UNABHÄNGIGER EXPERTENKREIS ANTISEMITISMUS

Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen UNABHÄNGIGER EXPERTENKREIS ANTISEMITISMUS

Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 12

Zentrale Forderungen des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus 14

1 Einleitung 16

1.1 Inhaltlicher Kontext 16 1.2 Der auftrag: »antisemitismus entschlossen bekämpfen, jdisches leben in Deutschland weiterhin nachhaltig frdern« 16 1.3 zusammensetzung des zweiten Unabhängigen expertenkreises antisemitismus 17 1.4 ziele des zweiten Unabhängigen expertenkreises antisemitismus 18 1.5 Praktische Umsetzung 18 1.5.1 reguläre arbeitstreffen 18 1.5.2 einholung externer expertisen 19 1.5.3 Gastvorträge 20 1.5.4 Gesprächsrunden 21 1.6 Internationale Bezge 22

2 Antisemitismus – Begriffsbestimmung und Typologisierung 23

2.1 anmerkungen zur »arbeitsdefnition« antisemitismus 23 2.2 Defnition und erscheinungsformen 24 2.2.1 Ideologieformen des antisemitismus in idealtypischer sicht 25 2.2.1.1 Klassische Ideologieformen des antisemitismus 25 2.2.1.2 neuere Ideologieformen des antisemitismus 26 exkurs: »Grauzonen« 27 2.2.2 Besonderheiten antisemitischer einstellungen und handlungen 28

3 Antisemitisch motivierte Straftaten 29

3.1 Probleme bei der erfassung und justiziellen Bearbeitung der straftaten 30 3.2 antisemitismus-Monitoring durch nGOs 35 3.3 entwicklung und typen antisemitischer straftaten 38 3.4 Demografsche Unterschiede: alter und Geschlecht antisemitischer straftäter und straftäterinnen 43 3.5 straftaten im Bereich hasskriminalität 44 3.6 schutz jdischer einrichtungen 46 3.7 einschätzung der antijdischen hate crimes vonseiten der Betroffenen 46 3.8 antisemitische hasspropaganda und straftaten im Internet 47 3.9 antisemitische straftaten im internationalen vergleich 48

4 Antisemitische Einstellungen in der Bevlkerung 53

4.1 einleitung – antisemitismus in Bevlkerungsumfragen 53 exkurs: zur Messung von antisemitismus in Bevlkerungsumfragen 54

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4.1.1 Operationalisierung antisemitischer einstellungen 55 4.1.2 Messen alle Fragen/Items tatsächlich antisemitismus? 56 4.2 aktuelle Bevlkerungsumfragen zu antisemitischen einstellungen 57 4.3 Befunde zur verbreitung antisemitischer einstellungen in der Bevlkerung 59 4.3.1 ausmaß und entwicklung antisemitischer einstellungen 59 4.3.2 zustimmung zu einzelnen Facetten antisemitischer einstellungen 60 4.3.2.1 zustimmung zu klassischem antisemitismus 62 4.3.2.2 zustimmung zu sekundärem antisemitismus 63 4.3.2.3 zustimmung zu israelbezogenem antisemitismus 63 4.3.3 Israelbezogener antisemitismus und »Israelkritik« 63 4.3.4 antisemitische einstellungen vor und nach dem Gaza-Konfikt im sommer 2014 64 4.4 zusammenhänge von antisemitismus mit verwandten Konstrukten 65 4.4.1 zusammenhang mit elementen »Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« 65 4.4.2 soziale Distanz 65 4.4.3 zusammenhang mit rechtsextremismus und rechtspopulismus 67 4.4.4 zusammenhang mit antiamerikanismus, Kapitalismus- und Globalisierungskritik 67 4.5 zur rolle sozio-demografscher Faktoren 68 4.5.1 antisemitismus nach alter 68 4.5.2 antisemitismus bei Ost-/westdeutschen 69 4.5.3 antisemitismus und Geschlecht 69 4.5.4 antisemitismus und schulbildung 69 4.5.5 zusammenfassende analyse sozio-demografscher Faktoren 70 4.6 antisemitismus der Mitte? 71 4.6.1 antisemitismus in der sozialen Mitte 72 4.6.2 antisemitismus in der politischen Mitte 72 4.7 religionszugehrigkeit und antisemitismus 74 4.7.1 einfuss der christlichen religion auf antisemitische einstellungen 74 4.7.2 antisemitismus unter muslimischen Befragten 75 4.7.2.1 was ist auf die »muslimische religionszugehrigkeit«, was auf andere variablen zurckzufhren? 75 4.7.2.2 Befunde zu muslimischen Jugendlichen und jungen erwachsenen in Deutschland 76 4.7.2.3 Befunde zu muslimischen erwachsenen in Deutschland 77 4.7.2.4 Diskriminierung als mgliche Ursache antisemitischer einstellungen bei muslimischen einwanderern 78 4.8 einfuss des Migrationshintergrunds auf antisemitische einstellungen 80 4.9 theoretische erklärungen fr die Übernahme antisemitischer einstellungen 80 4.10 antisemitismus im internationalen vergleich 83 4.11 antisemitische einstellungen unter nach europa zugewanderten muslimischen Migranten 88 4.12 Fazit 90

5 Erfahrungsräume und Perspektiven der jdischen Bevlkerung im Umgang mit Antisemitismus 91

5.1 Perspektive von Jdinnen und Juden in Deutschland auf antisemitismus 91 5.2 Jdische Gemeinschaften in Deutschland: historische ausgangssituation und selbstverortung 91 5.3 Perspektivendivergenz 93 5.4 Bisherige erkenntnisse zu jdischen Perspektiven auf antisemitismus 93 5.4.1 subjektive antisemitismuserfahrungen 95

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5.4.2 ebenen, Formen und ausdrucksweisen von antisemitismus unter dem Blickwinkel der Diskriminierung 96 5.5 Beschreibung der in auftrag gegebenen expertise zum thema »Perspektiven von Jdinnen und Juden in Deutschland auf antisemitismus« 97 5.5.1 ziel der expertise 97 5.5.2 Umsetzung der expertise 97 5.5.3 anlage und Umsetzung der studie in drei teilstudien 98 5.5.3.1 Qualitative Befragung (teilstudien I und II) 98 5.5.3.2 Quantitative Befragung von Jdinnen und Juden (teilstudie III) 99 5.6 ergebnisse der in auftrag gegebenen studie 100 5.6.1 Die große resonanz zeugt vom Bedarf, angehrt und gehrt zu werden 100 5.6.2 Jdische Identität 100 5.6.3 erfahrungen der Großeltern und Beständigkeit antisemitischer stereotype 101 5.6.4 einschätzung von antisemitismus als aktuelles Problem 102 5.6.5 einschätzung der entwicklung von antisemitismus 103 5.6.6 wie drckt sich antisemitismus aus sicht der Betroffenen aus? 104 5.6.7 erfahrung mit Diskriminierung – Befunde der qualitativen Befragungen 105 5.6.7.1 verkrampftes verhältnis/»Othering« als subtile Form von antisemitismus 106 5.6.7.2 Diskriminierung aufgrund verschiedener zugewiesener Merkmale 106 5.6.7.3 Direkte, offene und diffuse Formen von antisemitismus 107 5.6.7.4 antisemitismus in verschiedenen lebenskontexten 107 5.6.8 erleben von und sorge vor unmittelbaren Beleidigungen und Übergriffen 108 5.6.9 wie die Betroffenen mit antisemitismus umgehen 110 5.6.10 einstellungen zur aktuellen Flchtlingsdebatte 112 5.6.11 vorschläge fr Prävention 113

6 Medialer Diskurs 116

6.1 einleitung 116 6.2 antisemitische verschwrungs theorien/-mythen, sekundärer antisemitismus, antizionistischer/israelbezogener anti semitismus und antisemitische »hate speech« 116 6.3 antisemitismus in Print- und Online-zeitungen sowie im Fernsehen 117 6.4 Kommentare von leserinnen und lesern 120 6.5 Internet und soziale Medien 122 6.5.1 »hate speech« 123 6.5.2 soziale Medien 123 6.5.2.1 twitter 123 6.5.2.2 Facebook 124 6.5.2.3 Youtube 125 6.5.2.4 Blogs 126 6.5.2.5 Instagram 127 6.5.2.6 Google+ und andere netzwerke 127 6.5.3 themen 127 6.5.4 akteurinnen und akteure 128 6.5.5 verbreitungsgrad in sozialen netzwerken 128 6.5.6 Gegenstrategien 129 6.6 Fazit 130 exkurs: »Mastermind« – Üstakil 132

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7 Antisemitismus und Parteien 137

7.1 Das verhältnis der Parteien zum antisemitismus 137 7.1.1 christlich Demokratische Union (cDU)/christlich soziale Union (csU) 137 7.1.2 sozialdemokratische Partei Deutschlands (sPD) 137 7.1.3 Bndnis 90/Die Grnen 138 7.1.4 alternative fr Deutschland (afD) 138 7.1.4.1 Der Fall Peter ziemann 139 7.1.4.2 Der Fall Jan-Ulrich weiß 139 7.1.4.3 Der Fall Gunnar Baumgart 140 7.1.4.4 Der Fall wolfgang Gedeon 141 7.1.4.5 Bedeutung der antisemitismus-Fälle in der Partei 143 7.1.4.6 antisemitismus im innerparteilichen Machtkampf 144 7.1.4.7 zwischenfazit 144 7.1.5 Partei des Demokratischen sozialismus (PDs)/Partei Die linke 145 exkurs: anmerkungen zu antisemitismus-vorwrfen gegenber der Partei Die linke 146 7.1.5.1 zwischenfazit 148 7.1.6 Freie Demokratische Partei (FDP) 148 7.2 stellungnahmen der Parteien zum antisemitismus 149 7.2.1 christlich Demokratische Union (cDU) 150 7.2.2 christlich soziale Union (csU) 150 7.2.3 sozialdemokratische Partei Deutschlands (sPD) 151 7.2.4 Bndnis 90/Die Grnen (Grne) 151 7.2.5 alternative fr Deutschland (afD) 151 7.2.6 Die linke 151 7.2.7 Freie Demokratische Partei (FDP) 152 7.2.8 antworten im Gesamtvergleich 152 7.2.9 Fazit 153

8 Antisemitismus in politischen Bewegungen und Organisationen 155

8.1 antisemitismus in der rechtsextremistischen Bewegung 155 8.1.1 rechtsextremismus als soziale Bewegung 155 8.1.2 antisemitismus in der Ideologie des rechtsextremismus 156 8.1.3 antisemitismus in der nationaldemokratischen Partei Deutschlands (nPD) 156 8.1.4 antisemitismus in der neonazi-szene 157 8.1.5 antisemitismus in der rechtsextremistischen Musik 157 exkurs: antisemitismus in rechtsextremistischer rap-Musik 158 8.1.6 Bedeutung der holocaust-leugnung fr den rechtsextremismus 159 8.1.7 Bedeutung des antisemitismus im rechtsterrorismus 159 8.1.8 antisemitische Deutungen beim Diskurs ber die Flchtlingsentwicklung 160 8.1.9 Interne Bedeutung des antisemitismus im rechtsextremismus 160 8.1.10 externe Bedeutung des antisemitismus im rechtsextremismus 161 8.1.11 Fazit 161 exkurs: reichsbrger 162

8.2 Montagsmahnwachen fr den Frieden 163 8.2.1 Die entstehung der Montagsmahnwachen 163 8.2.2 Kritik und skandalisierung rechter tendenzen bei den Mahnwachen 165 8.2.3 Die teilnehmerinnen und teilnehmer an den Mahnwachen – ergebnisse einer Befragung 167

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8.2.4 zum antisemitismus in der Friedenbewegung 170 8.2.5 Fazit 171 8.3 zur rolle von antisemitismus bei Pegida 171 8.3.1 einleitung 171 8.3.2 vorberlegungen zur rolle von antisemitismus bei Pegida 172 8.3.3 wer demonstrierte mit bei Pegida? 174 8.3.4 Die offzielle homepage von Pegida 174 8.3.5 antisemitismus in statements vonseiten der Organisatoren und eingeladener redner 175 8.3.6 antisemitische Plakate und skandierte Parolen 176 8.3.7 hinweise auf die verbreitung antisemitischer einstellungen der Demonstranten 177 8.3.8 einfuss auf die politische Kultur und die politische stimmungslage 178 8.3.9 Fazit 178 8.4 salafsmus 179 8.4.1 Grundlagen des salafsmus 179 8.4.2 antisemitismus und salafsmus 180 8.4.3 verbreitung des salafsmus in Deutschland 180 8.4.4 salafsmus und antisemitismus in Deutschland 181 8.4.5 Fazit 183

9 Antisemitismus und Religion 184

9.1 einleitung 184 9.2 antisemitismus in den christlichen Kirchen 184 9.2.1 antisemitismus und evangelische Kirche 185 9.2.1.1 Die »slenczka-Debatte«: zur relevanz des alten testaments fr das christliche selbstverständnis 185 9.2.1.2 antisemitismus und »Israelkritik« im Kontext der evangelischen Kirche 186 9.2.2 antisemitismus und Katholische Kirche 186 9.2.3 Fazit 187 9.3 antisemitismus und muslimische Moscheegemeinden 187 9.3.1 Methodische vorgehensweise und Durchfhrung der studie 187 9.3.2 Die ergebnisse 188 9.3.2.1 rolle der Imame 188 9.3.2.2 themen 189 9.3.2.3 Prävention von antisemitismus in muslimischen Gemeinden 192 9.3.3 Fazit 192

10 Antisemitismus bei Gefchteten 194

10.1 erkenntnisbedarf 194 exkurs: stichprobe, Methodik und vorgehensweise der qualitativen studie »expertise II« 195

10.2 Konfiktlinien in zusammenhang mit Flucht und antisemitismus 195 10.3 hinweise auf die verbreitung und ausformung von antisemitismus unter Gefchteten 196 10.3.1 erfahrungen in zusammenhang mit der Flucht und als Gefchtete 196 10.3.2 Diskriminierungserfahrungen 196 10.3.3 einstellungen und werthaltungen mit Blick auf Demokratie und Menschenrechte 197 10.3.4 religion, religiosität, religise Praxis 198 10.3.5 Der Import antisemitischer Prägungen aus den herkunftsländern 198 10.3.5.1 ergebnisse aus einstellungsbefragungen mit Personen aus ländern des nahen und Mittleren Ostens 199

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10.3.5.2 religise, nationale und ethnische Identitäten 200 10.3.5.3 wissen ber Juden und das Judentum 201 10.3.5.4 wissen und wissensquellen zum holocaust 201 10.3.5.5 Bilder von Juden und Jdinnen 202 10.3.5.6 einstellungen zu Israel und israelbezogener antisemitismus 202 10.3.5.7 einstellungen zum nahostkonfikt 202 10.3.5.8 wissensquellen zum nahostkonfikt und Israel 202 10.3.5.9 wandel im Israelbild 203 10.3.6 zusammenfassung der bisherigen Befunde zu antisemitismus bei Gefchteten 203 exkurs: Präventionsarbeit mit Gefchteten 204

11 Prävention und Intervention 206

11.1 zentrale pädagogische herausforderungen 206 11.1.1 ausgangsberlegungen 206 11.1.2 erscheinungsformen von antisemitismus in pädagogischen Kontexten 207 11.1.3 verschiedene Motive von antisemitismus 208 11.1.4 emotionen und abwehrhaltungen als (pädagogische) herausforderung 208 11.1.5 heterogener lernraum 209 11.2 zielgruppen und Präventionsformen 209 11.2.1 zielgruppen 209 11.2.2 Präventionsformen 209 11.2.3 Intervention 210 11.3 systematische einordnung von Bildungs- und Präventionsansätzen 211 11.3.1 historische Bildung 211 11.3.2 Politische Bildung 211 11.3.3 Begegnungspädagogik 212 11.3.4 anerkennungspädagogik 212 11.4 aktuelle Diskurse und neuere ansätze in der auseinandersetzung mit antisemitismus 213 11.4.1 antisemitismuskritische Bildung 213 11.4.2 subjektorientierung 214 11.4.3 lebensweltlicher ansatz 214 11.4.4 Konfiktpädagogik und (kollegiale) Fallberatung 214 11.4.5 Dialogischer refexionsansatz 215 11.5 ausgewählte handlungsfelder 215 11.5.1 schule 215 11.5.2 hochschule 217 11.5.3 Fort- und weiterbildung fr lehr- und Fachkräfte 218 11.5.4 Offene Jugend- und sozialarbeit 219 11.6 rahmenbedingungen der antisemitismusprävention 219 11.6.1 Präventionsmaßnahmen auf Bundesebene 220 11.6.1.1 Fehlende systematische und dauerhafte Frderung 222 11.6.1.2 Jugendliche als (alleinige) zielgruppe 222 11.6.1.3 ausbau ressortbergreifender zusammenarbeit 223 11.6.1.4 Problem Kofnanzierung 223 11.6.2 Präventionsmaßnahmen auf länderebene 223 11.6.2.1 landesprogramme und landesinitiativen 224 11.6.2.2 Bedeutung des Phänomenbereichs antisemitismus in den landesprogrammen 224 11.6.2.3 einordnung 225

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11.6.2.4 schwierigkeiten bei der zusammenarbeit zwischen Bund und ländern 225 11.6.3 weitere Frdermaßnahmen der arbeit gegen antisemitismus 226 11.6.4 zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis 227 11.6.5 zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Organen 228 11.6.6 Opferberatung in zusammenarbeit mit jdischen Organisationen 229 11.7 Qualitätsmerkmale pädagogischer Maßnahmen gegen antisemitismus – zentrale Befunde der Projektevaluation von socius 230 11.7.1 erschließung/Gewinnung von zielgruppen 230 11.7.2 selbstrefexion als ziel pädagogischer Maßnahmen 231 11.7.3 theoretische auseinandersetzung mit antisemitismus 231 11.7.4 vielfalt an pädagogischen ansätzen/Methoden 232 11.7.5 stellenwert von austausch, Perspektivwechsel, Diskriminierungserfahrungen von teilnehmenden und Umgang mit emotionen 233 11.7.6 Freiwilligkeit der teilnahme an Bildungsveranstaltungen zum antisemitismus 234 11.7.7 zusammensetzung der durchfhrenden teams 234 11.7.8 Bercksichtigung heterogener lernräume 234

12 Beispiele 238

12.1 Die augstein-Debatte 238 12.1.1 Der Konfiktanlass und erste journalistische stellungnahmen 239 12.1.2 Pro- und contra stellungnahmen von Politikern, wissenschaftlern und jdischen sowie nichtjdischen Organisationen 241 12.1.3 Kritik an augstein und seinen Untersttzern 243 12.1.4 Die Mediendebatte aus wissenschaftlicher sicht 244 12.1.5 Fazit 244 12.2 Die Beschneidungsdebatte 245 12.2.1 Medialer Diskurs 246 12.2.2 Die Politik am Pranger 248 12.2.3 Die Debatte und ihre Folgen 249 12.2.4 reaktionen der Politik 249 12.2.5 reaktionen des zentralrats der Juden in Deutschland 250 12.2.6 empirische studien 251 12.2.7 Fazit 251 12.3 antisemitismus im Fußball 252 12.3.1 zur situation in Deutschland 252 12.3.2 ausdrucksformen des antisemitismus 253 12.3.3 Die jdischen Makkabi-vereine als zielscheibe von antisemitismus 254 12.3.4 Die reaktionen auf antisemitische vorfälle im Fußball 256 12.3.5 Fazit 257

13 Fazit 258

Handlungsempfehlungen 267

Conclusion, Key Demands and Recommendations 274

Literatur 290

Abkrzungen 301

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Vorwort

Mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Oktober Mit der juden- und israelfeindlichen Welle von 2002, in 2000 und den folgenden Militäraktionen Israels, v.a. im der erstmals junge Muslime als Tätergruppe in einigen Frhjahr 2002 in Dschenin und Bethlehem, kam es in europäischen Ländern hervortraten, ist neben der Fokus- einer ganzen Reihe westeuropäischer Länder zu einer sierung auf den Nahostkonfikt eine weitere Entwicklung Welle antijdischer und antiisraelischer Übergriffe und in den Mittelpunkt des Interesses gerckt, nämlich der Demonstrationen. Dies war fr das European Monitoring Antisemitismus unter Migrantinnen und Migranten Center for Racism and Xenophobia (EUMC) der Anlass, erst- aus muslimisch geprägten Ländern. Über dessen Aus- mals einen Bericht zum Antisemitismus in den damaligen maß und Charakter wird seitdem kontrovers diskutiert, 15 EU-Mitgliedsstaaten verfassen zu lassen. Damit kehrte wobei nach wie vor nur wenige verlässliche Erkennt- der Antisemitismus als wichtiges Thema auf die ffent- nisse dazu vorliegen. Obwohl man den Blick inzwischen liche, politische und auch wissenschaftliche Agenda in auf weitere migrantische Gruppen ausgeweitet hat und Deutschland und Europa zurck. In rascher Folge fanden Antisemitismus heute als ein Phänomen im Kontext nun Antisemitismus-Konferenzen der Organisation fr der »Einwanderungsgesellschaft« gilt, fehlen auch hier Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien noch entsprechende Untersuchungen. Die Debatte ber (2003), Berlin (2004) und Cordoba (2005) statt. Seitdem Antisemitismus unter Muslimen ist spätestens seit dem erfährt das Thema Antisemitismus eine hohe politische Sommer 2015 mit der massenhaften Flucht von Menschen Aufmerksamkeit, und die Nachfolgeorganisation des aus Kriegs- und Krisengebieten im Mittleren Osten und EUMC, die Federal Agency for the Protection of Human aus Nordafrika in den Mittelpunkt eines ffentlichen Rights (FRA), gibt jährliche Berichte dazu heraus (Monito- Diskurses zu der Frage geraten, ob mit den Gefchteten ring). auch Antisemitismus »importiert« werde. In den Diskus- sionen um die Aufnahme der Gefchteten spielten dabei Mit der Entwicklung des Nahostkonfikts haben sich aber v.a. deren Religionszugehrigkeit und ihre Herkunft aus auch eine Reihe wichtiger Veränderungen in diesem The- Ländern des Nahen und Mittleren Ostens eine wach- menfeld ergeben. Standen bis Ende der 1990er-Jahre v.a. in sende Rolle. Die Fokussierung auf den Nahostkonfikt hat Deutschland Auseinandersetzungen um Antisemitismus auch noch eine andere Schwerpunktverschiebung in der ganz berwiegend im Zusammenhang mit der NS-Vergan- ffentlichen Diskussion zur Folge gehabt, da sich nun v.a. genheit und mit Fragen des adäquaten Erinnerns an die die politische Linke aufgrund ihrer Stellungnahmen zu Verfolgung und Ermordung der Juden, so rckte nun, in diesem Konfikt mit dem Vorwurf des Antisemitismus Deutschland erstmals wieder mit dem sogenannten Ml- konfrontiert sieht. Die nach wie vor zentrale Trägergruppe, lemann-Friedman-Streit vom Mai 2002, ein israelbezoge- nämlich die extreme Rechte, gerät dabei manchmal etwas ner Antisemitismus in den Mittelpunkt, der seitdem v.a. zu sehr aus dem Blick. in Phasen der Eskalation des Nahostkonfikts ffentlich hervortritt. Es kam damals die Rede von einem »neuen Neben dieser stärkeren Fokussierung auf den Nahostkon- Antisemitismus« in Europa auf, der sich auf Israel als fikt haben aber eine ganze Reihe neuerer Entwicklungen »kollektiven Juden« bezog. Die Unsicherheit darber, wo dazu beigetragen, Antisemitismus als dringliches Problem genau die Grenze zwischen berechtigter und einseitiger wahrzunehmen und entsprechende Präventions- und Kritik an Israels Politik gegenber den Palästinensern und Bekämpfungsmglichkeiten zu diskutieren. Als ein als antisemitisch zu wertenden Stellungnahmen verläuft, zentrales neues und bedrohliches Phänomen ist dabei die hält bis heute an und hat zu verstärkten Bemhungen zunehmende Hasskommunikation im Internet zu nennen, um eine verbindliche Antisemitismus-Defnition gefhrt. die in jngster Zeit immer stärker in den Mittelpunkt der Anfang 2005 hatte das EUMC zusammen mit Nichtregie- ffentlichen und politischen Aufmerksamkeit rckt. Über rungsorganisationen (NGOs) und Experten deshalb eine das Internet, insbesondere ber die sozialen Netzwerke Arbeitsdefnition vorgeschlagen, in der festgelegt wird, erffnen sich fr die einzelnen Nutzerinnen und Nutzer wann israelbezogene Aussagen als antisemitisch gelten. vllig neue Kommunikationsmglichkeiten, denn nun Die Defnition hat in einigen Ländern Europas zu einer erreichen sie in dieser »Semi-Öffentlichkeit« einen enorm hheren Sensibilität in der Erfassung antisemitischer großen Leserkreis fr ihre antisemitischen Auslassungen, Straftaten gefhrt, dennoch sind gerade die auf Israel fr die sie vorher schwerlich Publikationsmglichkeiten bezogenen Elemente der Defnition trotz anhaltender gefunden hätten. Das Internet begnstigt zudem die Ver- Bemhungen bisher strittig geblieben (→ Defnition). Ob breitung von Verschwrungstheorien, die in vielen Fällen die jngste Übernahme der Defnition durch die Internati- mit antisemitischen Vorstellungen ber eine jdische onal Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) daran etwas oder zionistische Weltverschwrung und Beherrschung ändern wird, muss hier offenbleiben. der Finanzwelt verbunden sind. Damit entsteht ein großer

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Resonanzraum fr Hassbotschaften mit einer Tendenz zur diese Akteure mit hetzerischen Parolen, einer nationalis- Resonanzverstärkung, der strafrechtlichen Eingriffen nur tisch-vlkischen Ideologie sowie implizit oder explizit for- schwer zugänglich ist. Von staatlicher Seite ist dieses Pro- mulierten Verschwrungstheorien ein politisches Klima blem erst spät erkannt worden und berdies nicht leicht der Polarisierung geschaffen.Verfechter einer offenen, zu lsen, da die international agierenden Anbieter durch pluralistischen Gesellschaft und deren Gegner stehen sich einzelstaatliche Regelungen nur schwer zur Selbstkont- ebenso gegenber, wie rechtspopulistische Parteien bzw. rolle der von ihnen verbreiteten Inhalte zu zwingen sind, Brgerbewegungen auf der einen und politische Eliten wie die gegenwärtige Diskussion darber zeigt. sowie etablierte Medien auf der anderen Seite; der Ton gegenber Minderheiten und »Fremden« ist insgesamt Diese Verbreitung antisemitischer Botschaften in den rauer geworden und verunsichert so auch die jdische neuen Medien hat zudem die Aufmerksamkeit von Minderheit, auch wenn rechtspopulistische Parteien und Wissenschaft und Öffentlichkeit von den politischen Bewegungen sich derzeit auf »die Muslime« konzent- Extremen stärker auf die sogenannte Mitte umgelenkt, rieren und den Anschein von Antisemitismus insgesamt die nun als ein neues Problemfeld erscheint. Ein Blick weitgehend zu vermeiden suchen. zurck auf die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass dies allerdings keineswegs ein neues Phänomen ist und Im Zuge dieser gesellschaftlichen Veränderungen hat sich dass antisemitische Einstellungen gerade in den ersten auch die Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus Nachkriegsjahrzehnten noch stärker als heute bis weit in in der Politik, der Wissenschaft und in zivilgesellschaft- die Mitte der Gesellschaft anzutreffen waren. Unabhängig lichen Organisationen intensiviert, was wiederum einen von dieser an sich positiven Entwicklung sind antisemi- Effekt auf die wahrgenommene Bedeutung und Dring- tische Einstellungen nach wie vor in der Bevlkerung in lichkeit des Problems hat. Es ist ein ganzes Netzwerk nennenswertem Ausmaß verbreitet, sodass hier latent von in- und ausländischen Organisationen, NGOs und vorhandene, kulturell tief verwurzelte Ressentiments Wissenschaftlern entstanden, das sich mit Antisemitismus unter Umständen auch wieder aktiviert werden knnen. in seinen verschiedenen Erscheinungsformen befasst, Die Fokussierung auf die »Mitte« soll unterstreichen, Berichte erstellt, Konferenzen abhält, sich eindeutig gegen dass es sich beim Antisemitismus eben nicht nur um ein Antisemitismus positioniert und ber Präventionsmg- Phänomen in kleinen Randgruppen handelt, sondern lichkeiten diskutiert. Es wird versucht, dem Thema ffent- dass er durchaus auch unter jenen vorkommt, die sich liche Aufmerksamkeit zu verschaffen, doch gleichzeitig selbst sozial und politisch als »Mitte« betrachten und auch zeigen Umfragen, dass die große Mehrheit der deutschen anhand soziokonomischer Kriterien dazu gezählt werden Bevlkerung (77 Prozent) die Verbreitung antisemitischer knnen. Die »Mitte« – ganz gleich wie defniert – ist, allein Einstellungen in Deutschland als gering einschätzt. Hier weil sie die große Mehrheit repräsentiert, von der Politik besteht eine Wahrnehmungsdiskrepanz, denn während adressiert wird und ihr viele relevante gesellschaftliche Juden Antisemitismus aufgrund ihrer Alltagserfahrung Akteure zugerechnet werden knnen, ganz wesentlich fr berwiegend als zentrales Problem empfnden, ist in der die Wahrnehmung und Bewertung, aber eben auch fr die Bevlkerung insgesamt die Sensibilität gegenber diesem Verbreitung und Entwicklung von Antisemitismus. Die Phänomen gering. Auch hieraus leiten sich wichtige »Mitte« ist und bleibt also ein zentrales Feld fr die Inter- Ansatzpunkte fr die Prävention ab. vention und Prävention von Antisemitismus. Der vorliegende zweite Bericht des Unabhängigen Exper- Neben der Erffnung des Kommunikationsraums Internet tenkreises Antisemitismus (UEA) ist Ausdruck der deutlich wird Antisemitismus durch die seit Jahren aufgeheizte angestiegenen politischen Aufmerksamkeit fr dieses Debatte ber Islam, Terrorismus und Zuwanderung/ Problem. Er verweist auf die Vielfältigkeit der Erschei- Flucht begnstigt. Diese Debatte, aber auch die Finanz- nungsformen von Antisemitismus in den verschiedenen krise haben rechtspopulistischen Bewegungen (wie gesellschaftlichen Bereichen, fragt nach der Wahrneh- Pegida), Parteien (wie die Alternative fr Deutschland/AfD) mung von Antisemitismus aus jdischer Perspektive und und verschwrungstheoretischen Bewegungen nicht nur zeigt staatliche sowie zivilgesellschaftliche Bemhungen in Deutschland Auftrieb gegeben, die nun ihrerseits diese zur Bekämpfung und Prävention, aber auch deren Gren- Debatten weiter forcieren. Auch wenn Antisemitismus zen und Defzite. hier kein dominantes Phänomen war und ist, so haben

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Zentrale Forderungen des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus

1. Berufung einer/s Antisemitismusbeauftragten und 3. Dauerhafte Frderung von Trägern der Verstetigung eines unabhängigen Expertenkreises Antisemitismusprävention

Der vorliegende Bericht des zweiten Unabhängigen Exper- Der zweite Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus wie- tenkreises Antisemitismus zeigt, dass die Bekämpfung des derholt die Forderung aus dem ersten Bericht, die Arbeit Antisemitismus eine dauerhafte Aufgabe fr Politik und von zivilgesellschaftlichen Trägern in der Antisemitis- Gesellschaft ist und bleibt. Deshalb fordert der Experten- musprävention zu verstetigen. Damit greift der Experten- kreis die Berufung einer/s Antisemitismusbeauftragten. kreis eine Forderung des NSU-Untersuchungsausschusses Diese/r soll im Bundeskanzleramt angesiedelt werden und des Deutschen Bundestages vom August 2013 auf, der sich als Teil der Verwaltung die Maßnahmen der Antisemitis- »mit Nachdruck« fr eine »Neuordnung der Frderung musbekämpfung und -prävention ressortbergreifend zivilgesellschaftlichen Engagements gegen Rassismus, koordinieren. Der Expertenkreis empfehlt eine Berufung Antisemitismus und Rechtsextremismus« ausspricht. auf vier Jahre aus wechselnden Ressorts, querliegend zur Der Expertenkreis fordert die Politik auf, Verlässlichkeit Legislaturperiode. und Planungssicherheit fr brgerschaftliche Akteure zu garantieren. Damit verbunden ist die Schaffung von Die/Der Antisemitismusbeauftragte wird von einem Strukturen, um Wissen und Erfahrungen, die in Modell- unabhängigen Kreis beraten, der im Benehmen mit der/ vorhaben gesammelt werden, in die Regelstrukturen zu dem Beauftragten von der Bundesregierung berufen wird berfhren (v.a. Schule). und sich aus jdischen und nichtjdischen Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Bildungspraxis und Zivil- 4. Schaffung einer ständigen Bund-Länder-Kommission gesellschaft zusammensetzt. Dieser legt in regelmäßigen Abständen (Fortschritts-)Berichte vor, die neben einer Zahlreiche der in diesem Bericht beschriebenen Maßnah- Zustandsbeschreibung auch den Stand der Umsetzung der men der Antisemitismusbekämpfung und -prävention Forderungen und Handlungsempfehlungen des Experten- fallen in die Zuständigkeit der Länder. Der Bund hat in kreises beinhalten. Zu den Berichten fnden regelmäßig diesem Zusammenhang meist nur eine »Anregungsfunk- parlamentarische Anhrungen statt. tion« (siehe Kinder- und Jugendhilfegesetz SGB VIII). Um die Abstimmung länderspezifscher Maßnahmen, v. 2. Konsequente Erfassung, Verffentlichung a. im Bereich Schule, Jugendhilfe, Justiz und Polizei, zu und Ahndung antisemitischer Straftaten verbessern, fordert der Expertenkreis die Schaffung einer ständigen Bund-Länder-Kommission mit Vertreterinnen Der Expertenkreis fordert, die Zusammenarbeit zwischen und Vertretern der fr die o.g. Bereiche zuständigen Stel- Zivilgesellschaft, jdischen Organisationen und Sicher- len. Außerdem fordert der Expertenkreis die Bundesländer heitsbehrden bei der Erfassung antisemitischer Strafta- auf, eigenständige Maßnahmen zur Antisemitismus- ten zu verbessern. Die Schaffung entsprechender Struk- bekämpfung in den Landesprogrammen zur Extremis- turen soll den Betroffenen das Anzeigen antisemitischer musprävention zu verankern und ber diese in Austausch Straftaten erleichtern und damit Dunkelziffern reduzie- zu treten. ren. Basis fr die Beurteilung antisemitischer Taten soll ein einheitlicher Kriterienkatalog sein, in Anlehnung und 5. Langfristig angelegte Forschungsfrderung kritischer Weiterentwicklung der sogenannten Working zum Antisemitismus Defnition zum Antisemitismus. Antisemitische Strafta- ten sollen im Verfassungsschutzbericht wieder explizit Der Expertenkreis fordert mehr Forschungsvorhaben, ausgewiesen werden. Die erhobenen Daten sollen in die sich gezielt sowohl mit den historischen Entwick- einer einheitlichen, bundesweiten Datenbank regelmäßig lungen als auch den gegenwartsbezogenen Formen des verffentlicht werden. Bei der Strafverfolgung fordert der Antisemitismus befassen und die sowohl die Perspektive Expertenkreis eine entschiedenere Bercksichtigung anti- der nichtjdischen wie auch der jdischen Bevlkerung semitisch motivierter Straftatbestände durch die Justiz. bercksichtigen. Diese sollten interdisziplinär und sowohl Darber hinaus fordert der Expertenkreis die dauerhafte quantitativ als auch qualitativ angelegt werden. Außer- und strukturelle Schaffung von Beratungs- und Empow- dem sollen Ressourcen zur Verfgung gestellt werden fr erment-Strukturen fr von Antisemitismus Betroffene. eine stärkere praxisbezogene Antisemitismusforschung, jenseits der Evaluation von Bundesprogrammen. Damit

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einher geht die Forderung der Schaffung eines institutio- Vorurteile und Ausgrenzungen beschreiben und analysie- nalisierten Dialogs zwischen Wissenschaft und Praxis. ren, da es sich hierbei nicht nur um ähnliche Phänomene handelt, sondern auch Schnittmengen zu antisemitischen Im Übrigen empfehlt der Unabhängige Expertenkreis Haltungen sichtbar werden, die fr die im Bericht vor- Antisemitismus, Berichte durch weitere Expertenkreise geschlagenen präventiven Strategien von grundlegender erstellen zu lassen, die antimuslimische und andere Bedeutung sind.

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1 Einleitung

1.1 Inhaltlicher Kontext Straßen, die begleitet waren von massiven antisemitischen Parolen und Straftaten, die die Forderungen nach einem Im Januar 2012 berreichte der Unabhängige Expertenkreis zweiten Expertenkreis und einem neuen Expertenbericht Antisemitismus dem Deutschen seinen Bericht untermauerten. zu Antisemitismus in Deutschland. Der Expertenkreis, bestehend aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- lern sowie zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, war 2009 mit der Erstellung dieses Berichts 1.2 Der auftrag: »antisemitismus beauftragt worden, mit dem Ziel, Handlungsempfehlun- entschlossen bekämpfen, gen zur Bekämpfung von Antisemitismus in der deut- schen Gesellschaft zu präsentieren,1 die dann von den jdisches leben in Deutschland politischen Akteurinnen und Akteuren aufgenommen weiterhin nachhaltig frdern«6 und umgesetzt werden sollten. Der erste Expertenbericht machte deutlich, wie breit Antisemitismus nach wie vor gesellschaftlich verankert ist. Auch ein Maßnahmenkata- Der Deutsche Bundestag verweist in seinem Antrag auf log wurde formuliert. Dieser fand jedoch kaum Eingang in Einsetzung eines zweiten Unabhängigen Expertenkreises den politischen und ffentlichen Diskurs.2 Antisemitismus (UEA) auf den anhaltenden Antisemitis- mus und die besondere Verantwortung Deutschlands, Im Dezember 2014, rund vier Jahre nach dem Einsetzen sich diesem entschlossen entgegenzustellen und jdisches des ersten Expertenkreises, wurde erneut auf Antrag Leben in Deutschland zu schtzen und zu frdern. Der der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP Auftrag lautete, einen neuen Expertenbericht zu erstellen, und Bndnis 90/Die Grnen sowie in Übereinstimmung der drei zentrale Anforderungen erfllen soll: (1) »Anti- mit der Partei Die Linke ein Unabhängiger Expertenkreis semitismus in Deutschland als eine besondere Form der Antisemitismus bestellt.3 Die nach wie vor große Verbrei- gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit unter Setzung tung von Antisemitismus, die kaum erfolgte Umsetzung spezifscher Schwerpunkte« betrachten, (2) »vor dem Hin- der Handlungsempfehlungen des Berichts bis zu diesem tergrund der Erfahrungen des vorangegangenen Berichts- Zeitpunkt4 ebenso wie die schon dem ersten Antrag der zeitraumes konkrete Vorschläge fr Maßnahmen der Bundestagsfraktionen zugrunde liegende Motivation, Bekämpfung des Antisemitismus machen« und (3) einen »regelmäßig und umfassend zu diesem Thema«5 zu besonderen »Schwerpunkt […] auf Maßnahmen [legen], die forschen und zu berichten, wurde als Ausgangspunkt fr auf Bundesebene umgesetzt werden knne[n]«.7 einen neuen Antrag genommen. Hinzu kamen Ereignisse, wie etwa der Gaza-Konfikt 2014 und die damit in Verbin- Da viele notwendige Maßnahmen zur Bekämpfung von dung stehenden Demonstrationen auch auf deutschen Antisemitismus in der fderalen Struktur der Bundesre- publik Deutschland jedoch nicht allein auf Bundesebene

1 »Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, das jdische umgesetzt werden knnen, sondern auch und v.a. die leben in Deutschland in all seinen ausprägungen weiterhin intensiv politisch Bundesländer betreffen (Bildung, Polizei, Justiz etc.), hat zu untersttzen und zu schtzen, indem 1. ein expertengremium aus wissen- sich der Expertenkreis in einigen Bereichen ber diese schaftlern und Praktikern beauftragt wird, in regelmäßigen abständen einen Bericht zum antisemitismus in Deutschland zu erstellen und dabei empfeh- Begrenzung des Auftrags hinweggesetzt bzw. explizit auf lungen zu geben, wie Programme zur Bekämpfung von antisemitismus entwi- die Erschwernisse verwiesen, die eine klare Abgrenzung ckelt und weiterentwickelt werden knnen« (Deutscher Bundestag Drucksache von Maßnahmen der Bundesebene von der der Länder 16/10776 (neu) und 16/10776 vom 4.11.2008), s. 3, http://dip21.bundestag.de/ dip21/btd/16/107/1610776.pdf (eingesehen 13.10.2016). und Kommunen mit sich bringen. 2 vgl. hierzu z.B. neues Deutschland, Uneinheitlich und unkoordiniert, 18.10.2012 (eingesehen 2.11.2016), oder auch taz, Die verschenkte chance. Desinteresse an antisemitismus-studie, 17.10.2012 (eingesehen 2.11.2016). 3 Deutscher Bundestag Drucksache c vom 11.6.2013, http://dip21.bundes- tag.de/dip21/btd/17/138/1713885.pdf (eingesehen 14.10.2016). 4 hervorzuheben ist hier jedoch die große Bereitschaft des Bundesministe- riums fr Familie, senioren, Frauen und Jugend (BMFsFJ) die vorschläge des ex- pertenberichts insbesondere im Bereich Prävention mit dem Bundesprogramm »Demokratie leben!« aufzunehmen und umzusetzen. 5 Deutscher Bundestag Drucksache c vom 11.6.2013, http://dip21.bundes- 6 Deutscher Bundestag Drucksache c vom 11.6.2013, http://dip21.bundes- tag.de/dip21/btd/17/138/1713885.pdf (eingesehen 14.10.2016)., s. 2. siehe tag.de/dip21/btd/17/138/1713885.pdf (eingesehen 14.10.2016), s. 1 f. aber auch Deutscher Bundestag Drucksache 16/10776 (neu) und 16/10776 vom 4.11.2008, s. 3. 7 ebenda, s. 3.

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1.3 zusammensetzung des zweiten Unabhängigen Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus: expertenkreises antisemitismus (in alphabetischer reihenfolge)

Der zweite UEA wurde nach dem Bundestagsbeschluss im Prof. Dr. Werner Bergmann. Dezember 2014 vom Bundesminister des Innern Dr. Tho- soziologe; Professor a.D. fr antisemitismusforschung mas de Maizière berufen und hatte seine konstituierende zentrum fr antisemitismusforschung, technische Sitzung am 19. Januar 2015. Wie schon sein Vorgängergre- Universität Berlin mium, wurde der Expertenkreis mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie mit Akteurinnen und Akteu- Marina Chernivsky ren zivilgesellschaftlicher Organisationen besetzt, die sich verhaltenswissenschaftlerin und Psychologin; leiterin mit der Erforschung und Prävention von Antisemitismus des »Kompetenzzentrums fr Prävention und empo- befassen. Unmittelbar nach der Einsetzung des neuen UEA werment« wurde in der Öffentlichkeit von vielen Seiten Kritik an zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland der Besetzung geäußert: Kein Mitglied war jdisch.8 Die (zwst) jdische Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit Antisemitismus in Deutschland und die damit einherge- Aycan Demirel henden Erfahrungen wären in dieser Besetzung randstän- Mitbegrnder und leiter der Kreuzberger Initiative dig geblieben und hätten lediglich ber externe Expertisen gegen antisemitismus (KIga e.v.) eingeholt und in den Bericht integriert werden knnen. Eine unmittelbare Mitbestimmung der Themensetzung Dr. Elke Gryglewski und eine direkte Beteiligung an der Erarbeitung des Politikwissenschaftlerin; stellvertretende Direktorin Berichts hätte nicht stattfnden knnen und eine zentrale und leiterin der Bildungsabteilung Perspektive wäre damit ausgeklammert worden.9 BMI und Gedenk- und Bildungsstätte haus der wannsee-Kon- Bundestag reagierten auf die ffentliche Kritik: Thomas ferenz (GhwK) de Maizière berief in Abstimmung mit allen im Bundes- tag vertretenen Fraktionen nachträglich zwei jdische Prof. Dr. Beate Kpper Mitglieder in den UEA.10 Der UEA, der den vorliegenden sozialpsychologin; Professorin fr soziale arbeit in Bericht gemeinsam erarbeitet hat, setzt sich demnach wie Gruppen- und Konfiktsituationen folgt zusammen: hochschule niederrhein, Fachbereich sozialwesen

Prof. Dr. Andreas Nachama historiker; rabbiner und Geschäftsfhrender Direktor stiftung topographie des terrors

Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber Politikwissenschaftler und soziologe; Professor im Fachbereich Öffentliche sicherheit hochschule des Bundes, Brhl

Patrick Siegele Philologe und Musikwissenschaftler; Direktor 8 vgl. z. B.: taz, Grne fordern jdische experten, 12.2.2015, http://www.taz. de/!5020516/ (eingesehen 3.11.2015); Der tagesspiegel, Jdische verbände r- Anne Frank Zentrum (aFz), Berlin gen zusammensetzung einer expertenrunde, 10.2.2015, http://www.tagesspie- gel.de/politik/kampf-gegen-antisemitismus-juedische-verbaende-ruegen-zu- Dr. Juliane Wetzel sammensetzung-einer-expertenrunde/11354814.html (eingesehen 3.11.2015); spiegel Online, Innenministerium will antisemitismus erforschen – aber ohne historikerin Juden, 10.2.2015, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/antisemitis- zentrum fr antisemitismusforschung, technische mus-juedische-wissenschaftler-kritisieren-innenministerium-a-1017791.html (eingesehen 3.11.2016); Universität Berlin 9 eine zusammenfassung der Debatte: http://mediendienst-integration. de/artikel/kritik-an-zusammensetzung-antisemitismus-expertenkreis.html (eingesehen 15.6.2016). Insbesondere wird hier auf die Problematik verwiesen, dass häufg ber Minderheiten gesprochen werde, nicht aber mit ihnen, und ihre erfahrungen nicht in die Betrachtungen einbezogen werden. 10 vgl. hierzu auch http://www.bmi.bund.de/sharedDocs/Pressemitteilun- gen/De/2015/05/erweiterung-expertenkreis-antisemitismus.html (eingese- hen 17.11.2016).

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Mitglied des Expertenkreises war zunächst auch Der Bericht versteht sich als Beitrag zur (Politik-)Beratung Dr. habil. Klaus Holz, Soziologe und Generalsekretär der und soll auf politischer und auf Verwaltungsebene als Evangelischen Akademien in Deutschland e.V. (EAD) Er Vorlage bei der Entscheidungsfndung helfen: Antisemitis- schied jedoch aus privaten Grnden im Juli 2015 aus dem mus soll als gesamtgesellschaftliches Problem dargestellt, Expertenkreis aus. Forschungsbedarf konkretisiert, und es sollen Modelle bzw. Maßnahmen zu Prävention und Intervention vorge- Die Koordination der Arbeit des Expertenkreises wurde schlagen werden. Patrick Siegele und Dr. Juliane Wetzel per Abstimmung der Mitglieder des Expertenkreises einvernehmlich bertragen. Die Koordinierungsstelle des Expertenkreises wurde am Anne Frank Zentrum (AFZ) angesiedelt und 1.5 Praktische Umsetzung durch Dr. Christina Herkommer als wissenschaftliche Mitarbeiterin organisatorisch und inhaltlich untersttzt. Der zweite UEA hat verschiedene Arbeitsweisen genutzt, um den neuen Expertenbericht zu erstellen.

1.4 ziele des zweiten Unabhängigen 1.5.1 Reguläre Arbeitstreffen expertenkreises antisemitismus Der UEA hat sich in regelmäßigen Abständen zu ein- bis zweitägigen Sitzungen getroffen, die im Bundesministe- Der zweite UEA hat sich mit dem neuen Bericht drei zent- rium des Innern (BMI) stattfanden und in Zusammenar- rale Ziele gesetzt: beit zwischen Koordinierungsstelle und BMI organisiert und vorbereitet wurden. Insgesamt fanden ber einen 1. Aktualität und Ergänzungen Zeitraum von zwei Jahren 16 Treffen statt, von denen drei Treffen als Klausurtagungen ber zwei Tage angelegt Veränderungen seit dem ersten Bericht vom Januar 2012 waren. Im Rahmen dieser Treffen wurden die Struktur des stehen im Vordergrund und fnden Eingang in alle Berei- Berichts und seine zentralen Themenschwerpunkte fest- che und Themen. Hergestellt wird diese Aktualität durch gelegt, Vorgehensweise und Selbstverständnis diskutiert, die Rezeption neuer empirischer Daten und Forschungs- Aufgaben verteilt und inhaltlich gearbeitet. ergebnisse sowie durch Verweise auf aktuelle Themen, wie z.B. Flucht und Migration und neue politische Bewegun- Während der Arbeit des Expertenkreises wurde deutlich, gen. Außerdem werden in dem aktuellen Bericht weitere dass die Expertinnen und Experten aus den verschiedenen Themen beleuchtet, die im ersten Bericht nicht oder nur wissenschaftlichen Disziplinen und zivilgesellschaftlichen am Rande behandelt wurden. Zusammenhängen unterschiedliche Begriffichkeiten fr gleiche oder ähnliche Phänomene verwenden bzw. eine 2. Zusammenhänge gleiche Terminologie nutzen, ihr aber z.T. eine andere Bedeutung zuschreiben. Es wurde konstruktiv diskutiert Aktuelle Ereignisse und deren Diskussion auf verschie- und versucht, eine mglichst einheitliche Sprache des denen gesellschaftlichen Ebenen werden vorgestellt. Expertenkreises zu fnden. Sofern dies nicht mglich war, Dies geschieht v.a. in Form von Beispielen, die deutlich haben sich die Expertinnen und Experten darauf geei- machen, dass antisemitische Vorfälle und Diskurse nicht nigt, Fußnoten mit entsprechenden Erläuterungen zum isoliert betrachtet werden knnen und, insbesondere im Verständnis und zur Begriffsverwendung zu ergänzen und Hinblick auf eine umfassende Prävention von Antisemitis- gegebenenfalls einen mglichen Dissens zu erwähnen. mus, nicht alleine auf einzelne Zielgruppen und Kon- Einig war sich der Expertenkreis, dass es an einigen Stellen texte (z.B. Schlerinnen und Schler) beschränkt bleiben der Auseinandersetzung mit Antisemitismus Grauzonen drfen. gibt, die sich einer eindeutigen Defnition entziehen und je nach Beobachtungsperspektive auch innerhalb des Exper- 3. Forderungen tenkreises unterschiedlich beurteilt werden.

Anders als im ersten Expertenbericht werden nicht viele kleine Handlungsempfehlungen formuliert, sondern auch umfassendere Forderungen gestellt. Diese benen- nen gezielt Entscheidungsträger, die fr ihre Umsetzung notwendig bzw. zuständig und verantwortlich sind (Ministerien, Einrichtungen des Bundes oder der Länder, zivilgesellschaftliche Organisationen etc.).

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1.5.2 Einholung externer Expertisen

In Ergänzung zu den Treffen und der Arbeit der Expertin- nen und Experten an den verschiedenen Berichtsteilen wurden zu einigen Themenbereichen auch externe Exper- tisen in Auftrag gegeben:

Externe Expertisen

1. verbreitung von antisemitismus in der deutschen Bevlkerung. Bericht ber die ergebnisse aus aktuellen, repräsenta- tiven Bevlkerungsumfragen Institut fr interdisziplinäre Konfikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld

2. antisemitismus aus jdischer Perspektive. studie ber die wahrnehmungen, erfahrungen und einschätzungen von Jdinnen und Juden in Deutschland Institut fr interdisziplinäre Konfikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld

3. antisemitismus und hate speech im Internet Amadeu Antonio Stiftung und no-nazi.net/Julia Schramm

4. antisemitische verschwrungstheorien: Das Beispiel des Films »Mastermind«

5. Befragung von Imamen zu antisemitismus in muslimischen Gemeinden Empati gGmbH/Dr. Chaban Salih

6. antisemitismus in protestantischen Kirchengemeinden am Beispiel der Kirchentage und der »slenczka-Debatte« Goethe-Universität Frankfurt a. M./Prof. Dr. Christian Wiese

7. antisemitismus in katholischen Kirchengemeinden am Beispiel des Karfreitagsgebets Universität Augsburg/Prof. i. R. Dr. Hanspeter Heinz

8. evaluation bestehender Maßnahmen zur Prävention von antisemitismus Socius e.G./Kerstin Engelhardt und Christian Baier

9. evaluation von Maßnahmen zur Prävention von antisemitismus in muslimischen Jugendmilieus Empati gGmbH/Dr. Rosa Fava

10. Bearbeitung des themas antisemitismus in schulbchern Georg-Eckert-Institut – Leibniz Institut fr vergleichende Schulbuchforschung/Dr. Falk Pingel

11. antisemitismus und Flucht Berliner Institut fr empirische Integrations- und Migrationsforschung/Dr. Sina Arnold

12. Die Beschneidungsdebatte Elke Wittich, Berlin

13. antisemitismus und sport. Das Beispiel »Fußball« Florian Schubert, Hamburg

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1.5.3 Gastvorträge

Zusätzlich zu schriftlichen externen Expertisen wurden zu einzelnen Themen auch Expertinnen und Experten zu Gastvorträgen in die Sitzungen des Expertenkreises eingeladen:

Gastvorträge

1. 2. Juni 2015: Defnitionssystem »Politisch Motivierte Kriminalität (PMK)« Richard Reinfeld (MinR, Projektgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)« am BMI)

2. 25. september 2015: Maßnahmen des BMFsFJ gegen rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit Thomas Heppener/Anne Molls (Referat »Demokratie und Vielfalt« des BMFSFJ)

3. 22. Januar 2016: antisemitismus im nationalsozialistischen Untergrund (nsU) Dr. Patrick Spitzer (Referat »Terrorismus/Extremismus«)

4. 24. Februar 2016: antisemitismus und »hate speech« im Internet Julia Schramm (Amadeu Antonio Stiftung/no-nazi.net)

5. 24. Februar 2016: Umgang des Justizministeriums mit »hate speech« im Internet/Bericht zur task Force Dr. Eberhard Schollmeyer (Task Force des BMJV)

6. 15. april 2016: antisemitismus und Flucht – sondierung des Forschungsfeldes Dr. Sina Arnold (Berliner Institut fr vergleichende Integrations- und Migrationsforschung)

7. 1. Juli 2016: evaluation bestehender Maßnahmen zur Prävention von antisemitismus Kerstin Engelhardt und Christian Baier (Socius e.G.)

8. 25. august 2016: antisemitismus in der katholischen Kirche am Beispiel des Karfreitagsgebets Prof. i. R. Dr. Hanspeter Heinz (Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Augsburg)

9. 28. september 2016: antisemitismus in der evangelischen Kirche am Beispiel Kirchentage und »slenczka-Debatte« Prof. Dr. Christian Wiese (Theologische Fakultät der Goethe-Universität Frankfurt a.M.)

10. 28. september 2016: Befragung von Imamen zu antisemitismus in muslimischen Gemeinden Dr. Chaban Salih (Empati gGmbH)

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1.5.4 Gesprächsrunden Neben den Gesprächsrunden in den Sitzungen des Exper- tenkreises fanden auch Konsultationsgespräche außerhalb Als weitere Mglichkeit, zusätzliches Fachwissen in den der regulären Sitzungstermine statt. Gespräche gefhrt Expertenkreis einzubeziehen und mglichst vielfältige wurden mit: Positionen aufnehmen zu knnen, wurden externe Gäste zum Gespräch in die Sitzungen des Expertenkreises ein- geladen. Ziel dieser Gesprächsrunden war die Vorstellung Konsultationsgespräche der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und Arbeitsweise (in alphabetischer reihenfolge) des Expertenkreises sowie der Austausch ber Forderun- gen und Empfehlungen. Als Gäste nahmen an Sitzungen susan corke teil: Director Antisemitism and Extremism, First, New York (USA)

Gastgespräche im Rahmen von natascha engel Sitzungen des Expertenkreises Member of Parliament, Labour Party, London (UK) (in alphabetischer reihenfolge) Paul Giannasi Deidre Berger Manager des Cross Government Hate Crime Pro- Direktorin des AJC Ramer Institute for German-Jewish gramme, Ministry of Justice, London (UK) Relations, Berlin John Mann anetta Kahane Member of Parliament, Labour Party, Vorsitzender der Grnderin und Vorsitzende der Amadeu Antonio Stif- All-Party Parliamentary Group Against Antisemitism, tung, Berlin London (UK)

Dr. Felix Klein Dr. Klaus Mller Sonderbeauftragter fr die Beziehungen zu jdischen Repräsentant in Europa fr das Holocaust Organisationen und Antisemitismusfragen im Auswär- Memorial Museum, Washington (USA) tigen Amt sally sealey Katharina von schnurbein Senior Policy Adviser, Department for Communities and Koordinatorin zur Bekämpfung von Antisemitismus der Local Government, London (UK) Europäischen Kommission tad stahnke Prof. Dr. Julius h. schoeps Director, Initiative on Holocaust denial and Antise- Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums, Potsdam mitism, United States Holocaust Memorial Museum, Washington (USA) Dr. Josef schuster Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland

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1.6 Internationale Bezge Der Besuch der Einrichtungen sollte vor Ort einen Ein- blick in den Aufau und die Arbeit dieser Institutionen Großbritannien spielt fr die politische und gesell- ermglichen, um darber einschätzen zu knnen, ob schaftliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus in ähnliche Modelle auch in Deutschland implementiert Europa eine besondere Rolle. Hier engagieren sich seit werden knnen. Auch aktuelle Fragen, etwa nach dem vielen Jahren eine Reihe von Personen und Institutionen Vorhandensein von bzw. dem Umgang mit Ängsten der auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen gegen jdischen Community in Großbritannien in Bezug auf Antisemitismus und versuchen, dieses Engagement – etwa Gefchtete und die Frage eines »importierten Antisemi- mithilfe der Konferenzen der Inter-parliamentary Coali- tismus« wurden in diesem Zusammenhang angesprochen tion for Combating Antisemitism (ICCA) – auch internatio- und zur Situation in Deutschland in Bezug gesetzt. nal zu verankern.

Im Rahmen einer Informationsreise von zwei Mitgliedern des Expertenkreises nach London wurden verschiedene Einrichtungen, die sich auf verschiedenste Art mit Antise- mitismus befassen, besucht.

Besuchte Einrichtungen in London

All-Party Parliamentary Group Against Antisemitism (APPGAA) Überparteiliche parlamentarische einrichtung unter der leitung von John Mann (MP – Member of Parliament). legt regelmäßig Berichte zum antisemitismus in Großbritannien vor und versucht, auf nationaler und internationaler ebene berparteiliche Bndnisse im Kampf gegen antisemitismus zu schaffen.

Gesprächspartner: Danny stone, sekretär der aPPGaa und Direktor der Pcaa Foundation

Community Security Trust (CST) Gemeinntzige jdische Organisation, die sich fr die sicherheit von Juden in Großbritannien einsetzt. Der cst bietet sicherheitskonzepte fr jdische einrichtungen, arbeitet eng mit den strafverfolgungsbehrden zusammen und spielt eine wichtige rolle beim »reporting« von antisemitischen vorfällen

Gesprächspartner: Michael whine, MBe (Director of Government and International affairs) Jonny newton (Public affairs and external relations)

Institute for Jewish Policy Research Forschungsinstitut, das sich nicht nur mit antisemitismus, sondern v.a. auch mit der erforschung jdischen lebens und jdischer Identität in Großbritannien befasst. hat u.a. wichtige studien zur jdischen wahrnehmung von hasskriminalität koordiniert und durchgefhrt.

Gesprächspartner: Dr. Jonathan Boyd (executive Director) richard Goldstein (Director of Operations)

Tell Mama richtet sich gegen antimuslimische Diskriminierung. wurde 2012 nach dem vorbild und mit Untersttzung des cst errichtet. will ebenfalls eng mit staatlichen sicherheitsbehrden zusammenarbeiten, um den rasant ansteigenden zahlen antimuslimischer Diskriminierung und Gewalt in Großbritannien entgegenzuwirken.

Gesprächspartner: Fiyaz Mughal, OBe (Grnder und Director)

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2 Antisemitismus – Begriffsbestimmung und Typologisierung

Eine allgemein gltige Defnition von »Antisemitismus« Beraterin/eines Beraters im Kampf gegen Antisemitismus existiert nicht. Meist wird der Begriff mit »Judenfeind- beim Offce for Democratic Institutions and Human Rights schaft« gleichgesetzt, womit auch der inhaltliche Kern des (ODIHR) der OSZE. Fr die praktische Arbeit musste eine Phänomens terminologisch treffend erfasst ist.11 Indessen Grundlage geschaffen werden, die es u.a. Behrden, Poli- lassen sich sowohl im ffentlichen als auch im wissen- zeikräften und politischen Akteuren ermglicht, zu erken- schaftlichen Diskurs unterschiedliche Deutungen fnden, nen, was unter Antisemitismus zu verstehen ist. Dies galt was unter Antisemitismus zu verstehen ist. Zunächst auch fr das RAXEN-Netzwerk des EUMC. Deshalb kamen wird im Folgenden auf die sogenannte Arbeitsdefnition Vertreter von ODIHR, des EUMC und einige Expertinnen verwiesen, die v.a. fr die politische sowie die praktische und Experten im Jahr 2005 zusammen, um eine »Arbeits- Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich von defnition« von Antisemitismus (»Working Defnition Bedeutung ist, bevor dann eine grundlegende wissen- of Antisemitism«) zu formulieren.12 In einigen EU-Mit- schaftliche Begriffsbestimmung vorgenommen wird, die gliedsstaaten wird diese Arbeitsdefnition bereits genutzt. den Ausfhrungen in den jeweiligen Kapiteln des Berichts Im Frhjahr 2016 wurde sie auch von der International zugrunde liegt. Der Anspruch einer »alleinigen Richtig- Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der 31 Staaten keit« oder »allgemeinen Gltigkeit« verbindet sich damit angehren, als »Working Defnition« angenommen und nicht. als Arbeitsdokument implementiert. Der in der Formulie- rung hervorgehobene »Arbeitscharakter« der Defnition, die bisher in keiner autorisierten deutschen Übersetzung vorliegt, war und ist bis heute der Tatsache geschuldet, 2.1 anmerkungen zur dass sowohl das EUMC als auch die OSZE/ODIHR Kon- »arbeitsdefnition« sensgremien sind und die berechtigte Sorge bestand, dass eine als »Defnition« titulierte Vorlage von einigen Staaten antisemitismus nicht ratifziert worden wäre. Dies gilt insbesondere fr die Nennung der aktuellen Formen eines israelbezogenen Das European Monitoring Center on Racism and Xeno- Antisemitismus, die nicht nur bei einigen Staaten, sondern phobia (EUMC) – heute die Fundamental Rights Agency auch bei manchen NGOs auf Kritik stßt, weil sie die (FRA) – mit Sitz in Wien nahm am 25. Juni 1997 ihre Grenzberschreitungen hin zu Antisemitismus nicht als Arbeit auf. Ihr Auftrag lautete, Ausmaß und Entwicklung solche erkennen und legitime Kritik an einem Staat oder von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitis- an dessen politischen Aktivitäten viel weiter gefasst sehen mus zu analysieren und bewährte Praktiken im Kampf wollen. Zudem sind weder OSZE/ODIHR noch das EUMC/ gegen diese Phänomene zu untersuchen. Ferner sollte sie FRA befugt, den Staaten rechtlich bindende Vorgaben zu Daten ber entsprechende Vorkommnisse in den Mit- machen. Dies ist auch der Grund dafr, dass die FRA die gliedsstaaten sammeln und auswerten. Zu diesem Zweck »Working Defnition« im November 2013 von ihrer Web- richtete das EUMC ein Europäisches Informationsnetz ber seite genommen hat. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (RAXEN) ein, das in den jeweiligen Mitgliedsstaaten Nichtregierungsorgani- Die eigentliche Defnition ist in der Vorlage äußerst kurz sationen (NGOs) zu »Focal Points« ernannte, die fr die gehalten: »Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahr- Datensammlung vor Ort bis heute zuständig sind. nehmung von Juden, die sich als Hass gegenber Juden ausdrcken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort Im April 2004 fand in Berlin eine wegweisende und oder Tat gegen jdische oder nicht-jdische Einzelper- politisch hochrangig besetzte Konferenz der Organisa- sonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jdische tion fr Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Gemeindeinstitutionen oder religise Einrichtungen.«13 zum Thema Antisemitismus statt. Ein Ergebnis dieser Es folgt die Passage zum israelbezogenen Antisemitismus, Zusammenkunft der damals 55 Mitgliedsstaaten war die an der sich die Kritik insbesondere entzndete: »Darber Benennung eines Sonderbeauftragten im Kampf gegen hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jdisches Antisemitismus sowie die Einrichtung der Stelle einer

12 vgl.hierzu http://www.antisem.eu/projects/eumc-working-defnition-of- 11 Daher werden hier auch die Begriffe »antisemitismus« und »Judenfeind- antisemitism/ (eingesehen 25.10.2016). schaft« – meist um der vermeidung einer wiederholung im ausdruck willen – synonym genutzt. 13 ebenda.

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Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.« Im UEA gewählt. Der UEA untersttzt die »Arbeitsdefnition Weiteren werden Beispiele genannt, die klar antisemitisch Antisemitismus« als wegweisendes Dokument fr die sind oder antisemitische Konnotationen haben knnen, praktische Arbeit insbesondere der Polizei, aber auch bei wie etwa der »Aufruf zur Ttung oder Schädigung von der Erfassung von antisemitischen Vorfällen durch NGOs, Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer mchte sie aber zugleich um eine wissenschaftliche Per- extremistischen Religionsanschauung«, »dämonisierende spektive erweitern, da nur so die vielfältigen Facetten des oder stereotype Anschuldigungen gegen Juden« oder das Antisemitismus herausgearbeitet und analysiert werden »Verantwortlichmachen der Juden als Volk fr das […] knnen. Fehlverhalten einzelner Juden«. Andere Beispiele bezie- hen sich auf negative Wertungen gegenber Israel, wie etwa »die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen«, die »Anwendung doppel- 2.2 Defnition und ter Standards« oder das »Bestreben, alle Juden kollektiv erscheinungsformen fr Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen«.14 Antisemitismus wird hier in Übereinstimmung mit den Die praxisorientierte »Arbeitsdefnition« wurde im Laufe Ausfhrungen im Bericht des ersten UEA defniert als der Zeit von einer Reihe internationaler, aber auch deut- »Sammelbezeichnung fr alle Einstellungen und Ver- scher NGOs als Arbeitsgrundlage bernommen und ist haltensweisen, die den als Juden wahrgenommenen in erster Linie fr die Erfassung judenfeindlicher Vorfälle Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund und Straftaten, die in den europäischen Ländern jeweils dieser Zugehrigkeit negative Eigenschaften unterstel- unterschiedlich erfolgt, eine Hilfestellung.15 Nach Auffas- len«.17 Demnach geht es um die Feindschaft gegen Juden sung der European Parliament Working Group on Antisemi- als Juden.18 Ist etwa die Abneigung gegen einen einzelnen tism soll die »Arbeitsdefnition« »als praktischer Leitfaden Juden ausschließlich durch dessen individuelles Agieren fr die Erkennung und Dokumentation antisemitischer motiviert, so kann man nicht von einer antisemitischen Vorfälle sowie fr die Erarbeitung und Umsetzung Einstellung sprechen. Ergibt sich die Abneigung gegen gesetzgeberischer Maßnahmen gegen den Antisemitismus eine jdische Person aus deren Zuordnung zur jdischen dienen«.16 Religionsgruppe, ist hingegen von einer antisemitischen Haltung auszugehen.19 Der erste Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus (UEA) hatte in seinem Arbeitsbericht des Jahres 2012 die »Wor- Bezogen auf die Erscheinungsformen des Antisemitismus king Defnition« als ein wichtiges Dokument gewrdigt, in der Gesellschaft lässt sich die Ebene der Einstellungen sie aber fr die wissenschaftliche Analyse des Antisemi- von jener der Handlungen unterscheiden. Auf der Ebene tismus erweitert. Dieses Vorgehen wird auch vom zweiten der Einstellungen fnden sich stereotype Auffassungen und Bilder von Juden, die von diffusen Aversionen bis hin zu Ressentiments und Vorbehalten reichen, die dem oder

14 ebenda. Debatten ber die »arbeitsdefnition« werden auch in anderen der Einzelnen nicht zwangsläufg bewusst sein mssen ländern, wie z.B. Großbritannien, gefhrt. Im neuesten Bericht ber »antise- und sich z.T. nur anlassbezogen artikulieren. Diese laten- mitism in the UK« des house of commons wird darauf verwiesen, wie schwie- ten Formen des Antisemitismus unterscheiden sich von rig es ist zu bestimmen, welche ereignisse unter dem Begriff antisemitismus subsumiert werden knnen. Die verfasserinnen und verfasser des Berichts manifesten Einstellungen, die eine bewusste Auffassung untersttzen grundsätzlich die eUMc »working Defnition«, nehmen aber die widerspiegeln und in entsprechenden Äußerungen privat einschränkung vor, dass es sich nicht um antisemitismus handelt, wenn »die israelische regierung kritisiert wird ohne einen hinweis darauf, dass die aussa- ge antisemitisch intendiert war«. ebensowenig sei es »antisemitisch, von Israel dieselben standards zu verlangen, wie sie von anderen liberalen Demokratien 17 antisemitismus in Deutschland. erscheinungsformen, Bedingungen, Prä- erwartet werden«. http://www.publications.parliament.uk/pa/cm201617/ ventionsansätze. Bericht des Unabhängigen expertenkreises antisemitismus, cmselect/cmhaff/136/136.pdf (eingesehen 25.10.2016) Berlin 2012, s. 10. 15 Im Dezember 2016 wurde die »working Defnition« von der britischen 18 Brian Klug, the collective Jew: Israel and the new antisemitism, in: chris- regierung formell als Defnition angenommen. Der Guardian berichtete: tina von Braun/eva Maria ziege (hrsg.), Das »Bewegliche vorurteil«. aspekte »Downing street statement said the intention of such a defnition was to ›ensu- des internationalen antisemitismus, wrzburg 2004, s. 221–239, hier s. 224. re that culprits will not be able to get away with being antisemitic because the 19 Im Übrigen knnen auch angehrige der semitischen sprachfamilie sehr term is ill-defned, or because different organisations or bodies have different wohl antisemiten sein. Die Bezeichnung »antisemitismus« kam erstmals im interpretations of it‹.« the Guardian, 12.12.2016, https://www.theguardian. Kontext einer judenfeindlichen Bewegung in den 1870er-Jahren auf und soll- com/society/2016/dec/12/antisemitism-definition-government-combat- te wissenschaftlichkeit suggerieren (vgl. thomas nipperdey/reinhard rrup, hate-crime-jews-israel (eingesehen 3.1.2017). allerdings konnte, trotz intensi- antisemitismus – entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs, in: rein- ver versuche der deutschen Osze-Präsidentschaft die 57 Mitgliedsstaaten zu hard rrup, studien zur »Judenfrage« der brgerlichen Gesellschaft, Gttin- berzeugen, im Dezember 2016 auf dem Ministerratstreffen der Osze in ham- gen 1975, s. 95–114). Die Bezeichnung »semiten« steht fr eine sprachfamilie burg keine verständigung ber die einfhrung der arbeitsdefnition Osze-weit (akkadisch, arabisch, aramäisch, Kanaanäisch, sdarabisch-abbessinisch etc.). erzielt werden. Insofern passt »antisemitismus« eigentlich gar nicht zu »Judenfeindschaft«. 16 http://www.antisem.eu/projects/eumc-working-definition-of- Gleichwohl hat sich der Begriff weltweit zur erfassung von einstellungen ge- antisemitism/ (eingesehen 25.10.2016). genber und handlungen gegen Juden eingebrgert.

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oder im ffentlichen Raum geäußert werden. Derartige antisemitischer Stereotype und Vorurteile, die gegen Einstellungen knnen, mssen aber keine Folgen in Form Jdinnen und Juden geäußert werden. von konkreten Handlungen haben. Indessen fhrt bereits die Artikulation von antisemitischen Einstellungen, etwa in Gestalt von Anspielungen oder Witzen, zur Absiche- 2.2.1.1 Klassische Ideologieformen rung und Stärkung eines entsprechenden sozialen Klimas. des antisemitismus Weitergehende Äußerungen antisemitischer Einstellun- gen knnen darber hinaus Einfuss auf die Ebene der Die älteste Form der Judenfeindschaft ist der religise Handlungen nehmen und etwa in der direkten Forderung Antisemitismus. Religiser Antisemitismus entwickelte nach einer Benachteiligung von Juden und letztlich im sich aus der Absolutsetzung der christlichen Auffassung Absprechen der Brger- und Menschenrechte mnden. von Religion, die mit der Ablehnung und Diffamierung Gehen solche Auffassungen in konkrete Handlungen aller anderen Glaubensformen einhergeht (→ Religion und ber, handelt es sich um Formen eines gewalttätigen Antisemitismus).21 Ansätze zum religisen Antisemitismus Antisemitismus, der sich in Angriffen auf Einrichtungen fnden sich bereits im Neuen Testament, wenn Juden als und Personen zeigt und in seiner letzten Konsequenz zur »Shne des Teufels« bezeichnet und als Verfolger Jesu systematischen Verfolgung und Ermordung fhren kann. dargestellt werden. Insbesondere die Behauptung, Juden trgen die Schuld am Tod Jesu, hat sich in Gestalt des Vor- wurfs vom »Gottesmord« tief in die Glaubensauffassung 2.2.1 Ideologieformen des Antisemitismus der meisten Christen eingeprägt. Im Mittelalter kamen in idealtypischer Sicht noch weitere Unterstellungen, wie etwa die vom »Hosti- enfrevel« oder vom »Ritualmord«, hinzu und fnden sich Antisemitismus artikuliert sich in unterschiedlichen auch in modernen Varianten antisemitischer Stereotype Formen, angepasst an sich wandelnde gesellschaftliche und Vorurteile wieder. Verhältnisse. Im Laufe der ideengeschichtlichen Entwick- lung der Judenfeindschaft entstanden Behauptungen, Ste- Eine zweite Ideologieform kann als sozialer Antisemitis- reotype und Vorurteile, die Juden aufgrund ihrer sozialen mus bezeichnet werden.22 Er geht ber bliche Konfikte Situation in der Gesellschaft (eingeschränkte Berufswahl, im Aufeinandertreffen verschiedener Gruppen hinaus, Selbstverständnis der Religion, Status als Minderheit, seien diese kulturell, politisch oder sozial bedingt. Die durch historische Ereignisse erzwungene Diaspora) Annahme eines besonderen sozialen Status von Juden in zugeschrieben wurden und in Negativwertungen oder der Gesellschaft bildet hier das Grundmotiv. Ansätze zum Pauschalisierungen mndeten und schließlich die Form sozialen Antisemitismus entstanden bereits im Mittelalter. von Hassbildern annahmen. Insofern steht der Antisemi- Da nach dem kanonischen Zinsverbot Christen die Zins- tismus fr eine ideologische Verzerrung sozialer Realität. nahme untersagt war und Juden viele berufiche Tätig- Nur so lässt sich erklären, warum die Judenfeindschaft in keiten aufgrund bereits erfolgter Ausschlsse verwehrt unterschiedlichen Gesellschaften zu verschiedenen Zeiten wurden, wichen sie auf Geldverleih und Handel aus. In eine Breitenwirkung entfalten konnte. der gesellschaftlichen Wahrnehmung galten Juden daher als ausbeuterische und unproduktive »Händler« und Im Folgenden sollen die jahrhundertelang kursierenden »Wucherer«. Unrefektiert blieb dabei, dass der berufiche Behauptungen ber Jdinnen und Juden fnf verschie- und soziale Status bereits durch Ausgrenzung entstan- denen und doch zueinander in Verbindung stehenden den war. Bis heute ist das stereotype Bild von Juden als Ideologieformen zugeordnet werden.20 Es handelt sich besonders mächtigen Akteuren in der Finanzwelt gängiger dabei um eine abstrakte und theoretische Kategorisie- Bestandteil antisemitischer Vorurteilsstrukturen. rung, die nach Gemeinsamkeiten in der Ausrichtung der Feindbilder fragt und daraus verschiedene Typen zu Der politische Antisemitismus stellt eine dritte Ideologie- deren Unterscheidung entwickelt. Damit soll ein Inst- form der Judenfeindschaft dar und speist sich aus der rument zum Verständnis der jeweiligen Besonderheiten Vorstellung, Juden seien ein homogenes Kollektiv mit antisemitischer Aussagen zur Verfgung gestellt werden. einfussreicher sozialer Macht, das sich in politischer Nicht intendiert ist mit dieser Kategorisierung jedoch die Annahme, dass sich Judenfeindschaft nur in Gestalt einer der jeweils genannten Typen artikuliert. Denn 21 Gerhard czermak, christen gegen Juden. Geschichte einer verfolgung. von der antike bis zum holocaust, von 1945 bis heute, Frankfurt a.M. 1991, meist handelt es sich um eine Mischung verschiedener František Graus, Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jh. als Krisenzeit, Gttin- gen 1987. 22 vgl. z.B. wolfgang Benz, Das Bild vom mächtigen und reichen Juden, in: Ders., Bilder von Juden. studien zum alltäglichen antisemitismus, Mnchen 20 Der ansatz und die typologie folgt: armin Pfahl-traughber, antisemitis- 2001, s. 13–26; raphael Freddy, sechstes Bild: »Der wucherer«, in: Julius h. mus als Feindschaft gegen Juden als Juden. Ideologieformen, Defnitionen und schoeps/Joachim schlr (hrsg.), antisemitismus. vorurteile und Mythen, Mn- Fallbeispiele, in: Der Brger im staat, 63 (2013) 4, s. 252–261. chen 1999, s. 103–118.

