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SWR2 Musikpassagen

Drei Akkorde und die Wahrheit

Der ewig moderne

Von Luigi Lauer

Sendung: Sonntag, 8. April 2018, 23.03 Uhr Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2018

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Eine Aussage, die man gut als Quizfrage hernehmen könnte: Wer ist der Vater, über dessen Nachlass eine gewisse Nora hier spricht? Leider müssten wohl selbst sehr viele Amerikaner bei dieser Frage passen. Nora heißt mit Nachnamen Guthrie, und jetzt ist es ganz leicht: Nora ist die Tochter von Woody Guthrie. Um ihn, den großen amerikanischen Folk-Musiker, dreht sich die heutige Sendung, und zu der begrüßt Sie ganz herzlich Luigi Lauer.

--- CD Woody Guthrie, Hard Travelin´, Track 1, , 2:46 ---

This land is your land – das berühmteste Lied von Woody Guthrie und Amerikas Folk-Hymne schlechthin. Es war als Parodie auf „God Bless America“ gedacht, Guthrie hasste dieses Lied, wie er heute vermutlich „America first“ hassen würde, gäbe es auch dazu ein Lied.

Guthrie, Jahrgang 1912, stammt aus dem Städtchen Okemah im Bundesstaat Oklahoma. Die Gegend gehörte zur Dust Bowl, der Staubschüssel. Man hatte riesige Flächen urbar gemacht, um Getreide anzupflanzen und dafür das Präriegras gerodet. Verheerende Staubstürme waren die Folge und machten halbe Bundesstaaten unbewohnbar. Das geschah ausgerechnet vor und während der Wirtschaftskrise in den 1930-er Jahren. Hunderttausende, Okies genannt wegen Oklahoma, gingen auf der Suche nach Arbeit auf Wanderschaft. Die Route 66 gelangte so zu ihrem ehemals traurigen Ruhm. Auch Woody Guthrie verließ Oklahoma, verdingte sich in allerlei Jobs und kam 1940 nach New York, wo er „This land is your land“ schrieb. Als junger Mensch, der aus gehobenen Verhältnissen stammte, hatte er früh das meist erbärmliche Leben der Arbeiter hautnah kennen gelernt und begann, seine Beobachtungen in Lieder zu fassen. wurde sein erstes und erfolgreichstes Album, es erschien 1940. Guthrie sich in links-ökologischen Bewegungen und Gewerkschaften und schrieb zahlreiche Lieder, auch für die kommunistische Partei. In konservativen Kreisen kam das nicht gut an.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Mein Vater stand schon während des Krieges auf der schwarzen Liste wegen seines Engagements für die Gewerkschaften, die Friedensbewegung und für die kommunistische Partei. Er war zwar kein Mitglied, soweit wir wissen, lieferte ihnen 2 aber über längere Zeit ihren Soundtrack.“

McCarthy, ein Blender, Betrüger und Lügner, trieb nach dem Krieg die Verfolgung Linker auf die Spitze. China war gerade kommunistisch geworden, Russland hatte seine erste Atombombe gezündet. McCarthy, dem noch ein Thema fehlte, um als Senator wiedergewählt zu werden, setzte auf die rote Karte. „Left wing, chicken wing, it´s all the same to me“, hat Woody Guthrie dazu einmal gesagt, „Linker Flügel, Hähnchenflügel, für mich ist das Alles dasselbe.“ Die einfache und scheinbar unverfängliche Sprache verhinderte oft, dass die Lieder zensiert wurden. Aber nicht immer. Offensichtlich hatte man Angst vor der Kraft seiner Texte.

