Jüdisches (Über-)Leben in Österreich STIMMLAGE
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81 Winter 2011 Jüdisches (Über-)Leben in Österreich STIMMLAGE MINDERHEITEN IN DER GEGENWart 2 „Und es [Europa] betrachtet sich in seinen Gegenteil des voreiligen Schlusses, das Gruppen ihrerseits weiter festgeschrieben Minderheiten wie in einem Spiegel, bald Konzept Minderheit habe ausgedient. werden. Diese Dialektik ist auch bezüglich verschwörerisch oder selbstgefällig und Die US-amerikanische Politiktheoretikerin der sozialen Funktion zu beobachten: Der selbstverliebt, bald mit wilder, kaum Iris Marion Young legte in ihrem Buch Justice Terminus Minderheit zeigt an, dass es in bezähmbarer Wut, um sich in neuer and the Politics of Difference eine Analyse der Gesellschaft Machtkämpfe gibt, dass Lebendigkeit wahrzunehmen und zugleich der Herrschaftsverhältnisse vor, welche in diese oft unterschwellig stattfinden, dass der großen Male seiner Geschichte innezu- den 1990er Jahren ziemlich breit und heftig sie zumeist auch zur Bildung von Mehrheiten werden.“ Auf diese mitunter sarkastische diskutiert wurde. Im wohl meist gelesenen und Minderheiten führen. Zugleich will uns Weise beschrieb der französische Historiker Kapitel zählt Young darin fünf Seiten der der Terminus aber – in seinen juridischen Maurice Aymard in den 1980er Jahren die Unterdrückung (five faces of oppression) Endformen wie „Volksgruppe“ eingefro- soziale Funktion der Minderheiten. auf, die sich – einander ergänzend – auf In- ren – glauben machen, dass diese Kämpfe Im letzten STIMME-Heft stellte ich, dividuen auswirken. Besonders interessant bereits beendet wurden, dass wir im totalen aus Anlass des 20-Jahre-Jubiläums der und innovativ an der Liste von Young ist sozialen Frieden leben. Initiative Minderheiten, die Frage, ob die Auslassung von landläufig anerkannten An dieser Stelle ist außerdem hervorzu- Minderheit unter den vergleichsweise Formen der Unterdrückung, die gewöhnlich heben, dass der Minderheitenbegriff eine neuen Bedingungen heute noch ein jeweils einer bestimmten Gruppe und einer politische (und nicht bloß numerische) politisch sinnvoller Terminus und ein Differenz zugeordnet werden: Sexismus, Kategorie ist, die nicht auf ethnische bzw. politiktheoretisch relevantes Konzept sei. Rassismus, Homophobie etc. Das Youngsche Sprachminderheiten reduziert werden Hängt der Minderheitenbegriff nicht zu Konzept umgeht somit die – für die „linke“ soll. Folgerichtig kann heute nicht jede sehr jenem historischen Kontext an, der politische Theorie mittlerweile fast schon Minderheit durch Stillstand charakterisiert vom Ende der Vielvölkerstaaten, vom Nati- heilige – Differenz-Trias „Gender, Race and werden – nicht etwa verschiedene Teile der onalstaat und Völkerrecht im angehenden Class“ und eröffnet einen Denkhorizont zum Behindertenbewegung (siehe beispiels- 20. Jahrhundert geprägt war? Dienen Erschließen von Intersektionalität, die in weise das Schwerpunktthema im letzten Forderungen nach Minderheitenrechten den jüngeren politiktheoretischen Debatten STIMME-Heft), nicht viele LesBiSchwul- und heute nicht letztendlich dazu, altbacken eine wichtige Rolle einnimmt. Transgender-Gruppen, nicht die Migran- ethnische, essentialistische Identitäten Die fünf Seiten der Unterdrückung tInnen ... Ihre Allianzen sind zudem eine um jeden Preis aufrechtzuerhalten in benennt Young wie folgt: Ausbeutung, Mar- gelebte Form von Intersektionalität. einer Welt der Hybridität und des Dekon- ginalisierung, Machtlosigkeit, Kulturimperi- Das politische Unbehagen, das diese struktivismus? Ist Minderheit – „Sind wir alismus und Gewalt. Nun, über jede dieser minoritären Gruppen seit Langem im uns doch ehrlich!“ – nicht so out wie der Kategorien kann trefflich diskutiert werden, Auge der Macht verursachen, konnte Differenzfeminismus? was, wie gesagt, auch schon geschah. Was bis jetzt keineswegs durch „Licht ins Es mag schon stimmen, dass Bevölke- aber Iris Marion Young in ihrer Analyse Dunkel“-Vereinnahmungen, bunte und rungsgruppen, die heute unter dem Etikett gelingt, ist eine genaue Beschreibung des schrille „Liebesparade“-Exotisierungen oder Minderheit öffentlich wahrgenommen wer- gesellschaftlich-politischen Rahmens, in „Integration und Sicherheit“-Ablenkungen den, in der Regel politisch marginalisierte dem Minderheiten entstehen – wenn sie ausgeblendet werden. Minderheiten sind und statische