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Absicht zu gemeinsamem Handeln zusammengeschlossen Gesetz der Geschichte in einem Kampf unterschiedlicher hat.23 Unterstellt wird, durch geheime Planung in Gestalt »Rassen« – hier zwischen »Germanen« und »Juden« – um einer Verschwrung die Herrschaft in dem jeweiligen die Vorherrschaft. An solche Einstellungen konnten die Land oder in der ganzen Welt erlangen zu wollen. Jdische Nationalsozialisten seit Beginn der 1920er-Jahre anknp- Kräfte werden auch hinter politischen Umbrchen wie fen. So propagierte Hitler bereits damals, dass die Juden Kriegen, Revolutionen oder Wirtschaftskrisen vermu- sich als »parasitäre Elemente« in den Vlkern eingenistet tet. Erste Ansätze zu einer solchen Form des politischen hätten und aus ihnen ausgeschieden werden mssten. Die Antisemitismus bildeten bereits die Behauptungen von spätere Massenvernichtung war somit bereits ideologisch der »Brunnenvergiftung« als Ergebnis konspirativen in dieser Form der Judenfeindschaft als mgliche Konse- Agierens im Mittelalter. Später entwickelte sich diese Auf- quenz angelegt. fassung in systematischer Form weiter.24 Bis heute und mit Aufommen der Sozialen Medien noch einmal verstärkt (→ Medien und Antisemitismus), ist die Behauptung einer 2.2.1.2 neuere Ideologieformen des antisemitismus »jdischen Weltverschwrung«, die »hinter den Kulissen« wirke, virulent und konstitutiver Bestandteil antisemiti- Die beschriebenen fnf Ideologieformen des Antise- scher Ideologien. mitismus existieren – bis auf die vergleichsweise neue rassistische Variante – seit Jahrhunderten und sind Eine vierte Ideologieform ist der nationalistische Antise- z.T. eng miteinander verknpft. Damit einhergehende mitismus.25 Juden werden hier als eine ethnisch, kulturell inhaltliche und strukturelle Prägungen fanden in der oder sozial nicht zur jeweiligen Nation gehrende Minder- politischen Kultur sowohl im alltäglichen Bewusstsein als heit betrachtet. Sie erscheinen nicht unbedingt als fremd, auch in der politischen Programmatik weite Verbreitung. aber als »anders«: »Er ist weder das eine noch das andere, Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Wissen um weder Inländer, noch Ausländer.«26 Juden durchbrechen den Holocaust kam es zu einer Ächtung antisemitischer durch das Leben in der Diaspora die Zuordnung in Natio- Auffassungen, was zu einem Anti-Antisemitismus als nen, werden zu »Dritten« und stellen als Nichtzugehrige Grundkonsens in der politischen Kultur der alten Bundes- die bestehende Ordnung infrage. Der nationalistische republik fhrte. Diese Entwicklung, die sowohl Ausdruck Antisemitismus hebt auf angebliche ethnische Unter- eines inhaltlichen Lernprozesses als auch strategischer schiede ab und behauptet kulturelle Gegensätze. Juden Überlegungen war, bedingte indessen keine Erosion oder werden entsprechend als Fremdkrper wahrgenommen Überwindung der Judenfeindschaft. Antisemitismus blieb und aufgrund ihres Status als »Dritte« der Illoyalität als bedeutendes Einstellungspotenzial präsent, ohne sich gegenber der jeweiligen Nation beschuldigt. ffentlich stärker zu artikulieren. Diese »Kommunika- tionslatenz«28 des Antisemitismus fhrte dazu, dass die Dem nationalistischen Antisemitismus verwandt und verschiedenen Ausprägungen der Judenfeindschaft nicht dennoch von ihm zu unterscheiden ist die fnfte Katego- mehr in der Deutlichkeit wie vor 1945 ffentlich verbreitet rie antisemitischer Ideologieformen, der rassistische Anti- werden konnten. Dennoch zeigten und zeigen sich nach semitismus. Seine Besonderheit besteht darin, dass er alle wie vor antisemitische Einstellungen, Mentalitäten und Juden von Natur aus negativ bewertet und sie weder durch Orientierungen, wenn auch in Verknpfung mit anderen die Abkehr von ihrer Religion noch durch ein anderes thematischen Bezgen. Verhalten dieser Bewertung entgehen knnen.27 Derartige Auffassungen propagierte seit Anfang der 1870er-Jahre die Zentral ist hierfr die Auseinandersetzung mit der vlkische Bewegung. Hier wurden biologistische Argu- NS-Vergangenheit sowie der Umgang mit dem Staat Israel. mentationsmuster mit einer sozialdarwinistischen Ideo- Beide Themenbereiche beziehen sich auf die Zeit nach logie verknpft. Nach deren Vorstellungen bestand das 1945 und werden hier als Teil der neueren Ideologiefor- men des Antisemitismus betrachtet, die zum einen als sekundärer/post-Holocaust-Antisemitismus und zum ande- 23 vgl. z.B. normen cohn, »Die Protokolle der weisen von zion«. Der Mythos ren als antizionistischer/israelbezogener Antisemitismus29 von der jdischen weltverschwrung, Kln/Berlin 1969; armin Pfahl-traugh- ber, Der antisemitisch-antifreimaurerische verschwrungsmythos in der wei- marer republik und im ns-staat, wien 1993.

24 vgl. Johannes heil, »Gottesfeind« – »Menschenfeinde«. Die vorstellung 28 vgl. werner Bergmann/rainer erb, »Mir ist das thema Juden irgendwie von der jdischen weltverschwrung, essen 2006. unangenehm«. Kommunikationslatenz und die wahrnehmung des Meinungs- klimas im Fall des antisemitismus, in: Klner zeitschrift fr soziologie und so- 25 vgl. z.B. rainer erb/werner Bergmann, Die nachtseite der Judenemanzi- zialpsychologie, 43 (1991) 3, s. 502–519. pation. Der widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780- 1860, Berlin 1989; Klaus holz, nationaler antisemitismus, hamburg 2001. 29 antisemiten bezeichnen sich heute meist als antizionisten, daher fndet hier, wie schon im ersten Bericht des Uea, v.a. der Begriff des antizionistischen 26 Klaus holz, Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der welt, in: antisemitismus verwendung. wenn in den folgenden Kapiteln dann doch vom soziale systeme, (2000) 2, s. 270. »israelbezogenen antisemitismus« die rede ist (→ einstellungen), erklärt sich 27 vgl. z.B. christian Geulen, wahlverwandte. rassendiskurs und nationalis- dies dadurch, dass die dort erwähnten Forschungsinstitute mit dieser Formu- mus im späten 19. Jahrhundert, hamburg 2004. lierung arbeiten.

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bezeichnet werden. Dabei zeigt sich jedoch, dass sich bei Exkurs: »Grauzonen«32 der Unterscheidung zwischen klassischen und neueren Ausprägungen des Antisemitismus nicht von zwei genuin Die Besonderheit der neueren Ideologieformen des verschiedenen Ideologieformen sprechen lässt, gehen Antisemitismus zeigt sich darin, dass in einigen Fällen nur doch in der konkreten Agitation und Feindbildbestim- schwer zwischen kritischen und antisemitischen Äuße- mung einzelne Bestandteile des klassischen Antisemi- rungen unterschieden werden kann. Dies gilt v.a. in Bezug tismus mit den neueren Formen der Judenfeindschaft auf die Auseinandersetzung mit der Politik Israels. Auch einher. So werden auch im sekundären Antisemitismus im Expertenkreis wurde ber die Schwierigkeiten der traditionelle Argumentationsmuster des Antisemitis- eindeutigen Zuordnung diskutiert, fießende Übergänge mus bemht, wie etwa die Auffassung von der angeblich konstatiert und auf »Grauzonen« verwiesen. jdischen Fixierung auf fnanziellen Besitz oder politische Macht. Die Übergänge zwischen »Israelkritik« und Antisemi- tismus lassen sich auf einer theoretischen Ebene zwar Zentrale Grundlage des sekundären Antisemitismus ist durchaus defnieren. Ein Vorschlag hierfr ist z.B. der die Unterstellung, dass die ffentliche Auseinanderset- »3D-Test« des ehemaligen israelischen Ministers Natan zung mit der massenhaften Ermordung der Juden im Sharansky.33 Sharansky geht davon aus, dass Antisemitis- Nationalsozialismus nur der Diffamierung der nationalen mus unter dem Deckmantel der Kritik an Israel immer Identität der Deutschen, der Gewährung von Wiedergut- dann vorliegt, wenn eine Dämonisierung des Staates Israel machungszahlungen an Israel und der Legitimation der angestrebt, ein Doppelstandard angelegt und/oder eine israelischen Politik im Nahen Osten diene.30 Es geht also Delegitimierung Israels betrieben wird.34 Im Einzelfall um eine Form der Judenfeindschaft »nach Auschwitz«, die ist die Einschätzung, ob Äußerungen zu Israel lediglich auch als »Schuldabwehr-Antisemitismus« bezeichnet wird kritisch oder antisemitisch zu verstehen sind, jedoch deut- und häufg mit einer Täter-Opfer-Umkehr einhergeht. lich problematischer. Der Fokus sollte in diesem Zusam- Als besondere Variante des sekundären Antisemitismus menhang daher weniger auf der Frage liegen, ob eine kann die Holocaust-Leugnung gelten. Sie unterstellt, dass Äußerung antisemitisch gemeint war oder nicht – dies der Massenmord an den Juden nicht stattgefunden habe, sondern um der moralischen Demtigung der Deutschen willen von den Juden erfunden wurde.

Ähnliche Argumentationsmuster, aber auch darber hinausgehende Begrndungsansätze lassen sich ebenfalls 32 Der Begriff der »Grauzonen« wurde u.a. von Peter Ullrich verwendet und 31 fr den antizionistischen Antisemitismus feststellen. Der ist teil eines Diskurses zur auseinandersetzung mit antisemitismus in der Partei Begriff »Zionismus« steht seit dem 19. Jahrhundert als Die linke, der zwischen Peter Ullrich und samuel salzborn 2011 gefhrt wurde Sammelbezeichnung fr Bestrebungen von Juden, einen (vgl. samuel salzborn/sebastian voigt, antisemiten als Koalitionspartner? Die linkspartei zwischen antizionistischem antisemitismus und dem streben nach eigenen Nationalstaat zu etablieren. Mit der Grndung des regierungsfähigkeit, in: zeitschrift fr Politik, 58 (2011) 3, s. 290–309; Peter Ul- Staates Israel wurde dieses Ziel erreicht. Der Begriff des lrich/alban werner, Ist »Die linke« antisemitisch? Über Grauzonen der »Israel- kritk« und ihre Kritiker, in: zeitschrift fr Politik, 58 (2011) 4, s. 424–441; samuel »Antizionismus« bezieht sich daher auf die Delegitimie- salzborn, Unter falscher Flagge. Politische ablehnung oder wissenschaftliche rung des Staates Israel. Antizionistischer Antisemitismus Kritik? Drei Klarstellungen zu den einwänden von Peter Ullrich und alban wer- zeigt sich in einer rigiden Ablehnung der Außen- und ner, in: zeitschrift fr Politik, 59 (2012) 1, s. 103–111). Innenpolitik Israels, wobei das konstitutive Motiv dafr in 33 sharansky war zuletzt in der Knesset als Minister ohne Geschäftsbereich fr Jerusalem und soziale sowie Diaspora-Fragen zuständig. er trat 2005 aus der jdischen Prägung des Staates gesehen wird. Protest gegen den geplanten abzug des israelischen Militärs aus dem Ga- zastreifen zurck. 2009 wurde er zum leiter der Jewish agency gewählt. 34 »I believe that we can apply a simple test – I call it the ›3D‹ test – to help us distinguish legitimate criticism of Israel from anti-semitism. the frst ›D‹ is the test of demonization. when the Jewish state is being demonized; when Is- rael‘s actions are blown out of all sensible proportion; when comparisons are made between Israelis and nazis and between Palestinian refugee camps and auschwitz – this is anti-semitism, not legitimate criticism of Israel. the second ›D‹ is the test of double standards. when criticism of Israel is applied selecti- vely; when Israel is singled out by the United nations for human rights abuses 30 vgl. werner Bergmann, »nicht immer als tätervolk dastehen«. zum while the behavior of known and major abusers, such as china, Iran, cuba, and Phänomen des schuldabwehr-antisemitismus in Deutschland, in: Dirk ansor- syria, is ignored; when Israel‘s Magen David adom, alone among the world‘s ge (hrsg.), antisemitismus in europa und in der arabischen welt, Paderborn/ ambulance services, is denied admission to the International red cross – this is Frankfurt a.M. 2006, s. 81–106; Frank stern, Im anfang war auschwitz. antise- anti-semitism. the third ›D‹ is the test of delegitimization: when Israel‘s funda- mitismus und Philosemitismus im deutschen nachkrieg, Gerlingen 1991. mental right to exist is denied – alone among all peoples in the world – this too 31 vgl. lothar Mertens, antizionismus. Feindschaft gegen Israel als neue is anti-semitism«. (natan sharansky, 3D test of anti-semitism: Demonization, Form des antisemitismus, in: wolfgang Benz (hrsg.), antisemitismus in Double standards, Delegitimization. Foreword of JPsr Issue, in: Jewish Political Deutschland. zur aktualität eines vorurteils, Mnchen 1997, s. 89–100; armin studies review, 16 (2004) 3–4. zur Kritik an dieser Kategorisierung siehe z.B. Pfahl-traughber, antisemitische und nichtantisemitische Israel-Kritik. eine armin Pfahl-traughber, antizionistischer antisemitismus, antiimperialistische auseinandersetzung mit den Kriterien zur Unterscheidung, in: aufklärung und Israelfeindlichkeit und menschenrechtliche Israelkritik, in: Jahrbuch fr anti- Kritik, 14 (2007) 1, s. 49–58. semitismusforschung, 24 (2015), s. 293–318.

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lässt sich in vielen Fällen nicht eindeutig klären.35 Statt- Ein Anlass fr eine vergleichende Perspektive ergibt sich dessen sollte das Bewusstsein im Zentrum stehen, dass dadurch, dass der Antisemitismus formale Gemeinsam- kritische Äußerungen zu Israel unter Umständen sowohl keiten mit anderen Formen der Diskriminierung aufweist: als kritische Positionierung als auch als Antisemitismus Er bezieht sich auf eine Aversion gegen eine Gruppe. Der verstanden werden knnen. Es kommt daher darauf an, Einzelne wird nicht als Individuum, sondern als Angeh- wer, was, wann sagt und ob die Kritik ohne Zuschreibun- riger eines konstruierten oder realen Kollektivs mit ver- gen an ein unterstelltes jdisches Kollektiv erfolgt oder ob bindender Zielsetzung gesehen. Hier bestehen demnach im Sinne einer »Umwegkommunikation« Israel nur an die Gemeinsamkeiten in der Struktur. Dies schließt aber nicht Stelle »der Juden« quasi als Legitimierung antisemitischer aus, dass fr andere Bereiche erhebliche Unterschiede Einstellungen tritt. zwischen den verschiedenen Formen der Diskriminierung bestehen.38 So weist Antisemitismus einige Spezifka auf, Es lässt sich festhalten, dass der Eintritt in den Dis- die den anderen Formen von gruppenbezogener Men- kursverlauf zur Kritik an der Politik Israels immer mit der schenfeindlichkeit nicht eigen sind. Problematik verbunden ist, dass Äußerungen zumindest ambivalent verstanden werden knnen, in jedem Fall aber Judenfeindschaft ist in mehrfacher Hinsicht kein homo- israelbezogene Äußerungen dann als antisemitisch zu genes Phänomen. Sie kann ein Bestandteil anderer bezeichnen sind, wenn bekannte Stereotype benutzt oder Diskriminierungsformen sein, aber auch in Form einer aber Morde an Juden gerechtfertigt werden. umfassenden Weltanschauung auftreten. Dies ist dann der Fall, wenn – wie etwa im Nationalsozialismus – fr nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens antisemitische 2.2.2 Besonderheiten antisemitischer Ressentiments eine zentrale Rolle spielen. Einen derart Einstellungen und Handlungen herausragenden Stellenwert nehmen andere Vorurteile selten bis gar nicht ein. Ähnliches gilt fr die den Juden Antisemitismus kann als eine Form gruppenbezogener gegenber postulierte Universalität: Juden gelten als Menschenfeindlichkeit gelten. Es bestehen Gemeinsam- »arm« und »reich«, als »elitär« und »minderwertig«, als keiten mit, aber auch Unterschiede zu anderen Vorur- »kapitalistisch« und »kommunistisch«. Auch das Bild teilen, wie etwa Fremden-, Homosexuellen-, Islam- bzw. vom »Dritten«39 kann als weiteres Spezifkum gelten. Muslimenfeindlichkeit,36 Antiziganismus oder Rassismus. Schließlich besteht beim Antisemitismus eine Besonder- Die Annahme, dass es bei diesen Formen der Diskriminie- heit gegenber anderen Formen der gruppenbezogenen rung Übereinstimmungen mit Judenfeindschaft gibt, hat Menschenfeindlichkeit hinsichtlich der Folgewirkungen, gelegentlich den Vorwurf ausgelst, es gehe damit eine die ihren Hhepunkt in den Massenmorden im Zweiten Relativierung oder Verharmlosung des Antisemitismus Weltkrieg fanden. Die, bezogen auf die Ermordung der einher. Insbesondere bei der Debatte ber Juden- und europäischen Juden postulierte, historische Singularität Muslimenfeindschaft37 wurden derartige Unterstellungen ergibt sich nicht nur aus den hohen Opferzahlen oder der formuliert. Dabei kam es meist zu einer Fehldeutung von industrialisierten Art der Ermordung, sondern auch aus Forschungsfragen und Grundpositionen, aber auch zu dem erklärten politischen Willen, alle Angehrigen einer einer Verwechselung von »Gleichsetzung« und »Ver- sozialen Gruppe, unabhängig von ihren individuellen gleich«. Einstellungen und Handlungen, allein und ausschließlich aufgrund dieser Zugehrigkeit zu tten.

35 Beispiel hierfr ist etwa die → augstein-Debatte, in deren rahmen Ja- kob augsteins äußerungen zu Israel vom simon-wiesenthal-center als anti- semitisch eingestuft wurden, während er selbst davon berzeugt war, lediglich »Israelkritik« geäußert zu haben. Beide verständnisse sind mglich und zeigen die ambivalenz, die auch genutzt werden kann, um aussagen, die im Kern an- tisemitisch sind, zu relativieren und damit dem nach wie vor bestehenden tabu eines offenen antisemitismus aus dem weg zu gehen. 38 vgl. helen Fein, Dimensions of antisemitism: attitudes, collective accu- 36 Über den ausdruck Muslimenfeindlichkeit bestand im expertenkreis kei- sations, and actions, in: Dies. (hrsg.), the Persisting Question. sociological Per- ne einigkeit, deshalb fnden sich in diesem Bericht fr das Phänomen auch die spectives and social contexts of Modern antisemitism, Berlin/new York 1987, Begriffe antimulsimischer rassismus oder Islanfeindlichkeit. s. 67–85; helen Fein (hrsg.), anti-Jewish and anti-Minority Discrimination, Ideology and violence in comparative contexts, in: Dies. (hrsg.), the Persisting 37 vgl. Gideon Botsch u.a. (hrsg.), Islamophobie und antisemitismus – ein Question, s. 211–223. umstrittener vergleich, Berlin 2012; armin Pfahl-traughber, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von antisemitismus und »Islamophobie«. eine errterung 39 vgl. Klaus holz, Die antisemitische Konstruktion des »Dritten« und die zum vergleich und ein Plädoyer fr das »antimuslimismus«-Konzept, in: Ders. nationale Ordnung der welt, in: von Braun/ziege (hrsg.), Das »Bewegliche vor- (hrsg.), Jahrbuch fr extremismus- und terrorismusforschung 2009/2010, urteil«, s. 43–62; Klaus holz, Die Gegenwart des antisemitismus. Islamistische, Brhl 2010, s. 604–628. demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, hamburg 2005, s. 30–37.

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3 Antisemitisch motivierte Straftaten

Antisemitische Straftaten zählen in Deutschland zur Kriminalität bezeichnet wird, besteht darin, »dass Opfer politisch motivierten Kriminalität (PMK). Ein Teil dieser zufällig ausgewählt werden und darber hinaus mit der Straftaten wird unter bestimmten Bedingungen auch als Tat eine symbolische Botschaft der Einschchterung extremistisch klassifziert und zwar dann, wenn sie darauf und Verunsicherung an eine ganze Bevlkerungsgruppe abzielen, »bestimmte Verfassungsgrundsätze zu beseitigen bermittelt wird«.44 Innerhalb der PMK wird einerseits oder außer Geltung zu setzen, die fr unsere freiheitliche nach sogenannten Phänomenbereichen, nämlich »PMK- demokratische Grundordnung prägend sind«.40 Dazu Rechts«, »PMK-Links«, »PM-Ausländerkriminalität« zählen die klassischen Staatsschutzdelikte, aber auch (PMAK, oder auch PMK-Ausländer) und »PMK-Sonsti- Allgemeinkriminalität wie Ttungs- und Krperver- ge«,45 andererseits zwischen Straftaten generell und der letzungsdelikte, Brandstiftungen, Widerstandsdelikte, Teilmenge der Gewalttaten46 unterschieden, denen auch Sachbeschädigungen, Beleidigungen, sofern sich diese im Fall antijdischer Straftaten eine besondere Bedeu- auf eine politische Motivation des Täters bzw. der Täterin tung zukommt. Der jeweils ermittelte Sachverhalt kann zurckfhren lassen. Eine politische Motivation wird nur einem der drei Phänomenbereiche »PMK-Rechts«, dann angenommen, wenn Anhaltspunkte dafr vorliegen, »PMK-Links« oder »PMAK« zugeordnet werden. Ist eine dass sich die Tat gegen eine Person oder Personengruppe Zuordnung zu diesen nicht mglich, wird der Phänomen- aufgrund deren Nationalität, Volkszugehrigkeit, »Rasse«, bereich »PMK-Sonstige« gewählt. Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, Behin- derung, sexueller Orientierung, ihres gesellschaftlichen 1) Als PMK-Rechts werden Straftaten kategorisiert, Status oder ihres äußeren Erscheinungsbildes richtete.41 »wenn in Wrdigung der Umstände der Tat und/oder Enthalten sind darin auch Straftaten gegen eine Institu- der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafr vorlie- tion/Sache oder ein Objekt.42 gen, dass sie nach verständiger Betrachtung (z.B. nach Art der Themenfelder) einer ›rechten‹ Orientierung Fremdenfeindliche Straftaten werden heute berwiegend zuzurechnen sind, ohne dass die Tat bereits die Außer- als extremistisch eingestuft. Antisemitische Straftaten kraftsetzung oder Abschaffung eines Elements der gelten generell als extremistisch. Beides wird unter dem freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Begriff der »Hasskriminalität« zusammengefasst, der Ziel haben muss. Insbesondere sind Taten dazuzurech- anzeigt, dass »es sich beim jeweiligen Tathintergrund nen, wenn Bezge zu vlkischem Nationalismus, Ras- weniger um persnliche, situationsbedingte Beweggrnde sismus, Sozialdarwinismus oder Nationalsozialismus handelt, sondern vielmehr um das bergreifende Ziel der ganz oder teilweise ursächlich fr die Tatbegehung Erniedrigung einer ganzen Gemeinschaft als Resultat von waren«. Abneigung, Vorurteilen oder ›Hass‹«.43 Das Besondere der Hasskriminalität, die auch als vorurteilsmotivierte 2) »Der PMK-Links werden Straftaten zugeordnet, wenn in Wrdigung der Umstände der Tat und/oder der Ein-

40 verfassungsschutzbericht 2014, s. 26, vgl. ebenda zu den darunter fallen- stellung des Täters Anhaltspunkte dafr vorliegen, dass den straftatbeständen des strafgesetzbuches (stGB), s. 23. sie nach verständiger Betrachtung (z.B. nach Art der 41 BMI, Fachgespräch des Uea mit dem referat Ös II 3 am 2.6.2015. straf- Themenfelder) einer ›linken‹ Orientierung zuzurech- taten, die sich gegen eine Person oder Gruppe aufgrund ihrer politischen ein- nen sind, ohne dass die Tat bereits die Außerkrafts- stellung richten, werden ebenfalls erfasst. etzung oder Abschaffung eines Elements der frei- 42 alke Glet, sozialkonstruktion und strafrechtliche verfolgung von hass- heitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel kriminalität in Deutschland. eine empirische Untersuchung polizeilicher und justizieller Defnitions- und selektionsprozesse bei der Bearbeitung vorurteils- haben muss. Insbesondere sind Taten zuzurechnen, motivierter straftaten, Berlin 2001, s. 3. wenn Bezge zum Anarchismus oder Kommunismus 43 Ministerium der Justiz des landes Brandenburg/Institut fr angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung (hrsg.), expertenhearing »hasskri- minalität«. Kurzdokumentation der Fachtagung am 19.2.2007, Potsdam 2007, s. 7 f. hasskriminalität ist eine neue kriminologische Deliktkategorie, die sich aus der angloamerikanischen Kriminologie kommend zunehmend auch in 44 Glet, sozialkonstruktion und strafrechtliche verfolgung, s. 2. zur Def- Deutschland durchsetzt. vgl. z.B. hans-Joachim schneider, haß auf Fremde. nition des politischen täters siehe Markus Pfau, staatsschutzkriminalität, in: haßverbrechen – eine neue kriminologische Deliktkategorie, in: Universitas, 12 Kriminologie-lexikon Online, http://www.krimlex.de/artikel_druck.php?Kl_ (1995), s. 1167–1181; hans-Joachim schneider, Kriminologie der hassdelikte – ID=1777 (eingesehen 17.11.2016). Konzeptionen, Ursachen, vorbeugungen und Kontrolle, in: Bewährungshilfe, 50 45 BMI, referat Ös II 4, antisemitische straftaten. hintergrundinformation (2003) 2, s. 115–133; Michael Kohlstruck, »hate crimes« – anmerkungen zu zu erhebungsmethoden, Berlin 2014 (Manuskript). einer aktuellen Diskussion, in: Berliner Forum Gewaltprävention, 5 (2004) 16, s. 67–73; Britta Bannenberg/Dieter rssner/Marc coester, hasskriminalität, 46 zu den politisch motivierten Gewaltdelikten zählen: ttungsdelikte, extremistische Kriminalität, politisch motivierte Kriminalität und ihre Präven- Krperverletzungen, Brandstiftungen, sprengstoffdelikte, landfriedensbruch, tion, in: rudolf egg (hrsg.), extremistische Kriminalität: Kriminologie und Prä- Gefährlicher eingriff in den straßenverkehr, Freiheitsberaubung, raub/erpres- vention, wiesbaden 2006, s. 17–59. sung, widerstandsdelikte und sexualdelikte.

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(einschließlich Marxismus) ganz oder teilweise ursäch- 3.1 Probleme bei der erfassung lich fr die Tatbegehung waren.« und justiziellen Bearbeitung

3) Der PMAK/PMK-Ausländer werden Straftaten zuge- der straftaten ordnet, »wenn in Wrdigung der Umstände der Tat und/oder der Erkenntnisse ber den Täter Anhalts- Kriterien der Erfassungspraxis politisch motivierter punkte dafr vorliegen, dass v.a. die durch eine nicht- Straftaten und damit auch der Teilmenge antisemitisch deutsche Herkunft geprägte Einstellung des Täters motivierter Fälle sind seit Längerem Gegenstand der Kritik entscheidend fr die Tatbegehung war, insbesondere und haben bei den Polizeibehrden und im Bundesmi- wenn sie darauf gerichtet sind Verhältnisse und Ent- nisterium des Innern (BMI) Anlass zur Diskussion ber wicklungen im In- und Ausland oder aus dem Ausland Verbesserungsmglichkeiten gegeben.50 Die Einfhrung Verhältnisse und Entwicklungen in der Bundesrepub- des neuen Defnitionssystems »Politisch motivierte lik Deutschland zu beeinfussen. Straftaten der PMAK Kriminalität« (PMK) ab 2001 stellt bereits eine Weiterent- knnen auch durch deutsche Staatsangehrige verbt wicklung der vorherigen Praxis dar, in der es primär um werden«.47 die Erfassung von Staatsschutzdelikten ging, die das Ziel einer Überwindung des demokratischen Systems ver- 4) »Der Bereich politisch motivierte Kriminalität – sons- folgten und deshalb als extremistisch eingestuft wurden. tige (PMK-Sonstige) umfasst Straftaten, wenn sie sich Fremdenfeindliche oder antisemitische Übergriffe wurden keinem der vorgenannten drei anderen Phänomenbe- in diesem Zusammenhang häufg nicht als Staatsschutz- reiche zuordnen lassen.«48 delikte gezählt. Diese Systematik hatte auch aufgrund der unterschiedlichen Erfassungspraxis in den einzelnen Politisch motivierte Straftaten werden einerseits von Bundesländern, v.a. aber wegen des seit den 1990er-Jah- der Polizei erfasst und beim Bundeskriminalamt (BKA) ren zu beobachtenden Anstiegs fremdenfeindlicher und gesammelt, doch sind mit der Erfassung und Zählung antisemitischer Straftaten die Entwicklung eines neuen zumindest im Fall rechtsmotivierter Vorfälle und Strafta- Erfassungssystems erfordert, das eine adäquatere Erfas- ten auch zivilgesellschaftliche Organisationen und Grup- sung sogenannter Hassverbrechen (»Hate Crimes«) oder pen (Amadeu Antonio Stiftung; Recherche- und Informati- auch »Vorurteilskriminalität« (»Bias Crimes«) ermgli- onsstelle Antisemitismus/RIAS im Verein fr Demokratische chen sollte.51 Das zentrale Erfassungskriterium ist nun Kultur e. V./VDK) sowie Fachjournalisten befasst. Die dabei die »politisch motivierte Tat«, d.h. die Erfassung orien- auftretenden Diskrepanzen sind seit Längerem Gegen- tiert sich nicht am Extremismus-Begriff, sondern an der stand ffentlicher Kontroversen und haben mittlerweile tatauslsenden Motivation.52 Dabei darf die polizeiliche in mehreren Bundesländern zur wissenschaftlichen Nach- Bezeichnung »politisch motivierte Kriminalität« »nicht prfung umstrittener, mglicherweise rechtsmotivierter als Aussage ber einen psychologischen Sachverhalt Ttungsdelikte gefhrt (s.u.). Anders als im Rahmen bei den Tatverdächtigen« verstanden werden, »sondern der staatlichen Erfassung von Straftaten, die – bei allen als eine tatbezogene Klassifzierung«, der eine »politi- Mängeln – einer Systematik folgt, liegen dem Vorgehen sche Relevanz zugewiesen« wird.53 Politisch motivierte der NGOs und Fachjournalisten keine systematischen, Straftaten werden nach den zugrundeliegenden Motiven einheitlichen Kriterien zugrunde. Daher erscheinen die einem oder mehreren Themenfeldern zugeordnet, die PMK-Zahlen bisher »als einzige ›belastbare‹ Statistik zum wiederum polizeistatistische Kategorien und keine wis- Ausmaß derjenigen antisemitischen Phänomene, die senschaftlich-analytischen Unterscheidungen darstellen. justiziabel sind«.49 Deshalb soll im Folgenden auf einige »Diese Themenfelder sind in einem bundeseinheitlichen Probleme beim Zustandekommen dieser Statistik einge- Katalog festgelegt und bilden somit die Grundlage fr die gangen werden.

50 ein Mitarbeiter des BKa hält eine regelmäßige Kontrolle und evaluation des neuen Defnitionssystems und der Bewertungspraxis fr unabdingbar, um die Glaubwrdigkeit der statistik zu erhhen. vgl. Jens Peter singer, erfassung der politisch motivierten Kriminalität in einem neuen Defnitionssystem mit mehrdimensionalen analysemglichkeiten, in: Kriminalistik, 1 (2004), s. 35. 47 hierunter fallen straftaten, die aufgrund von Konfiktlagen außerhalb 51 ebenda, s. 33 f. Deutschlands in Deutschland begangen werden, wobei die nationalität bzw. 52 Innerhalb dieser Phänomenbereiche wird zusätzlich unterschieden zwi- ethnische herkunft des täters irrelevant ist. schen straftaten mit und ohne extremistischem hintergrund, d.h. es differieren 48 antwort der Bundesregierung auf die Kleine anfrage der abgeordneten die zahlen etwa fr den Phänomenbereich PMK-rechts (2015: 22.960 Fälle) , , wolfgang neskovic, weiterer abgeordneter und der Frak- und fr die ebenfalls darunter fallenden, aber enger gefassten rechtsextremisti- tion Die linke, Deutscher Bundestag, 17. wahlperiode, Drucksache 17/1928, schen straftaten (2015: 21.933 Fälle). Die abschließende entscheidung ber die vom 7. 6. 2010, s. 4 f. einstufung als extremistisch liegt bei den landeskriminalämtern. 49 Michael Kohlstruck/Peter Ullrich, antisemitismus als Problem und sym- 53 Michael Kohlstruck, zur aktuellen Debatte um politische Gewalt in der bol. Phänomene und Interventionen in Berlin, Berliner Forum Gewaltpräventi- Metropole Berlin, in: Friedrich ebert stiftung, expertisen fr Demokratie, 2 on nr. 52, Berlin 2014, s. 31. (2010), s. 4.

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einheitliche Erfassung und Auswertung.«54 Dieser sehr antisemitische Straftaten werden von den Betroffenen detaillierte Themenfeldkatalog (Themenfeldkatalog zur oder Zeugen nicht angezeigt. Dies kann unterschiedli- KTA-PMK) unterliegt einer ständigen Revision, um so che Grnde haben, etwa »Angst vor Repressalien durch auch aktuelle Entwicklungen erfassen zu knnen.55 Der die Täter, Verdrängungs- und Selbstaufarbeitungsas- Gliederung dieses Themenfeldkatalogs folgt auch die Aus- pekte oder andere Hintergrnde«. 59 Eine Studie der fllanleitung des Bundeskriminalamts, die die Polizei fr FRA aus dem Jahr 2013, in deren Rahmen Juden aus ihre »kriminaltaktische Anfrage« (KTA) in den PMK-Fällen acht europäischen Ländern befragt wurden, zeigte, nutzt. dass in Deutschland nur 28 Prozent derjenigen, die in den letzten fnf Jahren Opfer eines schweren antise- Das neue System der »Richtlinien fr den Kriminalpolizei- mitischen Übergriffs geworden sind, angaben, dies bei lichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Krimi- der Polizei oder einer anderen Organisation angezeigt nalität« (KPMD-PMK) erfasst nun neben den klassischen zu haben.60 Damit liegt Deutschland im Vergleich zu Staatsschutzdelikten und extremistischen Straftaten auch den anderen europäischen Ländern leicht ber dem Hass- oder Vorurteilskriminalität.56 Die neue Erfassungs- Durchschnitt (23 Prozent). Nur zwei Prozent der Befrag- systematik bietet nach Einschätzung des BKA-Beamten ten in diesen acht Ländern gaben an, dass die Tat von Jens Peter Singer nun mehrdimensionale Analysemg- der Polizei selbst ermittelt oder von jemand Drittem lichkeiten nach der Qualität des Delikts, nach objektiven angezeigt worden sei. Als Grund fr dieses »Underre- thematischen Zuordnungen, nach subjektivem Tathin- porting« gaben 47 Prozent an, dass nach einer Anzeige tergrund u. a.57 Es sind nun auch Mehrfachnennungen bei nichts passieren wrde oder sich doch nichts ändere; Straftaten mglich. Bei der Themenfeldauswertung ist 27 Prozent gaben an, dass sie den Vorfall nicht berich- deshalb zu beachten, dass durch eine Addition von Mehr- tet hätten, da so etwas andauernd passiere, und fr fachnennungen deren Zahl in der Regel hher ausfällt als 18 Prozent war eine Anzeige zu brokratisch und zeit- die der tatsächlich begangenen Taten. Wegen des neuen aufwändig (dazu s.u.).61 Eine 2016 fr den zweiten UEA Erfassungssystems sind die neueren Zahlen mit den vor durchgefhrte Befragung von Juden in Deutschland 2001 ermittelten nicht mehr vergleichbar. Wird mit den ergibt ein ähnliches Bild. Nur 23 Prozent gaben hier an, Mehrfachnennungen eine verbesserte Erfassung antise- Vorfälle bei der Polizei, einer Beschwerdestelle oder der mitischer Straftaten mglich, so ist dennoch nach wie vor Gemeinde gemeldet zu haben.62 Anzeigen knnen aber von einem, in seinem Ausmaß nur schwer einzuschätzen- auch deshalb ausbleiben, weil bestimmte Arten antise- den Dunkelfeld auszugehen. Man darf also die Zahlen der mitischer Straftaten, etwa Schmierereien und andere PMK-Statistik nicht als Abbild der Realität missverstehen, Propagandadelikte, kein direktes Opfer haben, das eine vielmehr ist aufgrund des Aufaus des PMK-Erfassungs- Anzeige erstatten knnte. Eine serise Schätzung ber systems und der Routinen der polizeilichen Erhebungs- das Dunkelfeld antisemitischer Straftaten ist nicht praxis mit einer systematischen Unterschätzung antisemi- mglich, da – wie die obige Befragung tatsächlicher tischer Vorfälle zu rechnen.58 Zum genaueren Verständnis wie potenzieller Opfer zeigt – ganz unterschiedliche der polizeilichen Statistik ist eine Reihe von Punkten zu Faktoren das Anzeigeverhalten wie auch die Intensität beachten: der polizeilichen Ermittlungen (etwa die Schwere einer Tat) beeinfussen.63 º Die Polizei kann nur solche Straftaten erfassen, die sie entweder selbst ermittelt hat oder die ihr von drit- º Die Zahl der tatsächlichen antisemitischen Vorfälle wird ter Seite bekannt gemacht werden. D.h. wir haben auch dadurch systematisch unterschätzt, dass bei jedem es auch hier, wie bei allen Formen von Kriminalität, Vorfall, bei dem es zu mehreren Delikten gekommen mit dem Hellfeld-Dunkelfeld-Problem zu tun. Eine ist (z.B. Beleidigung, Raub, Krperverletzung), nur das Ursache ist das sogenannte Underreporting, d.h. viele

59 lang, vorurteilskriminalität, s. 464 f. 60 vgl. agency for Fundamental rights (Fra), Diskriminie- 54 landtag nordrhein-westfalen, 16. wahlperiode, Drucksache 16/7997 rung und hasskriminalität gegenber Juden in den eU-Mitgliedsstaaten: erfah- vom 26. 2. 2015, s. 2. rungen und wahrnehmungen im zusammenhang mit antisemitismus, 2013. In 55 vgl. ebenda: eine Bund-länder arbeitsgruppe unter leitung des BKa der studie von Kohlstruck/Ullrich (antisemitismus als Problem und symbol, berprft derzeit unter Mitwirkung von experten aus wissenschaft und zivil- s. 32) gaben Interviewte an, dass sich Opfer antisemitischer vorfälle nicht an gesellschaft das Defnitionssystem PMK und den themenfeldkatalog zur Kat- die Polizei oder Opferberatungsstellen wandten, sondern eher an die Jdischen PMK. Gemeinden. 56 Kati lang, vorurteilskriminalität. eine Untersuchung vorurteilsmotivierter 61 Fra-studie, 2013, abb. 24, s. 50 und abb. 25, s. 51. taten im strafrecht und deren verfolgung durch Polizei, staatsanwaltschaft und 62 andreas zick/andreas hvermann/silke Jensen/Julia Bernstein, Jdische Gerichte1, Baden-Baden 2014, s. 54. Dort fndet sich auch eine Übersicht ber Perspektiven auf antisemitismus in Deutschland. ein studienbericht fr den die Geschichte der registrierung politischer Kriminalität in der Bundesrepublik expertenrat antisemitismus, aussagen zum coping, s. 29 ff. seit 1949 (s. 53 ff.). 63 vgl. Uwe Drmann, zahlen sprechen nicht fr sich. aufsätze zu Krimi- 57 singer, erfassung der politisch motivierten Kriminalität, s. 34. nalstatistik, Dunkelfeld und sicherheitsgefhl aus drei Jahrzehnten, Mnchen 58 vgl. Kohlstruck/Ullrich, antisemitismus als Problem und symbol, s. 31. 2004.

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Delikt mit der hchsten Strafandrohung gezählt wird. keine Täter ermittelt werden knnen, sodass die Tat- Damit gehen alle anderen Delikte nicht in die polizei- motivation indirekt durch eine hypothetische Motiva- liche Statistik ein. Insbesondere bei kollektiven Hand- tionsunterstellung erschlossen werden muss.68 In der lungen, wie Demonstrationen, ist die genaue Anzahl kriminologischen wissenschaftlichen Literatur wird der begangenen Straftaten daher kaum angemessen zu das neue Erfassungssystem in mehrerlei Hinsicht als ermitteln. unzureichend kritisiert:

º Die Einordnung einer Straftat als antisemitisch hängt ƒ Das Klassifkationssystem sowie die ihm folgende von der Wahrnehmung und von den Kriterien ab, nach Zuordnungspraxis sind »von kategorialen Disparitä- denen eine Tat eingestuft wird. Es handelt sich also um ten geprägt«.69 In der Polizei wirke weiterhin das alte das »Problem der Motivklärung«64, das die Entwicklung Extremismuskonzept handlungsleitend, wodurch das eines Problembewusstseins voraussetzt. Hier hat sich Erkennen vorurteilsmotivierter Straftaten, die sich in den letzten Jahren durchaus eine Weiterentwicklung jenseits »des klassischen Musters rechtsextremer Tat- gezeigt. Dennoch ist eine fortdauernde Verbesserung begehung bewegen«, erschwert werde.70 Dies betrifft der Erhebungsmethoden und eine Anpassung der v.a. die Zuordnung zum Phänomenbereich »rechts«, Erfassungskriterien an neue Problemlagen ntig. Im die vorgenommen wird, sobald Bezge zum Natio- Fall antiisraelischer Straftaten werden etwa seit Kurzem nalsozialismus zu erkennen sind. Dies stellt nicht in »Straftaten im Zusammenhang mit dem Israel-Palästi- Rechnung, dass NS-Symbole ein allgemeines, Juden- nenser-Konfikt« teils im Themenfeld »Hasskriminali- feindlichkeit zwar indizierendes, aber auch generell tät – Unterthema: antisemitisch«, teils im Themenfeld diffamierendes Mittel sind, dessen sich auch politisch »Brgerkriege/Krisenherde – Unterthema Israel-Paläs- nicht weit rechts stehende Täterinnen und Täter tinenser-Konfikt« noch einmal gesondert erfasst, dabei bedienen. Fremdenfeindliche und antisemitische gibt es in den Erläuterungen zu den Themenfeldern Straftaten werden grundsätzlich immer dann dem keinerlei Hinweis, wann Straftaten in diesem Kontext Phänomenbereich PMK-Rechts zugeordnet, wenn als antisemitisch eingestuft werden mssen. Es hängt keine weiteren Spezifka erkennbar sind (z.B. nur der letztlich von den Erfahrungen, der Sensibilität und dem Schriftzug »Juden raus«) und zu denen keine Tatver- thematischen Kenntnisstand der ermittelnden Beamten dächtigen bekannt geworden sind.71 Damit entsteht ab, ob eine antisemitische Straftat als solche erkannt mglicherweise ein nach rechts verzerrtes Bild ber und korrekt klassifziert wird.65 Dies kann besonders die Tatmotivation und den Täterkreis. schwierig sein, wenn es darum geht, bestimmte wenig bekannte rechtsextremistische oder von ausländi- ƒ Die Polizei neigt zu Vermeidungsstrategien und schen Organisationen verwendete Symbole sowie verweist selbst bei der Offensichtlichkeit des Tatmo- nicht-deutschsprachige Äußerungen in ihrem antisemi- tivs häufg auf alternative, nicht politische Tathinter- tischen Sinngehalt zu erfassen.66 Da fr die Einstufung grnde. Als Beispiel wird hier auf die große Diskre- einer Tat als antisemitisch allein die Einstellung des panz zwischen der von den Behrden genannten Zahl Täters bzw. der Täterin entscheidend ist, knnen auch von Todesopfern rechter Gewalt und den von Journa- gegen nichtjdische Personen oder Einrichtungen listen und NGOs gezählten Fällen hingewiesen.72 In gerichtete Taten bei entsprechend nachgewiesener einigen Bundesländern sind Forschungsaufträge an Motivation als antisemitisch bewertet werden.67 Die Einstufung der Tätermotivation steht jedoch vor dem Problem, dass in vielen Fällen, etwa bei Schmierereien, 68 selbst im Fall von physischen Übergriffen und Drohungen ist die ermitt- lung der täter und tatmotive schwierig, da sich die Mehrzahl der taten auf der straße oder im ffentlichen nahverkehr ereignet. täter und Opfer kennen sich nicht, die tat fndet unvermittelt statt und ist von kurzer Dauer. zeugen reagie- 64 Kohlstruck/Ullrich, antisemitismus als Problem und symbol, s. 31. ren zumeist nicht auf den vorfall (rIas, antisemitische vorfälle in Berlin. Be- 65 BMI, Fachgespräch des Uea mit dem referat Ös II 3 am 2.6.2015. Dass richt 2015, s. 5). gerade hinsichtlich der Kritik an der Politik Israels die Unterscheidung zwischen 69 ebenda. scharfer Kritik und als antisemitisch zu wertenden aussagen in der Öffentlich- keit umstritten ist, zeigt u.a. das Beispiel der → augstein-Debatte in diesem Be- 70 lang, vorurteilskriminalität, s. 464. richt. Ob die Polizei in der lage ist, hier immer eine klare zuordnung zu treffen, 71 liegen anhaltspunkte dafr vor, dass die tat z.B. im zusammenhang mit muss bezweifelt werden. dem nahostkonfikt verbt wurde (z.B. wenn eine antijdische Beleidigung in 66 Kohlstruck/Ullrich, antisemitismus als Problem und symbol, s. 32. verbindung mit dem schriftzug »Free Palestine« vorliegt), wird die tat dem Phänomenbereich »Politisch motivierte ausländerkriminalität« zugeordnet. 67 vgl. dazu rIas, antisemitische vorfälle in Berlin. Bericht 2015, s. 6: Im eine zuordnung zum Bereich »sonstige/nicht zuzuordnen« ist ebenfalls denk- Fall der 183 registrierten Bedrohungen, Beleidigungen und Pbeleien waren 96 bar, wenn sich aufgrund der Umstände der tat gar keine rckschlsse auf die Personen davon betroffen, wobei 48 (50 Prozent) als Juden, Jdinnen, Israelis Motivation ziehen lassen. Diese Fälle sind jedoch eher die ausnahme. oder vertreter jdischer Institutionen adressiert wurden. ziel der Übergriffe waren aber auch Personen, die fr ihr erinnerungspolitisches engagement an- 72 so wird der Polizei von nGOs mangelnde Bereitschaft vorgeworfen, anti- gegriffen wurden (6), Polizeibeamte (2), Journalisten (2) und Politiker (1). acht semitische hintergrnde von taten ernst zu nehmen und die sicht der Betrof- Personen wurden bedroht oder beleidigt, weil sie sich gegen zuvor geäußerten fenen einzubeziehen (Ben Mendelsohn, »Über ›normalrassisten‹ reden. Initia- antisemitismus gewandt oder englisch gesprochen hatten. Bei 18 Personen tiven gegen rechts halten die statistik zu politisch motivierten straftaten fr war nicht bekannt, ob sie einen jdischen hintergrund hatten. ungengend«, in: neues Deutschland, 21.10.2013).

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unabhängige Experten ergangen, die diese umstritte- dass Hasskriminalität von Gerichten nur selten als nen Fälle von 1990 bis 2007 noch einmal hinsichtlich erschwerender Umstand beurteilt wurde und es bei ihrer Tatmotivation berprfen sollten. Fr das Land als rechtsmotiviert beurteilten Gewalttaten im Verlauf Brandenburg wurden 24 strittige Altfälle untersucht. des Strafverfolgungsprozesses zu einer sukzessiven In acht Fällen wurden hier Ttungsdelikte nachträg- Abnahme der Bewertung als »vorurteilsmotiviert« lich noch als politisch rechts-motiviert eingestuft, in kam.78 Sie kommt zu dem Schluss, dass die Spezifk weiteren sechs Fällen war bei der Tat kein politisches vorurteilsmotivierter Straftaten nicht erkannt wird, Motiv erkennbar, die Täter waren aber z.T. rechts- da keinerlei Bewertungsunterschiede im Vergleich zu extrem/rassistisch eingestellt.73 In vier Fällen waren anderen Formen der Gewaltkriminalität erkennbar kein politisches Motiv und keine rechtsextreme sind. Einstellung der Täter erkennbar. In fnf Fällen war die politische Motivation nicht mehr aufzuklären. Ein ƒ Die BKA-Statistik ist eine Eingangsstatistik, d.h. es weiterer Fall konnte nicht kategorisiert werden.74 Die werden alle angezeigten Fälle mit entsprechend Studie kommt aber auch zu dem Schluss, dass das seit ermittelter oder unterstellter Tatmotivation gezählt. 2001 bestehende neue Erfassungssystem PMK-Rechts Es fehlte jedoch bis vor Kurzem eine Übersicht leistungsfähiger ist als das vorherige System.75 ber die Zahlen der Ermittlungsverfahren und der erfolgten Verurteilungen. Diese Lcke wurde erst 2016 ƒ Als noch ausgeprägter werden die Anwendungsde- durch die Verffentlichung einer seit Langem vom fzite in der bestehenden Strafzumessungsregelung Bundesamt fr Justiz (BfJ) gefhrten Statistik ber durch die Justiz angesehen, da es keine eigenen Verfahren wegen rechtsextremistischer/fremden- Normierungen zu vorurteilsmotivierter Kriminalität feindlicher Straftaten (darunter fallen auch antisemi- (Hassverbrechen) gibt und die bisher vorgelegten tische) geschlossen, in denen auch Zahl und Alter der Gesetzentwrfe als unzureichend bezeichnet wer- Beschuldigten, die ergangenen Haftbefehle, Verurtei- den.76 Nach den empirischen Ergebnissen von Kati lungen oder andere Entscheidungen zur Beendigung Lang kann zumindest fr die sächsische Justiz »weder des Verfahrens aufgelistet werden.79 Fr antisemiti- im Verantwortungsbereich der Staatsanwaltschaft sche Straftaten liegt allerdings nur eine Aufistung der noch im Rahmen der gerichtlichen Entscheidungen eingeleiteten Ermittlungsverfahren nach Bundes- von einer stringenten Anwendung der Strafzu- ländern geordnet vor, die weiteren Spezifzierungen messungsregelung« im Fall vorurteilsmotivierter lassen sich fr diese Straftaten somit nicht nachvoll- Straftaten ausgegangen werden.77 Sie stellt fest, ziehen. Zu beachten ist auch, dass ein Ermittlungs- verfahren nicht in dem Jahr eingeleitet worden sein muss, in dem sich die Straftat ereignet hat, wie auch 73 vgl. zum land Brandenburg: Moses Mendelssohn zentrum Potsdam, die abschließende Entscheidung wiederum nicht im Forschungsprojekt »Überprfung umstrittener altfälle rechtsextremer und rassistischer Gewalt im land Brandenburg seit 1990«. abschlussbericht, vorge- selben Jahr wie die Erffnung des Verfahrens liegen legt von christoph Kopke und Gebhard schulz, Potsdam 2015. eine vergleich- muss. So wichtig diese Statistik des Bundesamts fr bare Untersuchung fr das land Berlin läuft derzeit als Forschungsprojekt im Justiz ist, so bildet sie nicht den Verlauf eines kon- auftrag des lKa Berlin am zentrum fr antisemitismusforschung, tU Berlin: analyse und Bewertung von aufgeklärten ttungsdelikten in Berlin hinsichtlich kreten Verfahrens ab. D.h. zwischen dem Zeitpunkt ihres politischen charakters (1990–2013). des von der Polizei dokumentierten Geschehens und 74 Die verfasser der studie betonen, dass »nur in wenigen Fällen [..] ein einem rechtskräftigen Urteil knnen lange Zeiträume rechtsextremes oder rassistisches Motiv mit an sicherheit grenzender wahr- liegen, in denen weitere Erkenntnisse ber die Tat- scheinlichkeit ausgeschlossen werden« konnte. vgl. christoph Kopke/Gebhard 80 schulz, Überprfung umstrittener altfälle rechtsextremer und rassistischer Ge- motivation gewonnen werden knnen. Wenn solche walt im land Brandenburg seit 1990, abschlussbericht, Potsdam 2015, s. 4. Korrekturen der Polizei bekannt werden, kann sie 75 ebenda, s. 5. so konnten alle untersuchten ttungsdelikte, die nach 2001 den Fall neu bewerten und statistische Korrekturen begangen wurden, als nicht nachweisbar politisch motiviert eingeordnet wer- vornehmen, sie ist aber nicht dazu verpfichtet, dem den. eine weitere Ursache wird auch in einer gestiegenen sensibilität der Polizei gesehen. justiziellen Verlauf der ermittelten Fälle nachzugehen. 76 lang, vorurteilskriminalität, s. 465. Die Gegner einer spezifschen gesetz- Insofern gibt es also keine systematische Rck- lichen regelung von »Bias crime« sind der auffassung, dass diese verbrechen kopplung von abgeschlossenen Verfahren der Justiz nicht mehr Botschaften enthalten als andere straftaten auch. weiterhin wird auf die mangelnde generalpräventive wirksamkeit und die Gefahr eines Gesin- nungsstrafrechts verwiesen. Die Befrworter weisen auf die besondere Gefähr- lichkeit vorurteilsmotivierter straftaten hin, da diese sich nicht nur gegen eine einzelne Person sondern die gesamte Gruppe richteten und zudem die Grund- 78 ebenda, s. 467. Die autorin macht in ihrer studie vorschläge zu einer än- sätze des demokratischen Gemeinwesens infrage stellten. hinzu kommen die derung einer ganzen reihe von strafnormen im strafrecht, strafprozessrecht argumente des Opferschutzes und der signalfunktion der strafe (ebenda). Die usw. (s. 470 ff.). Gegner einer spezifschen gesetzlichen regelung verweisen darauf, dass mit dem § 46 abs. 2 stGB eine Bestimmung vorliegt, die es erlaubt, die Beweggrn- 79 Bundesamt fr Justiz, erhebung der landesjustizverwaltungen ber ver- de, ziele und die Gesinnung, die aus der tat spricht, bei der strafzumessung zu fahren wegen rechtextremistischer/fremdenfeindlicher straftaten in der Bun- bercksichtigen (ebenda, s. 466). desrepublik Deutschland. 77 ebenda, s. 466 f. 80 singer, erfassung der politisch motivierten Kriminalität, s. 35.

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zur Polizei.81 Der Informationsaustausch zwischen PMK-Zahlen fr die entsprechenden Straftaten und auch Staatsanwaltschaft und Polizei verläuft eher schlep- deutlich hher als die Zahlen fr die Vorjahre 2013 und pend. Es wäre fr die Information der Öffentlichkeit 2014.84 Besonders irritierend ist dabei, dass die Zahl der wnschenswert, wenn neben der Eingangsstatistik eingeleiteten Ermittlungsverfahren im Fall des Antisemi- und der Zahl der erffneten Ermittlungsverfahren tismus fr das Jahr 2014 mit 773 deutlich niedriger ausfällt sowie der der ermittelten Tatverdächtigen auch die als die PMK-Zahlen (1596 Straftaten), die gerade fr dieses Zahl der schließlich abgeurteilten Täterinnen und Jahr eine Zunahme antisemitischer Straftaten belegen, Täter, der Freisprche bzw. der aus sonstigen Grnden während 2015, als die Zahlen der PMK zurckgingen eingestellten Verfahren bekannt gemacht wrden.82 (1366 Straftaten), die Zahl der Ermittlungsverfahren um 201 Prozent auf 2083 anstieg.85 Auch die fr das Jahr 2013 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die ermittelten Zahlen des BfJ liegen mit 691 eingeleiteten PMK-Statistik eine Reihe teils behebbarer, teils redu- Ermittlungsverfahren weit unter den PMK-Zahlen von zierbarer, teils aber auch nicht zu ändernder Schwächen 1275 antisemitischen Straftaten. aufweist, sodass sie nur begrenzt zur Beurteilung der Verbreitung von Antisemitismus und entsprechenden Wie ist diese auffällige Diskrepanz zu erklären? Ein direk- Tätergruppen geeignet ist. Sie erfasst nur das polizeilich ter Vergleich der PMK-Statistik und der des BfJ, das seit zu ermittelnde Hellfeld der Straftaten, sie verwendet 2007 diese Statistik fhrt, ist aus mehreren Grnden nicht ein nicht vllig trennscharfes Klassifkationssystem der mglich, auch wenn mit dem vom BfJ verfolgten Ansatz Tätermotivation, und sie ist zudem auch nur bedingt aus- eine gewisse Parallelität zum Defnitionssystem der PMK sagekräftig, was die diachrone Vergleichbarkeit der Zahlen angestrebt wurde.86 Während es sich bei der PMK-Statistik betrifft, da externe Faktoren wie aktuelle Ereignisse, um eine Eingangsstatistik handelt, bei der die Straftaten ffentliche Debatten oder Schulung der Polizisten den grundsätzlich bereits zu Beginn des Verfahrens einer Grad der polizeilichen Aufmerksamkeit fr antisemitische Deliktkategorie zugeordnet werden, besteht bei der vom Straftaten beeinfussen knnen. Dennoch ist die PMK-Sta- BfJ herausgegebenen Statistik die Mglichkeit, die Zuord- tistik die einzige einheitlich erfolgende Datenerhebung nung eines Ermittlungsverfahrens noch während des lau- auf einer breiten Informationsgrundlage. Es handelt sich fenden Verfahrens zu ändern, sofern dem Gericht oder der deshalb um ein wichtiges Mittel der Beobachtung von Staatsanwaltschaft hinreichende Grnde dafr vorliegen. Hasskriminalität und schafft die Voraussetzung ihrer Weiterhin unterscheiden sich die Bewertungszeitpunkte: Bestrafung. Während bei der PMK-Statistik der Tatzeitpunkt bzw. die erste Erfassung der Tat fr die Zuordnung entschei- Die bereits seit 1992 erfassten Daten zu rechtsextremis- dend ist, werden bei der BfJ-Statistik die im Berichtsjahr tischen und fremdenfeindlichen Straftaten (eingeleitete neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren gezählt, wobei Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften, Beschul- die Bewertung gilt, die zum Zeitpunkt der Meldung an digte, Haftbefehle, Strafverfahren und Verurteilungen), die Statistik vorgenommen wurde. Dieser kann unter die bisher unverffentlicht geblieben waren, wurden nach Umständen deutlich später als der Tatzeitpunkt liegen, einem Beschluss der Justizminister aus Bund und Ländern wenn eine Bewertung erst im längeren Verlauf eines im Frhjahr 2016 erstmals verffentlicht.83 Die dort ber Ermittlungsverfahrens vorgenommen wurde. D.h., es die eingeleiteten Ermittlungsverfahren vom BfJ genann- besteht die Mglichkeit, dass die außergewhnlich hohen ten Zahlen liegen sowohl fr die rechtsextremen/frem- Zahlen des BfJ darauf beruhen, dass ein Teil der in diesem denfeindlichen wie auch fr die Teilmenge der antisemi- Jahr erffneten Ermittlungsverfahren auf Straftaten des tischen Straftaten fr das Jahr 2015 deutlich hher als die Jahres 2014 zurckgeht. Hinzu kommt, dass die abschlie- ßende Entscheidung eines Verfahrens nicht im selben Jahr

81 heike Kleffner/Mark holzberger, reform der polizeilichen erfas- sung rechter straftaten, 1.1.2004, http://opferperspektive.de/aktuelles/re- 84 Da antisemitische straftaten hier als teilmenge der rechtsextremen/ form-der-polizeilichen-erfassung-rechter-gewalt (eingesehen 20.4.2015). fremdenfeindlichen straftaten behandelt werden, ist unklar, ob antisemitische straftaten aus den anderen Phänomenbereichen der PMK, also PMK-links, 82 Die Bundesregierung gab in der Drucksache 18/4009, s. 3, an, dass ihr PMaK und PMK-sonstige, in der zahl der eingeleiteten ermittlungsverfahren weder ber die zahl der eingeleiteten ermittlungsverfahren noch ber die zahl enthalten sind oder noch hinzugerechnet werden mssten, was dann die zahl eingestellter ermittlungsverfahren oder ber die zahl der wegen antisemiti- der verfahren weiter erhhen wrde. scher straftaten im 4. Quartal 2014 verurteilten Personen angaben vorlägen. es liegen jeweils nur angaben zur zahl der tatverdächtigungen vor. 85 wie in der PMK-statistik entfelen von den 2083 ermittlungsverfahren die meisten auf Propagandadelikte (1145) und volksverhetzung bzw. Gewalt- 83 ausländerfeindliche hetze im Internet nimmt dramatisch zu, in: darstellung (841), weitere 27 auf Krperverletzungen und sonstige Delikte sddeutsche zeitung, 28.11.2016, http://www.sueddeutsche.de/politik/ (127). siehe: Bundesamt fr Justiz, erhebung der landesjustizverwaltungen bundesamt-fuer-justiz-auslaenderfeindliche-hetze-im-internet-nimmt - ber verfahren wegen rechtsextremistischer/fremdenfeindlicher straftaten in dramatisch-zu-1.3268733 (eingesehen 13.12.2016). nach auskunft des BfJ der Bundesrepublik Deutschland, Frage 1, 2015, stand 22.8.2016, siehe etwa wurde die statistik fr das Berichtsjahr 2013 vollständig berarbeitet, sodass auch stand 9.12.2016, https://www.bundesjustizamt.de/De/sharedDocs/ nun von einer verlässlichen und einheitlichen Datengrundlage fr alle Bun- Publikationen/Justizstatistik/straftaten_2015.pdf?__blob=publicationFile&v=8. desländer ausgegangen werden kann. eine vergleichbarkeit mit den Daten aus den Jahren vor 2013 ist aufgrund dieser Überarbeitung damit aber nicht mehr 86 Fr die hilfreichen erläuterungen zu der BfJ-statistik danken wir dem zu- gegeben. ständigen referatsleiter im BfJ Dr. Bert Gtting.

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wie dessen Erffnung liegen muss, so dass es nochmals war dies in den neuen Bundesländern nur in einem sehr zu einer anderen Einstufung hinsichtlich der Zuordnung geringen Umfang der Fall.90 Mglicherweise ist dies z.T. einer Tat als antisemitisch motiviert kommen kann. Die auf den deutlich niedrigeren Anteil an aus dem Ausland Differenzen zwischen der PMK- und der BFJ-Statistik kn- zugewanderten Personen in den neuen Bundesländern nen zudem auch auf politische Entscheidungen zurck- zurckzufhren. gehen, wenn etwa aufgrund aktueller Fälle von Antisemi- tismus eine Weisung an Polizei und Staatsanwaltschaften Die weiteren Auswertungen des BfJ zu den Beschuldigten, ausgegeben wird, insbesondere auf rechtsextremistische den erlassenen Haftbefehlen sowie zu den Verfahren- und antisemitische Straftaten zu achten. Dies wird dann seinstellungen bzw. Verurteilungen, die aufschlussrei- vermutlich zu einer verstärkten Registrierung solcher che Informationen zum Verlauf der Ermittlungs- und Vorfälle in der PMK- bzw. der Justizstatistik fhren, da Strafverfahren enthalten,91 beziehen sich jedoch auf alle die gemeldeten Fälle von den zuständigen Stellen eher in rechtsextremistischen/ fremdenfeindlichen Straftaten dieser Richtung rubriziert werden. Ein weiterer Unter- insgesamt und geben so keine Auskunft ber den Verlauf schied zwischen den beiden Statistiken besteht auch in von Verfahren speziell zu antisemitischen Straftaten. der Datengrundlage der Straftatbestände, die ihnen jeweils Interessant ist jedoch der generelle Befund, dass die grß- zugrundeliegen.87 ten Zuwachsraten bei den Delikten »Volksverhetzung« bzw. »Gewaltdarstellung« und »Verbreiten von Propa- Betrachtet man die Aufschlsselung der Ermittlungsver- gandamittel« bzw. die »Verbreitung von Kennzeichen fahren, die wegen antisemitischer Bestrebungen einge- verfassungswidriger Organisationen« im Bereich der im leitet wurden, so fällt zunächst auf, dass im Jahr 2015 in Internet begangenen Straftaten lagen: von 2014 auf 2015 den alten Bundesländern mit 1771 von 2083 Verfahren nahmen sie im Fall von »Volksverhetzung« bzw. »Gewalt- das 5,7-fache der in den neuen Bundesländern eingelei- darstellung« um 353,5 Prozent (gegenber 130 Prozent teten betrug, während es bei den rechtextremistischen/ außerhalb des Internets) und im Fall der »Verbreitung von fremdenfeindliche Straftaten insgesamt nur das 2,5-fache Propagandamitteln« bzw. der »Verbreitung von Kennzei- war.88 Im Vergleich zu den letztgenannten Phänomenen chen verfassungswidriger Organisationen« um 64,7 Pro- spielen antisemitische Straftaten in den neuen Bundes- zent (gegenber 19,8 Prozent außerhalb des Internets) zu.92 ländern also eine geringere Rolle als in den alten. Von den Insgesamt ist die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen 2083 antisemitischen Straftaten von 2015 wurden 573 rechtsextremistischer/fremdenfeindlicher Straftaten zusätzlich als fremdenfeindlich eingestuft, d.h. richteten mittels Internet von 1564 im Jahre 2013 und 1292 im Jahre sich entweder gegen Ausländer (174) oder als Ausländer 2014 auf 4275 im Jahre 2015 deutlich angestiegen. eingestufte Personen (z.B. Eingebrgerte oder Deutsche mit fremdländischem Aussehen).89 Auch hier fällt eine ext- rem große Diskrepanz zwischen den alten und den neuen Bundesländern auf: während in den alten Bundesländern 3.2 antisemitismus-Monitoring der ganz berwiegende Teil der antisemitischen Straftaten durch nGOs zugleich einen fremdenfeindlichen Charakter aufwies,

Neben der Erfassung antisemitischer (und anderer vor- 87 Da die BfJ-statistiken von 2014 auf 2015 einen besonders dramatischen urteilsbasierter) Straftaten seitens der staatlichen Organe anstieg von straftaten im Internet, gerade fr die im Bereich antisemitische straften häufgsten Delikte wie volksverhetzung bzw. Gewaltdarstellung sind auch eine Reihe von NGOs mit dem Sammeln und (§§ 130 und 131), verbreitung von Propagandamitteln (§§ 86 und 86a), zwischen Dokumentieren von Daten ber antisemitische Vorfälle 64,7 Prozent und 353,5 Prozent aufweisen, knnte die zunahme von ermitt- lungsverfahren im Jahr 2015 auch z.t. auf die seit kurzem verstärkte aufmerk- befasst, wobei sich diese nicht auf strafrechtlich relevante samkeit gegenber hasskriminalität im netz zurckzufhren sein. vgl. zu die- Vorkommnisse beschränken, sondern auch sogenannte sem aspekt: ausländerfeindliche hetze im Internet nimmt dramatisch zu, in: sddeutsche zeitung, 28.11.2016, http://www.sueddeutsche.de/politik/ bundesamt-fuer-justiz-auslaenderfeindliche-hetze-im-internet-nimmt - dramatisch-zu-1.3268733 (eingesehen 22. 12. 2016). 90 so waren in den alten Bundesländern 2015 von 1771 ermittlungsverfah- ren zu antisemitismus 521 auch fremdenfeindlich, in den neuen Bundesländern 88 Dies gilt entsprechend auch fr die vorjahre: 2014: alte Bundesländer nur 52 von 312; in den vorjahren war die Diskrepanz noch auffälliger: 2014: 380 661 antisemitische straftaten, neue Bundesländer 112 – verhältnis 6:1; alte zu 9; 2013 386 zu 12. Bundesamt fr Justiz, erhebung der landesjustizverwal- Bundesländer 11.706 rechtsextremistische/fremdenfeindliche straftaten ins- tungen, 2013, 2014, 2015. auch fr die ermittlungsverfahren wegen rechtsext- gesamt, in den neuen Bundesländern 6118 – verhältnis: 1,9:1; 2013 betrugen remistischer/fremdenfeindlicher straftaten insgesamt gilt ähnliches. die Grßenverhältnisse fr antisemitische straftaten 5,2:1; fr die Gesamtzahl rechtsextremistischer/fremdenfeindlicher straften: 2:1. Bundesamt fr Justiz, 91 von 24.629 im Jahr 2015 eingeleiteten ermittlungsverfahren wegen Bundesamt fr Justiz, erhebung der landesjustizverwaltungen ber verfahren rechtsextremistischer/fremdenfeindlicher straftaten wurden 9.825 eingestellt, wegen rechtsextremistischer/fremdenfeindlicher straftaten in der Bundesre- berwiegend, weil keine täter ermittelt werden konnten, es gab 2476 verurtei- publik Deutschland, Daten zu 2013 und 2014, jeweils Fragen 1 und 2. lungen (verurteilte), 132 Freisprche und 954 verfahren wurden auf »sonstige weise« beendet (Bundesamt fr Justiz, erhebung der landesjustizverwaltun- 89 Bundesamt fr Justiz, erhebung der landesjustizverwaltungen, Frage 1, gen, Frage 4, 2015). 2015; Bundesamt fr Justiz, erläuterungen zum erhebungsbogen »ermitt- lungsverfahren wegen rechtsextremistischer/fremdenfeindlicher straftaten«, 92 vgl. ausländerfeindliche hetze im Internet nimmt dramatisch zu, in: sd- BfJ III, 3,- 4021/6, stand: september 2014. deutsche zeitung, 28. 11. 2016.

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niederschwellige Vorfälle einbeziehen. Zudem muss der Vorfälle zu beobachten und zu registrieren, liegen bisher Hauptzweck der Organisation auch nicht immer in der nur belastbare Zahlen fr das Jahr 2015 vor.96 Die Erfas- Sammlung von Daten liegen, auch Opferberatung und sung antisemitischer Vorfälle (also nicht nur der Strafta- Vermittlung von Untersttzungsangeboten knnen ten) setzt sich zusammen aus den Meldungen an RIAS und wichtige Arbeitsfelder sein. Deshalb treten gewhnlich an die Berliner Registerstellen, eigenen Recherchen, Diskrepanzen zwischen den jeweils ermittelten Zahlen Medienberichten und polizeilichen Erhebungen.97 Register auf, da die Vorgehensweisen sich deutlich voneinander sind seit 2005 nach und nach in Berliner Bezirken unterscheiden. Anders als etwa in Großbritannien, wo der eingerichtete »Dokumentationen von rassistisch, antise- Community Security Trust (CST) eng mit der Polizei koope- mitisch, LBGTIQ-feindlich (Lesbian-Bi-Gay-Trans-Inter- riert, fndet in Deutschland bisher keine systematische Queer), antiziganistisch, rechtsextrem, rechtspopulistisch Abgleichung der jeweils erhobenen Fälle mit den zustän- und anderen diskriminierend motivierten Vorfällen, die digen Behrden statt. Allerdings wird derzeit in Berlin sich in den Berliner Stadtbezirken ereignen. Diese Vorfälle eine engere Zusammenarbeit der Polizei mit der RIAS ins werden von Brger_innen bei verschiedenen Anlaufstel- Auge gefasst. Eine weitere Beschränkung der NGOs, Regis- len, die ber die Bezirke verteilt sind, gemeldet und an die terstellen und Chroniken liegt in ihrer zumeist lokalen/ Koordinierungsstellen der Register weitergeleitet«. Dort regionalen Orientierung, auch wenn es wie im Fall der werden sie gesammelt, ausgewertet und auf der Internet- Opferberatungsstellen einen bundesweiten Verband der seite der Berliner Register (www.berliner-register.de) in Beratungsstellen fr Betroffene rechter, rassistischer und der Chronik verffentlicht.98 Im Unterschied zu den antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.) gibt. polizeilichen Statistiken beziehen Register nicht nur strafrechtlich relevante Vorfälle ein, »sondern es werden Opferberatungsstellen, wie ReachOut – Beratungsstelle fr auch niedrigschwellige Vorfälle aufgenommen, wie Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Aufleber, Beleidigungen und Bedrohungen, die aus Berlin, die eine Chronik der gegen Personen und Sachen unterschiedlichen Grnden nicht zur Anzeige gebracht gerichteten Gewalttaten, darunter auch antisemitische, werden«.99 Ähnlich wie im Fall der Opferberatungsstellen publiziert, konzentrieren sich auf Straftaten, die auf geht es nicht allein um die Dokumentation und Analyse Polizeimeldungen, auf die durch die Berliner Register von rechtsextremen Vorfällen, »sondern auch [um] das gesammelten Fälle, auf Medienberichte sowie auf direkt Sichtbarmachen von Diskriminierung im Alltag auf der Organisation genannte Angriffe zurckgehen.93 In lokaler Ebene. Das Registrieren solcher Vorfälle in lokalen dieser Chronik von ReachOut steht nicht die statistische Anlaufstellen schafft fr die Betroffenen einen Raum, in Dokumentation der Angriffe im Mittelpunkt. Stattdessen dem sie ihre Erlebnisse schildern knnen und mit ihren sollen Fallbeschreibungen und Hintergrundberichte ver- Problemen nicht allein dastehen. Durch die Verffentli- anschaulichen, was sich hinter den statistischen Angaben chung der Vorfälle in Form einer Chronik und die aktive konkret verbirgt. Die Chronik »erlaubt keine verlässli- Beteiligung der Brgerinnen und Brger am Register chen Rckschlsse auf das tatsächliche Ausmaß oder die wächst das Interesse fr die Problematik der quantitative Entwicklung von antisemitisch motivierter Gewalt«.94 96 rIas c/o verein fr Demokratische Kultur e.v. (vDK) Berlin, antisemi- tische vorfälle in Berlin. Bericht 2015, s. 3. Die stelle wird gefrdert durch das Eine lokal etablierte Einrichtung, die seit Juli 2015 eine Berliner landesprogramm gegen rechtsextremismus, rassismus und antisemi- »erste bundesweite Onlineplattform zur Meldung tismus der senatsverwaltung fr arbeit, Integration und Frauen, sowie durch antisemitischer Vorfälle« (www.report-antisemitism.de)95 die amadeu antonio stiftung. eingerichtet hat, ist die 2015 durch den Verein fr Demo- 97 rIas, antisemitische vorfälle in Berlin, s. 4. kratische Kultur in Berlin (VDK) gegrndete RIAS, die sich 98 register Berlin. register zur erfassung rechtsextremer und diskriminie- im Anschluss an die »Berliner Register« als »thematische render vorfälle in Berlin.website: www.berliner-register.de/projektvorstellung- register. ab 2014 sollen nach und nach in allen Berliner Bezirken register ein- Registerstelle« zur Erfassung antisemitischer Vorfälle gerichtet werden. Die Finanzierung der registerstellen wird aus Mitteln der versteht. Obwohl bereits 2014 damit begonnen wurde, Bezirke und des Berliner »landesprogramms gegen rechtsextremismus, Frem- denfeindlichkeit und antisemitismus« ermglicht. vorläufer war die antise- mitismus-aG des vDK. vgl. dazu auch Kohlstruck/Ullrich, antisemitismus als Problem und symbol, s. 28 f. 93 vgl. die website von »reachOut – Beratungsstelle fr Opfer rechter, ras- sistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin«: www.reachoutberlin.de (einge- 99 Die register sind sich durchaus der methodischen Grenzen und der sehen 17. 11. 2016). Fehleranfälligkeit bewusst. »wenn aus einer region mehr Meldungen einge- hen, kann das an einer sensibilisierten nachbarschaft liegen und muss nicht 94 Kohlstruck/Ullrich, antisemitismus als Problem und symbol, s. 36. zwangsläufg auf ein erhhtes aufkommen von Diskriminierung zurckgefhrt 95 wie sehr die zahl der gemeldeten vorfälle von der existenz einer relativ werden. Die Fallzahlen sind von verschiedenen Faktoren abhängig: 1. von der »barrierefreien« Meldemglichkeit abhängt, zeigt die tatsache, dass die Mel- einbindung des registers in lokale netzwerke, 2. vom Grad der sensibilisierung dungen nach einfhrung des Online-Meldeportals von rIas im zweiten halb- dieser netzwerke fr ausgrenzung und Diskriminierung, 3. von der personellen jahr 2015 um das neunfache gegenber den im gesamten Jahr 2014 gemeldeten ausstattung, ansprechbarkeit und Glaubwrdigkeit der Koordinierungsstelle vorfällen gestiegen sind. vgl. Mobile Beratung gegen rechtsextremismus Ber- eines registers und 4. von tatsächlich stattfndenden vorfällen, die zufällig be- lin, auswertung antisemitischer vorfälle in Berlin 2015, http://www.mbr-berlin. obachtet werden mssen. Insofern knnen register nie ein vollständiges Bild de/aktuelles/auswertung-antisemitischer-vorfaelle-in-berlin-2015/ (eingese- zeichnen«, http://www.berliner-register.de/projektvorstellung-register (einge- hen 12. 12. 2016). sehen 22. 12. 2016).

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Abb. 3.1: Vergleich der RIAS und PMK-Statistiken nach Vorfallskategorien fr 2015

Nur PMK PMK-RIAS – RIAS Gesamt Schnittmenge

Bedrohung, Beleidigung, Pbelei 72 7 131 210 sachbeschädigung 38 12 22 72 Propaganda 39 3 26 68 veranstaltung 0 2 24 26 angriffe 2 7 10 19 Massive Bedrohung 0 1 6 7 Gesamt 151 32 219 401

Quelle: Mobile Beratung gegen rechtsextremismus Berlin, auswertung antisemitischer vorfälle in Berlin 2015.

Diskriminierung, insbesondere in der eigenen Nachbar- Ermittlungen zu 42 ihr bisher unbekannten, aber straf- schaft.«100 Dies wird dadurch ermglicht, dass jährlich alle rechtlich relevanten antisemitischen Vorfällen aus dem Vorfälle pro Bezirk ausgewertet werden, sodass eine Jahr 2015 aufgenommen hat.105 Dennoch erfasst RIAS Übersicht ber die Orte entsteht, an denen bestimmte auch weiterhin nicht angezeigte Vorfälle, die unterhalb Formen der Diskriminierung besonders häufg auftreten der Strafarkeitsgrenze liegen, sodass die Zahlen von oder wo Aktionsschwerpunkte der rechten Szene liegen. denen der Berliner Polizeistatistik weiterhin systematisch »Diese Ergebnisse der Register vermitteln den unter- abweichen und bei der Erhebung nur eine geringe schiedlichen demokratischen Akteuren in den Berliner Schnittmenge von 32 Fällen mit dieser aufweisen Bezirken ein detailliertes und aktuelles Bild, auf das sie mit (Abb. 3.1).106 Maßnahmen reagieren knnen.«101 Durch die detaillierte Aufschlsselung der Daten ergibt sich sowohl ein Bild Die Amadeu Antonio Stiftung (AAS) publiziert in einem ber die Tatorte als auch ber die Art und die Häufgkeits- Lagebild die Zahlen antisemitischer Straftaten, sttzt sich verteilung der Vorfälle.102 Die Funktion der Daten ist eher dabei jedoch allein auf die (vorläufgen) Quartalszahlen in der Verdeutlichung der Tatsache »einer nicht unerheb- des BKA.107 Die Stiftung ist, neben dem Jdischen Forum lichen Anzahl antisemitischer Vorfälle und zugleich fr Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA), die insbesondere die Breite antisemitischer Phänomene«.103 einzige NGO, die deutschlandweit antisemitische Vorfälle RIAS orientiert sich zwar an den von den Registerstellen erfasst. Aufgrund der unzureichenden Personalausstat- erfassten antisemitischen Vorfällen, doch setzt sie die im tung knnen nur unsystematisch Daten gesammelt wer- Bericht 2015 erklärte Absicht, ihre Kriterien an die vom den (90 Prozent aus ffentlich verfgbaren Quellen, meist britischen CST verwendeten »Defnitions of Antisemitic Zeitungsberichte, Chroniken von Opferberatungsstellen Incidents« zu orientieren und »stärker der unmittelbaren oder Polizeimeldungen, vereinzelt auch Meldungen von Betroffenheit jdischer oder als jdisch wahrgenommener Betroffenen).108 Insofern machen die Zahlen, die der FRA Menschen Rechnung« zu tragen, verstärkt um.104 D. h. bzw. dem ODIHR bermittelt werden, nur einen Bruchteil nicht alle auf der Ebene der Berliner Register erfassten dessen aus, was von staatlicher Seite an Straf- und Gewalt- Vorfälle werden von RIAS statistisch bercksichtigt. Die taten erhoben wird. damit erhhte Verlässlichkeit der Daten hat dazu gefhrt, dass die Berliner Polizei rckwirkend fr 2015 105 andreas Kopietz, antisemitische vorfälle: viele Berliner Juden zei- gen attacken nicht an, in: Berliner zeitung, 1.8.2016, http://www.berliner- zeitung.de/berlin/antisemitische-vorfaelle-viele-berliner-juden-zeigen - attacken-nicht-an-24482592 (eingesehen 12. 12. 2016). 100 register zur erfassung rechtsextremer und diskriminierender vorfälle in Berlin. Projektvorstellung, www.berliner-register.de/projektvorstellung-regis- 106 rIas zählte 2015 in Berlin 401 antisemitische vorfälle, die Polizei 175 (da- ter (eingesehen 22. 12. 2016). von 151 rechtsmotivierte und 24 durch eine ausländische Ideologie motivierte straftaten – PMaK) vgl. Mobile Beratung gegen rechtsextremismus Berlin, 101 ebenda. auswertung antisemitischer vorfälle in Berlin 2015, http://www.mbr-berlin.de/ 102 rIas, antisemitische vorfälle in Berlin. Bericht 2015, s. 4–9. rIas ori- aktuelles/auswertung-antisemitischer-vorfaelle-in-berlin-2015/ (eingesehen entiert sich an den vom Berliner register verwendeten Kategorien, nutzt aber 12. 12. 2016). auch weitere an die Kategorien des cst (UK) angelehnte. rIas strebt an, am 107 vgl. »antisemitismus in Deutschland – ein lagebild 2015«; hier verffent- cst orientierte Kategorien fr eine zivilgesellschaftliche erfassung antisemiti- lichte die aas die offziell ermittelte zahl antisemitischer straftaten fr das Jahr scher vorfälle in Deutschland zu entwickeln (s. 3). 2015. 103 Kohlstruck/Ullrich, antisemitismus als Problem und symbol, s. 39. 108 antwort auf anfrage bei der amadeu antonio stiftung per e-Mail am 104 rIas, antisemitische vorfälle in Berlin, Bericht 2015, Berlin 2016, s. 3. 11. 3. 2016 von Jan riebe.

