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SWR2 Musikstunde

"... er wird uns alle in den Schatten stellen!" Eleganz und Charme, Esprit und Gelehrsamkeit - zum 250. Todestag von Jean-Philippe Rameau (4)

Von Antonie von Schönfeld

Sendung: Donnerstag, 11. September 2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau

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Musikstunde mit Antonie v. Schönfeld SWR2 Donnerstag, 11. September 2014, 9.05-10.00

„...er wird uns alle in den Schatten stellen!“

Eleganz und Charme, Esprit und Gelehrsamkeit - zum 250. Todestag von Jean-Philippe Rameau (1-5)

IV. Lulliste contre Ramoneurs

Denis Diderot, Rameau’s Neffe, etwa Seite 5:

Ich: Àpropos den Onkel; seht Ihr ihn manchmal? Er: Ja, manchmal auf der Straße vorbeigehn. Ich: Tut er Euch denn nichts Gutes? Er: Tut er jemanden Gutes, so weiß er gewiß nichts davon. Es ist ein Philosoph in seiner Art; er denkt nur an sich, und die übrige Welt ist ihm wie ein Blasebalgsnagel. Seine Tochter und Frau können sterben, wann sie wollen, nur daß ja die Glocken im Kirchsprengel, mit denen man ihnen zu Grabe läutet, hübsch die Duodezime und Septdezime nachklingen, so ist alles recht.“ (...)

Das Buch Rameaus Neffe von Denis Diderot ist ein herrlich satirischer Dialog: Das literarische ‚Ich’ - Diderot - inszeniert hier ein Gespräch mit dem Neffen des Komponisten, der ebenfalls Musiker ist, jedoch im Schatten des großen Onkels steht. Die beiden Dialogpartner gehen philosophischen Fragen nach, zunächst in eher leichtem und gerne maliziösem Tonfall, oder weinerlich, wenn´s der Neffe ist, später dann zunehmend ernsthaft. Die zentrale Figur ist dabei der Onkel, Jean-Philippe Rameau, der als unsichtbarer Dritte im Bunde manche der Fragen auslöst, der Onkel mit seinen Erfolgen und theoretischen Überzeugungen, dessen erste Oper 1733 wie ein Coup de foudre in die Welt der Musikliebhaber und -kenner in Paris eingeschlagen hatte und der fortan als Figur des öffentlichen Lebens in einen ästhetischen Disput nach dem nächsten verstrickt worden war.

In Rameaus Neffe skizziert Diderot diesen Onkel gleich zu Beginn und wenn er im Verlauf des Dialogs auch einiges hinzugedichtet hat (um der Pointe willen), so benennt er hier doch die Dinge, die zum Auslöser von zentralen Kontroversen geworden sind. 3

Er spricht von ... diesem „berühmten Tonkünstler, der uns von Lullis Kirchengesang gerettet hat, die wir seit hundert Jahren psalmodieren(...), der so viel unverständliche Visionen und apokalyptische Wahrheiten über die Theorie der Musik schrieb, wovon weder er noch irgendein Mensch jemals etwas verstanden hat; in dessen Opern man Harmonie findet, einzelne Brocken guten Gesangs, unzusammenhängende Ideen, Lärm, (...) Triumphe, Lanzen, Glorien, Murmeln und Viktorien, daß den Sängern der Atem ausgehen möchte...“

______Musik 1 Jean-Philippe Rameau 3´41 <10> Ariette de Nérine et d´Atis: Pour voltiger dans le bocage aus: Sabine Devieilhe, Sopran Samuel Boden, Tenor Les Ambassadeurs Ltg. Alexis Kossenko Erato 509999 9341492 0, LC 4281 ______

„Der Vogel flieht aus der Gefangenschaft um im Hain umherzuschwirren. Welche Stille, wenn er im Käfig ist, welch´ zartes Gezwitscher in Freiheit.“

Vielleicht mochte dem damaligen Publikum „manche Idee“ in Rameaus Opern tatsächlich ‚unzusammenhängend’ erscheinen, - von ‚psalmodierendem Kirchengesang’ aber waren sie wahrlich weit entfernt, - Diderot spielt damit auf die endlosen Rezitative bei Lully an: Generell haben Rezitative in der französischen Oper einen ganz anderen Stellenwert als in der italienischen, in der die Arie vorherrscht und beide Typen klar voneinander getrennt sind, doch Rameau hat in das Erzählen einer häufig kleinere Airs und Ariettes eingeschoben: Sabine Devieilhe und Samuel Boden sangen die Ariette von Nérine und Atis aus der Buffokomödie Les Paladins aus dem Jahr 1760.