(O-Ton Nora Guthrie): „Der Grund für die Wirkmacht der Lieder ist, dass sie ganz einfach wahr sind. Sie beruhen entweder auf tatsächlichen Ereignissen oder auf existentieller, spiritueller Wahrheit. Und alle sind in der letzten Zeit wieder aufgetaucht, als durch die Wahl Donald Trumps dunkle Wolken des Faschismus in Amerika aufzogen. Wir haben also diese Lieder, um gegenzuhalten. Überall im Land demonstrieren die Menschen für verschiedene Ziele, seien es die Gesundheitsvorsorge, die Bürgerrechte, die Gleichstellung der Afro-Amerikaner oder die Abschiebung von Mexikanern. Die Lieder meines Vaters sind wie ein Index von Liedern, die man jetzt singen sollte. Es beeindruckt und bewegt mich sehr, wenn ich heute Mexikaner, die abgeschoben werden sollen, das Lied „This Land is your Land, this Land is my Land“ singen höre. Oder wenn Frauen dieses Lied im Kongress singen für Gleichberechtigung und all solche Themen. Das ist ergreifend. Die Haltung, die man in diesen Liedern wiederfindet, ist nichts Geringeres als das Fundament der Demokratie. Und die Lieder werden recyclet und gesungen, lauter und von mehr Menschen als je zuvor. Gerade passiert Folgendes: Das Wiederaufleben der Energie dieser Lieder hat dazu geführt, dass Menschen, metaphorisch wie buchstäblich, ihre Stimme wiederentdeckt haben. Es ist hinreißend und macht mich stolz, dass mein Vater all diese Fragen behandelt hat und all diesen Gruppen den Soundtrack ihres Lebens gegeben hat. Dafür kämpfen wir jetzt in Amerika. Es sind Lieder einer wirklichen Demokratie.“

--- CD Woody Guthrie, Hard Travelin´, Track 2, Pastures of plenty, 2:25 ---

Pastures of plenty, Weiden des Überflusses – auch dies eines der bekannteren Lieder Woody Guthries. Die Dust Bowl und die damit verbundene Migration in fruchtbare Gegenden werden erwähnt, in denen die Arbeiter das Rückgrat der Nation bilden und ein entsprechend würdevolles Dasein verdienen.

Wer sich für tiefschürfende Informationen zu Woody Guthries Liedern und zu seinem Leben interessiert, dem sei das Woody Guthrie Centre in Tulsa, Oklahoma, empfohlen. Dessen Entstehung ist etwas konfus. Bereits 1972, fünf Jahre nach dem Tod Guthries, wurde die Woody Guthrie Foundation gegründet mit dem Ziel, Guthries Erbe zu bewahren. Nachdem Tochter Nora Guthrie, wie eingangs von ihr beschrieben, 1990 Materialien bei dem Musikmanager und Filmproduzenten Harold Leventhal entdeckt hatte, wurde der Grundstock für das eigentliche Archiv gelegt, das 1996 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, in Mount Kisco, New York – bis heute Wohnort von Nora Guthrie.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Das Archiv beschränkt sich nicht darauf, Dokumente zu erhalten, und wir wollten 3 auch nicht zuviele Erläuterungen geben und Zeitbezüge herstellen. Woodys Gedanken gehören in die Zeit derjenigen, die sie anschauen, mit ihren aktuellen Fragestellungen. In diesem Sinne sind es die Archivbesucher, die definieren, was Sinn und Zweck des Archivs sind, je nachdem, was sie wissen wollen und wonach sie suchen. Ein Beispiel: Wenn Krieg herrscht, ist der Fokus auf Material gerichtet, das Gedanken zum Krieg beinhaltet. Dann kommen viele Menschen ins Archiv, denen Woodys Gedanken zu Krieg oder Faschismus oder Gewalt und so weiter wichtig sind und die entsprechend auswählen. Das Faszinierende an der Arbeit im Archiv ist nicht, was wir die Besucher lehren können, sondern, was diese in Woodys Worten finden. Und das lehren sie uns.“

Das spiegelt die Arbeit von Woody Guthrie wieder. Auch er war ganz nahe bei den „Folks“, er war selber Teil der Bewegungen und sammelte ein, was ihm bemerkenswert erschien.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Er sagte immer, die besten Ideen habe er von den Leuten auf der Straße. Der Unterschied sei nur, dass er sich die Zeit nahm, sie aufzuschreiben und dafür zu sorgen, dass sie sich reimten (lacht).“

Wie fortschrittlich Guthrie bereits in den 1930-er Jahren war, zeigt sich auch darin, dass er die Gleichstellung und Gleichbehandlung von Frauen selbstverständlich fand. Woody Guthrie, ein Feminist?