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Die Stärke des Monitoring durch NGOs besteht darin, Jahren 2005-2009 ist fr die folgenden Jahre 2010–2013 dass eine erhebliche Anzahl antisemitischer Vorfälle auch ein gewisser Rckgang zu verzeichnen. Der Wiederanstieg unterhalb der Ebene von Straftaten erfasst werden und im Jahre 2014 bedeutete keine Trendwende, sondern stellt damit die Breite antisemitischer Phänomene in der Gesell- einen Periodeneffekt aufgrund äußerer Einfsse dar, da schaft dokumentiert wird. Hinzu kommt eine Fokussie- die Zahl der antisemitischen Straftaten 2015 wieder auf rung auf die Arbeit zur Prävention von Antisemitismus. 1366 zurckgegangen ist und damit den Trend der Jahre Nachteilig ist im Vergleich zur PMK, dass die Erfassungs- 2010–2013 fortsetzt. Fr diesen Periodeneffekt spricht systeme uneinheitlich sind und keine genauen Defnitio- auch, dass fr die Jahre, in denen der israelisch-palästinen- nen ber die kategorisierten Gegenstände vorliegen. Eine sische Konfikt eskalierte (2002, 2006, 2009, 2014), ein deut- präzise Bestimmung des tatsächlichen antisemitischen licher Anstieg von Straftaten im Vergleich zum jeweiligen Gehalts der erfassten Vorfälle bleibt daher in manchen Vorjahr festgestellt werden kann, der im Folgejahr wieder Fällen offen.109 zurckging. Fr die ersten beiden Quartale des Jahres 2016 hat das Bundesinnenministerium 317 antisemitische Straftaten, davon sieben Gewalttaten, ermittelt, wobei diese Zahlen als vorläufg gelten mssen und wegen zu 3.3 entwicklung und typen erwartender Nachmeldungen jeweils unter den endglti- antisemitischer straftaten gen Werten liegen.111

Hinsichtlich der politischen Motivation antisemitischer Als antisemitisch wird nach dem Defnitionssystem der Straftaten lässt sich sowohl bei den Straftaten generell wie PMK der Teil der Hasskriminalität gewertet, »der aus einer auch bei den Gewalttaten ein klares Übergewicht »rechts- antijdischen Haltung heraus begangen wird«. Antisemi- motivierter politischer Kriminalität« erkennen. Straftaten tische Straftaten knnen im Themenfeldkatalog KTA- aus anderen Motiven machen dagegen nur einen sehr PMK unter mehreren Themenfeldern rubriziert werden: kleinen, von Jahr zu Jahr allerdings variierenden Anteil Einmal unter »antisemitisch« im Themenfeld »Hass- von ca. zehn Prozent aus (siehe aber auch die oben kriminalität«, wobei nicht automatisch antiisraelische formulierten Probleme in der Zuordnungspraxis). Betrug Straftaten mit erfasst werden, zum anderen im Themen- das Verhältnis der PMK-Rechts zu den drei anderen feld »Krisenherde/Brgerkriege« unter dem Unterthema Motivationsformen in den Jahren ohne eine Eskalation im »Israel-Palästinenser Konfikt«, der auch den Bereich Nahostkonfikt (2010–2013) 20:1, so änderte sich die »antiisraelisch« einschließt.110 Wenn die im Themenfeld Relation 2009 auf ca. 9:1 und 2014 sogar auf nur ca. 5:1. »Nationalsozialismus/Sozialdarwinismus« rubrizierte Linksmotivierte Straftaten und Straftaten der Kategorien »Leugnung des Holocaust« ausgewählt wird, wird in der »PMK-Ausländer« und »PMK-Sonstige« treten gehäuft im Regel auch das Unterthema »antisemitisch« vergeben. Zusammenhang mit dem »Israel-Palästinenser-Konfikt« Zudem muss auch bei der Erfassung von Straftaten gegen im Themenfeld »Brgerkriege/Konfiktherde« auf. Bei den religise Gemeinschaften sowie gegen deren Einrichtun- Gewalttaten fndet sich ein ähnliches Bild, wobei der gen oder Repräsentanten, die dem Themenfeld »Kon- Abstand zwischen den unterschiedlich motivierten frontation/Politische Einstellung« zugeordnet sind, von Tätergruppen hier geringer ausfällt. In den Jahren der Polizei jeweils geprft werden, ob sie nicht zugleich 2010–2013 wurden 139 rechtsmotivierte antisemitische Unterthemen wie »antisemitisch« oder »fremdenfeind- Gewalttaten registriert, die brigen Kategorien kommen lich« usw. zuzuordnen sind. Da alle jeweils zutreffenden zusammen auf nur 18 Taten, d.h. wir haben hier ein Oberbegriffe und Unterthemen der Themenfelder anzuge- Verhältnis von 7,7:1. In den Jahren eines eskalierten ben sind, kommt es zu erwnschten Mehrfachnennun- Nahostkonfikts änderte sich auch hier die Relation auf gen, die es ermglichen, bestimmte Zusammenhänge zu 3,1:1 (2009) und 2,4:1 (2014). Insgesamt kann der Befund erfassen. des ersten UEA bestätigt werden, dass im Hellfeld der registrierten Straftaten judenfeindliche Übergriffe Im Zeitraum zwischen 2001 und 2015 sind pro Jahr im berwiegend auf das Konto rechtsmotivierter Täter und Durchschnitt 1522 antisemitische Straftaten verbt Täterinnen gehen, während sie – anders als in anderen worden, darunter durchschnittlich 44 Gewalttaten. Nach europäischen Ländern – kaum eine Angelegenheit von einer Hochphase antisemitischer Straftaten zu Beginn des links- bzw. durch Konfiktlagen im Ausland motivierten neuen Jahrhunderts (2001–2002) und einer zweiten in den Tätern sind. Die fr den zweiten UEA 2016 unter Juden in

109 vgl. zu dieser Kritik: Kohlstruck/Ullrich, antisemitismus als Problem und 111 , antisemitische straftaten 2016 (quartalsweise), www.petrapau. symbol, s. 38. de/18_bundestag/dok/down/2016_zf_antisemitische_straftaten.pdf (einge- 110 Der Bundestagsabgeordnete der Grnen, , hat den Behrden sehen 17.11.2016). Fr das dritte Quartal 2016 liegt eine Kleine anfrage der aufgrund der trennung von antisemitischen und antiisraelischen straftaten eine Fraktion Die linke vom 26.10.2016 vor, doch ist noch keine antwort des Bun- Unschärfe in der erfassung vorgeworfen (Der tagesspiegel, 14.5.2016). desinnenministeriums erfolgt.

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Abb. 3.2: Antisemitische Straf- und Gewalttaten 2001–2015

Antisem. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 Straft.

PMK-rechts 1629 1594 1226 1346 1682 1662 1561 1496 1520 1192 1188 1314 1218 1342 1246 PMK-links 2 6 6 4 7 4 1 5 4 1 6 3 0 7 5 PMK- 31 89 53 46 33 89 59 41 101 53 24 38 31 176 78 ausländer PMK-sonstige 29 82 59 53 26 54 36 17 65 22 21 19 26 71 37 PMK-Gesamt 1691 1771 1344 1449 1748 1809 1657 1559 1690 1268 1239 1374 1275 1596 1366

Antisem. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 Gewaltt.

PMK-rechts 27 30 38 40 50 44 61 44 31 31 26 37 45 31 30 PMK-links 0 1 0 1 1 0 0 2 0 0 1 0 0 1 1 PMK- 1 7 7 3 3 7 3 1 9 6 2 4 4 12 4 ausländer PMK-sonstige 0 1 1 1 2 0 0 0 1 0 0 0 1 0 1 PMK-Gesamt 28 39 46 45 56 51 64 47 41 37 29 41 50 44 36

Quelle: verfassungsschutzberichte 2001–2015

Deutschland durchgefhrte Befragung zeigt jedoch ein PMK-Ausländer bzw. PMK-Sonstige zugeschrieben wer- anderes Bild. Gefragt »Was war das fr eine Person oder den. War die Zahl der rechtsmotivierten antisemitischen Gruppe, von der die jeweilige Tat ausging?«, wird die Taten von 2005 auf 2006 konstant (jeweils 1682 bzw. 1662), Kategorie »eine muslimische Person/Gruppe« hinsichtlich so stieg die Zahl der PMK-Ausländer bzw. PMK-Sonstige aller drei angefragten Tatformen (versteckte Äußerungen, von 59 auf 143 Fälle an. 2009 war die Zahl der rechts- verbale Beleidigung/Belästigung, krperlicher Angriff) motivierten Fälle nur leicht angestiegen (1496 auf 1520), weitaus am häufgsten genannt, gefolgt von »mir unbe- während die Zahl der PMK-Ausländer bzw. PMK-Sons- kannte Person«, erst dann folgen in gleicher Quantität tige von 58 auf 166 zunahm. Waren 2013 57 Fälle diesen linksextreme und rechtsextreme Personen/Gruppen.112 Kategorien zuzuordnen, so stieg die Zahl 2014 auf 247 an, Fr diese Differenz zwischen der in der PMK vorgenom- wobei in diesem Jahr zudem auch die PMK-Rechts um menen Zuordnung der erfassten Straftaten und der 124 Fälle zunahm. Bestätigt wird dieser Kontexteffekt Wahrnehmung seitens der Betroffenen gibt es derzeit auch durch die Zahl der Straftaten im Zusammenhang mit keine plausible Erklärung. dem Unterthema »Israel-Palästinenser-Konfikt« im The- menfeld »Brgerkriege/Krisenherde« (Abb. 3.3), die jeweils Die tabellarische Übersicht zur Entwicklung der Straftaten deutlich hhere Ausschläge in den Jahren 2006, 2009 und mit antisemitischem Hintergrund (Abb. 3.2) zeigt, dass 2014 erkennen lassen, mit deutlich steigender Tendenz. der Anstieg der Zahlen in den genannten Konfiktjah- 2014 wurde mehr als ein Drittel aller antisemitischen ren v.a. auf dem Anstieg der Fallzahlen beruht, die der Straftaten diesem Themenfeld zugeordnet.

112 zick u.a., Jdische Perspektiven auf antisemitismus in Deutschland, s. 21.

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Abb. 3.3: Straftaten im Zusammenhang mit dem »Israel-Palästinenser-Konfikt« im Themenfeld »Brgerkriege/Krisenherde«

Straftaten

700 575 600 500 350 400

Anzahl 300 200 116 71 78 68 92 61 71 100 55 38 41 0 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Jahr

Quelle: Bundesministerium des Innern

Abb. 3.4: Straftaten im Unterthemenfeld »Israel-Palästinenser-Konfikt«

01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14

Gesamt 36 293 71 78 55 116 38 68 350 92 61 71 41 575 Antisemitisch 15 159 57 56 18 54 16 30 159 52 12 24 23 214

Den Straftaten im Unterthemenfeld »Israel-Palästinen- fr die Konfiktjahre 2002–2003, 2006, 2009 und 2014 ser-Konfikt« (Abb. 3.4)113 wird nur jeweils zu einem Teil deutliche Anstiege. So wurden 2014 von den 45 ermit- eine antisemitische Motivation zugeschrieben:114 telten antisemitischen Gewalttaten 32 der PMK-Rechts zugeordnet, zwlf der »PMK-Ausländer«, ein Fall war Auch die Aufschlsselung der Fallzahlen fr die Quartale linksextrem motiviert. In anderen Jahren zeigt sich eine des Jahres 2014 belegt, dass das dritte Quartal, in das die wesentlich grßere Differenz zwischen der Zahl »PMK- Demonstrationen zum Gaza-Konfikt felen, sowohl eine Rechts« und »PMK-Ausländer« (Abb. 3.2).115 deutlich hhere Zahl antisemitischer Straftaten auf- weist als auch einen deutlich hheren Anteil von Tätern Von Interesse ist auch, welche Art von Straftaten typisch der Gruppen PMK-Ausländer und PMK-Sonstige. Diese fr antisemitisch motivierte Taten sind und inwiefern sie Zusammenhänge gelten nicht nur fr Straftaten insge- sich von Hassverbrechen gegen andere Gruppen unter- samt, sondern auch fr die Gewalttaten. Hier zeigen sich scheiden (Abb. 3.5).

113 Quelle: Deutscher Bundestag, 18. wahlperiode, Drucksache 18/5758, s. 34. 114 Da die bisherigen themenfelder »antisemitisch« bzw. »Israel-Palästinen- ser-Konfikt« antiisraelische vorfälle nicht erfassen knnen, die ohne direkten Bezug zum Konfikt geäußert werden, hat das land Berlin empfohlen, ein the- menfeld bzw. Unterthemenfeld »antiisraelisch« einzufhren. Dies wurde von der Bund-länder-arbeitsgruppe abgelehnt, da man mit den bisherigen the- menfeldern eine trennscharfe erfassung der Fälle erreiche. Der empfehlung Berlins soll aber bei der Überarbeitung des Defnitionssystems PMK gefolgt 115 Die auswertungen der monatlich ermittelten antisemitischen strafta- werden, indem das Unterthema »Israel-Palästinenser-Konfikt« in »Israel« ten in Großbritannien und Frankreich zeigen dasselbe Muster (vgl. Jonathan umbenannt werden soll, sodass alle auf Israel bezogenen politisch motivierten Boyd/l. Daniel staetsky, could it happen here? what existing data tell us about straftaten erfasst werden knnen. contemporary antisemitism in the UK, in: jpr Policy Debate, 5 (2015), s. 8–11.)

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Abb. 3.5: PMK-Zahlen nach Art der Straftaten fr das Jahr 2015116 (aufgeschlsselt nach antisemitischen Straftaten)

Art der Straftat PMK-Rechts PMK-Rechts PMK-Links PMK-Links PMK-Ausl. PMK-Ausl. gesamt antisem. gesamt antisem. gesamt Antisem.

ttungsdelikte 8 0 8 0 3 0 ttungsdelikte 0 0 0 0 0 0 vollendet ttungsdelikte 8 0 8 0 3 0 versuch Krperverletzungen 1.177 28 1.354 1 269 4 Brandstiftungen 102 2 106 0 12 0 sprengstoffdelikte 18 0 5 0 1 0 landfriedensbruch 44 0 340 0 30 0 Gefährlicher eingriff 10 0 54 0 2 0 Freiheitsberaubung 0 0 0 0 2 0 raub 23 0 32 0 7 0 erpressung 8 0 2 0 2 0 widerstandsdelikte 94 0 345 0 17 0 sexualdelikte 1 0 0 0 0 0 Summe Gewaltdelikte 1.485 30 2.246 1 345 4 sachbeschädigungen 1.451 102 3.454 2 273 4 ntigung/Bedrohung 515 16 212 0 134 3 Propagandadelikte 12.175 244 118 1 46 4 verbreitung von 32 1 1 0 3 0 Propaganda verwendung von 12.143 243 117 1 43 4 Kennzeichen strung der totenruhe 10 3 7 0 0 0 volksverhetzung 4.159 758 20 1 159 50 verstoß gegen 711 1 2.163 0 186 0 versammlungsgesetz verstoß gegen 30 1 11 0 33 0 waffengesetz andere straftaten 2.424 91 1.374 0 1.421 13 Gesamtsumme 22.960 1.246 9.605 4 2.025 78

116 In der aufstellung fehlen 37 antisemitisch motivierte straftaten, darunter eine Gewalttat, die unter der rubrik PMK-sonstige gezählt wurden.

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Abb. 3.6: Schändungen jdischer Friedhfe 2001–2004

Gesamt PMK-Links PMK-Rechts PMK-Ausl. PMK-Sonstige unbekannt

2001 52 0 49 2 0 1 2002 59 0 54 1 0 4 2003 61 0 57 0 1 3 2004 38 0 38 0 0 0 2005 58 0 58 0 0 0 2006 37 0 37 0 0 0 2007 42 0 42 0 0 0 2008 63 0 63 0 0 0 2009 38 0 35 1 2 0 2010 41 0 41 0 0 0 2011 33 0 32 0 1 0 2012 29 0 27 0 2 0 2013 36 0 32 0 4 0 2014 27 0 26 0 1 0 Gesamt 614 0 591 4 11 8

Quelle: Deutscher Bundestag, 18. wahlperiode, Drucksache 18/4173, vom 3.3.2015, s. 7.

Wird die Art der antisemitischen Gewalttaten betrachtet, werden fast ausschließlich als rechtsmotivierte Delikte so handelt es sich dabei fast ausschließlich um rechts- klassifziert: 591 von 614 in den Jahren 2001–2014. Nur motivierte Krperverletzungen, d.h. tätliche Angriffe auf wenige wurden den Kategorien Ausländer (4), Sonstige (11) Juden bzw. auf Personen, die fr Juden gehalten werden. und Unbekannt (8) zugeordnet. Keine Tat wurde als PMK- Außerdem wurden 2015 als weitere Deliktart zwei Brand- Links eingestuft. stiftungen gezählt. Unter den brigen Straftaten dominie- ren zahlenmäßig die Propagandadelikte und die Volks- Nicht selten kommt es im Laufe der Jahre zu Mehr- verhetzung von rechts. Hier gibt es unter der PMK-Links fach-Schändungen eines bestimmten jdischen Friedhofs. lediglich drei Fälle. Im Phänomenbereich PMK-Ausländer Am 14. Februar 2015 wurden Hakenkreuzschmierereien sind ebenfalls nur wenige Propagandadelikte zu verzeich- am Eingang des Jdischen Friedhofs in Oldenburg-Os- nen (acht Fälle), aber immerhin 50 Fälle von antisemitisch ternburg entdeckt. Bereits im November 2013 hatten motivierter Volksverhetzung vermutlich im Kontext des unbekannte Täter dort Grabsteine mit Hakenkreuzen Nahostkonfikts. geschändet und das Wort »Jude« an die Friedhofshalle geschmiert.118 Der Jdische Friedhof in Krpelin (Land- Friedhofsschändungen stellten lange Zeit ein fast aus- kreis Rostock) war seit 2011 bereits fnf Mal Ziel von schließlich gegen jdische Friedhfe gerichtetes Delikt Angriffen. Zuletzt wurden am Gedenktag fr die Opfer des dar, das die Geschichte der Bundesrepublik seit ihren Nationalsozialismus, am 27. Januar 2016, 13 Grabsteine Anfängen begleitet.117 Seit einigen Jahren fnden aber auch Schändungen der derzeit noch wenigen muslimischen Friedhfe bzw. der Friedhofsteile fr Muslime auf allge- meinen Friedhfen statt. Offzielle Zahlen liegen hierzu 118 taz, 26. 11. 2013, http://www.taz.de/!5054124/ (eingesehen 23. 3. 2016); jedoch nicht vor. Die Zahlen der Schändung jdischer Oldenburger Onlinezeitung, 17.11.2014, http://oldenburger-onlinezeitung. de/oldenburg/osternburg/hakenkreuz-schmierereien-4814.html (eingesehen Friedhfe schwanken zwischen 63 im Jahr 2008 und 27 im 23.3.2016); Oldenburger Onlinezeitung, 14.2.2015; http://oldenburger- Jahr 2014 und weisen in den letzten Jahren einen leichten onlinezeitung.de/oldenburg/osternburg/juedischer-friedhof-hakenkreuz- Rckgang auf (Abb. 3.6). Im Durchschnitt gab es im gesam- farbschmierereien-5461.html (eingesehen 23.3.2016). Im april 2016 verurteilte das Oldenburger amtsgericht den 35-jährigen haupttäter zu sechs Monaten ten Zeitraum jährlich 44 Vorfälle. Friedhofsschändungen Gefängnis ohne Bewährung; ein 37 Jahre alter Mitangeklagter erhielt fnf Mo- nate und ein 26-Jähriger wurde zu einer Geldstrafe von 3000 euro verurteilt. nwz-Online, 13. 4. 2016; http://www.nwzonline.de/oldenburg/blaulicht/ 117 vgl. dazu den historischen abriss zur Geschichte der Bundesrepublik und haupttaeter-muss-fuer-sechs-monate-ins-gefaengnis_a_6,1,2216031271.html der DDr im ersten expertenbericht (Berlin 2011), s. 38 ff. (eingesehen 10. 5. 2016).

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umgeworfen und z.T. zerstrt. Außerdem rissen die Täter Die Polizei registrierte in den vergangenen Jahren einen eine Gedenkstele aus der Verankerung.119 generellen Anstieg von Anschlägen auf Gotteshäuser.123 Die Zahl der Übergriffe auf Synagogen ist hingegen nicht Neben Friedhfen werden auch Mahnmale, die an die angestiegen (Abb. 3.7). Verfolgung und Ermordung der Juden erinnern, geschän- det, indem sie, wie auch die »Stolpersteine«, bermalt, mit NS-Parolen, Hakenkreuzen u.ä. beschmiert oder sogar mit Schweinekpfen behängt werden, wie es in der Vergan- 3.4 Demografsche Unterschiede: genheit mehrfach beim Mahnmal an der Putlitzbrcke alter und Geschlecht in Berlin geschehen ist.120 Diese Schändungen werden gewhnlich nicht eigens ausgewiesen, sondern mssen antisemitischer straftäter aus den Deliktkategorien Sachbeschädigung, Volksverhet- und straftäterinnen zung, Propagandadelikte oder Diebstahl/Unterschlagung heraussortiert werden.121 Die Angaben der polizeilichen Statistik zur PMK beschrän- Gesondert ausgewiesen werden auf Anfrage der Partei Die ken sich auf Alter, Geschlecht und politische Motivation Linke gegen Synagogen gerichtete Angriffe, wobei es hier der Täter (Abb. 3.8). Weiterfhrende Informationen ber zumeist um Sachbeschädigung, Verwendung von Kennzei- Bildung, soziale Herkunft oder Zugehrigkeit zu Orga- chen verfassungswidriger Organisationen (Schmierereien nisationen fnden sich nicht. Solche Befunde ließen sich von Hakenkreuzen, SS-Runen u.ä.), Volksverhetzung, nur aus der wissenschaftlichen Analyse von Polizei- und Diebstahl und in seltenen Fällen um Brandstiftung geht. Gerichtsakten gewinnen. Seit einer frhen Studie von Rainer Erb fr die Jahre 1993–1995 hat es derartige Untersuchungen nicht mehr gegeben.124 Hier besteht eine deutliche Wissenslcke.

Abb. 3.7: Angriffe auf Synagogen 2008-2014122

Jahr 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 gesamt

Anzahl 21 19 9 20 13 36 20 138

119 Die welt, 28. 1. 2016; http://www.welt.de/regionales/mecklenburg- vorpommern/article151563382/erneut-juedischer-Friedhof-in-Kleinstadt- Kroepelin-geschaendet.html (eingesehen 23. 3. 2016). 120 In Berlin werden sachverhalte, die Mahnmale und Gedenkstätten betref- fen, nicht unter die angriffe auf jdische einrichtungen (synagogen, schulen, Gemeindeeinrichtungen) gerechnet. Begrndung: es muss sich um ein jdi- sches angriffsziel handeln (abgeordnetenhaus Berlin, 17. wahlperiode, Druck- sache 17/14300, s. 2). 121 vgl. die zusammenstellung fr das land Berlin vom 5.3.2013 bis zum 1. 12. 2015: Berliner abgeordnetenhaus,17 wahlperiode, schriftliche anfrage 17/17495, anlage 2: Fallaufkommen der PMK mit antisemitischer Motivation 123 In Berlin wurden 2015 25 anschläge gezählt, davon 17 auf Kirchen (davon und dem angriffsziel »Denkmäler« oder »Gedenkstätten«, s. 1 ff. In diesem 16 der PMK-rechts zugeordnet – zumeist hakenkreuzschmierereien), fnf auf zeitraum wurden 29 Fälle gezählt, die sämtlich der PMK-rechts zugeordnet synagogen und drei auf Moscheen. abgeordnetenhaus Berlin, 17. wahlperiode, wurden. Die zuordnung ist noch unklar. Drucksachen 17/17733, 17/734, 17735, schriftliche anfragen der abgeordne- ten clara herrmann (Grne) vom 14.1.2016. von den fnf vorfällen unter der 122 Deutscher Bundestag, 17. wahlperiode, Drucksache 17/14812, schriftli- rubrik »synagogen« betrifft allerdings nur ein Fall tatsächlich eine synagoge che Fragen mit den in der woche vom 30. september 2013 eingegangenen ant- (Joachimsthaler str./charlottenburg), die bigen vorfälle betreffen andere j- worten der Bundesregierung, s. 1 ff.; Deutscher Bundestag, 18. wahlperiode, dische einrichtungen (Drucksache 17/1735, s. 1). 2014 waren es 21 anschläge Drucksache 18/4908, schriftliche Fragen mit den in der woche vom 11.5.2015 (Kirchen: 13; synagogen: 5; Moscheen: 3) und 2013 13 (Kirchen: 3; synago- eingegangenen antworten der Bundesregierung, s. 2; Deutscher Bundestag, gen: 2; Moscheen: 8). 18. wahlperiode, Drucksache 18/1378 vom 9.5.2014, schriftliche Fragen mit den in der woche vom 5.5.2014 eingegangenen antworten der Bundesregie- 124 rainer erb, antisemitische straftäter der Jahre 1993–1995, in: Jahrbuch rung. fr antisemitismusforschung, 6 (1997), s. 160–180.

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Abb. 3.8: Alter und Geschlecht antisemitischer Straftäter/innen

Alter bis 13 14–17 18–20 21–24 25–30 ber 30 Jahr m w m w m w m w m w m w 2001 22 3 262 33 210 20 134 9 82 3 146 19 2002 19 5 247 42 230 14 178 12 212 6 304 15 2003 9 0 216 20 191 13 176 1 112 8 331 31 2004 8 1 238 33 211 18 176 10 133 9 352 40 2005 10 3 227 23 231 12 191 9 149 4 394 21 2006 9 3 297 23 259 18 241 10 182 15 324 27 2007 11 4 197 29 181 28 150 6 145 2 332 24 2008 19 3 213 15 218 19 185 9 126 2 262 23 2009 14 2 204 20 233 19 174 9 137 8 276 39 2010 20 0 146 16 152 10 130 8 104 2 180 22 2011 11 5 126 10 121 5 108 6 103 5 275 33 2012 8 0 121 8 100 6 120 11 123 7 295 23 2013 6 1 129 18 104 6 133 10 137 3 301 25 Gesamt 166 30 2423 290 2433 188 2096 110 1651 74 3772 342

Quelle: Deutscher Bundestag, 18. wahlperiode, Drucksache 18/4173, s. 6

Die Auswertungen der antisemitischen Straftaten nach auch, dass der Anteil der Täterinnen wesentlich unter dem dem Alter und der Geschlechtszugehrigkeit ergeben ein der Täter liegt. Fr alle Altersgruppen zusammen genom- klares Bild. Die meisten der ermittelten antisemitischen men liegt das Verhältnis bei ca. 1 : 12 (1032 zu 12.743). Straftaten werden aus dem nach wie vor männlich domi- nierten rechtsextremen Spektrum heraus begangen. Ent- sprechend ist daher mit einem hheren Anteil männlicher Täter zu rechnen. Es sind denn auch die Altersgruppen der 3.5 straftaten im Bereich 14–24-Jährigen, die mit ber 2000 männlichen Tätern in hasskriminalität der Zeit von 2001–2013 den hchsten Anteil stellen. Die bis 13-Jährigen stellen mit 166 männlichen und 30 weib- lichen Tätern noch einen geringen Anteil, während die Hasskriminalität richtet sich nicht nur gegen Juden, auch 25–30-Jährigen mit 1664 männlichen und 72 weiblichen andere gesellschaftliche Gruppen sind ihr ausgesetzt. Das Tätern/Täterinnen zwar ebenfalls einen großen Anteil BKA ordnet diese Straftaten bestimmten Unterthemen zu, stellen, doch geht deren Zahl der Tatbeteiligten gegenber von denen Antisemitismus eines unter mehreren darstellt. den Jahrgängen der 14–24-Jährigen erkennbar zurck. Eine trennscharfe Einstufung einer Tat als fremdenfeind- Unter den ber 30-Jährigen fnden sich 3772 Täter und lich, antisemitisch, rassistisch oder religis drfte im 342 Täterinnen, doch umfasst diese Gruppe einen erheb- konkreten Fall jedoch nicht leicht vorzunehmen sein. lich grßeren Anteil der Bevlkerung. Die Zahlen zeigen

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Abb. 3.9: Straftaten im Bereich Hasskriminalität 2014–2015

9000 8529 8000 7000 6000 5000 3945 4000 2014 3000 2015 1596 2000 1366 1214 1112 807 696 1000 320 184 222 106 32 19 0

Religion rassistisch antisemitisch gesell. Status Behinderung fremdenfeindlich sex. Orientierung

Quelle: Bundesamt fr verfassungsschutz, verfassungsschutzbericht 2015

Abb. 3.10: Gewalttaten im Bereich Hasskriminalität 2014–2015

1200

975 1000

800

600 554

2014 400 2015

174 200 145 104 110 45 36 37 54 39 7 4 3 0

Religion rassistisch antisemitisch gesell. Status Behinderung fremdenfeindlich sex. Orientierung

Quelle: Bundesamt fr verfassungsschutz, verfassungsschutzbericht 2015

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Betrachtet man die Anzahl der Straftaten im Bereich 3.6 schutz jdischer einrichtungen Hasskriminalität generell (Abb. 3.9), so nehmen antisemi- tische Straftaten, nach fremdenfeindlichen Straftaten, den Der Schutz der Jdischen Gemeinden obliegt den Bun- zweiten Rang ein. Ein anderes Bild ergibt sich bei Gewalt- desländern und wird von den jeweiligen Polizeikräften taten. Hier dominieren fremdenfeindlich sowie rassistisch wahrgenommen. Eine bundesweite Übersicht ber den motivierte Übergriffe. Juden oder jdische Einrichtungen Schutz einzelner Gemeinden bzw. ber die an die Gemein- sind von direkter Gewalt hingegen – auch aufgrund ihrer den gezahlte Frderung zur Durchfhrung eigener Sicher- Bewachung – seltener betroffen. Dies spiegelt sich in den heitsmaßnahmen liegt u.W. nicht vor. Die Intensität der Zahlen des Jahres 2015 wieder, das durch einen starken Bewachung (Bestreifung) seitens der Polizei hängt auch Zustrom von Gefchteten und einer verstärkten antimus- von der Einschätzung der aktuellen Gefährdungslage ab. limischen Propaganda begleitet war. Straf- und Gewaltta- ten haben hier in fast allen Dimensionen der Hasskrimi- Fr das Land Berlin liegt aufgrund der Schriftlichen nalität sehr deutlich zugenommen. Anfrage »Ist der Schutz jdischer Einrichtungen in Berlin gesichert?« vom 11. Februar 2016 eine entsprechende Im Bereich der antisemitischen Straf- und Gewalttaten Antwort der Senatsverwaltung fr Inneres und Sport vor.127 zeigt sich jedoch eine entgegengesetzte Entwicklung Demnach schtzen Sicherheitskräfte der Berliner Polizei (Abb. 3.10). Waren die Zahlen der gegen Juden und jdi- 65 jdische Einrichtungen mobil und/oder stationär sche Einrichtungen begangenen Straf- und Gewalttaten rund um die Uhr. Zudem erhält die Jdische Gemeinde zu im Jahr 2014 sehr hoch – 27 Prozent aller Hassverbrechen Berlin »zusätzlich und freiwillig seit dem Jahr 2000 nach (1596 von 5858)125 – sank dieser Anteil im Jahr 2015 auf Absprache mit dem Landeskriminalamt (LKA) Berlin und 13 Prozent (1366 von 10.373). Diese Entwicklung lässt der Senatsverwaltung fr Inneres und Sport Leistungen sich zum einen auf den, im Vergleich zu 2014, fehlenden fr eigenes Sicherheitspersonal«.128 Die Beträge sind von Mobilisierungseffekt fr antisemitische Straftaten durch 2008 bis 2012 von jährlich 1.770.160 Euro auf 2.549.280 Eskalationen im Nahostkonfikt zurckfhren und zum Euro gestiegen. Das Land Berlin hat diese Sicherheitszu- anderen auf die Konzentration rechtsorientierter Täter wendungen bis 2015 weitergezahlt, obwohl es sich seit auf Menschen, die im Rahmen der Fluchtbewegungen September 2013 in einem Rechtsstreit mit der Jdischen aus Kriegs- und Krisengebieten im Mittleren Osten und Gemeinde zu Berlin ber diese Zuwendungen befndet.129 Nordafrika nach Deutschland gekommen sind. In Nordrhein-Westfalen liegt der Umfang des Landesan- teils an Sicherheitsmaßnahmen fr jdische Einrichtun- Den Hauptanteil der antisemitischen Straftaten bilden gen 2015 bei 3.780.000 Euro. Fr die von den jdischen ideologisch motivierte Propagandadelikte. Antisemitische Gemeinden vorgehaltenen eigenen Wachdienste werden Gewalttaten nahmen 2014 einen Anteil von 2,7 Prozent Sachkosten in Hhe von bis zu zwei Millionen Euro pro aller antisemitischen Straftaten ein, 2015 einen Anteil von Jahr erstattet.130 2,6 Prozent. Dominante Tätergruppe sind im Bereich der antisemitisch motivierten Straf- und Gewalttaten nach wie vor rechtsmotivierte Täter. Der Anteil der Gewalttaten aus dem Bereich der rechtsmotivierten antisemitischen 3.7 einschätzung der antijdischen Straftaten betrug 2,4 Prozent (32 von 1342), aus dem hate crimes vonseiten Bereich der PMAK 6,7 Prozent (12 von 176). 2015 lag der Anteil von Gewalttaten an allen antisemitischen Straftaten der Betroffenen aus dem Bereich PMK-Rechts bei 2,5 Prozent (30 von 1246) und im Bereich PMAK bei 5,1 Prozent (4 von 78).126 Pro- In der Umfrage der FRA von 2013 gab jeder sechste zentual fnden sich also mehr antisemitische Gewalttaten Befragte in Deutschland an, in den vorangegangenen im Bereich PMAK. Werden jedoch die Gesamtzahlen zwlf Monaten aufgrund seiner Zugehrigkeit zum Juden- zugrundegelegt dominieren auch weiterhin rechtsmo- tum Opfer einer Beleidigung, Belästigung und/oder eines tivierte Täterinnen und Täter sowohl im Bereich der antisemistichen Straften als auch im Bereich der antisemi- tischen Gewalttaten. 127 abgeordnetenhaus Berlin, 17. wahlperiode, Drucksache 17/17976, schriftliche anfrage der abgeordneten Dr. Klaus lederer und hakan taş (Die linke). 128 ebenda, s. 1. Die sach- und Gemeinkosten fr den schutz der jdischen einrichtungen betrugen 2015 3.553.000 euro. Fr den Personalbedarf (300 Per- 125 In Frankreich erreichten 2014 die 851 antisemitischen straftaten sogar sonen) sind fr 2015 Personalkosten von 13.542.000 euro entstanden (ebenda, einen anteil von 51 Prozent an allen hassverbrechen, wobei dort die zahl der s. 2). Juden mit 1 Prozent der Gesamtbevlkerung auch mehr als doppelt so hoch ist wie in Deutschland. Dennoch zeigt sich hier ein etwas anderes Muster. siehe: 129 ebenda, s. 1 human rights First, Breaking the cycle of violence. countering antisemitism 130 landtag nordrhein-westfalen, 16. wahlperiode, antwort des landesre- and extremism in France, January 2016, s. 5. gierung auf die Kleine anfrage 4301 vom 18.1.2016; Drucksache 16/11241 vom 126 Bundesamt fr verfassungsschutz, verfassungsschutzbericht 2014. 24. 2. 2016, s. 2 f.

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krperlichen Angriffs geworden zu sein (Abb. 3.11). Mit Andeutungen wird mit 53 Prozent etwas weniger berich- 16 Prozent liegt Deutschland damit im Vergleich der acht tet, während verbale Beleidigungen mit 36 Prozent und abgefragten europäischen Länder unter dem Durchschnitt krperliche Angriffe mit acht Prozent häufger berichtet von 21 Prozent.131 Nimmt man nur die 100.437 als Mitglie- werden.134 Gefragt, wie groß eine Reihe von Problemen der jdischer Gemeinden registrierten Juden in Deutsch- in Deutschland einzuschätzen sind, nannten die Befrag- land,132 so drfte die Zahl der genannten Übergriffe um ten als großes bzw. sehr großes Problem zu 74 Prozent ein Vielfaches hher liegen als die offziell registrierten antisemitische Kommentare am Arbeitsplatz, der Schule Straftaten. In der Studie »Jdische Perspektiven auf usw., 68 Prozent verbale Beleidigungen oder Belästigung, Antisemitismus in Deutschland« (→ Jdische Perspektive) 50 Prozent krperliche Angriffe.135 wurde die Frage nach dem persnlichen Erleben von Übergriffen nach Art der Vorfälle differenziert. So werden von den Befragten versteckte Andeutungen häufg erlebt, etwas seltener verbale Beleidigungen und krperliche 3.8 antisemitische hasspropaganda Angriffe. Dabei berichten nicht in Deutschland geborene und straftaten im Internet Personen häufger von allen drei Vorfallsarten, mglicher- weise weil sie eher als Juden identifziert werden knnen. Dies gilt mit Ausnahme der krperlichen Gewalt auch fr Seit dem Bericht des ersten UEA hat der Anteil antise- Frauen, während Männer häufger von Letzterer berichten. mitischer Hassbotschaften in erschreckendem Maße zugenommen. Antisemitismus im Internet ist die von Betroffenen in Deutschland, aber auch in anderen Abb. 3.11: »Ist Ihnen in den letzten zwlf Monaten EU-Staaten am häufgsten genannte Erscheinungsform einer der folgenden Vorfälle zugestoßen, weil des Antisemitismus (→ Medien). Grenzen des Sagbaren, die Sie jdisch sind?« (Zustimmung in Prozent)133 auch im ffentlichen Diskurs aufzuweichen drohen, sind im Netz längst gefallen. Dies gilt auch fr antisemitische Aussagen. Julia Schramm von der Amadeu Antonio Stiftung versteckte andeutungen 62 (AAS)136 verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass verbale Beleidigung/ 28 weniger der holocaustbezogene Antisemitismus dabei Belästigung im Vordergrund stehe, sondern Verschwrungstheorien krperlicher angriff 3 und ein israelbezogener Antisemitismus, der insbeson- dere auf Facebook im Sommer 2014 stark zugenommen habe. Bisher wird diese Form der Hasskriminalität jedoch Die Antworten auf die Frage nach dem Vorkommen der- selten angezeigt und auch von Social-Media-Anbietern artiger Vorfälle bei Familienmitgliedern oder nahestehen- nur zgernd bekämpft. Die Bundesregierung hat die zur den Personen ergeben ein ähnliches Bild: Von versteckten Anzeige gebrachten Fälle seit 2001 aufgelistet (Abb. 3.12):137

Abb. 3.12: Angezeigte Fälle antisemitischer Hasskriminalität im Netz

Jahr 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

Anzahl 132 112 163 148 285 228 193 158 228 212 202 239 268

134 ebenda, s. 23: vorfälle/nahestehende Personen. 135 ebenda, s. 12: aufistung verschiedener Probleme in Deutschland im zu- sammenhang mit antisemitismus; wesentlich häufger wurde aber antisemitis- mus in der Öffentlichkeit als Problem gesehen (Internet 87 Prozent; antisemi- tismus in Demonstrationen 79 Prozent, in politischen Debatten 53 Prozent und 131 Fra, Diskriminierung und hasskriminalität, abb. 8. in den Medien 48 Prozent). 132 zahlen der zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland fr 2014. 136 siehe auch externe expertise von Julia schramm fr den Uea (→ Medien). 133 zick u.a., Jdische Perspektiven auf antisemitismus in Deutschland, s. 20, 137 Deutscher Bundestag, 18. wahlperiode, Drucksache 18/4173 vom abb. 14. 3. 3. 2015, s. 19.

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Auf Initiative des Bundesministers der Justiz, Heiko Maas, 3.9 antisemitische straftaten im sollte eine Task Force im September 2015 unter Leitung internationalen vergleich des Bundesministeriums der Justiz und fr Verbraucher- schutz »gemeinsame Vorschläge fr den nachhaltigen und effektiven Umgang mit Hassbotschaften im Internet und Die FRA stellt in ihren jährlichen Berichten die Daten den Ausbau bestehender Kooperationen« erarbeiten.138 zu antisemitischen Straftaten zusammen, die ihnen aus Der Einladung des BMJV zur Grndung dieser Task Force Mitgliedsländern der EU bermittelt werden. Von den sind Vertreter der Sozialen Medien (Facebook, Google, You- Mitgliedsstaaten der OSZE berichten nur zehn Länder von Tube und Twitter) sowie zivilgesellschaftlicher Organisati- staatlicher Seite an die FRA oder die OSZE/ODIHR, aus onen (eco – Verband der Internetwirtschaft e.V.; Freiwillige 29 Ländern werden Daten von NGOs bermittelt.142 Da Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter, Jugendschutz. sich sowohl die datenerfassenden Institutionen wie auch net; klicksafe.de, die AAS und der Verein Gesicht zeigen) die Erhebungsmethoden und erfassten Phänomene stark gefolgt. Maßnahmen wurden vereinbart, wobei die voneinander unterscheiden, sind die Daten nicht mitei- zivilgesellschaftlichen Organisationen den Unternehmen nander vergleichbar. Sie geben allenfalls einen Eindruck ihre Hilfe bei der Umsetzung angeboten haben.139 Zudem von der Verbreitung antisemitischer Straftaten in den wurde die Pfege der Kommunikationskultur sowie die einzelnen Ländern. Die angestrebte Vereinheitlichung im Stärkung der Gegenrede (»Counter Speech«) als eine Rahmen der OSZE ist bisher nicht gelungen. gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen, bei der den Social-Media-Plattformen eine Vorreiterrolle zukommt.140 Der von der Service de Protection de la Communauté Juive Im Oktober 2016 kam die Task Force jedoch zu dem herausgegebene Bericht zum Stand des Antisemitismus in Ergebnis, dass die verschiedenen Social-Media-Plattfor- Frankreich 2015 konstatierte 808 in Frankreich begangene men Hassbotschaften noch nicht effektiv genug bekämpf- antisemitische Taten (2014: 851; 2013: 318); vier Personen ten, v.a. wenn die Meldungen von normalen Nutzerinnen starben bei dem Terrorangriff auf den jdischen Super- und Nutzern stammten.141 Justizminister Maas drohte här- markt »Hyper Cacher« in Paris im Januar 2015. Erstmals tere Aufagen fr die Unternehmen an, wenn sich deren bildete nicht der Nahostkonfikt die Plattform fr anti- Praxis nicht verbessere. In Bezug auf die Strafverfolgung semitische Übergriffe, sondern landesspezifsche Ereig- ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, dass das Internet nisse. Der Service de Protection de la Communauté Juive ein internationales Medium ist, problematische Inhalte unterteilt in seinem Bericht »Actions« (Handlungen) und ber ausländische Provider gehostet werden und sich so »Menaces« (Drohungen). Unter die erste Kategorie wurden deutschen Strafverfolgungsbehrden entziehen. Die Ver- fr 2015: 207 (2014: 241; 2013: 105) Fälle eingeordnet und folgung antisemitischer Hasskriminalität in den sozialen in den Bereich »Drohungen« felen 601 (2014: 610; 2013: Medien und im Web 2.0 lässt sich daher nicht auf Deutsch- 318) Vorkommnisse.143 Dem Dachverband der franzsi- land beschränken, gehrt aber zu den vordringlichsten schen Juden Conseil Représentatif des Institutions Juives de Aufgaben bei der Bekämpfung des Antisemitismus. France (CRIF) zufolge hat die Gewalt gegen Juden seit 2014 neue Formen angenommen, darunter Angriffe organisier- ter Banden und Terroranschläge.144

138 Gemeinsam gegen hassbotschaften. von der task Force »Umgang mit rechtswidrigen hassbotschaften im Internet« vorgeschlagener weg zur Be- kämpfung von hassbotschaften im netz, ergebnispapier vom 15.12.2015, s. 1. 139 Die lschung von hassbotschaften durch die Unternehmen sowie die Mitarbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen hat auch Kritik hervorgerufen. vgl. z.B. Martin niewendieck, einseitig und intransparent? Beim lschen von hassbotschaften schießt Facebook offenbar ber das ziel hinaus, in: Der ta- gesspiegel, 6.9.2016; und: vollmacht fr Googles Juristen. lschanträge: von der schwierigkeit, netzkonzerne rechtlich an die Kandare zu nehmen, in: Faz, 142 http://hatecrime.osce.org/what-hate-crime/anti-semitism (eingesehen 17. 10. 2016. 30. 3. 2016). 140 Gemeinsam gegen hassbotschaften, s. 2 ff. 143 rapport sur l’antisémitisme en France. source éléments statistiques, Ministère de l’Intérieur et sPcJ, http://www.antisemitisme.fr/dl/2015-Fr.pdf 141 vgl. Maas setzt Ultimatum. twitter und Facebook bekämpfen hass im (eingesehen 30. 3. 2016). netz noch nicht effektiv genug. nutznießer ist die afD, in: Der tagesspiegel, 6.10.2016; bereits im august forderte Innenminister de Maizière mehr einsatz 144 Die zeit, 27.1.2015, http://www.zeit.de/gesellschaft/2015-01/antisemi gegen hetze im Internet: Kampf dem hass, in: Der tagesspiegel, 30.8.2016. tismus-frankreich-juden-angriffe (eingesehen 30. 3. 2016).

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Abb. 3.13: Antisemitic Hate Crimes in Eight European Countries145

Land 2011 2012 2013 2014 2015 (inoffziell; NGOs)

Österreich 16 27 37 58 straftaten – rechtsextremismus (33) (22) (29) (31)

Belgien 62 88 85 130 eingegangene – anzeigen (65) (80) (64) (109) 18 9 15 45 Tschechien – (43) (98) (175) (253) Frankreich Offzielle und inoffzielle 389 614 423 851 808 Institutionen arbeiten zusammen 1239 1374 1275 1596 1366 Deutschland (42) (33) (65) (45) (36) Ungarn – – (95) (73) – 859 294 717 (114) (216) Niederlande (113) (147) – Internet: 285 Internet: 328 Internet: 252 Internet: 250 * 385 318 440 307 924 Großbritannien (cst 535) (cst 1.179) (cst 608) (cst 649) **** ** ***

* nicht vergleichbar mit Daten im Jahr davor – neue Polizeistatistik ** 1.4.2012–31.3.2013 nicht mit dem vorjahr vergleichbar *** 1.4.2013–31.3.2014 **** 17 Prozent der Manifestationen auf sozialen Medien

145 zusammengestellt aus http://fra.europa.eu/sites/default/fles/fra_ uploads/fra-2015-antisemitism-update_en.pdf< (eingesehen 23.11.2016). zah- len von 2015 aus den jeweiligen landesberichten.

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Abb. 3.14: Actes antisémites recensées en France de 1998 à 2015

In Großbritannien registrierte der Londoner CST 2015 der entscheidende Faktor. Fr 2015 hat der CST 86 Gewalt- insgesamt 924 antisemitische Vorkommnisse, die dritt- taten registriert, 2014 waren es 81. Damit bersteigt der hchste Zahl, die je vom CST erhoben wurde, wobei Wert 2015 – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern – die gegenber 2014 (1179 antisemitische Vorfälle) allerdings – Zahl des Jahres 2014. Hier knnten Ereignisse wie der ganz ähnlich wie in Deutschland – ein Rckgang festzu- Überfall auf einen koscheren Supermarkt im Januar in stellen ist. Wie in Frankreich so ist auch in Großbritannien Frankreich und die Anschläge auf ein Kulturzentreum und 2009 mit 931 Vorfällen der zweithchste Wert gemessen eine Synagoge im Februar in Kopenhagen durchaus als worden – auch hier war die Eskalation des Nahostkonfikts Trigger-Ereignisse gedient haben.147

146 rapport sur l’antisémitisme en France. source éléments statistiques, Mi- nistère de l’Intérieur et sPcJ, s. 28, http://www.antisemitisme.fr/dl/2015-Fr. 147 cst, antisemitic Incidents report 2015, s. 4 f., https://cst.org.uk/data/ pdf (eingesehen 30.3.2016). fle/1/9/Incidents_report_2015.1454417905.pdf (eingesehen 30.3.2016).

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Abb. 3.15: Antisemitic Incident Totals 2011–2015148

2011

2012

2013 Straftaten

2014

2015

0 500 1000 1500

In den Niederlanden zeigt sich ein ähnliches Bild wie in die Länder mit den am seltensten genannten Vorfällen.151 Frankreich und Großbritannien, allerdings auf einem Als großes Problem erscheint jdischen Befragten in allen zahlenmäßig niedrigeren Niveau. Das 1974 gegrndete aufgefhrten Ländern »Hate Speech« im Internet zu sein Centrum Informatie en Documentatie Israel (CIDI) in Den (durchschnittlich 75 Prozent Zustimmung), gefolgt von Haag, das ber Israel informiert, aber seit einigen Jahren Antisemtismus in den Medien (59 Prozent), feindseligen auch eine Chronik ber antisemitische Übergriffe fhrt Äußerungen an ffentlichen Orten (50 Prozent) sowie und gleichzeitig Meldeeinrichtung fr solche Taten ist, Friedhofsschändungen (50 Prozent). Allerdings variieren verwies in seinem Bericht fr das Jahr 2009 (167) auf einen die Problemfelder von Land zu Land.152 55-prozentigen Anstieg antisemitischer Taten gegenber 2008 (108).149 2014 zählte CIDI 171 antisemitische Vorfälle Eine Umfrage unter »European Jewish Leaders and Opi- gegenber 100 im Jahr 2013. Zählt man noch die ent- nion Formers«, die bisher dreimal (2008, 2011 und 2015) sprechenden Einträge auf Twitter hinzu, ergeben sich 216 in 32 europäischen Ländern durchgefhrt wurde, zeigte Manifestationen fr 2014 (sechs Fälle physischer Gewalt) ebenfalls, dass diese Befragten 2015 zu 75 Prozent einen gegenber 147 im Jahr 2013.Allerdings erreichten die Zah- starken Anstieg antisemitischer Äußerungen im Internet len bei Weitem nicht die Werte der Jahre 2002 und 2006, wahrnahmen (nur ein Prozent sah einen starken Rck- als CIDI 337 bzw. 261 Vorfälle registrierte.150 gang), gefolgt von 24 Prozent, die einen starken Anstieg in den Medien beobachteten (einen starken Rckgang: In der oben bereits zitierten Umfrage der FRA von 2013 vier Prozent). Etwas niedriger ist der Anteil derjenigen, die gaben in den acht untersuchten EU-Staaten durchschnitt- einen starken Anstieg im politischen Leben (17 Prozent), lich 21 Prozent der Befragten an, in den vergangenen beim Vandalismus (zwlf Prozent) und bei Schändungen zwlf Monaten aufgrund ihrer Zugehrigkeit zum Juden- jdischer Friedhfe (zehn Prozent) konstatierten.153 In tum Opfer von Beleidigung, Belästigung und/oder eines allen sechs abgefragten Bereichen sahen deutlich mehr krperlichen Angriffs geworden zu sein. Deutschland lag Befragte aus Westeuropa einen starken bzw. leichten dabei mit 16 Prozent unterhalb des Durchschnitts. Am Anstieg von Vorfällen als osteuropäische Befragte.154 häufgsten wurden Vorfälle aus Ungarn (30 Prozent) und Belgien (28 Prozent) gemeldet, gefolgt von einer Mittel- Auf die Frage »Which of the following are the most gruppe aus Schweden (22 Prozent), Frankreich (21 Prozent) serious threats to the future of Jewish life in your coun- und dem Vereinigten Knigreich (19 Prozent). Italien mit try?« rangierte der Antisemitismus auf Platz sieben von ebenfalls 16 Prozent und Lettland mit 14 Prozent bilden elf Antwortvorgaben, steht also als Problem nicht im

151 Fra, Diskriminierung und hasskriminalität, abb. 8. 148 ebenda. 152 ebenda, tab. 2. 149 cIDI, 2009: antisemitische incidenten in nederland scherp gestegen, http://www.cidi.nl/Monitor-incidenten/2009-antisemitische-incidenten-in- 153 american Joint Distribution committee, third survey of european Jewish nederland-scherp-gestegen.html (eingesehen 11. 11. 2016). leaders and Opinion Formers, 2015, March 2016, s. 21. 314 Personen wurden befragt, davon 27 in Deutschland. eine auswertung nach ländern erfolgte 150 Monitor antisemitische incidenten in nederland 2014, s. 4 f., http://www. nicht. cidi.nl/wp-content/uploads/ 2015/04/Monitorantisemitisme2014.pdf (einge- sehen 30. 3. 2016). 154 ebenda, s. 22, table 5.

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155 Vordergrund. Jedoch hat sich der Anteil derjenigen, die Handlungsempfehlungen – Straftaten hier zustimmen, von 26 Prozent im Jahr 2011 auf 40 Pro- Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus emp- zent im Jahr 2015 erhht, wobei auch hier die westeuro- fehlt … päischen Befragten häufger zustimmten.156 Die befragten jdischen Gemeindefunktionäre und Entscheidungsträger º … in dem vom Bundesministerium des Innern her- erwarten zudem in den kommenden fnf bis zehn Jahren ausgegebenen Verfassungsschutzbericht regelmä- einen deutlichen (23 Prozent) bzw. mäßigen (44 Prozent) ßig ein gesondertes Kapitel ber Antisemitismus in Anstieg des Antisemitismus, 27 Prozent erwarten ein die Berichtsteile zu allen Extremismus-Bereichen Gleichbleiben und nur drei Prozent einen gewissen/ aufzunehmen und dort zudem die statistischen starken Rckgang. Auch hier sind die westeuropäischen Angaben zu antisemitischen Straftaten wieder Befragten mit 67 Prozent Zustimmung pessimistischer als gesondert auszuweisen. die osteuropäischen mit 53 Prozent.157 Entsprechend stieg hierfr ist auch eine trennung der Konzepte vor- auch die Zustimmung zu der Forderung, in den nächs- urteilskriminalität und (rechts-)extremismus ntig, ten fnf bis zehn Jahren Antisemitismus vorrangig zu da die gemeinsame Kategorisierung zu stark auf das bekämpfen, auf einer Zehn-Punkt-Skala von 7,5 im Jahre herkmmliche Bild des rechtsextremismus fxiert 2011 auf acht im Jahr 2015 an.158 Trotz dieses wahrge- bleibt, was zu lasten der erfassung von vorurteils- nommenen Ansteigens einer antisemitischen Bedrohung kriminalität fhrt. fhlte sich 2015 die große Mehrheit der Befragten in allen europäischen Ländern gleichermaßen sehr bzw. ziemlich º … die Erfassung des gesamten Verfahrensablaufs sicher (22 Prozent und 63 Prozent), nur neun Prozent von vorurteilsbasierten Delikten im Prozess der gaben an, sich ziemlich unsicher zu fhlen, während sich Strafverfolgung in einer Datenbank. fnf Prozent berhaupt nicht sicher fhlten.159 Die west- neben der Item-bezogenen aufschlsselung der europäischen Befragten haben häufger als die osteuropä- taten sollen hier auch Daten zu den Opfern und ischen direkt Akteure benannt, von denen ihrer Meinung täterinnen und tätern solcher straftaten sowie nach eine ständige bzw. gelegentliche Bedrohung fr zum ausgang von strafverfahren (einstellungen, Juden ausginge: von rechten Nationalisten 67 Prozent vs. anklage- und verurteilungsquoten, verfahrensdauer, 47 Prozent; von marxistischen linken Parteien 60 Prozent strafmaß usw.) erfasst werden. vs. 37 Prozent; von »non-mainstream media« 68 Prozent vs. 48 Prozent; von muslimischen religisen Fhrern º … Fortbildungen fr Polizeibeamte und Verfas- 48 Prozent vs. 14 Prozent.160 sungsschutzmitarbeiterinnen und -mitarbeiter speziell zur Erfassung des antisemitischen Gehalts von Aussagen bzw. Aktionen zum Israel-Paläs- tinenser-Konfikt im Themenfeld Brgerkriege/ Krisenherde anzubieten.

º … die Institutionalisierung der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Exekutivorganen (Polizeibe- hrden, Justiz) und NGOs sowie anderen Initiativen bei der Erfassung antisemitischer Straftaten. In diesem rahmen soll auch geprft werden, ob das in Großbritannien praktizierte Modell des »third

155 Die hauptsächlichen Bedrohungen sahen die Befragten in internen Pro- party reporting« in Deutschland bernommen blemen der jdischen Gemeinschaft, so in der entfremdung vom jdischen werden kann. Gemeindeleben (61 Prozent), in der schwäche jdischer Organisationen (55 Prozent), in der abnahme der jdischen Bevlkerung (54 Prozent) und in gemischten ehen (44 Prozent). ebenda, s. 7. º … die Durchfhrung einer Fallstudie zum Dunkel- 156 Insofern ist die Überschrift (»antisemitismus ist grßte Bedrohung«) ei- feld antisemitisch motivierter Kriminalität. nes kurzen Berichts ber diese studie in der Jdischen allgemeinen, 2.3.2016 irrefhrend, zumal der Bericht selbst dann auf die als noch wichtiger erachte- º … die unabhängige Evaluierung des PMK-Erfas- ten internen Probleme jdischen lebens in europa hinweist (www.juedische- allgemeine.de/article/view/id/24838). sungssystems mit einer Überprfung der theoreti- 157 american Joint Distribution committee, third survey, s. 22 f. schen Grundlagen. vor allem die verwendeten Defnitionen und die vier 158 ebenda, s. 15 und 13. Dimensionen (1) Deliktqualität, (2) Phänomenberei- 159 ebenda, s. 7 und 21. che, (3) themenfelder und (4) extremistische Quali- 160 ebenda, s. 23. leider erfolgt hier keine auswertung nach einzelnen tät sowie deren anwendung in der ermittlungspraxis westeuropäischen ländern, doch drfte die zahl der in jedem einzelnen land Befragten zu niedrig sein, um hier statistisch verlässliche aussagen treffen zu sollen berprft werden. knnen.

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4 Antisemitische Einstellungen in der Bevlkerung

4.1 einleitung – antisemitismus empirische Studie vor, die antisemitische Einstellungen in Bevlkerungsumfragen in der deutschen Bevlkerung umfassend untersucht.164 Wenn, dann wird Antisemitismus lediglich als ein Element in einer Bandbreite menschenfeindlicher bzw. rechtsex- Offener Antisemitismus ist in Deutschland offziell tremer Einstellungen erhoben. Dadurch ist die Erfassung geächtet, und die deutsche Mehrheitsbevlkerung hält zwangsläufg begrenzt. Es werden nur jeweils einige die Gesellschaft im Großen und Ganzen fr nicht sehr ausgewählte Facetten von Antisemitismus mit einer sehr antisemitisch. In einer repräsentativen Umfrage der Ber- begrenzten Anzahl von Items erhoben, und nicht in jedem telsmann Stiftung aus dem Jahr 2013 waren 77 Prozent der Erhebungsjahr wird die gleiche Bandbreite von Facetten Deutschen der Auffassung, nur eine geringe Zahl der Bun- bercksichtigt, was Vergleiche und das Nachzeichnen von desbrger bzw. kaum jemand in Deutschland sei negativ Entwicklungen erschwert. gegenber Juden eingestellt. Während nur 19 Prozent den Antisemitismus als weitverbreitet einschätzen, zeigt die Mit Ausnahme der ALLBUS-Studie165 werden die bislang Befragung von Juden in Deutschland 2016 (→ Jdische vorliegenden Umfragen durch private Stiftungen gefr- Perspektive) eine vllig andere Einschätzung: hier halten dert. Forschung zum Antisemitismus wird zumeist, wenn 76 Prozent den Antisemitismus in Deutschland fr ein berhaupt, nicht als Grundlagenforschung, sondern stets eher bzw. sehr großes Problem, von dem zudem 78 Pro- mit dem Fokus auf Prävention gefrdert, wobei dabei die zent meinen, er habe in den letzten fnf Jahren etwas bzw. Generierung neuer Erkenntnisse zunächst in den Hinter- stark zugenommen.161 Während Antisemitismus also von grund tritt. Es fehlt ein regelmäßiges, umfassenderes, vom weiten Teilen der deutschen Bevlkerung in der Regel weit Bund fnanziertes Monitoring antisemitischer Einstel- von sich gewiesen wird, beklagen gleichzeitig 77 Prozent: lungen, es fehlt an Forschungsfrderung zum Thema »In Deutschland darf man nichts Schlechtes ber Auslän- Antisemitismus und an der breiteren Repräsentation und der und Juden sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu Verankerung der (auch empirischen) Antisemitismusfor- werden.«162 Studien belegen weiterhin ein Fortbestehen schung an deutschen Universitäten und Hochschulen. von zumindest latentem Antisemitismus, der, so auch das Kritisch formuliert: Deutschland leistet es sich, nicht Zwischenfazit der zitierten Studie der Bertelsmann Stif- genauer wissen zu wollen, wie antisemitisch die Gesell- tung, von Zeit zu Zeit offen hervorbricht. Der inzwischen schaft eigentlich ist. auch in Deutschland offenkundig werdende Rechtspo- pulismus und die Entstehung neurechter Gruppierungen Im folgenden Kapitel berichten wir ber das, was an ist – auch wenn hier aktuell Juden (noch) nicht im Fokus aktuellen Befunden repräsentativer Umfragen zur Ver- der Abwertung stehen – ebenfalls eng mit Antisemitismus breitung antisemitischer Einstellungen in der deutschen verknpft, sei es ber die Verbreitung von Verschwrungs- Bevlkerung vorliegt. Wir geben Hinweise auf Entwick- theorien, vermittelt ber Antiamerikanismus und Anti- lungen sowie auf die Verbreitung von Antisemitismus in kapitalismus, oder ber die gesunkene Hemmschwelle, verschiedenen Bevlkerungsgruppen und verweisen auf soziale Gruppen offen abzuwerten.163 mgliche Bedingungs- und Erklärungsfaktoren. Insbeson- dere werden neuere Ergebnisse aus den letzten vier Jahren Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und ab dem Zeitpunkt des Erscheinens des Berichts des ersten dieser vereinzelt publizierten Befunde ist es umso bemer- UEA vorgestellt. Die Befunde knnen letztlich auch fr die kenswerter, wie selten antisemitische Einstellungen in Ausrichtung von Interventionsmaßnahmen von Bedeu- der breiten Bevlkerung thematisiert werden und wie tung sein. Unsere Empfehlung eines regelmäßigen, vom wenig Forschung es dazu gibt. So liegt keine neuere große

164 ausnahme sind die regelmäßig von der anti-Defamation league durch- gefhrten studien, die wichtige hinweise auf die verbreitung von antisemiti- 161 steffen hagedorn/roby natanson, Deutsche und Israelis heute. ver- schen einstellungen geben. Die studien sind mit einer stichprobengrße von bindende vergangenheit, trennende Gegenwart, Gtersloh 2015, s. 38, und blicherweise n = 500 streng genommen nicht repräsentativ und erfassen kaum andreas zick u.a., expertise »Jdische Perspektiven« fr den Uea 2016. weitere Bedingungs- und erklärungsfaktoren. 162 Beate Kpper/andreas zick/Daniela Krause, Pegida in den Kpfen – wie 165 Bei der allBUs-studie handelt es sich um eine allgemeine Bevlke- rechtspopulistisch ist Deutschland?, in: andreas zick/Beate Kpper, wut, ver- rungsumfrage der sozialwissenschaften, die als repräsentative Querschnitts- achtung, abwertung. rechtspopulismus in Deutschland. hrsg. von ralf Melzer/ befragung seit 1980 regelmäßig im abstand von zwei Jahren erhoben wird. Dietmar Molthagen fr die Friedrich ebert stiftung, Berlin 2015. Bestandteil der Befragung sind konstante und variable Fragen zu sozialen la- 163 zum zusammenhang von aktuellem rechtspopulismus und antisemitis- gen, einstellungen, werten und verhaltensweisen in Deutschland, http://www. mus siehe z.B. zick/Kpper, wut. ratswd.de/forschungsdaten/fdz-allbus (eingesehen 23. 12. 2016).

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Bund fnanzierten Monitorings in Form einer repräsen- Repräsentative Befragungen bilden zudem die Bevlke- tativen Bevlkerungsbefragung unter Bercksichtigung rung in ihrer Sozialstruktur ab. Einstellungen in besonde- besonderer Bevlkerungsgruppen schließt sich hieran ren sozialen Milieus, die gemessen an der Gesamtbevlke- an.166 Das Kapitel schreibt die Befunde, die im Bericht des rung nur eine vergleichsweise kleine Zahl von Personen ersten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus vor- umfassen, knnen in einer Repräsentativerhebung mit der gestellt wurden, fort und ergänzt sie. Zuvor wird in einem blichen Stichprobengrße von 1000 bis 2000 Befragten kurzen Exkurs die Methodik von Bevlkerungsumfragen daher in der Regel nicht abgebildet werden. Dies betrifft skizziert, um diese noch einmal transparent zu machen z.B. antisemitische Einstellungen in radikalen Milieus und die Einordnung und Interpretation der nachfolgend (z.B. rechtsextremen, linksextremen oder islamistischen berichteten Befunde zu erleichtern. Milieus), in kleinen religisen Subgruppen (z.B. evangeli- kalen) oder in Subgruppen, die durch mehrere sozialde- Exkurs: Zur Messung von Antisemitismus mografsche Merkmale defniert sind (z.B. junge ostdeut- in Bevlkerungsumfragen sche Männer). Hierber knnen nur gezielte Befragungen dieser Milieus Auskunft geben bzw. sind andere methodi- Ergebnisse aus repräsentativen Bevlkerungsumfragen sche Herangehensweisen notwendig. Die standardisierte sind ein Baustein neben anderen, die Hinweise auf die Vorgehensweise hat zugleich den Nachteil, keine tieferen Verbreitung, Erscheinungsformen und Zusammenhänge Assoziationen oder neuen Aspekte, die nicht zuvor schon von Antisemitismus geben. Während Statistiken ber im Fragebogen enthalten waren, erfassen zu knnen. Straftaten sowie die Beobachtungen, Erlebnisse und Studien, die qualitative methodische Zugänge nutzen Wahrnehmungen von Betroffenen Hinweise auf einzelne (blicherweise werden hier einige wenige, aber ausfhr- Vorkommnisse und Taten geben, die von einer ver- liche Einzelinterviews gefhrt), knnen darauf besser gleichsweise kleinen Anzahl von Personen verbt werden, reagieren, haben jedoch ihrerseits den Nachteil, keine Aus- vermitteln Bevlkerungsumfragen einen Eindruck des kunft ber Verbreitungen, Verläufe usw. geben zu knnen. Ausmaßes von Antisemitismus in der breiten Bevlke- Fr eine abschließende Bewertung von Antisemitismus in rung. Befunde aus repräsentativen Bevlkerungsumfragen der Bevlkerung ist eine Gesamtbetrachtung von Befun- sind, wie alle Studien, durch ihr je spezifsches methodi- den, die mit unterschiedlichen methodischen Zugängen sches Vorgehen mitbestimmt. gewonnen wurden, sinnvoll und angemessen.

Zur Reichweite repräsentativer Bevlkerungsumfragen Warum kommen unterschiedliche Studien zu unter- schiedlichen Ergebnissen? Die Reichweite von Bevlkerungsumfragen, die antise- mitische Einstellungen erfassen, ist auf das begrenzt, was Die Ergebnisse, die auf Bevlkerungsumfragen basieren, quantitative Einstellungserhebungen generell leisten sind – dies gilt auch fr Aussagen ber die Verbreitung knnen. Sie ist zudem durch ihren jeweiligen inhaltlichen von Antisemitismus in der Bevlkerung – nicht zuletzt Fokus eingegrenzt. Die Interviewdauer und damit nicht von der jeweils gewählten Erhebungsmethode beeinfusst. zuletzt auch die Detailliertheit der Erfassung sind durch Dazu zählen im Wesentlichen die Befragungsmethode die zur Verfgung stehenden fnanziellen Mittel und die (face-to-face oder telefonisch), die Methode zur Ziehung Auskunftsbereitschaft der Befragten eingeschränkt. In den der Stichprobe, die bercksichtigten Einstellungsfacetten, vorliegenden Studien zu weiter gefassten Themen werden die Operationalisierung (d.h. welche Items zur Erfassung immer nur ausgewählte Facetten mit einer sehr begrenz- verwendet werden und wie diese formuliert sind), die ten Anzahl von Fragen erhoben. Skalierung (v.a., ob eine Antwortskala mit oder ohne mitt- lerem Wert vorgegeben wird) und gegebenenfalls auch die Bei der Durchfhrung von Bevlkerungsumfragen wird Thematik und Dynamik des Gesamtfragebogens bzw. die ganz berwiegend mit standardisierten Fragebgen Position, die die interessierenden Aussagen im Verlauf der gearbeitet. Die Vorteile liegen in der Vergleichbarkeit Befragung haben (in welchem grßeren Themenkomplex ber einen längeren Zeitraum bzw. ber unterschiedli- und nach welchen anderen Fragen werden die interessie- che sozialdemografsche Milieus hinweg und der Mg- renden Aussagen platziert). lichkeit, wichtige, empirisch abgesicherte Hinweise auf Trends, Bedingungsfaktoren usw. liefern zu knnen. Zur Erfassung antisemitischer Einstellungen in Bevl- kerungsumfragen werden den Befragten blicherweise Aussagen (Items) vorgelegt bzw. vorgelesen, denen sie 166 Das Kapitel basiert im wesentlichen auf der expertise »verbreitung von zustimmen oder die sie ablehnen knnen. Zur Abstufung antisemitismus in der deutschen Bevlkerung«, mit der Prof. Dr. andreas zick, leiter des Instituts fr interdisziplinäre Konfikt- und Gewaltforschung der Uni- der Antworten stehen zumeist entweder eine vier- oder versität Bielefeld und seine Mitarbeiterinnen silke Jensen, Julia Marth, Daniela eine fnf- bzw. siebenstufge Skala zur Verfgung. Wird Krause und Geraldine Dring durch den Uea beauftragt wurde, und fr die aktuelle Befunde aus großen Bevlkerungsumfragen zusammengetragen bzw. eine Antwortskala ohne mittleren Wert verwendet – dies empirische analysen vorliegender Datensätze durchgefhrt wurden. ist bei einer vierstufgen Skala der Fall – sind die Befragten

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gezwungen, sich zu positionieren. Entsprechend hher gesellschaftlichen Normen, nach denen Antisemitismus fallen hier die Zustimmungswerte aus. Steht eine Ant- geächtet sei.170 In Studien zum Phänomen des ethnischen wortskala mit mittlerem Wert (oft als »teils-teils« oder Rassismus bzw. des Antisemitismus konnte der Einfuss »stimme teilweise zu« benannt) zur Verfgung, wird diese von Bedingungen, die die soziale Erwnschtheit befrder- von vielen Befragten genutzt. Entsprechend variiert der ten oder aber hemmten, auf die Äußerung von Rassismus jeweils in Publikationen berichtete Anteil der Zustim- nachgewiesen werden.171 Auch in der Mitte-Studie 2014 mung zu Antisemitismus in der Bevlkerung. Genauere der Friedrich Ebert Stiftung (FES) wird deutlich: Befragte, Analysen legen allerdings nahe, dass die Wahl der mittle- die motiviert sind, sich vorurteilsfrei zu verhalten, äußern ren Antwortmglichkeit »teils-teils« eher fr die Tendenz in der Befragung weniger klassischen und sekundären »Zustimmung« steht.167 Die Zustimmung bzw. Ablehnung Antisemitismus. Hingegen scheint der israelbezogene wird also auf einem Kontinuum gemessen, das von klarer Antisemitismus weniger tabuisiert zu sein und wird Ablehnung bis hin zu deutlicher Zustimmung reicht. Es weitgehend unbeeinfusst von der sozialen Norm der ist keine wissenschaftliche Frage, sondern eine Frage der Vorurteilsfreiheit als Mittel der Umwegkommunikation Entscheidung des Forschers bzw. des jeweiligen Rezipien- geäußert.172 ten, welcher Grad an Zustimmung zu antisemitischen Aussagen als Hinweis auf eine alarmierende Einstellungs- tendenz gewertet wird. 4.1.1 Operationalisierung antisemitischer Einstellungen Das Phänomen der sozialen Erwnschtheit In den vorliegenden Befragungen werden blicherweise Die Erfassung von Einstellungen in Bevlkerungsumfra- die folgenden Facetten des Antisemitismus (→ Defnition) gen erfolgt in der Regel reaktiv, d.h. es wird den Befragten erhoben:173 zu Beginn offengelegt, dass ihre Einstellungen erfasst werden. Daher sind die Ergebnisse auch davon beeinfusst, Klassischer Antisemitismus was die Befragten bereit sind preiszugeben. Da es sich beim Antisemitismus um ein als heikel empfundenes Diese Facette summiert in der Regel Aussagen zu antise- Thema handelt, wird gegen die Ergebnisse von Umfrage- mitischen Verschwrungstheorien ber den »zu großen studien häufg eingewandt, die Verbreitung von antisemi- Einfuss von Juden in der Welt«. Einige Studien erfassen tischen Einstellungen in der Bevlkerung wrde aufgrund hier auch die in Deutschland inzwischen kaum noch des Phänomens der sozialen Erwnschtheit systematisch vorkommende, altmodische Form des christlich-religis unterschätzt.168 Soziale Erwnschtheit bezeichnet die Ten- argumentierenden Antisemitismus, wonach Juden an der denz, nach der Menschen bei Befragungen ihre Antworten Ermordung von Jesus Christus schuld seien oder christli- an sozialen Normen ausrichten, d.h. an dem, was sie als che Kinder ermordeten. Außerdem werden hierunter z.T. bereinstimmend mit sozialen Normen erachten. Im Fall Aussagen gefasst, die Juden eine Mitschuld an der eigenen der Abwertung sozialer Gruppen wird angenommen, die Verfolgung zuschreiben. Das rhetorische Mittel der vorherrschende soziale Norm forderte Akzeptanz. Ent- Umkehr von Täter und Opfer wird hier besonders deutlich, sprechend wrden Befragte ihre Vorurteile eher zurck- fndet sich aber auch in anderen Facetten wieder.174 haltend äußern. Dies gelte insbesondere fr Personen, die motiviert sind, vorurteilsfrei zu erscheinen.169 Auch im Fall von Antisemitismus wird vermutet, Befragte unterdrckten ihre negativen Einstellungen zu Juden, 170 werner Bergmann/rainer erb, Kommunikationslatenz, Moral und ffent- liche Meinung. theoretische Überlegungen zum antisemitismus in der BrD, in: weil sie annehmen, diese widersprächen den geltenden Klner zeitschrift fr soziologie und sozialpsychologie, 38 (1986) 2, s. 223–246; dies., »Mir ist das thema Juden irgendwie unangenehm«. Kommunikations- latenz und die wahrnehmung des Meinungsklimas im Fall des antisemitismus, in: Klner zeitschrift fr soziologie und sozialpsychologie, 43 (1991) 3, s. 502. 167 Oliver Decker/Johannes Kiess/elmar Brähler, Die stabilisierte Mitte. 171 Ulrich wagner/andreas zick, the relation of Formal education to ethnic rechtsextreme einstellungen in Deutschland, leipzig 2014, s. 60. Prejudice: Its reliability, validity, and explanation, in: european Journal of soci- 168 Diese annahme geht von der existenz eines »wahren wertes« aus, der al Psychology, 25 (1995), s. 41–56. lediglich von vielfältigen einfussfaktoren, u.a. auch der sozialen erwnscht- 172 vgl. zum Konzept der Umwegkommunikation Bergmann/erb, Kommuni- heit, berschattet wird. Diese annahme eines »wahren wertes« wird allerdings kationslatenz, Moral und ffentliche Meinung. nicht von allen Methodikern geteilt, sondern es wird argumentiert, einstellun- gen seien immer auch von den jeweiligen Bedingungen abhängig und knnten 173 Die wortlaute der verwendeten Items fnden sich in tabelle 2 und der nicht losgelst davon betrachtet und erfasst werden. Kritisch dazu u.a. hartmut expertise von zick. Die Begriffichkeit folgt hier den vorgaben der studien zur esser, Knnen Befragte lgen? zum Konzept des »wahren wertes« im rahmen »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« (GMF), die sich von den im Ge- der handlungstheoretischen erklärung von situationseinfssen bei der Befra- samtbericht verwendeten Begriffichkeiten und typologien (→ Defnition) un- gung, Mannheim 1986, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-66357 terscheidet. (eingesehen 23. 12. 2016). 174 Diese Klassifzierung umfasst also die aspekte des religisen, politischen, 169 rainer Banse/Bertram Gawronski, Die skala Motivation zu vorurteilsfrei- sozialen und nationalen antisemitismus, die von uns in diesem Bericht unter em verhalten: skaleneigenschaften und validierung, in: Diagnostica, 49 (2003), die »klassischen Ideologieformen des antisemitismus« (→ Defnition) gezählt s. 7–13. werden.

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Sekundärer Antisemitismus sie messen recht gut das, was sie vorgeben zu messen. Dennoch knnen einzelne Fragen/Items von einigen der Hier werden Aussagen in Bezug auf den Holocaust ver- Befragten anders als intendiert verstanden werden und wendet, die Juden ein Ausnutzen der Position als Verfolgte eine Zustimmung dann nicht zwingend antisemitische unterstellen. Es wird in diesem Zusammenhang häufg Einstellungen widerspiegeln. Aus diesem Grund werden eine Täter-Opfer-Umkehr deutlich. Außerdem wird in bei der Operationalisierung blicherweise immer mehrere einigen Studien hierunter auch die Forderung nach einem Items, die das gleiche Konstrukt messen sollen, zu einer Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit der natio- Skala zusammengefasst und diese statistisch auf ihre nalsozialistischen Vergangenheit bzw. mit dem Holocaust Qualität hin geprft (z.B. werden die Antworten auf drei summiert. Items, die sekundären Antisemitismus erfassen, zu einer reliablen Mittelwert-Skala »sekundärer Antisemitismus« Israelbezogener Antisemitismus175 zusammengefasst).

