangästhetische Standards Highway“ denken musste. „Save Me“, der erste Crumb in geradezu vorbildlicher Art und Weise ze- black falcon halten ungezwungen Einzug. Wobei hinsichtlich Song des Albums, besticht durch das melodiöse lebriert. Als wäre es ein sorgfältig komponiertes, Pozitif / doublemoon.com / rec: 08 letzterer öfters zu tief ins Honigfasserl gegriffen Klavierspiel Aichingers und das Zusammenspiel kompliziertes Stück Kammermusik, so logisch Erdem Helvacioglu (g, e), Ros Bandt (tarhu) wird. Glücklicherweise spielen sie keine entschei- und Ineinandergreifen der übrigen MusikerInnen und nuancenreich entwickeln sich die Interakti- dende Rolle. Gesungen wird sowohl auf Englisch mit diesem. Ein schöner Track ist auch „Whe- onsmodule der beiden Improvisatoren. Wunder- Von Erdem Helvacioglu aus Istanbul war als auch auf Deutsch. Grobschnitt fanden eine re“; gesungen von Susanna Heilmayr. Also doch bar. Beeindruckend. Nachhörenswert. (mitter) in dieser Gazette schon mehrfach die Rede, noch Weg, wie deutsche Texte in dieser Musik funktio- gut, dass das Kollektiv nicht dem Wunsch von nicht jedoch von der Australierin Ros Bandt, die nieren. Die Inhalte versprühen noch immer Witz Handsemmel-Label-Chef Klaus Nüchtern Folge COLUMBUS DUO hier eine Tarhu, ein spezielles, von Instrumen- bzw. besitzen in ihrer Kritik Gültigkeit. Die Band leistete, sich mit dem Evangelischen Kirchen- salt (LP) tenentwickler Peter Biffin entwickeltes Saiten- unterstreicht erneut ihren Ruf als herausragende gesangsbuch (EKG) neu auseinanderzusetzen, Dead Sailor/MonotypeRec. / No Man’s Land / rec: 10 instrument, traktiert. Form und Sound dieser Live-Band und lässt an ihrer Unverwüstlichkeit sondern sich vielmehr darum bemühte, eigene Tomasz Swoboda (g, voc), Ireneusz Swoboda Entwicklung entsprechen am ehesten jenen einer und Stellung in der jüngeren deutschen Rockge- Songs und Texte zu kreieren! (kat) (e, loop, tape) sogenannten Spießgeige, wie sie im arabischen schichte keinen Zweifel. (HAN) Raum zum Einsatz kommt. Dementsprechend do- MATS EILERTSEN TRIO „Salt“ beginnt wie Neil Youngs imposan- miniert die Klangsuche zu fast hundert Prozent HOWE GELB & elegy ter „Dead Man“-Soundtrack, nimmt später durch dieses Album. Ausgestattet mit langem Atem – Stimme und Elektronik manche andere Gestalten A BAND OF GYPSIES Hubro / SunnyMoon / rec: 09 und bisweilen auch ganz schön langatmig. Durch alegrías an, mutiert zu eigen- und hintersinnigem Singer/ die versuchte Wiederbelebung so vieler Vorgän- Mats Eilertsen (b), Harmen Fraanje (p), Fire Records / Trost / rec: 10 Songwriter-Material, lässt in seiner ungeglätteten ger verharrt die bald ermüdende Soundsuche Thomas Stronen (dr) Rauheit keinen Zweifel an seiner Unverwechsel- im oberflächlichen, sphärischen Bereich, dort Giant Sand blieb für mich nach dem Der umtriebige, vielbeschäftigte Bas- barkeit aufkommen – und zwischendrin blitzt wo „Musik zum Wohlfühlen“ angesiedelt ist. So Ausscheren von Joey Burns und John Conver- sist, Komponist und Bandleader Mats Eilertsen, nochmals die „Dead Man“-Gitarre auf. Wir haben eignet sich „Black Falcon“ im Idealfall als Tapete tino zu Calexico immer noch die interessantere aus Norwegen stammend, stellt mit ‚Elegy‘ die es hier mit einem Zweiergespann aus Gdansk zu wofür auch immer. (felix) Band als das ungleich erfolgreiche Neoprojekt fünfte CD unter eigenem Namen vor. Sonst ver- tun, das vor 20 Jahren in der Band Thing als Fix- der