1760 - da lag der Beginn von Rameaus Opernkarriere schon fast dreißig Jahre zurück: Seine erste Oper Hippolyte et Aricie war im Oktober 1733 an der Académie Royale de Musique uraufgeführt worden, damals Triumph und Skandal zugleich:

Triumph für Rameau, der in der Opernkomposition im reifen Alter von 50 eine Art Freiheit des persönlichen Ausdrucks als Komponist gefunden hatte, eine Art universellen 4

musikalischen Ausdruck, der wie das Ziel seiner ganzen Laufbahn wirkt: Ob seine Tätigkeit als Organist, als Lehrer und Komponist (bis dahin von Cembalostücken, Motetten und Kantaten) - alles scheint ihn, der zugleich Musiktheoretiker ist, vorbereitet zu haben auf das Musiktheater. Und Skandal, weil Rameau in einer Opernwelt, in der noch immer Jean-Baptiste Lully der Maßstab war, völlig neue Klänge wagte. Das Pariser Publikum und vor allem die intellektuellen Kreise in Paris haben sich schon nach der Uraufführung seiner ersten Oper aufgespaltet in begeisterte Anhänger und vehemente Gegner.

Doch für Rameau stand im Vordergrund, dass es funktionierte, dass er menschliche Gefühle und seelische Empfindungen so in Musik umsetzen konnte, dass die Hörer - egal ob begeistert oder empört - in jedem Fall berührt war!

Nach diesem Auftakt gab es für Rameau kein Halten mehr: Von Hippolyte et Aricie an hat er fast nur noch für die Oper geschrieben: Tragédies en musique in all ihren Facetten und Spielarten! -Hier, auf der Bühne des Musiktheaters, wirkt er als Komponist wie freigelassen und um Szenen zu schaffen und Theater zu zaubern brauchte er nicht einmal Text oder Stimme oder die handelnde Figur: Ihm war ein kleiner Contredanse, ein Ritournell, ein Ballet figuré waren Einladung genug –

...und es schwirrt und glitzert, kokettiert und tändelt, da wird Haschen gespielt, dort eine lange Nase gemacht, und unsere Phantasie ... ist schon unterwegs:

______Musik 2 Jean-Philippe Rameau 1´07 <5> Contredanse aus: Les Fetes de l´Hymen et de l´Amour Les Ambassadeurs Ltg. Alexis Kossenko Erato 509999 9341492 0, LC 4281 ______Und husch, fort sind sie - wer auch immer da war.

Doch - von der anderen Seite der Bühne ziehen die nächsten schon auf! - Was sind das für Wesen: Amouretten? Nereiden? Zephir und seine Winde? Oberon und sein Gefolge? Also Kobolde? Waldelfen?

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In jedem Fall kommen sie zum Ritournell wohlgeordnet in einer Fuge daher, einer nach dem anderen:

______Musik 3 Jean-Philippe Rameau 0´53 <11> Ritournelle aus: Hippolyte et Aricie Les Ambassadeurs Ltg. Alexis Kossenko Erato 509999 9341492 0, LC 4281 ______

- Und fort auch die!

Und noch ein Aufzug - Ballet figuré: Jetzt wird der Tonfall gewichtiger, gravitätischer: der Rhythmus, ein schwerer Vierertakt; zunächst allerdings verschleiert durch den schnellen Abwärtslauf zu Beginn, im zweiten Takt ordnen sich die Betonungen dann: die Oberstimme fädelt sich zu den schweren Schlägen der tiefen Streicher ein, - man braucht ein, zwei Takte, um sich zu orientieren.