(O-Ton Nora Guthrie): „Absolut! „She came along to me“, eines der Lieder, die aufgenommen hat, wäre nicht möglich gewesen, wenn die Frauen nicht als Teil des Ganzen gesehen worden wären. Das ist nur ein Beispiel von Hunderten, aber es wurde zu einem Manifest der Gleichberechtigung. Woody schrieb über alle Themen, von A bis Z, mit einer 360-Grad-Weltsicht. Es ist alles politisch, gleichzeitig aber auch metaphysisch, philosophisch, und poetisch. Bob Dylan hat einen der interessantesten und wahrhaftigsten Sätze über meinen Vater gesagt: „Wenn man Woody Guthries Lieder anhört, lernt man zu leben“.

Auch das jüdische Leben in New York interesierte ihn, er schrieb mehrere Lieder darüber. Denn Guthrie hatte in eine jüdische Familie eingeheiratet, ohne selber jüdischer Abstammung zu sein.

--- CD Billy Bragg & , CD , Track 6, She came along to me, 3:28 ---

Der britische Musiker Billy Bragg, hier zusammen mit der amerikanischen Alternative Country-Band Wilco. Mermaid Avenue heißt das Album, das Bragg 1998 in Zusammenarbeit mit Nora Guthrie veröffentlichte und das hauptsächlich aus Texten bestand, für die Guthrie keine Musik geschrieben hatte. Das war leider die Regel. Woody konnte keine Noten lesen oder schreiben, und so gibt es im Archiv bis heute Hunderte unvertonter Texte. Der Albumtitel Mermaid Avenue, also Meerjungfrauen- Allee, erinnert an die Adresse der Guthries auf Coney Island in New York, wohin Woody 1946, also nach dem Krieg, wieder gezogen war.

Zu dieser Zeit zeigten sich auch erste Symptome seiner Erkrankung, Chorea 4

Huntington. Woody Guthries Mutter war daran gestorben, ohne dass man herausfand, was sie eigentlich hatte. Über Genetik und Erbkrankheiten wusste man damals noch nicht viel. Woody wurde in immer kürzeren Abständen im Krankenhaus behandelt, die Diagnosen reichten von Alkoholmissbrauch bis Schizophrenie.

(O-Ton Nora Guthrie): „Viele seiner Freunde wandten sich von ihm ab, weil ein Zusammensein mit ihm problematisch war. Selbst meine Mutter wollte uns nicht mehr mit ihm alleine lassen, nachdem die Diagnose offiziell war. Wir waren drei kleine Kinder im Alter von ein, zwei und drei Jahren, und sie sagte, ihr sei das zu gefährlich.“

Inzwischen war Woody Guthrie längst ein beachteter Liedpoet, viele junge Musiker erwiesen ihm am Krankenbett die Ehre, darunter auch, und vor allem, Bob Dylan.

(O-Ton Nora Guthrie): „Einige waren sehr sensibel, was den Stolz meines Vaters betraf. Er konnte nicht mehr spielen. Aber er wollte von den jungen Musikern nicht pathetisch behandelt werden. Ich erinnere mich, wie Bob Dylan erzählte, dass er lernen musste, Woody nicht beim Anzünden einer Zigarette zu helfen, ganz gegen den ersten Impuls. Er tat es nicht, denn er wollte nicht, dass Woody seine Würde einbüßt. Und wenn es zehn Minuten dauerte, egal, er ließ ihn das selber machen, „der schafft das schon“. In vieler Hinsicht hat Dylan meinen Vater unterstützt. Er brachte ihm auch immer Zigaretten ins Krankenhaus, zusammen mit Notizblöcken und Stiften, wie kleine Care-Pakete.“

Ein Verhalten, das man sich nach der unglaublichen Arroganz, mit der Bob Dylan das Nobelpreis-Komittee düpierte, heute kaum vorstellen kann.