Dieser wird blicherweise mit Aussagen erfasst, die eine Zweifel, ob eine Zustimmung immer berechtigterweise Kritik an der Politik Israels unter Verwendung antise- als ein Indiz fr antisemitische Einstellungen gewertet mitischer Bezge äußern. Dazu gehrt u.a. die Verwen- werden kann, zeigen sich v.a. bei Aussagen im Bereich des dung antisemitischer Assoziationen, die Kennzeichnung sekundären Antisemitismus. Dies gilt z.B. fr das Item: einer als negativ bewerteten Politik Israels als »typisch »Ich ärgere mich darber, dass den Deutschen auch heute jdisch« und die daraus abgeleitete Rechtfertigung der noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.« Abneigung gegenber Juden, der Vergleich Israels mit dem Hier wird argumentiert, dass Befragte schlicht berdrs- National sozialismus und das Infragestellen der Existenz- sig sind, mit dem schrecklichen Thema der Verfolgung berechtigung Israels. Die Studien des Bielefelder Instituts und Ermordung der europäischen Juden konfrontiert fr interdisziplinäre Konfikt- und Gewaltforschung (IKG) zu werden. Es knnte aber auch eine Verschiebung der versuchen, von dieser antisemitischen Israelfeindlichkeit Bedeutung dieses Items ber die Generationen stattge- eine nicht-antisemitische Kritik an der Politik Israels funden haben: Während bei Älteren eine Verärgerung abzugrenzen. Empirisch lässt sich eine solche Abgrenzung ber die Konfrontation mit der Verfolgung und Ermor- weitgehend nachvollziehen und bestätigen.176 Die Nacher- dung gegebenenfalls noch aus Antisemitismus gespeist hebung der Mitte-Studie 2014 der FES legt zudem nahe, war, mag dies bei der jngeren Generation heute nicht dass die hohe Emotionalität, die in den fr die Kritik an mehr der Fall sein.178 In der Tat fndet sich hierfr auch Israel verwendeten Items zum Ausdruck kommt, durch- empirische Bestätigung.179 Dennoch schwingen durch die aus als ein Zeichen von Antisemitismus gewertet werden Zustimmung zu Items, die Begriffe wie »Ärger« und »ich kann. Insbesondere das Item »Ich werde wtend, wenn bin es leid« verwenden und damit aggressive Emotionen, ich daran denke, wie Israel die Palästinenser behandelt« die Generierung als »Opfer«180 sowie die Relativierung zeigt eine Doppelladung auch auf dem Faktor Antisemi- von Schuld beinhalten, antisemitische Einstellungen mit. tismus.177 Hinterfragt wird auch, inwieweit sich in einer Kritik an der Politik Israels Antisemitismus spiegelt bzw. inwieweit eine nicht-antisemitische von einer antisemitischen »Isra- 4.1.2 Messen alle Fragen/Items elkritik« durch die verwendeten Operationalisierungen tatsächlich Antisemitismus? trennscharf erfasst werden kann. Ein Beispiel hierfr ist

Die Fragen/Items, die zur Erfassung von antisemitischen 178 In der studie der Bertelsmann stiftung von 2015 stimmten hier 79 Pro- Einstellungen verwendet werden, sind in der Regel auf zent der 18–29-Jährigen und 71 Prozent der 30–39-jährigen, hingegen nur ihre Zuverlässigkeit und Gltigkeit hin geprft, d.h. 58 Prozent der ber 60-Jährigen zu. antisemitischen aussagen stimmten aber die jngeren altersgruppen deutlich seltener zu als die ältesten Kohorten (stef- fen hagemann/roby nathanson, Deutschland und Israel heute. verbindende vergangenheit, trennende Gegenwart, Gthersloh 2015, s. 26 und 41). 175 Dies ist der in den GMF-studien benutzte Begriff. Im 1. Kapitel dieses 179 eigene auswertungen der Fes-nacherhebung 2014 fr den vorliegen- Berichts wird fr diese Form des antisemitismus der Begriff »antizionistischer den Bericht zeigen bei jungen Befragten unter 30 Jahren eine deutlich schwä- antisemitismus« benutzt. chere ladung der beiden Items, die zur erfassung der Forderung nach einem 176 Die 5-faktorielle Faktorenstruktur wurde mithilfe einer simultanen schlussstrich verwendet wurden, auf dem Faktor »antisemitismus«, als dies bei konfrmatorischen Faktorenanalysen anhand der Daten der nacherhebung Befragten ab 30 Jahren der Fall ist. anders gesagt: Die Forderung nach einem zur Fes-Mitte-studie 2014 geprft. Der Modellft ist befriedigend (cFI=.966; schlussstrich hängt bei Jngeren deutlich weniger mit anderen aussagen zum rMsea=.060; Pclose =.174; srMr=.044). Die Faktorladungen liegen zwischen antisemitismus zusammen als bei älteren (verwendete Items zur erfassung der .61 und .82; siehe dazu auch aribert heyder/Julia Iser/Peter schmidt, Israel- Forderung nach einem schlussstrich: »Ich ärgere mich darber, dass den Deut- kritik oder antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien schen auch heute noch die verbrechen an den Juden vorgehalten werden« und und tabus, in: wilhelm heitmeyer (hrsg.), Deutsche zustände. Folge 3, Frank- »Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen verbrechen an den Juden zu furt a.M. 2005, s. 144–165. zu diesem ergebnis kommt auch das Forschungs- hren«). projekt von wilhelm Kempf, Israelkritik zwischen antisemitismus und Men- 180 hier ließe sich allerdings auch einwenden, dass bereits die antwortvorga- schenrechtsidee. eine spurensuche, Berlin 2015. ben die aggressiven emotionen enthalten, also nicht direkt von den Befragten 177 siehe expertise zick u.a. 2016, s. 37. ins spiel gebracht werden.

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etwa das zur Erfassung von Antisemitismus im Gewand sind ein wichtiger, aber nicht der einzige Baustein zur der NS-vergleichenden »Israelkritik« verwendete Item: Gewinnung von Erkenntnissen ber Antisemitismus in »Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, der Bevlkerung. ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.« Hier º Abweichungen in der methodischen Umsetzung von knnte schlicht nicht eine antisemitische Einstellung fr Befragungen erschweren einen Vergleich von Ergeb- die Zustimmung zu diesem Item ausschlaggebend sein, nissen aus verschiedenen Studien. Zustimmungen zu sondern die durchaus verbreitete Neigung, etwas, das einzelnen Aussagen und gegebenenfalls Abweichungen man besonders schlimm fndet, mit NS-Vergleichen zu sollten nicht berinterpretiert werden. berziehen. º Das Phänomen der sozialen Erwnschtheit fhrt in der Die statistische Prfung bestätigt allerdings fr die Daten Regel zu einer geringeren Zustimmung zu klassischem der FES-Mitte-Studie 2016 eine eindimensionale Struktur Antisemitismus und einer hheren Zustimmung zu aller erhobenen antisemitischen Aussagen (klassischer subtileren Formen, was sich auch als Kommunikati- Antisemitismus, sekundärer Antisemitismus und isra- onslatenz beschreiben lässt. Modernere Facetten, wie elbezogener Antisemitismus) und erlaubt damit eine der sekundäre Antisemitismus, der ber den Holocaust Interpretation aller dieser Aussagen als Antisemitismus.181 kommuniziert wird, und der israelbezogene Antisemi- Einzig die Aussage »Israel fhrt einen Vernichtungskrieg tismus, der im Gewand einer Kritik an Israel, die jedoch gegen die Palästinenser« (nicht erfasst in 2016, aber in antisemitisch aufgeladen ist, daherkommt, unterliegen der Nacherhebung zur FES-Mitte-Studie 2014) zeigt weniger der sozialen Ächtung und werden daher offener neben dem Zusammenhang mit den anderen Aussagen kommuniziert. zur Erfassung des Antisemitismus zugleich auch einen engen Zusammenhang mit den Items zur Erfassung einer nicht-antisemitischen Kritik an Israel. Dies spricht dafr, dass diese Aussage von einigen Befragten eher als 4.2 aktuelle Bevlkerungsumfragen eine harsche Kritik an Israel verstanden wird, ohne aber zu antisemitischen einstellungen zugleich auch zwangsläufg ein Ausdruck von Antisemitis- mus zu sein. Fr die anderen Aussagen zur Erfassung des israelbezogenen Antisemitismus gilt dies allerdings nicht. Bislang gibt es in Deutschland kein regelmäßiges, umfas- sendes Monitoring von antisemitischen Einstellungen. Es º Alle Aussagen, die zur Erfassung von Antisemitismus in liegen derzeit jedoch zwei große repräsentative Bevl- derzeit vorliegenden repräsentativen Studien verwendet kerungsumfragen vor, die seit 2002 regelmäßig Facetten werden, hängen so eng zusammen, dass sie eine einzige antisemitischer Einstellungen erfassen und Entwicklun- Dimension bilden, die als Antisemitismus interpretiert gen nachzeichnen. Darber hinaus gibt es einige weitere werden kann – das gilt fr Aussagen zum klassischen repräsentative Befragungen, die zusätzlich Auskunft ber ebenso wie fr sekundären und israelbezogenen spezifsche Facetten bzw. die Situation in einzelnen Erhe- Antisemitismus. In Einzelfällen kann die Zustimmung bungsjahren geben knnen. als Kritik an Israel verstanden werden, ohne zwingend antisemitische Konnotation. Die empirischen Befunde Es werden im Folgenden Ergebnisse aus den unten auf- bestätigen jedoch einen engen Bezug v.a. des NS-Ver- gefhrten repräsentativen Bevlkerungsumfragen, die gleichs der Politik Israels zu Antisemitismus. das Thema Antisemitismus bercksichtigen, berichtet, in denen jeweils rund 2000 Personen befragt wurden. º Repräsentative Bevlkerungsumfragen geben Hinweise Methodische Details fnden sich in den Publikationen der auf die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Studien bzw. in der Expertise, die diesem Bericht zugrunde der Bevlkerung, mssen aber immer auch vor dem liegt. Abb. 4.1 gibt eine Übersicht ber die verschiedenen Hintergrund der Reichweite und den Mglichkeiten Erhebungszeitpunkte. von Bevlkerungsumfragen interpretiert werden. Sie

181 alle fnf in der Fes-Mitte-studie 2016 verwendeten antisemitischen aussagen einschließlich zweier aussagen zur erfassung des israelbezogenen antisemitismus aus dem ehemaligen survey zur GMF sowie die drei Items der traditionell in den Mitte-studien verwendeten aussagen laden deutlich auf ei- nem Faktor der durchgefhrten explorativen Faktorenanalyse (ein extrahierter Faktor mit eigenwert > 1, erklärte varianz 59 Prozent, alle ladungen a > .6), die interne Konsistenz ist hoch (cronbachs alpha = .89).

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Abb. 4.1: Repräsentativerhebungen, die Antisemitismus miterheben 2002–2016182

02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16

FES-Mitte Leipziger-Mitte GMF ZuGleich Allbus Bertelsmann

Die FES-Mitte-Studie, die 2014 und 2016 von Andreas Zick Erhebungsjahr 2014 wurden die Daten unter dem neuen vom IKG der Universität Bielefeld durchgefhrt wurde, Label Leipziger-Mitte-Studie publiziert.185 Im Erhebungs- setzt zum einen die vorherigen Studien fort und bietet jahr 2016 wurde die Studie von der Heinrich Bll Stiftung, zum anderen inhaltlich eine Fortsetzung der Langzeit- der Rosa Luxemburg Stiftung und der Otto Brenner Stiftung studie »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«.183 gefrdert.186 Die Befragung erfolgte face-to-face jeweils im Letztere wurde ber einen Zeitraum von zehn Jahren Frhjahr. 2013 und 2015 wurden zudem im Rahmen der von 2002 bis 2011 mit jährlichem Erhebungsrhythmus »ZuGleich-Studie«, die vom IKG der Universität Bielefeld unter Leitung von Wilhelm Heitmeyer ebenfalls am IKG durchgefhrt wurde und die von der Mercator Stiftung durchgefhrt.184 Bedingt durch die inhaltliche Zusammen- gefrdert wird, einige Fragen zur Erfassung von Antisemi- fhrung werden antisemitische Einstellungen aus jeweils tismus bercksichtigt.187 Es handelt sich ebenfalls um eine beiden Studientraditionen erhoben, mit Unterschieden Telefonbefragung. Ferner liegt eine Studie der Bertels- in der genauen Formulierung der Items und Skalierung. mann Stiftung in Deutschland und Israel mit bislang drei Die Befragung erfolgt telefonisch jeweils im Frhsommer, Erhebungszeitpunkten (2007, 2013 und 2014)188 sowie drei zusätzlich wurde nach dem Gaza-Konfikt im Septem- Befragungen von ALLBUS aus den Jahren 1996, 2006 und ber 2014 eine Zusatzbefragung nur zum Antisemitismus 2012189 vor, in denen ebenfalls einige Facetten antisemiti- mit einer streng genommen nicht-repräsentativen, aber scher Einstellungen erfasst wurden. dennoch gemessen an den sozialdemografschen Merk- malen vergleichbaren Stichprobe von n=500 Befragten Darber hinaus wurden einige große Befragungen von durchgefhrt. Bei der Stichprobenziehung werden auch jungen Menschen bzw. Schlerinnen und Schlern Handynummern bercksichtigt, sodass hier auch jngere durchgefhrt, die neben anderen Inhalten auch Antise- Milieus abgebildet werden. mitismus bzw. die Einstellung zu Juden erfassen. Dies ist zum einen die Studie des Kriminologischen Forschungsin- Die Leipziger-Mitte-Studie von Elmar Brähler und Oliver stituts Niedersachsen, in der rund 40.000 Jugendliche u.a. Decker, unter Beteiligung weiterer Autoren, erfasst seit zu rechtsextremen und antisemitischen Einstellungen 2002 in zweijährigem Rhythmus rechtsextreme Einstel- befragt wurden und deren Ergebnisse bereits im Bericht lungen in der Bevlkerung. Beide Autoren haben 2006 und des ersten UEA angesprochen wurden. Darber hinaus 2012 die Mitte-Studie im Auftrag der FES durchgefhrt. Im haben Frindte u.a. eine große Studie zur Lebenswelt junger Muslime in Deutschland vorgelegt, in der ebenfalls

182 Fr die Jahre 2006–2012 gab es nur eine »Mitte-studie«, gefrdert durch die Fes und durchgefhrt von dem autorenteam um elmar Brähler und Oliver Decker, die ab 2014 unter dem label leipziger-Mitte-studie publiziert haben. 2014 und 2016 wurde die Fes-Mitte-studie dann unter leitung von andreas zick vom IKG an der Universität Bielefeld durchgefhrt. hier wurden zusätzlich Items erfasst, die zuvor in der GMF-studie unter leitung von wilhelm heit- meyer erhoben wurden, sodass hier ebenfalls vergleichbare Daten ab 2002 vorliegen. In der leipziger-Mitte-studie wird lediglich der klassische antisemi- tismus erfasst. In den brigen studien werden in allen bzw. einigen erhebungs- 185 Decker/Kiess/Brähler, Die stabilisierte Mitte. jahren auch sekundärer und israelbezogener antisemitismus bercksichtigt. 186 Oliver Decker/Johannes Kiess/elmar Brähler (hrsg.), Die enthemmte Mit- Details in der expertise von zick u.a., (2016), tabelle 3. te. autoritäre und rechtsextreme einstellungen in Deutschland, Gießen 2016. 183 andreas zick/anna Klein, Fragile Mitte – Feindselige zustände. rechts- 187 andreas zick/Madlen Preuß unter Mitarbeit von wilhelm Berghan/ extreme einstellungen in Deutschland, hrsg. von ralf Melzer fr die Friedrich niklaas Bause, zugehrigkeit und (Un)Gleichwertigkeit. ein zwischenbericht. ebert stiftung, Bonn 2014. andreas zick/Beate Kpper/Daniela Krause, Gespal- studie im auftrag der Mercator stiftung, IKG, Bielefeld 2014. tene Mitte – Feindselige zustände. rechtsextreme einstellungen in Deutsch- land, hrsg. von ralf Melzer fr die Fes, Bonn 2016. 188 hagemann/nathanson, Deutschland und Israel heute. 184 Die langzeitstudie wurde durch ein stiftungskonsortium unter Federfh- 189 Martina wasmer/Michael Blohm/Jessica walte/evi scholz/regina Jutz, rung der volkswagenstiftung und unter Beteiligung der Freudenberg stiftung Konzeption und Durchfhrung der »allgemeinen Bevlkerungsumfrage der und der Marga und Kurt Mllgaard stiftung fnanziell gefrdert. sozialwissenschaften« (allBUs) 2012. GesIs technical report 2014/22.

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einige Einstellungen zu Juden erfasst wurden.190 Das von 4.3 Befunde zur verbreitung Wilhelm Kempf geleitete und von der Deutschen For- antisemitischer einstellungen schungsgemeinschaft (DFG) gefrderte Forschungsprojekt »Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte in der Bevlkerung und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus« (2009–2012) hat sich v.a. auf den Zusammenhang von Die FES-Mitte-Studie und die Leipziger-Mitte-Studie Antizionismus und »Israelkritik« mit den verschiedenen sind aus der Tradition der Forschung zum Rechtsextre- Facetten des Antisemitismus wie auch mit palästinenser- mismus heraus entwickelt worden. Sie haben zum Ziel, feindlichen und islamophoben Ressentiments konzent- rechtsextreme Einstellungen zu messen, darunter als riert (s. u.).191 eine Dimension auch den klassischen Antisemitismus. Fr die Ergebnisdarstellung in den Publikationen zu In der FES-Mitte-Studie und der Leipziger-Mitte-Studie diesen Studien wird, der Zielsetzung folgend, ein stren- wird der klassische, auf antijdischem Verschwrungsden- ges Kriterium gewählt, um den Anteil von Befragten ken und Stereotypen beruhende Antisemitismus mit den mit eindeutig rechtsextremen bzw. antisemitischen identischen drei Aussagen erfasst, fr die eine fnfstufge Einstellungen zu ermitteln. Nur Befragte, die auf der Antwortskala zur Verfgung steht. In der FES-Mitte-Stu- fnfstufgen Antwortskala zu allen drei Aussagen ihre die wird, die Tradition der Langzeitstudie GMF fortfh- deutliche Zustimmung abgeben (also mindestens »ber- rend, der klassische Antisemitismus noch einmal mit wiegend« oder »voll und ganz« zustimmen), werden auf etwas anderen Items und einer vierstufgen Antwortskala der Dimension »Antisemitismus« ausgewiesen. Entspre- erhoben. Ergänzend wurde im Erhebungsjahr 2016 auch chend gering ist der Prozentsatz der Befragten, die dort als der sekundäre und der israelbezogene Antisemitismus antisemitisch erscheinen. Allerdings geben viele andere bercksichtigt, fr die ebenfalls eine vierstufge Antworts- Befragte ebenfalls ihre Zustimmung zu mindestens einer kala vorgegeben wurde. Diese werden ebenfalls in der oder sogar zwei der Aussagen oder lehnen mit der Wahl ZuGleich-Studie erfasst, hier jedoch mit einer fnfstufgen der Antwortalternative »teils-teils« eine antisemitische Antwortskala. Alle fr ein jeweiliges Konstrukt verwende- Aussage nicht deutlich ab. Im vorliegenden Bericht sind ten Items wurden zu (Mittelwert-)Skalen mit zufrieden- aber nicht nur die extremen Ausprägungen von Antisemi- stellender bis guter Reliabilität zusammengefasst, was die tismus von Interesse, sondern auch die Tendenzen, da sie Zuverlässigkeit der Messung bestätigt.192 wichtige Hinweise fr die Einschätzung zur Verbreitung von Antisemitismus in der Bevlkerung und fr den Inter- º Die Beobachtung von Antisemitismus anhand repräsen- ventionsbedarf geben. Die FES-Mitte-Studien 2014 und tativer Bevlkerungsumfragen ist dadurch erschwert, 2016 erheben zudem Antisemitismus in der Tradition der dass antisemitische Einstellungen nur begrenzt und GMF-Studie mit zusätzlichen Items mit vierfach gestuften sporadisch als eines unter vielen anderen Themen Antwortkategorien. Die ZuGleich-Studie gibt eine fnffa- erfasst werden. che Antwortmglichkeit vor, bei der jeweils nur die Enden bezeichnet sind.

Das Ausmaß der Zustimmung zu antisemitischen Aussagen ist in den verschiedenen Studien aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsmethoden (u.a. einer unterschiedlichen Skalierung der Antwortkategorien) nur begrenzt vergleichbar. Auch das Ausmaß der Zustimmung zu verschiedenen Facetten von Antisemitismus ist nur mit Vorsicht zu vergleichen, weil die verwendeten Aussagen ggf. unterschiedlich hart bzw. weich formuliert sind, sodass eine Zustimmung zu einzelnen Aussagen schwerer oder leichter fällt. Es lassen sich aber dennoch Hinweise auf die Verbreitung und die Ausdrucksform von Antisemi- tismus ableiten.

190 wolfgang Frindte/Klaus Boehnke/henry Kreikenbom/wolfgang wagner 4.3.1 Ausmaß und Entwicklung (hrsg.), abschlussbericht »lebenswelten junger Muslime in Deutschland«: ein sozial- und medienwissenschaftliches system zur analyse, Bewertung und Prä- antisemitischer Einstellungen vention islamistischer radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutsch- land, Berlin 2011. Die repräsentativen Umfragen zeigen in den vergangenen 191 Kempf, Israelkritik. 15 Jahren fr die deutsche Gesamtbevlkerung einen kon- 192 Fr Details siehe expertise von zick u.a., tabelle 4. tinuierlichen Rckgang bei den klassisch-antisemitischen

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Einstellungen, der sich auch 2016 fortsetzt. So liegt die Auch die Zustimmung zu sekundärem Antisemitismus ist Zustimmungsrate zu klassischem Antisemitismus, der rckläufg. Hier stimmen noch 26 Prozent eindeutig zu Juden »zu viel Einfuss« unterstellt und mit antisemi- (FES-Mitte-Studie 2016). Beim israelbezogenen Antise- tischen Stereotypen arbeitet, 2016 nur noch bei rund mitismus ist das Bild weniger deutlich (FES-Mitte-Studie fnf Prozent, 2002 lag diese noch bei rund neun Prozent 2016). Die Entwicklung antisemitischer Einstellungen seit (Leipziger-Mitte-Studie und FES-Mitte-Studie 2016). 2002 ist in Abb. 4.2 nachgezeichnet.

Abb. 4.2: Entwicklung antisemitischer Einstellungen im Zeitverlauf 2002–2016

16 14,6 14,6 GMF-Studie 14 FES-Studie 12,7 12,6 12 Leipziger Mitte

10 10 9,8 9,9 9,3 9,1 9 8,7 8,6 8,5 8 8,4 8,3 8,1

6 5,8 5,1 4,8 4

2

0 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2014 2016

4.3.2 Zustimmung zu einzelnen Facetten antisemitischen Einstellungen tendieren, wenn moderne antisemitischer Einstellungen Facetten und die häufg gewählten »teils-teils« Antworten mitbercksichtigt werden, die im Zweifelsfall eher eine Die auf den ersten Blick heute vergleichsweise niedrige- Zustimmung signalisieren. Die aktuellen Zustimmungs- ren Zustimmungswerte zum klassischen Antisemitismus werte zu einzelnen Items fnden sich in Abb. 4.3. verdecken, dass nach wie vor viele Deutsche durchaus zu

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Abb. 4.3: Zustimmung zu Antisemitismus 2016/2014193

Zustimmung in Prozent Stimme Stimme Stimme eher Stimme voll Stimme voll berhaupt eher nicht zu/stimme und ganz und ganz zu nicht zu/ zu/lehne teils zu, teils zu/stimme lehne vllig berwiegend nicht zu berwiegend ab ab zu 1 2 3 4 5

Klassischer Antisemitismus auch heute noch ist der einfuss der Juden zu groß. Fes-Mitte-studie 2016 74 12 7 4 4 leipziger-Mitte-studie 2016 43 24 21 8 3 zuGleich-studie 2015/16

Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit blen tricks, um das zu erreichen, was sie wollen. Fes-Mitte-studie 2016 76 11 8 3 3 leipziger-Mitte 2016 51 21 19 8 1 Die Juden haben einfach etwas Besonderes und eigentmliches an sich und passen nicht so recht zu uns. Fes-Mitte-studie 2016 78 10 7 3 2 leipziger-Mitte 2016 51 22 18 8 2

Juden haben in Deutschland zu viel einfuss. Fes-Mitte-studie 2016 78 13 5 4 zuGleich-studie 2015/16

Durch ihr verhalten sind Juden an ihren verfolgungen mitschuldig. Fes-Mitte-studie 2016 82 11 5 2 zuGleich-studie 2015/16

Sekundärer Antisemitismus viele Juden versuchen, aus der vergangenheit des Dritten reiches heute ihren vorteil zu ziehen. Fes-Mitte-studie 2016 57 17 15 11

Ich ärgere mich darber, dass den Deutschen auch heute noch die verbrechen an den Juden vorgehalten werden. Fes-Mitte-2014 nacherhebung 29 17 25 30

193 Fr Items, zu denen keine ergebnisse aus 2016 vorliegen, wurden die er- gebnisse der nacherhebung zur Fes-Mitte-studie 2014 ergänzt. Die skalierung ist in den drei studien unterschiedlich; hier ist die skalierung in der reihenfolge der aufgefhrten studien angegeben. von 100 Prozent abweichende angaben durch auf- und abrundungen.

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Zustimmung in Prozent Stimme Stimme Stimme eher Stimme voll Stimme voll berhaupt eher nicht zu/stimme und ganz und ganz zu nicht zu/ zu/lehne teils zu, teils zu/stimme lehne vllig berwiegend nicht zu berwiegend ab ab zu 1 2 3 4 5

Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen verbrechen an den Juden zu hren. Fes-Mitte-2014 nacherhebung 30 21 21 27

Israelbezogener Antisemitismus Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat. Fes-Mitte-studie 2016 39 21 23 17 zuGleich-studie 2015/16

Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer. Fes-Mitte-2014 nacherhebung 52 28 14 6

was der staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die nazis im Dritten reich mit den Juden gemacht haben. Fes-Mitte-2016 53 22 15 9

Israel fhrt einen vernichtungskrieg gegen die Palästinenser. Fes-Mitte-2014 nacherhebung 26 34 26 14

4.3.2.1 zustimmung zu klassischem antisemitismus zumindest nicht ganz abgeneigt, wie die Zustimmung zu der »teils-teils« Antwortkategorie zeigt. Zusammenge- Zum Erhebungszeitpunkt im Frhjahr 2016 (Leipzi- nommen zeigt also ein Drittel der deutschen Bevlkerung ger-Mitte) bzw. im Frhsommer 2016 (FES-Mitte) meinten zumindest antisemitische Tendenzen. Umgekehrt vertritt rund zehn Prozent der Befragten »Auch heute noch ist der rund die Hälfte der Befragten (52 Prozent) ganz deutlich Einfuss der Juden zu groß« (weitere 21 Prozent stimmten keinen klassischen Antisemitismus und stimmt keiner der hier zumindest teils-teils zu). Neun Prozent stimmten dem vorgelegten Aussagen in der Tendenz zu. klassisch antisemitischen Stereotyp eher oder voll zu (wei- tere 19 Prozent teils-teils): »Die Juden arbeiten mehr als In der FES-Mitte-Studie 2016 wurden einige Items zusätz- andere Menschen mit blen Tricks, um das zu erreichen, lich noch einmal mit einer vierstufgen Antwortskala was sie wollen.« Zehn Prozent waren der Ansicht (weitere erhoben, um in Fortfhrung der Studie zur GMF direkte 18 Prozent teils-teils): »Die Juden haben einfach etwas Vergleiche ber die Zeit zu ermglichen. Zum Erhebungs- Besonderes und Eigentmliches an sich und passen nicht zeitpunkt im Frhsommer 2014 meinten 14 Prozent der so recht zu uns.« Im Durchschnitt geben rund zehn Pro- Befragten »Juden haben in Deutschland zu viel Einfuss«, zent der Deutschen ihre Zustimmung zu mindestens zehn Prozent waren der Ansicht »durch ihr Verhalten sind einem Item, das als Indikator fr klassisch antisemitische Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig«. Diese Werte Verschwrungstheorien und Stereotypen gilt, rund jeder sanken 2016 auf neun Prozent (»zu viel Einfuss«) bzw. fnfte Befragte ist antisemitischen Aussagen gegenber sieben Prozent (»mitschuldig«).

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4.3.2.2 zustimmung zu sekundärem antisemitismus und das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird.194 Die hohe Emotionalität, die die vorgebrachte Kritik an Israel Deutlich hher sind die Zustimmungen zu sekundärem häufg begleitet, ist auffällig, und ebenso der offenbar Antisemitismus. In der Nacherhebung zur FES-Mitte-Stu- weitverbreite Drang, besonders Israel harsch und oft zu die im September 2014 äußerten 55 Prozent der Befragten kritisieren, was sich nicht zuletzt schon in der Selbstver- ihren Ärger darber, »dass den Deutschen auch heute ständlichkeit des Begriffs »Israelkritik« offenbart, der in noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden«. dieser Form einzig mit Bezug auf das Land Israel ber- 49 Prozent der Befragten gaben an: »Ich bin es leid, immer haupt vorhanden ist.195 In Deutschland von nichtjdischen wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu Deutschen geäußert, liegt der Verdacht des Versuchs der hren.« Rund die Hälfte der Deutschen vertritt damit auf eigenen Entlastung aus psychologischer Sicht sehr nahe. die eine oder andere Weise, mehr oder weniger explizit die Diese Entlastungsstrategie wird im sekundären wie im Forderung nach einem Schlussstrich. israelbezogenen Antisemitismus deutlich. Der dem israeli- schen Psychoanalytiker Zvi Rix zugeschriebene Satz: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzei- 4.3.2.3 zustimmung zu israelbezogenem hen« bringt dies auf den Punkt. antisemitismus Im Rahmen des GMF-Surveys wurden im Erhebungs- Eine weitere moderne Facette ist der israelbezogene Anti- jahr 2004 Items entwickelt, die eine Kritik an der Politik semitismus. In der Nacherhebung der FES-Mitte-Studie Israels erfassen sollen, die ohne antisemitische Untertne 2014 vertraten 28 Prozent der Befragten die Auffassung, auskommt.196 Diese Items waren auch Bestandteil der »bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, Nacherhebung zur FES-Mitte-Studie 2014, d.h. es wurde dass man etwas gegen Juden hat«. Dieser Wert stieg in jeweils sowohl der israelbezogene Antisemitismus als der FES-Mitte-Studie 2016 auf 40 Prozent an. 27 Prozent auch eine zunächst »neutrale« Kritik an Israel erfasst. Im meinten: »Was der Staat Israel heute mit den Palästinen- nächsten Schritt wurde dann die Überschneidung empi- sern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was risch geprft. Dies lässt sich als Indiz deuten, wie häufg die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.« Kritik an Israel doch zumindest auch aus antisemitischen Im Jahr 2016 stimmten hier 24 Prozent zu. Motiven gespeist ist bzw. wie Antisemitismus mitschwingt. Nicht prfen lässt sich in diesem Zusammenhang die º In der breiten Bevlkerung ist die offene Zustimmung begleitende hohe Emotionalität. Es wurde jedoch eben- zu Antisemitismus weiter rckläufg. Aber nach wie vor falls eine Kritik am politischen Handeln der Palästinen- fnden sich dort antisemitische Tendenzen. ser erfasst, um einen Anhaltspunkt zu haben, inwieweit Befragte, die Kritik an Israel äußern, ggf. kriegerische º 2016 gaben zusammengefasst sechs Prozent der deut- Auseinandersetzungen generell ablehnen. schen Bevlkerung ihre Zustimmung zu klassischem Antisemitismus, 26 Prozent zu sekundärem Antisemi- Zum Erhebungszeitpunkt 2004 stimmte eine berwäl- tismus und 40 Prozent zu israelbezogenem Antisemitis- tigende Mehrheit einer z.T. sehr emotionalen Kritik an mus (FES-Mitte-Studie 2016). Israel zu.197 Im Jahr 2014 waren dies nicht mehr ganz so viele Befragte, aber es stimmten immer noch 60 Prozent (2004: 82 Prozent) der Befragten der Aussage zu: »Ich 4.3.3 Israelbezogener Antisemitismus werde wtend, wenn ich daran denke, wie Israel die und »Israelkritik« Palästinenser behandelt«, und 69 Prozent (2004: 86 Pro- zent) sagten: »Es ist ungerecht, dass Israel den Palästi- Der Vorwurf hält sich hartnäckig, jegliche Kritik an Israel nensern Land wegnimmt.« Zusammengefasst lassen sich wäre sanktioniert, ausgedrckt in dem so oder ähnlich geäußerten Satz: »Wenn man Israel kritisiert, wird man 194 U.a. Monika schwarz-Friesel/evyatar Friesel/Jehuda reinharz, aktueller gleich als Antisemit beschimpft.« Der Zentralrat der Juden antisemitismus als ein Phänomen der Mitte – zur Brisanz des themas und der und viele andere weisen immer wieder darauf hin, dass Marginalisierung des Problems, in: Monika schwarz-Friesel/evyatar Friesel/ eine Kritik an Israel nicht per se antisemitisch sei. Sie ist Jehuda reinharz (hrsg.), aktueller antisemitismus. ein Phänomen der Mitte, Berlin 2010, s. 1–14. jedoch dann antisemitisch, wenn sie mit antisemitischen 195 hier wird das Gegenargument vorgebracht, Israel msse sich als Demo- Stereotypen aufgeladen ist, Vergleiche zum Nationalso- kratie nun einmal besonders strenge Maßstäbe gefallen lassen. ausgeklammert zialismus herstellt, in denen sich die fr den Antisemitis- wird dabei erstens, dass so gut wie keine staatengrndung auch der heute de- mus so typische Umkehr von Tätern und Opfern spiegelt mokratischen staaten ohne verdrängungen, Ungerechtigkeiten oder gar Krieg auskam, und zweitens, und dies besonders augenfällig, die explizite Bedro- hungslage Israels dabei schlicht unerwähnt bleibt. 196 heyder/Iser/schmidt, Israelkritik oder antisemitismus?, s. 144–165. 197 expertise von zick/Kpper fr den ersten Uea: andreas zick/Beate Kp- per, antisemitismus in Deutschland. Im auftrag des Uea und des BMI, 2011.

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ber diese beiden Aussagen im September 2014 nach in den Extrembereichen bereinstimmen, sodass stark dem letzten Gaza-Konfikt 55 Prozent der Befragten als antisemitisch eingestellte Personen auch stark antizio- »israelkritisch« identifzieren, 2004 waren dies noch ber nistisch eingestellt sind und umgekehrt diejenigen, die 80 Prozent.198 Nicht ganz so viele Befragte, aber auch eine Antisemitismus besonders deutlich ablehnen, dies auch große Mehrheit (76 Prozent), äußerte sich 2004 kritisch hinsichtlich des Antizionismus tun.200 Fr den mittleren gegenber den Palästinensern; 67 Prozent der Befragten Bereich gilt z.T. aber die umgekehrte Korrelation: Die anti- äußerten damals Kritik an beiden Seiten. zionistische Einstellung ist umso stärker, je »mehr sich die Probanden gegen antisemitische Vorurteile wenden«.201 Deutlich wurde im Jahr 2004 und noch einmal etwas Dies bildet sich sehr genau in den politischen Parteiprä- weniger ausgeprägt im Jahr 2014: Eine harsche Kritik an ferenzen ab: Während die Wähler der extremen rechten Israel muss nicht immer mit Antisemitismus einhergehen, Parteien sowohl am stärksten antisemitisch als auch tut dies aber häufg doch. Dazu wurde geprft, wieviele antizionistisch/israelfeindlich sind, so zeigen die Wähle- der Befragten, die eine harsche Kritik an Israel ben, rinnen und Wähler der Grnen in beiden Dimensionen zugleich auch einer antisemitischen Aussage zustim- sehr niedrige Zustimmungswerte. Die Wählerinnen und men: 80 bis 90 Prozent der Befragten von 2004, die einer Wähler der Partei Die Linke wiederum liegen bezglich der zunächst nicht antisemitisch konnotierten Kritik an Israel antisemitischen Einstellungen im Mittelfeld bzw. lehnen zustimmen, äußerten damals zugleich ihre Zustimmung die sekundär-antisemitische Schlussstrichforderung sogar zu mindestens einer Facette von Antisemitismus. In der am häufgsten ab, zeigen aber hinsichtlich des Antizionis- Nacherhebung zur FES-Mitte-Studie 2014 gaben noch mus/israelbezogenen Antisemitismus und der generalisie- 55 Prozent der Befragten, die Kritik an Israel zustimmen, renden »Israelkritik« die zweithchsten Werte.202 ihre Zustimmung auch zu mindestens einer weiteren Facette von Antisemitismus einschließlich des israelbezo- º Kritik an Israel ist nicht immer, aber häufg ein Indiz fr genen Antisemitismus bzw. 53 Prozent dieser Befragten Antisemitismus. stimmten mindestens einer weiteren Dimension von Antisemitismus ohne direkten Bezug zu Israel zu. 4.3.4 Antisemitische Einstellungen vor und nach Wilhelm Kempf kann in seinen aufwändigen Skalenana- dem Gaza-Konfikt im Sommer 2014 lysen zeigen, dass zwar die Facetten des traditionellen und sekundären Antisemitismus gleichwertige Indikatoren fr Der Sommer 2014 war von den Auseinandersetzungen die antisemitische Einstellungsdimension bilden, dies gilt des Gaza-Konfikts bestimmt. Parallel dazu gab es in ganz jedoch nicht fr die generalisierende »Israelkritik« und Deutschland Demonstrationen, auf denen berwiegend den politischen Antizionismus, die sich nicht vollständig Israel fr den Ausbruch des Konfikts verantwortlich unter das Konzept des Antisemitismus subsumieren las- gemacht wurde. Während der Demonstrationen zeigte sen.199 Seine empirischen Analysen zeigen, dass »Israel- sich offener Antisemitismus, sowohl unter den Demons- kritik« und Antizionismus einerseits aus antisemitischen tranten als auch seitens der Personen, die am Rande die Überzeugungen heraus vertreten werden knnen, zum Demonstrationen beobachteten, sich aber nicht aktiv anderen aber auch, weil man die israelische Politik und daran beteiligten. den politischen Zionismus etwa aus einer Menschen- rechtsorientierung heraus ebenso ablehnt wie antisemi- In der FES-Mitte-Studie 2014 wurde die Haupterhebung tische Einstellungen. Antisemitismus und Antizionismus im Frhsommer kurz vor dem Ausbruch des Gaza-Kon- sind deshalb fr Kempf zwar miteinander korrelierende, fikts durchgefhrt. Nach Ende der kriegerischen, heißen jedoch verschiedene Einstellungsdimensionen, die nur Phase des Konfikts sollte eine Nacherhebung im Septem- ber bei ber 500 Befragten Hinweise auf mgliche Verän- derungen im Ausmaß von Antisemitismus ermitteln. Die 198 hierzu wurden beide Items zu einer Mittelwertskala zusammengefasst. Befragte mit einem wert von >2.5 wurden als »israelkritisch« eingestuft. In der expertise von zick/Kpper (2011) wurde ein etwas weniger konservatives Krite- 200 Kempf, Israelkritik, s. 153. In einer Pressemitteilung vom 26.4.2016, un- rium von >=2.5 gewählt. aus diesem Grund sind hier die angaben fr 2004 leicht terscheidet Kempf vier Formen der einstellung zu Israel: Untersttzung der abweichend. israelischen Politik (26 Prozent); latent antisemitische vermeidung von »Isra- 199 Kempf, Israelkritik, s. 119 ff. In seiner Pressemitteilung zu seinem Buch elkritik« (11 Prozent); antisemitische »Israelkritik« (26 Prozent) und menschen- »antisemitismus und Israelkritik« vom 26.4.2016 weist Kempf die annahme rechtsorientierte »Israelkritik« (38 Prozent). zurck, »wonach antizionismus eine spielart von antisemitismus ist«. […] zwar 201 ebenda, s. 153. gehen antisemitische und antizionistische einstellungen häufg hand in hand, doch gibt es auch eine nicht unerhebliche anzahl von leuten, die zwar antizio- 202 ebenda, s. 150 und 171. Kempf hat in seiner studie ein komplexes Modell nistisch eingestellt sind, jegliche art von antisemitischen vorurteilen aber strikt des israelisch-palästinensischen Konfikts entwickelt, in dem sowohl kognitive zurckweisen« (s. 2). Die ergebnisse einer nichtrepräsentativen studie, die links elemente (israel- bzw. palästinenserfeindliche ressentiments, wissen ber den eingestellte Personen fokussiert (218 teilnehmer, darunter 187 als linksradikal Konfikt und erklärungsmodelle – war and Peace Frames – fr den Konfikt) eingestuft), widersprechen diesem Befund, (Maximilian elias Imhoff, antisemi- wie auch emotionale Komponenten (emotionale nähe zum Konfikt, Beziehun- tismus in der linken. ergebnisse einer quantitativen Befragung, Frankfurt a.M. gen zu einer der beiden Konfiktparteien usw.) bercksichtigt werden (ebenda, 2011, s. 139). s. 191 ff.).

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Datenlage ermglicht leider nur einen begrenzten direk- Rassismus, der ein besonders gut untersuchtes Phänomen ten Vergleich, da in der Haupterhebung im Frhsommer ist und in dessen Kontext viele Präventionsansätze entwi- lediglich der klassische Antisemitismus erfasst wurde. Der ckelt wurden, die auch fr die Bekämpfung von Antisemi- Vergleich ist insofern konservativ, als dass auch im Verlauf tismus hilfreich sein knnten. Aus dieser Perspektive her- der Haupterhebung, die z.T. vor Ausbruch, z.T. noch aus wurde Antisemitismus im Rahmen der GMF-Studie als während des Konfikts lief, leicht erhhte Werte feststell- ein Element der GMF verstanden und empirisch geprft. bar waren. Deutlich wird: Der klassische Antisemitismus nahm in der kurzen Zeit vom Frhsommer auf Spätsom- mer 2014 signifkant zu. Vor bzw. während des Konfikts 4.4.1 Zusammenhang mit Elementen stimmten ca. 14 Prozent der klassisch antisemitischen »Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« Aussage zu: »Juden haben in Deutschland zu viel Ein- fuss.« Im September 2014 stieg die Zustimmung leicht an Empirisch wird ein signifkanter Zusammenhang von auf 15 Prozent. Auffallend ist der Anstieg bei der Schuld- antisemitischen und abwertenden Einstellungen gegen- zuweisung, in der sich die typische Täter-Opfer-Umkehr ber anderen sozialen Gruppen auf mittlerem Niveau wiederfndet. Rund zehn Prozent der Befragten stimmten deutlich.203 Besonders eng ist der empirische Zusam- der Aussage zu: »Durch ihr Verhalten sind Juden an ihren menhang von Antisemitismus mit Fremdenfeindlichkeit, Verfolgungen mitschuldig.« Der Anteil der Zustimmung ethnischem Rassismus, der Abwertung von Muslimen stieg im September 2014 auf 18 Prozent. Im Vergleich und Homophobie.204 Das bedeutet, viele Befragte, die zur letzten Erhebung der GMF-Langzeitstudie 2011 sank antisemitischen Einstellungen zustimmen, neigen auch zu hingegen der Anteil von Befragten, die israelbezogenem Rassismus und Sexismus, zur Abwertung von Eingewan- Antisemitismus zustimmten, von 43 Prozent (2011) auf derten, Asylsuchenden, Roma, Muslimen, aber auch von 23 Prozent (2014). homosexuellen Menschen usw. In Prozent ausgedrckt, stimmen z.B. 44 Prozent der Befragten, die zu Antisemi- Die Studie der Bertelsmann Stiftung ermglicht einen Ver- tismus neigen, auch fremdenfeindlichen Einstellungen gleich der Einstellungen vor und nach dem Gaza-Konfikt zu, 40 Prozent einer Abwertung von Muslimen, 40 Prozent zwischen 2013 und Oktober 2014. Hier nahm der Anteil an Homophobie und 36 Prozent dem klassischen Sexismus Personen, die eine ziemlich oder sehr schlechte Meinung sowie 26 Prozent einem ethnischen Rassismus; 62 Prozent ber Israel äußern, von 48 Prozent auf 56 Prozent zu. Ein der Befragten fordern »Etabliertenvorrechte«. Signifkante leichter Anstieg von 56 Prozent auf 60 Prozent zeichnet Zusammenhänge auf mittlerem Niveau lassen sich nicht sich auch bei der Forderung nach einem Schlussstrich nur fr klassischen, sondern ähnlich hoch auch fr sekun- unter die Vergangenheit ab. Hier nimmt umgekehrt aber dären und israelbezogenen Antisemitismus feststellen.205 die Zustimmung zur klassisch antisemitischen Unterstel- lung, der »Einfuss der Juden auf der Welt sei zu groß«, von 30 Prozent auf 23 Prozent ab, und auch die Zustimmung 4.4.2 Soziale Distanz zur NS-vergleichenden Kritik an Israel fällt von 45 Prozent auf 38 Prozent. Eine weitere Dimension, in der sich die Akzeptanz einer gesellschaftlichen Gruppe ausdrckt, ist die soziale Es zeigt sich kein klares Bild, inwieweit Antisemitismus Distanz, d.h. die subjektiv empfundene Entfernung zu nach dem Gaza-Konfikt 2014 zugenommen hat. Es gibt einer Person oder Gruppe. Es wird angenommen, dass die sowohl Indizien fr einen Anstieg als auch fr ein Absin- soziale Distanz, die man zwischen sich und den Mitglie- ken. dern einer bestimmten Gruppe gewahrt sehen will, ein Ausdruck von Vorurteilen gegenber dieser Gruppe ist. Soziale Distanz wird in den Sozialwissenschaften mit Fragen zur Akzeptanz von Gruppenmitgliedern ermittelt, 4.4 zusammenhänge von die die Zustimmung/Ablehnung unterschiedlich enger antisemitismus mit verwandten Konstrukten

Antisemitismus ist in vielerlei Hinsicht ein besonderes Phänomen. Dennoch lassen sich Zusammenhänge empi- 203 vgl. expertise zick u.a., tabelle 8. risch nachzeichnen, die Hinweise auf Unterschiede und 204 vgl. auch hohe Korrelationen zwischen negativen einstellungen zu sinti Ähnlichkeiten von Mustern der Abwertung, Ausgrenzung und roma, Juden, schwarzen, Muslimen, Osteuropäern und asylbewerbern in der studie: zwischen Gleichgltigkeit und ablehnung. Bevlkerungseinstellun- und Verfolgung verschiedener sozialer Gruppen geben gen gegenber sinti und roma, expertise fr die antidiskriminierungsstelle des und Implikationen fr die Prävention, von Antisemitis- Bundes, vom zfa und vom IvKF e.v., Berlin 2014 (2. aufage), s. 72 ff. mus beinhalten. Dazu gehrt insbesondere der ethnische 205 eigene analysen der Daten der Fes-Mitte-studie 2014 fr diesen Bericht.

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Abb. 4.4: »Wie angenehm oder unangenehm wäre Ihnen eine Person der folgenden Gruppen als Nachbar?« (eher–sehr unangenehm – Skalenwerte 5–7) (in Prozent)

35 31 29 30 25 21 20 14 15 10 4 5 5 3 0

Juden Muslime Italiener Sinti+Roma Osteuropäer Schwarze M. Asylbewerber

sozialer Beziehungen messen.206 Zahlreiche Studien zeigen, Differenzwahrnehmung bezglich des Lebensstils dass es eine Hierarchie in der Bewertung ethnischer erhoben hat, bestätigt die Ergebnisse der frheren Studien Minoritäten gibt, die sowohl die Majorität als auch die (Abb. 4.4). Minoritäten kennen, ber die also ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens besteht.207 Die erste Studie, die Während gegenber Italienern, Juden und Schwarzen die sich der Untersuchung ethnischer Hierarchien in Ablehnung als Nachbarn sehr gering ausfällt, steigt die Deutschland widmete, ergab unter den vorgegebenen soziale Distanz gegenber Osteuropäern, Muslimen, Asyl- Gruppen die folgende Rangfolge: Deutsche, deutsche bewerbern bis hin zu Sinti und Roma immer stärker an.209 Juden, Italiener, Trken, Asylbewerber, wobei zwischen deutschen Juden und Italienern nur eine geringe Distanz Die Wahrnehmung von Differenzen zum Lebensstil der lag.208 Eine neue repräsentative Studie, die die soziale abgefragten Gruppen zeigt eine fast identische Hierarchi- Distanz mit Fragen nach der Nachbarschaft bzw. der sierung, wobei der Unterschied von Schwarzen und Itali- enern zu Juden hier etwas stärker ausfällt, was vermutlich der Annahme von Unterschieden in der religisen Praxis 206 Die ursprngliche Bogardus-skala umfasste sieben stufen sozialer Dis- tanz von der einheirat in die Familie bis zum ausschluss einer Gruppe aus dem geschuldet ist (Abb. 4.5). Dies drfte auch fr die hohe eigenen land. siehe: emory s. Bogardus, Measuring social Distances, in: Journal Zustimmung hinsichtlich der Lebensstildifferenzen zu of applied sociology, 9 (1925), s. 299–308. zumeist werden heute aber Fragen zur akzeptanz im Freundeskreis, als nachbarn und als Partner in einer lie- Muslimen verantwortlich sein, während dies im Fall der besbeziehung bzw. die akzeptanz der einheirat in die eigene Familie gewählt. Asylbewerber bzw. Sinti und Roma primär auf eine Diffe- siehe: nicole Jäckle, Die ethnische hierarchie in Deutschland und die legiti- renzwahrnehmung des sozialen Status zurckzufhren ist. mierung der ablehnung und Diskriminierung ethnischer Minoritäten. Über den Konsens in den individuellen vorurteilen von Mitgliedern einer Gesellschaft, Insgesamt gesehen ist die soziale Distanz gegenber Juden Diss. Universität Marburg 2008, s. 231, http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/ gering ausgeprägt. z2008/0475/pdf/dnj.pdf (eingesehen 27.11.2016). 207 louk hagendoorn, Intergroup Biases in Multiple Group systems: the Perception of ethnic hierarchies, in: wolfgang stroebe/Miles hewstone (hrsg.), european review of social Psychology, 6 (1995), s. 199-228. louk hagendoorn/ Jose Pepels, why the Dutch Maintain More social Distance from some eth- nic Minorities than Others: a Model explaining the ethnic hierarchy, in: louk hagendoorn/Justus veenemann/wilma vollebergh (hrsg.), Integrating Im- migrants in the netherlands. cultural versus socio-economic Integration, ash- gate 2003, s. 41–61. 208 Jäckle, ethnische hierarchie, s. 232. In frheren studien wurde eine ähnliche hierarchisierung ermittelt: Italiener, Juden, trken, afrikaner/oder asylbewerber (vgl. alphons silbermann/F.hsers, Der »normale« hass auf die Fremden: eine sozialwissenschaftliche studie zu ausmaß und hintergrnden von Fremdenfeindlichkeit in Deutschland, Mnchen 1995; auf der Basis der Daten der allBUs-Bevlkerungsumfragen von 1996 und 2006: werner Berg- mann/rainer erb, antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland 1996, in: 209 zwischen Gleichgltigkeit und ablehnung, s. 75 f. abweichend von den richard alba/Peter schmidt/Martina wasmer (hrsg.), Deutsche und auslän- abgebildeten werten, die auf der verwendeten 7er-skala nur die extremwerte der – Freunde, Fremde oder Feinde?, Opladen 2000, s. 402–437; werner Berg- der ablehnung bzw. Unterscheidung 6 + 7 einbezogen haben, wird hier auch die mann/verena Mnch antisemitismus im vergleich 1996–2006, in: Jahrbuch fr leichtere Form der ablehnung/Unterscheidung (skalenwert 5) einbezogen. Da- antisemitismusforschung, 21 (2012), s. 325–369. her liegen die werte hier etwas hher als in der studie.

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Abb. 4.5: »Was meinen Sie, wie stark unterscheiden sich die in Deutschland lebenden Gruppen in ihrem Lebensstil von der Mehrheit?« (eher–sehr stark – Skalenwerte 5–7) (in Prozent)

60 50 50 46 47

40

30 20 20 11 10 4 7 0

Juden Muslime Italiener Sinti+Roma Osteuropäer Schwarze M. Asylbewerber

Wie auch im Fall dergruppenbezogenen Einstellungen 2016: Korrelation mit neurechten Einstellungen r=.42, mit (Kapitel 4.4.1) korrelieren die Antworten zur sozialen AfD-Sympathie r=.22). Distanz gegenber den genannten Gruppen sehr hoch miteinander.210 4.4.4 Zusammenhang mit Antiamerikanismus, Kapitalismus- und Globalisierungskritik 4.4.3 Zusammenhang mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus Eine weitere Frage betrifft die Breite des Phänomens des Antisemitismus. Die oben skizzierte Perspektive unter- Im derzeit zu beobachtendem Rechtspopulismus steht die sucht Antisemitismus v.a. als ein Vorurteil. Die sozial- Abwertung von Juden zwar aktuell nicht im Mittelpunkt, psychologische Vorurteilsforschung versteht unter dem ist aber dennoch eng damit verknpft: Wer ein rechtspo- Begriff der »Vorurteile« eine große Bandbreite von Abwer- pulistisches Einstellungsmuster vertritt, das sich durch tungs- und Ausgrenzungsformen. Bereits Gordon Allport Demokratieverachtung, aggressiven Autoritarismus und hat hier die Eskalationsspirale von kleinen beleidigenden die Abwertung von Eingewanderten, Muslimen, Roma Randbemerkungen ber Verleumdung und Vermeidung und Asylsuchenden skizzieren lässt, vertritt häufger auch bis hin zu Diskriminierung, Verfolgung und sogar Ver- antisemitische Einstellungen.211 Zudem korreliert die nichtung beschrieben.213 Insbesondere die deutsche Anti- Zustimmung zu Antisemitismus mit der Zustimmung zu semitismusforschung versteht Antisemitismus z.T. noch anderen Dimensionen rechtsextremer Einstellungen und deutlich breiter als ein viel komplexeres ideologisches lässt sich mit Ausländerfeindlichkeit, Sozialdarwinismus, Phänomen, das sich aus weiteren Verschwrungstheorien der Verharmlosung der NS-Diktatur, nationalem Chau- speist. Hier werden v.a. der Antiamerikanismus, Antikapi- vinismus und der Befrwortung einer rechtsgerichteten talismus, Antiimperialismus und die Globalisierungskritik Diktatur auf einem gemeinsamen, bergeordneten Faktor ins Spiel gebracht. Aus empirischer Sicht ist die Frage inte- abbilden (FES-Mitte-Studie 2016).212 Die Zustimmung zu ressant, wie eng antisemitische Einstellungen mit diesen Positionen der Alternative fr Deutschland (AfD) und neu- Ideologien tatsächlich verknpft sind. rechte Positionen, die Identität und Widerstand betonen und darber vlkische Denkmuster in die Debatte zurck- In den Bevlkerungsumfragen bestätigt sich empirisch bringen, ist empirisch ebenfalls eindeutig mit Antisemitis- eine gewisse Schnittmenge, die aber nicht sehr groß ist:214 mus verknpft (Auswertungen aus der FES-Mitte-Studie Klassischer wie auch israelbezogener Antisemitismus kor- relieren zwar signifkant, aber nicht sehr hoch mit traditi- onellem Antiamerikanismus, der z.B. Amerikanern Ober- 210 ebenda, s. 77. fächlichkeit und Egoismus unterstellt, ebenso mit einem 211 Kpper/zick/Krause, Pegida in den Kpfen. 212 eine fr diesen Bericht durchgefhrte explorative Faktorenanalyse zeigt eindeutige und hohe ladungen von a ≥ .8 aller sechs Dimensionen rechtsext- 213 Gordon w. allport, the nature of Prejudice, cambridge, Ma 1954/1971. remer einstellungen, wie sie von der sogenannten Konsens-Defnition vorge- schlagen und oben aufgefhrt werden. 214 Details vgl. expertise von zick u.a.

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Abb. 4.6: Antisemitismus nach Altersgruppen in Prozent (FES-Mitte-Studie 2016)

35 30 30 24 25

20

15 12

10 8 4 5 5

0 16–30 31–60 >60

klassischer Antisemitismus israelbezogener Antisemitismus

krisenbezogenen Antiamerikanismus, der Amerika eine Einstellungen besaßen, haben diesen heute weitgehend ver- Gefährdung der Weltwirtschaft und sozialen Marktwirtschaft loren. Wenn, dann hat v.a. die Schulbildung einen reduzie- vorwirft (GMF-Survey 2009). Noch schwächer ist der Zusam- renden Einfuss. Zudem schwächt sich in den letzten Jahren menhang mit Kapitalismus- und Globalisierungskritik und der Einfuss des Alters und des Ost/West-Unterschieds ab, den drei oben genannten Facetten von Antisemitismus (Leip- während Männer nach wie häufger antisemitische Einstel- ziger-Mitte-Studie 2014; FES-Mitte-Studie 2016). Insgesamt lungen aufweisen als Frauen. Bei der Frage nach der Rolle erweisen sich Kapitalismuskritik und Antiamerikanismus als sozio-demografscher Faktoren stellt sich auch die Frage keine besonders starken Indikatoren fr Antisemitismus. nach dem Antisemitismus in der migrantischen Bevlke- rung sowie in der »Mitte« der Gesellschaft. º Antisemitismus im Sinne eines Vorurteils gegenber Juden korreliert mit der Abwertung anderer sozialer Gruppen: Wer z.B. fremdenfeindliche Einstellungen 4.5.1 Antisemitismus nach Alter vertritt, teilt mit hherer Wahrscheinlichkeit auch anti- semitische Einstellungen. Zeigten sich bis vor Kurzem v.a. bei älteren Jahrgängen antisemische Einstellungen, so verweisen die aktuellen º Antisemitismus ist mit Rechtspopulismus, Rechtsextre- Studien nur noch auf geringe Unterschiede zwischen alt mismus und neurechten Positionen verknpft. und jung im Ausmaß der Zustimmung zu klassischem Antisemitismus. Aber auch sekundär antisemitische º Die empirischen Befunde empfehlen, zwischen Antise- Einstellungen (→ Defnition), wie etwa die Forderung nach mitismus einerseits, Antiamerikanismus, Kapitalismus- einem Schlussstrich, verzeichnen in den letzten Jahren und Globalisierungskritik andererseits zu unterscheiden einen Anstieg bei den unter 30-Jährigen.215 Beim israelbe- und Letztere nicht als Facetten oder subtile Ausdrucks- zogenen Antisemitismus gibt es kein eindeutiges Entwick- formen von Antisemitismus zu verstehen. lungsmuster. Hier wird aber ein klarer Alterseffekt deutlich: Mit zunehmendem Alter stimmen Befragte häufger zu (Abb. 4.6). 4.5 zur rolle sozio- 215 es scheint inzwischen fraglich, ob die schlussstrichfragen bei den Jn- demografscher Faktoren geren heute noch als ein geeigneter Indikator fr antisemitismus angesehen werden knnen, da neuere studien, wie die Bertelsmann-studie von 2015 (s.25) zeigen, dass die jngeren Generationen, anders als frher, dieser Forderung Eine ganze Reihe von sozio-demografschen Faktoren wie häufger als die älteren zustimmen, aber zugleich seltener antisemitische ein- stellungen aufweisen als letztere. Mglicherweise ist der wunsch nach einem Wohnortgrße, Einkommen, Beruf und Region, die frher schlussstrich in den jngeren Generationen nicht mehr sehr eng mit einem durchaus Einfuss auf die Verbreitung antisemitischer schuldabwehr-antisemitismus verknpft.

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Abb. 4.7: Antisemitismus bei Befragten aus Ost- bzw. Westdeutschland in Prozent (FES-Mitte-Studie 2016)

35 29 30

25 22

20

15 klassischer Antisemitismus israelbezogener Antisemitismus 10 7 5 5

0 berwiegend in berwiegend in Ostdeutschland Westdeutschland aufgewachsen aufgewachsen

4.5.2 Antisemitismus bei Ost-/Westdeutschen neueren Studien nur geringe Unterschiede zwischen den Geschlechtern. In der FES-Mitte-Studie 2016 stimmen Während nach der Wende von 1989 Ostdeutsche zunächst acht Prozent der Männer und vier Prozent der Frauen noch deutlich weniger zu offenem Antisemitismus klassischem Antisemitismus bzw. jeweils 24 Prozent isra- neigten als Westdeutsche, hat sich dieser Unterschied elbezogenem Antisemitismus zu, d.h. Männer und Frauen inzwischen nahezu eingeebnet, in einigen Jahren sogar unterscheiden sich hier nicht. umgedreht. So stimmen 2016 dem klassischen und isra- elbezogenen Antisemitismus in Ostdeutschland sieben respektive 29 Prozent der Befragten, in Westdeutschland 4.5.4 Antisemitismus und Schulbildung fnf respektive 22 Prozent zu (Abb. 4.7). Andere Studien fnden allerdings nach wie vor deutliche Unterschiede mit Allein der Faktor Bildung hat nach wie vor einen deut- hheren Werten in Westdeutschland216. lichen Einfuss auf die Übernahme antisemitischer Einstellungen. Die Zustimmung zu den drei Dimensionen Detailliertere Auswertungen des Erhebungsjahrs 2016 des Antisemitismus fällt umso hher aus, je niedriger nach Unterschieden zwischen einzelnen Bundesländern die formale Schuldbildung ist. Dabei macht offenbar ein sind aufgrund der geringen Fallzahl in den kleinen Bun- hohes Bildungsniveau den entscheidenden Unterschied, desländern nur fr die grßeren Bundesländer aussage- da die Differenzen sowohl zwischen den »hohen« und kräftig. Im Vergleich sind antisemitische Einstellungen in »niedrigen« als auch zwischen den »hohen« und »mitt- Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen etwas geringer leren« Bildungsgruppen hochsignifkant sind, während als in Hessen, Baden-Wrttemberg und Bayern. Dies setzt die Unterschiede zwischen den »niedrigen« und »mitt- den Trend der vorherigen Jahr im Wesentlichen fort (Aus- leren« Gruppen entweder nicht (beim sekundären und wertung fr diesen Bericht der FES-Mitte-Studie 2014 und israelbezogenen Antisemitismus) oder aber wie im Fall des der GMF-Studie 2002–2012). traditionellen Antisemitismus nur schwach signifkant ausfallen. In der FES-Mitte-Studie liegt die Zustimmung zu klassischem Antisemitismus bei Befragten mit niedri- 4.5.3 Antisemitismus und Geschlecht ger Bildung bei neun Prozent, bei Personen mit mittlerem Bildungsstand bei sechs Prozent und bei besser gebildeten Männer neigen beständig etwas stärker zum traditi- bei zwei Prozent (Abb. 4.8). Auch beim israelbezogenen onellen, z.T. auch zu sekundärem Antisemitismus als Antisemitismus tritt der Einfuss der Schulbildung inzwi- Frauen, insgesamt aber fnden sich in den verschiedenen schen klar zutage. In der GMF-Erhebung 2010 zeichnete sich der Einfuss der Bildung v.a. beim klassischen, deut- lich weniger beim israelbezogenen Antisemitismus ab. 216 allBUs, 2006; Kempf, Israelkritik, s. 151.

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Abb. 4.8: Antisemitismus nach Schulbildung in Prozent (FES-Mitte-Studie 2016)

35 33

30

25 22

20 klassischer Antisemitismus 14 15 israelbezogener Antisemitismus 9 10 6

5 2

0 niedrig mittel hoch

Die Schulbildung scheint heute in mehrfacher Weise zu von Vorurteilen wirkt oder aber zumindest z.T. auf einer Reduktion von Vorurteilen im Allgemeinen und Kommunikationslatenz, d.h. das normkonforme Zurck- judenfeindlicher Einstellungen im Besonderen beizu- halten der wahren Einstellung zurckgeht, ist bisher kaum tragen. Häufg werden erst in der Oberstufe Themen wie erforscht. Es fällt aber auf, dass der Effekt der Bildung in Demokratie, Toleranz, Antisemitismus und die natio- etlichen Erhebungen besonders deutlich beim klassischen nalsozialistische Verfolgung und Ermordung der Juden und sekundären Antisemitismus, schwächer aber beim in Deutschland und Europa vertieft behandelt. Längere israelbezogenen Antisemitismus zu beobachten ist. und bessere Ausbildung fhrt zudem zu einer stärkeren normativen Sozialisierung, d.h. zur Übernahme der zent- ralen Werte der demokratischen politischen Kultur,217 zu 4.5.5 Zusammenfassende Analyse sozio- denen auch die Toleranz gegenber anderen ethnischen demografscher Faktoren Gruppen gehrt. Mit längerer Schulbildung steigt auch die Mglichkeit, demokratische Spielregeln wie Debatten, In der Regressionsanalyse wird allerdings deutlich, dass Kompromisse aushandeln und Vertreter und Vertreterin- diese vier genannten demografschen Faktoren insgesamt nen wählen, einzuben. Außerdem ist die Schulbildung nur ber eine sehr geringe Erklärungskraft verfgen. Am auch ein Hinweis auf das Vorhandensein bzw. den Ausbau ehesten spielen diese Faktoren eine Rolle fr die Erklärung kognitiver Fähigkeiten, die wiederum das Denken in des traditionellen, noch etwas weniger fr den sekundären komplexen Zusammenhängen befrdert und gleichzeitig und so gut wie keine fr den israelbezogenen Antisemi- die Bereitschaft, infexible Wahrnehmungsschemata, Ver- tismus.219 Während die Bildung bei den beiden ersten schwrungstheorien und externe Kontrollberzeugungen Facetten noch eine gewisse Bedeutung hat, ist dies fr zu bernehmen, vermindert.218 Inwieweit der Bildungs- letztere kaum der Fall. einfuss tatsächlich positiv in Richtung einer Reduzierung º In der Tendenz zeigen Männer, Ältere und weniger gut

217 wie Frederick weil (the variable effect of education on liberal attitu- Gebildete häufger antisemitische Einstellungen. Die des: a comparative-historical analysis of antisemitism Using Public Opion Unterschiede sind jedoch gering Data, in: american sociological review, 50 [1985], s. 458) einer komparativen analyse des Bildungseinfusses auf liberale einstellungen gezeigt hat, ist die- ser Bildungseffekt in den nach 1945 sozialisierten altersgruppen international º Unter den Älteren ist die Verbreitung antisemitischer verbreitet und nicht auf den antisemitismus begrenzt. er fhrt diesen effekt Einstellungen zurckgegangen, bei den Jngeren auf zwei einfsse zurck: »the length of time a country has had a liberal-de- mocratic regime form, and the degree of religious heterogeneity«. 218 norbert Gtz, Modernisierungsverlierer oder Gegner der refexiven Mo- 219 Gesamtvarianzaufklärung: klassischer antisemitismus 5–15 Prozent; derne? rechtsextreme einstellungen in Berlin, in: zeitschrift fr soziologie, 26 sekundärer antisemitismus 5–10 Prozent; israelbezogener antisemitismus (1997), s. 407. zur Prfung unterschiedlicher erklärungsansätze fr den Bil- 1–3 Prozent (vgl. dazu expertise von zick u.a., tab. 12). In der allBUs-studie dungseffekt auf vorurteile u.a. evelyn hello/Peer scheepers/Peter sleegers, von 2012, in der die vier demografschen Faktoren 15 Prozent der varianz auf- why the More educated are less Inclined to Keep ethnic Distance: an empirical klären knnen, ist der traditionelle antisemitismus eher bei weniger Gebildeten, test of Four explanations, in: ethnic and racial studies, 29 (2002), s. 959–985. bei älteren und bei Männern anzutreffen.

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stagniert der Antisemitismus. Hier zeigt sich ein posi- durchaus zu menschenfeindlichen und rechtsextremen tiver Generationeneffekt, der sich aber nicht einfach Ansichten neigen kann, bestätigen Umfragen immer fortzusetzen scheint. wieder.

º Ost- und Westdeutsche gleichen sich im Ausmaß von Zunächst muss allerdings geklärt werden, was genau »die Antisemitismus zunehmend an. Mitte« ist und welche Annahmen mit der Vermutung, »der Antisemitismus fände sich zunehmend auch in der º Demografsche Faktoren spielen fr die Erklärung von Mitte« verbunden sind. Sind dies alle nicht politisch extre- Antisemitismus insgesamt nur eine geringe Rolle. Wenn, mistischen Brger, hat man Angehrige der brgerlichen dann trägt v.a. eine bessere Schulbildung zu einem Mittelschicht im Blick oder meint man eine quantitative geringeren Ausmaß an traditionellem und sekundärem Zunahme, sodass nun nicht mehr nur Angehrige der Antisemitismus bei, während sie israelbezogenen Anti- politischen Ränder, sondern zunehmend auch solche der semitismus kaum positiv beeinfusst. politischen Mitte antisemitische Einstellungen hegen?223 Oder mchte man damit sagen, dass es eine Zunahme an antisemitischen Äußerungen aus diesem Spektrum gibt?

4.6 antisemitismus der Mitte? Letzteres trifft historisch so nicht zu. Die Umfragen in der Bundesrepublik weisen von jeher und v.a. in frhe- In den letzten Jahren ist das Schlagwort vom »Anti- ren Jahren, in denen die Bevlkerung noch stärker durch semitismus der Mitte« aufgekommen, wonach sich den Einfuss des Nationalsozialismus geprägt war, auf die antisemitische Einstellungen zunehmend in der »Mitte Verbreitung antisemitischer Einstellungen gerade in den der Gesellschaft« ausbreiteten und diese mithin kein konservativ brgerlichen Kreisen und unter Akademikern Phänomen des politisch oder sozial randständiger nach, während etwa in den frhen 1950er-Jahren gerade Gruppierungen seien.220 Stephan Kramer, der ehemalige in der Arbeiterschaft antisemitische Vorurteile weit weni- Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, ger verbreitet waren.224 Dies ist heute mit Blick auf Bildung beschrieb die judenfeindlichen Reaktionen während des und Berufsstatus so nicht mehr der Fall. Antisemitische Gaza-Konfikts 2014 so: »Es gibt eine fortschreitend um Einstellungen waren nach 1945 zudem niemals nur am sich greifende Feindschaft gegen Juden, mehr und mehr extremen rechten Rand anzutreffen, sondern immer auch in der Mitte der Gesellschaft.«221 Umgekehrt wird der ein ber die gesamte Gesellschaft, wenn auch ungleich Verweis auf »die Mitte« auch genutzt, um das Vorhanden- gestreutes Phänomen. Dass sich antisemitische Einstellun- sein rechtsextremer und antisemitischer Einstellungen gen nicht alleine an den politischen Rändern fnden, son- von sich zu weisen, da diese dort nicht anzutreffen sein dern auch in der politischen Mitte unter den Wählern von knnen. Offen bleibt, was unter »Mitte« verstanden wird, CDU/CSU, SPD, Grnen und FDP, ist eine seit Jahrzehnten und genau dies ist die rhetorische Stärke des Begriffs. in empirischen Studien ermittelte Tatsache.225 Mit »Mitte« wird nicht nur die Mehrheit, sondern auch Normalität, keine Abweichung ins Extreme suggeriert, was Im Folgenden berichten wir ber aktuelle Befunde zur den Begriff zugleich gefährlich macht, unterstellt er doch, sozialen, politischen und subjektiven Mitte, die hier zum dass Personen, die sich einer vagen Mitte zuordnen lassen einen sozial anhand von Schichtmerkmalen wie Ein- oder sich dort selbst verorten, keine politisch extremen kommen, Bildung, Beruf, zum anderen politisch ber die Ansichten vertreten knnen. Diese Annahme fndet sich politische Selbstverortung der Befragten bzw. die Partei- dann auch implizit fr den Antisemitismus. Heinz Fromm, enpräferenz und schlicht ber die subjektive Selbstzuwei- der ehemalige Präsident des Verfassungsschutzes, wollte sung zu einer »Mitte« defniert wird. in der Öffentlichen Anhrung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags im Jahre 2008 in der Formel von der Mitte der Gesellschaft eher »einen Begriff in der politi- schen Auseinandersetzung« sehen, »mit dem man irgend- etwas erreichen oder irgendjemanden unter Druck setzen will, er ist aber nicht sehr präzise«.222 Dass die »Mitte« aber 223 Kritisch zur Interpretationsfgur des »extremismus der Mitte«, insbe- sondere zur verwendung der Formel vom »rechtsextremismus der Mitte«, die heute ihren festen Platz in der anti-rechts-Bewegung und der politischen 220 Mitte-studien 2002–2014; schwarz-Friesel/Friesel/reinharz (hrsg.), ak- Publizistik hat, vgl. Michael Kohlstruck, Der rechtsextremismus und die Mitte, tueller antisemitismus. in: henrique richardo Otten/Manfred sicking (hrsg.), Kritik und leidenschaft. vom Umgang mit politischen Ideen, Bielefeld 2011, s. 85–93. 221 zitiert in: »Feindschaft gegen Juden nimmt zu. zentralrat sieht antisemi- tismus in der Mitte der Gesellschaft«, in: Der tagesspiegel vom 27.1.2009. 224 werner Bergmann/rainer erb, Der antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1945–1989. ergebnisse der empirischen Forschung, Opladen 222 heinz Fromm, in: Deutscher Bundestag, 16. wahlperiode, 2008, Proto- 1991. koll 16/70, Innenausschuss, wortprotokoll, 70. sitzung, Öffentliche anhrung, 16.6.2008, vorsitz: sebastian edathy, MdB, ausschussdrucksache, s. 40. 225 vgl. ebenda.

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Abb. 4.9: Antisemitismus nach politischer Selbstpositionierung in Prozent (FES-Mitte-Studie 2016)

50 46 43 45 40 35 30 23 klassischer Antisemitismus 25 20 16 14 14 15 israelbezogener 15 Antisemitismus 10 7 5 0 1 0 links eher links genau in eher rechts rechts der Mitte

4.6.1 Antisemitismus in der sozialen Mitte hchsten Zustimmungswerte (wobei hier eine Konfun- dierung mit dem Lebensalter wahrscheinlich ist und dies Sowohl bei der subjektiven (defniert ber die Selbstein- eher ein Alters- denn ein Effekt des Berufsstatus sein stufung) als auch der objektiven Schichtzugehrigkeit knnte). (defniert ber Bildung, Einkommen und Beruf) zeichnet sich ab: Befragte der sozialen Mitte sind auch auf mitt- lerem Niveau antisemitisch. Diejenigen, die sich selbst 4.6.2 Antisemitismus in der politischen Mitte einer unteren Position in der Gesellschaft zuordnen, ber wenig Bildung, Einkommen oder einen Beruf mit Was den Zusammenhang von politischer Selbstverortung niedrigem Status verfgen, tendieren am stärksten zum auf einer zehn-Punkte-Skala von ganz links bis ganz traditionellen Antisemitismus, während die Befragten, rechts mit dem traditionellen Antisemitismus angeht, so die sich selbst »oben« verorten, die schwächste Zustim- fndet sich in den aktuellen Studien ein Muster, das bereits mung zeigen. Nach den Befunden der Mitte-Studie von in den Untersuchungen der 1980er- und 1990er-Jahre 2014 (nicht erfasst 2016) scheint es gerade der einkom- anzutreffen war: Von links nach rechts nimmt der Antise- mensstarke Anteil der Mittelgruppe zu sein, der ver- mitismus nahezu kontinuierlich zu. Allerdings vertreten gleichsweise am wenigsten traditionell antisemitischen Personen, die sich ganz links einordnen, etwas häufger Aussagen zustimmt.226 Ähnliches fndet sich auch fr den antisemitische Einstellungen als die »eher linken« oder sekundären – und schwächer ausgeprägt – auch fr den »Linksliberalen«. Die Zustimmungswerte derer, die sich israelbezogenen Antisemitismus; hier weist ebenfalls die selbst in der politischen Mitte verorten (und dies sind rund mittlere Einkommensgruppe eine mittlere Zustimmung 60 Prozent der Befragten) liegen zwischen der niedrigeren auf, allerdings ist beim sekundären Antisemitismus der Zustimmung im linken Spektrum und dem hheren im Unterschied zur unteren Einkommensgruppe nicht sig- rechten Spektrum und ähneln jenen »ganz links«. Die nifkant, beim israelbezogenen Antisemitismus weist sie aktuell vorliegenden Studien zeigen im Großen und Gan- weder zur unteren noch zur oberen Einkommensgruppe zen ein ähnliches Bild mit kleinen Abweichungen. In der signifkante Unterschiede auf.227 Bemerkenswert ist ferner: letzten GMF-Studie von 2011 sowie den FES-Mitte-Stu- Arbeitslose Personen fallen in der letzten Leipziger-Mit- dien 2014 und 2016 zeichnet sich ein nahezu linearer te-Studie 2016 nicht durch besonderen Antisemitismus Trend von zunehmendem Antisemitismus von »links« auf, vielmehr haben Hausfrauen und Ruheständler die ber die »Mitte« nach »rechts« ab, der nicht nur fr den klassischen, sondern auch fr den sekundären und den israelbezogenen Antisemitismus deutlich wird. Das Aus- 226 GMF-studie, s. 52. maß der Zustimmung zum klassischen Antisemitismus 227 ein abweichendes ergebnis ergibt sich fr die erweiterung der einkom- geht in der FES-Mitte-Studie 2016 im Vergleich zu 2014 mensmitte auf 80 Prozent der Befragten. Dann sind die Unterschiede zwischen in allen drei Gruppen, also denen, die sich als links oder den einkommensgruppen beim traditionellen und beim israelbezogenen anti- semitismus nicht mehr signifkant, nur beim sekundären antisemitismus sind eher links, als in der Mitte, oder als rechts oder eher rechts signifkante Unterschiede festzustellen (GMF-studie 2011 – expertise, s. 53). einstufen, leicht zurck (Abb. 4.9).

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Abb. 4.10: Antisemitismus nach Parteienpräferenz (Sonntagsfrage) (FES-Mitte-Studie 2016)

50 47 45 38 40 35 27 30 25 20 22 20 19 20 15 15 11 klassischer Antisemitismus 6 5 7 10 2 2 5 israelbezogener 0 Antisemitismus SPD FDP AfD

Die Linke Nichtwähler CDU bzw. CSU

Bndnis 90/Die Grnen

In der Leipziger-Mitte-Studie von 2014 fndet sich kein breiten Bevlkerung ist deutlich am hchsten im rechten Unterschied zwischen der »Mitte« und der »extremen Spektrum ausgeprägt.228 Linken«. Allerdings zeigt sich eine deutlich geringere Ver- breitung im Vergleich mit »eher rechten« und »rechten« Auch mit Blick auf die Parteienpräferenz bestätigt sich Selbsteinstufungen. Beim sekundären Antisemitismus sowohl in der Leipziger- als auch der FES-Mitte-Studie fnden wir ein ähnliches Muster, nur dass hier zwischen 2016 (Abb. 4.10): Antisemitismus fndet sich auch bei den »ganz linken« und »eher linken« kein signifkanter Wählerinnen und Wählern demokratischer Parteien, die Unterschied besteht, wohl aber zu denen, die sich in der sich der »Mitte« zuordnen. Allerdings fällt auf: Potenzielle »Mitte« und rechts davon einordnen. Was den israelbe- Wählerinnen und Wähler der AfD neigen mit Abstand zogenen Antisemitismus angeht, so steigt die Kurve der deutlich mehr zu Antisemitismus als die Wählerinnen und Mittelwerte von links nach rechts nur mäßig an und es Wähler der im Bundestag vertretenen Parteien. Dies bestä- zeigen sich keine signifkanten Unterschiede zwischen tigen auch detailliertere Analysen in der FES-Mitte-Studie den linken Positionen und der »Mitte«. Deutlich hher 2016 zu Sympathisanten der AfD (d.h. Personen, die bei ist die Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitis- der Sonntagsfrage angeben, die AfD wählen zu wollen mus aber im politischen Spektrum rechts der Mitte. Der bzw. die sagen, sie fnden die inhaltlichen Positionen der vielfach behauptete »linke Antisemitismus«, der sich in spezifschen politischen Milieus fnden lässt, kann in den 228 Die empirische studie von Monika Deutz-schroeder/Klaus schroeder, politischen Einstellungen von Befragten aus der breiten linksextreme einstellungen und Feindbilder. Befragungen, statistiken und ana- Bevlkerung, die sich selbst klar »links« positionieren, lysen, Frankfurt a.M. 2016, die eine sehr weite verbreitung von antisemitismus unter linksradikalen und linksextremen in Deutschland feststellt, ist aufgrund nicht nachgewiesen werden – Antisemitismus in der methodischer schwächen, v.a. wegen der Kriterien der einstufung von Perso- nen als linksradikal bzw. linksextrem, in rezensionen mehrfach scharf angegrif- fen worden. christoph David Piorkowski, studie schrt angst vor Gefahr von links. eine neue studie des seD-Forschungsverbundes der Freien Universität ist gefährlich unpräzise. Das ergebnis ist eine einseitige analyse der linken szene in Deutschland, in: Der tagesspiegel vom 28.10.2016; armin Pfahl-traughber, eine nicht berzeugende studie zu linksextremen einstellungen, in: humanistischer Pressedienst vom 15. 8. 2016, http://hpd.de/artikel/nicht-ueberzeugende-stu- die-linksextremen-einstellungen-13420 (eingesehen 14.11.2016). Pfahl-traug- hber schreibt dort: »Ihre linksextremismus-skala basiert nicht auf demokra- tietheoretischen erwägungen, sondern auf jeweiligen lektreeindrcken, was nur ein Grund fr besonders hohe ergebnisse ist, wobei sich die statistischen einzelerkenntnisse auch noch inhaltlich widersprechen.« Die ergebnisse der studie widersprechen zudem allen Befunden der bisherigen Forschung zum zusammenhang von politischer einstellung und antisemitismus. laut schroe- der/schroeder sollen 34 Prozent der als linksextremisten eingestuften Per- sonen der Behauptung zustimmen, »Juden hätten in Deutschland zu viel ein- fuss«. Unter Personen, die als linksradikale eingestuft wurden, waren es noch 16 Prozent. linksradikale/linksextremisten wrden antisemitischen aussagen demnach deutlich häufger zustimmen als der Durchschnitt der Bevlkerung.