Kaum aber begreift man den Rhythmus, dann ändert sich die Richtung der Melodie, jetzt strebt sie nach oben. - Dann plötzlich eine kurzer Einwurf tänzerischer Leichtigkeit, die Harmonien changieren, die Rhythmen verschieben sich - und der nächste Stimmungswechsel, ausgelöst jetzt durch beunruhigende Tremoli in den Streichern.

Ein Blick zum Himmel: Zieht Sturm auf? ______Musik 4 Jean-Philippe Rameau 1´25 <13> Ballet figuré aus: Les Ambassadeurs Ltg. Alexis Kossenko Erato 509999 9341492 0, LC 4281 ______

Drei kurze Ausschnitte aus drei verschiedenen Bühnenwerken von Jean-Philippe Rameau: Les Ambassadeurs unter Alexis Kossenko spielten als erstes einen Contredanse aus dem opéra-ballet Les Fetes de l´Hymen et de l´Amour, dann ein Ritournelle aus Rameaus erster Oper Hippolyte et Aricie und zuletzt: Ballet figure aus Zoroastre. 6

„AnschauungsMaterial“ für die Ohren war das, um vielleicht den Hauch einer Idee davon zu bekommen, was das Pariser Publikum vor rund 250 Jahren so schockiert haben mag, was die einen zu stürmischer Begeisterung, die anderen zu vehementer Ablehnung gebracht hat. Doch das wird uns schwer fallen: Mitten im 21. Jahrhundert können wir uns das eben nicht vorstellen, weder was das Schockierende an dieser Musik gewesen sein soll noch die Wellen der Empörung, und vor allem nicht die Dimensionen der öffentlichen Diskussion, die ästhetischen Dispute, die zum Teil über Jahre in der Zeitung, in öffentlichen Briefen, in den Salons geführt wurden, -eigentlich überall, wo man sich zum Gedankenaustausch traf.

Die erste Auseinandersetzung wurde ausgelöst durch die neue Musiksprache in Hippolyte et Aricie, im Folgenden ist dann ein Muster entstanden, das während der dreißig Jahre, die Rameau noch lebte und komponierte, musiktheoretische Abhandlungen schrieb und sich in Schrift und Ton äußerte, bestehen bleiben sollte. Und was in Reaktion auf seine erste Oper zunächst als rein musik-ästhetischer Streit begann, bekam später im Bouffonistenstreit und mehr noch später in der Auseinandersetzung zwischen Rameau und Rousseau auch politische Dimensionen. Und natürlich waren auch bei den großen Philosophen dieser Zeit, bei Voltaire, Diderot und eben Rousseau kleine menschliche Eigenschaften mit im Spiel wie Eifersucht, Eitelkeit, Geltungsbedürfnis.

Zu Beginn aber reagierte die Öffentlichkeit ganz einfach auf die Neue Musik. Im Mercur de France hieß es im Mai 1734, ein halbes Jahr nach der Uraufführung von Hippolyte et Aricie in einem satirischen Brief „…dass die Dissonanzen hier gewollt und das Glanzstück der Kunst seien […]: Man durchlief sämtliche Töne in großer Eile, wobei mit Dissonanzen wahrlich nicht gegeizt wurde; zeitweise wurden geradezu obstinat während einer Viertelstunde zwei Töne ständig wiederholt, dann gab es reichlich Lärm, ständig Triller (...), das Besondere hier war barocker Art, der Furor des Getöses; anstelle von (charmanter) Heiterkeit (grobe) Turbulenzen, und niemals gentillesse, Anmut, einfach nichts, was das Herz berühren konnte.“

So schrieb ein glühender Anhänger von Lully. -Der Begriff „barock“ übrigens steht hier eindeutig abwertend für all die negativen Eigenschaften der Musik Rameaus. „Barock“ als Bezeichnung einer Epoche etablierte sich erst sehr viel später. 7

Eines jedenfalls war klar: Da war nichts weniger als ein Sturm im Anmarsch. ______Musik 5 Jean-Philippe Rameau 4´18 <17> Tempete, Air d`Emilie: Vaste empire des mers aus: Sabine Devieilhe, Sopran Le Jeune Choer de Paris (Dir. Henri Chalet) Les Ambassadeurs Ltg. Alexis Kossenko Erato 509999 9341492 0, LC 4281 ACHTUNG : Anfang abgerissen, da attacca ______