Dissidenten. Sand-Mastermind Howe Gelb stärkt und grundiert er noch die Projekte von Tord stern auf dem Firmament von Polens Noiseszene GROBSCHNITT ist ein imposanter Eklektiker, der mittlerweile Gustavsen, Wolf Brederode, Yuri Honing, Hakan auftauchte und sich Sonic Youth und The Jesus 2008 – Live – 2010 seit Jahrzehnten das Americana-Feld in Riesen- Kornstad, Frode Barth. Der Holländer Harmen Lizard zum Vorbild nahm. Wer die turbulente schritten ausmisst. Seine neueste, unter seinem Sireena / Soul Seduction / rec: 08-10 Fraanje entpuppt sich als aufregender Pianist, Cassetten(!)-Szene in Polen ein bisschen kennt, Namen erschienene Platte legt den Vergleich Nuki (g, voc), Manu Kapolke (g, p, voc), Willi der mit seinem lyrischen Grundpotential, wie ahnt, wie autonom und billig die Selbstverwirk- mit Calexico nahe, da sich Gelbs musikalisches nebenbei, nordisch anmutende Bravourstücke lichung und -vermarktung dort passiert. Andere Wildschwein (g, voc), Milla Kapolke (b, voc), Vokabular hier explizit um diverse Latin-Idiome Admiral Top Sahne (dr), Demian Hache (perc, abliefert. Thoma Stronen am Schlagzeug über- Bandnamen folgten, bis das Columbus Ensemble erweitert. Flamenco vor allem, aber auch eher zeugt als langjähriger musikalischer Weggefährte Noise, Jazz und Minimal wild fusionierte und sein keys), Deva Tattva (keys), Toni Moff Mollo nach Brasilien weisendes. Der Unterschied zu (voc) von Eilertsen. Dieses blinde Einvernehmen der Debüt auf Dead Sailor Muzik publizierte. Mittler- Calexico ist der, dass der Sound jener immer beiden Rhythmiker beeindruckt. ‚Elegy‘ lebt von weile haben sich die Brüder Tomasz & Ireneusz Reinkarnation 2007. Vier Originalmit- auch nach Ausbeutung klingt (das klassische den kleinen (leisen) Verschiebungen innerhalb Swoboda zum Columbus Duo formiert. Sie ver- glieder der 1970 gegründeten Formation haben Problem der Ethnomusik von außen), während der Songstruktur, baut Spannung durch beharr- öffentlichen wieder auf Dead Sailor und werden mitsamt einigen ihrer Söhne und langjährigen Gelb es schafft, eher der neugierige Reisende liches Insistieren auf, arbeitet mit dem Element von einem Vertrieb (MonotypeRec.) unterstützt, Freunden die zu den altvordersten, eigenstän- zu bleiben, der durch seine Erforschung das der Ruhe und schafft es dadurch, die Aufmerk- der ohnedies für die Aufhebung stilistischer Bor- digsten Initiativen des krautigen Progressive- durchschrittene Terrain zwar verändert, solche samkeit und Konzentrationsfähigkeit des Hörers niertheit geradesteht. Klasse Platte! (felix) Rock zählende Gruppe wiederbelebt. Im einstigen Flurschäden aber nicht Trophäen-like herumträgt. hoch zu halten. Eine neue überzeugende ‚Stimme‘ Respekt könnte man das ganz altvaterisch nen- Dunstkreis von wegweisenden britischen Bands, unter den Klaviertrios in Europa ist hier zu hören. ANTOINE CHESSEX & wie u.a. Yes, Genesis, Gentle Giant, , nen. Die Songs sind fast allesamt ausgezeichnete (mitter) VALERIO TRICOLI entwickelten Grobschnitt eine individuelle, deut- Handwerkskunst, changieren souverän zwischen coi tromenti (12“) sche Variante des Prog-Rock. Mit ausgeprägtem Verlorenheitsetüden, beißendem Witz und opti- STEPHAN CRUMP & STEVE Dilemma / Interstellar / rec: 09 Hang zu großen musikalischen Formen, live ge- mistischer „Alegría“. 