Sendung vom 5.2.2014, 21.00 Uhr

Kurt Beck Ministerpräsident a. D. und Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung im Gespräch mit Klaus Kastan

Kastan: Herzlich willkommen zum alpha-Forum, wir kommen heute aus Mainz. Sie fragen sich, warum heute aus Mainz? Wenn Sie wissen, wer heute unser Studiogast ist, dann wissen Sie auch, warum wir uns heute aus Mainz melden. ist unser Gesprächspartner, der langjährige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Hallo, Herr Beck. Beck: Hallo, Herr Kastan. Kastan: Sie sind im Januar 2013 zurückgetreten von Ihrem Amt als Ministerpräsident und haben das u. a. mit Ihrer Gesundheit begründet. Wie geht es Ihnen heute? Beck: Ich muss sagen, nachdem der Druck durch dieses Amt weg war und meine Ärzte gute Arbeit geleistet haben, haben wir das Ganze eingepegelt. Ich muss halt ein bisschen auf meine Gesundheit achten, aber ich kann mich wieder engagieren und es geht mir gut. Kastan: Geht Ihnen der tägliche Besuch der Staatskanzlei ab? Beck: Ich habe es mir, wie ich sagen muss, schlimmer vorgestellt, als ich auf einmal nach fast 20 Jahren Abschied genommen habe. Ich war ja vor meinen 18 Jahren als Ministerpräsident auch noch drei Jahre lang Fraktionsvorsitzender SPD im gewesen. Ich muss sagen, ich vermisse das eigentlich nicht. Ich habe eine Reihe von ehrenamtlichen Funktionen, die mich gut ausfüllen, und die Tatsache, dass der Wechsel zu so gut funktioniert hat, hilft mir sehr. Man hat einfach das Gefühl, es geht gut weiter. Kastan: Malu Dreyer war ja Ihre Kandidatin. Beck: Es gab an mich die Bitte, aus dem Kreis all derer im Land, die infrage kamen, einen Vorschlag zu machen. Das habe ich gemacht und es ist Gott sei Dank ein sehr, sehr guter Vorschlag geworden, wie sich jetzt nach einem Jahr bewiesen hat. Kastan: Wissen Sie, wie lange Sie Ministerpräsident waren? 18 Jahre? Beck: Ja, 18 Jahre und so in etwa vier, fünf Monate. Kastan: Sie waren es genau 18 Jahre, zwei Monate und 21 Tage, denn wir haben ganz genau nachgerechnet. Beck: So genau habe ich mir das gar nie angeschaut. Kastan: Ich glaube, es gibt keinen Ministerpräsidenten in Deutschland, der länger im Amt gewesen ist als Sie. Beck: Doch, es gab und es gab ... Kastan: Peter Altmeier war einer Ihrer Vorgänger. Beck: Ja, er war der erste Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz gewesen. Und wenn man seine beiden Aufgaben als Ministerpräsident zusammennimmt, dann zählt auch dazu: Er hat in Rheinland-Pfalz und in Thüringen zusammen etwa die gleiche Anzahl an Jahren erreicht wie Altmeier. Kastan: Sie machen in der Tat nicht Eindruck, als wäre Ihnen heute langweilig. Sie haben als ehemaliger Ministerpräsident auch nach wie vor ein Büro hier in Mainz. Wohnen tun Sie aber in Steinfeld im Süden von Rheinland- Pfalz. Fahren Sie jeden Tag hin und her? Wie schaut denn der "Rentneralltag" des Kurt Beck aus? Beck: Ich fahre nicht jeden Tag nach Mainz, aber ich habe nach wie vor eine kleine Wohnung in Mainz. Denn wenn man nach Berlin muss, ist das von Mainz aus einfacher zu machen. Als Vorsitzender der Friedrich-Ebert- Stiftung bin ich nämlich doch zwei, drei Tage in der Woche in Berlin. Von Mainz aus ist die Fahrt zum Flughafen Frankfurt doch deutlich einfacher, als wenn man zuerst einmal fast 200 Kilometer zum Flughafen fahren muss. Aber insgesamt ist es in der Tat so, dass ich noch mit vielen, vielen Menschen Kontakt habe. Bernhard Vogel, den ich ja gerade schon erwähnt habe, hat mir einmal gesagt: "Sie werden sehen, Sie werden eine Unzahl von Einladungen zu Festreden und Ansprachen bekommen." Er hatte recht mit dieser Prognose, und ich finde das auch ganz schön, weil man auf diese Weise doch so manches nutzen kann von den Erfahrungen, die man gemacht hat. Kastan: Wird man denn im Laufe der Jahre milder in den eigenen Urteilen? Sie sind ja ein bekannter Sozialdemokrat, Sie sind jemand, der wirklich in der Sozialdemokratie groß geworden ist und Sie haben in der Sozialdemokratie Ihre politische Karriere gemacht: Wägt man heute Sachen anders ab als in der Zeit, in der man aktiver Ministerpräsident gewesen ist? Beck: Schon ein bisschen anders. Man versucht einfach, die Dinge ein bisschen gelassener zu sehen. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich mich über Dinge, die ich als richtig ungerecht empfinde, heute noch genauso aufrege wie zu früheren Zeiten. Das hält einen in gewisser Weise auch in Schwung. Aber man wägt selbstverständlich anders ab: Die Erfahrung nicht nur außerhalb des Amtes, sondern schon auch im Amt selbst in den letzten Jahren verfehlt nicht ihre Wirkung. Ja, man verändert sich auch. Kastan: Sie haben ja eine eher untypische Karriere gemacht. Untypisch ist sie, denn wenn man sich heute die Berufe der Abgeordneten im Bundestag oder in den Länderparlamenten durchliest, dann findet man viele Juristen, viele Lehrer, viele Beamte und viele Menschen aus der freien Wirtschaft. Sie jedoch haben kein Abitur gemacht, haben kein Studium gemacht, sondern haben den Beruf des Elektrikers gelernt. Auf dem zweiten Bildungsweg haben Sie dann die Mittlere Reife nachgemacht. War dieser ganz persönliche Karriereweg, den Sie beschritten haben, eher von Vorteil oder eher von Nachteil? Beck: Weder noch, wie ich im Nachhinein sagen muss. Es ist sicherlich der aufwendigere, der schwierigere Weg, wenn man als Erwachsener dann noch einmal in die Abendschule geht. Ich habe z. B. oft meinen Urlaub dafür verwendet, um etwas nachzuholen und mich weiterzubilden: Wenn andere in Urlaub fuhren, habe ich gelernt. Aber das waren eben auch Erfahrungen, die mir später über so manche Hürde hinweggeholfen haben. Ich wünsche mir daher für die Zukunft sehr, dass