(O-Ton Nora Guthrie): „Damals war er halt so, wie er damals war. Er war sehr sensibel, er kümmerte sich. Er kannte alle Lieder meines Vaters und wusste, wie gerne der sie hörte, und er spielte und sang sie, er war eine regelrechte Woody-Guthrie-Jukebox. Und ich dachte, ja, so ist man früher in die Lehre gegangen, so lernte man, Stücke zu schreiben oder sonst einen Beruf auszuüben. Und für meinen Vater war das Liederschreiben eine ganz normale Arbeit, keine Kunstform, das macht einen großen Unterschied. Ich denke, Dylan lernte damals mit meinem Vater schon alleine dadurch, dass er dessen Lieder sang. Zum Teil hat er so gelernt, wie man ein Lied schreibt.“

Bob Dylan ehrte Woody Guthrie 1963 mit „Last thoughts on Woody“, einem fünf Seiten langen Gedicht, welches Dylan gelegentlich live bei Konzerten vortrug. Und er schrieb das Lied „“.

--- CD Bob Dylan, Bob Dylan, Track 12, Song to Woody, 2:45 ---

Bob Dylans „Song to Woody“, eine 1962 auf Bob Dylans selbstbetiteltem Debütalbum veröffentlichte Hommage.

Auch zu der Zeit war die Forschung über die Erbkrankheit Chorea Huntington, deren Symptome sich bei Woody Guthrie zunehmend zeigten, noch kaum fortgeschritten. Beschrieben wurde die Krankheit bereits 1872 von George Huntington. Irrigerweise 5 nahm er an, dass sie nur auf Long Island zu finden sei. Interessant daran ist aber, dass die Familie Guthrie ab Mitte der 1940-er Jahre auf Coney Island lebte, einem Teil von Long Island. Heilbar ist Chorea Huntington bis heute nicht.

(O-Ton Nora Guthrie): „Sie wussten, dass er Huntington hatte. Mehr aber auch nicht. Sie konnten ihn auch nicht im Krankenhaus behalten. Was hätten sie tun sollen? Es gab keine Medikamente, es gab kein Mittel gegen die Krankheit, also schickten sie ihn weg. Dann wanderte er ein paar Jahre allein durch die Gegend, bis er sich selber wieder ins Krankenhaus begab.“

Man kann sich die Verzweiflung dieses Mannes kaum vorstellen. Woody, der Familienmensch, Woody, der sich so gerne unters Volk mischte, leidet an einer Krankheit, die soziale Kontakte zunehmend erschwert und schließlich fast unmöglich macht. Arlo, als ältestes Kind, musste sich um seinen Vater kümmern, ihn anziehen, durch die Wohnung tragen. Selbst Lieder zu schreiben, Woodys selbstverständliche tägliche Arbeit, wurde am Ende unmöglich. Dabei zeigen frühe Dokumente etwas ganz Besonderes:

(O-Ton Nora Guthrie): „Eine absolut perfekte, bildschöne Handschrift. Mit dem Fortschreiten der Krankheit wurde sie schlechter und schlechter bis zur Unlesbarkeit. Es gab viele Symptome wie sprunghaftes Verhalten, emotionale Instabilität mit teilweise gefährlichen Episoden, sexuelle Neigungen, Nuscheln. Wir wissen heute, 50 Jahre später, dass es Symptome von Huntington waren. Damals dachte man, er sei Alkoholiker, er sei böse, er sei hemmungslos.“

Guthries Frau Marjorie wollte das nicht tatenlos hinnehmen. Sie rief das Committee to Combat Huntington's Disease ins Leben, das Komittee zur Bekämpfung von Huntington, und inserierte sogar in der NYT, um aus dem ganzen Land, ja, der ganzen Welt Wissen über die Krankheit zusammenzutragen. Viele Familien hielten die Krankheit von Angehörigen geheim, aus Scham. Man wusste inzwischen, dass es eine Erbkrankheit war, und sie war längst nicht so selten, wie anfänglich vermutet. wollte diese Stigmatisierung durchbrechen und veranstaltete Benefiz-Konzerte. Tochter Nora erlebte so eine höchst ungewöhnliche Kindheit und Jugend.