13 Songs ohne wesentlich LEHMAN Antoine Chessex (ts), Valerio Tricoli (e, paart mit theatralischen Bühneninszenierungen. schwache Momente, ein unaufgeregtes Album, kaleidoscope & collage Diesen beiden Eckpunkten ihres Schaffens sind das sich in die stattliche Liste von Gelbs kleinen cass-rec) Intakt / Extraplatte / rec: 08-09 sie bis heute treu geblieben. So sind die zentralen Meisterwerken einreiht. (bertl) Das vierte Dilemma (von bislang fünf) Stücke der Doppel-CD (sie beinhaltet Mitschnit- Stephan Crump (b), Steve Lehman (as) gehorcht wie gehabt dem Anti-Business-as- te der ausgedehnten Tourneen 2008 bis 2010), EKG Ich war schon länger neugierig zu hören, usual. Ausschließlich Vinyl, nur eine Seite be- die beiden Longtracks „Sonnentanz 2008“, 42 a word to the sufficient was aus dem Wunderknaben Steve Lehman denn spielt, auf hundert Exemplare limitiert. Macht Minuten, auch unter dem Titel „Solar Music“ in cracked anegg/Handsemmel / Lotus / rec: 09 so geworden ist. Und es ward gut, kann man nur in Summe 19 Minuten Musik zweier in Berlin die Musikannalen eingegangen, und das Rock- sagen. Mit Eloquenz und scheinbarer Leichtigkeit ansässiger Klangpartisanen unterschiedlicher Oskar Aichinger (p, voc, keys, orgelpositiv), Märchen „Rockpommels Land“, 21 Minuten. wird das Vokabular des Improvisationskünstlers Herkunft, einer kommt aus der Schweiz, der an- Susanna Heilmayr (oboe, voc, viola, toys), Diese beiden Werke bezeugen am eindruckvolls- am Holzblasinstrument verwendet, werden Tra- dere aus Sizilien. Der Noise-Saxofonist, sowohl Burkhard Stangl (g, voc, vib), Achim Tang ten das ausgefeilte dramaturgische Geschick der dition und Modernität mit der Integrität des au- solo als auch in diversen Duos und der Band (b, voc) Musiker. Durch die generationsübergreifende Idee thentischen Musikers zu Gehör gebracht. Ihm zur Monno schlagkräftig, bekehrt sich auf dieser der Besetzung erfährt die Musik einen beleben- EKG ist mit „A word to the sufficient“ Seite steht ein gleichwertiger, hoch sensibler und Aufnahme auf innere, wenn auch vulkanische den Energieschub. Die Spielfreude, die Jung wie eine sehr interessante Veröffentlichung gelungen. hellhöriger Duopartner, der junge Bassist Stephan Aktivitäten. Die Innenseite der Außenseite der Alt an den Tag legen, ist unbändig. Vor allem die Die MusikerInnen Oskar Aichinger, Susanna Heil- Crump (er arbeitet u.a. mit Vijay Iyer zusammen). Innenseite, hätte das Peter Handke vor Lichtjah- beiden jungen Gitarristen lassen mitreißende, mayr, Burkhard Stangl und Achim Tang kreierten Gemeinsam werden, in den beiden langen Titeln, ren genannt. Tricoli seinerseits strapaziert seine heißspornige Improvisationen vom Stapel. Ge- ein Album, das ein intensives Klangbad in Emo- Spuren gelegt; Spuren und Ideen, die man dann großteils analoge Elektronik im Dienst der Sache. nügend Raum bietet das musikalische Konzept tionen verspricht. Die zwölf Songs leben von ihrer später wieder ‚findet‘, die man aufnimmt, verän- So darf auf dieser Platte viel geatmet werden, einst wie jetzt. Zudem spielt der Aufbau der Stü- Unterschiedlichkeit und von ihrer sehr speziellen dert, verwirft oder einfach fortspinnt, um damit eine Menge Luft zirkuliert, der Zustand hält sich cke geschickt mit den Komponenten komponier- Stimmung. Eine Mischung an Musikstilen begeg- doch noch einem Ziel näher zu kommen. Das Ziel in der Schwebe. Eine feine, leider kurze Platte. So te Überbauten, Themen und Bridges sowie eben net hier dem Hörer, was manchmal problematisch kann nur sein, ein Miteinander zu erfinden, das wertvoll wie ein kleines Steak. (felix)