Einheiten bilden. Das gilt auch diesen Terminus kaum verwendet. nach wie vor Stachel im Fleisch der Gesell- auch für ihre Vertretungseinrichtungen und Die Gesichter der Unterdrückung (ich schaftsordnung, in der wir leben. Dass ihre deren Politik. Minderheit scheint gegenwär- will das Letztere durch Macht ersetzen, um Forderungen und Kämpfe zeitweilig unter der tig ein Synonym für politischen Stillstand damit auch das Einschließende einfangen Last der „allzumenschlichen“ Anerkennung geworden zu sein. Vor allem hierzulande zu können über die bloß negierende Re- unsichtbar werden, ist nur ein Verweis auf wird dieser Eindruck durch juridisch pression hinaus) bringen eine „Dialektik die Notwendigkeit, den Schauplatz der Tiefgefrorenes verstärkt, welches unter der Minderheit“ zutage: Minoritäre Gruppen Kämpfe zu verschieben und die Politik der dem Titel „Volksgruppe“ feilgeboten wird: entstehen im Zuge der Machtkämpfe, und Symbole (Stichwort: topografische Ortsbe- Volksgruppengesetz, Volksgruppenbeiräte, Individuen, die den Minderheiten angehö- zeichnungen) sowie der Anerkennung nicht Volksgruppenfeststellung ... ren, erleben die verschiedenen Gesichter für die einzig mögliche Politik zu halten. Auch in einem solchen Stillstand durch der Macht aufgrund ihrer Zugehörigkeit Anerkennung erblicke ich jedoch just das zu diesen Gruppen – wodurch minoritäre Hakan Gürses IMPRESSUM STIMME ist das vierteljährliche Vereinsblatt des Vereins zur Förderung des Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten (Initiative Minderheiten). Medieninhaber und Verleger: Bürgerinitiative Demokratisch Leben, Schöpfstraße 39/7, A-6020 Innsbruck Herausgeber: Verein zur Förderung des Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten (Initiative Minderheiten), Gumpen dorfer Str. 15/13, 1060 Wien, Tel: 01/966 90 01, E-mail: [email protected]; Schöpfstraße 39/7, 6020 Innsbruck, Tel. & Fax: 0512/586 783 Redaktion: Gumpendorfer Str. 15/13, 1060 Wien, Tel: 01/966 90 03, Fax: 01/966 90 01, E-mail: [email protected] Chef redakteurin: Gamze Ongan Redaktio- nelle Mitarbeit: Vida Bakondy, Beate Eder-Jordan, Ursula Hemetek, Cornelia Kogoj, Anita Konrad, Helga Pankratz, Sabine Schwaighofer, Jana Sommeregger, Gerd Valchars, Vladimir Wakounig Ständige AutorInnen: Vlatka Frketić, Hakan Gürses, Kahlauer, Erwin Riess Zeichnungen: Petja Dimitrova, Hakan Gürses Grafische Gestaltung: schultz+schultz- Mediengestaltung. Herstellung (Repro & Druck): Drava Verlags- u. 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PSYCHOSOZIALE ARBEIT MIT NS-ÜBERLEBENDEN Gerda Netopil 14 KREMS, DIE JUDEN UND DIE NAZIS Thomas Mördinger 15 Durch DIE SCHICHTEN DES VergesseNS. DIE FOTOALBEN DER HAKOAH-SCHWIMMERIN FRITZI LÖWY Vida Bakondy 17 SEPHARDISCHE TÜRKEN IN WIEN Okşan Svastics 18 GROLL: DER BIERSTREIT ZU GORENJE Erwin Riess 19 NACHLESE: UND WAS sagt DIE STRASSE? Alexandra Siebenhofer und Petra Permesser 20 GESCHEHEN 22 TIPPS 28 KAHLauers Tagebuch 30 Fatih Fatih Aydoğdu Bilddesign Themenstrecke © Bilddesign Themenstrecke THEMA: JÜDISCHES (ÜBER-)LEBEN IN ÖSTERREICH Berührungsängste, Fragen die man sich Theodor Much, Präsident der Or Vida Bakondy setzt sich in ihrem Artikel nicht zu stellen traut, Angst die falsche Chadasch – Bewegung für progressives über die Fotoalben der Hakoah-Schwim- Sprache zu benutzen, politisch nicht Judentum weist auf den Pluralismus im merin Fritzi Löwy mit der historischen Spur korrekt zu sein. Der jüdischen Bevölkerung Judentum hin und berichtet, was diese auseinander, die durch das Zusammenwir- Österreichs – eine Gruppe, die durch den liberal-jüdische Gemeinde ausmacht. ken der Fotos und der Bildunterschriften Nationalsozialismus schwere Verluste erlit- „Jüdisch sein ist nicht gleich jüdisch sein“, entsteht. Bakondy stellte uns auch das ten hat – wird zumeist mit einem gewissen so auch Marek Božuk, Gründungmitglied Coverbild aus dem fragmentarischen Exotismus begegnet. Vielleicht auch ein des Salon Vienna. Im Artikel von Božuk geht Nachlass von Fritzi Löwy (datiert 1927) Grund für die bisherige Unterrepräsentation es um die Entstehungsgeschichte und die zur Verfügung. der jüdischen Themen in der STIMME. Aktivitäten dieses Salons, der ein junges Auch im Bericht von Thomas Mördinger Mit dem vorliegenden Heft versuchen und modernes Verständnis des Judentums geht es um Erinnerung, genauer um wir fragmentarisch vom heutigen jüdischen prägen will. Rückschläge und