auch weiterhin Leute mit einer praktischen Berufsausbildung in die Politik aufgenommen werden, Leute, die in diesem Berufsbereich tätig waren und ihre Familie mit ihrer Hände und ihres Kopfes Arbeit ernährt haben. Auch diese Menschen müssen in der Politik die Chance für einen Aufstieg haben, denn wir brauchen einfach beide Erfahrungen: die akademische genauso wie die praktische. Gerade die Bindung und Verbindung mit Leuten, die aus dem Handwerksbereich, aus dem mittelständischen Bereich kommen, die dort Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind, hat mich immer getragen. Ich fand und finde bei diesen Leuten – auch über Parteigrenzen hinweg – häufig einen Konsens, weil man eben doch vieles aus dem eigenen Erleben beurteilen kann und einen klaren Standpunkt entwickelt hat. Kastan: Gab es denn auch mal Situationen in Ihrem Leben, in denen Sie es bereut haben, kein Abitur zu haben, nicht studiert zu haben? Beck: Ach, die formale Ausbildung hat mir eigentlich nie gefehlt. Ich habe das ganze Leben als Lehre und sozusagen auch als Studium betrachtet. Was ich mir freilich unendlich stark gewünscht habe, war, dass ich die Chance gehabt hätte, eine Reihe von Fremdsprachen zu lernen. Das war im Nachhinein und neben dem Beruf nur sehr eingeschränkt möglich. Kastan: Sie haben Ihre Berufsausbildung gemacht und sich auch relativ schnell für Ihre Kollegen engagiert. Das haben Sie zunächst in der Christlichen Arbeiterjugend gemacht und später in der Gewerkschaftsjugend. 1972 wurden Sie Mitglied der SPD: Das war dieses berühmte Jahr – die älteren Zuschauer erinnern sich noch genau daran –, in dem es geheißen hat: "Willy wählen!" hat damals bei den Bundestagswahlen für die Sozialdemokratie einen großen Sieg errungen. Die Sozialdemokratie hat in Koalition mit der FDP von 1969 bis 1982 die Bundesregierung gestellt: zuerst unter Willy Brandt und dann unter Helmut Schmidt. Hat Sie denn Willy Brandt inspiriert, Mitglied der SPD zu werden? Beck: Ja, ganz zentral. Wobei es aber so ist, dass ich nicht erst nach dieser Bundestagswahl 1972, sondern schon vorher in die SPD eingetreten bin. Denn ich lege immer Wert darauf, nicht bloß zu den Gewinnern gehören zu wollen, sondern schon auch mitzukämpfen. Kastan: Das war damals ja doch eine sehr eigene Atmosphäre in Deutschland. Beck: Ja, ich habe 1971 beschlossen, in die SPD einzutreten. Das war damals eine gespaltene Atmosphäre in Deutschland: Da wurden sehr harte Auseinandersetzungen geführt. Deshalb habe ich mich engagiert und bin dann zum 1.1.1972 Mitglied geworden. Aber es haben damals schon auch kommunale und regionale Themen für mich eine Rolle gespielt, mich zu engagieren. Es gab eine Kommunalreform: Ich war dafür, viele waren dagegen. Ich habe mir auch deswegen gedacht, dass ich da mitmachen muss. Der zweite regionale Grund war, dass damals bei uns in der gesamten Südpfalz Bahnstrecken stillgelegt worden sind. Ich habe zusammen mit dem damaligen evangelischen Dekan etwas ins Leben gerufen, das man heute eine Bürgerinitiative nennen würde: Wir haben für den Erhalt dieser Bahnstrecken auch über die deutsche Grenze hinaus bis nach Wissembourg gekämpft. Wir haben damals aber erfolglos protestiert, worauf ich mir vorgenommen habe: "Wenn ich jemals etwas zu sagen haben werde, dann fährt diese Bahn wieder!" Sie fährt nun seit 12 Jahren wieder. Kastan: Sie fährt also nach wie vor? Beck: Sie fährt wieder, denn sie war über viele Jahre hinweg eingestellt worden. Wir haben in Rheinland-Pfalz ein Programm, das sich Rheinland-Pfalz- Takt nennt, denn bei uns spielt der Schienenverkehr auch in der Region eine ganz, ganz große Rolle. Deshalb war es möglich, das wieder zu befördern. Es waren also drei Gründe, die mich dazu gebracht haben, in die SPD einzutreten, wovon zwei sehr praktische waren. Aber zentral war eben auch dieses grundsätzliche Engagement, Willy Brandt bei seinem Vorhaben zu unterstützen, mehr Demokratie zu wagen. Seine Vorstellung war, dass wir in Deutschland doch nicht immer noch härter nebeneinander leben können, bis wir uns komplett auseinandergelebt haben: Das hat damals viele Menschen begeistert und mich eben auch. Kastan: Sie sind ja in einer eher schwarzen, konservativen Gegend aufgewachsen, nämlich in Steinfeld. Wie sind Sie denn da dennoch eher ein Roter geworden? Beck: Der erste Punkt ist, dass ich als Kind eine schwere Hautkrankheit hatte, die auch entstellend wirkte, weil sie sich eben auch im Gesicht stark ausgeprägt hat. Ich habe damals zum ersten Mal Erfahrungen mit Ausgegrenzt-Sein gemacht. Vielleicht ist man da sensibler für so etwas, denn ich habe dann ja erlebt, wie mit anderen jungen Leuten umgegangen wurde, die eine Behinderung sehr viel schlimmerer Art hatten. Wir hatten bei uns im Ort zwei Kinder mit Downsyndrom, die man komplett ausgegrenzt hat: Sie gingen in keine Schule und wurden einfach weggesperrt, weil deren Eltern sich geniert haben für ihre behinderten Kinder. Solche Erfahrungen haben mich dazu gebracht, einen gewissen Gerechtigkeitssinn zu entwickeln. Und dann kam eben auch ein gewisser Widerspruchsgeist dazu: Wenn alle erwarten, dass man, wenn man sich engagiert, das in der CDU tut, dann habe ich das als junger Mensch eben nicht automatisch so gemacht. Stattdessen habe ich mir einen eigenen Weg gesucht. Der dritte Grund war, dass ich damals ja zunächst in der CAJ, also in der Christlichen Arbeiterjugend aktiv gewesen bin. Am Ende hat es mir dort aber nicht mehr gefallen, weil ich das Gefühl hatte – ich kannte dieses Wort damals zwar noch gar nicht, hatte aber ganz klar dieses Gefühl –, indoktriniert zu werden. Wir haben Lieder gesungen wie: "Schwarz ist meine Lieblingsfarbe, es kann