22 Hört, Hört!

BUSHWAC Selbstbestimmung der Schweizer HipHop/Poetry/ plakativ, dass es durch den zuletzt bei „Migraton“ zwei Instrumentalisten, Pierre-Yves Martel (Viola fight! and if you can’t fight, kick! if Jazz/Impro-Avantgarde von Paed Conca und Ste- aktiven Paed Conca und den Tänzer und bei Leu- da Gamba) und Chris Bartos (Violine), in dieses you can’t kick, bite! (Download) ve Buchanan. Was hier propagiert wird, ist nichts ten wie Marshall Allen, Pat Martino und Fred Frith Projekt mit ein. Die instrumentalen Linien der bei- Everest / everestrecords.ch / rec: 10 weniger als (Sound-)Politisierung und wäre allem gelernten Steve Buchanan musikalisch jederzeit den Musiker bilden einen guten musikalischen Paed Conca (prog, b, cl, g), Steve Buchanan Anschein nach ein gangbarer Weg sowohl aus der überwiegt. (felix) Gegensatz zu der teils dominanten Elektronik; sie (voc, as, g); Gast: Bob Drake (voc) neoliberalen Entfremdung als auch aus dem Sta- besitzen jedoch leider einen eher statischen und dium der Obsoletheit, in das der HipHop längst NICOLAS BERNIER farblosen Klangcharakter und wirken manchmal BUSHWAC manövriert wurde. Gut drei Jahre nach ihrem strings.lines sehr „romantisch“. Die ersten Tracks des Albums remixed (EP) ersten Album „The Road That White Men Tread“ Crónica / matéria prima/Dense / rec: 08-10 klingen für meinen Geschmack leider ein wenig zu Everest / everestrecords.ch / rec: 10 kraxeln die seit 15 Jahren musikalisch verban- wahllos und zu intransparent, um die zugrunde Nicolas Bernier (e); Gäste: Pierre-Yves Martel delten Paed Conca & Steve Buchanan (samt Bob liegende Idee des Ganzen wirklich nachvollziehen Bushwac, Deckard, Meienberg, Playpad (gambe), Chris Bartos (v) Circus, Thavius Beck Drake als Bruder im Geist) auf ein neues Niveau. zu können. Der letzte Track rundet die CD jedoch Meine Favoriten auf diesem virtuellen Tonträger Der kanadische Klangkünstler Nicolas gut ab, dank einer eingängigen Basslinie, die Willkommen in der Kulturindustrie resp. sind die mit sechseinhalb Minuten längste Num- Bernier besitzt eine Vorliebe für alte und verges- hier in den Vordergrund tritt. Naja, schade, dass ihrer Subversion. Das Album mit dem viel zu lan- mer „Mama’s Big Black Tit“ und das finale, kurze sene Objekte, wie etwa Stimmgabeln. Die Musik Bernier seine Ideen hier nicht ein wenig klarer gen, besonders hübschen Titel „Fight! And if you Gitarre-Jazz-Powerstück „Jes Grew“, ohne den von „String.Lines“ basiert auf Improvisationen und funkelnder umgesetzt hat. (kat) can’t fight, kick! If you can’t kick, bite!“ ist aus- Track „Tweedle Dum, Tweedle Dee“, vor allem und Klangexperimenten mit eben diesen. Stimm- schließlich digital als Download erhältlich. Läp- auch in seiner Remix-Version durch Deckard ge- gabeln stellen für Bernier Instrumente dar, welche pische zwei Nummern daraus plus vier Remixes ring zu schätzen. Bei soviel politischem, beinhart sich an den Grenzen zwischen elektronischer und können im haptischen Zustand, das aber auch le- antikapitalistischem Willen gerät halt manches instrumentaler Musik bewegen, was an dieser CD ✇ diglich auf Vinyl, erworben werden. So weit vorbei ein bissi plakativ. Allerdings in einem Ausmaß teilweise hörbar gemacht wird. Neben Stimmga- an den Jammerlappen der CD-Konzerne geht die beln und Elektronik integrierte Bernier außerdem

AUF WIEDERHÖREN: Faustschläge, Tontrauben, Nachtschwärmerei und Big Beat