(O-Ton Nora Guthrie): „Am 18. September 1967 hat sie das Komittee gegründet, nur einen Monat vor dem Tod meines Vaters. Die Idee hinter diesen Konzerten war, Geld für das Komittee zu sammeln, um die Sache ins Rollen zu bringen. Es gab zu der Zeit vielleicht zehn Leute weltweit, die über Chorea Huntington etwas wussten. Meine Mutter hat buchstäblich den Rest ihres Lebens der Aufgabe gewidmet, nach einer möglichen Heilung zu suchen und betroffenen Familien zu helfen. Die ersten 15 Jahre meines Lebens war ich mit der Erkrankung meines Vaters konfrontiert, ich wuchs mit Musik und Medizin auf. Ich lebte mit zwei Generationen Musikern plus Huntington.“

Wenn Woody an den Wochenenden das Hospital verlassen konnte, besuchten ihn Musiker wie , Sonny Terry, Brownie McGhee; später auch jüngere Leute, New Lost City Ramblers, Bob Dylan, Tom Paxton. Da war wohl das eine und andere Mal richtig Stimmung in der Bude. 6

--- CD Roll Columbia, Steve Einhorn & Kate Power, Track 1/11, Roll on Columbia, 4:06 ---

Das Lied Roll on Columbia, geschrieben 1941 von Woody Guthrie, gesungen und gespielt von dem Folk-Duo Kate Power und Steve Einhorn.

Der „New Deal“ war Amerikas Antwort auf die Weltwirtschaftskrise. Präsident Franklin D. Roosevelt setzte zwei riesige Staudammprojekte am Columbia River durch. Zum einen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Zum anderen für die Strom- und Wasserversorgung. Um die Akzeptanz für die Projekte zu erhöhen, engagierte man Woody Guthrie, auf Empfehlung des Musikforschers und Folk-Spezialisten Alan Lomax. Lomax und Guthrie kannten sich gut. Lomax hatte unter anderem die Aufnahmen von Guthries Dust Bowl Ballads betreut. Man ließ Guthrie zu den Staudamm-Projekten reisen, um sich ein Bild zu machen – und der war begeistert.

Für Guthrie war der Job dennoch eine Zwickmühle. Denn in seine Begeisterung mischten sich auch Zweifel, wie man heute aus seinen Briefen weiß. Die Folgen der Dämme für die Umwelt waren gravierend, und indianische Ureinwohner verloren viel Land. Guthrie, damals 28 Jahre jung, musste den Spagat hinbekommen zwischen Propaganda und Kritik, von der die Staudammgesellschaft natürlich nichts hören wollte. Guthrie rettete sich, indem er romantisierte.

Das tat er auch in einem Lied von 1939, in dem zusätzlich seine außerordentliche Begabung zutage tritt, Tiefgang in einfachen Worten zu vermitteln.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Er war ein Genie darin, den Brückenschlag herzustellen zwischen profundem Gedankengut und einfacher Sprache. Eine Textzeile, die immer wiederhallen wird, ist aus Pretty Boy Floyd, sie geht so: ((“Some will rob you with a six-gun, and some with a fountain pen.“)) Die einen rauben dich mit einem Revolver aus, die anderen mit einem Füllfederhalter. Diese Sprache versteht jeder, damit kann jeder etwas anfangen.“