nicht anders sein, denn in meiner Firma nennt mich jeder schwarzer Hein". Mich hat es einfach gestört, da irgendwie gleichgeschaltet zu werden. Also habe ich mir über die Gewerkschaftsjugend einen eigenen Weg gesucht. Erst sehr viel später bin ich dann in die SPD eingetreten. Kastan: Sie schreiben in Ihrer Autobiografie sehr, sehr beeindruckend über Ihre Hauterkrankung im Gesicht und darüber, dass Sie deswegen ausgegrenzt worden sind, u. a. auch in der Kirche. Denn Sie durften z. B. nicht Ministrant werden. Beck: Ich war der einzige Junge im ganzen Dorf, der nicht Ministrant werden durfte, also Messdiener, wie man bei uns gesagt hat. Denn Eltern hatten sich beim Pfarrer beschwert, dass ich mit meiner Hautkrankheit die Soutane beschmutzen könnte usw. Das war natürlich ausgrenzend und diskriminierend, wie man ganz klar sagen muss. In der Kirche war es damals ja noch ganz klar so, dass die Frauen auf der einen und die Männer auf der anderen Seite saßen; vorne in der Kirche saßen eben jeweils auf einer Seite die Mädchen und auf der anderen Seite die Buben. Wenn man bei großen Festgottesdiensten als Einziger vorne in der Bank sitzen bleiben muss, während alle anderen als Messdiener aktiv mit dabei sind, dann ist das schon nicht schön. Ich glaube, da kann man ganz gut nachvollziehen, wie schmerzend und ausgrenzend so etwas ist. Darüber kann man als Betroffener entweder verbittert werden oder eben, wie ich glaube, kämpferisch. Kastan: Aber verletzt hat Sie das schon, oder? Beck: Ja, klar. Kastan: Wie sind Sie denn damals umgegangen mit dieser Ausgrenzung? Beck: Nun, das waren schon schwierige Situationen für mich. Meine Reaktion darauf war vor allem, dass ich unendlich viel gelesen habe. Es gab zwei Büchereien bei uns im Ort, denn Bücher kaufen konnte ich höchstens mal an Weihnachten, weil wir bei uns in der Familie finanziell nicht so üppig ausgestattet waren. Wir hatten eine Pfarrbücherei und eine Gemeindebücherei, und die Ordensschwester, die tatsächlich beide Büchereien verantwortet hat, hat mir immer die neuen Bücher zur Seite gelegt, damit ich sie als Erster bekommen konnte – denn die anderen hatte ich ja alle schon gelesen. Ich habe mich also vor allem in der eigenen Fantasiewelt bewegt damals – und vielleicht hat das ja auch etwas gebracht. Kastan: Hatten denn Ihre Eltern Probleme damit, dass Sie sich dann mit der Zeit auch immer stärker gewerkschaftlich engagiert haben? Wir sollten dazu sagen, dass Ihr Vater Maurer gewesen ist. Beck: Ja, mein Vater war Maurer und seinerseits ein sehr bewusster Gewerkschaftler, also in der Baugewerkschaft aktiv. Als ich mich dann politisch entschieden hatte, war das daher überhaupt kein Problem mehr. Aber Verwandte hatten damit eher ein Problem. Der Mann der Cousine meiner Mutter war leitender Beamter in der Kommunalverwaltung der Region: Er hat uns, als ich in die SPD eingetreten bin, nicht mehr gegrüßt, meine Eltern nicht und mich nicht. Auf die Frage meiner Mutter, warum er das nicht mehr machen würde, lautete seine Antwort: "So was macht man in einer anständigen Familie nicht!" Aber meine Eltern haben da immer ganz klar zu mir gestanden. Ich hatte daher bei aller Schwere wegen dieser Erkrankung ansonsten eine sehr, sehr gute und schöne Kindheit und tolle Eltern. Kastan: Sie waren dann ausgebildeter Elektriker, haben sich gewerkschaftlich sehr engagiert und gingen letztlich auch als hauptamtlicher Sekretär zur ÖTV, wenn ich das richtig gelesen habe in Ihrer Biografie. Beck: Das stimmt nicht ganz. Ich habe Funkelektroniker gelernt bei der und habe dann meine Wehrdienstzeit gemacht. Eigentlich wollte ich Soldat werden, um dann zu versuchen, ein Studium zu machen. Das wäre als Elektroniker durchaus erreichbar gewesen. Aber ich habe mir dann dummerweise einen so komplizierten Knöchelbruch zugezogen in dieser Zeit, dass es mit der Soldatenkarriere zu Ende war. Ich bin dann zurückgegangen in diesen Betrieb der Bundeswehr für Elektronikinstandsetzung. Dort habe ich gearbeitet und bin dort auch zum Personalratsvorsitzenden gewählt worden. Ich war dabei einst sogar der Jüngste in der Republik – aber das hat sich dann bald ausgewachsen. Ich habe mich dann in der Tat gewerkschaftlich engagiert, aber immer nur ehrenamtlich, d. h. ich war nie hauptamtlich bei der Gewerkschaft. Kastan: Ich glaube, Sie hatten aber später das Angebot, zur ÖTV zu gehen, wenn ich das richtig weiß. Beck: Ja, zu einem späteren Zeitpunkt hat mich dann mal Frau Wulf-Mathies, die damals die Vorsitzende gewesen ist – sie war dann später auch EU- Kommissarin –, gefragt, ob ich für den geschäftsführenden Hauptvorstand kandidieren möchte. Ich hatte jedoch bereits zwei, drei Tage vorher zugesagt, sein Parlamentarischer Geschäftsführer in der Landtagsfraktion zu werden. Darüber hinaus sollte ich ehrenamtlich, denn auch dafür hatten wir kein Geld, Landesgeschäftsführer der SPD in Rheinland-Pfalz werden. Dieses Angebot bei der ÖTV hätte mich damals aber auch sehr gereizt. Kastan: Es gab in dieser Phase Ihres Lebens wohl zwei Politiker, die Sie nach oben gezogen haben: Der erste war Klaus von Dohnanyi und der zweite war Rudolf Scharping. Wie wichtig war für Sie Klaus von Dohnanyi? Beck: Ganz entscheidend wichtig. Ich hatte es im Hinblick auf meine persönlichen Möglichkeiten überhaupt nicht auf dem Schirm, hauptamtlich in die Politik zu gehen. Mein Vorgänger als Abgeordneter der SPD in dieser Region war ein Kriegsversehrter gewesen: Er war beinamputiert. Dieser Mann hat ganz überraschend gesagt, dass er nicht mehr kandidieren wird. Wir hatten nämlich alle damit gerechnet, dass er es noch einmal machen wird. Aber er hatte Schwierigkeiten mit dem Kreislauf und wollte nicht