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AfD richtig): Nicht nur teilen diese deutlich stärker antise- º Personen, die die AfD präferieren, zeigen eine auffällig mitische Einstellungen als Befragte, die nicht mit der AfD hohe Zustimmung zu allen drei Facetten von Antisemi- sympathisieren, zuletzt sind die antisemitischen Einstel- tismus. lungen unter AfD-Sympathisanten auch im Vergleich zu 2014 angestiegen.229 Über Wähler anderer Parteien, so auch der NPD, kann auf Basis der vorliegenden Daten keine Aussage getroffen werden, hier ist die Stichprobe 4.7 religionszugehrigkeit der bekennenden NPD-Wähler schlicht zu klein. Dennoch und antisemitismus fnden sich hier Hinweise auf ebenfalls sehr hohe Zustim- mungswerte. Im nächsten Abschnitt werden empirische Befunde zum Bei Ost- wie Westdeutschen nimmt Antisemitismus in Zusammenhang zwischen der Religionszugehrigkeit und Abhängigkeit von der politischen Selbstverortung von antisemitischen Einstellungen berichtet. Fr die Situation links ber die Mitte nach rechts zu (keine Interaktion der in Deutschland ist diese Frage zum einen mit Blick auf das Variablen). Es fällt lediglich auf, dass Personen, die sich Christentum von Interesse. Hierzu gibt es v.a. Erkennt- selbst ganz rechts positionieren, im Osten in der Tendenz nisse zum Ausmaß von Antisemitismus unter Katholi- weniger zu Antisemitismus neigen als jene, die sich »eher ken, Protestanten und nichtkonfessionell gebundenen rechts« verorten und deutlich weniger als im Westen. Eine Personen; zu Mitgliedern anderer christlicher Kirchen, politische Positionierung rechts ist im Westen also ganz wie z.B. Freikirchen oder orthodoxen Christen, liegen klar auch mit Antisemitismus verbunden, im Osten nicht bislang nur wenige Informationen vor. Zum anderen (wobei Personen, die sich im Osten dazu bekennen, die stehen insbesondere Muslime im Verdacht, besonders NPD zu wählen, und die im Westen die Republikaner wäh- antisemitisch zu sein. Auch hierzu werden Befunde vorge- len, sehr stark zu einem israelbezogenen Antisemitismus stellt, und es wird die Überschneidung von muslimischer neigen, aber die Stichprobe ist zu klein fr eine zuverläs- Religionszugehrigkeit und Migrationshintergrund bzw. sige Aussage; GMF-Survey 2002-2011). Umgekehrt verhält Herkunftsland/-kultur angesprochen, die es erschwert, es sich mit der nicht eindeutig antisemitischen Kritik an Antisemitismus von muslimischen Migranten, die zudem Israel. Diese nimmt von rechts ber die Mitte nach links berproportional ber eine geringe Schulbildung verf- zu, mit besonders hohen Werten bei Befragten im Osten, gen, eindeutig auf einen Erklärungsfaktor zurckzufh- die sich »ganz links« positionieren. ren.

Auch beim Ausmaß von Antisemitismus und Kritik an Israel in Abhängigkeit der Wahlpräferenz unterschei- 4.7.1 Einfuss der christlichen Religion auf den sich Ost- und Westdeutsche nicht oder kaum. Auch antisemitische Einstellungen Befragte, die im Osten und Westen die Linkspartei präfe- rieren, unterscheiden sich hier nicht. Christlicher Antisemitismus bzw. Antisemitismus, der aus christlichen Überzeugungen rhrt, war in der europäi- º Heutzutage ist Antisemitismus v.a. in unteren Schichten schen Kulturgeschichte lange Zeit präsent (→ Defnition). verbreitet, während die Zustimmung in der Mittel- Zugleich wurde Antisemitismus aber immer auch weltlich schicht, defniert ber Einkommen, Bildung und Beruf, begrndet, sodass er sich aus unterschiedlichen Quellen im Mittelfeld liegt. Ein Anstieg fndet sich hier nicht. speiste und speist. Christlich-religis geprägter Antisemi- tismus manifestiert sich in Deutschland dennoch immer º Antisemitismus fndet sich hingegen auch bei Befrag- noch u.a. in einer Zustimmung von 14 Prozent zu der Aus- ten, die sich selbst der politischen Mitte zuordnen bzw. sage »Juden sind fr den Tod Christi verantwortlich«.230 Parteien der politischen Mitte präferieren. Hingegen spielt die bloße christliche Religionszugehrig- º Personen, die sich selbst »ganz links« einordnen oder keit und das Ausmaß an Religiosität fr das Ausmaß an die Linkspartei präferieren, neigen nicht mehr zu Anti- Antisemitismus in der breiten Bevlkerung in Deutsch- semitismus als Wähler und Wählerinnen der anderen land keine besondere Rolle.231 Vereinzelt ergeben sich demokratischen Parteien. Dies gilt auch fr israelbezo- einige hhere Zustimmungswerte, aber kein klares Muster. genen Antisemitismus.

230 aDl, attitudes toward Jews, 2012. 231 In der GMF-studie aus dem Jahr 2011 gaben 38 Prozent der Befragten an evangelisch und 28 Prozent katholisch zu sein; andere christliche Glaubens- 229 andreas hvermann/eva Groß, Menschenfeindlicher und rechtsext- gemeinschaften stellten ca. 1 Prozent. Das ausmaß selbst eingeschätzter reli- remer – Die veränderungen der einstellungen unter afD-sympathisanten giosität differiert zwischen Ost- und westdeutschland: 18,5 Prozent der west- zwischen 2014 und 2016, in: zick/Kpper/Krause (hrsg.), Gespaltene Mitte – deutschen gaben an, »berhaupt nicht religis« zu sein, der anteil lag bei den Feindselige zustände, Bonn 2016, s. 174. Ostdeutschen bei 53 Prozent (GMF-studie 2011 – expertise, s. 54).

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Die absoluten Unterschiede sind gering, sollten also nicht 4.7.2 Antisemitismus unter berbewertet werden. In den GMF- und FES-Mitte-Stu- muslimischen Befragten dien unterscheiden sich Protestanten, Katholiken und Konfessionslose in der Zustimmung zu allen drei Antise- Spätestens seit der antisemitischen Welle des Jahres 2002, mitismus-Facetten nicht voneinander. In der aktuellen in der erstmals Muslime in einigen europäischen Ländern Leipziger-Mitte-Studie 2016 neigen Konfessionslose als Tätergruppe antisemitischer Übergriffe ins Blickfeld etwas weniger zum traditionellen Antisemitismus. Ob in gerieten, wird in der deutschen wie europäischen Öffent- bestimmten religisen Subgruppen, etwa Evangelikalen lichkeit und Wissenschaft ber die Frage der Verbreitung das Ausmaß an Antisemitismus hher liegt, lasst sich des Antisemitismus unter Muslimen kontrovers disku- anhand repräsentativer Bevlkerungsumfragen nicht pr- tiert. Die Zuwanderung von muslimischen Flchtlingen fen, dafr ist die Stichprobe schlicht zu klein. Eine Prfung aus dem Nahen Osten im Jahre 2015 hat zu besorgten bedrfte einer speziellen Untersuchung. Warnungen vor einer Zunahme des Antisemitismus von- seiten jdischer Organisationen gefhrt.235 Trotz des von Ein weiterer Indikator in diesem Zusammenhang ist die vielen Seiten als dringlich erachteten Problems fehlt es Religiosität. In der religionspsychologischen Forschung bisher in Deutschland an einer repräsentativen Befragung wird eine ganze Reihe von Dimensionen von Religiosi- unter der muslimischen Bevlkerung. Es gibt jedoch eine tät beschrieben und unterschieden. Letztlich lassen sich Reihe von Studien, die zumindest gewisse Anhaltspunkte diese jedoch durch die einfache Frage nach der religisen zur Beantwortung der Frage der Verbreitung und zu den Selbsteinschätzung als proximales Maß recht gut abbil- Ursachen antisemitischer Einstellungen in dieser Bevlke- den.232 Auch hier zeigt sich kaum ein Einfuss auf das Aus- rungsgruppe bieten. maß von Antisemitismus, d.h. Personen neigen nahezu gleichermaßen zu Antisemitismus, ganz gleich wie religis sie sich einschätzen. In der Tendenz neigen Personen, die 4.7.2.1 was ist auf die »muslimische sich als berhaupt nicht oder eher nicht religis einschät- religionszugehrigkeit«, was auf zen, lediglich zu etwas weniger traditionellem Antisemi- andere variablen zurckzufhren? tismus.233 Der Faktor »muslimische Religionszugehrigkeit« ist mit Anders sieht dies bei religis-fundamentalistischer Ori- einer Reihe von anderen Variablen konfundiert, die nicht entierung aus. Je stärker sich Befragte zu der fundamen- immer auseinandergehalten werden, was aber gerade mit talistischen Aussage »Meine Religion ist die einzig wahre« Blick auf Schlussfolgerungen fr Prävention und Inter- bekennen, desto stärker neigen sie auch zu traditionellem vention von Bedeutung sein kann – weniger in Bezug und sekundärem (nicht aber israelbezogenem) Antise- auf die Zielgruppe, an die sich die Intervention richtet, mitismus. Dies gilt europaweit auch fr die Abwertung sondern vielmehr ber welche Wege sie geht und welche anderer Gruppen.234 Themen sie aufgreift.

º Die Zugehrigkeit zu einer der beiden großen christ- In der Kategorisierung »Muslime« ist sowohl im All- lichen Kirchen und das Ausmaß selbsteingeschätzter tagsverständnis als auch in der Wissenschaft die Reli- Religiosität spielt fr die Zustimmung zu antisemiti- gionszugehrigkeit mit der ethnischen Herkunft bzw. schen Einstellungen kaum eine Rolle. Christen sind mit der Nationalität vermischt, und es ist nicht immer nicht per se antisemitischer, aber auch nicht weniger klar, inwieweit sich die Einstellungen tatsächlich auf die antisemitisch als Konfessionslose. Religionszugehrigkeit oder aber auf die politische Sozi- alisation in der Herkunftsregion zurckfhren lassen. In º Hingegen steigt Antisemitismus mit zunehmend christ- der Wissenschaft wird die Frage nach wie vor kontrovers lich-fundamentalistischer Überzeugung an. diskutiert, ob wir es primär mit einem religis motivierten Antisemitismus zu tun haben, der sich auf Aussagen des Korans sttzt, oder mit einem antizionistisch begrndeten arabischen Nationalismus, der sich der Versatzstcke des

232 stefan huber/constantin Klein (hrsg.), Kurzbericht zu einzelnen ergeb- nissen der internationalen Durchfhrung des religionsmonitors der Bertels- mann stiftung, Gtersloh 2007. 233 Beate Kpper/andreas zick, schtzt religiosität vor Menschenfeindlich- 235 zentralrat der Juden frchtet neuen antisemitismus, in: Die welt vom keit oder befrdert sie sie?, in: andrea Bieler/henning wrogemann (hrsg.), was 28. 6. 2016, http://www.welt.de/politik/article156658717/zentralrat-der- heißt hier toleranz?, neukirchen-vluyn 2014, s. 146–163. Juden-fuerchtet-neuen-antisemitismus.html (eingesehen 23. 8. 2016); abra- 234 Beate Kpper/andreas zick, religion and Prejudice in europe. new empi- ham cooper, viele muslimische Migranten sind antisemitisch, in: Der tages- rical Findings. Dossier for the network of european Foundations – Initiative for spiegel vom 6.6.2015 (abraham cooper ist Ko-vorsitzender des simon wie- religion and Democracy in europe, london 2010. senthal zentrums in los angeles).

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modernen europäischen Antisemitismus bedient.236 Regio- 4.7.2.2 Befunde zu muslimischen Jugendlichen nale Narrative und Propaganda, die Migranten ber die und jungen erwachsenen in Deutschland familiäre Sozialisation, aber auch ber die Nutzung von Medien der Herkunftsländer erreichen, drften hier eine Zum Antisemitismus von Muslimen in Deutschland liegen nicht unerhebliche Rolle spielen. Fr Letzteres spricht die bisher eine Reihe qualitativer bzw. quantitativ-qualitativer unterschiedliche Ausprägung antisemitischer Einstellun- Studien vor, die sich ausnahmslos auf Jugendliche, in eini- gen unter Muslimen weltweit.237 Wir drften es gegenwär- gen Fällen auch nur auf männliche Jugendliche, konzen- tig aber mit einer Mischform zu tun haben, da der Koran trieren.240 Zusammenfassend konstatieren diese Studien, zunehmend antijdisch ausgelegt wird, um den Kampf dass antiisraelische Äußerungen, die dann auf alle Juden gegen Israel ideologisch zu unterfttern.238 Die internati- generalisiert werden, unter den Jugendlichen gebräuch- onalen Studien der Anti-Defamation League (ADL) zeigen lich sind. Der Nahostkonfikt wird als die Hauptquelle außerdem, dass antisemitische Einstellungen etwa unter fr antisemitische Äußerungen angesehen, wobei die bosnischen Muslimen zwar auch weiter verbreitet sind Jugendlichen dabei auf eine imaginierte muslimische oder als unter bosnischen Christen, allerdings weniger weit ethnische Kollektividentität zurckgreifen, um sich selbst als etwa unter Muslimen in arabischen Staaten und dort, zu versichern, dass es eine von allen Muslimen geteilte wie z.B. im Libanon, auch christliche Personen auffällig Ablehnung von Juden gebe und dass dies demnach eine stark zum Antisemitismus neigen.239 Hier spielt offenbar »normale Haltung« sei.241 Diese Ablehnung wird von den weniger die Religion als vielmehr die Sozialisation in den Jugendlichen aber selten religis begrndet. Je stärker sich Herkunftsländern eine Rolle. Die Rede von Muslimen die Jugendlichen im Nahostkonfikt mit den Palästinen- verdeckt die Unterschiede, die etwa zwischen bosnischen, sern identifzieren, desto deutlicher fällt auch die Ableh- trkischen und arabischen Zuwanderern bestehen. nung von Juden aus, v.a., wenn sie nicht zwischen der Politik Israels und Juden unterscheiden. Diese Identifka- Eine weitere Komplikation kommt dadurch hinzu, dass tion fällt bei Jugendlichen mit arabischem oder palästi- Muslime in Deutschland zu ganz unterschiedlichen nensischem Hintergrund stärker aus als etwa bei jenen mit Zeitpunkten ins Land gekommen sind und wir es mit trkischem Hintergrund.242 Neben dem Nahostkonfikt Personen der ersten, zweiten oder gar dritten Generation spielen als Kontexte fr antisemitische Einstellungen auch zu tun haben, von denen sehr viele bereits in Deutschland die globalen politischen Verhältnisse, v.a. Antiamerika- aufgewachsen und sozialisiert worden sind – Personen nismus (wohl wegen der Parteinahme der USA fr Israel) also, die nicht selbst Migranten sind, sondern nur einen und Verschwrungstheorien ber eine angebliche jdische sogenannten familiären Migrationshintergrund haben. Macht eine wesentliche Rolle, da Juden als Beherrscher Ferner knnten andere sozio-demografsche Faktoren von Regierungen, Massenmedien und Wirtschaftsunter- wie Alter, Geschlecht oder Bildung eine Rolle spielen. nehmen imaginiert werden.243 Wie sehr diese von vielen Personen, die aus muslimischen Ländern nach Deutsch- muslimischen Jugendlichen als »normal« betrachteten land eingewandert sind, sind berproportional jung und weniger gut gebildet. Diese Faktoren werden aber selten statistisch erfasst, sodass auch hier dann nicht klar ist, wel- 240 Jikeli, antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen; Gabriel cher Anteil tatsächlich auf die Religion, welcher auf andere Fréville/susanna harms/serhat Karakayali, antisemitismus – ein Problem unter vielen, in: wolfram stender/Guido Follert/Mihri Özdogan (hrsg.), Konstellatio- Faktoren zurckzufhren ist. Diese Einschränkungen sind nen des antisemitismus, wiesbaden 2010, s. 185–198; Jrgen Mansel/viktoria nicht zuletzt fr die Intervention wichtig. spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt: soziale Beziehungen, Konfiktpo- tentiale und vorurteile im Kontext von erfahrungen verweigerter teilhabe und anerkennung bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, Universi- tät Bielefeld 2010; susanna harms, antisemitismus – ein Problem unter vielen. eine Befragung in Jugendclubs und Migranten- und Migrantinnen-Organisatio- nen, Berlin 2009. Online unter http://www.amira-berlin.de/Material/Publikati- onen/64.html (eingesehen 7.4.2016). Im Fokus stehen zumeist die einstellun- gen männlicher muslimischer Jugendlicher, doch vermutet die amira-studie, dass antisemitische einstellungen unter den weiblichen Jugendlichen nicht we- 236 Gtz nordbruch, antisemitismus als Gegenstand islamwissenschaftlicher niger verbreitet seien, diese wrde aber aufgrund ihrer geschlechtsspezifschen und nahost-bezogener sozialforschung, in: werner Bergmann/Mona Krte erziehung weniger offen geäußert (Fréville u.a., antisemitismus – ein Problem (hrsg.), antisemitismusforschung in den wissenschaften, Berlin 2004, s. 241– unter vielen, s. 190 f.). 269. 241 Jikeli, antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen, s. 312 f.; 237 aDl Global 100: a survey of attitudes toward Jews in over 100 countries werner Bergmann, zur entwicklung antisemitischer einstellungen der Bevlke- around the world. executive summary. Online unter: http://global100.adl.org/ rung. vortrag zu ergebnissen zur einstellungsforschung zum »antisemitismus public/aDl-Global-100-executive-summary.pdf (eingesehen 10. 4. 2016); aDl in Deutschland«. expertenkreis antisemitismus beim BMI, 15.2.2010. Global 100: 2015 Update in 19 countries. Online unter: http://global100.adl. 242 Ob dies tatsächlich einer geringeren verbreitung entspricht oder ob, wie org /#map/2015update (eingesehen 10.4.2016); Gnther Jikeli, antisemitismus befragte akteure in der amira-studie vermuten, trkischstämmige Jugendliche und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in europa. ergebnisse ihre Meinung nur weniger offen kommunizierten, muss offen bleiben. GMF-ex- einer studie unter jungen muslimischen Männern, essen 2012, s. 270. pertise, s. 58. 238 Juliane wetzel, Moderner antisemitismus unter Muslimen in Deutsch- 243 wie die studie von Jikeli »antisemitismus und Diskriminierungswahrneh- land, wiesbaden 2014, s. 4. mungen junger Muslime« zeigt, gilt dies ebenso fr muslimische Jugendliche in 239 aDl Global 100: a survey of attitudes toward Jews in over 100 countries. england und Frankreich.

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judenfeindlichen Anschauungen Teil eines konsistenten Auch in der groß angelegten Studie ber junge Muslime Weltbilds oder nur eine oberfächliche Übernahme von in Deutschland von Frindte u.a., in der 200 junge deutsche judenfeindlichem Gedankengut aus ihrem Milieu sind, mit Muslime, 517 nichtdeutsche Muslime und 200 junge deut- dem man sich nicht wirklich identifziert, bedarf weite- sche »Nichtmuslime« (14 bis 32 Jahre alt) befragt wurden, rer Untersuchungen. Dennoch ist die Warnung einiger stimmten Muslime deutlich häufger als »Nichtmuslime« Autoren, man knne bei Personen muslimischen Glaubens verschiedenen Facetten von Antisemitismus zu, darunter keinesfalls per se antisemitische Einstellungen und Welt- auch einem israelbezogenen Antisemitismus.247 Zugleich bilder unterstellen, zu bercksichtigen.244 wurden Unterschiede zwischen Muslimen unterschiedli- cher Herkunftsländer und -regionen sichtbar. Trkisch- Die frheste, wenn auch nicht repräsentative Umfrage zum stämmige Muslime neigten weniger zum Antisemitismus Thema »Muslime in Deutschland« von Brettfeld/Wetzels als jene aus nordafrikanischen bzw. arabischen Ländern. aus dem Jahre 2007, bei der 2683 Jugendliche, darunter Und Muslime, die als Herkunftsland Afghanistan, den Irak, 500 Muslime, befragt wurden, hat die Einstellung zu Juden Iran oder Pakistan angeben bzw. die aus der Balkanregion nur mit einem Item erhoben. Der Aussage »Menschen stammen, stimmten im Durchschnitt nicht nur seltener jdischen Glaubens sind berheblich und geldgierig« Antisemitismus zu als jene aus arabischen Ländern und stimmten 16 Prozent der muslimischen Befragten zu. Die der Trkei, sondern auch als in Deutschland geborene Zustimmung lag bei den nichtmuslimischen Jugendlichen Muslime. Zugleich lassen sich keine Unterschiede zwi- bei sieben Prozent, bei denen ohne Migrationshinter- schen Muslimen unterschiedlicher Glaubensrichtungen grund bei fnf Prozent. Je religiser sich die muslimischen feststellen. Ausnahme sind hier die Aleviten, die weniger Jugendlichen selbst einschätzten, desto häufger stimmten dazu neigen, Israel die alleinige Schuld am Nahostkonfikt sie der Aussage zu.245 Zwar unterschieden sich muslimische zuzuweisen, die ansonsten aber ähnlich antisemitisch sind Jugendliche nicht von anderen Jugendlichen in der Zustim- wie Muslime anderer Glaubensrichtungen. Während sich mung zur generellen Aussage »Auch andere Religionen antisemitische Einstellungen bei deutschen Muslimen als haben ihre Berechtigung und sind zu achten«, doch scheint recht stabil erwiesen, sind die der nichtdeutschen Mus- dies gegenber Juden nur eingeschränkt zu gelten. Mgli- lime, die gegebenenfalls noch enger an die Herkunftslän- cherweise werden Juden weniger als eine religise, denn als der gebunden sind, weniger stabil und knnten eher von eine ethnisch bzw. national defnierte Gruppe gesehen. politischen Ereignissen in der Herkunftsregion beeinfusst sein, so die Vermutung der Autoren. Auch in der schon etwas älteren Schler- und Schle- rinnenbefragung des Kriminologischen Instituts Nie- dersachsen felen Jugendliche aus islamisch geprägten 4.7.2.3 Befunde zu muslimischen Herkunftskulturen durch ein besonders hohes Ausmaß erwachsenen in Deutschland an Antisemitismus auf, wobei sich allerdings auch fr Jugendliche aus anderen migrantischen Kontexten hier Eine aktuelle repräsentative Umfrage zu »Integration und leicht hhere Werte zeigten. Der Besuch des Gymnasiums Religion aus der Sicht der Trkischstämmigen in Deutsch- trug bei trkischstämmigen Jugendlichen dazu bei, das land« bestätigt, dass die persnliche Haltung von erwach- Ausmaß an Antisemitismus zu reduzieren (bei anderen senen trkischstämmigen Muslimen gegenber Juden Gruppen war dies aufgrund der zu kleinen Stichprobe deutlich negativer ausfällt als die gegenber Christen. nicht berprfar). Ebenso waren muslimische (und Gaben 80 Prozent an, gegenber Christen eine sehr bzw. insbesondere die trkischstämmigen) Mädchen weniger eher positive Haltung zu haben, waren dies bezglich der antisemitisch eingestellt als muslimische Jungen. 246 Die Juden nur 59 Prozent. Christen wurden nur von fnf Pro- Befunde verweisen auf die Bedeutung weiterer Faktoren, zent sehr oder eher negativ gesehen, Juden von 21 Prozent. die neben der Religion eine Rolle spielen. Auffällig ist dabei, dass 30 Prozent bei der Frage nach der persnlichen Einstellung zu Juden die Antwortvorgabe »weiß nicht/keine Angabe« wählten, im Fall der Christen 244 GMF-expertise, s. 58; Fréville u.a., antisemitismus – ein Problem unter waren es nur halb so viele. Noch negativer als gegenber vielen; Mansel/spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt, s. 225; harms, antisemitismus, s. 85. 245 Die stärke der religiosität wurde unterschieden nach: fundamental 247 Frindte/Boehnke/Kreikenbom/wagner, lebenswelten junger Musli- (23 Prozent), traditionell konservativ (22 Prozent), orthodox religis (sieben me in Deutschland, s. 227–247. Die erhebung der Daten fand in den Jahren Prozent), gering religis (drei Prozent) (Katrin Brettfeld/Peter wetzels, Muslime 2009–2010 statt. 25 Prozent der Muslime stimmten zwei israelfeindlichen sta- in Deutschland: Integration, Integrationsbarrieren, religion sowie einstellun- tements (»Israel ist allein fr die entstehung und Fortsetzung der nahostkon- gen zu Demokratie, rechtsstaat und politisch motivierter Gewalt, Berlin: Bun- fikte verantwortlich« und »es wäre besser, wenn die Juden den nahen Osten desministerium des Innern, 2007, s. 280). verlassen wrden«) zu, während junge nichtmuslime hier nur zu fnf Prozent 246 Dirk Baier/christian Pfeiffer/Julia simonson/susann rabold, Jugendli- zustimmten. Mansel/spaiser kamen in ihrer studie unter schlern 2010 zu ei- che in Deutschland als Opfer und täter von Gewalt: erster Forschungsbericht nem ähnlichen ergebnis, wonach muslimische schler, besonders jene aus den zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern arabischen ländern, häufger antisemitische einstellungen (sowohl israelbezo- und des Kriminologischen Forschungsinstituts niedersachsen, hannover 2009, gene als auch religise und traditionelle) vertraten als schler ohne Migrations- tab. 6.14. und abb. 6.16. hintergrund (abschlussbericht Forschungsprojekt 2010).

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Juden war die Haltung zu Atheisten: 27 Prozent wählten erfahrung variiert hier je nach Herkunftsland. So fhlten hier die Kategorien sehr oder eher negativ (49 Prozent sehr sich Jugendliche aus arabischen Ländern deutlich häufger oder eher positiv, wiederum hohe 24 Prozent die Vorgaben diskriminiert als trkischstämmige Muslime. Warum sich »weiß nicht/keine Antwort«).248 Die hohe Zahl der »weiß aber eigene Diskriminierungserfahrungen in eine Ableh- nicht-Antworten« bzw. Antwortverweigerungen interpre- nung von Juden transformieren sollen, erscheint zunächst tieren die Autoren als »eine zumindest latente Abwehrhal- nicht plausibel. Mansel/Spaiser weisen zu Recht darauf tung« gegenber Juden und Atheisten.249 hin, dass der Weg von einer erlebten Diskriminierung der trkisch-arabischen Eigengruppe keineswegs kausal zu In den repräsentativen Umfragen des GMF-Surveys zeich- antisemitischen Einstellungen fhrt.252 Ein Erklärungsver- nen sich darber hinaus zwei bemerkenswerte Befunde such verweist auf den internationalen Kontext, wonach die ab: Während bei Katholiken und Protestanten das Ausmaß eigenen Diskriminierungserfahrungen mit dem Bild von an Religiosität keine Rolle fr den Antisemitismus spielt, Muslimen als »weltweit gedemtigtem Opfer« fusioniert steigt bei Muslimen das Ausmaß antisemitischer Einstel- und »die Juden« als weltweit mächtige Gruppe und Israel lungen mit dem selbstberichteten Grad der Religiosität als Aggressor im Nahostkonfikt zu Feindbildern werden an (wobei sich nur geringfgig mehr Muslime als Katho- knnen. Man solidarisiert oder identifziert sich mit den liken und Protestanten als religis einstufen).250 Und: Palästinensern, die als »Opfer israelischer Aggression« Während sich bei jungen Befragten unter 30 Jahren ein gesehen werden. Die Studie von Brettfeld/Wetzels weist deutlicher Unterschied zwischen Muslimen und Nicht- zudem auf einen Zusammenhang von Ausgrenzungser- muslimen zeigt (junge Muslime sind antisemitischer als fahrung mit religiser Intoleranz und Demokratiedistanz die gleichaltrigen Nichtmuslime), fndet sich bei den ber hin, die ebenfalls antijdisch ausgerichtet werden kann.253 60-Jährigen kaum ein Unterschied. Außerdem sind junge Anstatt die Ausgrenzungserfahrung in Deutschland Muslime nicht antisemitischer als ältere Nichtmuslime. primär mit dem Nahostkonfikt in Verbindung zu bringen, Offenbar haben junge Muslime die positive Entwicklung wäre zu untersuchen, wieweit nicht im Inland selbst von der letzten Jahrzehnte hin zu weniger Antisemitismus muslimischer Seite eine »Opferkonkurrenz« zu Juden nicht oder noch nicht – und das ist eine ganz wesentliche wahrgenommen wird, da Letztere in ihren Augen erin- Frage – nachvollzogen. Dies wirft Fragen an die Präven- nerungs- und tagespolitisch eine privilegierte Stellung tion auf, z.B. inwieweit junge Muslime, die häufg nicht als einnehmen und zudem noch eine besondere Beziehung dazugehriger Teil der deutschen Gesellschaft verstanden der Bundesrepublik zum Staat Israel existiert. Berichte und adressiert werden, sich von bestehenden Präventi- ber antisemitische Einstellungen und Übergriffe erfahren onsanstrengungen angesprochen fhlen bzw. von diesen vergleichsweise breite ffentliche und politische Resonanz. angesprochen werden (→ Prävention). So ist dies bereits der zweite Antisemitismusbericht des Bundestages, es gibt aber keinen Bericht ber Muslimen- und Islamfeindlichkeit. Der Verdacht knnte aufommen, 4.7.2.4 Diskriminierung als mgliche Ursache dass eine allein auf die Vergangenheit ausgerichtete Erin- antisemitischer einstellungen bei nerungskultur der Mehrheitsgesellschaft leichter fällt und muslimischen einwanderern auch bequemer ist. Mit der Erinnerung an die jdischen Opfer des Holocaust und den daraus abgeleiteten Mah- Neben der Frage der Verbreitung antisemitischer Einstel- nungen entledigt man sich zugleich der kritischen Refe- lungen in der muslimischen Bevlkerung stellt sich die xion aktueller Diskriminierungen, sodass sich aktuelle Frage nach deren Ursachen. Neben dem Nahostkonfikt Opfer (auch jdische) vernachlässigt fhlen. Eine kritische und der Ablehnung Israels werden von Jrgen Mansel und Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur fndet sich Viktoria Spaiser auch Erfahrungen von Ausgrenzung und ausfhrlicher im Kapitel → Prävention. Hier sei nur der Diskriminierung von Muslimen in der deutschen Gesell- Gedanke angefhrt, dass die Ausrichtung der deutschen schaft als Ursache genannt (Abb. 4.11).251 Die Abwertungs- Erinnerungspolitik einen nichtintendierten negativen Nebeneffekt haben knnte und Muslime sich als »Opfer zweiter Klasse« fhlen, deren in Studien nachgewiesene 248 Integration und religion aus der sicht von trkischstämmigen in und im Alltag gefhlte Diskriminierung ignoriert wird. Deutschland. repräsentative erhebung von tns-emnid im auftrag des exzel- Dies knnte zum psychologischen Effekt der Reaktanz und lenzclusters religion und Politik an der Universität Mnster von Detlef Pollack/ Olaf Mller/Gergeley rosta/anna Dieler, Mnster 2016, abb. 4, s. 5. damit zur Abwertung von Juden beitragen. 249 ebenda, s. 5. 250 eigene analysen des GMF-surveys 2002–2011; hier ist die stichprobe der Muslime, die fr diese auswertung zur verfgung steht, recht klein, sodass die Befunde lediglich als hinweis gedeutet werden sollten. 251 Mansel/spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt. Diskriminierungs- erfahrungen reichen vom »schief anschauen« wegen eines Kopftuchs ber Be- 252 ebenda, s. 235. schimpfung als terrorist und Beleidigung des Islams bis hin zur ablehnung bei Bewerbungen fr ausbildungsplätze. 253 Brettfeld/wetzels, Muslime in Deutschland 2007 – GMF-expertise, s. 59.

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Abb. 4.11: Empirisches Modell zur Entstehung von israelbezogenem Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte

Darstellung in anlehnung an Mansel und spaiser 2012, s. 234254

Neben der Marginalisierungs- und Diskriminierungser- º Das Ausmaß antisemitischer Einstellungen ist unter fahrung nennen die Studien weitere mgliche Einfussfak- muslimisch sozialisierten Jugendlichen und Erwach- toren fr die Entwicklung antisemitischer Einstellungen. senen mit Einwanderungshintergrund hher als unter So werden muslimische Jugendliche in ihrer politischen nichtmuslimischen. Zugleich zeichnen sich deutliche Sozialisation stärker von der religisen Gemeinschaft Unterschiede zwischen Muslimen aus unterschiedli- geprägt als andere Jugendliche in Deutschland. Sie rezipie- chen Herkunftskulturen bzw. -regionen ab. Insbeson- ren zudem häufger als andere Jugendliche mit Migrati- dere Migranten aus arabischen bzw. nordafrikanischen onshintergrund Nachrichten und Internetseiten aus ihren Ländern neigen zum Antisemitismus. Neben der Reli- Herkunftsländern, in denen antisemitische Propaganda gion scheint also offenbar v.a. die Herkunftsregion von und Vorurteile in vielfältigen Sendeformaten verbreitet Bedeutung zu sein. Hier gilt es zu differenzieren. werden (→ Medien). Die dort gezeigten Bilder des Nahost- konfikts haben eine stark emotionalisierende Wirkung.255 º Während junge Muslime deutlich antisemitischer sind Eine Studie der ADL zeigt den negativen Einfuss des Inter- als gleichaltrige Nichtmuslime, unterscheiden sich net auf die Einstellung zu Juden.256 Mansel und Spaiser ältere Muslime und Nichtmuslime ber 60 Jahre kaum sehen einen Zusammenhang von Diskriminierungserfah- voneinander; junge Muslime sind ähnlich antisemitisch rungen in der Schule hinsichtlich der eigenen Religion und wie ältere Nichtmuslime. der Nutzung der Medien aus den Herkunftsländern zur Aufwertung der eigenen, beschädigten sozialen Identität. º Schulbildung trägt auch bei jungen Muslimen zu einer Wie bei anderen Abwertungsprozessen auch, werden als Reduktion von Antisemitismus bei. schwächer oder als Konkurrenz wahrgenommene soziale Gruppen zur Aufwertung der Eigengruppe abgewertet.257 º Eigene Ausgrenzungserfahrungen knnen eine Moti- vation und Legitimation fr die Abwertung anderer bieten, so auch fr Antisemitismus, sind aber keine 254 GMF-expertise, s. 60. Entschuldigung. 255 ebenda, s. 59; Mansel/spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt, s. 233. 256 aDl, Global 100: a survey of attitudes toward Jews 2014, s. 48. 257 Der Prozess der Fremdgruppenabwertung zur eigengruppenaufwertung ist ausfhrlich im rahmen der theorie der sozialen Identität geprft, die ei- ne der einfussreichsten Grundlagen der sozialpsychologischen vorurteilsfor- schung darstellt.

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4.8 einfuss des gegenber anderen gesellschaftlichen Gruppen. Fr diesen Migrationshintergrunds auf Bericht lassen sich Befunde zu den folgenden theoreti- schen Erklärungsansätzen festhalten: antisemitische einstellungen 1. Individuelle und fraternale relative Deprivation: 260 Die Forschung und die ffentliche Diskussion haben sich in der Frage antisemitischer Einstellungen bisher v.a. Das Gefhl der individuellen relativen Deprivation auf die zugewanderten Muslime konzentriert, während bezeichnet die gefhlte Benachteiligung einer Person andere Migranten, etwa sogenannte Russlanddeutsche im Vergleich zu anderen Personen der eigenen sozia- oder andere osteuropäische Zuwanderer, außer Acht len Gruppe. Fraternale (kollektive) relative Deprivation blieben. Um den Einfuss des Migrationshintergrunds auf bezeichnet das Gefhl der Benachteiligung der eige- antisemitische Einstellungen zumindest ansatzweise zu nen sozialen Gruppe gegenber einer anderen sozialen messen, sind aus dem Datensatz der GMF-Umfragen von Gruppe. 2002 bis 2011, der 22.354 Personen mit deutscher Staats- angehrigkeit umfasst, diejenigen mit einem Migrations- 2. Gefhl politischer Machtlosigkeit:261 hintergrund (1963 Fälle, rund neun Prozent aller Befrag- ten) gesondert analysiert worden. Die Zusammensetzung Unter politischer Machtlosigkeit wird das individuelle entspricht aufgrund der blichen Verzerrungseffekte Gefhl verstanden, keinen Einfuss auf politische Ent- telefonischer Befragungen nicht ganz der Zusammenset- scheidungen/Handlungen der Regierung nehmen zu zung der sehr heterogenen migrantischen Bevlkerung. knnen. Fnf Prozent der Befragten waren muslimisch, 34 Pro- zent katholisch, 23 Prozent protestantisch und 31 Pro- 3. Anomia (Orientierungslosigkeit):262 zent konfessionslos.258 Bei keiner der drei untersuchten Antisemitismus-Dimensionen konnten signifkante Unter Anomie wird ein Zustand sozialer Desintegration Unterschiede zwischen Personen mit oder ohne Migra- verstanden. Als Folge tiefgreifenden gesellschaftlichen tionshintergrund festgestellt werden – ein Ergebnis, das Wandels fnden allgemeine soziale Regeln keine Beach- angesichts der Heterogenität der Länder, aus denen die tung mehr; die kollektive Ordnung lst sich auf und es Migranten stammen, nicht berrascht. Die differenzier- kommt zu einem psychischen Zustand (Anomia), der tere Analyse verweist allerdings auf vergleichsweise hohe durch Gefhle von Orientierungslosigkeit, Isoliertheit, Zustimmungswerte zu sekundärem wie israelbezogenem Fremdheit sowie durch Macht- und Hilfosigkeit gekenn- Antisemitismus bei Personen, die aus osteuropäischen zeichnet ist.263 bzw. postsowjetischen Gesellschaften zugewandert sind.259 Zu diesem Themenkomplex fehlen bisher jedoch einschlä- 4. Ökonomisierung des Sozialen:264 gige Studien. Hier geht es um individuelle Ausprägungen einer primär nutzenorientierten Bewertung des sozialen Zusammen- lebens. Menschen werden nach ihrer Ntzlichkeit fr die 4.9 theoretische erklärungen Gesellschaft beurteilt. fr die Übernahme antisemitischer einstellungen

260 thomas F. Pettigrew/Oliver christ/Ulrich wagner/roel w. Meertens/ Eine Vielzahl, z.T. komplexer theoretischer Ansätze rolf van Dick/andreas zick, relative Deprivation and Intergroup Prejudice, in: versucht, Antisemitismus zu erklären. Nicht alle davon Journal of social Issues, 64 (2008) 2, s. 385–401. sind empirisch berprfar. Im Rahmen der vorliegenden 261 anna Klein/sandra hpping, Politische Machtlosigkeit als Katalysator der ethnisierung von verteilungskonfikten, in: wilhelm heitmeyer (hrsg.), Deut- Bevlkerungsumfragen wurden zudem bislang nur allge- sche zustände – Folge 6, Frankfurt a.M. 2008, s. 73–94; ada w. Finifter, Dimen- meine theoretische Erklärungen dafr, warum Menschen sions of Political alienation, in: american Political science review, 64 (1970) 2, Intergruppenvorurteile haben, bercksichtigt. Diese s. 390. beziehen sich nicht speziell auf antisemitische Einstellun- 262 Émile Durkheim, le suicide. etude de sociologie, Paris 1897; robert. K. Merton, sozialstruktur und anomie, in: Fritz sack/rené Knig (hrsg.), Kriminal- gen, sondern gelten ebenso fr abwertende Einstellungen soziologie, Frankfurt a.M. 1968, s. 283–313. 263 stefan Khnel/Peter schmidt, Orientierungslosigkeit. Ungnstige effek- te fr schwache Gruppen, in: wilhelm heitmeyer (hrsg.), Deutsche zustände – 258 vgl. dazu GMF-expertise, s. 61 f. Die Migranten unterscheiden sich von Folge 1, Frankfurt a.M. 2002, s. 83–94, hier s. 83 f.; sandra hpping, anomia. Befragten ohne Migrationshintergrund durch ein etwas hheres Bildungsni- Unsicher in der Orientierung, sicher in der abwertung, in: wilhelm heitmeyer veau, etwas geringeres alter sowie einen etwas hheren Männeranteil. (hrsg.), Deutsche zustände – Folge 4, Frankfurt a.M. 2006, s. 86–100, hier s. 86. 259 Bei den GMF-Daten handelt es sich um Migration aus Polen, rumänien 264 richard sennett, Der fexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, und ländern der ehemaligen sowjetunion. Berlin 1998.

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5. Theorie der autoritären Persnlichkeit kumulierter GMF-Daten bereits hinsichtlich ihres Einfus- (Autoritarismus):265 ses auf den traditionellen Antisemitismus einer Analyse unterzogen worden.269 Bei gleichzeitiger Bercksichtigung Autoritarismus bezeichnet eine Einstellung, die soziale sozio-demografscher Faktoren (Alter, Geschlecht und Abweichung ablehnt und zugleich eine hohe Bereitschaft Bildung) haben sich autoritäre und dominanzorientierte Normen und Autoritäten zu folgen aufweist. »Nicht der Einstellungen als die relevantesten Faktoren erwiesen. Normalität entsprechende« Abweichungen knnen sich Fr die GMF-Expertise (2016) wurden in Anlehnung an auf den religisen oder kulturellen Hintergrund, die dieses Vorgehen anhand der GMF-Studie 2011 wesentliche Lebensweise oder die sexuelle Orientierung einer Person Erklärungsfaktoren auch fr den sekundären und israel- oder Gruppe beziehen. »In einer autoritären Einstellung bezogenen Antisemitismus untersucht. Neben sozio-de- drckt sich sowohl die eigene Bereitschaft als auch die mografschen Faktoren und der politischen Orientierung Forderung zur Unterordnung unter Autoritäten aus, sind die oben dargestellten Erklärungsansätze einbezogen wie sie sich in einer strengen law-and-order-Mentalität worden. Ergänzend zu diesen Faktoren wird im unte- zeigt.«266 ren Teil der Tabelle 2 die Motivation zu vorurteilsfreier Selbstdarstellung aufgenommen. Wichtig ist zu berck- 6. Theorie der sozialen Dominanz:267 sichtigten, dass in die Regressionsanalyse viele Faktoren einfießen, die miteinander korrelieren. Daher knnen Mit individueller sozialer Dominanzorientierung, die Faktoren, die in den z.T. oben berichteten Einzelanalysen durch legitimierende Mythen und institutionelle Diskri- durchaus Ergebnisse zeigten, im Zusammenspiel nicht minierung gesttzt wird, ist eine Einstellung gemeint, die mehr erklärungskräftig sein. Fr ihre Bewertung gilt es, soziale Hierarchien zwischen den verschiedenen gesell- sowohl die Einzelanalysen als auch die gemeinsame Ana- schaftlichen Gruppen befrwortet und dementsprechend lyse zu wrdigen. soziale Gleichheit ablehnt. Die Theorie nimmt an, dass v.a. statushhere Gruppen gruppenbasierte Hierarchien in Wie schon im Kapitel ber die demografschen Fakto- der Gesellschaft untersttzen, um ihre Stellung und ihren ren dargestellt (Kap. 4.5), spielen sozio-demografsche Einfuss zu sichern, indem sie schwächere gesellschaftliche Faktoren im Zusammenspiel mit den weiteren Faktoren so Gruppen in ihren machtlosen Positionen halten wollen. gut wie keine Rolle fr die Erklärung von Antisemitismus. »Zur Aufrechterhaltung und Verfestigung der Hierarchien Während Bildung und Einkommen auf keine der Dimen- werden Vorurteile als ›legitimierende Mythen‹ herangezo- sionen des Antisemitismus Einfuss ausben,270 steigt mit gen, da sie mutmaßlich gesichertes Wissen ber Grup- zunehmendem Alter und unter der westdeutschen Bevl- penangehrige in die Hand geben und somit Ungleichbe- kerung in der Tendenz der sekundäre Antisemitismus an, handlung und Diskriminierung rechtfertigen knnen«.268 und Männer tendieren etwas stärker zu traditionellem Antisemitismus als Frauen. Diese theoretischen Erklärungsansätze sind zusam- men mit einigen demografschen Merkmalen mittels

269 andreas zick/andreas hvermann/Daniela Krause, Die abwertung von Ungleichwertigen. erklärung und Prfung eines erweiterten syndroms der 265 theodor w. adorno/else Frenkel-Brunswik/Daniel J. levinson/r. nevitt Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, in: wilhelm heitmeyer (hrsg.), sanford, the authoritarian Personality, new York 1950. Deutsche zustände – Folge 10, Berlin 2012. vgl. dazu auch den Bericht des ers- ten Uea von zick/Kpper 2011. 266 GMF-expertise, s. 66. 270 Da im Kapitel 4.5.1 der effekt von Bildung auf antisemitismus nachge- 267 Felicia Pratto/Jim sidanius/lisa M. stallworth/Bertram F. Malle, social wiesen wurde, wenn man sie isoliert betrachtet, so berrascht es, dass dieser dominance orientation: a personality variable predicting social and political at- effekt bei gleichzeitiger Bercksichtigung anderer Faktoren wie bspw. autori- titudes, in: Journal of Personality and social Psychology, 67 (1994), s. 741–763. tarismus oder Dominanzorientierung verschwindet. Die GMF-expertise (s. 67) 268 GMF-expertise, s. 66; Julia Iser, vorurteile. zur rolle von Persnlichkeit, erklärt diese nicht vorhandene wirkung der Bildung damit, dass diese offenbar werten, generellen einstellungen und Bedrohung. Die theorie grundlegender eher als ein indirekter Faktor wirkt, der ber weitere ideologische anschauun- menschlicher werte, autoritarismus und die theorie der sozialen Dominan- gen vermittelt wirksam wird. D.h. in diesem Fall je niedriger gebildet, desto eher zorientierung als erklärungsansätze fr vorurteile: ein integrativer theorien- tendieren Befragte zu autoritarismus und sozialer Dominanz und desto eher vergleich. Dissertation, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Gießen 2006. dann auch zum antisemitismus.

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Abb. 4.12: Überprfung allgemeiner Erklärungsfaktoren fr Antisemitismus (simultane Regressionsanalysen/GMF 2011; ß-Koeffzienten)

Klassischer AS Sekundärer AS Israelbezogener AS

Alter n.s. -.07* n.s. Geschlecht (1=m, 2=w) -.08** n.s. n.s. Bildung n.s. n.s. n.s. West-Ost (1=W, 2=O) n.s. -.07* n.s. Einkommen n.s. n.s. n.s. Polit. Orientierung: Links-Rechts .12*** .15*** n.s. Individ. relative Deprivation n.s. n.s. n.s. Anomia n.s. .08* .09* Autoritarismus n.s. .18*** n.s. Soziale Dominanz .17*** n.s. n.s. Politische Machtlosigkeit .12*** .19*** .14*** Ökonomistische Einstellung .14*** .13*** .11** Motiv. vorurteilsfreie Selbstdarstellung -.11*** -.12*** -.11** Adj. R² .24 .29 .12

* p < .05 ** p < .01 *** p < .001

Während die hier im Weiteren bercksichtigten Erklä- politischer Machtlosigkeit sehen sich durch den angeblich rungsansätze in der Regel das Ausmaß von Fremdenfeind- zu großen Einfuss der Juden herausgefordert. Ähnliche lichkeit recht gut vorhersagen knnen, haben sie auf die Analysen271 zum traditionellen Antisemitismus mittels Erklärung von Antisemitismus insgesamt nur einen recht Daten der FES-Mitte-Studie 2014 kommen nur teilweise geringen Einfuss bzw. es sind nur wenige der Faktoren fr zu vergleichbaren Ergebnissen. Wiederum bt die soziale alle drei Facetten von Antisemitismus erklärungskräftig. Dominanzorientierung (.22***) den grßten Einfuss aus, Wenn, dann bieten sie eher noch Erkenntnisse fr den während die politische Machtlosigkeit (.09***) sowie ko- traditionellen und sekundären Antisemitismus, kaum aber nomistische Einstellungen (.07*) sich hier als schwächer fr den israelbezogenen; die erklärte Gesamtvarianz ist, wirksam erweisen. In der Mitte-Studie 2014 sind allerdings wie in Abb. 4.12 erkennbar, bei allen drei Facetten nicht Faktoren wie Alter (beta=.11*** – Antisemitismus nimmt sehr hoch und fällt fr den israelbezogenen Antisemitis- mit hherem Alter zu), Einkommen (-.10*** – Antisemitis- mus besonders niedrig aus. D.h., bei diesem haben wir es mus nimmt mit hherem Einkommen ab) sowie Autorita- offenbar mit einer Einstellung zu tun, die durch andere rismus (.12**) festzustellen,272 die in der GMF-Studie von als die hier bercksichtigten Faktoren bestimmt wird. Am 2011 keinen signifkanten Einfuss zeigten. Umgekehrt ist ehesten steht hier ein Gefhl der politischen Machtlosig- wiederum die politische links-rechts-Ausrichtung in der keit und Anomia im Vordergrund, gefolgt von den kono- FES-Mitte-Studie 2014 nicht signifkant. mistischen Einstellungen. Ideologische Grundhaltungen der sozialen Dominanz und des Autoritarismus, die sich z.B. bei der Fremdenfeindlichkeit als sehr erklärungskräf- tig erweisen, spielen hier keine Rolle.

Der traditionelle Antisemitismus, bei dem es um die unter- stellte (Macht-)Position der Juden und um ihr angeblich ihre Verfolgung selbst auslsendes (Fehl-)Verhalten geht,

wird besonders durch dominanzorientierte und ko- 271 anomie und Deprivation konnten nicht in die analysen einbezogen wer- nomistische Einstellungen sowie das Gefhl politischer den, da diese in der studie nicht erhoben wurden. Machtlosigkeit beeinfusst. Hier spielt auch die politische 272 Die GMF-expertise verweist darauf, dass die Messung des autoritarismus Selbstverortung nach rechts eine Rolle. Der Einfuss nicht vergleichbar ist mit der in der GMF-studie. während im GMF-survey zwei aspekte von autoritarismus (autoritäre aggression und Unterwrfgkeit) be- fällt allerdings nicht besonders hoch aus. D.h. dominan- rcksichtigt werden, ist es in der Mitte-studie 2014 lediglich eine (autoritäre zorientierte Personen sowie solche mit einem Gefhl aggression).

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Hatte sich beim traditionellen Antisemitismus die Domi- 4.10 antisemitismus im nanzorientierung als stärkster Einfussfaktor erwiesen, internationalen vergleich so ist sie beim sekundären Antisemitismus irrelevant, da es hier nicht um hierarchische Gruppenbeziehungen geht, sondern um das Gefhl, von Juden ungerechtfertigt Zur Einschätzung der Verbreitung antisemitischer Ein- beschuldigt und konomisch ausgenutzt zu werden, ohne stellungen in der deutschen Bevlkerung ist es sinnvoll, dass die deutsche Politik etwas dagegen unternimmt. sich vergleichend deren Ausprägung in anderen Län- Folgerichtig haben hier die politische Machtlosigkeit dern anzusehen. Nun gibt es dazu zwar eine große Zahl und eine rechte politische Orientierung im Vergleich den von nationalen Studien v.a. in europäischen Ländern stärksten Einfuss. Auch Anomie hat hier neben Autorita- (Deutschland, Frankreich, Italien, Norwegen, Österreich, rismus und einer konomistischen Grundhaltung einen, Polen, Schweden, Schweiz, Spanien Ungarn), doch kaum wenn auch nur geringen Einfuss. Keinen signifkanten »international vergleichende Studien, die Antisemitismus Einfuss hat das individuelle Gefhl der relativen Depri- umfassender auf der Grundlage der Messung diverser vation. Auch in anderen Studien hat sich wenn, dann eher Facetten erheben und/oder mit strengen Maßstäben an die fraternale relative Deprivation als erklärungskräftig die Vergleichbarkeit von Messungen operieren«.274 In erwiesen. Antisemitismus entsteht also nicht aus einem einigen international vergleichenden Studien wird etwa Gefhl der individuellen, sondern eher aus dem einer nur jeweils eine Frage gestellt, die die Sympathie gegen- kollektiven Schlechterstellung der Eigengruppe mit ber Juden und Jdinnen misst (Pew Research Center 2006 einer Vergleichsgruppe. Obwohl eine Vielzahl mglicher und 2015, International Social Survey Programme (ISSP) Einfussfaktoren in die Analyse einbezogen wurde, bleibt 2008 und European Social Survey 7-2014),275 die damit nur ein großer Teil der Ursachen fr die Einstellungsunter- einen gewissen Anhaltspunkt fr die emotionale Einstel- schiede zwischen den befragten Personen unaufgeklärt. lung bieten. Einen etwas umfassenderen Fragekatalog Noch am grßten ist die Erklärungskraft der verwendeten bietet die Erhebung Group-Focused Enmity in Europe (GFE Faktoren in der GMF-Studie von 2011 beim sekundären Europe) aus dem Jahr 2008, ber die bereits ausfhrlich Antisemitismus mit immerhin 29 Prozent, gefolgt vom in der Expertise von Zick und Kpper fr den ersten UEA traditionellen Antisemitismus mit 24 Prozent.273 Waren (2011) berichtet wurde, und die seit 1994 regelmäßig von bei den beiden Erstgenannten die gängigen ideologischen der ADL durchgefhrten Befragungen. In den ADL-Stu- Motive erklärungskräftig, war dies beim israelbezogenen dien ist die Stichprobe mit häufg nur 500 Befragten recht Antisemitismus kaum der Fall. klein, sodass sie streng genommen den Anforderungen der Repräsentativität nicht gengt. Außerdem ist wenig ber º Antisemitismus wird durch Faktoren, die sich aus allge- die Methode der Erhebung und die Übersetzung der Items meinen Deutungsansätzen ableiten, nur sehr begrenzt bekannt. Die Ergebnisse der ADL-Studie sollten daher erklärt. Am ehesten noch bieten das Gefhl politischer mit einer gewissen Zurckhaltung betrachtet werden.276 Machtlosigkeit, Orientierungslosigkeit in der modernen Da deren Befunde jedoch fr die einzelnen Länder ber Welt und eine konomische Werthaltung eine Erklä- die Jahre eine gewisse Stabilität zeigen und auch in der rung. Tendenz mit den vorhandenen Studien in den jeweiligen Ländern bereinstimmen, knnen die ADL-Studien wert- º Insbesondere der israelbezogene Antisemitismus wird volle Hinweise auf die Verbreitung von Antisemitismus in durch die verwendeten Faktoren kaum aufgeklärt. verschiedenen Ländern geben. Während ideologische Grundhaltungen in Bezug auf Hierarchien und Unterordnung fr traditionellen und 274 GMF-expertise, s. 71. sekundären Antisemitismus noch eine gewisse Rolle spielen, sind sie fr das Ausmaß des israelbezogenen 275 z.B.: Pew research center, Pew Global attitudes Project: spring 2006 survey 15 nation survey, s. 42 f. auf die Frage: »Please tell me if you have a Antisemitismus unerheblich. Hier mssen andere Fak- very favorable/somewhat favorable/somewhat unfavorable or very unfavorable toren untersucht werden. opinion of Jews« antworteten im Jahre 2005 in Deutschland 22 Prozent »very/ somewhat unfavorable«, unter Muslimen in Deutschland waren es 44 Prozent. Fr einige andere westeuropäische länder betrug das verhältnis: sieben Pro- zent zu 47 Prozent in Großbritannien; 13 Prozent zu 28 Prozent in Frankreich und 39 Prozent zu 60 Prozent in spanien. 2015 antworteten in Deutschland nur noch neun mit »unfavorable«, in Frankreich und Großbritannien waren es sieben Prozent, in spanien 17 Prozent, in Italien 21 Prozent und in Polen 28 Prozent, http://www.pewglobal.org/2015/06/02/faith-in-european-project- reviving/eu-report-05-2 (eingesehen 29.11.2016). 276 GMF-expertise, s. 71. »Die erhebungen der aDl enthalten keine de- taillierten angaben zur repräsentativität/Kennwerten der stichprobe und zur Methodik der Durchfhrung in den einzelnen ländern. Die Qualität internati- onal vergleichender studien hängt ganz wesentlich von der verwendeten und 273 Bei der Mitte-studie 2014 knnen mit den bercksichtigten Faktoren da- vergleichbaren Methodik ab (die betrifft v.a. die ziehung der stichprobe, die gegen lediglich 17 Prozent des traditionellen antisemitismus aufgeklärt werden Konstruktion und Übersetzung der verwendeten Fragen und die Methode der (GMF-expertise, s. 68). Befragung).«

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Zur Erfassung antisemitischer Einstellungen verwen- Der Prozentwert eines einzelnen Landes bezieht sich also den die ADL-Studien einen elf antisemitische Aussagen auf den Anteil der befragten Personen, der mehr als der umfassenden Index (Abb. 4.13), der nahezu ausschließlich Hälfte der antisemitischen Aussagen zustimmt. Aspekte des traditionellen Antisemitismus erfasst (Einfuss auf die Wirtschaft, Politik und Medien, mangelnde Loya- Im Folgenden werden die Ergebnisse der ADL-Studien von lität, In-group-Orientierung), während die Dimension des 2014 und 2015 fr solche Länder und Regionen detaillier- sekundären Antisemitismus nur mit einer Frage abgedeckt ter vorgestellt, die von besonderem Interesse sind.279 Dies wird (»Jews still talk too much about what happened to sind, neben den europäischen Nachbarländern, die USA them in the Holocaust«). Fragen zum israelbezogenen und, als Herkunftsländer vieler Gefchteter und Migran- Antisemitismus fehlen.277 Als antisemitisch wird hier eine ten, die Länder des Nahen beziehungsweise des Mittleren Person klassifziert, die mindestens sechs der elf Items fr Ostens. Abgebildet werden im Folgenden die Werte fr »vermutlich wahr« (probably true) hält. 2014 und, sofern verfgbar, fr 2015.280

Die jngsten ADL-Studien von 2014 und 2015 bestätigen Abb. 4.13: Items in den Studien der Anti- tendenziell die Ergebnisse der frheren ADL-Studien Defamation League (2014 und 2015) von 2002–2012 und der GMF-Europe-Studie von 2008.281 Über die Jahre gesehen rangieren die deutschen Befragten »Jews are more loyal to Israel than to [this country/the hinsichtlich ihrer antisemitischen Einstellungen im euro- 278 countries they live in]« . päischen Vergleich im oberen Mittelfeld. In Europa lassen »Jews have too much power in international fnancial sich drei Ländergruppen mit jeweils unterschiedlich weit markets.« verbreiteten antisemitischen Einstellungen erkennen »Jews have too much control over global affairs.« (Abb. 4.14): »Jews think they are better than other people.« »Jews have too much control over the global media.« »Jews are responsible for most of the world's wars.« »Jews have too much power in the business world.« »Jews don't care what happens to anyone but their own kind.« »People hate Jews because of the way Jews behave.« »Jews have too much control over the United states government.« »Jews still talk too much about what happened to them in the holocaust.«

279 Die aDl hat in der studie »aDl Global 100« zwischen Juli 2013 und Feb- ruar 2014 (also vor dem letzten Gaza-Konfikt) in 100 ländern Befragungen zum thema antisemitismus durchgefhrt. Dabei konnten insgesamt 53.100 Perso- nen befragt werden, wobei die samplegrße in den meisten ländern n = 500 betrug. Im Frhjahr 2015 gab es ein Update der studie, bei dem in insgesamt 19 ländern etwa 10.000 weitere Personen befragt werden konnten. 280 Die Beschränkung auf nur zwei antwortmglichkeiten, nämlich »wahr- scheinlich wahr« oder »wahrscheinlich falsch« ist problematisch, da sie keinerlei abstufung zulässt. sie zwingt die Befragten zu einer eindeutigen Positionie- rung, womit die ja nur eingeschränkt gegebene zustimmung »wahrscheinlich wahr« umstandslos als eindeutig gewertet wird. ebenso problematisch ist es, die wertung »wahrscheinlich falsch« als eindeutige ablehnung einer aussage zu verstehen. 281 aDl, european attitudes toward Jews, new York 2002; aDl, attitudes toward Jews, Israel and the Palestinian-Israeli confict in ten european coun- 277 Der Grund dafr ist vermutlich, dass sich die aDl an einen bereits 1964 tries, new York 2004; aDl, attitudes toward Jews in twelve european coun- von Gertrude selznick/stephen steinberg fr die Usa entwickelten »Index of tries, new York 2005; aDl, attitudes toward Jews and the Middle east in Five anti-semitic Belief« orientiert haben (the tenacity of Prejudice. anti-semitism european countries, new York 2007; aDl, attitudes toward Jews in seven eu- in contemporary america, new York 1969). Kritisch ist anzumerken, dass der ropean countries, new York 2009; aDl, attitudes toward Jews in ten european Index mit fnf Fragen die Dimension des internationalen einfusses misst, so- countries, new York 2012; andreas zick/Beate Kpper, Die abwertung der an- dass die fnf Items fast alle letztlich dasselbe messen. deren. eine europäische zustandsbeschreibung zu Intoleranz, vorurteilen und 278 In ländern mit einer jdischen Population von mehr als 0,1 Prozent »this Diskriminierung, hrsg. von nora langenbacher fr die Friedrich ebert stiftung, country«; bei kleineren Populationen »the countries they live in«. Bonn 2001.

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Abb. 4.14: Verbreitung von Antisemitismus in West- und Sdeuropa (ADL 2014 und 2015 – in Prozent)

80 69 70 67

60

50

37 40 2014 29 29 29 30 27 27 2015 23 21 20 21 21 21 20 16 17 11 12 9 8 8 10 4 4 5

0

Belgien Italien Portugal Spanien SchwedenDänemark Großbritan. Frankreich Westeuropa Niederlande Deutschland Griechenland

Die skandinavischen Länder, Großbritannien282 und die Eine Mittelgruppe bildet eine Reihe von west-, sd- und Niederlande zeigen die geringste Verbreitung antisemi- osteuropäischen Ländern. Dazu gehren, neben Deutsch- tischer Einstellungen (gilt auch fr die USA mit neun land, auch Belgien, Frankreich, Italien, Portugal, Spanien bzw. zehn Prozent). Zu dieser Gruppe gehrt auch die sowie aus Ost-bzw. Ostmitteleuropa Estland (2014: 22 Pro- Tschechische Republik, die in der Umfrage von 2014 bei zent), Lettland, die Nachfolgestaaten Jugoslawiens (2014: 13 Prozent lag. Alle diese Länder gehren auch historisch Montenegro 30 Prozent, Slowenien 27 Prozent, Bosni- zu den Staaten, in denen Antisemitismus vergleichsweise en-Herzegowina 32 Prozent, Kroatien 33 Prozent) sowie marginal geblieben ist.283 Russland mit 30 bzw. 23 Prozent (Abb. 4.15).

282 hierunter fallen Großbritannien, schottland, wales und nordirland. 283 In einigen westeuropäischen ländern hat die aDl die Umfrage nur 2014 durchgefhrt: Dabei gehren norwegen und Finnland zu den ländern mit der geringsten verbreitung, während Österreich (28 Prozent), die schweiz (26 Pro- zent) und Irland (20 Prozent) im westeuropäischen Durchschnitt liegen (aDl, Global 100, 2014).

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Abb. 4.15: Verbreitung von Antisemitismus in Ost- und Ostmitteleuropa (ADL 2014/2015 – in Prozent)

50 47 44 45 45 41 42 40 38 38 40 37 36 35 33 34 35 32 32 32 30 30 30 30 27 28

25 22 23 2014 20 2015 15 13 10 5 0

Polen BelarusUngarn Serbien Estland Le=land KroaFenLitauen Ukraine Tschech. R. Slowenien Russland RumänienBulgarien Osteuropa MoldawienMontenegro Bosnien-H.

Die Werte fr die ausgewählten Länder Osteuropas bewe- Diese Ergebnisse verweisen darauf, dass historische gen sich mit einem Durchschnitt von 32 bzw. 34 Prozent Prägungen, aber auch die mehr oder weniger kritische auf einem deutlich hheren Niveau als in den westeu- Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe des ropäischen Ländern. Während eine Reihe von ihnen das Antisemitismus offenbar neben aktuellen Entwicklungen west- bzw. sdeuropäische Niveau kaum berschreiten einen Einfuss auf die heutige Verbreitung antisemitischer (siehe unter b) lässt sich in einigen dieser osteuropäischen Einstellungen in der Bevlkerung dieser Länder ausben. Länder die weiteste Verbreitung antisemitischer Einstel- Die relativ hohen Differenzen (teils Zunahmen, teils lungen konstatieren, so in Rumänien (35 Prozent/47 Pro- Abnahmen) zwischen den Ergebnissen der Jahre 2014 und zent), Ungarn (41 Prozent/40 Prozent) und Polen (45 Pro- 2015 in einigen Ländern weisen aber auf Messprobleme zent/37 Prozent). Alle drei Länder haben eine ausgeprägte hin.287 Da solche starken Abweichungen innerhalb eines antisemitische Tradition.284 In der ADL-Umfrage von Jahres fr Einstellungen ungewhnlich sind, knnte dies 2014 erreichen aber auch Bulgarien (44 Prozent), Serbien auch auf die geringen Stichprobengrße zurckzufhren (42 Prozent), die Ukraine (38 Prozent) und Litauen (36 Pro- sein, die mglicherweise nicht vergleichbar sind. zent) ähnlich hohe Werte.285 Den Ausreißer bildet hier Griechenland (Index Score 2014: 69 Prozent und 2015 von Gegenber den Durchschnittswerten von 23 Pro- 67 Prozent), mit dem hchsten Wert in allen untersuchten zent/21 Prozent bzw. 32 Prozent/34 Prozent fr die west- europäischen Ländern.286 bzw. osteuropäischen Länder fällt der Wert mit 74 Prozent fr die ausgewählten Länder des Mittleren und Nahen Ostens sowie in Nordafrika im Jahr 2014 zwei- bis dreimal so hoch aus (Abb. 4.16).

284 In einigen osteuropäischen ländern hat die aDl die Umfrage nur 2014 durchgefhrt. 285 Fr Bulgarien und serbien ist das ergebnis insofern berraschend, als in beiden ländern antisemitische einstellungen historisch wenig verbreitet waren. 286 In studien zur xenophobie sind fr Griechenland ebenfalls sehr hohe werte gemessen worden. vgl. attitudes towards Minority Groups in the euro- pean Union. a special analysis of the eurobarometer 2000 survey on Behalf of the european Monitoring center on racism and xenophobia by sOra, 287 Die aDl erklärt dies mit der wirkung der anschläge in Frankreich anfang wien 2001. als Bewertung wird dort festgehalten: »Greece stands out. It has 2015. Dafr spricht, dass gleichzeitig in Deutschland, Frankreich und Belgi- the lowest percentage of people classifed as tolerant (7 Prozent) and a high en die sorge grßer wurde, Gewalt gegen Juden bzw. jdische einrichtungen percentage of intolerant (23 Prozent) and ambivalent (43 Prozent) people.« Im knnte zunehmen (aDl, Global 100, 2015, s. 20). Dies erklärt aber nicht den Durchschnitt der eU waren es nur 14 Prozent bzw. 25 Prozent (tab. 6, s. 5). anstieg in Italien und den niederlanden.

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Abb. 4.16: Verbreitung von Antisemitismus im Mittleren und Nahen Osten und in Nordafrika (ADL 2014/2015 – in Prozent)

100 92 93 87 90 81 78 80 80 75 74 74 6971 70 60 60 56 50 40 Zustimmung 2014 30 Zustimmung 2015 20 10 0

Irak Iran Trkei Algerien Ägypten Libanon Jordanien Marokko N.+M.Osten Saudi-Arabien

West Bank und Gaza

Abb. 4.17: Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der muslimischen und der christlichen Bevlkerung in den untersuchten Ländern des subsaharischen Afrika (ADL 2014 – in Prozent)

40 36 35 31 30 27 25 21 22 21 20 18 17 Muslime 14 15 13 11 Christen 10 8

5

0

Ghana Nigeria Gesamt Kamerun Tansania

Elfenbeinkste

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Im Irak (92 Prozent), in der West Bank und in Gaza 4.11 antisemitische (93 Prozent) sind die Werte am hchsten, während die einstellungen unter nach Verbreitung von antisemitischen Einstellungen im Iran (dem einzigen Staat in Nahost mit einer anerkannten jdi- europa zugewanderten schen Minderheit) trotz der antisemitischen Propaganda muslimischen Migranten des Regimes vergleichsweise noch am niedrigsten ausfällt (60 Prozent in 2015). Erstaunlich sind die hohen Werte im Fall der Trkei, die ja lange Zeit gute politische Verbindun- Angesichts dieser weiten Verbreitung antisemitischer gen zu Israel unterhalten hat und wo antisemitische Ein- Einstellungen in vielen der Herkunftsländer der nach stellungen als nicht sehr weit verbreitet galten. Allerdings Europa zugewanderten Migranten und Flchtlinge stellt weisen auch Migranten mit trkischem Hintergrund in sich die Frage, wie weit diese auch in der muslimischen Deutschland durchaus recht hohe Zustimmungswerte Bevlkerung in Europa anzutreffen sind. Zur Messung aus. Hier knnte die aktuell in und aus der Trkei heraus der Verbreitung antisemitischer Einstellungen unter der verbreitete anti-jdische Propaganda ihre Wirkung zeigen erwachsenen muslimischen Bevlkerung in Deutschland, (→ Medien) Belgien, Frankreich, Italien, Spanien und in Großbritan- nien hat die ADL 2015 mehr Muslime und Musliminnen Es wäre jedoch ein Trugschluss, wenn man diese hohen befragt, als dies dem Bevlkerungsanteil in den genannten Zustimmungswerte in den Ländern des Mittleren und Ländern entspricht (Oversampling), um so ein gengend Nahen Ostens sowie Nordafrikas primär religis verstehen großes Sample zu bekommen, das gesicherte Aussagen wrde und als Ausdruck des Islams deutete (Abb. 4.17). ber diese Bevlkerungsgruppe ermglicht.291 Deutlich wird, dass Antisemitismus – gemessen mit dem verwende- Antisemitische Haltungen sind im Mittleren und Nahen ten Index – unter der muslimischen Bevlkerung im Ver- Osten mit 64 Prozent auch unter Christen weiter verbrei- gleich zur Gesamtbevlkerung deutlich hher ausgeprägt tet als unter Christen in Ost- (35 Prozent) und Westeuropa ist (Abb. 4.18). Der durchschnittliche Index Score unter (25 Prozent). Gleichzeitig liegt die Zustimmung zum Anti- den Muslimen betrug in den sechs Ländern fr dieses semitismus bei der muslimischen Bevlkerung in Asien Sample 55 Prozent. Die ADL fhrt dieses Ergebnis primär bei nur 37 Prozent (allerdings mit von Land zu Land ext- auf die Religion zurck, doch zeigt die ADL-Studie selbst, remen Unterschieden)288 und in Afrika sdlich der Sahara dass die Herkunftsregion wahrscheinlich entscheidender bei durchschnittlich nur 17 Prozent.289 Die muslimische ist. Nun stammt allerdings die muslimische Bevlkerung Bevlkerung stimmt beispielsweise in Nigeria antise- in den untersuchten Ländern – mit Ausnahme Groß- mitischen Aussagen nur zu acht Prozent zu, gegenber britanniens, wohin v.a. Muslime aus Asien zugewandert 22 Prozent der christlichen Bevlkerung. In Ghana beträgt sind292 – ganz berwiegend aus den belasteten Ländern das Verhältnis 18 Prozent vs. 14 Prozent.290 des Nahen Ostens und den sogenannten Maghrebstaaten. Die ADL-Studie von 2015 vergleicht die Ergebnisse fr die Somit scheint eher die Region und nicht die Religion Muslime in Europa mit denen fr die Herkunftsländer ausschlaggebend fr die Zustimmung zu antisemitischen und kommt zu dem Ergebnis, dass erstere den antise- Aussagen zu sein. Die Ergebnisse zeigen, dass es v.a. die mitischen Items des Index durchgängig weniger häufg in den Nahostkonfikt direkt oder indirekt involvierten zustimmen, teils mit nur geringem, teils aber auch sehr arabischen Staaten sind, die die hchsten Werte auf dem deutlichem Abstand. Antisemitismus-Index erzielen.

288 so stimmen in Indien mit 24 Prozent und in Bangladesh mit 32 Prozent deutlich weniger Befragte zu als in Malaysia mit 62 Prozent (unter christen 41 Prozent) und Indonesien mit 83 Prozent. 289 zählt man die Insel Mauritius mit 62 Prozent fr die muslimische und 41 Prozent fr die christliche Bevlkerung der Insel dazu, so liegt fr die Be- 291 aDl, Global 100, 2014/15. fragten im subsaharischen afrika der Durchschnitt bei christen wie Muslimen 292 allerdings weisen auch die in Großbritannien befragten Muslime mit bei 24 Prozent. 54 Prozent einen hohen wert auf ebenso wie in Deutschland, wo trkische zu- 290 aDl, Global 100, 2014, s. 9. wanderer den grßten anteil der Muslime stellen.

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Abb. 4.18: Antisemitismus unter Muslimen in Westeuropa im Vergleich mit der Gesamtbevlkerung (ADL 2014/2015 – in Prozent)

80 68 70 62 60 56 56 54 49 50

40 29 29 Muslime 30 21 Gesamtbev. 20 17 16 12 10

0

Italien Belgien Spanien Frankreich Deutschland Großbritan.

Der von Gnther Jikeli 2015 zusammengestellte Überblick Auffällig ist dabei, dass in Deutschland die Differenz ber die Umfragen, in denen sowohl Muslime wie Nicht- zwischen Muslimen und Christen deutlich geringer muslime in einer Reihe von europäischen Staaten befragt ausfällt als in den anderen europäischen Ländern, was wurden, zeigt ebenfalls durchgängig eine hhere Zustim- vermutlich auf die unterschiedlichen Herkunftsregionen mung zu antisemitischen Items unter der muslimischen der muslimischen Migranten zurckzufhren ist, wobei im Vergleich zur brigen Bevlkerung.293 Eine Studie von trkische Zuwanderer weniger antisemitisch geprägt sind Ruud Koopmans und Kollegen zu religisem Fundamen- als Migranten aus den Staaten des Nahen Ostens und talismus und Gruppenfeindschaft bestätigt 2013 diesen Nordafrikas. Befund.294

Abb. 4.19: »Jews cannot be trusted« (Zustimmung in Prozent; Six Country Immigrant Integration Comparative Survey)

Austria Belgium France Netherlands Sweden

self-identifed christians 10,7 7,6 7,1 10,5 8,4 8,6 (70 Prozent of the native sample) self-identifed Muslims (97 Prozent of the interviewees of 64,1 56,7 43,4 28,0 40,4 36,8 turkish or Moroccan origin)

293 Gnther Jikeli, antisemitic attitudes among Muslims in europe: a sur- vey review, in: IsGaP Occasional Paper series 1 (2015), http://isgap.org/wp- content/uploads/2015/05/Jikeli_antisemitic_attitudes_among_Muslims_in_ europe.pdf (eingesehen 2.1.2016). 294 ruud Koopmans, religious Fundamentalism and Out-Group hostility among Muslims and christians in western europe, in: http://wzb.eu/sites/ default/fles/u8/ruud_koopmans_religious_fundamentalism_and_out-group_ hostility_among_musslims_and_christians.pdf (eingesehen 28. 11. 2016). 295 evelyn ersanilli/ruud Koopmans, the six country Immigrant Integration comparative survey (scIIcs) – technical report, Berlin 2013.

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4.12 Fazit Fundamentalismus eine antisemitische Mobilisierung, die durch mehrere parallele Entwicklungen der politischen Im historischen Vergleich mit der Zeit vor 1945, aber auch Weltlage seit 1989 begnstigt wird. Eine weitgehend mit den letzten 60 Jahren in Deutschland oder den stabile Situation, was die Verbreitung antisemitischer meisten anderen europäischen Ländern war der offene Einstellungen in der Bevlkerung betrifft, geht einher mit Antisemitismus gesamtgesellschaftlich wohl selten so sehr einer erhhten Aktivität auf der Ebene von Meinungsäu- an den Rand gedrängt wie heute.296 Gleichzeitig sind ßerungen, Propaganda und Übergriffen auf der Hand- modernere Facetten des Antisemitismus auch in der lungsebene. Ein ähnliches Bild ergeben die empirischen breiten Bevlkerung nach wie vor weit verbreitet; dazu Daten auch fr andere europäische Länder wie Großbri- gehrt zum einen die Forderung nach einem »Schluss- tannien, Schweden oder die Niederlande – im Übrigen strich«, in dem auch immer eine gewisse, fr den Antise- drei Länder, in denen antisemitische Einstellungen in der mitismus so typische Täter-Opfer-Umkehr mitschwingt, Bevlkerung wenig verbreitet sind, die aber seit einigen zum anderen aber auch der israelbezogene Antisemitis- Jahren erhhte Zahlen antisemitischer Übergriffe und mus. Darber hinaus erleben wir derzeit in gewissen altbe- eine entsprechend hohe ffentliche und politische kannten Spektren, nämlich im Bereich des Rechts- und Aufmerksamkeit fr den Antisemitismus aufweisen. Linksextremismus, aber auch im islamistischen

Handlungsempfehlungen – Antisemitische Einstellungen in der Bevlkerung Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … ein regelmäßiges, vom Bund fnanziertes Monitoring antisemitischer Einstellungen in Form einer repräsentativen Bevlkerungsbefragung sowie qualitativer Studien unter Bercksichtigung besonderer Bevlkerungsgruppen. Bislang gibt es kein regelmäßiges Monitoring. Durch private stiftungen in auftrag gegebene studien fokussieren momentan nicht spezifsch auf das thema antisemitismus. reine repräsentative Bevlkerungsumfragen ermglichen zudem keine auskunft ber antisemitismus bei einzelnen Bevlkerungsgruppen (z.B. eingewanderte oder junge Per- sonen). Diese Bevlkerungsgruppen knnten z.B. durch ein gezieltes »Oversampling« bzw. durch ergänzende studien auch in etwas grßeren, aber regelmäßigen abständen erreicht werden. ziel ist es zudem, mittels qualitativer Untersuchungen mehr ber das sich wandelnde verständnis von antisemitischen Facetten und zugängen zum thema sowie die sich ändernden individuellen wissensbestände und (auch generativ unterschiedlichen) verarbeitungen zu erfahren. von besonderem Interesse sind hier einerseits studien zu den sich ändernden einstellungen junger Personen und andererseits zu den sichtweisen von Personen mit »Migrationshinter- grund«. Insbesondere ist hier auch die Frage zu stellen, inwieweit politische Prozesse in den herkunftsländern einfuss auf die hier lebende migrantische Bevlkerung haben und wie sich dies auf ihre einstellungen auswirkt (z.B. russland oder trkei).

296 vgl. lars rensmann/Julius h. schoeps, Politics and resentment: exami- ning antisemitism and counter-cosmopolitanism in the european Union and Beyond, in: dies. (hrsg.), antisemitism and counter-cosmopolitanism in the european Union and Beyond, leiden/Boston 2010, s. 3–79, hier s. 4.