--- CD Woody Guthrie, Hard Travelin´, Track 8, Pretty Boy Floyd, 3:05 ---

Das Lied Pretty Boy Floyd, eine Originalaufnahme von Woody Guthrie. Pretty Boy Floyd war ein Bankräuber und Mörder in Oklahoma Ende der 1920-er Jahre. Weil er die Mächtigen narrte und auch schon mal Geld an kleine Leute verteilte, war er beim Volk beliebt. Erst recht, als zu dieser Zeit große Banken scham- und hemmungslos Farmen pfänden ließen und aus Gier zahllose Menschen um ihre Existenz brachten. Schon Bertolt Brecht schrieb 1931 in der Dreigroschenoper: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Gelegentliches Romantisieren wie in „Pretty Boy Floyd“ schadete Woody Guthrie nicht. Für Zeilen wie die mit dem Revolver und dem Füller liebten ihn die, die ihm wichtig waren: die einfachen Leute.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Zum einen liegt es an der Klarheit seiner Worte und der Verständlichkeit seiner Gedanken. Komplexe oder verschachtelte Ausdrucksweisen findet man nicht bei ihm. Er erzählt eine Geschichte gerade heraus, in sehr einfacher Sprache. Er ist ja kaum zur Schule gegangen, nur bis zur neunten Klasse. Den Rest hat er sich selber 7 beigebracht. Die Sprache, die er einsetzte, war die seiner Zuhörer, die er auf den Straßen fand. Auf genau diese Sprache reagierten die Menschen auch, es war eine reziproke Beziehung. Dasselbe gilt für seine Themen, es sind die Themen der Leute, die er trifft.“

Und es gilt dasselbe für Guthries Musik.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Die Einfachheit der Melodien ist eine weitere Sache. Oft hat er Anleihen genommen aus populären Liedern, aus alten Hymnen oder Balladen, mit denen er aufgewachsen ist, oft schottische oder irische Balladen. Er war immer der Ansicht, dass ein gutes Lied nicht zu komplex sein sollte, damit es bei den Menschen hängenbleibt. Es sollte schlicht genug sein, um sich Melodie und Text zu merken. Für Musik und Text gilt, dass man einen profunden Gedanken einfach formulieren sollte.“

--- CD A tribute to Woody Guthrie, , Track 3, Oklahoma Hills, 3:07 ---

Hier hörten wir Woody Guthries Lied Oklahoma Hills, gesungen von seinem Sohn Arlo, eine Live-Aufnahme aus dem Album „A tribute to Woody Guthrie“ von 1989. Woodys Cousin Jack Guthrie hatte den Text leicht geändert und die Musik in Richtung Country & Western gedreht. Der Song wurde 1945 ein Hit. Auch diesem Lied, wie schon Roll on Columbia, wurde die Ehre zuteil, eine offizielle Folkhymne zu werden, diesmal im Staat Oklahoma, wo sonst.

Wie sieht es heute aus, das Woody Guthrie-Archiv, das 1996 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde? Es ist umgezogen, nach Tulsa im Staat Oklahoma, wo sonst. Es heißt jetzt und feiert just in diesem Monat sein fünfjähriges Bestehen. Ganzjährig gibt es im Center Konzerte, Workshops, Vorträge, Schulungen – und natürlich das Archiv, für das man allerdings ein wenig Zeit mitbringen sollte.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Es sind insgesamt rund 15.000 Posten im Archiv. Dazu gehören dreieinhalb Tausend Seiten Papier mit Texten, handschriftlich wie maschinengeschrieben. Bis jetzt haben wir 350 bis 400 Liedtexte rekonstruiert, von denen wir wissen, dass er sie geschrieben hat. Es steht also der weitaus größte Teil noch zur Auswertung an. Dann haben wir seine Tagebücher, von den späten 1930-er Jahren bis zu seiner Zeit im Krankenhaus Mitte der 1960-er, bevor er nicht mehr schreiben konnte. Darin sind viele Informationen über seine Beweggründe und Gedanken und Fragen enthalten, Informationen, die nicht in seinen Liedern oder sonstwie öffentlich geworden sind. Das waren oft Gespräche, die er mit sich selber führte, und auch die sind absolut faszinierend. Dann haben wir Zeichnungen und Cartoons von ihm, 600 Seiten. Desweiteren haben wir etwa 60 Notizbücher mit je rund 100 Seiten, plus eine große Sammlung an Briefen. Er war ein enorm fleißiger Briefeschreiber, manche davon 50 Seiten lang. Die Briefe vermitteln eine klare Vorstellung davon, mit wem er in Verbindung stand, welche Informationen und Geschichten und Leute ihn interessierten. Bemerkenswert daran ist, wie sehr er um Austausch mit den Menschen bemüht war. Heute überwiegt die Vorstellung, dass Künstler sich abschotten, dass sie alleine sein müssen, um ihre Kreativität auf den Punkt zu bringen. Woody hat sich immer umgehört, hat bewusst Menschen getroffen. Er hat die Geschichten anderer erzählt. Er schrieb fast nie über sich oder sein Privatleben. 8