mehr. Es ging dann darum, wer für die SPD kandidieren soll. Es gab fünf weitere Kandidatinnen und Kandidaten, aber Klaus von Dohnanyi – er war damals Bundesminister für Forschung und Technologie – hat, das weiß ich noch wie heute, zwischen zwei Terminen plötzlich zu mir gesagt: "So, jetzt fahre ich mal mit dir mit!" Er fuhr also mit mir in meinem VW-Käfer zur nächsten Veranstaltung und dabei hat er zu mir gemeint: "Da ist doch jetzt diese Sache mit dem Mandat. Du musst das machen!" Dass er mir das zutraute, hat mich schon ein bisschen stolz gemacht und mich in gewisser Weise auch bei der Ehre gepackt. Ich habe es also probiert und es hat geklappt. Kastan: Sie sind ja vom Typus her eigentlich zwei recht unterschiedliche Persönlichkeiten: Dohnanyi ist doch eher, wenn ich das mal so klischeehaft sagen darf, der intellektuelle Hanseat mit leicht aristokratischen Zügen. Sie jedoch sind eher bodenständig, nahe an den Menschen dran und sehr eng mit ihnen verbunden. Sie haben auch immer wieder betont, dass genau das Ihr Markenzeichen als Politiker gewesen ist. Trotzdem haben Sie sich mit ihm scheinbar gut verstanden. Beck: Ja, wir haben heute noch eine freundschaftliche Beziehung zueinander und treffen uns auch bei allen denkbaren Gelegenheiten. Ich muss sagen, dass sich das gut ergänzt hat. Ich habe mir über Jahre, als er bei uns in der Südpfalz, also in dem Wahlkreis, in dem ich wohne, Bundestagsabgeordneter gewesen ist, immer Urlaub genommen, um seinen Wahlkampf zu unterstützen. Er hat mir damals schon nach relativ kurzer Zeit – ich war damals ja noch ein sehr junger Mensch – zugehört, weil ich ihm immer gesagt habe, wie ich über bestimmte Dinge denke, wie ich sie sehe und wie ich meine, dass die Leute über diese Dinge denken. Er hat das meistens von der eher intellektuellen Seite her verstanden und konnte daraus dann etwas machen. Daraus ist ein respektvolles und freundschaftliches Verhältnis entstanden. Kastan: Wissen Sie, was er mal über Sie gesagt hat? Sie seien ein Mann von altem Schrot und Korn. Es gibt Schlimmeres, was über einen gesagt werden kann, denn das heißt doch, dass Sie für das einstehen, was Sie sagen. Er hat diese Offenheit also auch immer angenommen. Beck: Das war so. Wir können uns allerdings heute noch heftig streiten, er hat z. B. zum Thema "Studiengebühren" eine ganz andere Position als ich. Und wenn wir uns treffen, dann streiten wir uns auch über diese Sache, aber ... Kastan: Sie sind gegen Studiengebühren, während er eher dafür gewesen ist. Beck: Er ist eher für Studiengebühren und sagt, dass das dann eben später irgendwie finanziell ausgeglichen werden muss. Wir können uns wirklich trefflich streiten und ich finde, es ist schön, wenn man trotzdem befreundet bleibt. Es liegt freilich auch eine ganze Generation zwischen uns, aber es ist sehr, sehr schön, wenn man trotz Meinungsverschiedenheiten ein solch respektvolles und freundschaftliches Verhältnis fast ein Leben lang aufrechterhalten kann. Kastan: Klaus von Dohnanyi ist dann später nach Hamburg gegangen und wurde dort Erster Bürgermeister. Ein weiterer wichtiger Parteifreund war dann Rudolf Scharping für Sie hier in Rheinland-Pfalz. Welche Bedeutung hatte denn Rudolf Scharping für Sie? Beck: Er war nicht nur für mich, sondern für eine ganze Reihe von Leuten meines Alters, die 1979 ins Parlament eingezogen sind, ein Hoffnungsträger. Zunächst einmal war ja Klaus von Dohnanyi unser Hoffnungsträger in Rheinland-Pfalz gewesen, aber dann gab es diese Querelen in Hamburg z. B. rund um die Hafenstraße usw. Der SPD ist dort wirklich die Basis weggebröckelt. Es war dann kein Geringerer als Willy Brandt als Parteivorsitzender, der Klaus von Dohnanyi sozusagen nach Hamburg abgeordnet hat, als er zu ihm gesagt hat: "Du musst das da in Hamburg jetzt in Ordnung bringen." Wir haben uns dagegen gewehrt, weil wir eine richtig gute Chance gesehen haben, mit Klaus von Dohnanyi als Spitzenkandidat die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz zu gewinnen und die CDU abzulösen. Dohnanyi ging also nach Hamburg, und von da an ruhten alle Hoffnungen auf Rudolf Scharping. Wir waren ja fast gleich alt, denn Rudolf Scharping ist nur ein gutes Jahr älter als ich. Aber er war schon bei den Jungsozialisten sehr engagiert gewesen und war einfach ein brillanter Redner. Er hatte bei uns auch den Beinamen "Genosse Scharfsinn". Wir haben, wie ich sagen muss, sehr auf ihn gesetzt. Kastan: Und er hat auch sehr auf Sie gesetzt, denn er hat Sie dann hier in Rheinland-Pfalz in der Politik in führende Positionen mit hineingezogen. Beck: Das ist so, er hatte mich allerdings vorher gefragt. Ich hatte ja zunächst noch meinen Beruf in Teilzeit ausgeübt, denn wenn man nicht Beamter ist und auch noch eine junge Familie hat, kann man ja nicht mit Anfang 30 auf Gedeih und Verderb auf die Politik setzen. Denn wenn man beim nächsten Mal nicht mehr gewählt wird, sieht es düster aus. Das heißt, man würde dann auch leicht in Gefahr geraten, den Leuten nach dem Mund zu reden – auch in der eigenen Partei, damit man wieder nominiert wird. All das wollte ich vermeiden und deshalb habe ich mich weiterhin in meinem Beruf engagiert und nebenbei mein Mandat wahrgenommen. Er war dann aber derjenige, der mich gefragt hat, ob ich Parlamentarischer Geschäftsführer werden möchte. Das war dann der Umstieg, von da an war ich nur noch Politiker, denn beides zusammen wäre nicht mehr möglich gewesen. Mein Mandat und Parlamentarischer Geschäftsführer und mein Beruf: Das war einfach nicht zu vereinbaren. So kam 1984/85 mein Einstieg in die hauptberufliche Politik. Wir haben uns damals gesagt: "Wir wollen es endlich schaffen, hier in Rheinland-Pfalz