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5 Erfahrungsräume und Perspektiven der jdischen Bevlkerung im Umgang mit Antisemitismus

hin zu der Frage nach der Wirkung von Antisemitismus 5.1 Perspektive von Jdinnen auf diejenigen, die ihn tagtäglich erleben, stellt sich nicht und Juden in Deutschland von selbst ein, sondern bedarf politischer und pädagogi- scher Untersttzung.297 auf antisemitismus Erklärtes Anliegen des zweiten UEA ist es, der »jdischen Während auf der einen Seite die Aufmerksamkeit fr Perspektive« explizit Raum zu geben, im Expertenkreis die Täterseite in Fachkreisen präsent ist und Studien zur selbst und – im Rahmen einer in Auftrag gegebenen Stu- Verbreitung von Antisemitismus auf der Einstellungse- die – durch Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern bene (→ Einstellungen) und bei antisemitisch motivierten jdischer Einrichtungen sowie mit Jdinnen und Juden. Taten (→ Straftaten) vorliegen, gibt es berraschend wenig Kenntnis darber, wie die unmittelbar betroffenen Jdin- nen und Juden in Deutschland Antisemitismus erleben. Wie sehen Jdinnen und Juden das Problem des aktuellen 5.2 Jdische Gemeinschaften Antisemitismus? Was sind ihre Wahrnehmungen, Ein- in Deutschland: historische schätzungen und Bewältigungsstrategien in der alltäg- lichen Konfrontation mit Antisemitismus? Wo fnden ausgangssituation und diese Konfrontationen statt und was bedeuten sie fr das selbstverortung jdische Leben in Deutschland vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verfolgung und der damit verbun- denen Folgewirkungen? Seit vielen Jahren steht – zumindest in der breiten ffentlichen Wahrnehmung – die nationalsozialistische Die Perspektive derjenigen, die von Fremdmachung, Verfolgung und Ermordung der Juden Europas im Mit- Abwertung und Ausgrenzung unmittelbar betroffen sind, telpunkt der deutsch-jdischen Beziehungen. Vor diesem unterscheidet sich in der Regel von der Perspektive der Hintergrund verengt sich die Wahrnehmung des jdi- Mehrheitsgesellschaft, die mit solchen Erfahrungen nicht schen Lebens in Deutschland auf Verfolgung und Massen- konfrontiert wird. Denjenigen, die antisemitische Bedro- mord als Kulminationspunkt. »So sehr fr die historische hungen befrchten und ihre Sorge vor einem erneuten Darstellung gefordert wird, dass die Opferperspektive Anstieg von Antisemitismus bis hin zu krperlichen angemessen bercksichtigt werden soll, so sehr ist die Angriffen artikulieren, schlägt nicht selten Unverständnis Einengung […] auf die Opfergeschichte fatal, dies kommt entgegen. Mehr oder weniger offen im Raum steht der nicht zuletzt in dem unter Jugendlichen bereits banali- Vorwurf, die Situation bertrieben darzustellen, beremp- sierten Schimpfwort ›Du Opfer!‹ auf perverse Weise zum fndlich oder alarmistisch zu sein. Bei der Auseinanderset- Ausdruck.«298 (→ Prävention) zung mit Antisemitismus sind die Schicksale, Erinnerun- gen und Erfahrungen von Juden in Deutschland ber den Das Außergewhnliche an der Situation der jdischen Holocaust eng mit den Perspektiven von nichtjdischen, Gemeinschaft in Deutschland ergibt sich zwar in der Tat alteingesessenen deutschen Mehrheitsangehrigen ver- aus der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermor- knpft, deren Vorfahren auf die eine oder andere Weise dung der Juden und den daraus resultierenden Spätwir- an der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung kungen. Dennoch lässt sich auf eine deutlich längere der Juden indirekt oder direkt beteiligt waren und ihre deutsch-jdische Geschichte verweisen, die zudem im Erlebnisse an die Nachkommen weitergegeben haben. Holocaust keinen Endpunkt gefunden hat, sondern weiter Die Frage, wie Jdinnen und Juden heute in Deutschland fortgefhrt wird und mittlerweile durch einen umfas- Antisemitismus erleben, berhrt also immer auch Fragen senden demografschen und kulturellen Wandel der der familialen und kollektiven Identität und fordert zur Selbstrefexion der eigenen Familiengeschichte heraus. 297 astrid Messerschmidt, vortrag bei der tagung »Das Gercht ber die Ju- Die Thematisierung von Antisemitismus ist daher von den« der evangelischen akademie Berlin am 5.9.2015. Abwehrmechanismen geprägt und die Sicht der Betroffe- 298 wolfgang Geiger, zwischen Urteil und vorurteil. Jdische und deutsche nen wird tendenziell ausgeblendet. Ein Perspektivwechsel, Geschichte in der kollektiven erinnerung, Frankfurt a.M. 2012, s. 8.

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jdischen Gemeinschaft geprägt ist, ausgelst u.a. durch Zu den Besonderheiten des jdischen Lebens in Deutsch- die Wiedervereinigung und den Zuzug von Jdinnen land gehrt auch ein Judentum, das sich in den letzten und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach 1989. Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht verändert und neu Die jdische Gemeinschaft in Deutschland ist daher formiert hat. »Juden in Deutschland verändern ihre orga- sehr divers. Juden, die hier leben, haben unterschiedli- nisatorischen Strukturen, ihre Haltungen gegenber der che Zugänge zum Jdisch-Sein, verfgen oftmals ber nichtjdischen Umwelt, aber auch ihr Selbstverständnis mehrere Staatsangehrigkeiten und eine ganz individuelle und ihre Einstellungen zur brigen jdischen Welt.«303 Mischung verschiedener Herknfte und Identifkationen. Institutionell gesehen wuchs die jdische Gemeinschaft in Sie leben hier, gestalten das Leben in dieser Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland von 1955 mit 16.000 auf aktiv mit und sehen Deutschland als ihren Lebensmittel- ca. 28.000 Mitglieder (Stand: 1980er-Jahre) und verdrei- punkt. fachte sich dann durch den Zuzug von etwa 250.000 rus- sischsprachigen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in Dass es so etwas wie jdisches Leben in Deutschland gibt, den 1990er-Jahren.304 Der spätere Zuzug aus Israel ist eben- ist dabei keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Fr die falls ein wichtiger Aspekt der Migrationsbewegungen und erste Generation war der Nationalsozialismus kein »abge- Veränderungen der letzten Jahre und hat inzwischen Zge schlossenes Kapitel der Geschichte«, sondern ein Teil ihrer eines Mythos angenommen, da es keine verlässlichen Sta- Gegenwart, die u.a. auch das Bedrfnis nach einer ver- tistiken gibt, wie viele Israelis heute in Deutschland und trauten jdischen Gemeinschaft mitbestimmte. Obwohl v.a. in Berlin leben. Empirisch-wissenschaftliche Erkennt- in den ersten Nachkriegsjahren ein dauerhaftes Leben in nisse ber die Grnde und Wirkungen dieser Bewegung Deutschland nur fr die wenigsten vorstellbar war, haben liegen bisher kaum vor, aber die »neue Community« wird sich doch einige entschieden zu bleiben. Dabei dominierte bereits breitfächig diskutiert.305 Auch hier handelt es sich jedoch bei vielen das Lebensgefhl, im Land der Täter um eine heterogene Gruppe von Menschen, die unter- »auf gepackten Koffern« zu sitzen.299 Die Entscheidung schiedliche Identitäts- und Lebensentwrfe mitbringen. fr einen Verbleib in Deutschland ging fr viele mit einer quälenden Ambivalenz und einem tiefen Zwiespalt einher. Aktuell sind unter dem Dach des Zentralrats der Juden Der Abschied von diesem Provisorium konnte in vielen 23 Landesverbände mit 105 jdischen Gemeinden und Familien erst viel später durch ihre Kinder und Enkelkin- knapp 100.000 Mitgliedern organisiert (Stand: 2015). Die der vollzogen werden.300 Sie fhrten ihren eigenen Dialog Zahl der in Deutschland lebenden Jdinnen und Juden mit der deutschen und jdischen Identität und haben ein kann jedoch als doppelt so hoch geschätzt werden. Das ganz eigenes Selbstverständnis dazu entwickelt, das sich Spektrum der religisen Denomination ist weit gefächert neben der Verfolgungs- und Ermordungsgeschichte auf und reicht von orthodoxen ber konservative bis hin zu ein vitales und selbstbewusstes Judentum bezieht. Micha liberalen Gemeinden. Diese werden vom Zentralrat der Brumlik spricht in diesem Zusammenhang von einer Juden in Deutschland politisch vertreten. Neben jdischen »Nach-Shoah-Identität«.301 Die Verfolgungserfahrung Gemeinden und Synagogen gibt es weitere Organisati- wurde mit dem zunehmenden generationellen Abstand onen, die sich im Bereich der Jugend- und Sozialarbeit weniger prägend fr die kollektive Identität der dritten sowie Bildung und Erziehung engagieren. Dazu gehren Generation, ohne dabei verdrängt oder vergessen zu wer- u. a. die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland den. Das Jdisch-Sein ist durch die Jngeren zunehmend positiv besetzt, auch wenn die Fragen der Heimat und Zugehrigkeit sich nicht fr alle gleich oder eindimensio- nal beantworten lassen.302 303 eliezer Ben-rafael/Yitzhak sternberg/Olaf Glckner, Juden und jdische Bildung im heutigen Deutschland. eine empirische studie im auftrag des l.a. Pincus Fund for Jewish education in the Diaspora, o.O. [Berlin] 2010, s. 63. 304 vgl. Judith Kessler, Jdische Migration aus der ehemaligen sowjetunion seit 1990, in: hagalil.com, 28.2.2003, http://www.berlin-judentum.de/gemeinde/ migration-4.htm (eingesehen 29.11.2016). Die zusammensetzung der Gemein- den nach dem Krieg (stand: 1950er-Jahre) bestand berwiegend aus einer 299 zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.v. (hrsg.), Juden in kleinen deutsch-jdischen Gruppe ungarischer, tschechoslowakischer und pol- Deutschland – selbst- und Fremdbilder. Pädagogisches Begleitmaterial zur nischer Juden sowie rckwanderern aus sd- und nordamerika, england, chi- schlerausstellung, Frankfurt a.M. 2009, s. 63 ff. na. angesichts politischer Konfikte, antisemitischer wellen und einer stalinis- tisch-antizionistischen Politik in Osteuropa gab es eine permanente, wenn auch 300 Meron Mendel, Jdische Jugendliche in Deutschland. eine biogra- zahlenmäßig kleine einwanderungsbewegung aus der DDr (1953), Ungarn phisch-narrative analyse zur Identitätsfndung, Frankfurt a.M. 2010. (1956), der tschechoslowakei (1968) und Polen (1968, 1973). Gesamtstatistik 301 angehrige der zweiten Generation suchten nach einer Form jdischer fr das Jahr 1981: 28.374 registrierte Gemeindemitglieder. Die zahl der nicht in Identität, die nicht ausschließlich durch die Geschichte und den holocaust ge- der Gemeinde registrierten Juden kann hher geschätzt werden. 1989 zählten prägt ist. sie forderten die jdischen Gemeinden dazu auf, neue jdische Iden- die fnf jdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen republik rund tifkationsgrundlagen zu defnieren, die auf positiven Inhalten des Judentums 400 Mitglieder, die Mehrzahl, etwa 250, lebte in Ostberlin. Diese Gemeinden begrndet sind. wurden 1990 als Mitglieder in den zentralrat aufgenommen. 302 stephanie tauchert, Jdische Identitäten in Deutschland. Das selbstver- 305 Dani Kranz, Israelis in Berlin. wie viele sind es und was zieht sie nach ständnis von Juden in der Bundesrepublik und der DDr 1950 bis 2000, Berlin Berlin? Kooperationsprojekt mit dem Deutschlandradio »Faszination und Be- 2007. fremden – 50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen«, Gtersloh 2015.

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(ZWST),306 jdische Kindergärten, Grundschulen und Reli- Empfnden von Normalität und Zugehrigkeit infrage gionsschulen/Sonntagsschulen, Gymnasien, Volkshoch- und verstärkt die Wahrnehmung von Juden als »Dritte« schulen, Jugendzentren, lokale Studentenprojekte, Batej (→ Defnition) oder »Nichtzugehrige«. Midrasch (Lehrhäuser), lokale Studentenprojekte sowie eine Vielzahl an jdischen Grass-Roots-Bewegungen.307 Der Historiker Dmitrij Belkin beschreibt in einer Umfrage von Ben-Rafael, Sternberg und Glckner zwei wichtige Aspekte, mit denen Juden in der deutschen Gesellschaft heute konfrontiert sind. Zum einen sieht er bei Juden die 5.3 Perspektivendivergenz Sorge, ihre Zugehrigkeit zum Judentum offen zu zeigen. Zum anderen beobachtet er eine angespannte Atmosphäre Ausgehend von dieser Vielfalt biografscher Erfahrungen, im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden, die auf politischen Positionierungen, Identitätsentwrfen und die belastenden Ereignisse im Zusammenhang mit der Lebensstilen lassen sich kaum Belege dafr fnden, wie nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der »die« hiesige jdische Gemeinschaft Antisemitismus Juden zurckzufhren ist. »Es gibt hier ein konstantes wahrnimmt, deutet und damit umgeht. Nichtsdestotrotz Interesse [an jdischen Themen, Anm. d. Verf.], aber gleich- gibt es einen intensiven innerjdischen Diskurs dazu. zeitig kannst du Schuldgefhle [der Nichtjuden, Anm. d. Hierfr knnen zahlreiche Erfahrungsberichte, mediale Verf.] spren, und das kann schon eine sehr belastende Diskussionen, aber auch Studien308 herangezogen werden. Erfahrung sein. Manche Deutsche sind auch einfach sehr gehemmt, wenn es um Juden und Judentum geht. Es Antisemitismus wird in hohem Maß durch Emotionen gibt wenig Raum fr freie Diskussionen, und die trau- bestimmt. Die Perspektivendivergenz spielt dabei eine matische Vergangenheit bleibt präsent.«310 Eine positive wesentliche Rolle: Während Jdinnen und Juden mit Haltung des deutschen Staates zum jdischen Leben in Antisemitismus konfrontiert werden, wird gleichzeitig Deutschland ist eng verbunden mit der beschworenen darber diskutiert, ob Antisemitismus in der Gegenwart (historischen) Verantwortung, das Verhältnis zu Juden und berhaupt noch relevant ist. Antisemitische Positionen Judentum neu gestalten zu wollen. Unsicherheiten im werden häufg bagatellisiert oder als »nicht so gemeint« Umgang miteinander bestehen jedoch auf beiden Seiten entschuldigt.309 Diese Problematik spiegelt sich etwa in der und nehmen anscheinend zu, wenn es um Israel und den Auseinandersetzung mit dem »Israel-Gedicht« von Gn- Nahostkonfikt geht. ther Grass, der sogenannten → Augstein-Debatte ebenso wie in der → Beschneidungs-Debatte. In diesen Debatten Schon diese wenigen Diskurslinien vermitteln einen zeigt sich nicht nur, dass eine sachliche Auseinanderset- Eindruck von der Perspektivendivergenz, die mgliche zung nahezu unmglich ist, sondern auch, dass die Pers- Annäherungsprozesse zwischen der nichtjdischen pektive der Betroffenen nicht selten eine andere ist als die Mehrheitsgesellschaft und der jdischen Gemeinschaft der nichtjdischen Mehrheitsbevlkerung. Vieles an dem erheblich beeinfussen. Erkennbar sind große Bemhun- Erleben von Antisemitismus bleibt fr die nichtjdische gen von ffentlicher Seite, die jdische Gemeinschaft vor Mehrheitsgesellschaft weitgehend unsichtbar. Besonders Antisemitismus zu schtzen, sei es durch Sicherheitsmaß- der sekundäre Antisemitismus, der sich zwischen den nahmen, Frderung von präventiven Bildungsprojekten Zeilen und eher als Andeutung äußert, stellt das subjektive u. a.311

306 spitzenverband und Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien wohlfahrtspfege und soziale Dachorganisation der jdischen Gemeinden auf dem Gebiet der sozialen arbeit. 5.4 Bisherige erkenntnisse zu 307 Unabhängige politische und v.a. gesellschaftliche Initiativen/vereinigun- gen, die aus eigener Kraft entstehen. jdischen Perspektiven 308 Dazu gehren u.a. eine ältere studie aus den Usa von Gary a. tobin/ auf antisemitismus sharon l. sassler, Jewish Perception of antisemitism, new York 1988; studie der Fundamental rights agency (Fra) 2012 ber Diskriminierungserleben von Juden in der europäischen Union, eine qualitative Befragung von Berliner Im deutschsprachigen Raum existiert eine Reihe aussage- synagogen der recherche und Informationsstelle antisemitismus (rIas); die kräftiger empirischer Studien zu antisemitischen Einstel- qualitative studie von Julia Bernstein, »ab und zu Kosher, ab und zu shabbat«. Identitäten, selbstwahrnehmungen und alltagspraktiken von Kindern aus »mi- lungen und Vorurteilen (→ Einstellungen). Der ber- xed families« in Deutschland, hrsg. v. JDc International centre for commu- wiegende Teil folgt kognitiven Ansätzen, d.h. es werden nity Development, Oxford 2014; die Umfrage von eliezer Ben-rafael/Yitzhak sternberg/Olaf Glckner, Juden und jdische Bildung im heutigen Deutschland, v.a. Stereotype und verbalisierte Vorurteile untersucht, studie im auftrag des l.a. Pincus Funds for Jewish education in the Diaspo- während emotionale Aspekte und die Zusammenhänge ra, o.O. 2010 sowie erfahrungsberichte der zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und anderer Bildungsträger/Projekte. 309 vgl. lars rensmann, Die ausgrenzung des eigenen und die exklusion des 310 Ben-rafael/sternberg/Glckner, Juden und jdische Bildung, s. 45. »anderen«, in: Psychoanalyse – texte zur sozialforschung, 17 (2013) 2, s. 157– 191. 311 ebenda.

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zwischen kognitiven und affektiven Anteilen antisemi- Kultusgemeinde in Mnchen, Charlotte Knobloch, dass die tischer Kommunikation und Praxis (noch) nicht ausrei- Berichterstattung ber Israel und den israelisch-palästi- chend erforscht sind.312 Ähnlich sieht es bei der Erfor- nensischen Konfikt sehr einseitig ausfalle: »Durch die Art schung der Betroffenenperspektive aus. Bislang gibt es nur und inhaltliche Schwerpunktsetzung wird suggeriert, dass wenige Studien zum subjektiven Erleben und Wahrneh- der Staat Israel die alleinige Schuld am Nahostkonfikt men von Antisemitismus. trage. Inner-palästinensische Konfikte, Antisemitismus in der arabischen Welt und der Umstand, dass die israelische Eine Studie aus den 1980er-Jahren in den USA stellt die Bevlkerung permanent Terror-Attacken erlebt, all dies These auf, dass die jdische Wahrnehmung des Antise- wird weitgehend ausgeblendet.«316 mitismus – historisch bedingt – immer ziemlich genau ausfällt. 313 Dabei sind die meisten Juden weder bermäßig Die quantitativen Daten (→ Einstellungen) zeigen bei Hal- betroffen noch selbstgefällig im Hinblick auf Antisemitis- tungen zur deutschen Gesellschaft folgende Befunde: Eine mus. Während einige eher ängstliche Haltungen vertreten, leichte Mehrheit aller befragten Personen (52 Prozent) zgern die anderen, Antisemitismus als Problem anzuer- beschreibt ihre Verankerung in der deutschen Gesellschaft kennen. Grundsätzlich kann der Umgang von Juden mit als befriedigend oder sehr befriedigend. Eine noch grßere gegenwärtigem Antisemitismus als ausgewogen vorsichtig Zahl der Befragten (54,8 Prozent) stimmt der Aussage und erfahrungsbedingt wachsam charakterisiert werden. zu, dass ein Leben als Jude/Jdin in Deutschland heute unproblematisch sei. Der vergleichsweise hohe Prozent- Die Studie von Ben-Rafael, Sternberg und Glckner satz von Personen, die sich mit der deutschen Gesellschaft spiegelt eine durchweg positive Wahrnehmung der identifzieren bzw. sich in Deutschland zu Hause fhlen, deutschen Gesellschaft und Politik wider. Grundsätz- grndet sich offenbar auf eine ganze Reihe von objektiven lich sehen viele jdische Repräsentanten und andere Gegebenheiten. So bewerten nicht wenige der Befragten Befragte die Aufgeschlossenheit der deutschen Politik die politischen Rahmenbedingungen, die konomischen gegenber den Gemeinden und Organisationen als ein Verhältnisse, die Perspektiven fr die eigenen Kinder, das positives Kontinuum: »Im Großen und Ganzen ist die Sozialsystem und die allgemeine Lebensqualität in der Zusammenarbeit sehr produktiv. Staat, Bundesregierung, Bundesrepublik positiv oder sehr positiv. Gleichzeitig aber auch regionale und kommunale Instanzen [zeigen] bilden die Befunde auch andere Faktoren ab, die auf Juden eine Menge Aufgeschlossenheit. Ablehnende Haltungen in Deutschland durchaus problematisch wirken knnen – sind kaum anzutreffen.« Gleichwohl bestätigten einige u.a. soziale Barrieren vonseiten der nichtjdischen Bevl- Interviewpartner, dass es Unterschiede oder auch gänzlich kerung und eigene Erfahrungen mit Antisemitismus. andere Erfahrungen/Einschätzungen geben mag: »Keine deutsche Institution oder Behrde mchte sich nachsagen Grundsätzlich kann die Einstellung gegenber Deutsch- lassen, dass ihr die noch verletzliche, zarte Pfanze des land und der heutigen deutschen Gesellschaft in dieser jdischen Neuanfangs in Deutschland egal wäre. Es mag Studie als positiv eingeschätzt werden. Trotzdem scheint vorkommen, dass Juden individuell schlecht behandelt ein Teil der Juden in Deutschland durch neue (aktuelle) werden, niemals aber deren offzielle Repräsentanten.« 314 Formen des Antisemitismus verunsichert zu sein. Negative bis feindliche Haltungen gegenber Israel werden nicht Von einigen Interviewpartnern wird jedoch bemängelt, nur in den klassischen Medien, sondern verstärkt auch dass die Medien sich hauptsächlich auf historische The- in sozialen Netzwerken und politischen Bewegungen/ men beziehen: »Gedenkveranstaltungen und Berichte, die Parteien (→ politische Bewegungen; → Parteien) regist- an frheres jdisches Leben [in Deutschland, Anm. d. Verf.] riert, was das eigene (politische) Engagement in solchen erinnern, sind zahlreich. Aber der jdische Alltag kam in Netzwerken schwierig bis gänzlich unmglich macht. Die den letzten Jahren viel zu kurz. Man liest darber heute Schriftstellerin Adriana Stern berichtet dazu: »Verschie- so gut wie gar nichts. Dabei knnte soviel gezeigt werden dene Male war ich entschlossen, mich im linken politi- vom heute und hier präsenten Judentum, von seinen schen Spektrum zu engagieren […]. Das Problem beginnt neuen Facetten.«315 Ein anderer Teil der Interviewpartner damit, dass du in den weit links stehenden Gruppierungen hegt eine kritische Haltung in Bezug auf das Israel-Bild in nur Negatives erlebst, wenn du zum Thema Israel kommst den deutschen Medien, insbesondere im Hinblick auf den […]. Der Antisemitismus der äußersten Linken ist einfach Nahostkonfikt. So betont die Präsidentin der Israelitischen schrecklich. Wenn ich auf eine Demonstration [der Linken, Anm. d. Verf.] treffe und all die palästinensischen Tcher und Schals sehe und gleichzeitig die Parolen gegen Israel 312 Uffa Jensen/stefanie schler-springorum, antisemitismus und emotio- hre, dann ist das einfach unerträglich.«317 nen, in: aus Politik und zeitgeschichte, 28-30 (2014), s. 17–24. 313 tobin/sassler, Jewish Perception of antisemitism. 314 Ben-rafael/sternberg/Glckner, Juden und jdische Bildung, s. 43. 316 ebenda. 315 ebenda, s. 44. 317 ebenda.

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Eine Studie des American Jewish Joint Distribution Com- Die Befragung der Federal Agency for the Protection of mittee (JDC) zu Perspektiven jdischer Repräsentanten Human Rights (FRA) aus dem Jahr 2013 liefert ebenfalls in fhrenden Positionen in Europa, darunter amtierende wichtige empirische Befunde.322 In der Studie gaben und frhere Vorsitzende und Ratsmitglieder jdischer 66 Prozent der Befragten an, der israelisch-arabische Organisation, Rabbiner, Direktoren jdischer Schulen, Konfikt beeinträchtige ihr Sicherheitsgefhl als jdische Intellektuelle, Journalisten usw. zeigt ähnliche Befunde. Person in Deutschland ziemlich stark oder sogar ganz Antisemitismus artikuliert sich, so der Bericht, in allen erheblich. In Frankreich und Belgien war der Anteil der gesellschaftlichen Sphären und nimmt Einfuss auf die Befragten, die dies berichteten, noch deutlich hher.323 Lebensqualität der jdischen Gemeinschaft. Bei der Frage: 41 Prozent der Befragten gaben an, es wrden ihnen oft »Welche der folgenden Aspekte sind die grßten Bedro- oder ständig Handlungen der israelischen Regierung hungen fr die Zukunft des jdischen Lebens?« sehen vorgeworfen oder ihnen die Schuld dafr gegeben, weil sie Vertreterinnen und Vertreter aus Ungarn, Griechenland, Jude sind; auch dies ist in einigen anderen europäischen Frankreich, Deutschland und Österreich neben anderen Ländern noch deutlich häufger der Fall.324 Allerdings ist Faktoren auch den aktuellen Antisemitismus als eine die Umfrage noch vor der letzten antisemitischen Welle potenzielle Bedrohung fr die jdische Gemeinschaft in im Zuge des Gaza-Konfikts im Sommer 2014 erhoben und ihrem Land (→ Straftaten).318 verffentlicht worden. Fr das Jahr 2014 verzeichnet die Polizeistatistik einen Anstieg antisemitischer Straftaten: Mithilfe einer Befragung von zehn Berliner Synago- Knapp 200 antisemitische Straftaten zählte die Berliner gen-Gemeinden konnten 2015 wichtige Erkenntnisse ber Polizei im Jahr 2014.325 Auch Berichte von Übergriffen den ganz normalen Alltag Berliner Jdinnen und Juden häufen sich. Doch dabei handelt es sich v.a. um strafrecht- generiert werden.319 Die Befragung zeigt, wie unterschied- lich relevante Vorfälle. Die vielen alltäglichen Provoka- lich die Perspektiven auf Antisemitismus sein knnen tionen, Pbeleien, Drohungen und Beleidigungen, die und wie wichtig jede einzelne von ihnen ist: »Obwohl nicht in den strafaren Bereich fallen, werden bislang alle Interviewpartner Antisemitismus als gesellschaftlich kaum dokumentiert (→ Straftaten). Fr das Jahr 2014 sind relevantes Problem beschrieben haben, unterscheiden sich besonders die ffentliche Verbreitung antisemitischer doch ihre Wahrnehmungen und v.a. das Ausmaß selbst Verschwrungsideologien, offene judenfeindliche Parolen, gemachter Erfahrungen. Während hier Wahrnehmungen Angriffe und Sachbeschädigungen im Rahmen antiisraeli- als Rezeptionsweisen gesellschaftlicher Debatten und scher Demonstrationen hervorzuheben. nicht fallbezogene Beschreibungen von Antisemitismus gefasst werden, beziehen sich Erfahrungen anderer auf konkrete Vorfälle, welche die Befragten entweder selbst 5.4.1 Subjektive Antisemitismuserfahrungen erlebt haben oder von denen sie Kenntnis bekommen haben.«320 Aussagen wie: »Ich weiß noch genau, dass ich in der Grundschule nicht wollte, dass die Leute wissen, dass In der qualitativen Studie »Identitäten, Selbstwahrneh- ich jdisch bin. Ich empfand das als Makel« oder: »Die mungen und Alltagspraktiken von Kindern aus ›mixed Locken waren damals in Bonn schon ein Problem. families‹ in Deutschland«321 aus dem Jahr 2014 zeigen sich Keiner hatte dunkle Locken. Es gab auch keinen Friseur, ähnliche Befunde. Hier fallen die alltäglichen Antisemitis- der damit umgehen konnte, und auch Sarah war ein muserfahrungen der Interviewpartner ebenfalls als eine Name, der seltsam war. Jeder hat gefragt und das war mir signifkante Erfahrungskategorie auf, obwohl diese nicht unangenehm.«326 zeigen, dass die Erfahrung von Antise- im Zentrum der Studie standen und eher implizit erhoben mitismus bedeutet, mit Fragen konfrontiert zu werden: wurden. »Wo kommst du eigentlich her?«, »Du sprichst aber gut Deutsch«, »Wie ist das Wetter in deiner Heimat?«, »Du hast sicher viel Geld«, aber auch »Warum zettelt deine Regierung in Israel Kriege an?« Solche, auf den ersten 318 JDc International center for community Development. third survey of european Jewish leaders and Opinion Formers, 2015, March 2016, o.O., s. 32. Blick harmlosen Fragen deuten darauf hin, dass Juden, die 319 Die Umfrage war angelehnt an die Online-studie der Fundamental rights ihren Lebensmittelpunkt – oftmals seit Generationen – in agency von 2013 und bezog sich zum einen auf antisemitische vorfälle, die sich Deutschland haben, nicht als Deutsche wahrgenommen gegen synagogen, Beterinnen und Beter oder direkt gegen die Interviewten ge- werden. Antisemitismus zu erfahren, bedeutet darber richtet haben, zum anderen auf strategien der Bewältigung. außerdem war die Umfrage auf eine eher allgemeine einschätzung der gesellschaftlichen situati- on während der sogenannten Beschneidungsdebatte (2012) und des Gaza-Kon- fikts (2014) sowie auf die medialen, politischen und zivilgesellschaftlichen re- 322 Online-Umfrage der Fra 2013. aktionen darauf ausgerichtet. 323 vgl. Fra-studie 2013, abb. 17. 320 Benjamin steinitz, sachbericht fr das Kooperationsprojekt »wahrneh- 324 vgl. ebenda, abb. 18. mungen und erfahrungen von antisemitismus jdischer Menschen in Berlin«, hrsg. v. rIas Berlin 2015, s. 32 ff. 325 steinitz, sachbericht fr das Kooperationsprojekt. 321 Bernstein, »ab und zu Kosher, ab und zu shabbat«. 326 Bernstein, »ab und zu Kosher, ab und zu shabbat«, s. 25 f.

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hinaus auch alltägliche Mikroagressionen,327 Herabwr- bleiben nicht nur fr direkt Betroffene, sondern auch digungen und Exotisierungen, die nicht nur selbst erlebt fr die nachfolgenden Generationen eine sprbare werden, sondern auch indirekt ber Familie, ffentliche Belastung.329 Diskurse und antisemitische Vorfälle. º Auch Migrationserfahrungen sind zu bercksichti- Oft wird das subjektive Erleben von Antisemitismus und gen. Aus Interviews mit Jdinnen und Juden aus der Diskriminierung nur auf einer individual-psychologi- ehemaligen Sowjetunion zeigt sich, dass gegenwärtige schen Ebene betrachtet. Diese Perspektive hat weitrei- Erfahrungen mit Antisemitismus durch Ausschluss- chende Konsequenzen, wie zum Beispiel der sich wie- und Antisemitismuserfahrungen ihrer Familien im derholende Vorwurf, »bersensibel« zu sein oder sich die Herkunftsland verstärkt werden.330 antisemitische Beleidigung eingebildet zu haben. Bei der Auseinandersetzung mit subjektiven Antisemitismuser- º Bei mehrfachen und sich wiederholenden Antisemitis- fahrungen und ihren Auswirkungen sind daher folgende muserfahrungen besteht das Risiko, die eigene jdische Aspekte zu bercksichtigen: Identität als eine negative Kategorie zu erleben und zu verinnerlichen.331 º Reaktionen auf Diskriminierung drfen nicht alleine durch biografsche Faktoren, psychische Verfassung, Die Diskriminierungsforschung belegt vielfach, dass Persnlichkeitsstruktur oder sonstige individual-psy- das Erleben von Abwertung und Diskriminierung das chologische Faktoren erklärt werden. psychische und physische Wohlbefnden nachhaltig beeinträchtigt.332 Gleichzeitig gelingt es einigen Betroffe- º Es bedarf einer genaueren Analyse situativer Faktoren. nen, durch vielfältige Strategien, wozu u.a. die Suche nach Dies setzt gleichzeitig voraus, dass die Stimmen der sozialer Untersttzung in der eigenen Community, aber Betroffenen Gehr fnden und Solidarität erfahren. auch durch Bildung von Koalitionen gehrt, die Belastung abzufedern. Auch die Attribution eines negativen Erleb- º Antisemitismus sollte als soziale Exklusion und als nisses auf Vorurteile der jeweils anderen Akteure kann Teil gesellschaftlicher Machtverhältnisse verstanden das Selbstwertgefhl schtzen.333 Bislang ist allerdings der werden. Die Ausblendung dieser Aspekte trägt dazu bei, Zusammenhang zwischen dem Erleben von Antisemitis- dass Betroffene die Schuld fr das Geschehene bei sich mus und psychischem sowie physischem Wohlbefnden suchen und sich mit ihren Erfahrungen nicht anerkannt kaum untersucht. fhlen.328

º Das Wahrnehmen und Erleben von Antisemitismus 5.4.2 Ebenen, Formen und Ausdrucksweisen beschränkt sich nicht alleine auf das Jdisch-Sein, von Antisemitismus unter dem sondern ist mehrdimensional und vermischt sich mit Blickwinkel der Diskriminierung weiteren identitätsstiftenden Merkmalen und Diffe- renzkategorien wie Geschlecht, Alter, krperliche und Sowohl in der ffentlichen als auch in der wissenschaft- gesundheitliche Verfassung und insbesondere auch lichen Debatte wird Antisemitismus nur bedingt als Herkunft und Sprache (→ Prävention).

º Antisemitische Erfahrungen stehen in Deutschland im 329 Die auswirkungen der verfolgungserfahrungen knnen auch als Überle- benden-syndrom bezeichnet werden. engen Zusammenhang mit den Folgen der nationalso- Primäre erkenntnisquellen sind die psychotherapeutische arbeit mit Überle- zialistischen Verfolgung und Ermordung der Juden in benden der shoah sowie ihren Kindern und enkeln, andererseits die später ein- Europa. Traumatische Erfahrungen, die aufgrund ihres setzenden therapien und Untersuchungen von Kindern und enkeln der täter. extremen Ausmaßes nicht verarbeitet werden konnten, vgl. auch Gabriele rosenthal (hrsg.), Der holocaust im leben von drei Generati- onen. Familien von Überlebenden der shoah und von nazi-tätern, Gießen 1997. 330 Julia Bernstein, wollen sie uns etwa ber holocaust erzählen?, in: trauma und Intervention. zum professionellen Umgang mit Überlebenden der shoah 327 Mikroaggression ist ein sozialpsychologischer Begriff, der 1970 von ches- und ihren Familienangehrigen, Frankfurt a.M. 2010, s. 76, http://zwst.org/ ter Pierce geprägt wurde, um kleine, als bergriffg wahrgenommene äußerun- cms/documents/347/de_De/pflegebuch-trauma-intervention-rz-web.pdf gen in der alltäglichen Kommunikation zwischen weißen und schwarzen zu (eingesehen 8. 12. 2016). beschreiben. Darunter werden alltägliche äußerungen verstanden, die abwer- 331 tamar rappoport/edna lomsky-Feder/angelika heider, recollection tende Botschaften senden, die sich auf deren Gruppenzugehrigkeit beziehen. and relocation in Immigration: russian-Jewish Immigrants »normalize« their von Mikroaggression betroffen sind oft angehrige marginalisierter gesell- anti-semitic experiences, in: symbolic Interaction, 25 (2002) 2, s. 175–198. schaftlicher Gruppen: People of color, Menschen mit Migrationshintergrund, homosexuelle oder Menschen mit Behinderungen. 332 zur Übersicht Kenneth Dion, the social Psychology of Perceived Preju- dice and Discrimination, in: canadian Psychology, 43 (2001) 1, s. 2–10; nicole 328 vgl. dazu tagungsdokumentation, alltagsrassismus und rassistische Dis- hansen, Die verarbeitung von Diskriminierung in: andreas Beelmann/Kai Jonas kriminierung auswirkungen auf die psychische und krperliche Gesundheit, (hrsg.), Diskriminierung und toleranz. Psychologische Grundlagen und anwen- antidiskriminierungsstelle fr Menschen mit Migrationshintergrund – aMIG- dungsperspektiven, wiesbaden 2009, s. 155–170. ra, Mnchen 2010, http://www.elina-marmer.com/wp-content/uploads/ 2014/02/fachtagung_alltagsrassismus.pdf (eingesehen 27. 11. 2016). 333 Dion, Perceived Prejudice and Discrimination, s. 2 f.

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Diskriminierung betrachtet. Dennoch lassen sich fr das 5.5 Beschreibung der in auftrag Verständnis von Antisemitismus sowie fr die Prävention gegebenen expertise zum thema und Intervention wertvolle Hinweise aus der Forschung und Praxis zu Diskriminierung gewinnen.334 Mit dem »Perspektiven von Jdinnen Aspekt der Fremdmachung (»Othering« → Prävention),335 und Juden in Deutschland der Markierung also von Mitgliedern einer sozialen auf antisemitismus« Gruppe als »anders«, beginnt ein Prozess des Ausschlusses aus dem eigenen Kollektiv, der im schlimmsten Fall in offener Diskriminierung und Gewalt mnden kann.336 Die Diskriminierungserfahrungen und ihre Auswirkungen auf einzelne Jdinnen und Juden sowie auf das jdische Antisemitismus ist nicht nur auf individueller Ebene Leben in Deutschland sind nur selten Bestandteil der virulent, sondern Bestandteil gesellschaftlicher Strukturen Forschung. Fr den Bericht des zweiten UEA wurde daher und äußert sich hier z.B. in Diskursen, Debatten oder auch eine Expertise am Bielefelder Institut fr Konfikt- und ber normative Rollenzuweisungen. Das bedeutet, dass es Gewaltforschung (IKG) unter der Leitung von Prof. Dr. zum einen zu untersuchen gilt, wie Antisemitismus auf Andreas Zick in Auftrag gegeben,339 die sich insbesondere der individuellen Ebene wirkt (z.B. in Form von direkten mit der jdischen Perspektive auf Antisemitismus in Abwertungen und Übergriffen auf Jdinnen und Juden), Deutschland befasst. und welche Formen der Abwertung auf institutioneller und struktureller Ebene zu fnden sind (z.B. in Form von Regelungen, die jdisches Leben in Deutschland igno- 5.5.1 Ziel der Expertise rieren oder erschweren – dazu gehrt u.a. die Forderung eines Verbots der → Beschneidung,337 aber auch das Ziel der Expertise sollte es sein, Sichtweisen von Jdinnen Übergehen von Essensregeln oder die Festlegung wich- und Juden auf das Thema Antisemitismus sowie die Erfah- tiger Termine auf den Schabbat oder jdische Feiertage). rungen von Antisemitismus zu erheben. Strukturelle Formen von Diskriminierung äußern sich nicht zuletzt auch in rechtlichen Fragen und der gewähr- Fr die Expertise wurden zwei bergreifende Leitfragen ten Sicherheit und dem gebotenen Schutz, den eine gestellt: Minderheit erfährt.338 1) Wie begreifen Jdinnen und Juden das Phänomen des Antisemitismus? Die Antworten sollten Aufschluss ber die Perspek- tive von Jdinnen und Juden auf das Phänomen des Antisemitismus, ihr Verständnis von Antisemitismus und die Einschätzung mglicher Konsequenzen fr Jdinnen und Juden heute geben.

2) Wie erleben Jdinnen und Juden Antisemitismus (im Alltag, in der ffentlichen Debatte usw.)? Hier sollten Erkenntnisse ber Erfahrungen der Abwertung und Ausgrenzung, ber Ängste, Zukunfts- vorstellungen, Wnsche, das Sicherheitsgefhl und die Beziehung zu Israel gewonnen werden. 334 Gordon, w. allport, the nature of Prejudice, cambridge 1954/1971. 335 U.a. toan Quoc ngyuen, »Offensichtlich und zugedeckt« – alltagsrassis- mus in Deutschland, in: aus Politik und zeitgeschichte, 16 (2012). 5.5.2 Umsetzung der Expertise 336 Der Prozess der vorurteilsbildung ist in der sozialpsychologischen For- schung sehr detailliert und umfassend untersucht, vgl. dazu u.a. craig McGarty/ vincent Y. Yzerbyt/russell spears, stereotypes as explanations: the Formation Die Studie wurde in enger Abstimmung mit dem UEA, of Meaningful Beliefs about social Groups, cambridge 2002. unter Einbeziehung wichtiger jdischer Organisationen 337 71 Prozent der Juden in Deutschland gaben in der Fra-studie 2013 an, in Deutschland, relevanter Akteure der jdischen Com- ein verbot der Beschneidung wrde ein Problem fr sie darstellen, 50 Prozent munity, jdischer Vertreterinnen und Vertreter aus der sagten dies in Bezug auf ein mgliches verbot traditioneller schächtung. Zivilgesellschaft und der Wissenschaft sowie von vielen 338 In einer repräsentativen Umfrage von 2006 verneinte noch ein viertel der Jdinnen und Juden aus der Bevlkerung umgesetzt. Befragten, dass Juden die gleichen rechte wie die Mehrheitsgesellschaft ha- ben sollten (vgl. werner Bergmann, expertenkreis antisemitismus beim BMI, vortrag zu ergebnissen der einstellungsforschung zum: »antisemitismus in Deutschland« am 15.2.2010/aktualisierte Fassung Juni 2011, s. 6, http://www. 339 andreas hvermann/silke Jensen/andreas zick/Julia Bernstein/nathalie bagkr.de/wp-content/uploads/bergmann_antisemitismus-in-dt.pdf (eingese- Perl/Inna ramm, Jdische Perspektiven auf antisemitismus in Deutschland. hen 9.12.2016). studie des IKG der Universität Bielefeld fr den Uea, Bielefeld 2016.

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Entstanden sind am Ende drei miteinander verknpfte 5.5.3 Anlage und Umsetzung der Teilstudien: Studie in drei Teilstudien

1) Qualitative Befragung von Schlsselakteuren (Auswahl Während die ersten beiden Teile der Studie qualitative der Befragten in Abstimmung mit Mitgliedern des Methoden zur Informationsgewinnung nutzen, wurde in UEA; befragt wurden u.a. Akteure jdischer Organisa- der dritten Teilstudie eine quantitative Erhebung durchge- tionen, Rabbiner unterschiedlicher Ausrichtung und fhrt. Im Planungsstadium wurde die Studie im Rahmen aus unterschiedlichen Regionen) von Konsultationsgesprächen relevanten Akteurinnen und Akteuren der jdischen Gemeinden und Community 2) Qualitative Befragung von Jdinnen und Juden ab vorgestellt, Vorschläge fr aus ihrer Sicht zentrale Themen 16 Jahren, die berwiegend in Deutschland leben eingeholt, mgliche kritische Punkte diskutiert und um Untersttzung bei der Durchfhrung der Studie gebeten.341 3) Quantitative Befragung von Jdinnen und Juden ab 16 Jahren, die berwiegend in Deutschland leben (nicht repräsentativ, aber mglichst breiter Zugang 5.5.3.1 Qualitative Befragung (teilstudien I und II) und mglichst große Stichprobe) Der Großteil qualitativer Daten sttzt sich auf Interviews, Die Studie wurde von einem gemischt jdisch/nichtjdi- Gruppentreffen (Gruppendiskussionen und teilnehmende schen Team von Sozialwissenschaftlern unterschiedlicher Beobachtungen) und Einträge in Forschungstageb- Disziplinen geplant und durchgefhrt.340 chern.342 Als Ergänzung zum quantitativen Teil geben die Ergebnisse der qualitativen Befragung Einblick in charakteristische Erfahrungsräume von Jdinnen und Juden und bieten Anknpfungspunkte fr zuknftige »Insgesamt war im qualitativen teil dieser studie sehr Untersuchungen. großer redebedarf festzustellen. […] vielen war es explizit wichtig, dass ihre stimme als Juden gehrt Die erste Teilstudie befasst sich mit der Einschätzung wird, dass sie sich verstanden fhlen und dass sie die von Schlsselakteuren zum aktuellen Antisemitismus in Mglichkeit bekommen, ber antisemitismus offen Deutschland: Wie groß ist das Problem Antisemitismus zu sprechen, ihre Überlegungen und einschätzungen derzeit? In welchen Ausdrucksformen tritt Antisemitis- ›in die welt zu tragen‹ und ber ihre Bewältigungs- mus besonders auf? Welche besonders problematischen strategien und wnsche fr die zukunft sprechen Entwicklungen lassen sich erkennen? Wie wird die Stim- zu knnen. einige haben an dieser studie besonders mung in der jdischen Gemeinde eingeschätzt? Welche positiv geschätzt, dass Juden direkt zum thema anti- Themen, Sorgen, Wnsche usw. sind dort vorhanden? semitismus zu wort kommen, dass also nicht aus einer Hierzu wurden, in Abstimmung mit Mitgliedern des UEA, nichtjdischen sicht ber sie gesprochen wird. Dies- Schlsselpersonen ausgewählt, die die jdische Commu- bezglich sind viele IP [Interviewpartner] der ansicht, nity in Deutschland mglichst in ihrer Vielfältigkeit abbil- dass ihre Meinungen ber jdische themen oft als den und Einsicht in unterschiedliche Kontexte (Gemein- nicht ›objektiv‹ gesehen und somit als zu einseitig den, zivilgesellschaftliche Organisationen, Wissenschaft diskreditiert werden. wer hat die Deutungshoheit in usw.) haben. Die Befragung erfolgte in Form qualitativer Bezug auf die Fragen des antisemitismus? Die Betrof- Interviews mit 13 Akteurinnen und Akteuren aus unter- fenen, die subjektiv empfnden und interpretieren, schiedlichen jdischen Organisationen in Deutschland; oder die außenstehenden, die scheinbar neutral dazu zu Wort kamen leitende Fach- und Fhrungskräfte. Die stehen, aber keine eigenen Diskriminierungserfahrun- Interviews fanden im Frhsommer/Sommer 2016 statt gen bezglich des themas gemacht haben?« und wurden von Prof. Dr. Julia Bernstein und ihrem Team gefhrt und ausgewertet. Ausschnitt aus der Expertise von Julia Bernstein fr den UEA 341 Konsultationsgespräche fanden u.a. mit dem vorsitzenden des zentral- rats der Juden, Dr. Josef schuster, sowie mit vertreterinnen und vertretern des netzwerkes zur erforschung und Bekämpfung des antisemitismus (neBa) – Deidre Berger, Prof. Dr. Julius h. schoeps, anetta Kahane – statt. 342 Die autorin fhrte während der gesamten zeit der Forschung regelmäßig ein tagebuch. In diesem wurden Beobachtungen des alltags sowie aus persn- lichen netzwerken vieler jdischer Menschen zum thema antisemitismus auf 340 Beteiligt waren folgende Personen: Dr. andreas zick (sozialpsycholo- der Grundlage der erkenntnislogischen Differenz nach klassischer kulturan- ge, erziehungswissenschaftler; Universität Bielefeld), Prof. Dr. Julia Bernstein thropologischer Methode entsprechend dem Konzept der „dichten Beschrei- (Kulturanthropologin und soziologin; Frankfurt University of applied sciences), bung“ von Geertz protokolliert. clifford Geertz, Dichte Beschreibung: Beiträge Dr. andreas hvermann (soziologe; Universität Bielefeld), andreas Grau (sozio- zum verstehen kultureller systeme, Frankfurt a.M. 2002 (im Original erschie- loge; Universität Bielefeld) und silke Jensen (soziologin; Universität Bielefeld). nen in: Interpretation of culture. selected essays, new York 1973).

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In der zweiten Teilstudie, die ebenfalls von Julia Bernstein wurde u.a. ber jdische Institutionen, Einrichtungen und durchgefhrt wurde, sollte mithilfe einer qualitativen Verbände sowie ber verschieden ausgerichtete Gemein- Befragung ein vertiefter Eindruck der Perspektiven von den im ganzen Bundesgebiet, aber auch ber jdische Jdinnen und Juden in Deutschland auf ihren Umgang Medien (Zeitungen, Online-Foren) und private Netzwerke mit Antisemitismus gewonnen werden. Die Erkenntnisse versendet. Die Erhebung lief von Ende Mai bis Ende Juli der qualitativen Befragung beziehen sich in erster Linie 2016, wobei die meisten Teilnehmenden gleich zu Beginn auf 31 narrativ-biografsche Interviews, die ebenfalls im der Feldphase in der letzten Maiwoche gewonnen werden Frhsommer/Sommer 2016 gefhrt und in denen auch konnten, was fr Online-Befragungen durchaus blich ist. offene Fragen zum »Antisemitismus« beantwortet wur- den. Von den Interviewpartnern unterschiedlichen Alters Die Stichprobe stammen 14 aus der ehemaligen Sowjetunion, sieben aus Israel, zehn sind in Deutschland geboren und aufgewach- Die Stichprobe umfasst insgesamt 553 Befragte, die sen. Daneben fanden auch zwei Gruppengespräche statt. mindestens 16 Jahre alt sind und berwiegend in Deutsch- Die erste Gruppe bestand aus 26 Sozialarbeiterinnen und land leben.345 Ewas mehr als die Hälfte der Befragten sind Sozialarbeitern aus verschiedenen jdischen Gemeinden Frauen, was nahezu der Geschlechterverteilung in der in Deutschland. Die zweite Gruppe setzte sich aus 23 rus- Gesamtbevlkerung entspricht. Die Befragten sind – ver- sischsprachigen Personen des Seniorenklubs einer jdi- glichen mit der Gesamtbevlkerung – im Durchschnitt schen Gemeinde zusammen. »Die Kommunikation beider jung und hochgebildet (57 Prozent sind hchstens 45 Jahre Treffen fand auf Russisch statt. Besonders das Treffen mit alt, 63 Prozent verfgen ber einen Hochschulabschluss). Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, die alltäglich Der berwiegende Teil (77 Prozent) kommt aus Großstäd- intensive Kontakte mit einem breiteren Publikum in den ten und nur vier Prozent der Befragten wohnen in einem jdischen Gemeinden pfegen, hat uns ermglicht, viele ostdeutschen Bundesland (ohne Berlin). Die große Mehr- Informationen, alltägliche Szenarien und Geschichten zu heit der Befragten hat die deutsche Staatsangehrigkeit erfahren.«343 (68 Prozent haben nur die deutsche Staatsangehrigkeit, 15 Prozent haben darber hinaus noch eine weitere). Rund die Hälfte (52 Prozent) der Befragten sind in Deutschland 5.5.3.2 Quantitative Befragung von Jdinnen geboren, 43 Prozent kommen ursprnglich nicht aus und Juden (teilstudie III)344 Deutschland. Von Letzteren stammen gut zwei Drittel (65 Prozent) aus der ehemaligen Sowjetunion. Damit ist Ziel war es, eine mglichst große Anzahl von Jdinnen der Anteil derer, die aus der ehemaligen Sowjetunion und Juden in Deutschland nach ihrer Einschätzung und kommen, eher unterrepräsentiert. ihrem persnlichen Erleben von Antisemitismus zu befragen; dabei sollten die Perspektiven mglichst unter- Der Fragebogen schiedlicher jdischer Milieus der Community einbezogen werden. Die Studie wurde als Online-Version konzipiert. Der standardisierte Fragebogen wurde gemeinsam im Ausschlaggebend hierfr war sowohl die Erreichbarkeit jdisch/nichtjdischen Team und in enger Abstimmung von mglichst vielen Personen als auch Zeit- und Kosten- mit Mitgliedern des UEA entwickelt, dann vor der Haupt- abwägung. Der Feldzugang zu der Zielgruppe wurde mg- untersuchung in einem Pretest erprobt und noch einmal lichst breit angelegt. Die Einladung zur Teilnahme und der berarbeitet. Neben einer deutschsprachigen Version Link zur Online-Studie wurde im Schneeballsystem ber wurde auch eine russischsprachige zur Verfgung gestellt; Schlsselpersonen versendet; eine mglichst heterogen auch die Einladung zur Teilnahme wurde in zweisprachi- zusammengesetzte Liste mit Schlsselpersonen wurde ger Version verschickt. Der Bogen umfasst insgesamt rund mit Mitgliedern des UEA abgestimmt. Der Fragebogen 150 Fragen und wurde im Durchschnitt in einer knappen halben Stunde ausgefllt.

343 Die Befragung wurde in Form narrativer Interviews durchgefhrt, fr die zuvor leitfragen entwickelt worden waren. zusätzlich wurden zwei Gruppenin- Vergleichbarkeit mit der FRA-Studie 2013 terviews durchgefhrt. Die Interviews fanden in mglichst privater, angeneh- mer und vertrauensvoller atmosphäre statt. Die jeweiligen Gesprächsprotokol- Die Anlage der fr den UEA angefertigten Studie folgt le konnten mittels der teilnehmenden Beobachtung im hinblick auf die in den Gruppen angesprochenen aspekte gefhrt und fr den Bericht ausgewertet im Wesentlichen der FRA-Studie 2013 (beides sind werden. Obwohl ursprnglich lediglich 20 Interviews mit den Betroffenen ge- Online-Studien, die Fragebgen und Fragen sind ähn- plant waren, wurden entsprechend dem Prinzip des »sättigungsprozesses« viel mehr Interviews und zusätzlich noch Beobachtungen und Gespräche durch- lich), sodass sich das Muster der Ergebnisse insgesamt gefhrt. vgl. Daniel Bertaux (hrsg.), Biography and society: the life history im Sinne einer Validierung durchaus vergleichen lässt, approach in the social sciences, london 1981. 344 Beruht auf den ergebnissen einer quantitativen Online erhebung, die im auftrag des Uea als teil der studie zu »Jdischen Perspektiven auf antisemitis- 345 Umfang der stichprobe nach Bereinigung. Die Bereinigung folgte den mus in Deutschland« vom Institut fr interdisziplinäre Konfikt- und Gewaltfor- blichen Kriterien: v.a. abweichung von der defnierten stichprobe und frher schung in Bielefeld durchgefhrt wurde. abbruch der Umfrage.

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die Ergebnisse im Einzelnen sich aber aus methodischen 5.6.1 Die große Resonanz zeugt vom Bedarf, Grnden der unmittelbaren Vergleichbarkeit entziehen. angehrt und gehrt zu werden

Stichprobe: Die Stichprobe ähnelt der Stichprobe der Dass berhaupt eine Studie zu der Fragestellung durch- FRA-Studie, insbesondere was das hohe Bildungsniveau, gefhrt und Jdinnen und Juden nach ihren Ansichten die berwiegend deutsche Staatsangehrigkeit und den und Erlebnissen gefragt wurden, stieß bei zentralen hohen Anteil der Befragten mit Wohnort in großen Städ- Akteuren, aber auch bei vielen Befragten auf ein sehr ten betrifft. Lediglich in Bezug auf die Altersverteilung positives Echo; auch der Fragebogen wurde insgesamt von zeigt sich ein Unterschied zur FRA-Studie: Die Befragten vielen positiv bewertet, und viele Befragte gaben in der der Teilstudie III sind in der Tendenz noch etwas jnger. Kommentarspalte am Ende des Fragebogens die Rckmel- In der FRA-Studie fnden sich zudem keine Informationen dung, wie gut und wichtig sie eine solche Studie fnden. ber den Anteil der Befragten, die aus der ehemaligen Über 3000 Personen ffneten die Startseite, ein Drittel Sowjetunion zugewandert sind. Durch die Gewinnung der dieser Personen begann mit der Befragung und rund Stichproben beider Studien im Schneeballsystem lässt sich 600 Personen beendeten sie. Damit liegt die Gesamtbeen- eine Vergleichbarkeit jedoch letztlich – trotz bestehender digungsquote bei fast einem Fnftel (gut 18 Prozent), was Ähnlichkeiten – nicht gewährleisten.346 fr Umfragen in diesem Format als gut einzuschätzen ist. Bereits dies spiegelt den großen Bedarf von Jdinnen und Fragebogen: Die Fragen ähneln sich, wurden aber z.T. in Juden wider, in ihrer Perspektive, ihrem Erleben und ihren unterschiedlichen Fragekontexten gestellt (z.B. einmal am Sorgen sichtbar, ernst genommen und gehrt zu werden. Anfang, einmal in der Mitte des Fragebogens nach jeweils anderen vorangegangenen Themen). Etliche Befunde der FRA-Studien wurden in der zugänglichen Publikation nur 5.6.2 Jdische Identität ber alle untersuchten Ländern hinweg berichtet, was den Vergleich zusätzlich erschwert. Die große Mehrheit der Befragten identifziert sich selbst als jdisch (93 Prozent voll und ganz bzw. eher) und Israel Die Befunde der nun vorgelegten Studie knnen also ist ein wichtiger Teil dieser jdischen Identität (fr 80 Pro- nicht direkt mit denen der FRA-Studie verglichen werden, zent voll und ganz oder eher) (vgl. Abb. 5.1). 72 Prozent sondern die Hinweise aus beiden Studien ergänzen ggf. der Befragten sind Mitglied einer jdischen Gemeinde einander und komplementieren das Bild. oder Organisation (damit sind auch in dieser Stichprobe ähnlich wie in der FRA-Stichprobe an Organisationen gebundene Personen vermutlich etwas berrepräsentiert). Hingegen ist nur fr weniger als die Hälfte der Befragten 5.6 ergebnisse der in auftrag die religise Praxis im Alltag wichtig (fr 43 Prozent sehr gegebenen studie347 oder eher wichtig). Auch die große Mehrheit der Befragten der FRA-Studie identifziert sich eindeutig als jdisch, ohne sich aber mehrheitlich als religis zu bezeichnen Im Folgenden werden zentrale Befunde der drei Teilstu- bzw. der religisen Praxis konsequent zu folgen. Hier ist dien zusammengefasst und um Befunde aus vorangegan- fr beide Befragungen kritisch anzumerken, dass Perso- genen Untersuchungen ergänzt. Die Befunde der aktuel- nen, die sich selbst nicht so sehr als jdisch identifzieren len Studie sind dabei – wie gezeigt werden wird – in vielen ggf. auch seltener bereit waren, an der Studie teilzuneh- Aspekten denen der FRA-Studie berraschend ähnlich. men, die sich explizit an Juden richtete.

346 Die zusammensetzung der stichproben knnte u.a. durch unterschied- liche zugangsweisen (d.h. ber welche Kanäle die stichproben gewonnen wurden) voneinander abweichen. so hat die Fra-studie nach eigener aussage offenbar v.a. Personen erreicht, die mit einer jdischen Organisation in Kontakt stehen, während vermutlich nicht-organisierte Personen eher unterrepräsen- tiert waren. Die hier vorgelegte neue studie hat ähnliche zugangswege gewählt, aber darber hinaus versucht, ber soziale netzwerke auch Personen ohne nä- heren Kontakt zu jdischen Organisationen zu erreichen, auch wenn dies nur bedingt gelungen zu sein scheint. 347 alle Prozentangaben und abbildungen wurden aus der expertise von zick u.a. 2016 bernommen. Dort fnden sich zu einigen aspekte weitere, detaillier- tere ergebnisse.

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Abb. 5.1: Jdische Identität (Angaben in Prozent)

Wie stark identifzieren Sie sich 68 25 6 damit jdisch zu sein? Israel ist ein wichtiger Teil meiner 52 28 14 jdischen Identität 0% 20% 40% 60% 80% 100% voll und ganz/sehr eher eher nicht

Abb. 5.2: »Die Erfahrungen meiner Eltern und Großeltern …« (in Prozent)

...machen mich stark. 12 25 35 24

...bringen mich dazu, mich mit meiner jdischen Identität 9 12 37 40 auseinanderzusetzen. ...bringen mich dazu, aktiv gegen aktuellen Antisemitismus 8 24 33 31 vorzugehen.

...belasten mich heute noch. 19 26 30 22

...haben keine Bedeutung fr mich. 70 17 5 3

trifft berhaupt nicht zu trifft eher nicht zu trifft eher zu trifft voll und ganz zu

5.6.3 Erfahrungen der Großeltern und dass die Sensibilität u.a. mit der Tradierung familiärer und Beständigkeit antisemitischer Stereotype kollektiver Erzählungen zur Verfolgung und Ermordung der Juden zusammenhängt: »Alles was damals passiert ist, Die traumatisierenden Nachwirkungen Holocaust sowie bleibt immer im Kopf.«348 Eine Interviewte beschreibt im seine Bedeutung fr die nachkommenden Generationen Rahmen der qualitativen Befragung hierzu ihre Gefhle: sind in der Öffentlichkeit weniger präsent als die formalen »Der Holocaust ist präsent und es ist schon so weit, dass Erinnerungsrituale. Die Teilnehmenden der Studie wur- ich schon fast Angst habe, dass es bei meinen Kindern den gebeten, darber Auskunft zu geben, was die Erfah- nicht präsent sein wird. Was eigentlich verrckt ist, weil rungen ihrer Eltern und Großeltern fr sie heute bedeuten ich eigentlich froh sein muss, dass sie es nicht mehr so (Abb. 5.2). So geben 77 Prozent an, sich deshalb mehr mit extrem haben, und ich ja schon weniger mitbekommen ihrer jdischen Identität auseinanderzusetzen, 64 Prozent habe […] als meine Eltern. […] Aber Antisemitismus ist der Befragten gehen aktiv gegen Antisemitismus vor und und bleibt ein Problem.«349 Gleichwohl freuen sich einige 59 Prozent geben an, dass sie die Erfahrungen der vorheri- berlebende Großeltern, dass ihre Kinder in Deutschland gen Generation stark machen. Umgekehrt sind die Erfah- ber Antisemitismus und Judentum laut sprechen, sich fr rungen der Eltern- und Großelterngeneration aber auch andere Minderheiten einsetzen und ein eigenes, positives fr mehr als die Hälfte der Befragten (52 Prozent, darunter jdisches Selbstverständnis entwickeln knnen. insbesondere ältere Personen) heute noch belastend. Nur ein geringer Teil der Befragten sagt, diese Erfahrungen hätten keine Bedeutung fr sie (acht Prozent).

Alle Befragten der Online-Studie sind sich der Bestän- digkeit und der langen Tradition des Antisemitismus bewusst. Die Sozialisation fhrt zu einer gesteigerten 348 Die absolute Mehrheit aller Interviewpartner der qualitativen Befragung Sensibilität fr die Gefahr der Diskriminierung und dazu, sind nachfahren (2. oder 3. Generation) von Jdinnen und Juden, die die shoah dass betroffene Menschen schneller subtile Anzeichen berlebt haben. des Antisemitismus erkennen. Es ist nicht berraschend, 349 vollständiges zitat in der ausfhrlichen Berichtsversion.

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5.6.4 Einschätzung von Antisemitismus sensibilisiert. Hierbei drfte sowohl die Erfahrung als als aktuelles Problem Betroffene als auch das hohe Bildungsniveau der Befrag- ten eine Rolle spielen. Aus der Forschung ist bekannt, dass Die große Mehrheit der Befragten (76 Prozent) betrachtet die Sensibilität gegenber Abwertungsprozessen mit der Antisemitismus als ein eher großes oder sehr großes Bildung zunimmt, während die eigene Erfahrung von Problem in Deutschland und verglichen mit verwandten Diskriminierung einerseits zu mehr Empathie fhren, Phänomenen als ein besonders großes Problem (Abb. 5.3). aber auch umgekehrt eigenes Abwertungsverhalten Allerdings bewerten fast genauso viele Befragte Islam- motivieren kann. feindlichkeit und Rassismus als ein eher oder sehr großes Problem (64 Prozent). In der FRA-Studie werten mit Nach verschiedenen Feldern und Formen gefragt 61 Prozent nicht ganz so viele Befragte aus Deutschland (Abb. 5.4), in denen Antisemitismus vorkommt, nennen die Antisemitismus als großes Problem, aber – noch vor Befragten in absteigender Häufgkeit in großer Mehrheit Rassismus und Arbeitslosigkeit – als das wichtigste. Die Antisemitismus im Internet einschließlich Diskussions- Befragten sind also nicht nur gegenber Antisemitismus, foren und sozialen Netzwerken (87 Prozent), die verzerrte sondern auch fr andere Formen der Ausgrenzung Darstellung von Israel in den Medien (84 Prozent), die

Abb. 5.3: »Ist Folgendes Ihrer Meinung nach heutzutage ein Problem in Deutschland und wenn ja, als wie groß schätzen Sie das Problem ein?« (Angabe in Prozent »eher großes«/»sehr großes Problem«)

Antisemitismus 76 Rassismus 76 religiser Fundamentalismus 66 Islamfeindlichkeit 64 Einwanderung/ 63 Kriminalität 45 Arbeitslosigkeit 36 Wirtschaftslage 21

Abb. 5.4: »Ist Folgendes Ihrer Meinung nach heutzutage ein Problem in Deutschland und wenn ja, als wie groß schätzen Sie das Problem ein?« (Angabe in Prozent »eher großes« und »sehr großes Problem«)

Antisemitismus im Internet, Diskussionsforen und 87 sozialen Netzwerken Verzerrte Darstellung von Israel in den Medien 84 Gleichsetzung von Handlungen Israels mit dem 80 Nationalsozialismus und dem Holocaust Antisemitismus auf Demonstrationen (z.B. 78 antisemitische Parolen oder Ausschreitungen) Antisemitische Kommentare in Diskussionen (z.B. 74 in der Schule, am Arbeitsplatz oder anderswo) Verbale Beleidigungen oder Belästigungen 69 gegenber Jdinnen/Juden Antisemitismus in politischen Debatten 53

Krperliche Angriffe auf Jdinnen/Juden 50 Antisemitismus in Medien (Fernsehen, Radio, Print- 48 Medien) Vandalismus/Schändung jdischer Gebäude oder 45 Orte Antisemitische Karikaturen (z.B. in Zeitungen) 28

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Abb. 5.5: »Hat Antisemitismus Ihrer Meinung nach in den letzten 5 Jahren in Deutschland zugenommen?« (Angabe in Prozent)

...etwas ...stark zugenommen zugenommen 39 39 ...ist gleich geblieben 19 ...stark ...etwas abgenommen abgenommen 1 1

Abb. 5.6: Wird der Antisemitismus in den nächsten 5 Jahren in Deutschland Ihrer Meinung nach zunehmen?« (Angabe in Prozent)

...stark zunehmen ...etwas 48 zunehmen 35 ...gleich bleiben ...etwas 15 ...stark abnehmen abnehmen 1 1

Gleichsetzung von Handlungen Israels mit dem Natio- schlägt ihnen insbesondere aus dem Internet und nalsozialismus bzw. dem Holocaust (80 Prozent), antise- anderen Medien entgegen, aber auch auf Demonstratio- mitische Äußerungen auf Demonstrationen (78 Prozent), nen und durch verbale und alltägliche Beleidigungen. antisemitische Kommentare in privaten Diskussionen z.B. in der Schule oder am Arbeitsplatz (74 Prozent) sowie verbale Beleidigungen von Jdinnen und Juden 5.6.5 Einschätzung der Entwicklung unabhängig vom Kontext (69 Prozent). Etwas seltener von Antisemitismus werden zudem Antisemitismus in politischen Debatten (53 Prozent), krperliche Angriffe auf Jdinnen und Juden Die große Mehrheit der Befragten nimmt eine Zunahme (50 Prozent), Antisemitismus in traditionellen Medien von Antisemitismus wahr (Abb. 5.5): 78 Prozent der (Fernsehen, Radio, Printmedien) (48 Prozent), Vandalis- Befragten sind der Ansicht, Antisemitismus habe in mus gegen bzw. Schändung von jdischen Gebäuden und Deutschland in den letzten fnf Jahren etwas oder sogar Orten (45 Prozent) und antisemitische Karikaturen z.B. stark zugenommen (in der FRA-Studie sagten dies 68 Pro- in Zeitungen (28 Prozent) genannt. Recht ähnlich waren zent). 83 Prozent der Befragten befrchten, Antisemitis- hier im Wesentlichen auch die Ergebnisse der FRA-Stu- mus werde in den nächsten Jahren etwas oder sogar stark die – auch hier rangierte das Internet gefolgt von anderen zunehmen (Abb. 5.6). Als Grundlage fr ihre Einschätzung Medien und der Öffentlichkeit als Plattform von Antise- geben fast 70 Prozent der Befragten persnliche Erfah- mitismus ganz vorne (vgl. Tab. 2, Tab. 3 sowie Abb. 4). Viele rungen an. Dies deckt sich mit den Befunden einer älteren Befragte betonen insbesondere die verzerrte Darstellung Studie aus den USA, nach der Juden aufgrund der kollek- von Israel in den Medien als ein Problem. So kritisiert ein tiven Erfahrung, die ber die Generationen weitergegeben Befragter die »einseitige anti-israelische Berichterstattung wird, antisemitische Entwicklungen besonders sensibel der deutschen Medien«. verfolgen und diese damit oft realistischer einschätzen, als dies die nichtjdische Bevlkerung kann.350 º Die große Mehrheit der Befragten erkennt im Antisemi- tismus ein großes Problem, ist aber auch fr andere soziale Probleme sensibilisiert. Als Problem sehen viele u.a. die verzerrte Darstellung Israels. Antisemitismus 350 tobin/sassler, Jewish Perception of antisemitism.

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Danach gefragt, warum sie befrchten, Antisemitismus »schlafenden Hund«, den man nicht wecken soll, der aber werde zunehmen, nennen in den qualitativen Interviews immer da ist und keiner Logik folgt, wenn er beißt.353 viele Experten und Befragte die Einwanderung von Flchtlingen mit muslimisch-arabischem Hintergrund, Viele jdische Migranten erwähnen als Grund ihrer Ein- die Antisemitismus aus ihren Heimatländern mitbrächten. wanderung die Hoffnung, ihren Kindern in Deutschland Gerade diese Sorge mit Blick auf Gefchtete wird in der eine Zukunft zu ermglichen. Gerade diese Hoffnung qualitativen Studie von nahezu allen Befragten und auch wird angesichts der sich (seit 2014) vermehrt manifestie- den interviewten Schlsselakteuren immer wieder artiku- renden antisemitischen Ereignisse infrage gestellt, sodass liert. Die Befragten verweisen aber auch auf andere Fakto- bezweifelt wird, ob die Entscheidung der Einwanderung ren, die eine Zuanhme des Antisemitismus bedingen, wie nach Deutschland gerechtfertigt war (Sen. Treff). Einige etwa eine aus ihrer Sicht gesunkene Hemmschwelle, Israel der Befragten weisen darauf hin, dass Parolen, wie auf zu kritisieren, Spannung und Polarisierung innerhalb den Demonstrationen 2014 »Juden ins Gas!«, »vor zehn der deutschen Gesellschaft, die mgliche Zunahme von Jahren auf der Straße in Deutschland undenkbar gewesen Voreingenommenheit gegenber Minderheiten als Folge wären«. der Herausforderungen, die die Flchtlingsbewegung mit sich bringen, und ein Nicht-Beachten von Antisemitismus Die Situation verkompliziert sich durch die oft fehlende in der Bildungs- und Präventionsarbeit.351 Mglichkeit, zwischen Fremdenfeindlichkeit und Anti- semitismus in der Wahrnehmung von Betroffenen zu In der qualitativen Befragung berichten viele Interview- unterscheiden. Die Mehrdimensionalität der Minderheits- partner ber ihren Eindruck der Enttabuisierung des identitäten (als Juden, Migranten, oder ex-sowjetische Antisemitismus, besonders dann, wenn es die Form der Juden) erschwert die kommunikative Verortung der jewei- israelbezogenen Kritik sowie Religiosität betrifft. Facebook ligen Person: »Fr einen durchschnittlichen Deutschen ist scheint fr einige »der Brennpunkt des Antisemitismus meine Situation zu komplex. Es ist vielen nicht klar, dass in Deutschland« zu sein. Einige berichten auch ber die ich aus Lettland gekommen bin, in Deutschland lebe, nur vermehrte gesellschaftliche Bereitschaft unterschied- russisch als Muttersprache spreche und jdisch bin und licher Gruppen, durch dieses Medium antisemitische eine starke Affnität zu Israel habe.« Klischees zu rezipieren, zu reproduzieren und zu teilen. So biete dieses Medium Bedingungen, in denen »vllig º Viele Befragte haben den Eindruck, Antisemitismus unverhohlen offene antisemitische Gruppen« relativ frei hätte in den vergangenen Jahren zugenommen, und agieren knnen. Neben der Befrchtung eines wachsen- befrchten einen weiteren Anstieg in der Zukunft. den Antisemitisms in den sozialen Netzwerken sind es v.a. Insbesondere in den Sozialen Medien wie Facebook fn- Entwicklungen wie die Einwanderung von Gefchteten den sich entsprechend der Beobachtung der Befragten sowie allgemeine gesellschaftliche Radikalisierung/Frem- zunehmend auch ganz offen antisemitisch agierende denfeindlichkeit (AfD oder Pegida). Seit 2014 sprechen Gruppen. Zudem ist mit Blick auf die Gefchteten aus die meisten Interviewten von einer Zunahme der Sorgen Ländern des Nahen Ostens die Sorge groß, sie knnten bzw. von einem Verzicht auf das Tragen jdischer Symbole den in ihren Ländern verbreiteten Antisemitismus in der Öffentlichkeit als Kompromiss. Ein Rabbiner, der mitbringen. angibt, dass seine Kinder und er ihre Kippa aus Sicher- heitsgrnden und um nicht zu »provozieren«352 unter einer Kapuze, Mtze oder Baseballkappe versteckt tragen, 5.6.6 Wie drckt sich Antisemitismus vergleicht in der Befragung Antisemitismus mit einem aus Sicht der Betroffenen aus?

Antisemitismus muss nicht immer offen in Erscheinung treten, sondern zeigt sich z.T. subtil und unterschwellig. Während die nichtjdische Mehrheitsbevlkerung diese

351 so sagte eine Person in der offenen antwortmglichkeit der Online-Be- Formen des Antisemitismus nicht immer erkennt, zeigt fragung: »Die schwelle ist anders geworden, es [Kritik an Israel, anm. d. verf.] eine große Mehrheit der befragten Jdinnen und Juden wird schneller gesagt, als frher. Und es ist salonfähig geworden Israel zu kriti- hier eine deutlich hhere Sensibilität. Den Befragten sieren.« ein anderer Befragter kommentierte: »wegen der herausforderungen der aufnahme und Integration von Gefchteten kann die voreingenommen- wurde eine Reihe von subtilen Ausdrucksformen des heit gegen Minderheiten generell zunehmen.« In der qualitativen Befragung Antisemitismus vorgelegt, die jeweils rund 90 Prozent der benannte eine Interviewpartnerin dies mit einer »gereizten nervsen Grund- stimmung«, die ihr sorgen mache. ein weiterer teilnehmer der Online-Befra- Befragten eher oder auf jeden Fall als antisemitisch gung gab an: »es gibt viele Flchtlinge, die den staat Israel und Juden hassen, bzw. vorurteile haben, die nicht so einfach aus den Kpfen wegzuschaffen sind.« 353 Der befragte rabbiner hält fest: »er beißt. es ist ein rottweiler. Genau so 352 Der rabbiner erklärt, warum er seine Kippa in der Öffentlichkeit nicht ist diese Geschichte mit jdischem Feind. […] In die Geschichte hat er gebissen. sichtbar trägt: »nicht weil, ich angst (habe), weil es unntig (ist), (man) braucht Momentan schläft er. soll er schlafen. schläft, soll er schlafen, soll Gott uns […] nicht (zu) provozieren.« weiter schtzen. von berall. Das ist, was im Kurzen meine stellung dazu (ist).«

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einstuften (hier wäre es interessant zu eruieren, welche deutlich: Mit Ausnahme der Aussage, »Juden sind nur Einstufung von der nichtjdischen Bevlkerung vorge- eine Religionsgemeinschaft, keine Nation« bewerteten die nommen wrde). Zu diesen vorgelegten subtilen Formen Befragten alle Aussagen, die auch in der Wissenschaft als des Antisemitismus gehrt etwa die Gegenberstellung Indikator von Antisemitismus gewertet werden, in ihrer »Deutsche«/»Juden«, die Juden nicht als Teil der deut- Wahrnehmung als antisemitisch. Als eindeutig antise- schen Gesellschaft zeigt, ebenso wie die Annahme, mitisch wird von fast allen Befragten beurteilt, wenn Jdinnen und Juden seien besonders reich, oder auch die ein Nichtjude Juden in seinem Land nicht als Staatsbr- Übertragung der Verantwortlichkeit fr die israelische ger betrachtet (EU-weit 89 Prozent ohne Angaben fr Politik auf die in Deutschland lebenden Jdinnen und Deutschland). Die meisten bzw. viele Juden in Deutschland Juden (Abb. 5.7). Ein Befragter drckte dies so aus: »Sie [die bewerten auch als wahrscheinlich antisemitisch: den Boy- Leute, Anm. d. Verf.] tun dann so, als sei ich Repräsentant kott israelischer Waren (79 Prozent), die Annahme, Juden der israelischen Regierung und fr alles verantwortlich, hätten besondere Merkmale (68 Prozent), oder aber den was dort geschieht und je geschehen ist.« Über 80 Prozent Verweis, keinen Juden oder keine Jdin heiraten zu wollen der Befragten empfnden es außerdem »eher« oder »auf (68 Prozent). Weniger eindeutig ist auch in dieser Studie jeden Fall« als antisemitisch, wenn eine nichtjdische die Bewertung, ob antisemitisch ist, wenn jemand immer Person sich darber ärgert, wenn auch heute noch der besonders erwähnt, wer von seinen Bekannten jdisch ist Holocaust thematisiert wird, angenommen wird, dass (48 Prozent). Nur ein Drittel der Befragten empfndet es als Jdinnen und Juden besondere äußere Merkmale hätten, antisemitisch, wenn ein Nichtjude Israel kritisiert (32%). oder den Boykott von Waren aus Israel untersttzen. Lediglich bei der Frage, ob es antisemitisch sei, wenn eine º Der berwiegende Teil der Befragten empfndet Aussa- nichtjdische Person immer besonders erwähnt, wer von gen als antisemitisch, die auch in der Wissenschaft z.T. seinen Bekannten jdisch ist, scheiden sich die Geister – als antisemitisch eingeordnet werden. Als antisemitisch dies werten nur knapp 40 Prozent der Befragten als wird v.a. die Vorstellung empfunden, Juden seien nicht antisemitisch. Offen danach gefragt, was sie als antisemi- Teil der deutschen Gesellschaft, die oft in ganz alltäg- tisch empfnden, heben die Befragten, neben typischen licher Kommunikation zum Ausdruck kommt. Dazu antisemitischen Verschwrungstheorien und Stereotypen, gehrt auch, verantwortlich gemacht zu werden fr die auch die angebliche »Andersartigkeit«, die Jdinnen und Politik Israels, was viele Befragte eindeutig als antisemi- Juden zugeschrieben wird, hervor. Ein Befragter formu- tisch bewerten. liert dies so: »Der Jude bleibt draußen, auch wenn er drin ist oder denkt, er wäre drin.« Als antisemitisch wird auch die Feindseligkeit gegenber Israel verstanden. 5.6.7 Erfahrung mit Diskriminierung – Befunde der qualitativen Befragungen In der FRA-Studie wurden die Befragten ebenfalls darum gebeten eine Einschätzung abzugeben, welche Aussa- Fr viele Jdinnen und Juden, die aus einem anderen gen als antisemitisch zu bewerten sind, wenn sie von Land, insbesondere der frheren Sowjetunion oder Israel, einer nichtjdischen Person stammen. Auch hier wurde nach Deutschland eingewandert sind, ist es nicht immer

Abb. 5.7: »Wäre es in Ihren Augen antisemitisch, wenn eine nichtjdische Person …« (in Prozent)

...in Deutschland lebende Jdinnen/Juden nicht als Teil der 1 6 24 69 deutschen Gesellschaft wahrnimmt. ...in Deutschland lebende Jdinnen/Juden fr die israelische 1 6 24 68 Politik verantwortlich macht.

...denkt, dass Jdinnen/Juden besonders reich sind. 2 9 21 68

...sich darber ärgert, dass der Holocaust auch heute noch 3 11 28 58 thematisiert wird. ...denkt, dass Jdinnen/Juden typische äußerliche Merkmale 2 13 20 64 haben.