Er sah sich als Wissensvermittler, nicht als nicht als Unterhalter, so hat er es selbst einmal ausgedrückt.“

Neu im wissensvermittelnden Archiv sind The Tribute Concerts. Es handelt sich um ein Box-Set der deutschen Plattenfirma Bear Family mit Liveaufnahmen aus der Carnegie Hall in New York City, 1968, und der Hollywood Bowl in Los Angeles, 1970. Erschienen ist es zum 50. Todestag Woody Guthries im letzten Jahr.

--- CD The Tribute Concerts, Track II/7, Goin´ down the road, 2:06 ---

Eine Liveaufnahme aus der Hollywood Bowl, zu hören waren Arlo und Jack Guthrie. Dann Country Jo McDonald, dessen erstes Soloalbum von 1969 Woody Guthrie gewidmet war. Und schließlich Pete Seeger, Guthries alter Freund. Goin´ down the road heißt das Lied und ist eines der liebsten von Nora Guthrie aus dem Bear Family Box-Set. Das besteht aus drei CDs mit 100 Titeln, davon 20 bislang unveröffentlicht, und 2 Büchern mit insgesamt 240 Seiten; dazu Interviews mit den eben genannten Künstlern und vielen anderen. Vier Jahre hat die Arbeit am Box-Set gedauert.

Dass es dieses grandiose Stück amerikanischer Musikgeschichte überhaupt gibt, ist ein Glücksfall. Die Originalaufnahmen waren verschollen. Es kostete einige Detektivarbeit, die zu Warner Brothers führte. Doch dort hatten selbst Leute vom Archiv keine Ahnung. Erst ein Jahr später rief eine junge Frau bei Nora Guthrie an, sie hatte wohl bei Warner aufgeräumt und sagte, sie habe ein paar Tonbandspulen gefunden, auf denen stehe etwas mit Woody und Hollywood Bowl. Die Reaktion von Nora kann man sich leicht ausmalen. Sagen wir es mal so: Sie ist komplett ausgeflippt.

Leider gibt es solchen Enthusiasmus nicht überall. Ausgerechnet in Woodys Heimat hat man sich sehr lange sehr schwergetan mit einem adäquaten Gedenken.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Erst in den letzten Jahren hat man in Okemah, Oklahoma, die weltweite Bedeutung von Woody verstanden. Er wurde dort geboren. Vor gerade mal fünf Jahren hat man dort ein Woody Guthrie-Folkfestival begonnen. Ausgerechnet im Mittleren Westen tun sie sich schwer, Woodys Andenken am Leben zu erhalten, denn seine besten Lieder hat er für die Menschen dort geschrieben, für die, die ihre Farmen verlassen mussten und ihre Häuser verloren hatten. Seine Dustbowl-Balladen sind ein Tribut an die Menschen dort und es ist schon fast ironisch, dass man gerade dort kaum auf ihn stößt. Inzwischen findet man ihn aber auch da.“

Und nicht nur da. Sondern überall. Wenn auch im übertragenen Sinn.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Es war ein Weckruf für mich, zu entdecken, dass jedes Land, jede Kultur ihren Woody Guthrie hat. Das scheint eine Notwendigkeit zu sein. Jede Kultur hat eine Madonna, einen Woody Guthrie, eine Britney Spears. Diese kreativen Ikonen stehen fast metaphorisch für einen kulturellen Aspekt, sei es Louis Armstrong, James Dean... es gibt immer die Rebellen und die Unterdrückten.“

Und nicht nur die. Eines der bekanntesten Fotos der Musikgeschichte und zugleich eines der wenigen überhaupt von Woody Guthrie zeigt ihn mit seiner Gitarre, auf der 9 geschrieben steht: „This Machine Kills Fascists“, „Diese Maschine tötet Faschisten“. Er hätte sich auch eine Gitarre für die Rassisten zulegen sollen. Denn einen solchen hatte er einmal als Vermieter. Man mag es kaum glauben, aber es gibt ein Lied mit dem Titel „Old Man Trump“, das Woody Guthrie 1952 geschrieben hat.