die SPD an die Regierung zu bringen." Kastan: Und Sie haben es dann auch wirklich geschafft. Beck: Ja, 1991. Kastan: Es war Rudolf Scharping, der 1991 in Mainz für die SPD die Macht erobert hat. Sie kamen dann immer weiter voran und haben sich in dieser Partei entwickelt. Rudolf Scharping ging nach ein paar Jahren ganz in die Bundespolitik und wurde auch Bundesvorsitzender der SPD. Lassen Sie uns jetzt mal einen weiten Schritt nach vorne ins Jahr 1995 machen. Dieses Jahr sagt Ihnen sicherlich etwas, denn damals auf dem Bundesparteitag der SPD in Mannheim wurde Scharping gestürzt. Ich weiß nicht, wie da wer im Hintergrund gearbeitet und mit wem taktiert hat, aber ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das überhaupt nicht gefallen hat. Beck: Ja, ich habe diese Art und Weise sogar verabscheut. Ich habe nicht verabscheut, dass man kandidiert, aber ich habe die Art und Weise verabscheut, wie das alles gelaufen ist. Das hat damals bei mir dann auch einen inneren Bruch mit Lafontaine gegeben. Wir haben zwar weiterhin zusammengearbeitet und waren Nachbar-Ministerpräsidenten, aber es war einfach keine innere Beziehung mehr da – vorher war diese nämlich durchaus vorhanden gewesen. Lafontaine ist ja auch brillanter Kopf, das ist gar keine Frage. Ich habe diesen Sturz hautnah miterlebt, denn ich war ja Präsident des Parteitages und als Landesvorsitzender auch Gastgeber, weil eben die Abendveranstaltung in Ludwigshafen stattfand. Ich habe wirklich hautnah mitbekommen, was da an Gesprächen am Rande und darum herum gelaufen ist. Das war keine schöne Art der Ablösung eines Vorsitzenden. Das hat mir, wie ich heute noch sagen muss, sehr weh getan. Kastan: Denkt man in solchen Momenten auch gelegentlich: "Ich mag nicht mehr, ich hör auf mit Politik!"? Beck: Ich war damals viel zu zornig, um ans Aufhören zu denken. Ich hatte ja gerade erst angefangen, war gerade erst ein Jahr lang Ministerpräsident, war erst seit zwei Jahren Landesparteivorsitzender. Ich war einfach zornig, weil ich mir gedacht habe: "Das kann doch nicht sein! Das kann doch nicht unser Weg sein!" Kastan: Muss Politik teilweise so sein? Beck: Ich glaube nicht. Kastan: Denn solche innerparteilichen Auseinandersetzungen und Flügelkämpfe gibt es ja in allen Parteien. Beck: Ich glaube nicht, dass das so sein muss. Ich habe ja zu einem späteren Zeitpunkt selbst meine Erfahrungen mit solchen Verhaltensweisen gemacht. Ich habe nicht umsonst damals gesagt, dass das Verhalten eines Wolfsrudels zu einer gesitteten politischen Auseinandersetzung eigentlich nicht mehr passt. Natürlich muss man Ehrgeiz und persönlichen Erfolgswillen einbringen, das ist klar, das gehört alles mit dazu. Aber dass man sich gegenseitig wegbeißt, passt eigentlich nicht mehr in unsere Zeit. Das ist einfach keine Art einer fairen und wirklich nach vorne führenden Auseinandersetzung. Kastan: Haben Sie Vermutungen, warum es dieses Wegbeißen trotzdem immer noch gibt? Beck: Erstens ist es meiner Meinung nach so, dass manche nicht wissen, wann es an der Zeit ist, aufzuhören. Das ist ein Punkt. Andere wiederum wissen nicht, dass es manchmal auch ganz gut ist, wenn man durch Leistung überzeugt und dadurch die Empfehlung bekommt, eine höhere Aufgabe wahrzunehmen – und nicht indem man selbst daran mitwirkt, jemanden, der diese Aufgabe bereits innehat, zu beschädigen. Das ist, wie ich glaube, ein tiefes Missverständnis von politischer Arbeit. Bei Teilen der Medien sind natürlich solche Verhaltensweisen sehr beliebt, denn darüber kann man trefflich schreiben. Das kann ich ja verstehen, und wenn ich Journalist wäre, würde ich es wahrscheinlich auch so machen. Insoweit ist also ein Anreiz vorhanden, denn man wird wahrgenommen, wenn man sich so verhält, und womöglich heißt es dann sogar noch: "Toll, da geht jemand über Leichen!" Ich finde jedoch, dass das ein archaisches Verhalten ist und einer modernen und gerechten Gesellschaft nicht entspricht. Kastan: Stimmt es, wenn ich sage, dass Sie Ihre glücklichste Zeit hier in Mainz als Ministerpräsident hatten? Beck: Ja, das war eine sehr zufriedenstellende Zeit, wie ich sagen muss. Denn ich habe den Eindruck, dass ich doch vieles von dem umsetzen konnte, was mich im Leben bewegt hat im Hinblick auf Gerechtigkeit, auf Zugang zur Bildung usw. In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, war es in meiner Kindheit und Jugend so, dass außer dem Sohn des Arztes und der Tochter eine Familie, die zugezogen war und die später auch wieder wegzog, niemand auf eine weiterführende Schule ging. Ich habe mich schon damals immer gefragt, warum das so ist: "Es muss ja nicht ich sein, der auf die weiterführende Schule geht, aber warum geht wirklich niemand aus unserem Dorf dorthin?" Das hat mich schon sehr früh zum Thema "Bildungsgerechtigkeit" gebracht. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass ich in diesen gut 18 Jahren doch vieles von dem auf den Weg bringen konnte. Das macht einen innerlich zufrieden. Und das ist wohl das Wichtigste, was man am Ende seiner politischen Arbeit sagen kann. Kastan: Worauf sind Sie da besonders stolz? Beck: Einmal auf die Bildungsreformen in Rheinland-Pfalz: Bildung von Anfang an, keine Kindergartenbeiträge usw. Es wird ja immer davon gesprochen, dass man die Familien entlasten müsste. Wir haben das gemacht! Wir haben Ganztagsschulangebote gemacht, haben das Schulsystem durchlässiger gemacht und die berufliche Bildung sehr stark gefördert, was mir aufgrund meiner eigenen Erfahrungen immer ein großes Anliegen gewesen ist. Das ging weiter bis zum gebührenfreien Studium und der Förderung der Hochschulen in unserem Bundesland. Ich war ja Ministerpräsident in