...den Boykott israelischer Waren/Produkte untersttzt. 6 11 26 57

...immer besonders erwähnt, wer von seinen oder ihren 15 45 31 8 Bekannten jdisch ist.

nein, auf keinen Fall eher nein eher ja ja, auf jeden Fall

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leicht, das Motiv fr ihre Diskriminierung zu erkennen: Wein zu einem Treffen in einem Café mitbrachte hat, Werden sie diskriminiert, weil sie jdisch sind oder weil bzw. als sie sagte, dass sie den Schabbat einhält. Eine sie anhand ihres Aussehens oder der Sprache als Migrant Interviewte nennt die besondere Position des Anderen oder Migrantin wahrgenommen werden? 41 Prozent der als die »unsichtbare gelbe Kennzeichnung«, in der man Befragten geben an, in den letzten zwlf Monaten auf- sich nicht als integraler Teil der Gesellschaft, sondern als grund ihrer Religion oder ihres Glaubens (dies sind deut- Anderer empfndet. Die sehr verbreitete Frage »Was macht lich mehr als in der FRA-Studie, die hier von 24 Prozent ihr da in Israel?« trägt zusätzlich zu dieser Fremdpositi- berichtet), 33 Prozent aufgrund ihrer Herkunft, 16 Prozent onierung bei:355 »Ich spreche muttersprachlich deutsch, aufgrund ihres Aussehens bzw. der Sprache manchmal, sehe eindeutig nicht ausländisch aus, bin hier geboren, häufg oder sehr häufg benachteiligt oder ausgegrenzt weiß jeder. Hm, hab nie woanders gelebt, was die meisten worden zu sein. Leute auch wissen, die mit mir zu tun haben. Einzigallein, dass ich Jdin bin und hebräisch spreche und ganz häufg die Situation (erlebe): ›Wie ist es bei euch?‹ […] und damit 5.6.7.1 verkrampftes verhältnis/»Othering« ist Israel gemeint.« als subtile Form von antisemitismus Die fehlende Selbstverständlichkeit jdischen Lebens in Eine Kategorie ist die Feststellung eines verkrampften Ver- Deutschland beeinfusst die Verständigung von Juden und hältnisses und einer fehlenden Normalität in deutsch-j- Nichtjuden auch ber das Thema Antisemitismus: »Man dischen Beziehungen. Dieser Befund zieht sich durch alle merkt sofort, dass sie [Nichtjuden, Anm. d. Verf.] Angst Interviews und macht deutlich, dass jdisches Leben in haben, ber Antisemitismus zu sprechen. Sie werden Deutschland trotz aller Bemhungen aus der Sicht der extrem vorsichtig und misstrauisch«. Andere berichten, Befragten keine Selbstverständlichkeit darstellt. Dazu dass das Thema Antisemitismus nicht ernst genug und gehrt auch das Erleben von »Othering« – die Zuordnung eher moralistisch von vielen Nichtjuden gesehen wird als Fremde bzw. Nichtzugehrige.354 Erlebt wird dies als und den Juden unterstellt wird, dass »sie in ihrer negati- eine subtile Form des Antisemitismus. Daneben lässt sich ven Einschätzung der Lage bezglich des Antisemitismus der Umgang der nichtjdischen Mehrheitsgesellschaft mit bertreiben.« Jdinnen und Juden in Deutschland z.T. aber auch aus der NS-Geschichte erklären. Nachfahren der Täterinnen und Täter stehen Nachfahren der Opfer gegenber. »Norma- 5.6.7.2 Diskriminierung aufgrund verschiedener lität« im Sinne eines unbefangenen Umgangs, der frei ist zugewiesener Merkmale von unterschiedlichsten Erinnerungskonstruktionen, ist in Anbetracht dieser Vergangenheit fast nicht mglich. Juden in Deutschland haben mit vielfältigen Diskriminie- Problematisch wird dies dann, wenn die Befangenheit der rungen zu kämpfen. Diese unterschiedlichen Formen der nichtjdischen Mehrheitsgesellschaft erneut zu Ausgren- Diskriminierung stehen nicht nebeneinander, sondern zungen und Abwertungen fhrt. sind miteinander verfochten und verstärken sich gegen- seitig.356 So macht eine Teilnehmerin der Interviews die So berichten viele Interviewte ber ihre Erfahrungen von Beobachtung, dass Antisemitismus in der letzten Zeit mit Fremdzuschreibungen und symbolischen Ausschlssen Fremdenfeindlichkeit einhergeht und oft an Islamfeind- in alltäglichen Interaktionen. Eine Befragte erzählt dazu: lichkeit anknpft. Sie verweist auf ein Beispiel, in dem »Es gibt immer ein ›wir‹ und ein ›ihr‹ […] aus allem wurde der Koch in einem Restaurant wegen einer Bitte, jdische so was Spezielles gemacht, ›Wie macht ihr das?‹ ja ›Wie Essensvorschriften zu bercksichtigen, genervt reagiert: bringt ihr eure Kinder ins Bett?‹« Andere Interviewpartner »Und den Koran sollten wir jetzt auch auslegen?« Eine haben ähnliche Erfahrungen: »Du bist wie im Zoo!« V.a. andere Interviewte berichtet: »Wahrscheinlich denkt diese Metapher, wie ein Tier im Zoo betrachtet zu werden, er jetzt, die ›Scheiß Mosis‹ mit ihren Essensvorschriften wiederholte sich in einigen Interviews und zeigt einen und Extrawrste und Ausländer, […] aber ich wette, dass exotisierenden Blick auf Juden und jdisches Leben in wenn ich vor drei Jahren zu dem gekommen wäre, hätte Deutschland, der zugleich auch oft negativ konnotiert ist und impliziert, Juden seien ein »Fremdkrper, der strt, 355 79 Prozent der Befragten gaben an, in den letzten zwlf Monaten fr die aber ausgehalten werden muss«. Eine Interviewpartne- Politik des staates Israel verantwortlich gemacht worden zu sein (43 Prozent rin erzählt, dass sie von ihren besten Freundinnen als davon sogar »häufg« oder »sehr häufg«). eine Fanatikerin gesehen wurde, als sie wegen Kaschrut 356 Diese verfechtungen und gegenseitige verstärkung verschiedener For- (Hebräisch fr jdische Speisegesetze) einen koscheren men von Diskriminierung wird auch mit dem Begriff der Intersektionalität belegt, der aus der Us-amerikanischen feministischen Bewegung schwarzer Frauen stammt und von der Juristin Kimberlé crenshaw 1989 in den Diskurs eingefhrt wurde (Kimberlé crenshaw, Demarginilizing the Intersection of ra- 354 stuart hall, the spectacle of the »Other«, in: Ders. (hrsg.), representa- ce and sex: a Black Feminist critique of antidiscrimination Doctrine, Feminist tion. cultural representations and signifying Practices, london 1997, s. 223– theory and antiracist Politics, in: University of chicago legal Forum, 1 (1989), 290. s. 139–167).

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er sich nicht aufgeregt.« Ähnlich thematisiert dieselbe dass er gerne eine Bekanntschaft mit einem tollen jdi- Interviewpartnerin die Beschneidungsdebatte: »Keiner schen Juwelier, den er kennt, vermitteln kann.«357 hat sich getraut, an uns zu wackeln vorher, bis das Thema mit der muslimischen Beschneidung kam.« Ein befragter Strukturelle Diskriminierung Teilnehmer an der Studie weist ebenfalls auf die Parallele zwischen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit hin: Mehrere Interviewpartner berichten von fehlendem »Ich hatte auch mal eine ältere Kundin, die gesagt hat […]: Verständnis, wenn sie wegen jdischer Feiertage nicht zur ›Die Flchtlinge werden schlimmer als die Juden!‹« Arbeit gehen. Einige Interviewte erzählen ber Schwie- rigkeiten bei der Verschiebung eines Prfungstermins an der Universität. Ein Interviewpartner berichtet von einem 5.6.7.3 Direkte, offene und diffuse Vorfall, bei dem er an einem Schabbat frher aus einem Formen von antisemitismus Kurs des Arbeitsamts nach Hause gehen wollte. Er habe sich entschuldigt, aber seine Argumentation wurde nicht In den qualitativen Interviews wurden verschiedene akzeptiert. Formen des Antisemitismus und der Diskriminierung genannt, die von direkter und offener Gewalt, bis hin zu º Antisemitismus begegnet den Befragten in vielfältigen diffusen Formen reichen. Dafr sollen im Folgenden Bei- Ausdrucksformen, wobei hier z.T. die Diskriminierung spiele vorgestellt werden, um die Bandbreite der Diskri- aufgrund unterschiedlicher Merkmale wie Religion, minierungserfahrungen und die Auswirkungen auf die in Herkunft, Aussehen oder Sprache ineinandergreifen. Die Deutschland lebenden Jdinnen und Juden zu illustrieren. Spannbreite reicht von häufgen, subtilen Formen von Antisemitismus bis hin zu offen geäußerten antisemiti- Vandalismus schen Stereotypen.

Im Rahmen des Treffens mit jdischen Sozialarbeitern wurden Vandalismus-Vorfälle und Schmierereien wie 5.6.7.4 antisemitismus in verschiedenen »Juden raus!«, »Adolf, wir brauchen dich!«, Hakenkreuzen lebenskontexten an der Tr usw. thematisiert. Eine Teilnehmerin verweist auf einen Vorfall, bei dem in den Lack ihres Autos ein Viele Befragte der qualitativen Teilstudien berichten von Davidstern geritzt wurde. Dadurch sei ihr klargemacht Erfahrungen mit Antisemitismus in Lebenskontexten, in worden, dass sie als Jdin fremd bleibt, obwohl sie in denen sie als Einzelne einem Arbeitgeber, einer ffent- Deutschland geboren und aufgewachsen ist. lichen Institution oder Ärzten in Abhängigkeitsverhält- nissen gegenberstehen. Einige Interviewte geben daher Antisemitische Witze an es zu vermeiden, ihre jdische Zugehrigkeit etwa an ihrem Arbeitsplatz zu erwähnen: »Ich wusste, wenn ich Eine weitere Form des Antisemitismus, mit der es Betrof- sagen wrde, ich bin Jdin, gibt es immer ein Thema frs fenen besonders schwerfällt umzugehen, sind antisemiti- Gespräch.« Jdisch-Sein wird von der Interviewpartne- sche Witze, wenn die Beteiligten lachen und die Betroffe- rin in diesem Fall mit der Sorge verbunden, dass ber nen aus einer scheinbar angenehmen Atmosphäre durch die Maßen persnliche Fragen gestellt, bzw. die private ihre Reaktion einen Konfikt kreieren. Eine Interviewte Biografe ffentlich diskutiert werden knnte. Eine Sozial- erinnert sich etwa an eine Situation, in der sie mit ihrer arbeiterin in einer jdischen Organisation in Ostdeutsch- Tochter auf dem Kinderspielplatz ein fnf- bis sechsjähri- land berichtet von einer Situation, in der sie sich als ges Mädchen hrte, das ihrer Freundin einen Witz erzählt: Migrantin an das Arbeitsamt gewandt hatte, um Starthilfe »Was sagt man, wenn man Juden sieht? Gib Gas!« Oft fr Mbel und Kaution zu erhalten. Die Mitarbeiterin des werden solche Witze als »nicht durchdacht«, »nicht bse Arbeitsamts verwies als Reaktion auf die Anfrage auf die gemeint«, »von besoffenen Menschen«, von »Verrckten« jdische Herkunft und die antisemitische Annahme, Juden oder von »Nazis« erzählt, um so die schmerzhafte bzw. seien reich: »Warum beansprucht ihr Geld, bitten Sie schockierende Erfahrung erträglicher zu machen bzw. doch ihre Leute, sie haben immer viel Geld.« Eine andere nicht zu generalisieren. Interviewte berichtet ebenfalls ber ihre Erfahrungen beim Arbeitsamt. Sie war von einer jungen Beraterin in Philosemitismus antisemitischer Form ausgelacht und respektlos behandelt worden. Sie habe sich danach derart unwohl gefhlt, dass Philosemitische Reaktionen mit einem antisemitischen sie ein Medikament gegen Herzschmerzen habe nehmen Beigeschmack sind eine weitere Form der Diskriminie- mssen. rung. Eine Interviewte berichtet hierzu: »Als ich meinen

jdisch klingenden Namen beim Tierarzt am Telefon sagte, 357 aufzeichnungen aus dem Forschungstagebuch der beiden qualitativen um eine Frage zu stellen, war seine begeisterte Reaktion, teilstudien der externen expertise fr den Uea.

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Auch im medizinischen Bereich erfahren Juden immer was?« Die Beschimpfungen »du Jude!« oder »mach wieder Antisemitismus. Eine Sozialarbeiterin, die ältere doch keine Judenaktion!« werden als Synonyme fr jdische Zuwanderer zu ärztlichen Untersuchungen Unzuverlässige oder Verräter, Betrger, geizige oder begleitet, berichtet ber die Bemerkung einer Ärztin: schwache Menschen benutzt. »Warum beklagen sich denn deine Leute so? Man kann denken, dass sie mehr Krankheiten als Andere haben!« º Besonders häufg begegnet den Befragten Antisemitis- Sie fgt hinzu, dass immer wieder Fragen von den Ärzten mus im Internet, aber auch in anderen Medien und v.a. an die älteren jdischen Zuwanderer gestellt werden: in der Schule. Als besonders gravierend empfnden sie »Warum sind Sie hierhergezogen? Warum sprechen es, Antisemitismus in machtvollen Abhängigkeitsver- Sie kein Deutsch?« Sie spricht weitergehend von einer hältnissen ausgesetzt zu sein. gereizten oder genervten Grundstimmung in den Treffen zwischen jdischen und nichtjdischen Sozialarbeitern. 5.6.8 Erleben von und Sorge vor unmittelbaren Neben dem Arbeitskontext wurde v.a. im Kontext von Beleidigungen und Übergriffen Schule auf antisemitische Vorfälle verwiesen, die sich hier in besonders aggressiver und direkter Form zeigen. Dabei Die Ergebnisse der qualitativen Studien verweisen auf eine berwiegen drei Unterkategorien: Vielzahl antisemitischer Vorfälle und die Probleme, die sich daraus fr die Betroffenen ergeben. Auch die quanti- 1) Provokationsangriffe mit positiven Bezgen auf tative Online-Befragung von in Deutschland lebenden NS-Zeit; Hitler, Gas, Lager, Verbrennung wurden in Jdinnen und Juden zeigt eine ganze Bandbreite antisemi- unterschiedlichen Interviews thematisiert (initiiert tischer Vorfälle, denen sich die Befragten ausgesetzt sahen von deutschen Schlern ohne Migrationshintergrund und die von versteckten Andeutungen bis hin zu direkter und muslimischen Schlern deutscher oder nicht- Gewalt in Form von krperlichen Angriffen reichten. So deutscher Herkunft). hat eine Mehrheit der Befragten im vergangenen Jahr Antisemitismus selbst oder bei einer nahestehenden Eine Interviewpartnerin berichtet, dass der Freundin Person erfahren (Abb. 5.8 und Abb. 5.9). 61 Prozent der ihrer Tochter (15 Jahre alt) in einem Gymnasium ein Befragten gaben an, in den letzten zwlf Monaten Zettel mit den Sätzen »Du dreckige Jdin! Magst du versteckte Andeutungen erlebt zu haben, 58 Prozent Zyklon B?« in ihre Tasche gelegt wurde. Durch eine hatten dies bei nahestehenden Person miterlebt. 29 Pro- Schrifterkennung wurden zwei Jungen, von denen das zent berichten ber verbale Beleidigungen bzw. Belästi- Mädchen eine solche Tat niemals erwartet hätte, als gungen und 36 Prozent der Befragten hatten diese Täter identifziert. Dieses Gefhl, dass man nie weiß, wiederum ber nahestehende Personen mitbekommen. wann solche Aussagen kommen knnen, ist fr viele Weitere drei Prozent der Befragten berichten davon, im Interviewte charakteristisch: »Es sind kleine ruhige vergangenen Jahr krperlichen Angriffen ausgesetzt Orte, schne Städte und alles ist quasi gut, aber der gewesen zu sein, und sogar acht Prozent hatten dies bei Eindruck täuscht.« nahestehenden Personen erlebt. Ähnliche Befunde zeigt auch die FRA-Studie aus dem Jahr 2013.358 Deutlich wurde 2) Stark ausgeprägte antiisraelische Haltungen, die dort auch: Ein großer Teil dieser Vorfälle ereignete sich im sowohl von Schlerinnen und Schlern als auch von ffentlichen Raum (z.B. auf der Straße, einem Parkplatz einigen Lehrkräften zum Ausdruck gebracht wurden. oder in einem ffentlichen Verkehrsmittel). Dies deckt sich auch mit den Befunden der Studie von RIAS.359 Einige Interviewpartner berichten, wie auch seitens der Lehrkräfte medial geprägte (oft umgangssprach- lich formulierte) antiisraelische Einstellungen den 358 Im vergleich dazu die ergebnisse der Fra-studie 2013: hier hatten in den Schlerinnen und Schlern vermittelt werden. vergangenen fnf Jahren fnf Prozent der Befragten persnlich eine mutwillige Beschädigung ihres eigentums erlebt, acht Prozent der Befragten krperliche Gewalt. 36 Prozent waren Opfer von antisemitisch motivierter Belästigung 3) Nutzung des Wortes »Du Jude!« als Schimpfwort (oft geworden, v.a. persnliche äußerungen, die als besonders schwerwiegend auch an Nichtjuden gerichtet), angeknpft an die klas- erinnert wurden, aber auch beleidigende oder bedrohende persnliche Briefe, e-Mails, Kurznachrichten, Internetkommentare. 24 Prozent hatten diese vor- sischen Vorurteile ber »geizige«, »reiche«, »listige«, fälle als zeugen beobachtet und 23 Prozent selbst oder innerhalb der Fami- »vertrauensunwrdige« Juden. lie erlebt. Diese angaben sind ähnlich hoch wie die wahrscheinlichkeit in der Gesamtbevlkerung, Opfer von Beschimpfung, Bedrohung oder krperlicher Gewalt zu werden, hier liegt die Prävalenzrate fr krperliche Gewalt bei knapp »Juden« wird hier als direkte Beleidigung anderer jdi- fnf Prozent, bei psychischer Gewalt (einschließlich Beschimpfung und Bedro- scher oder auch nichtjdischer Schler verwendet. So hung) bei knapp 19 Prozent. nach zitation durch die Fra-studie 2013, s. 44, liegt die International crime victims survey berichtete Prävalenzrate niedriger, wird in einem Interview etwa die Situation geschildert, fr Großstädte allerdings ähnlich hoch wie der in der Befragung von 2013 ge- in der ein Schler zu einem anderen, nach seiner Wei- fundene Prozentsatz (die meisten Befragten wohnen in großen städten). gerung etwas herauszugeben, sagt: »Bist du Jude oder 359 rIas, Bericht 2015.

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Abb. 5.8: »Ist Ihnen in den letzten 12 Monaten in Deutschland einer der folgenden Vorfälle zugestoßen, weil Sie jdisch sind?« (Zustimmung in Prozent)

versteckte Andeutungen 61 verbale Beleidigung/Belästigung 29 krperlicher Angriff 3

Abb. 5.9: »Wurde ein Familienmitglied oder eine Ihnen nahestehende Person in den letzten 12 Monaten in Deutschland Opfer von einem der folgenden Vorfälle, weil er/sie jdisch ist?« (Zustimmung in Prozent)

versteckte Andeutungen 52 verbale Beleidigung/Belästigung 36 krperlicher Angriff 8

Die Befragten wurden gebeten, jeweils die Täter der krperlichen Angriffe gingen nach dieser Einschätzung Übergriffe zu beschreiben (hier waren Mehrfachnennun- von muslimischen Personen aus.360 gen mglich; betont werden muss, dass hier auch die unterschiedliche Erkennbarkeit der Täter eine Rolle Danach gefragt, inwieweit sie besorgt sind, in den kom- spielen drfte, wie dies aus der Kriminologie bekannt ist). menden zwlf Monaten von einem antisemitischen Über- griff betroffen zu sein, geben 58 Prozent der Befragten 51 Prozent der Befragten gaben bei den versteckten an, »eher« oder »sehr besorgt« zu sein, Opfer versteckter Andeutungen und verbalen Beleidigungen Erwachsene Andeutungen, 54 Prozent Opfer verbaler Beleidigungen als Täter an, bei krperlichen Angriffen wurden häufger und 37 Prozent Opfer eines krperlichen Angriffs zu Jugendliche (44 Prozent) genannt. Jeweils rund ein Drittel werden. In Deutschland geborene Jdinnen und Juden der Befragten gab als Täter von Andeutungen, Beleidi- haben vergleichsweise mehr Sorgen vor verbalen Angrif- gungen oder krperlichen Angriffen ihnen unbekannte fen, während Jdinen und Juden, die in der ehemaligen Personen an. Ein Viertel der antisemitischen Andeutungen Sowjetunion geboren wurden eher krperliche Angriffe und ber die Hälfte der verbalen Beleidigungen kamen befrchten. In der FRA-Studie zeigte sich zusätzlich zur aus dem Bekanntenkreis bzw. von Kollegen oder aus der Herkunft auch ein Einfuss der eigenen Religiosität auf die Nachbarschaft. Rund 20 Prozent der Befragten ordneten Sorge vor Übergriffen: Befragte, die sich selbst als religis die Täter von versteckten Andeutungen und verbalen einstuften, äußerten mehr Sorge Opfer von Beleidigungen Beleidigungen und 25 Prozent von krperlichen Angriffen oder auch krperlicher Gewalt zu werden. Dies lässt sich als linksextrem ein. Als rechtsextrem wurden 15 Prozent v.a. darauf zurckfhren, dass sie eher Symbole wie z.B. der versteckten Andeutungen bzw. 19 Prozent der Belei- eine Kippa tragen, die sie äußerlich als jdisch erkennbar digungen und krperlichen Angriffe eingestuft. Rund ein machen. Daraus ergeben sich Überlegungen, in Zukunft Viertel der Befragten gab an, die versteckten Andeutungen auf das Tragen jdischer Symbole in der Öffentlichkeit zu bzw. Beleidigungen seien christlich-religis motiviert. verzichten. Besonders häufg wurden muslimische Personen als Täter angegeben: 48 Prozent der versteckten Andeutun- gen, 62 Prozent der Beleidigungen und 81 Prozent der

360 Die Fra-studie 2013 hatte hier etwas abweichend generell nach den Urhebern von antisemitismus gefragt ohne dass dieser sich zwangsläufg di- rekt gegen sie gerichtet hat. auch hier gaben die Befragten in Deutschland an, dass politisch links-gerichtete Personen (zu 47 Prozent) und Personen mit einer extremistisch muslimischen Orientierung (zu 48 Prozent; beide angaben erhalten noch mehr zustimmung in Frankreich), dicht gefolgt von Personen mit rechter Orientierung (zu 40 Prozent, in Ungarn werden hier 79 Prozent der täter eingeordnet) am häufgsten Urheber von antisemitismus sind, während deutlich seltener Personen mit einer christlichen Orientierung (zu 13 Prozent in Deutschland, aber zu ber 30 Prozent in Ungarn und Italien) genannt wur- den, wobei ein Drittel der Befragten hierbei angaben, keine der Beschreibungen wrde zutreffen bzw. sie wssten nichts ber den Urheber bzw. knnten ihn nicht einordnen (vgl. Fra-studie 2013, tab. 6).

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Abb. 5.10: »Wie besorgt sind Sie, dass jemand aus Ihrer Familie oder eine Ihnen nahestehende Person in den nächsten 12 Monaten in Deutschland Opfer von einem der folgenden Vorfälle werden knnte, weil er/sie jdisch ist?« (in Prozent)

versteckte Andeutungen 11 29 34 25 verbale Beleidigung/Belästigung 14 28 31 26 krperlicher Angriff 22 32 19 26 berhaupt nicht besorgt wenig besorgt eher besorgt sehr besorgt

Abb. 5.11: »Wie besorgt sind Sie, dass Sie in den kommenden 12 Monaten in Deutschland Opfer von einem der folgenden Vorfälle werden knnten, weil Sie jdisch sind?« (in Prozent)

versteckte Andeutungen 13 29 36 22 verbale Beleidigungen/Belästigungen 15 31 32 22 krperliche Angriffe 27 35 20 17

berhaupt nicht besorgt wenig besorgt eher besorgt sehr besorgt

Mehr noch als um sich selbst sorgen sich die Befragten 5.6.9 Wie die Betroffenen mit jedoch um die ihnen nahestehenden Personen (Abb. 5.10 Antisemitismus umgehen und Abb. 5.11). Über die Hälfte der Befragten ist »besorgt« (rund ein Viertel sogar »sehr besorgt«), jemand aus ihrer Viele Befragte haben Strategien (»Coping-Strategien«) Familie oder andere nahestehende Personen knnten entwickelt, mit antisemitischen Äußerungen und Belästi- in der nächsten Zeit Opfer versteckter Andeutungen gungen umzugehen. Um diesen Strategien nachzugehen, oder verbaler antisemitischer Beleidigungen werden, wurde im Rahmen des Online-Fragebogens gebeten anzu- 45 Prozent befrchten krperliche Angriffe. Zu ähnlichen geben, was der erlebte Antisemitismus auslst und wie Ergebnissen kommt hier auch die FRA-Studie 2013: Hier damit umgegangen wird (Abb. 5.12). Eine deutliche Mehr- befrchten 51 Prozent der Befragten, dass Familienange- heit der Befragten empfnden es als »stark« oder sogar hrige oder nahestehende Personen Opfer verbaler bzw. »sehr stark belastend«, wenn sie direkt oder indirekt (ber 39 Prozent, dass sie Opfer krperlicher Angriffe werden Beobachtung bei anderen Personen) von antisemitischen knnten. Im europäischen Vergleich bewegt sich die Sorge Äußerungen oder Belästigungen betroffen sind (jeweils der in Deutschland lebenden Jdinnen und Juden im 81 Prozent) und noch mehr, wenn er sich gegen Famili- Mittelfeld. enangehrige richtet (91 Prozent). Nur wenige Befragte empfnden dies als wenig oder gar nicht belastend. º Die Mehrheit der Befragten hat im vergangenen Jahre versteckte antisemitische Andeutungen erleben mssen Im Weiteren wurden die Teilnehmenden der Studie auch und rund ein Drittel auch verbale Beleidigungen und danach gefragt, wie sie mit Antisemitismus, den sie ganz Belästigungen. allgemein in der Gesellschaft beobachten, ohne dass er sich direkt gegen sie persnlich wendet, umgehen º Antisemitismus ist fr viele Befragte damit eine allge- (Abb. 5.13). 88 Prozent der Befragten geben hier an, genwärtige und häufge Erfahrung. antisemitische Vorkommnisse oder Antisemitismus im Allgemeinen berhrten sie sehr. Die meisten (89 Prozent) º Als Täter wurden von den Betroffenen berproportional diskutieren darber mit ihnen nahestehenden Personen, häufg muslimische Personen identifziert, daneben aber 77 Prozent versuchen, mehr ber die Vorkommnisse zu auch links Orientierte, rechts Orientierte und gerade bei erfahren, während knapp die Hälfte (48 Prozent) in der den versteckten Andeutungen auch Personen aus der Gemeinde darber redet. Nur elf Prozent der Befragten »Durchschnittsbevlkerung«. sagten, sie wrden sich mit antisemitischen

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Abb. 5.12: »Wie stark belastet es Sie, wenn Sie antisemitische Äußerungen oder Verhaltensweisen mitbekommen/erleben, …« (in Prozent)

die sich nicht direkt gegen Sie persnlich 03 16 39 42 richten? die sich direkt gegen Sie persnlich 1 3 14 27 54 richten? die sich gegen ihre Familie oder andere 01 8 30 61 Ihnen nahestehende jdische Personen

berhaupt nicht wenig mittel stark sehr stark

Abb. 5.13: Aussagen zum Umgang mit Antisemitismus (in Prozent)

Das berhrt mich persnlich sehr. 3 8 32 56

Ich diskutiere darber mit Personen, die mir nahestehen. 2 9 35 55

Ich rede in der Gemeinde darber. 23 28 26 22

Ich versuche, mehr darber zu erfahren. 5 17 40 37

Ich versuche, mich am besten gar nicht damit zu beschäftigen. 62 24 9 2 Ich denke, das ist nicht mein Problem, sondern das der 49 24 16 9 Gesellschaft.

trifft berhaupt nicht zu trifft eher nicht zu trifft eher zu trifft voll und ganz zu

Vorkommnissen nicht beschäftigen. Jeder vierte Befragte verbalen Belästigungen gemeldet werden.361 Insgesamt ist der Auffassung, dass antisemitische Vorkommnisse wird in Deutschland nur jeder vierte schwerwiegende oder Antisemitismus im Allgemeinen nicht ihr bzw. sein Vorfall bekannt.362 Als Hauptgrnde, warum die Vorfälle Problem ist, sondern das der Gesellschaft. nicht bei der Polizei gemeldet wurden, gaben die Befrag- ten in absteigender Reihenfolge an, dies hätte ohnehin Zusätzlich wurde gefragt, wie mit einem konkreten, nichts geändert, der Vorfall sei es nicht wert gewesen, weil persnlich erlebten Vorfall umgegangen wird (Abb. 5.14). so etwas ständig passiere, sie wären selbst oder mithilfe Hierzu wurden sie gebeten, an ein Erlebnis zu denken, bei der Familie oder von Freunden damit zurecht gekommen, dem sie Antisemitismus erfahren oder (mit)erlebt haben. der brokratische und zeitliche Aufwand sei zu hoch oder Die Mehrzahl der Befragten hat nach eigenen Angaben sie vertrauten der Polizei nicht. daraufin mit einer vertrauten Person ber den Vorfall gesprochen (76 Prozent). Viele haben sich auch aktiv in der Nur wenige Befragte (sechs Prozent) der vom UEA in Situation gewehrt und sich beschwert oder jemanden zur Auftrag gegebenen Studie haben sich im Anschluss an Rede gestellt (56 Prozent). Allerdings hat nur ein Viertel einen Vorfall professionell beraten lassen (z.B. von einer der Befragten den Vorfall offziell bei der Polizei, einer Opferberatung, der Antidiskriminierungsstelle oder in Beschwerdestelle oder der Gemeinde gemeldet. Auch die einer juristischen Beratung). Die Grnde dafr bleiben FRA-Studie kommt zu dem Schluss, dass nur ein geringer offen. Die Ergebnisse der FRA-Studie legen hier jedoch Anteil der schwerwiegenden Vorfälle gemeldet werden, nahe, dass viele Jdinnen und Juden sich bereits an diese am ehesten noch die mutwillige, antisemitisch motivierte Vorfälle gewhnt haben. Rund ein Drittel der Befragten Beschädigung von Eigentum, während der berwiegende Teil der krperlichen Angriffe und noch weniger der 361 Fra-studie, 2013, s. 51. 362 ebenda, s. 52.

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Abb. 5.14: Aussagen zu Bewältigungsstrategien (in Prozent)

Ich habe mit einer mir vertrauten Person darber gesprochen. 10 10 32 44 Ich habe mich gewehrt (z.B. mich beschwert, jemanden zur Rede 20 19 30 26 gestellt). Ich bin darber hinweggegangen. 31 30 28 7 Ich habe den Vorfall gemeldet (z.B. bei der Polizei, einer 60 12 11 13 Beschwerdestelle, der Gemeinde). Ich habe mich professionell beraten lassen (z.B. von einer 81 8 4 2 Opferberatung, Antidiskriminierungsstelle, juristischen Beratung). Ich beschäftige mich seitdem mehr mit meiner jdischen Identität. 32 24 25 16

Ich habe soziale Kontakte eingeschränkt oder abgebrochen. 28 18 31 21

Ich versuche seitdem, solche Situationen zu vermeiden. 22 24 33 17

Ich verberge seitdem in der Öffentlichkeit, dass ich jdisch bin. 38 21 23 15

Ich bin misstrauischer geworden. 14 16 43 24

Ich bin seelisch / krperlich krank geworden. 63 20 10 2

trifft berhaupt nicht zu trifft eher nicht zu trifft eher zu trifft voll und ganz zu

und mehr haben aber auch internale Formen des 5.6.10 Einstellungen zur aktuellen Umgangs gewählt. Dazu gehrt die intensivere Beschäfti- Flchtlingsdebatte gung mit der eigenen jdischen Identität (41 Prozent) oder das ber den Vorfall Hinweggehen (35 Prozent). Rund die Mit den v.a. im Jahr 2015 zunehmenden Fluchtbewe- Hälfte der Befragten hat mit Vermeidungsstrategien gungen aus Krisen- und Kriegsgebieten im Mittleren reagiert: Soziale Kontakte wurden eingeschränkt oder Osten und aus Nordafrika nach Deutschland entstand abgebrochen, potenziell belastete Situationen vermieden. die Befrchtung eines wachsenden Antisemitismus, Dazu gehrt auch, dass mehr als ein Drittel der befragten dem z.B. vom Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Personen (38 Prozent), die von einem antisemitischen Deutschland, Josef Schuster, Ausdruck verliehen wurde.363 Vorfall betroffen waren, seitdem in der Öffentlichkeit ihre Auf der anderen Seite haben sich auch viele Jdinnen und jdische Identität versucht haben zu verbergen. Zwei Juden ehrenamtlich fr Gefchtete engagiert.364 Um ein Drittel berichten zudem, seitdem misstrauischer gewor- genaueres Bild ber die Stimmung in der jdischen Com- den zu sein, und mehr als jeder Zehnte (zwlf Prozent) ist munity zu erhalten, wurden im Rahmen der Online-Be- nach einem antisemitischen Vorfall seelisch oder krper- fragung auch Fragen zur aktuellen Debatte um Flucht und lich krank geworden. Gefchtete gestellt.

º Fast alle Befragten empfnden den Antisemitismus, der sie umgibt, als belastend.

º Zugleich wählen nur recht wenige Befragte den Weg, konkrete Vorfälle zu melden, noch weniger lassen sich beraten.

º Selbst gravierende Vorfälle werden oft nur mit naheste- henden Personen besprochen, aber nicht angezeigt. 363 rede zum thema »Jdisches leben in Deutschland heute« auf einladung der Katholischen akademie Bayern; redemanuskript vorab publiziert u.a. auf º Das Dunkelfeld der nichtangezeigten auch gravierenden spiegel Online am 28.6.2016, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ Vorfälle drfte daher hoch sein. zentralrat-der-juden-warnt-vor-antisemitismus-durch-fluechtlinge-a- 1100329.html (eingesehen 25.11.2016). 364 Dazu gehrt u.a. das Jdische Forum fr Demokratie und gegen anti- semitismus e.v. mit einem Modellprojekt im Bundesprogramm »Demokratie leben!«.

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Abb. 5.15: Aussagen zur aktuellen Flchtlingsdebatte (in Prozent)

Die derzeitige Zuwanderung kann fr Jdinnen und Juden auch positive Folgen haben. 26 38 22 12

Durch die Zuwanderung von Flchtlingen ist die Stimmung in Deutschland so angespannt, dass sich das auch auf Jdinnen und Juden negativ 8 21 42 28

Ich habe Bedenken, dass der Antisemitismus in Deutschland zunnehmen wird, weil viele Flchtlinge antisemitisch eingestellt sind. 9 20 29 41

Ich habe Bedenken, dass es vermehrt zu krperlichen Angriffen auf jdische Personen oder Einrichtungen durch Flchtlinge kommen wird. 16 27 31 25

Der Antisemitismus ist auch ohne Flchtlinge ein Problem in Deutschland. 3 12 37 47

stimme berhaupt nicht zu stimme eher nicht zu stimme eher zu stimme voll und ganz zu

Die Befunde (Abb. 5.15) zeigen hier ein sehr ambivalentes knne weiter zunehmen. In der Wahrnehmung der meis- Stimmungsbild unter Jdinnen und Juden in Deutschland. ten Interviewten kommt der Antisemitismus aus dieser Ein großer Teil der Befragten hat in der Tat Bedenken, der Gruppe in den letzten Jahren »wesentlich aggressiver zum Antisemitismus werde in Deutschland zunehmen, weil Vorschein«. In vielen Interviews herrscht die Meinung, viele Flchtlinge antisemitisch eingestellt seien (70 Pro- Menschen, die aus muslimischen Ländern kommen, seien zent stimmen hier zu, 41 Prozent stimmen sogar »voll und in ihren Herkunftsgesellschaften antisemitisch sozialisiert ganz« zu). 56 Prozent der Befragten befrchten vermehrte worden. Viele Interviewte artikulieren ihre Angst, nicht krperliche Angriffe auf jdische Personen bzw. Angriffe beschtzt zu werden, falls die Gefahr des Antisemitismus auf jdische Einrichtungen. Zugleich geht aber die Mehr- von muslimischen Gruppen steigen sollte. Angst vor einer heit der Befragten davon aus, dass Antisemitismus auch Gefahr des muslimischen Antisemitismus durch Einwan- ohne Gefchtete ein Problem in Deutschland ist (84 Pro- derung wurde in fast jedem Interview von Betroffenen zent, 47 Pozent stimmen »voll und ganz« zu), und 70 Pro- thematisiert. Gleichzeitig sehen viele Experten die Idee des zent meinen, durch die Zuwanderung von Flchtlingen »importierten Hasses« als nur eine von mehreren vorherr- sei die Stimmung in Deutschland so angespannt, dass sich schenden Formen des Antisemitismus in Deutschland. dies auch negativ auf Juden auswirken knnte. Rund ein Drittel (34 Prozent) ist umgekehrt aber der Ansicht, die derzeitige Zuwanderung kann fr Juden auch positive 5.6.11 Vorschläge fr Prävention Folgen haben. Auch hier sind die Meinungen in der Com- munity durchaus heterogen – Befragte, die in Großstädten Die Interviewpartner wurden im Rahmen der Online-Be- leben, sind weniger besorgt wegen der Zuwanderung fragung um ihre Einschätzung verschiedener Präventions- durch Flchtlinge und äußern weniger Bedenken in Bezug und Interventionsmaßnahmen in Zusammenhang mit auf mgliche Übergriffe durch Flchtlinge. Diejenigen, die Antisemitismus gebeten. 71 Prozent fordern, Deutschland aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, äußern sich msse mehr fr die Sicherheit der hier lebenden Jdinnen pessimistischer.365 und Juden tun, 50 Prozent wollen eine stärkere Bewa- chung jdischer Einrichtungen. Die berwältigende Mehr- In den qualitativen Teilstudien der vom UEA beauftragten heit setzt auf Bildung Auflärung. So meinen 91 Prozent Untersuchung zeigen sich viele Interviewpartner beson- der Befragten, in Schulen msse ber aktuellen Antise- ders mit Blick auf Gefchtete besorgt, der Antisemitismus mitismus aufgeklärt werden, 87 Prozent sehen Bedarf an zusätzlichen Bildungsangeboten fr die nichtjdische Bevlkerung. 75 Prozent wnschen sich mehr Angebote 365 Mglicherweise zeichnet sich hier aber auch der erfolg rechtspopulisti- zur Untersttzung, Beratung und Begleitung jdischer scher strmungen ab, die gezielt in jdischen Gemeinden und insbesondere bei jenen, die aus der ehemaligen sowjetunion eingewandert sind, mit antimusli- Personen, die von Antisemitismus betroffen sind (z.B. mischer hetze auf stimmenfang gehen. Der zentralrat der Juden zeigte sich in Opferberatungsstellen). einem rundschreiben an die Gemeinden alarmiert, dass akteure der afD und verbände von russlanddeutschen »insbesondere an unsere russischsprachigen Gemeindemitglieder herangetreten sind, um diese zu Demonstrationen gegen Insgesamt scheint das Thema Prävention und Interven- Flchtlinge oder Muslime aufzuwiegeln«. (rundbrief an die Gemeinden von tion den Befragten sehr wichtig zu sein, denn viele haben Daniel Botmann, Geschäftsfhrer des zentralrats der Juden in Deutschland, Informationen zum Umgang mit der afD, http://www.jg-fr.de/aktuelles-302/ die Mglichkeit einer zusätzlich gestellten offenen Frage articles/informationen-zum-umgang-mit-der-afd.html (eingesehen 24. 11. 2016). genutzt und ausfhrlich eigene Vorschläge aufgefhrt

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Abb. 5.16: Vorschläge fr Maßnahmen der Prävention und Intervention (in Prozent)

Die Bundesrepublik Deutschland muss mehr fr die Sicherheit 5 24 36 35 der hier lebenden Jdinnen/Juden tun.

Jdische Einrichtungen mssen (noch) stärker bewacht werden. 9 40 30 20

In der Schule muss verstärkt ber den aktuellen Antisemitismus 2 6 23 68 aufgeklärt werden.

Es braucht mehr Bildungsangebote fr die nichtjdische 2 11 25 62 Bevlkerung zum Thema Antisemitismus.

Es braucht mehr Angebote zur Untersttzung, Beratung und Begleitung fr jdische Menschen, die von Antisemitismus 4 20 39 36 betroffen sind (z.B.Bildungsangebote, ˜ Beratungsstellen fr Antidiskriminierung, Opferschutz).

stimme berhaupt nicht zu stimme eher nicht zu stimme eher zu stimme voll und ganz zu

(Abb. 5.16). Gefordert wurde dabei insbesondere eine Thematisierung von Antisemitismus und Sensibilisierung fortdauernde Aufarbeitung des Holocaust, wobei einge- fr das gegenwärtige jdische Leben in Deutschland. schränkt wurde, dass Zweiter Weltkrieg und Nationalsozi- Zudem setzten ber zwei Drittel der Befragten in den alismus in der Schule nicht zu oft behandelt werden Interviews auf noch mehr Sicherheitsmaßen. Ebenso sollten, um keine weiteren Abwehrreaktionen hervorzuru- viele äußerten den Bedarf von mehr Angeboten zur fen. Zudem mahnten einige Befragte an, das Thema so Untersttzung und Beratung jdischer Menschen. Einige aufzuarbeiten, dass sich auch Kinder mit nichtdeutschem, Interviewpartner sprachen davon, dass die muslimischen arabisch-muslimischem Hintergrund angesprochen Verbände in Deutschland sich stärker mit dem Thema fhlen. Gefordert wurde zudem mehr interkultureller bzw. Antisemitismus auseinandersetzen sollten. Einige Inter- interreligiser Dialog. Auch der Wunsch nach einer viewpartner wnschten sich einen besseren Austausch mit differenzierteren Berichterstattung ber Israel und das muslimischen Institutionen in Deutschland sowie eine jdische Leben in Deutschland wurden geäußert. Gefor- durchdachte Integration der Flchtlinge, wobei die Akzep- dert wurden zudem eine stärkere ffentliche Ächtung von tanz des Existenzrechts des Staates Israel ein selbstver- Antisemitismus sowie die Ausschpfung bzw. die Ver- ständlicher und wichtiger Teil davon sein soll. Als beson- schärfung des Strafrechts. ders wichtig wurde in den Interviews die Bildungsarbeit gegen Antisemitismus gesehen, die auch ein verändertes Auch im Rahmen der beiden qualitativen Teilstudien Bild von Juden und jdischem Leben beinhalten soll. äußerten sich die Befragten zu ihren Vorstellungen Gefordert wurden außerdem professionelle Anlaufstellen zur Prävention von Antisemitismus. Fast alle forder- fr von Antisemitismus Betroffene. ten hier mehr Auflärung einschließlich der kritischen

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Handlungsempfehlungen – Perspektiven der jdischen Bevlkerung Auf- bzw. Ausbau von Melde- und Beratungsstrukturen Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … der einzurichtenden Bund-Länder-Kommission zum Themenbereich Antisemitismus (→ zentrale Forderungen), sich fr den Ausbau und die Frderung von Melde- und Informationsstellen zur Erfassung von antisemitischen Über- griffen, Vorfällen oder Straftaten einzusetzen. hier kann und sollte an die erfahrungen bestehender Informationsstellen angeknpft bzw. ihre expertise eingeholt werden. namentlich ist hier rIas (→ straftaten, → Jdische Perspektive) in Berlin zu nennen. wnschenswert ist die ausweitung bestehender Meldestrukturen auf weitere Bundesländer bzw. regionen, die fr Betroffene zugänglich und mglichst leicht zu erreichen sind. Die erarbeiteten Qualitätskriterien, wie auch allgemein verbindliche vorgehenswei- sen bei der erfassung und Falldokumentation, sind dabei zu beachten. Die Dokumentation sollte im besten Fall in einer gemeinsamen Plattform bzw. bei einer sammelstelle zusammengefhrt werden.

º … der einzurichtenden Bund-Länder-Kommission zum Themenbereich Antisemitismus, sich fr den Aufbau von spezialisierten Beratungsstrukturen bzw. den Ausbau der Zusammenarbeit mit bestehenden Beratungsstrukturen fr Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sowie Antidiskriminierungsberatungsstellen einzusetzen. hier ist auch die schulung von Mitarbeitenden in anderen allgemeinen Beratungs- und antidiskriminierungsstellen wich- tig, um die Inanspruchnahme der erst- und verweisberatung zu gewährleisten. es gilt, das Bewusstsein der Beraterinnen und Berater fr den alltagsantisemitismus zu schärfen und das verständnis von antisemitismus als Diskriminierung zu befrdern. Bei der Opferberatung geht es sowohl um die Untersttzung von Betroffenen beim erleben von alltagsantise- mitismus unterhalb einer strafrechtlichen schwelle als auch um spezialisierte Beratung nach gewalttätigen Übergriffen.

º … die Frderung und Ausweitung von Empowerment-Maßnahmen mindestens durch das Bundesministerium fr Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und die Landesprogramme zur Extremismusprävention. hier sollten jdische träger, Institutionen oder Projekte gezielt gefrdert werden, um stärkende Dialog- und erfahrungs- räume fr Betroffene zu etablieren, die im alltag auf unterschiedliche art und weise mit antisemitismus konfrontiert sind.

Einbeziehung der jdischen Perspektive in Gremien und bei der Präventionsarbeit Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … die stärkere Einbindung von jdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Fachkräften und Institutionen in staatliche/zivilgesellschaftliche Gremien, die sich fr Demokratiefrderung einsetzen und Antisemitismus und Rassismus bekämpfen.

º … die stärkere Einbeziehung jdischer Perspektiven und Expertisen in die verschiedenen Frderprogramme histo- risch-politischer Bildung, Antisemitismusprävention und -intervention. Fr beide empfehlungen gilt, das recht von Jdinnen und Juden auf Mitbestimmung bei der Defnition und erfassung von antisemitismus anzuerkennen und in die politischen verhandlungen einzubeziehen. Diskrepanzen bei der Defnition von antisemitismus werden bisher zumeist – wie auch bei anderen abwertungs- und ausgrenzungsphänomenen – viel eher als »abweichende ansicht« der betroffenen Minderheit betrachtet und viel zu selten als ein relevanter wahrnehmungs- und erfahrungsraum, der bei der Begriffsbestimmung mitbercksichtigt sein muss.

Forschung Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … die Initiierung und Frderung von interdisziplinären Studien mit qualitativer und quantitativer Ausrichtung zu den Perspektiven, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Expertisen von Jdinnen und Juden im Hinblick auf Antisemitismus. Die erfassung jdischer Perspektiven auf antisemitismus soll in regelmäßigen abständen gewährleistet werden, um die Daten aus den Befragungen der nichtjdischen Mehrheitsbevlkerung um diese Dimension zu erweitern und hinweise auf entwicklungen entdecken und empirisch absichern zu knnen. empirisch gesehen gibt es hier ein vergleichsweise großes Forschungsdesiderat, das es zu beheben gilt.

º … die Initiierung und Frderung anwendungsorientierter Grundlagenforschung und praxisbegleitender Forschung zu Präventionsmaßnahmen, die nicht nur als gering fnanzierte Begleitforschung oder nachträgliche Evaluation erfolgt, sondern als ein eigenständiges Feld gewertet und fnanziell abgesichert wird. Gezielte Ausschreibungen im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie leben!« und/oder des Bundesministeriums fr Forschung und Wissen- schaft wären erforderlich.

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6 Medialer Diskurs

6.1 einleitung antisemitischen Stereotypen, seien es auch nur Versatz- stcke. Nicht immer sind Aussagen und Meinungen, die in Im ersten Expertenbericht wurde die Bedeutung der diese Richtung gehen, antisemitisch. Häufg bewegen sie Medien fr die Verbreitung antisemitischer Inhalte nicht sich in einer Grauzone (→ Defnition), in der es abzuwägen in einem gesonderten Kapitel betrachtet. Verwiesen wurde gilt, was, wer, wann und zu welchem Zweck sagt. stattdessen auf antisemitische Verschwrungstheorien, bei denen es sich wohl eher um Verschwrungsfantasien oder -mythen handelt, die in verschiedenen Medien kursie- ren. Ebenso wurde insbesondere auf Antisemitismus im 6.2 antisemitische verschwrungs- trkischen, iranischen und islamistischen Fernsehen und theorien/-mythen, sekundärer seinen Einfuss auf in Deutschland lebende migrantische Communities hingewiesen. Wegen der im Zeitraum seit antisemitismus, antizionisti- dem ersten Expertenbericht weiter gestiegenen Bedeu- scher/israelbezogener anti- tung journalistischer Online-Angebote sowie der wach- semitismus und antisemitische senden Nutzung von »Social Media« Kanälen als Mglich- 366 keit zur Kommunikation wird im zweiten Expertenbericht »hate speech« dem Themenbereich »Medien« nun ein eigenständiges Kapitel gewidmet. Verschwrungstheorien sind in vielen Ländern Europas, aber auch auf dem amerikanischen Kontinent und in der Unter dem Begriff Medien werden hier in erster Linie arabischen Welt fester Bestandteil tradierter, tief ver- moderne Massenmedien verstanden. Sie dienen der Wahr- wurzelter Narrative, die von Generation zu Generation nehmung, der Kommunikation, der Einordnung und der berliefert werden.367 Sie bieten einfache, monokausale Interpretation aktueller, aber auch vergangener Ereig- Erklärungsmuster fr komplizierte Sachverhalte und nisse und erfllen damit eine wichtige gesellschaftliche erfllen soziale Funktionen bzw. befriedigen psycholo- Funktion. Dies zeigt sich auch in der Auseinandersetzung gische Bedrfnisse.368 Sie basieren auf einem geschlossen mit Medien und Antisemitismus: Medien bilden einen dichotomen Weltbild, das in säkularisierten Gesellschaften wichtigen Rahmen fr gesellschaftliche Kommunikation als Religionsersatz dienen kann. Dabei handelt es sich und loten die Grenzen des Sagbaren aus. nicht um wissenschaftlich nachprfare Theorien, son- dern vielmehr – bestenfalls – um Halbwahrheiten, meist Im Frhjahr 2012 wurde tagelang in den Medien ber aber jedoch um Fantasien und Mythen, die sich bis hin zu ein »Gedicht« debattiert, das – so Herta Mller – keinen wahnhaften Vorstellungen steigern knnen. einzigen literarischen Satz enthielt. Die einen bezeichne- ten den Autor Gnter Grass als »modernen Antisemiten«, Verschwrungstheorien sind nicht immer, aber häufg die anderen bejubelten seinen Mut, ein vermeintliches antisemitisch konnotiert und haben eine lange, komplexe Tabu gebrochen und gesagt zu haben, »was gesagt werden Geschichte.369 Sie waren ein wesentlicher Bestandteil der muss«. Zweifellos waren Grass’ Einlassungen eine Vorlage Rassenpolitik der Nationalsozialisten, die zur Ermordung fr jene, die antisemitische Klischees, Ressentiments und der europäischen Juden fhrte. Die Blaupause dafr, wie Vorurteile hegen. Er schrte negative Gefhle gegenber Juden, die eine lange Tradition haben. Die Präsenz des Nahostkonfikts in den Medien, linke Diskurse mit einer 366 Der nachfolgende text beruht in einigen teilen auf der im auftrag des z.T. unwidersprochenen einseitig pro-palästinensischen Unabhängigen expertenkreises antisemitismus angefertigten expertise von Julia schramm (no-nazi.net/amadeu antonio stiftung): Julia schramm, antise- Haltung, die sich in mancher Berichterstattung und mitismus 2.0 – oder: wie soziale Medien antisemitismus wieder gesellschafts- insbesondere in der Bildsprache einiger Illustrationen fähig machen, Berlin 2016, s. 1–20. von ansonsten serisen Artikeln niederschlagen, haben 367 zur Defnition des Begriffs »verschwrungstheorie« vgl. andreas anton, dazu gefhrt, dass der anti-antisemitische Konsens in Unwirkliche wirklichkeiten. zur wissenssoziologie von verschwrungstheori- en, Berlin 2011, s. 17–31. der Öffentlichkeit allmählich aufzuweichen droht. Das 368 vgl. swami viren/rebecca coles, the truth is out there, in: the Psycho- Grass-Gedicht spiegelt insofern das wider, was wir in logist, 23 (2010) 7, https://thepsychologist. bps.org.uk/volume-23/edition-7/ den letzten Jahren – spätestens seit Beginn der zweiten truth-out-there (eingesehen 31. 10. 2014). Intifada im Herbst 2000 – beobachten knnen. Es geht 369 Der historiker Johannes heil bezeichnet die »jdische weltverschw- hier nicht um legitime Kritik an der israelischen Regie- rung« als persistentes »langzeitstereotyp, das alle zeitenwenden berstand, ohne an attraktivität einzubßen«. Johannes heil, »Gottesfeinde« – »Men- rung oder an deren Politik und Vorgehen in den besetzten schenfeinde«. Die vorstellung von jdischer weltverschwrung (13. bis Gebieten, sondern um Grenzberschreitungen hin zu 16. Jahrhundert), essen 2006, s. 16 und s. 368.

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auch fr an aktuelle Ereignisse des Weltgeschehens ange- 6.3 antisemitismus in Print- passte Verschwrungstheorien, war und ist bis heute das und Online-zeitungen antisemitische Machwerk »die Protokolle der Weisen von Zion«. Hier wird vorgegeben, Geheimdokumente einer sowie im Fernsehen Weltverschwrung vorliegen zu haben, deren Ziel es sei, die Ordnung der Staaten zu zerstren und eine jdische Print- und Online-Zeitungen sind – ebenso wie das Weltherrschaft zu errichten.370 Tatsächlich handelt es sich Fernsehen – wichtige Akteure im ffentlichen Diskurs und um einen fktionalen Text, der aus verschiedenen Quellen prägen, trotz einer zunehmenden Skepsis, die sich v.a. in montiert worden ist. Genutzt werden dabei Chiffren, wie dem Schlagwort »Lgenpresse«373 ausdrckt und in erster etwa der Name der Familie Rothschild, der bis heute fr Linie im Rahmen neuerer → politischer Bewegungen eine vermeintlich jdische Allmacht ber das weltweite sichtbar wird, die Meinungsbildung. Antisemitismus kann Finanzwesen steht. Das Internet bietet gerade im Zeichen dabei auf der einen Seite Thema der Berichterstattung der aktuellen Wirtschaftskrise eine ideale Verbreitungs- sein, etwa dann, wenn antisemitische Vorfälle Teil des plattform, um solchen antisemitischen Fantasien freien Tagesgeschehens sind und entsprechend journalistisch Lauf zu lassen. Daneben ist auch der Vorwurf, Juden wr- aufereitet werden. Auf der anderen Seite sind aber auch den Ritualmorde an Kindern anderer Religionsgemein- antisemitische Konnotationen in der Berichterstattung schaften (v.a. Christen) begehen, um deren Blut fr das selbst mglich. Daneben bietet sich fr Leserinnen und Backen des ungesäuerten Brotes zu Pessach zu gewinnen, Leser gerade auch im Bereich des Online-Journalismus eine immer wieder auftauchende Fiktion alter und neuer zunehmend die Mglichkeit, sich an medialen Diskur- Verschwrungstheorien, die gegenwärtig auch in der sen zu beteiligen. Sie nutzen Kommentarfunktionen der arabischen Welt revitalisiert wird, um den Feind Israel zu Online-Zeitungen, nehmen direkt Bezug auf einzelne desavouieren bzw. das Existenzrecht des Staates in Abrede Artikel und argumentieren dabei in einigen Fällen immer zu stellen.371 wieder implizit oder explizit antisemitisch.

Der sekundäre und der israelbezogene Antisemitismus Gegenber dem Bericht des ersten UEA hat sich im (→ Defnition) dominieren ffentliche Debatten und sind Bereich der Medienberichterstattung wenig verändert. in den sozialen Medien in den verschiedensten Zusam- Der Befund von damals hat auch heute noch Gltig- menhängen präsent. Beide Formen verbinden sich in einer keit: »Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern Täter-Opfer-Umkehr und sind im Kontext des Nahostkon- (z.B. Frankreich, Griechenland, Großbritannien und die fikts virulent. Begriffe wie »Holohoax«, die implizieren, skandinavischen Staaten) fnden sich in der deutschen der Holocaust sei von Jdinnen und Juden inszeniert wor- Qualitätspresse bzw. in den Fernsehmedien kaum dezi- den, tauchen in den sozialen Medien und auf Webseiten diert antisemitische Stereotype. Allerdings fießen etwa verschiedenster politischer, gesellschaftlicher und sozialer im Zusammenhang mit der Berichterstattung ber den Gruppen regelmäßig auf.372 Dominante Narrative sind die Nahostkonfikt, aber auch mit der jngsten Finanzkrise, Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangen- häufg unbewusst, seltener mit Absicht, ber Generatio- heit und Zuschreibungen, die unterstellen, die ehemaligen nen tradierte Vorurteile in die Texte ein bzw. werden ber Opfer (Juden=Israelis) wären jetzt zu Tätern geworden, Illustrationen transportiert. In rechtsextremen Postillen, weil sie die Palästinenser in Lager sperrten, unterdrckten aber auch in Presseerzeugnissen, die dem Islamismus und tteten. nahestehen, fnden sich hingegen explizit antisemitische Inhalte. Offen antisemitische Aussagen im Sinne eines mglichen Straftatbestandes werden dabei im Wesentli- chen auf entsprechenden Internetplattformen verbreitet, die ber ausländische Provider ins Netz gespeist werden. 370 wolfgang Benz, Die Protokolle der weisen von zion. Die legende von […] Auf nicht immer unberechtigte Kritik stßt die biswei- der jdischen weltverschwrung, Mnchen 2007. siehe auch eva horn/Michael hagemeister, Die Fiktion der jdischen weltverschwrung. zu text und Kon- len einseitige Berichterstattung ber den Nahostkonfikt, text der »Protokolle der weisen von zion«, Gttingen 2012; Jeffrey l. sammons die durchaus zur Bestätigung bzw. Verbreitung latent (hrsg.), Die Protokolle der weisen von zion. Die Grundlage des modernen anti- semitismus – eine Fälschung. text und Kommentar, Gttingen 1998. vorhandener antisemitischer Klischees beitragen kann. Der Nahostkonfikt bestimmt die Wahrnehmung Israels 371 z.B. in arabischen Fernsehserien wie Diaspora/al-shatat (21-teilige an- tisemitisch hetzerische Fernsehserie, produziert vom syrischen Fernsehen. Im und der israelischen Gesellschaft, in der Öffentlichkeit ramadan 2003 auf al-Manar (hizbollah tv) gesendet – später auch in anderen und den Medien gleichermaßen. Die Berichterstattung ist arabischen Fernsehsendern gezeigt). 372 siehe etwa die revisionistische seite »Unbequeme wahrheit«, https:// unbequemewahrheit2014.wordpress.com/tag/holohoax/ (eingesehen 14.11.2016); 373 Der Begriff »lgenpresse« wird v.a. im rahmen der seit Oktober 2014 der australische ableger der »Biblebelievers«, http://www.biblebelievers.org. stattfndenden Demonstrationen der PeGIDa und ihrer ableger genutzt, um au/holohoax.htm (eingesehen 14.11.2016); das chatroboter-Mädchen tay er- die Berichterstattung der etablierten Presse zu diffamieren. »lgenpresse« klärte ber twitter den holocaust fr eine erfndung, in: Jdische allgemeine wurde als Begriff aber auch im nationalsozialismus als teil antisemitischer ver- zeitung vom 14. 4. 2016, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/ schwrungstheorien verwendet, um eine angebliche Beherrschung der Presse- 25183 (eingesehen 14. 11. 2016). berichterstattung durch das »weltjudentum« zu suggerieren.

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konfiktorientiert, im Fokus steht die physische Gewalt. dieser in einem vllig anderen Zusammenhang fr die Israelischer Alltag und die Vielfalt der Gesellschaft sind Zeitschrift »Feinschmecker« produziert hatte. Das Bild nur selten eine Nachricht wert, allenfalls in Features, zeigt ein grimmiges, gefräßiges Wesen mit roter Nase und Reportagen und in Hintergrundberichten wird der Nor- Teufelshrnern im Bett sitzend, Messer und Gabel dabei malität israelischen Lebens Raum gegeben.«374 aufgestellt haltend, um das Frhstck, das ihm eine Frau serviert, entgegenzunehmen. Die Bildunterschrift lautet Wie bereits im Bericht des ersten UEA konstatiert, lassen »Deutschland serviert. Seit Jahrzehnten wird Israel, teils sich in journalistischen Print- und Online-Erzeugnissen umsonst, mit Waffen versorgt. Israels Feinde halten das z.T. Beiträge fnden, die sowohl antisemitische Verschw- Land fr einen gefräßigen Moloch.«378 Die Bezge zu rungstheorien als Erklärungsmodell nutzen, als auch Israel sind nicht bildimmanent, sondern erst durch die vorgeben, israelkritisch zu sein, dabei aber zwischen Bildunterschrift und die visuelle Einbettung in den Artikel den Zeilen oder auch offen Ressentiments bedienen, die hergestellt worden. Jene, die die Karikatur als Illustration zumindest anschlussfähig an antisemitische Topoi sein ausgesucht haben, scheinen die Bildsprache antisemiti- knnen. Eine breite Debatte lste etwa die Diskussion scher Ressentiments bewusst oder unbewusst eingesetzt um die Spiegel Online-Kolumne »Im Zweifel links« von zu haben. Die Sddeutsche Zeitung hat die Verwendung der Jakob Augstein aus (→ Beispiele: Augstein-Debatte). Im Illustration einen Tag später als »Fehler« bezeichnet. Auch November 2012 war der Herausgeber des Freitag wegen wenn die Karikatur fr sich allein und in ihrem ursprng- seiner Kommentare zu Israel in der Spiegel-Kolumne vom lichen Kontext keinerlei antisemitische Zge aufweist, so US-amerikanischen Simon Wiesenthal Center (SWC) in lässt sie sich doch in der hier präsentierten Rahmung als die Liste der »Top Ten der antisemitischen und antiisra- antisemitisch konnotiert lesen. Die Anklänge an einen elischen Verunglimpfungen« aufgenommen worden – sekundären Antisemitismus (→ Defnition) werden v.a. in eine Einschätzung, die von deutschen Journalistinnen der Bildunterschrift deutlich, wenn davon die Rede ist, und Journalisten vehement zurckgewiesen wurde und dass Deutschland unentgeltlich Waffen liefert, also »ser- eine breite, in den Feuilletons verschiedener Zeitungen viert«, was angeblich vonseiten Israels gefordert wrde, gefhrte Debatte auslste.375 Besonders daran waren weil wegen des Holocaust nach wie vor eine Bringschuld nicht die Äußerungen an sich, sondern die Vehemenz, bestnde. mit der bestritten wurde, dass Jakob Augstein damit die Grenze der »Israelkritik« berschritten und antisemitisch Ebenfalls in der Sddeutschen Zeitung wurde in einem argumentiert hätte. Ähnliche Argumentationen, die sich Teil der Ausgabe vom 21. Februar 2014 eine Karikatur des im Bereich der Grauzonen (→ Defnition) der »Israelkritik« Facebook-Grnders Mark Zuckerberg zur Illustration der bewegen und hierbei z.T. antisemitische Klischees bedie- Übernahme des Kommunikationsanbieters WhatsApp nen, lassen sich aber auch jenseits der Spiegel-Kolumnen durch Facebook abgedruckt. Die Karikatur stellt Zucker- Augsteins in anderen Zeitungen der Qualitätspresse berg als hakennasige Krake dar, deren Tentakeln sich ber im Rahmen der Berichterstattung zum Nahostkonfikt alle Bereiche der Kommunikation ausbreiten. Der Journa- fnden.376 list der Welt, Alan Posner, kommentierte: »Das [Gesicht] hat eine prominente Hakennase, eine feischig-feuchte In der Sddeutschen Zeitung wurden am 1. Juli 2013 unter Unterlippe und schiefe Augen; und es sieht so aus, als wr- der Rubrik »Das politische Buch« zwei Bände vorgestellt, den sich die Tentakeln aus Schläfenlocken entwickeln. Mit die sich mit Israel befassen.377 Überschrieben war dies mit einem Wort: Es sieht gar nicht aus wie der jdischstäm- »Der Niedergang des liberalen Zionismus« und illust- mige und stramm atheistische Facebook-Grnder Mark riert mit einer Karikatur des Knstlers Ernst Kahl, die Zuckerberg, aber sehr stark aus wie der Jude an sich, wie ihn schon der ›Strmer‹ herbei halluzinierte. Die ›Krake

374 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland. Juda‹, so suggeriert es die Karikatur, hält die Welt im Wr- erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, Berlin 2011, s. 98. gegriff.«379 Impliziert wird mit der Karikatur eine jdische 375 vgl. hierzu ausfhrlich lukas Betzler/Manuel Glittenberg, antisemitismus Medienmacht. Zurckgegriffen wird dabei auf Bilder, die im deutschen Mediendiskurs. eine analyse des Falls Jakob augstein, Baden-Ba- bereits im Nationalsozialismus virulent waren.380 Burk- den 2015; Monika schwarz-Friesel (hrsg.), Gebildeter antisemitismus. eine he- rausforderung fr Politik und zivilgesellschaft, Baden-Baden 2015. hard Mohr entschuldigte sich fr seine Karikatur wie folgt: 376 analysen der Berichterstattung zum nahostkonfikt: robert Beyer, »Die Israelis knnen tun, was sie wollen und haben dafr immer rckendeckung« – 378 sddeutsche zeitung (sz), vom 2.7.2013. einseitig kritische nahostberichterstattung in der deutschen Qualitätspresse, in: schwarz-Friesel (hrsg.), Gebildeter antisemitismus, s. 217–239; hagen 379 Die welt, vom 25.2.2014, http://www.welt.de/kultur/article125185286/ troschke, Kritik, Kritik und De-realisierung, antisemitismus. Israel in der nah- wenn-der-wuetende-spiesser-den-Diskurs-bestimmt.html (eingesehen ost-Berichterstattung deutscher Printmedien zum Gaza-Konfikt 2012, in: 16.12.2015). schwarz-Friesel (hrsg.), Gebildeter antisemitismus, s. 253–274. 380 vgl. hierzu eine Karikatur, die wahrscheinlich aus dem Jahr 1938 stammt 377 rezensiert wurden in diesem zusammenhang die Bcher von Peter Bein- und in der ns-Propagandazeitschrift »Der strmer« verwendung fand: »an- art, Die amerikanischen Juden und Israel. was falsch läuft, Mnchen 2013 und ti-semitic cartoon by seppla (Josef Plank) – an octopus with a star of David werner sonne, staatsräson? wie Deutschland fr Israels sicherheit haftet, Ber- over its head has its tentacles encompassing a globe http://collections.ushmm. lin 2013. org/search/catalog/pa4913 (eingesehen 3.11.2016).

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»Antisemitismus und Rassismus sind Ideologien, die mir stilisiert, der Brotstcke mit Gift tränkt und dabei ein Lied vllig fremd sind. Umso mehr hat es mich erschttert, dass trällert. Die Flasche, aus der die Netanjahu-Figur das Gift eine meiner Karikaturen nun in diesem Licht erschienen fießen lässt, ist mit einem Totenkopf gekennzeichnet und ist. Wer meine Zeichnungen und mich kennt, weiß, dass es mit einem Anhänger versehen, auf dem »Siedlungsbau« mir fernliegt, Menschen ob ihrer Nationalität, religisen zu lesen ist. Auf dem Boden steht eine Taube mit der Einstellung oder Herkunft zu diffamieren. Dass die Kari- Aufschrift »Nahostfriede«, im Schnabel einen Oliven- katur zur WhatsApp-Übernahme durch Facebook, bei der zweig – das klassische Motiv der Friedenstaube. Untertitelt ich eine berspitzte Zeichnung Mark Zuckerbergs in Kom- ist die Illustration mit einer Zeile aus dem Lied von Georg bination mit der Krake aus dem Film ›Fluch der Karibik‹ Kreisler »Taubenvergiften«: »Gehn’ mer Tauben vergiften, dargestellt habe, wie eine antijdische Hetz-Zeichnung im Park…«. Die Stuttgarter Zeitung hat den Abdruck der aussieht, ist mir nicht aufgefallen. Gemeint war eine kari- Karikatur später bereut, hält die Vorwrfe des Antisemi- katuristische Überzeichnung der Firma Facebook jenseits tismus aber fr unbegrndet. Allerdings waren auf der spezifscher Personen, so wie ich dies dann auch in einer Facebook-Seite der Zeitung selbst solche Vorwrfe laut berarbeiteten Karikatur dargestellt habe, die im aller- geworden. Manche Postings hatten auf das antisemitische grßten Teil der Aufage der SZ erschienen ist. Mir ging Vorurteil der Brunnenvergiftung hingewiesen.384 es nicht um Herrn Zuckerberg, sondern um Facebook.«381 Diese nachträgliche Entschuldigung reiht sich ein in den Anatol Stefanowitsch von der Freien Universität Berlin hat blichen Umgang mit Antisemitismus: Antisemitismus sei sich ber Google News die Schlagzeilen deutscher Zei- nicht intendiert gewesen und es konnte nicht davon aus- tungen vom 6. bis 11. Juli 2014 zum Stichwort »Nahost« gegangen werden, dass eine antisemitische Lesart ange- herausgesucht und »die Fälle analysiert, in denen es um wandt werden knne. Die damit verbundene Behauptung, israelische oder palästinensische Kampfandlungen ging«. die ber Generationen tradierten Zuschreibungen, Juden Der Sprachwissenschaftler hat sich nur auf die Über- wrden gesellschaftliche Bereiche im Wrgegriff halten, schriften konzentriert, weil, wie er sagt, sie die Perspektive häufg mit Tentakeln stilisiert, sei nicht bekannt gewesen, verdeutlichen, die das Medium auf den Konfikt habe. gehrt in das Repertoire klassischer Entschuldungsstrate- Allerdings bleibt bei dieser Vorgehensweise außen vor, gien oder ist Ausdruck einer großen Unwissenheit.382 dass die Schlagzeilen nicht unbedingt immer von dem Journalisten stammen mssen, der den Artikel verfasst Immer wieder werden Stimmen laut, die eine einseitige hat. Stefanowitsch kommt zu folgendem Ergebnis: »In den Berichterstattung zum Nahostkonfikt in der Sddeut- insgesamt 170 Schlagzeilen werden zunächst allgemein schen Zeitung kritisieren. Mirijam Fischer bte im April 92-mal israelische und 42-mal palästinensische Aktio- 2016 heftige Kritik im Rahmen ihres Gastbeitrages in der nen erwähnt, in weiteren 40 Fällen wird auf den Konfikt Rubrik Kolumne des Autorinnenkollektivs »10 nach 8« in im Ganzen Bezug genommen (zum Beispiel ›In Nahost der Zeit. Unter dem Titel »Antisemitismus zwischen den herrscht wieder Krieg‹). Dabei wurde Israel in rund drei Zeilen: Israel darf kritisiert werden« konstatierte sie fr Viertel der Fälle, in denen es um israelische Aktionen ging, viele Medien, aber besonders in der SZ »eine unterschwel- auch explizit als Akteur benannt. Dagegen nennt nur die lige Judenfeindlichkeit«.383 Zu Recht mahnt die Autorin Hälfte der Schlagzeilen zu palästinensischen Aktionen die infationäre Verwendung des Begriffs »Rache« im berhaupt einen Akteur, die andere Hälfte nennt nur Zusammenhang mit Israel, insbesondere in Schlagzeilen das Ereignis (etwa ›Wieder Raketenangriffe auf Tel Aviv‹). und Titeln einzelner Beiträge vieler Printmedien, an. Die […] In ber der Hälfte der Fälle, in denen Israel (oder Zuschreibung, es gebe eine spezifsch jdische Rachsucht, israelische Akteure wie ›israelische/s Armee/Militär‹) gehrt in den uralten Fundus antisemitischer Stereotype. als handelnde Kraft benannt werden, erfolgt das in der Subjektposition des Satzes, die häufgsten Prädikate sind In der Stuttgarter Zeitung war bereits am 5. August 2013 dabei ›eine (Militär-/Groß-/Boden-)Offensive vorbereiten/ ein Cartoon des Karikaturisten Rolf Henn, alias »Luff«, starten/fortsetzen«, »mit einer Offensive drohen‹, ›sich fr erschienen, der den israelischen Ministerpräsidenten eine Offensive rsten‹, ›(Luft-)Angriffe/Bombardement Benjamin Netanjahu, mit einer durchaus als antisemitisch fortsetzen/fiegen/verstärken‹, ›Ziele angreifen/bombar- zu interpretierenden Nase und Davidstern an der Brust- dieren‹, ›Reservisten mobilisieren/einziehen‹ und ›tten‹. tasche, als Taubenvergifter auf einer Parkbank sitzend Die andere Hälfte der Benennungen als Akteur schließ- lich verteilt sich auf Adjektive (zum Beispiel ›israelische Angriffe‹) oder Genitive (zum Beispiel ›Angriffe Israels‹). 381 sz, vom 25.2.2014, http://www.sueddeutsche.de/kolumne/facebook- Wenn die palästinensische Seite erwähnt wird, erfolgt karikatur-stellungnahme-des-zeichners-1.1898382 (eingesehen 3.3.2016). das in etwa der Hälfte der Fälle in Form von Ortsangaben 382 Der tagesspiegel, 25.2.2014, http://www.tagesspiegel.de/medien/ (zum Beispiel ›Raketen aus Gaza‹), bei denen der Akteur zuckerberg-eine-krake-antisemitismus-vorwurf-nach-sz-karikatur/9538414. html (eingesehen 14.11.2016). 383 Die zeit, 13.4.2016, http://www.zeit.de/kultur/2016-04/israelkritik- 384 Jdische allgemeine zeitung, 7.8.2013, http://www.juedische-allgemeine. antisemitismus-medien-sueddeutsche-zeitung-10nach8 (eingesehen 21.11.2016). de/article/view/id/16732 (eingesehen 1.12.2016).

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nur implizit genannt ist. Nur ein Drittel der Fälle erwähnt schuld – ein klassisches Stereotyp aus dem Kanon antise- den Akteur hier in der Subjektposition mit den Prädikaten mitischer Zuschreibungen. ›Raketen abfeuern/feuern/schießen‹ und einmal ›angrei- fen‹. Der Rest verteilt sich auf Nennungen an weniger Eine breite Kommentierung des medialen Diskurses fand prominenter Stelle, wie Komposita (›Hamas-Raketen‹) und im Berichtszeitraum zu einem Themenbereich statt, der Genitive (›Angriffe der Hamas‹). […] Es wäre bertrieben zu nicht nur antisemitisch, sondern in gleichem Maße islam- behaupten, die Mehrheit der deutschen Presseberichte sei feindlich besetzt ist: die Aufnahme eines Schächtverbots grundsätzlich israelfeindlich. In den Artikeln selbst erfolgt in das Grundsatzprogramm der AfD.388 Dieses Grundsatz- meistens eine differenziertere Darstellung aller Ereignisse programm wurde auf dem Parteitag der AfD, der vom 30. und ihrer ursächlichen Beziehungen. Aber die Überschrif- April bis 1. Mai 2016 stattfand, vorgelegt und beschlossen, ten zeigen, dass die deutsche Presse sich mit der Benen- in den Print- und Online-Medien diskutiert und in den nung mancher Aspekte des Konfikts tatsächlich schwerer entsprechenden Foren kommentiert.389 Zentrale The- zu tun scheint als mit anderen.«385 men in den Kommentaren waren Religionsfreiheit und Tierschutz, die allerdings schnell auch zu einer Plattform fr judenfeindliche Äußerungen wurden. Häufg wurde in die Diskussion zum Schächtverbot auch die Beschnei- 6.4 Kommentare von dung (→ Beispiele: Beschneidungsdebatte) von jdischen leserinnen und lesern und muslimischen Jungen einbezogen und kritisiert. Die Online-Redaktionen einiger Zeitungen sperrten die Kom- mentarforen zu den entsprechenden Artikeln. Obgleich Israelbezogener Antisemitismus, judenfeindliche Ste- diese moderiert sind, d.h. die Redaktionen sich vorbehal- reotype und Verschwrungstheorien sind in der Regel ten, Kommentare zu streichen, die nicht den »Community nicht Bestandteil der Berichterstattung der Qualitäts- Standards« entsprechen, war zu befrchten, dass eine medien, aber nicht selten Teil der Diskussionen, die in Flut von Hassbotschaften gepostet werden wrde. Die den dazugehrigen Kommentarspalten ablaufen. V.a. Redaktionen reagierten entsprechend ihrer Erfahrungen, die leichte Zugänglichkeit der Kommentarfunktionen in die sie mit solchen Themen im Laufe der Zeit gemacht Online-Medien sowie die Mglichkeit, anonym bleiben haben. Wenn die Kommentarmglichkeit offen ist, werden zu knnen, werden breit genutzt.386 Beispielhaft lässt sich besonders extreme Äußerungen gelscht oder gar nicht dies etwa an der Kommentierung der Berichterstattung erst freigeschaltet, sodass die Postings bereits in geflterter zu den European Maccabi Games zeigen, die vom 27. Juli Form vorliegen. bis zum 5. August 2015 in Berlin – und damit zum ersten Mal in Deutschland stattfanden.387 In der Auswertung Auffällig ist in den Kommentaren zu einem Schächt- der Online-Kommentierung zur Berichterstattung durch verbot, dass sowohl das Judentum als auch der Islam Leserinnen und Leser zeigten sich zwei Tendenzen, die als rckständige Glaubensgemeinschaften betrachtet sich beide unter dem Begriff der Schuldabwehr subsum- werden. Insbesondere in den Online-Lesermeinungen mieren lassen: (1) Antisemitismus wird weder als Problem zur Berichterstattung der Tageszeitung Die Welt werden der deutschen Mehrheitsgesellschaft noch als rechtsextre- Juden dafr verantwortlich gemacht, dass die kritisierte mes Phänomen gesehen, sondern v.a. als ein Problem der Praxis des Schächtens nicht verboten werden knne: in Deutschland lebenden bzw. ins Land eingewanderten Studien wrden bewusst gefälscht, um Juden entgegen- Muslime; (2) Juden wrden sich durch Veranstaltungen zukommen. Hier sowie in anderen Kommentaren zeigen wie die European Maccabi Games, an denen ausschließlich sich Ansätze von Verschwrungstheorien, die bis hin zu Jdinnen und Juden teilnehmen drfen, selbst ausschlie- verklausulierten Leugnungen des Holocaust gehen, wenn ßen und befrderten dadurch Antisemitismus, seien etwa in einem Kommentar die Geschichte Deutschlands also selbst an ihrer Ausgrenzung und Diskriminierung

388 neben einer v.a. antiislamischen Grundhaltung der Partei, die in dem 385 anatol stefanowitsch, schlagzeilen mit schlagseite. wie deutsche zei- Grundsatzprogramm vorgetragen wird, wird unter der Überschrift »natur- tungsberschriften im Gaza-Konfikt semantisch Partei ergreifen, in: Jdische und Umweltschutz, land- und Forstwirtschaft« das von Muslimen und Juden allgemeine, 17. 7. 2014, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/ betriebene schächten von tieren als nicht mit den tierschutzbestimmungen 19700 (eingesehen 22.11.2016). vereinbar abgelehnt. 386 Die zeitungen selbst sperren bei emotional aufgeladenen themen inzwi- 389 recherchiert wurde in verschiedenen regionalen und berregionalen schen die Kommentarfunktionen, um die häufg nicht kontrollierbaren hetzzu- Online-Publikationen deutscher zeitungen und nachrichtenmagazine. einbe- schriften gar nicht erst zuzulassen. zogen in die recherche wurden auch die entsprechenden Kommentare zu den 387 Untersucht wurde die gesamte Berichterstattung zu den european Mac- online publizierten artikeln. Betrachtet wurde die Berichterstattung in: Berliner cabi Games in Berlin und die Kommentierung der Berichterstattung durch le- zeitung, BIlD, Bz, Focus Online, Frankfurter allgemeine zeitung, Frankfurter serinnen und leser der Berliner Morgenpost, der Berliner zeitung, des spiegel, rundschau, spiegel Online, sddeutsche zeitung, Der tagesspiegel, taz, Die der welt, der zeit, der Faz, der sddeutschen zeitung, des tagesspiegel und der welt und Die zeit. Mit hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse wurden sowohl die taz. zur auswertung wurde die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse heran- artikel als auch die Kommentare der leserinnen und leser ausgewertet und gezogen. analysiert.