(O-Ton Nora Guthrie): „Kürzlich entdeckten wir im Archiv ein paar Texte, die mein Vater über Trump geschrieben hatte. Wir wohnten nämlich in einem Apartment-Haus, das seinem Vater Fred Trump gehörte. Also schrieb er ein paar Lieder über den „Alten Mann Trump“, der überall seinen Rassenhass verbreitete. Und jetzt stehen wir hier, im Jahr 2018, und Donald Trump verbreitet seinen Rassenhass bis auf den heutigen Tag.“

Donald Trumps Vater hatte einen Wohnkomplex nahe Coney Island errichtet und ließ dort nach Möglichkeit ausschließlich Weiße wohnen. Nur Monate nach der Veröffentlichung des Liedtextes nahm sich der amerikanische Politbarde und Aktivist Ryan Harvey den Text vor und schrieb die Musik dazu, die er zusammen mit Ani DiFranco und Tom Morello vertonte.

„Mein Vermächtnis wurzelt im Vermächtnis meines Vaters“, hat Donald Trump einmal gesagt. Entlarvender kann man es nicht formulieren.

Das waren die Musikpassagen auf SWR2 mit einem Portrait Woody Guthries, basierend auf Erinnerungen und Einschätzungen seiner Tochter Nora Guthrie. Natürlich kann man in einer Stunde nur ein kleines Licht auf diesen großen Mann werfen. Ich hoffe dennoch, dass es ein wenig erhellend war. Mit dem Lied Old Man Trump und einer letzten Stellungnahme von Nora Guthrie verabschiedet sich Luigi Lauer, haben Sie noch eine gute Nacht.

(O-Ton Nora Guthrie 2004): „Es gibt nicht viele bekannte Musiker heutzutage, die Woody Guthrie-Lieder singen. Dagegen kann ich nichts einwenden. In einer idealen Welt würden es viele tun, aber in der leben wir nun einmal nicht. Fast könnte man sagen: Daran, wer heute Woody Guthrie-Lieder singt, kann man unseren kulturellen Zustand ablesen.“

--- Single Ryan Harvey & Ani DiFranco, Old Man Trump, 3:05 ---

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Musikliste:

Interpret Titel Musik/Text Label LC Länge Woody This land is Woody Guthrie Palmyra ISBN ./. 2:46 Guthrie your land 3-930378-45-0 Woody Pastures of Sebastian Palmyra ISBN ./. 2:25 Guthrie Plenty Weiss/Chinaza 3-930378-45-0 Billy Bragg & She came Billy Bragg + Elektra/Warner ./. 3:28 Wilco along to me Jeff Tweedy + 62204-2 Jay Bennett/Woody Guthrie Bob Dylan Song to Woody Columbia ./. 2:45 Woody Guthrie/Bob Dylan Steve Einhorn Roll on Steve Einhorn & Smithsonian ./. 4:06 & Kate Power Columbia Kate Folkways SFW Power/Woody CD 40226 Guthrie Woody Pretty Boy Woody Guthrie Palmyra ISBN ./. 4:05 Guthrie Floyd 3-930378-45-0 Arlo Guthrie Oklahoma Woody Guthrie Woody Guthrie ./. 3:07 Hills + Jack Guthrie Publications, Inc., Michael H. Goldsen, Inc., & Unichappell Music, Inc. (BMI) Pete Seeger, Goin´ down Woody Guthrie Woody Guthrie ./. 2:06 Judy Collins the road - Lee Hays Publications, & Arlo Inc. & TRO- Guthrie Hollis Music, Inc. (BMI) Ryan Harvey Old Man Ryan Firebrand ./. 3:05 & Ani Trump Harvey/Woody Records DiFranco Guthrie

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