den großen Zeiten der Wende in Europa bzw. in der Welt, wie man wohl sagen darf: Da hatte es gerade die Wiedervereinigung Deutschlands gegeben und die Öffnung Europas nach Osten und es kam vor allem die Abrüstung, die endlich möglich gewesen ist. Für Rheinland-Pfalz hat das bedeutet, dass zig Tausende von Arbeitsplätzen verloren gingen: bei den amerikanischen, bei den französischen Streitkräften, bei der Bundeswehr usw. Bis heute sind deswegen auch über 700 ehemals militärische Liegenschaften aufgegeben worden: Ganze Landstriche sind da aufgegeben worden! Stolz bin ich darauf, dass es gelungen ist, aus eigener Kraft – denn der Bund hat uns hierbei überhaupt nicht geholfen – diese Konversion zu schaffen, also die Veränderung von militärischen in zivile Strukturen hinzubekommen. Um manches hierbei wird bis heute gestritten, das ist keine Frage: Da ist noch nicht alles entschieden. Aber insgesamt ist es doch so, dass wir bei uns die drittgünstigsten Arbeitsmarktzahlen in Deutschland haben und die niedrigsten Zahlen im Bereich Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland. Dass das gelungen ist, betrachte ich als meine größte Leistung. Denn wenn man sieht, wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen und das Saarland bis heute mit ihrer Konversion der Montanindustrie zu kämpfen haben, welche Kämpfe im Osten die dort notwendigen Veränderungen erfordern, dann muss man sagen: Das ist uns gut gelungen, und das, obwohl in Relation gesehen unsere Konversion sogar noch heftiger gewesen ist. Wir waren als Land davon stärker betroffen als andere Bundesländer im Hinblick auf deren Montanausrichtung, also im Hinblick auf Kohle und Stahl. Daran haben viele Menschen unendlich viel mitgearbeitet und es ist dabei auch ein Miteinander entstanden zwischen der Politik, der Wirtschaft, den Gewerkschaften und vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen wie den Kirchen usw. Ich glaube, genau das ist eine der Stärken unseres Landes. Kastan: Habe ich recht, wenn ich sage, dass es für Sie zwei große Niederlagen gegeben hat? Die eine Niederlage ist der Nürburgring und die andere war Ihr Rücktritt als SPD-Bundesvorsitzender. Sehen Sie das im Nachhinein auch als Niederlagen an? Aus dem Nürburgring wollten Sie einen Freizeitpark machen, aber das ist fehlgeschlagen, obwohl schon große Investitionssummen getätigt worden waren. Diese Summen musste dann der Staat als Schulden übernehmen. Empfinden Sie das selbst auch als Niederlage? Beck: Die Nürburgring-Geschichte ist ja noch nicht entschieden. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass sie am Ende erfolgreich sein wird. Da sind aber in der Tat schwere Fehler begangen worden, da hat es Fehleinschätzungen gegeben, wir hatten Gutachten, die dann zu dieser Größe der Investitionen geführt haben, die etwas ganz anderes aussagten, als sich dann in der Realität ergeben hat. Aber dafür hat man natürlich die politische Verantwortung zu tragen und diese übernehme ich auch. Das hat mich jedenfalls alles unendlich geärgert. Aber das ist jetzt auf einem ganz guten Weg. Ich bin sicher, dass das für diese Region an der Ahr am Ende ein Erfolg sein wird. Ich habe mit einem Schriftsteller eine hohe Wette laufen – nämlich über 36 Flaschen besten Ahr-Rotweins –, dass das 2015 ein Erfolg sein wird. Und die Sache ist auch auf einem guten Weg. Trotzdem, der Weg dorthin, diese Stolpereien, die Insolvenz haben mich unendlich geärgert. Da sind Fehler begangen worden, da sind auch Fehleinschätzungen politischer Art begangen worden. Die zweite Frage, ob ich den Rücktritt als SPD- Bundesvorsitzender als Niederlage empfinde, das allerdings ist eine ganz andere Geschichte. Das war sicherlich auch begleitet von eigenen Fehlern, denn es ist ja nie so, dass alles immer nur eine Ursache hat. Aber es war im Wesentlichen ein politischer Kampf, der da dahinter stand. Ich war immer ein Befürworter der Agenda von Gerhard Schröder – allerdings mit einer Reihe von Modifikationen. Um mal ein Beispiel zu nennen: Ich habe damals das Wort geprägt, dass wir nicht alle gleich behandeln können, wenn es um die Rente mit 67 geht, denn wir können dem Dachdecker einfach nicht zumuten, bis 67 auf dem Dach herumzuklettern. Das war ein Symbol, ein Beispiel. Ich war also dafür, diese Agenda zu machen, sie aber ein Stück weit flexibler zu halten im Hinblick auf die Lebenssituation der Menschen. Das haben wir jetzt ja übrigens nachgeholt: Heute haben wir das gemacht, heute steht das in unseren Programmen. Damals war das aber zwischen Franz Müntefering und mir eine mehr als harte Auseinandersetzung, an deren Ende dann dieser Prozess mit meinem Rücktritt am Schwielowsee stand. Kastan: Franz Müntefering und Sie waren nie enge Freunde. Man muss dazusagen, dass Franz Müntefering vor Ihnen Parteivorsitzender gewesen ist: Er trat dann zurück wegen der Frage des Bundesgeschäftsführers der SPD. Nach ihm kam der brandenburgische Ministerpräsident als Parteivorsitzender. Er war das aber nur ein halbes Jahr, weil er im April 2006 aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat. Dann hieß es in der SPD: "Wer kann das jetzt machen?" Und die Antwort war: "Natürlich der Ministerpräsident, der seit vielen, vielen Jahren im Amt ist." Und das waren Sie. Beck: Ich hatte hier in Rheinland-Pfalz gerade die Landtagswahlen mit absoluter Mehrheit gewonnen: Deswegen ist dann diese Geschichte auf mich zugekommen. Ich hatte das allerdings überhaupt nicht vor. Ich war auf Bundesebene stellvertretender Parteivorsitzender und habe sicherlich auch immer wieder meinen Einfluss geltend gemacht, aber Parteivorsitzender war nicht mein Ziel. In so einer Situation konnte ich