Großes Reich der Meere - ein Sturm als Spiegelbild der Verwirrung der Gefühle aus Rameaus Opernballet Les Indes Galantes mit Sabine Devieilhe, dem Jeune Choer de Paris und noch einmal Les Ambassadeurs. - Dass übrigens die junge französische Sopranistin Sabine Devieilhe ihr Debüt auf CD gerade Rameau gewidmet hat ist ein doppelter Glücksfall: Die Sängerin zeigt sich hier fast spielerisch einem Repertoire gewachsen, das besondere Feinheiten in Technik und Interpretation fordert, und Rameau wird um eine Facette reicher. -

Die alte Diskussion zwischen Tradition und Moderne, der Streit Lulliste contre Ramoneurs (wie Voltaire die Ramiste bezeichnete) sollte unglaubliche zwanzig Jahre lang dauern sollte: Die konservativen Opernfreunde empfanden die Musik von Rameau regelrecht als Bedrohung des traditionellen Opernstils, so wie ihn Jean-Baptiste Lully etwa sechzig Jahre vorher etabliert hatte, Lully war auch in den 1730er Jahren immer noch der Maßstab aller Dinge an der Pariser Opéra. -Angeführt wurde diese Gruppe von Pierre-Charles Roy, einem der führenden Librettisten seiner Zeit. Roy hegte eine geradezu persönliche Aversion gegenüber Rameau, und bei einem wohl zufälligen Treffen der beiden ist es tatsächlich einmal zu einer öffentliche Rauferei, danach haben Rameaus Freunde dem Komponisten nahegelegt, dass er - wenn er aus dem Haus ginge - vielleicht besser keinen Degen trage... Ein weiterer Grund der Ablehnung gegenüber Rameau lag vermutlich darin, dass er als anerkannter Musiktheoretiker jetzt sozusagen das Terrain wechselte: Gutes altes Vorurteil: Ein Musiktheoretiker, ein Musikwissenschaftler kann doch nicht komponieren und selber Musik auf hohem Niveau machen! Die Kritiker meinten ‚in seinen Harmonien eine geradezu geometrische Qualität’ zu entdecken, ‚die das Herz geradezu ängstige’.

Der Mathematiker d’ Alembert dagegen, fasziniert von Rameaus glasklarem Verstand und 8

dem methodischen Ansatz in seinen Schriften, formulierte es grundsätzlicher - und vielleicht auch menschlicher:

„Es geschieht aus Trägheit, dass die Franzosen in der Musik das Neue nicht mögen. Wie viele Leute sprechen schlecht von einer ‚air’, einer Melodie, bloß weil sie sie nicht nachsingen können.“

Also standen nicht nur Tradition und Moderne gegeneinander, sondern auch das andere uralte Konfliktpaar: Gefühl und Verstand. Airs zum Nachsingen gibt es natürlich auch bei Rameau, bei Lully aber ganz sicher, beispielsweise der Gesang der Nymphen in Lullys Oper Psyché: ______Musik 6 Jean-Baptiste Lully ca. 3´20 CD2 <11-12> Air des Nymphes - L´Amour a des charmes (2´30) Air (Entr´Acte) (0´52) aus: Psyché Teresa Wakim, Sopran Boston Early Music Festival Ltg. Paul O´Dette & Stephen Stubbs cpo 777 367-2, LC 8492 ______

Air der Nymphen mit anschließender Zwischenakt-Musik aus der Oper Psyché von Jean- Baptiste Lully mit Amanda Forsythe und Teresa Wakim und dem Boston Early Music Festival Orchestra.

Die Vehemenz der Ablehnung von Rameaus Opern durch die Gruppe der Lullistes in Frankreich war eigentlich erstaunlich, Rameau selbst hatte seinen Vorgänger Lully „immer“ - wie er sagte - „als großen Meister respektiert“ und seine Opern bauten auf der Struktur der Tragédie en musique von Lully auf. Rameau sah sich klar in der Nachfolge Lullys, allerdings als jemand, der die alte Form weiterentwickelte und erneuerte.