FAUST: „Something Dirty“ (BB065/bu- Joachim Roedelius (keys, e). die international um vieles mehr Beachtung fand Moerlen die weiteren Geschicke von Gong und reau-b.com, rec: 2010). Zappi W. Driermaier (dr, Eine ebenfalls gewichtige Vorreiterrolle als in der Alpenrepublik. Das erklärt auch, warum realisierte unter dem Namen Pierrre Moerlen‘s perc), Jean-Hervé Péron (b, g, tp, perc, sounds, für den Krautrock bekleidet das Duo Cluster. sie einen Plattenvertrag mit dem renommierten Gong ab 1977 bis 1987 seine Version der Fusion- voc), Geraldine Swayne (keys, perc, voc), James Sie waren neben Tangerine Dream die Neuerer englischen Progressive-Label Vertigo abschlie- Idee. Er tanzte auch mit neuer Mannschaft an, Johnston (g, keys). betreffend den elektronischen Aspekt in der ßen konnten. Mastermind des Ensembles war wobei vor allem sein Zusammenspiel mit dem Obwohl eine Neuveröffentlichung, findet bundesdeutschen Rocklandschaft. Querden- der 1999 verstorbene Hubert Bognermayr, nach- jungen N.Y.-Bassisten H. Rowe zu überragenden sich diese ob der Tatsache, dass sie 40 Jahre kend und extrovertiert ließen sie elektronische mals Gründer des renommierten ars electronica- Geschehnissen führte. Die nun im CD-Format nach dem legendären Debüt veröffentlicht wurde Klangqualitäten, die in der Neuen Musik der Festivals und Pionier der elektronischen Musik in wieder erhältlichen ersten beiden CDs der Truppe und weiters ein Wiederhören mit zwei Gründungs- 1950er Jahre ihren Anfang nahmen, mit der pro- Österreich. Der nun erneut von einem englischen präsentieren das komplette Potential ihrer Mög- mitgliedern der Krautrock-Legende bringt, in gressiven 1960/70er-Jahre-Rockästhetik inein- Label wiederveröffentlichte Tonträger „One Niter“ lichkeiten. Das Um und Auf der Musik ist das dieser Rubrik. Seit den 1990er Jahren existieren anderfließen. Die sphärischen, von großzügigem ist das Opus Magnum der Band. Auf angenehm komplexe rhythmische Gerüst mit seinen kühnen ja zwei Versionen von Faust. Eine rund um das Klangverständnis gekennzeichneten, artifiziellen unprätentiöse Weise integrieren die Protagonisten Verästelungen, das Moerlen, unterstützt von di- dritte Gründungsmitglied Hans Joachim Irmler Gebilde drifteten dabei nie in halbseidenes Eso- Klassik-Ingredienzien in ihre packend zelebrierten versen Perkussionisten, zusammenzimmert. Es und eben jene hier angesprochene von Driermai- terikgesäusel ab. Es waren vielmehr schillern- Klangergüsse. Eigenwillig bauen sich die von den besitzt mitreißenden Drive und markigen Punsch, er und Péron. Auch ihnen gelang es, wie auch de, surrealistische Collagen, die sich entweder Keyboards ausgelegten Klangflächen als inspirie- und wie er Zeit strukturiert, sie dehnt, kompri- Irmler letztes Jahr, ein großartiges, aufwühlen- asymmetrisch übereinander türmten oder sich rende Makulatur der Stücke auf. Mit gehörigem miert, ist schon beeindruckend. Umgesetzt mit des Werk in Umlauf zu bringen. Faust waren die um kernige Beatimpulse wanden. Man könnte Esprit bereichern Gitarre, Bass und Drums ein einer stupenden spielerischen Leichtigkeit. Einige Dekonstruktivisten der Krautrock-Szene. In ein es ohne weiteres als kristalline Cluster bezeich- graziles Gesamtwerk. Wenn es zu sehr ins Ma- solistische Blitzlichter setzt auch der Newcomer unerschütterliches dröhnendes Rhythmusgerüst nen. Moebius/Roedelius schufen mit reflektivem drigale abdriftet, pirscht sich aus dem Off ein R. Ross an der Gitarre. Zudem hat sich Moerlen platzierten sie eine Art „industriell klangliche“ Selbstverständnis eigenständige, elektronische knochentrockener Funk-Groove heran, der alles einige Ausnahmekönner der Rock-Szene eingela- musique concrète, erweiterten die Klangästhe- Musik, in der Blut fließt und nicht gefriert. Und anheizt. Gitarren und Orgeln heben ab. Oder alles den, die dem Gong noch ein mehr an Glanz ver- tik des Rock um etliche Potenzen und schufen auch hinsichtlich des Konzeptes entsagten sie stürzt in ein feuriges Latinpercussion- Abenteuer. leihen. Auf „Downwind“ sind dies Mike Oldfield, nebstbei die Blaupause für die Industrial- sich elitären Verkopfungen. Es funktioniert auf Eine virtuose Band mit Herz und Hirn