jedoch gar nicht anders, als ja zu sagen. Ich habe dann einige Fehler gemacht, weil ich nicht schon wieder das gesamte Personal im Willy- Brandt-Haus verändern wollte, um mir sozusagen eine Hausmacht zu verschaffen. Ich habe mir nämlich gedacht: "Vertrauen geben und Vertrauen zurückbekommen, das muss doch funktionieren!" Es war mir vorher auf Landesebene ja auch immer gelungen, die Dinge so zu organisieren. Auf Bundesebene ging das aber nicht mit allen. Mit vielen auf Bundesebene habe ich wirklich glänzend zusammengearbeitet und diese Leute waren auch äußerst loyal. Aber mein Vertrauensvorschuss ist eben nicht von allen gut beantwortet worden. Daraufhin ist in dieser politischen Konfliktsituation eine sehr harte und hinter den Kulissen teilweise auch sehr unfaire Art der Auseinandersetzung abgelaufen, an deren Ende dann mein Rücktritt stehen musste, so wie das gelaufen ist. Kastan: Ich habe dazu zwei Zitate. Das eine Zitat ist von einem gewissen Kurt Beck, der gesagt hat: "Die Bundespolitik wird massiv von Intrigen dominiert, und zwar wesentlich stärker als zu Bonner Zeiten." Berlin hat da beim politischen Umgang scheinbar etwas verschlechtert. Beck: Ich fürchte, dass das wirklich so ist. Erstens ist es so, dass man – auch über Parteigrenzen hinweg – weniger miteinander redet. Zweitens ist das sicherlich auch verursacht – nicht verantwortet! – durch die Medienvielfalt und diesen Versuch, immer schnellere und immer schrillere Antworten zu bekommen. Die Politik spielt dabei leider mit und ist dadurch eben auch geneigt, sich einen Vorteil in der Publizistik zu verschaffen, indem man z. B. sagt: "Wenn der das so sagt, dann müssen Sie das nicht ernst nehmen. Denn ich habe gehört, dass jemand gesagt hat, dass jemand ..." Das sind so diese Geschichten, die nie greifbar sind, aber sehr ungut ins Geschehen eingreifen. Das hat deutlich zugenommen, weswegen ich bei meinen jüngsten Neujahrsansprachen immer wieder gesagt habe: "Wenn ich neben dem Wunsch nach Frieden und einer guten Entwicklung für alle Menschen einen Wunsch frei hätte, dann hätte ich den Wunsch, dass wenigstens am Wochenende mal aufgehört wird mit diesen schrillen und schrägen Vorschlägen, die die Politiker in die Medien hineinblasen, weil man dann die ganze folgende Woche damit zu tun hat, diese Dinge wieder in Ordnung zu bringen." Die letzten Wochenenden haben ja wieder deutlich gezeigt, wie unschön das ist. Es gibt immer wieder neue Wochenenden und immer wieder schrille und schiefe Dinge. Wenn dann wirklich mal was Gutes in diesen Vorschlägen drinsteckt, dann kann sich das gar nicht mehr herauskristallisieren, weil am Montag dann sofort das Dementi kommt und kommen muss. Wir reden also gar nicht mehr in der Sache streitig, sondern es werden nur noch Schlagworte und Begriffe in die Welt gesetzt, die dann aber wieder aus der Welt geschafft werden müssen. Das ist jedenfalls keine gute Entwicklung. Kastan: Das zweite Zitat stammt von , dem amtierenden Bundesvorsitzenden der SPD. Ich gehe davon aus, dass Sie auch ihn seit vielen, vielen Jahren kennen. Er hat gesagt: "Es war damals für die SPD – nicht für Kurt Beck – eine Schande, wie er gegangen ist." Beck: Gut, das will ich nicht kommentieren, das hat Sigmar Gabriel auf einem Landesparteitag in Rheinland-Pfalz gesagt. Ich nehme das respektvoll und gerne zur Kenntnis – aber im Wissen, dass auch eigene Fehler gemacht worden sind. Kastan: Wenn man SPD-Bundesvorsitzender gewesen ist, muss man sich auch die Frage gefallen lassen: Wären Sie gerne Kanzler geworden? Beck: Ich war nicht in der Situation damals. Es war ja klar, dass wir um eine Wiederwahl von Gerhard Schröder kämpfen werden, insoweit stand das also gar nicht an als Frage und es stand auch nicht auf meiner Agenda. Ich wäre gerne noch einige Jahre Bundesvorsitzender der SPD geblieben, aber das hat sich dann eben anders entwickelt. Bei der Frage einer Kanzlerkandidatur, die dann für 2009 anstand, bestand mein Anspruch darin, dass das in Bezug auf den Vorschlag des Kandidaten eine Sache des Parteivorsitzenden sei. Das ist mir dann aber durch Indiskretionen vor diesem Wochenende der Klausurtagung am Schwielowsee weggenommen worden. Insoweit stand das also gar nicht an. Ich habe immer Verantwortung übernommen, wenn sie zu übernehmen war, aber ich bin nicht nach Berlin gegangen, um Kanzler zu werden, sondern um als Parteivorsitzender erfolgreich zu sein. Kastan: Ihr Nachfolger wurde dann Ihr Vorvorgänger, nämlich Franz Müntefering. Ich kann mir vorstellen, dass Sie in dieser Situation letztlich froh waren, wieder nach Mainz zurückfliegen zu können. Denn dort waren Sie der "König". Beck: Das mit dem "König" hat mir nie so besonders gut gefallen. Es ist dann ja auch dieses Wort vom "König Kurt" geprägt worden. Ich habe gesagt, dass mir das erstens nicht so gut gefällt, weil auch schon der diesen Titel hatte. Deswegen war ich dafür, das Erstlingsrecht in dieser Sache bei ihm zu belassen. Zweitens habe ich gesagt: Wenn jemand mit meiner Herkunft im Mittelalter, in feudaler Zeit gelebt hätte, dann wäre er nicht König geworden, sondern vielleicht – aber auch das nur, wenn er sehr, sehr gut gewesen wäre – erster Sänftenträger. Insoweit hat mir dieses Wort nie sehr gut gefallen. Aber es ist wahr, meine Partei hat mich damals hier in Rheinland-Pfalz unglaublich solidarisch aufgenommen und wiedergewählt. Denn am Wochenende nach meinem Rücktritt gab es ja einen, allerdings schon lange vorher geplanten Landesparteitag. Das hat mir sehr geholfen, diese doch schwierige Zeit verarbeiten zu können. Kastan: Es gab damals Kritiker, die gesagt haben, Kurt Beck sei zu provinziell. Hat Sie das getroffen? Beck: Kritik geht ja