So entsprechen auch Rameaus erste Opern der traditionellen Form der Tragédie en musique: Auf einen Prolog folgen fünf Akte. Andere Operntypen, die sich in den sechzig Jahren seit Lully entwickelt hatten - wie das opéra-ballet, das ballet héroique oder die comédie lyrique - waren formal nicht ganz so eng gefasst und hatten meist weniger Akte. Wobei die Vielzahl der Bezeichnungen verwirrt, die Unterschiede waren eher geringfügig.

Ganz wichtig war das Divertissement in jedem Akt: Hier wurden Arien getanzt, gesungen und die verschiedensten Spielereien ausprobiert. 9

Das Ganze war eine Mischung aus Drama und Gesang, Tanz und Kostümfest, mit der Jean-Baptiste Lully seinen Dienstherrn, den Sonnenkönig Louis XIV, über Jahrzehnte erfreut hatte: ______Musik 7 Jean-Baptiste Lully ca. 2´35 <12+13> Marche pour la cérémonie des Turcs Reprise de la Marche pour la cérémonie des Turcs Capriccio Stravagante Ltg. Skip Sempé ALP 814, LC ? ______Marche pour la cérémonie des Turcs von Jean-Baptiste Lully mit dem Ensemble Capriccio Stravagante.

Als Rameau anfing, für die Bühne, das Musiktheater zu schreiben, waren ihm zwei Grundsätze wichtig: Zum einen war er der Auffassung, dass die Handlung einer Oper sich in der Musik widerspiegeln sollte. Seine Forderung: Als Voraussetzung dafür müsste der Komponist einen klaren Plan haben, eine Vorstellung, wie er die Tragédie aufbauen und gestalten wollte, und vor allem müsste er sich die Handlung schon bei Beginn der Komponierens vorstellen können. -Bei diesem Anspruch verwundert es nicht, dass Rameau seinen Librettisten gern „dreinredete“ und häufig Änderungen und Korrekturen forderte. Allerdings hatte er auch keinen kongenialen Partner an seiner Seite wie Lully mit seinem Librettisten Quinault, der Dichter Quinault der ihm so wunderbare Vorlagen wie Atys oder Amadis geschrieben hatte!

Der zweite Grundsatz Rameaus bezieht sich auf das „wie“ in der Umsetzung: Es reichte ihm nicht, die stereotypen Mittel der sogenannten Affektenlehre zu nutzen, vorgegebene Formeln und musikalische Figuren, um dramatische Inhalte in Musik setzen zu können, Rameau steckte sein Ziel höher: Er forderte in seinen Schriften eine „psychologische musikalische Interpretation“ der handelnden Figuren, damit die Musik den Zuhörer niemals langweile!

Um diese Vorstellung umzusetzen löste sich Rameau allmählich von Lullys Vorbild: zum einen durch seine viel modernere Orchestersprache, seine häufig dissonanten Harmonien und Klangfarben, die ihm die Drohungen und Schmähungen der Lullisten einbrachten, zum anderen in der Erweiterung der Form: Diese Entwicklung lässt sich am leichtesten an seinen Ouvertüren verfolgen: Die sog. Französische Ouvertüre (wie sie später genannt wurde) geht ebenfalls auf Lully zurück: Nach einem festgelegtem Schema beginnt sie mit einem gravitätischen, langsamen Teil, der 10

immer in punktiertem Rhythmus steht; darauf folgt ein schnellerer zweiter Teil, ein Fugato, in dem die Stimmen nacheinander einsetzen; am Schluss steht noch mal ein diesmal kürzerer punktierter Abschnitt, - dieser dritte Teil allerdings sollte im Laufe der Zeit immer häufiger wegfallen.