am rech- Steve Winwood, Didier Lockwood und Mick Taylor. Bewegung. Heute schwelgen diese „Fäustlinge“ Basis des Herzschlages. Kaum eindringlicher ten Fleck. Bleibt wirklich zu hoffen, dass dieses Diese Einspielung lebt von ausufernden, spritzi- hier nicht mehr in ausladenden Klangcollagen, und zwingender als auf ihrem nun wiederveröf- historische Aushängeschild eines in Sachen gen Improvisationen und einer Fülle aufeinander sondern arbeiten mit klar konzipierten Formen. fentlichten Debüt gelang ihnen die Realisierung avancierter Rockmusik nicht gerade verwöhnten folgender kompositorischer Kabinettstückchen in Ihrer Radikalität und Nonkonformität tut dies ihrer als wegweisend geltenden musikalischen Österreich zu später Anerkennung kommt. extensiven Nummern. „“ funkti- keinen Abbruch. Diese wirken nur noch dichter Visionen. ’S GONG: „Down- oniert mit knapp formulierten Stücken, die rein und unbarmherziger. Hypnotische, monolitische EELA CRAIG: „One Niter“ (EREACD wind“ (ECLEC 2235)/ „Time Is The Key“ (ECLEC instrumental gehalten und spartanischer aus- Rhythmus-Preziosen von Bass und Drums ver- 1007/esotericrecordings.com, rec: 1976). Hu- 2236)/esotericrecordings.com, rec: 1979. Pierre gestattet sind. Die Imaginationskraft ist jedoch ankern die fiebrigen Klangzuckungen des rest- bert Bognermayr, Hubert Schnauer, Harald Moerlen (dr, perc, keys, voc), Benoit Moerlen um nichts geringer. Gastsolisten sind diesmal lichen, umfangreichen Klangerzeugerarsenals Zuschrader (keys, fl, voc), Fritz Riedelberger (g, (vibes), (b), Ross Record, Bon Darryl Way, Peter Lemer und ein wieder einmal im felsigen Boden der Unkorrumpierbarkeit. Der voc), Gerhard Enngllisch (b, perc), Frank Hueber Lozaga (g) + Gäste. überragender Allan Holdsworth mit seinen Griff- prägendste Charakterzug der Faust-Musik sind (dr, perc). Gong zählen auch heute noch zu den brettzaubereien. Zwei Meisterwerke des 2005 die überlegt gesetzten Gitarren-Distortions, die Neben Schönherz/Rigoni mit ihrem Kon- aufregendsten, experimentierfreudigsten For- verstorbenen Schlagzeugers. Fin! sich entweder als Feedback-Cluster oder me- zeptwerk „Victor“ und der Band Gypsy Love rund mationen des spacigen Progressive-Rock. Das Hannes Schweiger tallische Splitterklänge in das Gesamtgefüge um den Ratzer/Stojka-Clan waren Eela Craig französisch-britische Artrock-Kollektiv ersann einnisten. Gelegentlich sprießen aber auch die die einzige profunde Formation hierzulande, die eine stimmige, fruchtende, in der Szene nach- Tipps für Jazz-Rock-Aficionados überbordende Energetik abkühlende, rotzige, zum progressiven Kreativ-Rock der 1970er Jahre wirkende Mixtur aus Komponenten von Rock, Jazz 3.5., Scott Henderson – der amerikanische dennoch liebliche Melodiemeander hervor. In etwas beizutragen hatten. Gegründet 1970 von und perkussiven Aspekten ethnischer Musiken, Ausnahmegitarrist Töne gesetzte „schmutzige Gedanken“ voller sechs Linzer Musikern, allesamt Absolventen des vornehmlich aus Afrika. Gewürzt mit ab und zu 9.5., Soft Machine – die britischen Pioniere Lustbarkeit und hinreißendem Charme. Bruckner Konservatoriums, schufen sie sich mit illustren, psychedelischen Farbtupfern. Nachdem des psychedelischen Jazz-Rock CLUSTER: „Cluster ‘71“ (BB058/bu- einem von drei Keyboardern dominierten Grup- Gitarrenvirtuose Steve Hillage ausgestiegen war, Porgy & Bess, Wien reau-b.com, rec: 1971). Dieter Moebius, Hans pensound ihre eigene Progressive-Rock-Nische, übernahm der begnadete Schlagzeuger Pierre

23 ULRICHSBERGER KALEIDOPHON 29.4.–1.5. 2011

DEPLOYMENT 3. DARRAGH MORGAN. SEBASTIAN LEXER.

RECALL POLLOCK. LIZ ALLBEE. LAZRO / PAUVROS / TURNER.

JOHN LINDBERG & TRIPOLAR. WRIGHT / LAMBERT / PREVOST.

RED TRIO. BOESZE:FUCHS:NOID. DAWN OF MIDI. MARKUS RIEBE.

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