nie spurlos an einem vorbei. Was mich aber immer geärgert hat, ist dieser Provinzvorwurf. Das ist, auch wenn ich mich mit ihm nicht vergleichen will, so gegangen und anderen auch. Entschuldigung, aber Deutschland besteht nun einmal zu 80 Prozent aus Provinz und insoweit ist das einer dieser arroganten Denkkurzschlüsse, die gerade auch in der Berliner Journaille fröhliche Urständ' feiern. Man weiß nichts von der Welt, wenn man sich immer nur im Regierungsviertel und in bestimmten Cafés und Kneipen von Berlin bewegt hat. Da weiß man doch noch lange nichts von der Welt und von der Situation der Menschen in Bayern oder in Rheinland-Pfalz oder in Schleswig-Holstein oder in Brandenburg. Jemandem einen Stempel aufdrücken und dann gar nicht mehr zuhören, was dieser Mensch sagt, weil er "aus der Provinz kommt", ist ärmlich. Ich habe noch ein ähnliches Ärgernis, und zwar eines, das immer wieder im Feuilleton auftaucht. Ich lese für mein Leben gerne Feuilletons, aber ich finde, dass das, was sich in den Regionen Deutschlands abspielt, viel zu wenig beachtet wird: Die Berichterstattung aus den Regionen im Feuilleton ist wirklich unterbelichtet. Eine Sache muss in Berlin, Hamburg, Frankfurt oder München stattfinden – alles andere ist scheinbar nichts. So etwas ärgert mich, dieser Stempel, den man den Dingen auf diese Weise verpasst, um dann überhaupt nicht mehr wahrnehmen zu müssen, was dort eigentlich geleistet worden ist, was in der Sache selbst drinsteckt. In diesem Sinne ärgere ich mich heute noch über dieses Stempelaufdrücken. Kastan: Heißt für Sie Provinz vor allem auch Heimat? Beck: Ja, in einem guten Sinne: ja. Ich bin ganz glücklich darüber, dass jemand wie Edgar Reitz mit seiner Filmreihe "Heimat" diesem Begriff wieder einen Inhalt gegeben hat, für den man sich nicht schämen muss. Denn dieser Begriff "Heimat" ist ja zunächst einmal von den Nazis furchtbar missbraucht worden. Und auf der anderen Seite ist "Heimat" dann aber auch von einem bestimmten flachen Unterhaltungssektor wirklich verdümmlicht worden. Ich verstehe unter Heimat jedenfalls, dass man irgendwo Wurzeln hat, dass man festen Boden unter den Füßen hat und den Kopf frei, um die Welt wahrzunehmen, offen zu sein für anderes, für Neues, sei es in technologischer, politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher oder ökologischer Hinsicht. Ich glaube, dass ein solcher Heimatbegriff – mit Menschen verbunden zu sein, zu wissen, wo man herkommt, ohne sich selbst nur in diesem engen Feld zu bewegen – eine tolle Orientierung darstellt. Deshalb gefällt mir der Begriff "Heimat" wieder sehr gut. Kastan: Alles ist in der aktuellen Politik im Fluss, sowohl in der Provinz wie auch in den Großstädten: Das bezieht sich vor allem auf die Koalitionen, die sich heute bilden. Heutzutage ist auf einmal selbst Schwarz-Grün möglich und in Zukunft ist vielleicht sogar Rot-Rot-Grün möglich. Halten Sie das für eine realistische Option? Beck: Ich halte das auf jeden Fall für eine Option, die man untersuchen muss. Ich bin seit vielen Jahren – seit dieser Auseinandersetzung in Hessen – dafür, das zu untersuchen. Damals in Hessen ging das nicht, das war ganz klar: Man kann nicht vorher Nein sagen und es dann doch machen. Aber sich immer fragen lassen zu müssen: "Macht ihr es prinzipiell mit denen nicht? Oder doch?", das reicht meiner Meinung nach nicht aus, um die Menschen zu überzeugen. Da muss man sich schon auch in der Sache auseinandersetzen. Das tun wir jetzt als Sozialdemokraten mit der Partei "Die Linke". Und da müssen dann eben bestimmte Fragen geklärt werden. Da muss die Frage eines gemeinsamen Geschichts- und Verantwortungsbildes über unsere deutsche und über die europäische Geschichte geklärt werden, und dabei muss es auch um die Rolle der SED gehen, um die Rolle, die sie in der DDR auch den Sozialdemokraten gegenüber gespielt hat, gegenüber Sozialdemokraten, die dann unter der SED-Herrschaft teilweise in den gleichen Gefängnissen saßen wie Jahre zuvor unter den Nazis. Und es geht auch um die Fragen der Zukunft: Wie steht man zu Europa? Wie steht man zur weltweiten Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland in außen- und sicherheitspolitischen Fragen? Ich glaube, da muss einfach ein Dialog und eine Auseinandersetzung in der Sache stattfinden, damit man wirklich erkennen kann, ob das auf Bundesebene gehen könnte. Denn auf der Landesebene, auf der diese nationalen Fragen eine nicht so große Rolle spielen, ist das ja noch einmal anders zu beurteilen. Kastan: Ganz am Ende unserer Sendung meine vielleicht naive Frage an Sie: Wenn Sie heute noch einmal 18 oder 20 Jahre alt wären, würden Sie diesen Weg noch einmal einschlagen, diesen Weg eher in die Politik und nicht so sehr in einen, wenn ich das so sagen darf, bürgerlichen Beruf, den Sie ja einst erlernt haben? Beck: Ich bin heute im Nachhinein einfach zufrieden mit dem, was mir an Möglichkeiten geboten wurde. Ich bin dafür wirklich sehr dankbar. Heute hätte ich jedoch die Chance – wenn ich mich sozusagen noch einmal entscheiden sollte –, eine viel breitere Ausbildung zu machen. Ja, dann würde ich mich erneut engagieren. Politik ist die Organisation des Zusammenlebens von Menschen. Und wer meint, man könne sich da heraushalten, lässt andere über sein eigenes Schicksal entscheiden. Und deshalb ist es einfach besser, selbst mitzumachen. Kastan: Auch dann, wenn es durch Höhen und Tiefen geht. Ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch, Herr Beck. Das war das alpha-Forum, heute aus Mainz. Unser Gast war Kurt Beck, der langjährige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz.

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