In Rameaus ersten Opern in den 1730er Jahren ist dieser Typus noch klar zu erkennen, von Hippolyte et Aricie über Les Indes galantes, und Les Fetes d’Hebés bis zu aus dem Jahr 1739, - wobei die Punktierung hier schon nicht mehr ganz so gravitätisch ausfallen muss:

______Musik 8 Jean-Philippe Rameau 4´13 CD1<1> Dardanus - Ouvertüre Ensemble Pygmalion Ltg. Raphael Piehon ALP 951, LC 0516 ______

Dardanus - die Ouvertüre zu Rameaus Oper, gespielt vom Ensemble , eine Ouvertüre noch im traditionellen Stil der sog. Französischen Ouvertüre nach Lully.

Spannend wurde es, als Rameau damit begann, mit der Form der Ouvertüre zu experimentieren: Sein Ziel war dabei, die Ouvertüre und die eigentliche Handlung einer Oper enger miteinander zu verknüpfen.

Ein Stilmittel, das sehr beliebt war zu seiner Zeit, war die musikalische Nachahmung. Da gab es unzählige Spielarten und Rameau und seine Kollegen scheinen sich in diesem Metier geradezu Wettbewerbe geliefert zu haben, und - wer weiß - vielleicht gab es unter den Zuhörern Ratespiele - ?

Nachgeahmt wurde vom Vogelgesang - in aller Art Instrumentalmusik und natürlich auch in gesungenen Opernszenen - über den Versuch, die Wesensart des ein oder anderen Kollegen oder Freundes musikalisch nachzuzeichnen bis hin zu Tieren, Launen, Gemütszuständen, Kriegsszenen oder Wetterumschwüngen.

Es gibt auch skurrile Beispiele: So hat eine Operation, eine Gallenstein- Entfernung, der er sich hatte unterziehen müssen, in ein Cembalostück verwandelt; dagegen scheint ein Huhn - Rameaus La Poule - oder ein Hüpfespiel, wie La Marella von Antoine Forqueray eine einfachere Vorlage zu geben: Forqueray lässt hier zwei Gamben und eine Erzlaute das Spiel nachzeichnen, mit dem sich 11

Kinder seit Urzeiten auf der Straße vergnügen:

______Musik 9 Antoine Forqueray 3´03 <11> La Marella Vittorio Ghielmi u. Rodney Prada, da Gamba Luca Pianca, Theorbe passacaille 995, LC 10925 ______

La Marella - von Antoine Forqueray, Vittorio Ghielmi u. Rodney Prada spielten Viola da Gamba, Luca Pianca - Theorbe.

Als Forqueray dieses Stück 1747 in Paris veröffentlicht hat, war der alte Streit um Tradition und Moderne immer noch nicht ausgefochten, im Gegenteil: Die Kontroversen zwischen den Lulliste und den Ramoneurs wurden weiter gepflegt, öffentliche Briefe wie Giftpfeile ausgetauscht, Pamphlete verteilt usw.

Engagiert haben sich hier vor allem die Intellektuellen: Auf Rameaus Seite die Philosophen Voltaire und Diderot, dazu der einflussreiche Monsieur La Pouplinière, einer der reichsten Bürger der Stadt und seit den 1730er Jahren Rameaus Mäzen, und auf der anderen Seite wehrten sich nach wie vor gegen zuviel Künstlichkeit und Gelehrsamkeit Komponisten wie Pignolet de Montéclair und vor allem Jean-Jacques Rousseau.

Wobei sich der Disput beim Kartenverkauf interessanterweise nicht negativ bemerkbar machte, im Gegenteil, Musikfreunde schimpften darüber, dass zwar anscheinend keiner Rameaus Musik hören wollte (wenn man die Zeitung läse), man erstaunlicherweise aber kaum an Billets käme, - Graham Sadler vermutet in seinem Rameau-Compendium, dass die meisten Opernbesucher sich zu keinem der beiden Lager zählten, sondern einfach Musik hören wollten.

Die Auseinandersetzung trieb längst auch komische Blüten: Bei André Campra beispielsweise handelt ein ganzer Opernprolog von diesem ästhetischen Streit; und Denis Diderot fasste in seinem Roman Les Bijoux indiscrets von 1748 (Die geschwätzigen Kleinode) die Kontroverse zusammen: In einer der Geschichten in diesem Roman vergleicht er die Verdienste des „Ut-mi-ut-sol“, des Monsieur Lully, mit denen des „Ut-re-mi-fa-sol-la-si-ut-ut-ut“, - also denen des Monsieur Rameau. 12

Der wiederum hat mit seiner Oper Zais, ebenfalls aus dem Jahr 1748, endgültig mit Lullys Ouvertüren-Vorbild gebrochen: Diese Pastorale-héroique (ein weiterer der vielen Musiktheater-Typen dieser Zeit) beginnt mit einer regelrechten Programm-Ouvertüre. Das hatte jetzt nichts mehr zu tun mit einem Konzertstück zu Beginn einer Oper, das - wie bei Lully - dem Publikum signalisieren sollte „Es geht gleich los!“, Die Ouvertüre zu Zais zeigt Tonmalerei vom Feinsten: Im Prolog wird beschrieben, wie die Welt aus den Abgründen des Nichts hervor steigt, wie sie aus dem Chaos entsteht. Genau das erzählt Rameau in seiner Musik: Er beschreibt die Bildung der Elemente. Zu Beginn ist da - Nichts.

Dann ein Schlag auf der gedämpften Pauke, - und noch ein Schlag. Und es entwickelt sich ein Rhythmus - und reißt wieder ab. Streicher antworten, auch hier ein Rhythmus, - und plötzlich in einer ganz anderen Harmonie eine Melodie, die völlig isoliert und noch beziehungslos in der Luft zu hängen scheint. -Sie finden erst allmählich zueinander und dann entsteht die Welt, entsteht Musik. Am Anfang war Rhythmus - es lohnt sich, dafür leise zu sein:

______Musik 10 Jean-Philippe Rameau 5´16 <3> Zais - Ouvertüre Les Talens Lyrique Ltg. decca/l´oiseau lyre 475 9107, LC 0171 ______

Les Talens Lyrique, geleitet von Christophe Rousset, spielte die Ouvertüre zu Zais von Jean- Philippe Rameau. -Dass diese Ouvertüre in der gerade gehörten ursprünglichen Form mit ihrem unkonventionellen Beginn 1747 nur wenige Male aufgeführt wurde, das ist leicht nachzuvollziehen: Das war zu naturalistisch, das erschreckte - auch wenn die Musik eigentlich nur den Inhalt der nachfolgenden Handlung erzählte.

- Rameau galt als „Nonkonformist am Rande der Tradition“! Er war einfach in vielem seiner Zeit voraus, gerade mit seiner Reform der Ouvertüre verwies er schon auf Gluck, auf Mozart, - Rameau hat die Französische Oper - gegen die Konventionen seiner Zeit - zu ihrem Höhepunkt geführt, - und gegen Ende 18. Jahrhunderts 13

durchaus auch zu ihrem Endpunkt: Europaweit durchsetzen sollte sich langfristig die „Italienischen Oper“, die in vielem gefälliger, eingängiger war, eine leichter erkennbare Struktur bot und in der sich Starsänger in den vielen virtuosen Arien produzieren konnten anstatt sich in französischen Rezitativen zu verlaufen.

Der Lulliste contre Ramoneurs-Konflikt hatte sich Ende der 1740er Jahre allmählich totgelaufen, doch nur wenige Jahre später sollte die Ankunft einer italienischen Operntruppe in Paris die nächsten Konflikte auslösen - doch darum geht es morgen in der letzten Musikstunde dieser Woche, und morgen werden wir auch Rameaus 250. Todestag gebührend begehen!

Übrigens einig waren sich Rameaus Gegner und Anhänger immerhin darin, dass sich das Orchester der Pariser Académie Royale de Musique durch die Anforderungen, die Rameaus Stücke an die Spieler stellten, über die Jahre zu einem ganz vorzüglichen Klangkörper entwickelt hatte: Hier waren jetzt Musiker zu hören, die sowohl hoch virtuos spielen konnten, als auch in einem scheinbar einfachen Tänzchen genau den richtigen Tonfall trafen:

______Musik 11 Jean-Philippe Rameau 1´53 <20> Tambourin aus: Zais Ausonia Ltg. Frédérick Haas ALP 142 , LC 0516 ______