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in Anfhrungszeichen gesetzt und als Märchen beschrie- Kommentare wohl von einem einzigen Nutzer stamm- ben wird.390 ten.397

Angela Merkel wurde in den Online-Kommentarspal- Die Kommentare in den Online-Versionen vieler Printme- ten der Wochenzeitung Die Zeit im Rahmen des Artikels dien machen deutlich, dass Verschwrungstheorien in den »Zentralrat der Juden – Merkel beklagt Antisemitismus in letzten Jahren in ffentliche Debatten immer mehr Einzug Deutschland« fr ihre Kritik an der Beschneidungsdebatte hielten. Lange Zeit waren solche imaginierten Narrative beschimpft. Einer der 516 Kommentare lautete im Tenor auf bestimmte sektiererische Zirkel und rechtsextre- antisemitischer Verschwrungsfantasien: »Demutsgeste mistische bzw. fundamentalistisch islamistische Kreise vor einer Lobby, die sie meint, beschwichtigen zu ms- beschränkt. Heutzutage werden solche Inhalte offener, sen«.391 weniger im Verborgenen geäußert und gewinnen so schleichend auch im Mainstream Einfuss.398 Bereits im Januar 2012, als der Bericht des ersten UEA im Deutschen Bundestag bei einer Pressekonferenz vorgestellt Kommentare erscheinen auch zu den Online-Angebo- worden war und die Zeitungen ausfhrlich berichteten, ten der Fernsehanstalten. Sie wurden hier nicht eigens wurden alleine in der Kommentarleiste zum entsprechen- untersucht. In den Fernsehanstalten werden immer den Artikel in der Zeit innerhalb von nur wenigen Tagen wieder Features, Dokumentar- und Spielflme oder etwa fast 700 Kommentare eingestellt. Etwa 30 Prozent lschten Tatort-Folgen gesendet, die Antisemitismus zum Thema die Moderatoren aufgrund persnlicher Angriffe oder haben, aber auch jdisches Leben in Deutschland zeigen. wegen unsachlichen bzw. hetzerischen Inhalts.392 Explizit auf eigene Erfahrungen mit judenfeindlichen Aus- sagen reagierte Tamara Anthony, ARD-Hauptstadtstudio, Einen »Hype« unter Verschwrungstheoretikern, der sich als sie in den ARD-Tagesthemen am 19. Januar 2016 einen v.a. auch in Online-Kommentaren spiegelte, lste der Kommentar zum Thema »Antisemitismus in Deutsch- Selbstmord des Schauspielers Robin Williams 2014 aus. land. Wollen wir das akzeptieren?« sprach: »Bisher habe »Robin Williams ist tot – und bei Zeit-Online steppt der ich Judenhass in der Form nicht persnlich erlebt. Klar, Antisemit« titelte ein Blog, der einige der Postings, die ich trage keinen Davidstern und natrlich auch keine auf der Online-Plattform der Zeit393 inzwischen gelscht Kippa. Aber von denjenigen, die eine tragen, hre ich sind,394 gesammelt und verffentlicht hat.395 Die Kommen- Schlimmes. ›Scheißjude‹ wird ein Bekannter einfach so, tare waren volksverhetzend, antisemitisch, homophob von Unbekannten, auf der Straße beschimpft. Ein anderes und berwiegend in Fäkalsprache verfasst. Williams hätte Mal in der U-Bahn dazu auch noch angespuckt. […] Dieses sich an Kindern vergangen, – »wie alle im jdischen Hol- Wochenende habe ich selbst erlebt, wie weit der deutsche lywood« –, wurde in vulgärster Form behauptet. Ein Leser Antisemitismus in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. In kritisierte, dass die Zeit-Redaktion viel zu spät reagiert einer Kneipe im schicksten Viertel Hamburgs tnte ein habe ob der unglaublichen Häme und Brutalität, die auf Anzugträger, dass Juden in die Gaskammer sollen. ›Ich bin ihrem Blog ausgegossen wurde: »Wo ist die Moderation, Jdin‹, habe ich gesagt. ›Du willst mich also ermorden?‹ wenn man sie braucht? Wie kann es sein, daß so ein Dreck ›In dem Fall, ja‹, war seine Antwort. Das ist widerlich. schon 4 Stunden hier stehenbleibt?«396 Der Leser »Tom Und ich habe Angst, dass diese Leute sich durch Pegida & Schoppmeyer« wies einen Tag nach Erscheinen des Co nun auch noch bestärkt fhlen. Dem Antisemitismus Artikels und der Hetzbeiträge darauf hin, dass die deutscher und arabischer Prägung muss die Stirn geboten werden. Und diese Aufgabe darf nicht allein den Juden berlassen werden.«399 390 nach der zusammenlegung von n24 und Die welt wurden auch die On- line-Portale angepasst. seitdem knnen zwar noch die fr diese Untersuchung Dass es mglich ist, als Verschwrungstheoretiker ins verwendeten artikel abgerufen werden, nicht aber mehr die dazugehrigen Kommentare. eine eindeutige Quellenangabe ist hier also nicht mehr mglich. Frhstcksfernsehen von SAT1 zu kommen, hat ein gewis- ser Manuel Heine bewiesen. Am 2. November 2016 konnte 391 Die zeit, 25.11.2012, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/ 2012-11/merkel-zentralrat-antisemitismus (eingesehen 15. 11. 2016). er seine abstrusen Theorien von 9/11 bis zur These, die 392 Die zeit, 24.1.2012, http://www.zeit.de/gesellschaft/2012-01/ deutschland-antisemitismus-bericht?commentstart=689#comments (eingese- hen 15.11.2016). 393 Die zeit, 12.8.2014, http://www.zeit.de/kultur/flm/2014-08/robin- williams-tot?page=9 (eingesehen 21.11.2016). 397 ebenda. 394 es fnden sich zahlreiche einträge, die nur noch den hinweis enthalten, 398 siehe auch der Beitrag Brendan O’neill, how conspiracy culture made dass die Moderatoren der Kommentarfunktion der zeitung sie gelscht haben. anti-semitism respectable, in: spiked, 3.2.2014, http://www.spiked-online. 395 http://www.ortneronline.at/?p=30444&utm_source=twitterfeed&utm_ com/newsite/article/how-conspiracy-culture-made-anti-semitism-respecta- medium=twitter#sthash.tywbMqxv.lMDPf6DF. dpuf (eingesehen 21.11.2016). ble/14598# (eingesehen 21. 11. 2016). 396 http://www.zeit.de/kultur/flm/2014-08/robin-williams-tot (eingesehen 399 tagesthemen, 19. 1. 2016, https://www.tagesschau.de/kommentar/anth- 21.11.2016). ony-juden-deutschland-101.html (eingesehen 22. 1. 2016).

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Erde sei eine Scheibe (Flach-Erdler) verbreiten.400 Gepaart Relevanz. Sie informieren sich ber Internetnachrich- waren seine Phrasen mit antisemitischen Aussagen, als er tenkanäle und Soziale Medien. u.a. von den Rothschilds als Kontrolleure der Welt sprach. Die Moderatorin ließ die O-Tne unwidersprochen im Raum stehen.401 6.5 Internet und soziale Medien Antisemitische Stereotype aus dem klassischen Repertoire fnden sich in serisen deutschen TV-Sendern eher selten, Eine zunehmende Bedeutung fr den ffentlichen Diskurs allerdings entzndet sich an der Frage einer mglicher- im Hinblick auf Antisemitismus hat im Berichtszeitraum weise einseitigen Berichterstattung im Nahostkonfikt das World Wide Web bzw. v.a. das Web 2.0 mit seinen immer wieder Kritik. Das Fernsehen lebt von Bildern und Verbreitungs- und Agitationsmglichkeiten gewonnen. der Bildsprache. Bildern des hochgersteten israelischen Während sich im journalistischen Bereich zwischen Militärs stehen palästinensische Steinewerfer gegenber. Produzentinnen und Produzenten antisemitischer Inhalte Beim Zuschauer bleibt der visuelle Eindruck stärker und der antisemitischen Kommentierung von journa- haften als die Kommentierung aus dem Off. Diese zwei listischen Beiträgen durch Leserinnen und Leser unter- Seiten des Konfikts prägen das Bild des Nahostkonfikts scheiden lässt, so verschwimmen im Web 2.0 die Grenzen spätestens seit Beginn der zweiten Intifada im Oktober zwischen beiden Gruppen. Die Netzinhalte variieren dabei 2000 und setzen sich bis heute fort. Diesbezglich hat zwischen israelbezogenem und holocaustbezogenem sich wenig geändert. Allerdings sind die Berichterstattung Antisemitismus, Verschwrungstheorien und, wenn auch und die Bildsprache abhängig von der Journalistin bzw. sehr viel weniger, offenem Judenhass.402 des Journalisten und der Kameraleute. Entscheidend sind ihr Zusammenspiel und der Blickwinkel, den sie auf den Eine Regulierung antisemitischer und auch anderer Konfikt haben. Aktuelle Studien zur Nahostberichterstat- diskriminierender Inhalte wird von den Betreibern der tung in den Medien fehlen und sollten dringend initiiert entsprechenden Plattformen häufg mit dem Hinweis auf werden. das Recht der freien Meinungsäußerung abgelehnt. Hinzu kommt, dass massenhafte Kommunikation – gleich wel- Der mediale Fokus sowohl in den Print- als auch in den chen Inhaltes – fr diese Plattformen ein Wirtschaftsfak- Fernsehmedien hat sich in den letzten Jahren in Bezug tor ist, es also zunächst kein Interesse gibt, diese Kommu- auf Antisemitismus immer stärker auf »die Muslime« nikation einzuschränken. gerichtet und damit die Diskurse in der Öffentlichkeit entscheidend beeinfusst. Andere Tätergruppen, wie etwa Der Politikwissenschaftler Markus Linden spricht von Rechtsextreme, traten in der medialen Wahrnehmung einer Individualisierung des Netzes, »bei der sich der demgegenber in den Hintergrund. Netzaktivist in geschlossenen Gesinnungsgemeinschaften bewegen kann«. »Facebook«, so Linden weiter, »fordert Fernsehen sowie Print-Medien haben jedoch v.a. bei der Counter Speech, also Widerrede gegen Hasskommentare, jngeren Generation und bei Jugendlichen kaum noch wohl wissend, dass das Geschäftsmodell auf dem Gegen- teil beruht. Während etwa die parlamentarische Debatte durch die oppositionelle Herausforderung geprägt ist, 400 evelyn roll schreibt in ihrem Beitrag »Die lge«, sddeutsche zeitung, 19./20.11.2016: »Die algorithmen von Facebook, Google, und You- kann sich der User seine Freunde aussuchen. Im Netz wird tube schaffen sich nicht nur realitätsblasen und eigene welten. sie erzeugen er zielgerichtet zur bedarfsorientierten ›Information‹ damit Menschen, die schließlich wirklich glauben, nein: wissen, dass die erde eine scheibe ist.« gefhrt, denn Bestätigung schafft Kundenzufriedenheit. Was als pluralistisches Austauschmedium gepriesen 401 Bei sat1 auf der webseite nicht mehr im angebot, siehe aber https:// www.youtube.com/watch?v=3gFvv3nni-U (eingesehen 22.11.2016). Die wurde, entwickelt sich so zur Radikalisierungsmaschi- Kommentare auf der Youtube-seite sind berwiegend sehr kritisch und neh- ne.«403 men Manuel heine nicht ernst. Der Blog »Der goldene aluhut« schrieb einen offenen Brief an die sat1-redaktion. Die Blogger sehen die verweise auf 9/11 als »einstiegsdrogen in verschwrungsideologien«. sat1 wrde »diese als ab- Eine beobachtende Einschätzung antisemitischer Netz- solut selbstverständlich präsentieren. videomitschnitte von einschlägigen beiträge wurde im Auftrag des zweiten UEA von Julia Quellen in Bezug auf hillary clinton als reptiloid wurden unkommentiert ein- geblendet und keine der dargestellten thesen wurde hinterfragt«, http://blog. Schramm (no-nazi.net/Amadeu Antonio Stiftung) durch- dergoldenealuhut.de/2016/11/05/offener-brief-und-einladung-an-das-sat- gefhrt. Ihre Ergebnisse fießen in die nachfolgenden 1-fruehstuecksfernsehen/ (eingesehen 22.11.2016). Der Begriff »aluhut« wird im zusammenhang mit Montagsmahnwachen (→ Politische Bewegungen) ver- Ausfhrungen ein. Schwerpunkt ist hierbei der deutsch- wendet. als wichtiges Korrektiv haben sich kritische stimmen formiert, um sich sprachige Raum. Schramm hält hierzu einleitend fest: »Da gegen die versatzstcke antisemitischer Kapitalismuskritik und die diversen verschwrungstheorien bei Montagsmahnwachen zu positionieren. als symbol verwenden sie den »aluhut«. Der »aluhut« reicht historisch in die 1920er-Jahre 402 schramm, antisemitismus 2.0, s. 2. zurck (»tinfoil hat«), als damit die wahnidee bezeichnet wurde, eine metalle- ne Kappe knne telepathische einfsse auf das Gehirn blockieren. heute wird 403 sddeutsche zeitung, 7./8.11.2015, Online-version, 6.11.2015, http://www. »aluhut« symbolisch als Bezeichnung fr im politischen sinne paranoide Men- sueddeutsche.de/politik/gastkommentar-krieger-an-der-tastatur-1.2725726 schen, fr verschwrungstheoretiker verwendet. (eingesehen 16.11.2016).

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eine quantitative Analyse des Antisemitismus in Sozialen zu lassen, was letztlich zu einer Radikalisierung solcher Netzwerken theoretisch mglich ist, aber praktisch derzeit Haltungen fhren kann. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch nicht durchgefhrt wird, ist die vorliegende Analyse eine darin, dass entsprechende Hass-Kommentare zunehmend qualitative, die verschiedene Aspekte zusammenfhren nicht anonym geäußert werden. wird, um ein grundsätzliches Verständnis fr Antisemitis- mus 2.0 zu bekommen.«404 6.5.2 Soziale Medien

6.5.1 »Hate Speech« Grundsätzlich gilt, dass die Kommunikation in jedem sozialen Netzwerk anders strukturiert ist, was sich auf die Neben bzw. im Verbund mit alten und neuen antisemiti- Quantität und Qualität der Kommunikation auswirkt. schen Verschwrungstheorien und einem als »Israelkri- Darber hinaus sind es derzeit nur wenige Plattformen, tik« getarnten Antisemitismus erlebt seit dem Aufom- die im deutschsprachigen Raum einen relevanten Teil men der Sozialen Medien auch der offene Antisemitismus digitaler Kommunikation ausmachen. Auf jeder dieser eine Renaissance.405 Die digitale Kommunikation in Plattformen lassen sich die verschiedenen Ausprägungen sozialen Netzwerken ermglicht eine von der direkten antisemitischer Narrative fnden. Lediglich die der Platt- face-to-face Kommunikation unterschiedene Form: »Digi- form geschuldete Anordnung der Kommunikation und tale Kommunikation […] ist eine symmetrische Kommu- die damit verbundenen Bedingungen fhren zu Unter- nikation, also Sender*in und Empfänger*in verschmel- schieden in Form und Häufgkeit der antisemitischen zen – Jede*r Einzelne wird Produzent*in in Ergänzung zur Äußerungen. bereits bestehenden Position als Konsument*in. Darber hinaus ist der digitalen Kommunikation Mimik und Gestik weitestgehend entzogen, die jedoch den Großteil 6.5.2.1 twitter verständlicher Kommunikation zwischen Menschen aus- macht. Letztlich ist die Kommunikation ber Computer Der Mikrobloggingdienst Twitter, auf 140 Zeichen pro und mobile Endgeräte eine zutiefst narzisstische, bei der Tweet beschränkt, ist in der Standardeinstellung ffent- die Kommunizierenden oftmals lediglich ihren Affekten lich, also eine Art offener Marktplatz digitaler Kommu- freien Lauf lassen.«406 nikation. Das heißt, dass alle Beiträge zunächst komplett einsehbar und verwertbar sind. Kommunikation fndet Den »Affekten freien Lauf lassen« fhrt zunehmendzu ber Retweets und Favorisierungen statt, aber auch einer Kommunikation in den sozialen Netzwerken, die ber Bilder und Grafken und nicht zuletzt ber private dazu gedacht ist, das Gegenber aufgrund von »Rasse«, Nachrichten und mgliche Gruppenkommunikation. Religionszugehrigkeit, Geschlecht etc. zu beleidigen, zu Die deutschsprachige Community auf Twitter ist sehr demtigen, zu diskriminieren. Dieses Vorgehen wird auch klein, die Nutzung im Vergleich sehr gering. Jedoch ist als »Hate Speech« bzw. »Hassrede« bezeichnet. Hierunter Twitter ein meinungsmachendes Medium, da sich hier wird »der sprachliche Ausdruck von Hass gegen Perso- berdurchschnittlich viele Vertreterinnen und Vertreter nen oder Gruppen verstanden, insbesondere durch die klassischer Medien fnden ebenso wie Politikerinnen und Verwendung von Ausdrcken, die der Herabsetzung und Politiker sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Verunglimpfung von Bevlkerungsgruppen dienen«.407 Insbesondere der Nachwuchs in diesen Bereichen nutzt Hinzu kommt die potenziell hohe Reichweite einzelner Twitter.408 Beiträge, die ansonsten mglicherweise nur privat oder in kleinem Kreis gemachte Äußerungen nun einer breiten Twitter ermglicht darber hinaus eine weitgehend Öffentlichkeit zugänglich machen. anonyme Kommunikation, sodass etwa rechtsextreme Gruppierungen offener auftreten und antisemitische Offen geäußerter Antisemitismus erfährt ber soziale Propaganda plumper und direkter kommuniziert werden Netzwerke eine weite Verbreitung und trägt dazu bei, die kann. Insbesondere antisemitische Karikaturen und Graf- Grenzen des Sagbaren immer weiter auszudehnen und ken sowie gefälschtes Bildmaterial haben auf Twitter eine damit antisemitische Einstellungen unwidersprochen hohe Verbreitung. Nicht zuletzt gibt es die Mglichkeit, Tweets zu kaufen, die eine defnierte Reichweite und Ziel- gruppe erreichen sollen. Diese Mglichkeit wird immer

404 schramm, antisemitismus 2.0, s. 4. wieder genutzt, um antisemitische Hetze massenhaft zu 405 ebenda, s. 1. 406 ebenda, s. 2 f. 408 christoph neuberger/hanna Jo vom hofe/christian nuernbergk, twitter 407 Jrg Meibauer, hassrede – von der sprache zur Politik, in: Ders. (hrsg.), und Journalismus. Der einfuss des »social web« auf die nachrichten, Dssel- hassrede/hate speech. Interdisziplinäre Beiträge zu einer aktuellen Diskussi- dorf 2011, s. 29 ff., http://www.lfm-nrw.de/fleadmin/lfm-nrw/Publikationen- on, Gießen 2013, s. 1–16, hier s. 1. Download/lfM_Doku38_twitter_Online.pdf (eingesehen 15. 11. 2016).

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verbreiten. Twitter hat diesbezglich bisher keine Richt- Volksverhetzung in mehreren hundert Fällen«411 in linien, sodass immer wieder strafare Inhalte auch als Rostock vor dem Landgericht verantworten – nach dessen Werbung geschaltet werden. Abschaltung 2012 kein anderes Forum folgte. Es wird vermutet, dass sich die Aktivitäten auf Facebook verlagert Obwohl die dem rechtsextremen Spektrum zuzuord- haben. nenden Akteurinnen und Akteure besonders direkt Antisemitismus äußern, lässt sich grundsätzlich dennoch Auch wenn Facebook bekannte doppelte Standards festhalten, dass Twitter ein tendenziell elitäres Netzwerk bei den Themen Sexismus und Rassismus hat,412 ist in Deutschland ist.409 Antisemitische Inhalte sind in linken das Netzwerk beim Thema Antisemitismus, gerade im und feministischen Kreisen bei Twitter durchaus präsent. deutschsprachigen Bereich, sehr viel wachsamer. Es ist Durch die Vernetzung mit internationalen Akteurinnen beispielsweise nicht mglich, eine Gruppe mit dem Wort und Akteuren, die sich ebensolcher antisemitischer Topoi »Jude« anzulegen. Auch werden eindeutig antisemitische bedienen, bilden sie eine Gruppe, die einen grßeren Kreis Bilder und Grafken von Facebook zgig entfernt. Im Frh- von Rezipienten beeinfussen kann.410 Grundsätzlich ist jahr 2016 wurde die antisemitische Verschwrungsseite Twitter komplett maschinenlesbar und bietet daher fr »Anonymous.Kollektiv« gelscht, die Betreiber allerdings ein umfassendes Monitoring die besten Voraussetzungen. sind weiter aktiv.413 Unter dem Hashtag #FakeAnonymous Einschlägige Akteurinnen und Akteure lassen sich so zwar auf Facebook selbst und auf Twitter hatten Nutzer auf deutlich benennen, jedoch bestehen kaum Mglichkeiten, die Hetze der Gruppe aufmerksam gemacht, deshalb war diese rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. »Anonymous.Kollektiv« bereits in den ersten Monaten des Jahres nicht mehr erreichbar.414 Trotz solcher Nutzer- aktionen fndet sich auf Facebook eine Flut von Seiten, auf 6.5.2.2 Facebook denen antisemitische Verschwrungstheorien verbreitet werden. Auch rechtspopulistische Parteien nutzen Face- Facebook ist im Unterschied zu Twitter eine »Gated book intensiv und erfolgreich. Community«, deren Privatsphäreneinstellungen sehr fein justierbar ist und so unterschiedlichste Formen der Während des Gaza-Konfikts 2014 wurde auf Facebook Kommunikation, aber auch Vernetzung und Agitation eine Collage zur Kampagnenikone, die schließlich ihren erlaubt. Es gibt die Mglichkeit, geschlossene und von der Weg auch auf anti-israelische Demonstrationen fand. Das Suchfunktion nicht auffndbare Gruppen zu betreiben, Bild wurde zum Markenzeichen der pro-palästinensischen was gerade von rechtsextremen Akteurinnen und auch Bewegung im Netz und von zahlreichen Personen der Akteuren genutzt wird. Facebook Community als Proflbild eingestellt. Die Collage zeigt das Gesicht einer Frau, deren obere Gesichtshälfte Facebook ist das mit Abstand grßte und diverseste soziale mit den Farben der palästinensischen Fahne bemalt und Netzwerk, das in Deutschland genutzt wird. Unterschied- das rechte Auge mit Gitterstäben versehen ist. Die untere liche Gruppen sind hier vertreten, variierend in Alter, Gesichtshälfte, insbesondere der Mund, wird von einer Bildungsgrad, Sprach- und kulturellem Hintergrund. männlichen Hand fest zugepresst, die mit den Farben der Rechtsextreme und rechtspopulistische Akteurinnen und israelischen Fahne und dem Davidstern koloriert ist. Hier Akteure organisieren sich ber Facebook sehr effektiv wird die klassische Schuldzuschreibung an »die Juden«, sie und nutzen die Gruppen- und Seitenfunktionen immer wrden Kritik an der israelischen Regierung unterbinden wieder fr Hetze. Dies gilt ebenso fr radikal islamistische und die Medien kontrollieren, bildlich dargestellt. Solche Angebote. Vorstellungen unterstellen, dass die palästinensische Stimme wegen einer vermeintlich einseitigen Medien- Ob rechtsextreme Gruppierungen Facebook als Haupt- berichterstattung in der Öffentlichkeit kein Gehr fände. kommunikationsmedium nutzen, ist umstritten und Dem msse in den sozialen Netzwerken entgegengewirkt spekulativ. Es lässt sich zumindest konstatieren, dass dem werden. Wie stark sich die Bildsprache dann auch in die grßten deutschsprachigen rechtsextremen Internet- reale Welt bertragen kann, zeigt folgendes Beispiel: Auf forum Thiazi.net – die Hauptverantwortlichen mussten einer Demonstration im Juli 2014 in Regensburg trugen sich im Frhjahr 2013 »wegen Bildung einer krimi- mehrere Frauen T-Shirts, die mit dem Konterfei bedruckt nellen Vereinigung und gemeinschaftlich begangener

411 taz, 22. 5. 2013, http://www.taz.de/!116663/ (eingesehen 21. 11. 2016). 412 vgl. simon hurtz, Facebook: nein zu Brsten, ja zu rassismus, in: sd- 409 claudia Bader u.a., Die wahl in 140 zeichen – twitter als Kommunikati- deutsche zeitung, 18.8.2015, http://www.sueddeutsche.de/digital/facebook- onsplattform fr Politik, Medien und Brger im Bundestagswahlkampf 2013, in: nein-zu-bruesten-ja-zu-rassismus-1.2610256 (eingesehen 22. 5. 2016). Politische Psychologie, (2015) 1, ohne seitenangabe. 413 Die zeit, 6.6.2016, http://www.zeit.de/digital/internet/2016-06/ 410 Blog Merle stver, 16.3.2016: schluss mit dem Kuschelfeminismus, http:// anonymous-kollektiv-rechte-hetze (eingesehen 15. 11. 2016). merlestoever.blogspot.de/2016/03/schluss-mit-dem-kuschelfeminismus.html (eingesehen 15. 11. 2016). 414 ebenda.

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waren.415 Der Blog Ruhrbarone verwies in einem Beitrag gerade jungen Menschen das Fernsehen abgelst.419 Es hat im Juli 2014 darauf, dass mit einfachen Mitteln auch sich eine multimediale Gegenffentlichkeit gebildet, die Gegenstrategien gegen den antiisraelischen Bilderkrieg YouTube effektiv bespielt und von Verschwrungstheo- entwickelt werden knnen: Aktivisten hatten die israeli- rien und anti-modernen Ressentiments dominiert wird, sche Fahne auf der den Mund zuhaltenden Hand durch die von antisemitischen Narrativen durchzogen sind. die Fahne der Hamas ersetzt.416 NuoViso.TV beispielsweise ist ein Netzwerk mit großer Reichweite, das ber YouTube regelmäßig Videos und Nicht selten vermischen sich inzwischen antisemitische Formate publiziert, die Verschwrungstheorien verbreiten Stereotype mit antimuslimischem Rassismus. Am 14. April und »Israelkritik« formulieren, die stets in antisemitische 2016 schrieb eine gewisse Anja S. auf Facebook: »Ja die Narrative abgleiten.420 Hinzu kommt eine Flle an offen Juden, die gibt es ja auch noch. Man sind die mir ein Dorn antisemitischen Videos, in denen Jdinnen und Juden mit im Auge. Gaskammern wieder auf und rein mit denen klassischen antisemitischen Stereotypen diffamiert wer- und das Moslempack direkt mit. Ich kann das nicht mehr den. Ein bekanntes Beispiel ist ein Video ber die »Jdin ertragen, bald wird ich selbst gegen alle in den Krieg zie- «, das kolportiert, Angela Merkel sei Jdin hen, das kotz mich voll an.«417 Verklausuliert zeigt dieser und arbeite im Sinne einer angeblichen zionistischen Ver- Hasseintrag auch einen Bezug zum Nahostkonfikt und schwrung. Das Video hatte laut Angabe des Vertreibers zum israelbezogenen Antisemitismus, mit dem Hinweis, bisher 136.128 Aufrufe sowie ber 632 likes, 229 Nutzer die Schreiberin wrde bald selbst in den Krieg ziehen. haben es negativ beurteilt.421 Die bekannte Dichotomie Deutsche und Juden wird in diesem Video reproduziert, Am 9. November 2016, zum Jahrestag der Novemberpo- das klassische rechtsextreme Narrativ der »Volksverrä- grome 1938, verffentlichten die »Freien Kräfte Ber- terin« bedient und der Verrat qua des (vermeintlichen) lin-Neuklln« auf Facebook eine grafsch dargestellte Jdischseins unterstellt. Karte von Berlin mit etwa 70 Namen tatsächlicher und angeblicher jdischer Organisationen und Einrichtungen, Auf Interesse bei Jugendlichen stoßen nicht selten versehen mit der in Frakturschrift gehaltenen Hetzparole Antiglobalisierungsthesen, deren politischen Hintergrund »Juden unter uns«. An Verunglimpfung nicht zu berbie- sie häufg nicht erfassen oder der fr sie keine wichtige ten ist die von den Machern der Grafk gewählte Über- Rolle spielt. Als Beispiel sei hier die vom Kopp-Verlag schrift »Heut ist so ein schner Tag«. Ermittlungen wegen untersttzte Videoproduktion »Gib mir die Welt plus Volksverhetzung wurden eingeleitet.418 5 Prozent. Die Geschichte vom Goldschmied Fabian« genannt. Der Verlag vertreibt esoterische, rechtspopu- Generell ist aber das Auslesen von Facebook grundsätzlich listische und rechtsextreme Bcher und ist mittlerweile komplizierter als beispielsweise bei Twitter, sodass ein auch online präsent. Nach der Vorlage eines Textes des effektives Monitoring auf die Zusammenarbeit mit dem Australiers Larry Hannigan aus dem Jahr 1971 transpor- Netzwerk angewiesen bzw. sehr teuer ist. tiert das Zeichentrick-Movie, das von Michael Kent (Hinz), der der Scientology-Sekte nahesteht, und seiner Firma Neue Impulse e.V. produziert wurde, auf subtile Weise 6.5.2.3 Youtube antisemitische Klischees ber »Machtjunkies der Finanz- dynastien«, die »Macht ber die Massen« erlangen und die Das zu Google gehrende Videoportal hat in den letzten Welt beherrschen. Offensichtlich fallen auch Lehrer auf Jahren stark an Bedeutung gewonnen und bei vielen, diesen Unsinn herein, wenn sie den Trickflm als sinn- volles Unterrichtsmaterial ansehen, das vermeintlich das Finanz-, Geld und Zinssystem erklärt. So jedenfalls kann man es Postings auf YouTube entnehmen: »also wir hams in der Schule bis Teil 2 angeschaut … Rest war Hausauf- gabe« oder »Kann man gut als Schulvideo benutzen […]

415 regensburg-digital, http://www.regensburg-digital.de/friedensdemo- der-israel-hasser/19072014/ (eingesehen 14. 11. 2016). 416 http://www.ruhrbarone.de/social-media-antwort-auf-antiisraelischen- bilderkrieg/83686 (eingesehen 14. 11. 2016). 419 wirtschaftswoche, 14.1.2016: social-Media-atlas: Youtube stßt Face- 417 sammlung von Briefen, Interneteinträgen und e-Mails, zentralrat der book vom thron, http://www.wiwo.de/technologie/digitalewelt/social-media- Juden in Deutschland, der hier zitierte text des Facebook-eintrages (Ortho- atlas-youtube-stoesst-facebook-vom-thron/12830346.html (eingesehen graphie im Original) befndet sich in Kopie im zentrum fr antisemitismusfor- 22. 5. 2016). schung, tU Berlin. 420 Youtube-Kanal »nuoviso.tv«, https://www.youtube.com/channel/ 418 http://buendnis-neukoelln.de/2016/09/15/neukoellner-nazis- UcPOmsF_xgQohcJhdj58zshg (eingesehen 22. 5. 2016). veroeffentlichen-feindliste/; Der tagesspiegel, 10.11.2016, http://www. tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/berliner-facebook-gruppe-neonazi- 421 IGBU – International Goyim Broadcasting Union, 17.6. 2015: angela mer- gruppe-listet-juedische-geschaefte-auf-staatsschutz-ermittelt/14819364. kel ist jdin, https://www.youtube.com/watch?v=5Qac_nhnhsg (eingesehen html (beide eingesehen 16.11.2016). 22. 5. 2016).

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Unser Lehrer hat dafr ne ganze Stunde gebraucht!!!«422 ber den Inhalt und wollten den Blogger anzeigen.429 Auch wenn im gesamten Film nicht ein einziges Mal Wenige Tage nach der Verffentlichung des Videos hat das Wort »Jude« oder ähnliche direkte Zuschreibungen der Urheber es gelscht. Julien Sewering wurde wegen auftauchen, ist dem Posting von »Commanderblutwurst« Volksverhetzung zu acht Monaten auf Bewährung und zu entnehmen, dass der Inhalt im Kreis der Rezipienten 15.000 Euro Geldstrafe verurteilt.430 durchaus richtig zugeordnet wird: »du hast wohl nicht verstanden, das [sic!] fabian mayer amschel bauer (roth- Kommentare, aber auch Videos auf der Plattform You- schild) symbolisiert.«423 Den fast 50-mintigen Film, fr Tube werden kaum reguliert, sie bedienen immer wieder den in der esoterischen Szene und auf rechtsextremen verschiedenste Formen gruppenbezogener Menschen- Netzwerken geworben wird,424 hat »lamargna« am feindlichkeit, darunter auch regelmäßig antisemitische 11. Dezember 2010 auf YouTube hochgeladen.425 Bis heute Stereotype. Auf der deutschen Version von YouTube haben ihn ca. 400.452 Nutzer gesehen und 3000 geliked.426 werden inzwischen Videos mit volksverhetzendem Inhalt Über die inzwischen abgeschaltete Webseite openbook.org gesperrt (»Dieses Video ist in deinem Land nicht verfg- und die Eingabe »Goldschmied Fabian« fanden sich zahl- bar«), die allerding ber Zugänge im Ausland nach wie vor reiche Facebook-Einträge, die den Film empfohlen haben, abrufar sind bzw. mit eigens dafr produzierter Software um Einsichten ber die Finanz- und Geldpolitik zu gewin- entsperrt werden knnen. Inzwischen zeigt sich auch nen. Occupy: Frankfurt verwies auf den Film als »auflä- eine gewisse Bereitschaft bei YouTube, Kooperationen mit renden Bericht« ber »Zinseszins und Geldsystem«.427 Nichtregierungsorganisationen einzugehen, die gegen Ein inzwischen gelschtes Posting auf der Webseite von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Occupy: Frankfurt macht deutlich, welche judenfeindli- Netz arbeiten. chen Stereotype im Dunstkreis der 99-Prozent-Bewegung kursieren: »Eine kleine mafaartig organisierte Gruppe, deren Mitglieder sich wohl schon ber Generationen hin- 6.5.2.4 Blogs aus gegenseitig die Posten zuschieben, missbrauchen die jdische Glaubensgemeinschaft fr ihre Ziele.«428 Blogs spielen grundsätzlich in der deutschen digitalen Öffentlichkeit keine große Rolle. Stattdessen wird mehr Wie schnell Parallelen zwischen der NS-Zeit und aktuel- ber soziale Netzwerke kommuniziert. Dennoch gibt es len Ereignissen gezogen werden, veranschaulicht einmal einen kleinen, aber sehr emsigen Kreis deutscher Blog- mehr die Aussage der Ikone der deutschen YouTube- gerinnen und Blogger, die sich intensiv damit befassen, Blogger Julien (Juliensblog) während des Streiks der die »Blogosphäre« mit antisemitischen Texten zu futen. Lok-Gewerkschaft GDL 2015: »Vergasen sollte man diese Thematisch liegt der Fokus meist auf Israel, jedoch wird Mistviecher. Wisst Ihr noch, wie die Juden mit Zgen nach die ganze Palette antisemitischer Narrative bedient. Ganz Auschwitz transportiert wurden? Man sollte die Zugfh- dezidiert wird sich auf diesen Blogs mit Aktivistinnen und rer alle dahinbringen. Ich fahre auch den Zug, und zwar Aktivisten und Projekten auseinandergesetzt, die anti-an- umsonst.« Es gab einige untersttzende Aussagen aus tisemitische Arbeit machen und solidarisch mit Israel der Community der ber eine Million Abonnenten und auftreten. Viele Bloggerinnen und Blogger bewegen sich 100 Millionen Aufrufe in Juliensblog in den Kommentie- auch im Umfeld der Boykott-Kampagnen (Boycott, Dives- rungen zum Video, viele allerdings äußerten sich bestrzt tment, Sanctions/BDS), die unter dem Vorwand, den Kauf israelischer Waren unterbinden zu wollen, als Plattform fr antisemitische Haltungen genutzt werden. Insge- 422 http://www.youtube.com/watch?v=xdlsQ02G25Y&feature=related (ein- samt gesehen spielen antisemitische Blogs im deutschen gesehen 21. 11. 2016). medialen Diskurs kaum eine Rolle, dennoch sind sie Teil 423 http://www.youtube.com/watch?v=69D1K7Q8Y9s&feature=related (eingesehen 21. 11. 2016). der digitalen Öffentlichkeit und erfllen auch eine Funk- tion: Antisemitische Erzählungen werden umfangreich 424 Gegenrede. Informationsportal gegen rechtsextremismus fr Demo- kratie, 13. 11. 2008, http://www.gegenrede.info/news/2008/lesen.php?datei= weitergetragen und erreichen in den sozialen Netzwerken 081113_01 (eingesehen 15. 11. 2016). immer wieder Einzelne, die sich dem Verbreiten von Anti- 425 am 27. 10.2011 wurde er von »simbel myne« ebenfalls auf Youtube hoch- semitismus willfährig anschließen. Außerdem fnden sich geladen und inzwischen von fast 22.000 Usern gesehen. ein Kommentar lautet: im linken und feministischen Spektrum Blogs, die trotz »Man sollte dieses video in jeder 4. Klasse zeigen.« https://www.youtube.com/ watch?v=QBa3psgqtKc (eingesehen 21. 11. 2016). 426 https://www.youtube.com/watch?v=_h0ozlvUtb0 (eingesehen 15.11. 2016). Die jngsten Kommentare sind drei Jahre alt. 427 http://www.occupyfrankfurt.de/doku.php?id=links&rev=1321615615 429 Der tagesspiegel, 20. 5. 2015, http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/ (eingesehen 3.1.2012, die Domain steht zum verkauf, der ursprngliche Inhalt anzeigen-gegen-juliensblog-youtuber-will-gdl-zugfuehrer-nach-auschwitz- ist nicht mehr abrufbar). fahren/11803244.html (eingesehen 16.11.2016). 428 Die welt, 16. 11. 2011, http://www.welt.de/debatte/kommentare/article 430 westfälische nachrichten, 11. 2. 2016, http://m.wn.de/Muensterland/ 13719989/neid-und-antisemitismus-in-der-Occupy-Bewegung.html (einge- Kreis-steinfurt/westerkappeln/2271016-youtube-star-Julien-verurteilt- sehen 15. 11. 2016). volksverhetzung-statt-videokunst (eingesehen 16.11.2016).

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ihres antirassistischen Ansatzes ber das Thema Israel in unzureichend und entfernt weder strafare Symbole noch antisemitische Vorurteile verfallen. volksverhetzende Beiträge.«432 In ihrem Bericht fr das Jahr 2015 wiederholte jugendschutz.net diesen Hinweis: »So reagiert die zu Yahoo gehrende Bloggingplattform 6.5.2.5 Instagram Tumblr auf Verstße noch immer unzureichend.«433

Instagram gehrt zu den wenigen Netzwerken, die mehr- heitlich von Frauen genutzt werden. Die Kommunikation 6.5.3 Themen434 fndet ber Bilder und Videos statt, die z.T. wie in einer Art Microblog mit Kommentaren versehen sind. Das In den Sozialen Medien werden Diskussionen und Debat- Facebook-zugehrige Netzwerk ist in erster Linie eine Art ten zu verschiedenen Themenbereichen genutzt, um anti- digitaler Katalog. Politische Inhalte sind seltener zu fnden semitisch zu argumentieren. Dies geschieht sowohl sehr als auf Twitter oder Facebook, jedoch werden auch auf offen, eindeutig und explizit, z.T. aber auch eher verhalten, Instagram immer wieder antisemitische Karikaturen und verdeckt und implizit. Bilder verbreitet ebenso wie Solidaritätsbekundungen mit Palästina, die oftmals Antisemitismus bedienen. Insbeson- Zentral sind die Themen Außenpolitik, Geo- bzw. Frie- dere im US-amerikanischen Raum zeigen sich antisemi- denspolitik und Fragen globaler Sicherheitspolitik sowie tische Narrative, die auf Instagram Verbreitung fnden, Menschenrechte. Hierbei gilt die Regel: Je komplexer das nicht als Teil eines rechten oder rechtsextremen Diskurses, Thema, desto schneller werden antisemitisch durchzo- sondern als Teil einer feministischen und antirassistischen gene Narrative bedient. So wird etwa Israel die Verant- Haltung, die sich v.a. in der Modeszene verankert hat und wortung aller derzeitigen Konfikte angelastet und die auch im deutschsprachigen Raum Anklang fndet. Da es Kontrolle ber alle wichtigen globalen Institutionen bei Instagram keine klassische Teilungsfunktion gibt, muss unterstellt. Gleichzeitig wird Israel selbst als »grßter nach antisemitischen Inhalten spezifsch gesucht werden. Feind der Menschenrechte« bezeichnet und der Konfikt Das Netzwerk lscht diese Inhalte nicht. zwischen den palästinensischen Autonomiebestrebungen und israelischer Sicherheit allein Israel angelastet. Hierbei werden jegliche Fakten ausgeblendet und andere Akteure 6.5.2.6 Google+ und andere netzwerke von Menschenrechtsverletzungen freigesprochen.

Fr den deutschsprachigen Raum sind weitere Netz- Auch eine verkrzte Kapitalismuskritik bedient immer werke wenig relevant. Google+ ist eine Bedingung fr die wieder antisemitische Stereotype. Das kapitalistische Nutzung von Googlemail. Zwar nutzen durchaus viele die System, Ängste vor Ausbeutung und globaler Ungerechtig- Plattform, Kommunikation und Reichweite sind aller- keit sowie seine mglichen Auswchse werden gebndelt dings nicht besonders ausgeprägt. Antisemitismus fndet »den Juden« zur Last gelegt. Ein bekanntes Beispiel aus sich auch dort, jedoch ist die Relevanz fr die ffentli- dem Jahr 2015 war der Fall des Facebook-Grnders Mark che Debatte nicht sehr hoch. Hinzu kommen zahlrei- Zuckerberg, der ankndigte, sein Vermgen zu großen che andere Netzwerke, die regionale Bedeutung haben Teilen zu spenden. Diese Nachricht diente in den Sozialen (beispielsweise Yappy), aber zunehmend von Facebook Medien als Anlass, »den Juden Zuckerberg« antisemitisch abgelst werden. Die Monopolisierung der Plattform Face- zu beleidigen. book und die dort vorhandene Wachsamkeit bezglich des Themas Antisemitismus fhrt dazu, dass sich viele rechts- Insbesondere in Verbindung mit vlkisch-nationalem extreme und antisemitische Agitationen in das russische Denken werden antisemitische Stereotype bedient. Aber Netzwerk VK verlagert haben, wo sich v.a. seit 2015 eine auch klassisch im linken politischen Spektrum debat- gesteigerte Aktivität beobachten lässt. Jugendschutz.net tierte Themen, wie Antirassismus oder postkoloniale weist im Bericht fr das Jahr 2015 ebenso wie bereits 2014 und poststrukturalistische Denkansätze, werden in den darauf hin, dass sich das russische Netzwerk VK beharrlich Sozialen Medien als Ausgangspunkt fr antisemitische weigere, »sämtliche Verstße zu lschen und Maßnahmen Diskurse genutzt. Juden bzw. Israelis werden hierbei als zum Schutz junger User zu ergreifen«.431 »weiß« positioniert und als Unterdrcker der »schwarz«

2013 konstatierte jugendschutz.net: »Auch die Blogging- plattform Tumblr, die bei hiesigen Usern zunehmend 432 rechtsextremismus online – beobachten und nachhaltig bekämpfen, Be- an Bedeutung gewinnt, reagiert bei rassistischer Hetze richt ber recherchen und Maßnahmen im Jahr 2013, Mainz 2014, s. 12, http:// www.hass-im-netz.info/fleadmin/dateien/pk2014/bericht2013.pdf (eingese- hen 10. 12. 2014). 433 Jugendschutz im Internet, Bericht 2015. 431 Jugendschutz im Internet. ergebnisse der recherchen und Kontrollen, Bericht 2015, s. 16, http://www.jugendschutz.net/fleadmin/download/pdf/ 434 Die folgenden Beispiele wurden in der expertise von Julia schramm the- bericht2015.pdf (eingesehen 16. 11. 2016). matisiert, werden hier allerdings anonymisiert vorgestellt.

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positionierten Palästinenser in Stellung gebracht. Anti- auf Facebook gibt es viele Aktivistinnen und Aktivisten aus semitismus als eigenständige Form der Diskriminierung dem vornehmlich linken politischen Spektrum, die dazu wird dabei ausgeblendet. In diesem Zusammenhang ist beitragen, Falschinformationen ber die Situation in Israel auch immer wieder von Israel als einem Apartheid-Re- zu verbreiten. Auch treten sie zunehmend aggressiver auf. gime die Rede. Verschwrungstheorien werden von rechtsextremen, aber Weitere Themen, wie das Schächten von Tieren, die auch von anarchistischen Gruppen im Netz aktiv vertre- Beschneidung (→ Beispiele: Beschneidung) sowie andere ten; sie sind die Basis der verschwrungstheoretischen Riten werden in den Sozialen Medien randständig Communities. Sie zeichnen sich v.a. durch ein starkes verhandelt. Diese Themen sind eher Teil der Debatten in Misstrauen gegen Institutionen und meist auch sehr gute klassischen Medien. Zwar lassen sich Beispiele antisemiti- technische Fähigkeiten aus. Charakteristisch ist das Label scher Kommentierungen im Netz fnden, jedoch sind diese »Anonymous«, das sich jeder geben kann, weil es frei ver- deutlich seltener. fgbar ist. Entsprechend heterogen sind die Gruppen, die den Namen nutzen. Mittlerweile zeigt sich eine Tendenz Seit Juni 2016 zeigt sich ein neuer Trend US-amerikani- dieser Gruppen zu reaktionären Einstellungen, die dazu scher Neonazis, Jdinnen und Juden in Sozialen Medien fhren, dass rechte Inhalte stärkere Verbreitung fnden. ber eine dreifach-Klammer (Echos) in ihren Beiträgen zu kennzeichnen. Ziel ist es, die so erwähnten Personen Nicht zu unterschätzen als Akteurinnen und Akteure, die gezielt zu belästigen und antisemitisch zu kennzeichnen. antisemitische Inhalte ber die Sozialen Medien verbrei- Die Markierung dient der digitalen Jagd auf Jdinnen und ten, sind prominente Personen aus Sport, Film, Musik, Juden und kennzeichnet damit eine neue Qualität des dem ffentlichen Leben etc. Sie haben oft mit ihren Antisemitismus in den digitalen Medien.435 Beiträgen eine hohe Reichweite und sind daher auch zu massiver Mobilisierung fähig. Beispiel hierfr ist etwa das 2013 verwendete Twitter-Proflbild des Rappers Bushido, 6.5.4 Akteurinnen und Akteure das eine Landkarte des Nahen Ostens zeigt, verbunden mit dem Aufruf »free palestine« und der palästinensischen Klassischerweise ist Antisemitismus ein konstitutives Fahne – Israel ist auf diesem Bild nicht vorhanden. Die Element rechtsextremer Ideologie (→ Politische Bewegun- Botschaft ist klar: Das Existenzrecht Israels wird negiert.437 gen). Rechtsextreme äußern sich in den Sozialen Medien entsprechend auch am eindeutigsten antisemitisch. Sie betrachten den Holocaust als Erfndung oder nennen die 6.5.5 Verbreitungsgrad in sozialen Netzwerken Zahlen bertrieben und verwenden offen antisemitische Stereotype, nutzen »Hate Speech«, bedienen sowohl Das australische Hate Prevention Institute stellte 2016 den klassischen rassistischen Antisemitismus als auch fest, dass gemeldete Holocaust leugnende Inhalte von den sekundären Antisemitismus (→ Defnition) in allen Facebook innerhalb von drei Monaten zu 46 Prozent Facetten. gelscht wurden. Über YouTube konnten hingegen auch nach zehn Monaten noch 96 Prozent der Inhalte, die Im Rechtspopulismus zeigt sich ein gespaltenes Bild: einen israelbezogenen Antisemitismus bedienen, 91 Pro- Auf der einen Seite stehen rassistische, islamfeindliche zent, die auf klassischen Antisemitismus zurckgreifen, Akteurinnen und Akteure, die Israel verteidigen und Anti- 90 Prozent der Holocaust leugnenden und 70 Prozent der semitismus klar benennen – exemplarisch dafr sei hier volksverhetzenden Inhalte noch abgerufen werden. Auf etwa die Internet-Seite »pi-news.net« genannt.436 Auf der Twitter, das an der Spitze der Sozialen Medien in Bezug anderen Seite fnden sich gerade in den Reihen der AfD auf die Verbreitung von Gewalt steht, wird klassischer (→ Parteien) regelmäßig antisemitische Aussagen, die in Antisemitismus noch am ehesten gelscht (25 Prozent), den Sozialen Medien geteilt und verbreitet werden. der Anteil der Lschzahlen bei Volksverhetzung hingegen liegt nur bei 14 Prozent. Insgesamt ist zu beobachten, dass Seit einer erneuten Radikalisierung des Nahostkonfikts sich Facebook hinsichtlich der Lschzahlen allmählich im Sommer 2014 zwischen dem israelischen Militär und zu verbessern scheint. YouTube erweist sich hingegen als der Hamas sind die Aktivitäten derer, die um die Autono- wohl problematischstes und unreguliertestes Forum zur mie Palästinas kämpfen, stark angestiegen. Insbesondere Verbreitung antisemitischer Inhalte. Zwar gab es hier eine

435 Die Kennzeichnung wurde in einer Gegenbewegung von twitter-Usern in 437 siehe z.B. das video »was sagt die straße?« als Gegenrede gegen ein Profl- ihren eigenen accounts genutzt, um sich solidarisch zu erklären und die gezielte bild auf Youtube, https://www.youtube.com/watch?v=rdK_Ghednuo (eingese- Jagd auf Jdinnen und Juden zu erschweren. hen 21.11.2016); sddeutsche zeitung, 11.1.2013, http://www.sueddeutsche. 436 »Pi« steht hier fr die islamophobe Internetplattform »Politically Incor- de/politik/twitter-profil-von-rap-musiker-bushido-praesentiert-nahost- rect«. karte-ohne-israel-1.1570823 (eingesehen 21. 11. 2016).

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Phase, in der mehr Sensibilität fr die Thematik gezeigt Untergang des Osmanischen Reiches, sprich des Kalifats, wurde, diese positive Entwicklung stagniert mittlerweile verantwortlich gemacht.« Es seien »v.a. Bilder toter und jedoch.438 verstmmelter Menschen, mehrheitlich Kinder«, die instrumentalisiert wrden, »um Juden zu dämonisieren. Im Rahmen einer vom israelischen Coordination Forum Nachweislich werden auch Bilder aus anderen Konfikten, for Countering Antisemitism beauftragten Studie, die von beispielsweise aus Syrien, dazu missbraucht. Abgebildete der Firma Buzzilla durchgefhrt wurde, die auf die Erfor- Personen werden stets zu palästinensischen Opfern der schung von Debatten in sozialen Netzwerken spezialisiert israelischen Angriffe erklärt und ihr Leiden in Großauf- ist, wurde festgestellt, dass sich antisemitische Inhalte nahme zur Schau gestellt. Die Abbildungen dienen dann 2015 verdoppelt haben. Untersucht wurden nur englisch- dazu, Juden als kindermordendes Volk und damit als sprachige Diskurse wie Kommentare auf Online-Zei- unmenschlich zu verunglimpfen«.440 tungsversionen, Texte zu YouTube-Videos, offene Facebook Postings und solche anderer Sozialer Medien. Darber hinaus konnte festgestellt werden, dass, im Gegensatz zu 6.5.6 Gegenstrategien den Jahren zuvor, 2015 weniger auf Artikel zu Israel oder Juden reagiert wurde, sondern vielmehr Postings proaktiv Gegenstrategien gegen solche Inhalte bietet u.a. die Ama- erfolgten und insbesondere seit Juli 2015 die Diskussio- deu Antonio Stiftung: In ihrem Web-Portal »Nichts gegen nen hasserfllter wurden bzw. antisemitische Vorurteile Juden« versucht sie, mit einfachen Mitteln Antworten auf anheizten und sich eine Atmosphäre bildete, in der es verschiedene Topoi zu geben, die immer wieder Verwen- legitim erschien, sich antisemitisch zu äußern. Dieses dung fnden, um Israel oder die jdische Gemeinschaft zu Ergebnis erstaunt insofern, als allgemein das Jahr 2014 als desavouieren.441 dasjenige gilt, das antisemitische Inhalte in den sozialen Netzwerken in die Hhe schnellen ließ; 2015 schien sich Eine andere Form der Gegenstrategie knnen Initiativen die Lage wieder ein wenig zu beruhigen. Tatsächlich lässt sein, wie die des britischen Komdianten David Schnei- sich fr 2014 eine Spitze in den Monaten Juli und August der, der unter dem Titel »Are you antisemitic?« einen ausmachen, als Buzzilla gegen Ende Juli 2014 1247 eng- Fragenkatalog tweetete, um den Rezipienten vor Augen lischsprachige antisemitische Kommunikationen im Netz zu fhren, wie schnell sie mit ihren Kommentaren in den während des Hhepunkts der israelischen Militäropera- Bereich antisemitischer Ressentiments, Vorurteile und tion »Protecting Edge« zählte. In den Monaten Oktober Stereotypen geraten knnen. Der Tweet enthält sechs Aus- bis Dezember 2015 allerdings berstiegen die Werte dieses sagen, die – mit »ja« beantwortet – auf eine antisemitische Maximum noch einmal deutlich. Erst im Januar 2016 lässt Haltung hindeuten knnen. sich wieder ein Abwärtstrend beobachten, der allerdings noch immer hhere Werte als im Sommer 2014 aufweist. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren versucht, Offensichtlich hat sich der Diskurs von Einfssen durch auf große Anbieter im Bereich der Sozialen Medien wie äußere Ereignisse – wie Radikalisierungsphasen im Nah- Facebook, Twitter und YouTube einzuwirken, um Regulie- ostkonfikt – verselbstständigt. rungen gegen »Hate Speech« im Netz zu erreichen. Eine Task Force unter der Leitung von Bundesjustizminister Das bundesdeutsche Kompetenzzentrum fr Jugendschutz Heiko Maas, der zivilgesellschaftliche Organisationen wie im Internet (Jugendschutz.net), das in staatlichem Auftrag auch die Internetanbieter Facebook, Google (fr YouTube) handelt, verffentlichte im August 2014, als antisemitische und Twitter angehren, konnte hier erste Erfolge erzielen, Inhalte im Netz deutlich anstiegen, ein Informationsblatt deren Umsetzbarkeit sich jedoch zunächst noch zeigen unter dem Titel »Islamisten stacheln online zu Juden- muss (→ Straftaten). Am 15. Dezember 2015 hat die Task hass an. Antisemitische Hetze im Social Web, Jugendliche Force ein gemeinsames Papier verabschiedet, das unter bernehmen Parolen«.439 Besonders bedenklich sei: »Viele dem Titel »Gemeinsam gegen Hassbotschaften« Wege Jugendliche bernehmen die Hassparolen unkritisch und vorschlägt, wie mit »rechtswidrigen Hassbotschaften im lassen sich zu volksverhetzenden Äußerungen hinrei- Internet« umzugehen ist und wie sie bekämpft werden ßen.« »Antisemitismus wird häufg als Antizionismus knnen. Unter Wahrung der Grundrechte, insbesondere getarnt. Die politische Gegnerschaft wird dabei historisch der Meinungsfreiheit, werden Empfehlungen gegeben, gerechtfertigt: Die Grndung des Staates Israel spielt die wie Hassbotschaften im Internet entgegnet werden kann. wichtigste Rolle. Der Zionismus wird aber auch fr den Danach sollen »anwenderfreundliche Mechanismen zur Übermittlung von Beschwerden zur Verfgung« gestellt

438 the Online hate Prevention Institute, Measuring the hate: the state of antisemitism in social Media, http://ohpi.org.au/measuring-antisemitism/ (eingesehen 23. 11. 2016). 440 ebenda, s. 2. 439 http://www.hass-im-netz.info/fleadmin/hass_im_netz/documents/Is_ 441 https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/nichtsgegenjuden (eingesehen antisemitismus_2014.pdf (eingesehen 16. 1. 2017). 21. 11. 2016).

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werden, die dann »zgig« zu prfen seien. Rechtswidrige Force on Hate Speech and Journalism.444 Eine von der ADL Inhalte sollen unverzglich entfernt und die Konten der in Auftrag gegebene Studie zu antisemitischen Haltungen Nutzer gegebenenfalls gesperrt werden. Explizit genannt gegenber jdischen Journalisten während des Präsident- ist auch eine Partnerschaft mit NGOs, die etwa die Rolle schaftswahlkampfs, hat gezeigt, wie verbreitet antisemiti- von »Trusted Reporters« bernehmen knnten. Insgesamt sche Hass-Tweets gegen die Gruppe sind.445 Bereits im Jahr hebt das Positionspapier v.a. auch darauf ab, die Gegen- 2014 verffentlichte die ADL unter dem Titel »Cyberhate. rede (»Counter Speech«) zu stärken. Response. Best Practices for Responding to Cyberhate« eine Handreichung, die sich sowohl an Provider als auch Eine Sensibilisierung der Politik und gesellschaftlicher die Internet-Gemeinschaft wendet.446 Gruppen fr Antisemitismus in Form von »Hate Speech« im Internet und entsprechende Gegenstrategien erfolgt auch durch politisches Engagement im internationalen Rahmen. Am 19. April 2016 fand in Jerusalem eine interna- 6.6 Fazit tionale Konferenz zum Thema Antisemitismus im Inter- net statt. Organisiert wurde sie von der Initiative Israeli Die im Internet verbreiteten antisemitischen Inhalte spie- Students Combating Antisemitism und dem International geln die in der Gesellschaft vorhandenen Einstellungen Network Against Cyber Hate, dem auch das von der Kom- wider. Das Netz ist nur ein Medium. Wohl aber poten- mission fr Jugendmedienschutz der Landesmedienan- zieren sich antisemitische Meinungen im Netz durch die stalten gefrderte jugendschutz.net angehrt. Das Internet Mglichkeit der schnellen Verbreitung und der großen als Plattform fr »Hate Speech« war auch Thema bei der Reichweite. Wer sich ber die Sozialen Medien zum internationalen Parlamentarierkonferenz der Inter-parla- Nahostkonfikt beispielsweise informieren mchte, gerät mentary Coalition for Combating Antisemitism (ICCA) im schnell in die Propagandamhlen, die von Israel als einem Deutschen Bundestag und im Auswärtigen Amt in Berlin »Terrorstaat«, einem »Apartheid-Regime« oder einem vom 13. bis 15. März 2016, die hochrangig besetzt war.442 Staat sprechen, dessen Einwohner »Kindermrder« seien. Einen Fokus auf die Problematik im Internet legte ebenso Dies vermischt sich nicht selten mit Holocaust bezogenem die Konferenz der Organisation fr Sicherheit und Zusam- Antisemitismus und einer Täter-Opfer-Umkehr. Gleiches menarbeit in Europa (OSZE) vom 12. bis 13. November gilt fr Verschwrungstheorien, deren antisemitischer 2016 in Berlin, die zehn Jahre nach der OSZE-Konferenz Gehalt, wenn auch manchmal nur auf den zweiten Blick, zum Antisemitismus am selben Ort das Thema und die erkennbar ist. So wie der Antisemitismus noch immer Implementierung von Gegenstrategien erneut auf hchs- weltweit verbreitet ist, fndet er sich auch in den Sozia- ter politischer Ebene, aber auch in einem vorgeschalteten len Medien. Wer Antisemitismus ausleben mchte, kann Forum der Nichtregierungsorganisationen debattierte. Ein dies in sozialen Netzwerken hemmungslos und berdies Workshop war der Bekämpfung des Antisemitismus im weitgehend unreguliert tun. Das Netz kennt keine Staats- Internet gewidmet. grenzen, und die Mglichkeiten gesellschaftlicher Sanktio- nierung sind beschränkt. In den letzten zwei Jahren hat Eine Plattform, die sich explizit antisemitischen Inhalten sich die Debatte verschärft. Die Verbreitung antisemiti- online auf internationaler Ebene widmet, ist die eng- scher Stereotype und Vorurteile scheint – zumindest in lischsprachige Webseite »Get the Trolls Out!«443 Mit dem den sozialen Netzwerken – kein Tabubruch mehr zu sein. Slogan »Junge Europäer stehen auf gegen Antisemitismus in den Medien« bietet die Webseite Gegenpositionen, beobachtet die Vorgänge im Netz, und es besteht v.a. auch 444 http://www.adl.org/press-center/press-releases/discrimination-racism- bigotry/adl-forms-task-force-to-address-anti-semitic-racist-harassment- die Mglichkeit, problematische Inhalte zu melden. journalists-social-media-1.html#.wBnwry0rJpg (eingesehen 23. 11. 2016). 445 anti-semitic targeting of Journalists During the 2016 Presidential cam- Die Verrohung der Sitten in den Sozialen Medien wäh- paign. a report from aDl’s task Force on harassment and Journalism, October rend des US-Wahlkampfs nahm die US-amerikanische 19, 2016, http://www.adl.org/assets/pdf/press-center/cr_4862_Journalism- task-Force_v2.pdf (eingesehen 23.11.2016): »2.6 million tweets containing Organisation Anti-Defamation League (ADL) zum Anlass, language frequently found in anti-semitic speech between august 2015-July unter dem Titel »Waging War on Cyberhate« gegen Hass 2016. these tweets had an estimated 10 billion impressions (reach), which may im Netz zu kämpfen; im Juni 2016 grndete sie eine Task contribute to reinforcing and normalizing anti-semitic language on a massive scale. at least 800 journalists received anti-semitic tweets with an estimated reach of 45 million impressions.«; twitter’s ›Juggernaut of Bigotry‹. Five ta- keaways from the aDl’s report on anti-semitic targeting of journalists during the 2016 presidential campaign, http://www.tabletmag.com/scroll/215973/ 442 vgl. z. B. http://www.deutschlandfunk.de/konferenz-in-berlin- twitters-juggernaut-of-bigotry-five-takeaways-from-the-adls-report-on- antisemitismus-hat-bei-uns-keinen-platz.1783.de.html?dram:article_id= anti-semitic-targeting-of-journalists-during-the-2016-presidential-campaign 348373 (eingesehen 14. 11. 2016). (eingesehen 23.11.2016); siehe auch http://blog.adl.org/anti-semitism/anti- semites-spearhead-attack-campaign-against-jewish-journalists?_ga=1.226451 443 Insights and trends in antisemitic Online hate speech, http://www. 036.71986902.1400247738l (eingesehen 23. 11. 2016). getthetrollsout.org/what-we-do/media-monitoring/item/142-sep-2015-jul- 2016-insights-trends-in-antisemitic-online-hate-speech.html (eingesehen 446 http://www.adl.org/combating-hate/cyber-safety/best-practices/#. 2. 12. 2016). wDv_ak3ruUn (eingesehen 23. 11. 2016).

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Inhalte, die noch vor ein paar Jahren in Briefen an den Umgang mit NGOs.448 Schwieriger wird es im Bereich Zentralrat der Juden in Deutschland oder an die Israelische populärer Verschwrungstheorien, die nur chiffriert Botschaft in Berlin formuliert wurden, und damit nur antisemitische Stereotype bedienen. Es ist daher ratsam, einem kleinen Leserkreis zugänglich waren, werden heute auch fr diese Variante des Antisemitismus ein Problem- im Internet unverblmt gepostet und verbreitet. bewusstsein bei den Netzwerkbetreibern zu schaffen.

Als eines der digitalen Themen sozialer Interaktion stehen Den Nutzerinnen und Nutzern fehlt selbst oft das entspre- antisemitische Inhalte in sozialen Netzwerken stärker im chende Hintergrundwissen, um z.B. israelbezogenen Anti- Fokus der Aufmerksamkeit. Doch jedes Netzwerk geht semitismus erkennen und ihm entgegentreten zu knnen. mit antisemitischen Inhalten auf der eigenen Plattform Gleiches gilt fr Verschwrungstheorien. Soziale Medien anders um. Dies liegt zum einen am herkunftsbedingten begnstigen emotionale Kommunikation, beschleunigen Verständnis von Meinungsfreiheit, zum anderen obliegt sie geradezu, sodass viele Debatten gerade bei einem so die Beurteilung von kritischen Inhalten immer speziel- sensiblen Thema wie dem Antisemitismus nur emotional len Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der jeweiligen ausgetragen werden. Dies stellt jene, die sich gegen Anti- Plattform. Diese entscheiden darber, ob Inhalte entfernt semitismus engagieren, vor große Probleme, da kritische werden mssen oder nicht. Die Betreiber der sozialen Debatten vor diesem Hintergrund nahezu unmglich Netzwerke tun sich zum Beispiel bei der Lschung von werden. Inhalten schwer, die das Existenzrecht Israels bestreiten. Tatsächlich ist die Ablehnung des Existenzrechts des Staa- »Der Einsatz von Social Bots (selbstständig arbeitende tes nicht strafar. Computerprogramme, die sich als reale Akteure ausge- ben, Anm. d. Verf.) muss verboten werden, v.a. in Wahl- Auch Holocaust leugnende Inhalte wurden und werden kämpfen«, schreibt Evelyn Roll in ihrem Kommentar in unterschiedlich behandelt. Auf Plattformen aus Deutsch- der Wochenendausgabe der Sddeutschen Zeitung vom land mussten entsprechende Inhalte aus rechtlichen 19./20. November 2016. Sie fährt fort: »Hetze im Netz Grnden gelscht werden. Insgesamt hält sich die Zahl muss konsequent strafrechtlich verfolgt werden. Und v.a. der tatsächlich nicht mehr zugänglichen Mitteilungen muss das Presserecht angewandt werden; Facebook ist aber in Grenzen. Auf Facebook werden diese Inhalte kein Technologiekonzern, sondern das grßte Nachrich- meist nur fr Deutschland geblockt und nicht gelscht. tenmedium der Welt. Sie verfgen dort offenbar auch Die Kontroverse um die Lschung Holocaust leugnen- längst ber die Instrumente, mit denen Bots und Fake- der Inhalte veranlasste Facebook schon vor längerer Zeit accounts aussortiert, die grbsten Lgen aufgesprt und in (2011) zu einer Stellungnahme: »Wir haben das Thema der den Algorithmen nach unten gestuft werden knnten. Das Holocaustleugnung ber eine beträchtliche Zeit intern muss jetzt schnell umgesetzt werden.« Die Autorin denkt diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass die darber nach, ob nicht mehr Journalisten als »Faktenche- bloße Aussage der Leugnung des Holocaust keine Verlet- cker« arbeiten mssten, um Lgen als Lgen zu entlarven zung unserer Richtlinien ist. […] Wir denken, dass es einen und zwar dort, wo die Tweets und Posts erscheinen.449 sinnvollen Unterschied gibt zwischen der Befrwortung von Gewalt gegen Menschen und dem Ausdruck einer Bei den Betreibern von Facebook oder YouTube, aber Meinung ber eine Politik, ein Glaubenssystem oder ein auch in den Online-Redaktionen von Zeitungen, ist historisches Ereignis – selbst wenn die Meinung fak- eine gewisse Sensibilisierung zu erkennen. Inzwischen tisch falsch, emprend oder beleidigend fr die meisten beginnen sie, verantwortlicher zu handeln. Dies wird nicht Menschen ist. Sollten gleichwohl die Mitglieder der den zuletzt daran deutlich, dass sie immer wieder die Mglich- Holocaust leugnenden Gruppen dauerhaft hasserfllte keit verwehren, Kommentare zu eingestellten Filmen oder oder drohende Kommentare einstellen, werden wir die Beiträgen abzugeben. Entweder standen bereits volksver- Gruppen schließen, und haben dies bei vielen Gelegen- hetzende Inhalte kurzfristig im Netz, bis die Kommentar- heiten getan.«447 Seitdem bemht sich das Unternehmen, leiste deaktiviert wurde, oder kommentierende Einträge antisemitische Aussagen zu regulieren. Jedoch ist es im werden von vorneherein unterbunden, weil die Betreiber Sinne des Unternehmens, dass viel Kommunikation der Seiten strafare Inhalte befrchten. stattfndet – eine Regulierung wrde dem entgegenstehen. Dennoch geht das Unternehmen strafrechtlich relevanten Aussagen nach und bemht sich um einen konstruktiven

447 vgl. Facebook-sprecher andrew noyes, zitiert nach suzanne choney, 448 OccI – zivilcourage Online: https://www.facebook.com/onlinecivilcourage/ holocaust survivors ask Facebook to ban denial pages, nBc news, 27.7.2011, (eingesehen 16. 11. 2016). http://www.nbcnews.com/technology/digitallife/holocaust-survivors-ask- facebook-ban-denial-pages-121773 (eingesehen 16. 11. 2016). 449 sz, 19./20. 11. 2016.

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Exkurs: »Mastermind« – Üstakil zumal trkisches Fernsehen in der Community stark rezipiert wird. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begann insbesondere im Nahen Osten und in der Trkei fr Die Dokumentation beginnt mit dem Videoausschnitt antisemitische Verschwrungstheorien eine Phase der einer Rede des Präsidenten Erdoğan: »Ich will es unter- Hochkonjunktur.450 Zugleich verschlechterte sich das streichen: Glaubt nicht, dass diese Operationen gegen Verhältnis der westlichen Welt zu den muslimischen meine Person gerichtet sind. Glaubt nicht, dass diese Ländern. In diesem Kontext ist das von dschihadistischen Unternehmungen gegen die Regierung oder eine Gruppen propagierte Deutungsmuster »Westen und Juden bestimmte Partei gerichtet sind. Freunde! All diese fhren Krieg gegen Muslime« beraus fruchtbar. Nach Operationen zielen auf die Trkei, auf ihre Existenz, ihre diesem Deutungsmuster befndet sich die islamische Welt Einheit, ihren Frieden und ihre Stabilität, aber v.a. auf ihre im Aufruch und wieder – nach dem Zerfall des Osma- Wirtschaft und Unabhängigkeit ab. Ich sagte es bereits: nischen Reiches – in der Lage, das oktroyierte System der Hinter all diesen Schritten steckt ein Mastermind. Dann Unterdrckung zu hinterfragen und ihren eigenen »ein- kam es auch auf die Tagesordnung, und man fragte mich heimischen« Weg zu gehen. Dies erfolge schließlich unter natrlich, wer dieser ›Mastermind‹ ist. Das solltet Ihr der Fhrung des mutigen, religis-muslimischen, ber die selbst herausfnden. Und Ihr wisst bereits, was er ist; ihr eigenen Landesgrenzen hinweg beraus beliebten trki- kennt bereits, wer er ist. All dies solltet Ihr selbst erfor- schen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Als Anwalt der schen, selbst recherchieren.« Palästinenser und aller anderen unterdrckten Muslime der Welt treibe er das islamische Erwachen voran, indem Erdoğan hatte die Rede vor Journalisten gehalten, die er die politischen, sozialen und konomischen Einfsse seiner Meinung nach wissen, wen er mit »Mastermind« des Westens sowie die damit identifzierten Werte ent- meint. Der Propagandaflm gibt fr alle, die nicht wissen, schieden zurckdränge. wer oder was mit »Mastermind« gemeint ist, bereits in der Anmoderation die Antwort darauf: Es ist die Suche Exemplarisch fr diese neue Symbolik soll hier der trki- nach dem ber allem Stehenden, der verbrennt und sche Dokumentarflm »Mastermind« genauer betrachtet zerstrt, verhungern und bekriegen lässt, Revolutionen werden. In der Ankndigung zum Film, der einen weit- und Umstrze durchfhrt und einen Staat im Staate verbreiteten antisemitischen Diskurs aufgreift und diesen errichtet. Entsprechend ertnt aus dem Off die historische in ein antisemitisches Welterklärungsmuster einordnet, Einfhrung: »Die Geschichte beginnt in Jerusalem, bei den heißt es: »Wer ist das Mastermind, das die Welt regiert? Israeliten vor 3500 Jahren.« Alle Geheimnisse werden aufgelst.«451 Das Judentum ist fr den Politikwissenschaftler und In dem Dokumentarflm sind redaktionelle Beiträge Wirtschaftsexperten Prof. Ramazan Kurtoğlu nicht nur und zusammengeschnittene Interviews mit zahlreichen ein Glaube, sondern eine die rassistische Weltmacht bekannten Akademikern, Journalisten, Autoren sowie anstrebende politische Philosophie, die von dem jdi- prominenten Persnlichkeiten aus der Politik verarbeitet, schen Philosophen Maimonides, dem Evolutionsforscher darunter Etyen Mahçupyan, Cheferater des ehemaligen Charles Darwin, der ebenfalls Jude gewesen sei, und dem Regierungschefs Davudoğlu, Yiğit Bulut, Cheferater des neokonservativen jdischen Philosophen Leo Strauss trkischen Ministerpräsidenten, der ehemalige Bildungs- gegrndet worden sei. Nach Maimonides sollte eine neue minister Nabi Yağci, Justizminister Bekir Bozdağ, der Weltordnung geschaffen werden, und diese Ordnung von AKP-Abgeordnete Mehmet Metiner sowie der einfussrei- dem von Gott auserwählten Volk der Israeliten regiert che islamische Theologe Hayrettin Karaman. Insgesamt werden. Die Israeliten seien ein Herrenvolk, während der wurden 33 Personen als Interviewpartner gewonnen, um Rest der Menschheit ihre Sklaven seien. Leo Strauss habe die verschwrungstheoretische These des »Mastermind« die Thora-Auslegung von Maimonides weiterentwickelt im Detail zu errtern. Auch wenn es sich hier um trki- und daraus die Theorie des Neokonservatismus geformt. sche Gesprächspartner handelte, sind deren Namen in der Kurtoğlu analysiert die Ideen von Leo Strauss wie folgt: trkischstämmigen Bevlkerung in Deutschland bekannt, Das Wohl und die Sicherheit der Juden sei das hchste Ziel. Dieses Ziel knne bisher weder mit dem Sozialis- mus oder dem Kapitalismus noch mit einer Demokratie 450 vgl. rifat n. Bali, Komplo teorileri ve teorisyenleri, in: toplu Makaleler-II. erreicht werden. Nur mit der Herrschaft der Eliten knne trkiye`de antisemitizm ve Komplo Kltr, in: sayı 177 (2004), s. 437 ff. (siehe auch: http://www.rifatbali.com/images/stories/dokumanlar/komplo_teorileri_ dies gelingen. Die Juden sollen angeblich als Weltelite die ve_teorisyenleri.pdf (eingesehen 16. 1. 2017). Welt regieren. Bis dieses Ziel erreicht werde, sollten in den 451 Der trkische nachrichtensender a-haber hat am 15. März 2015 die einzelnen Ländern die eigenen Eliten die Macht berneh- mehrteilige und insgesamt zweistndige Fernsehdokumentation »Üstakil – men und auf diesen Zweck hinarbeiten. Demzufolge sei Mastermind« ausgestrahlt. Der sender gehrt zu »turkuaz Medya« und gilt mit atv und sabah als sprachrohr der aKP. Downloadbar unter: https://www. eine neue Weltordnung notwendig, in der die Juden die youtube.com/watch?v=GoeIzsxhofQ (eingesehen 10. 8. 2016). Welt beherrschten.

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Der Historiker und Publizist Prof. Ebubekir Sofuoğlu thematisiert.452 In der islamistischen Geschichtsauffassung erzählt im Film zunächst die biblische Geschichte, und nimmt die Entmachtung des Sultans Abdulhamit II. und begrndet damit die vermeintliche Feindschaft der Juden die damit einhergehende Einfhrung der konstitutio- gegen Nichtjuden. Hier wird nach dem altbekannten nellen Monarchie, die gleichzeitig die endgltige Durch- Muster die Bsartigkeit der Juden mit Verweis auf die setzung des Säkularisierungsprozesses in dem letzten jdische Bibel erklärt: Der Prophet Abraham hatte zwei muslimischen Großreich markiert, eine zentrale Stellung Frauen. Von den Nachfahren seiner eigentlichen Ehefrau ein. Islamisten aller Couleur betrachten dies als einen Sara seien die Juden hervorgegangen, während von seiner historischen Schnitt. Damit sei der natrliche Verlauf der zweiten Frau Hagar, die seine Sklavin war, der Rest der islamischen Geschichte unterbrochen und ein von außen Menschheit stammen wrde. Dies sei auch die Grundlage aufgezwungener knstlicher Weg eingeschlagen worden. des jdischen Weltherrschaftsgedankens, demzufolge Daher lässt sich das Geschichtsverständnis islamistischer die Juden herrschen und die anderen Menschen ihnen Bewegungen als revisionistisch einordnen. Das politi- dienen mssten. Die Juden wrden sich als Übermen- sche Ziel solcher Bewegungen sei es, diesem knstlichen, schen betrachten und die Weltherrschaft anstreben. Das unislamischen Weg ein Ende zu setzen und wieder auf »Mastermind« sei nichts anderes als dieses zionistische den »richtigen« islamischen Weg zu kommen. Der Sultan Streben nach Weltmacht. Den Ausfhrungen von Ebube- der Osmanen, der Khalif des Islam (Abdulhamit II.), lehnte kir Sofuoğlu im Film zufolge ist die Wissenschaft im den Wunsch der Zionisten ab, jdische Einwanderung im Allgemeinen und die Evolutionstheorie im Besonderen großen Umfang nach Palästina zuzulassen. Der Fhrer der ein Instrument zur Beherrschung der Welt. Die Wissen- zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, hätte dem Sultan schaft habe seit der Franzsischen Revolution die Aufgabe im Gegenzug die Streichung aller Staatsschulden angebo- bernommen, den menschlichen Geist zu betäuben. So ten. Der als aufrichtig beschriebene muslimische Khalif habe auch Charles Darwin, der in Wirklichkeit kein Wis- habe Herzl die Stirn geboten und soll gesagt haben: »Ich senschaftler gewesen sei, sondern ein jdischer Theologe, wrde nicht das geringste Stck des Vaterlandes verkau- die Theorie entwickelt, der Mensch stamme vom Affen fen. Denn dieses Land ist durch Blutvergießen eingenom- ab. Damit seien eigentlich die nichtjdischen Menschen men worden und kann nur durch Blutvergießen hergege- gemeint. Darwins Ziel sei es gewesen, den Gedanken, die ben werden.« Der Sultan habe das Spiel des »Mastermind« Juden seien Übermenschen und die Nichtjuden Unter- durchschaut und sei aus diesem Grund abgesetzt worden: menschen, wissenschaftlich zu belegen. »Weil er Palästina ihnen nicht gegeben hat und keinen jdischen Staat auf palästinensischem Boden erlaubt Der Islam, so die Stimme aus dem Off, sei die letzte hat, wurde er von jdischen Medien und den damaligen Bastion der Menschheit gegen das »Mastermind« und jdischen Lobbyisten Roter Sultan genannt.«453 Auch der Mohammed stnde in der Tradition der Propheten Abra- Zweite Weltkrieg sei vom »Mastermind« initiiert worden, ham, Noah oder gar Moses, die in ihrem Zeitalter gegen um eine neue Weltordnung zu schaffen: »Das jdische das »Mastermind« bzw. gegen den Rassismus, die Ungläu- Volk, dessen Angehrige zu Millionen massakriert wurden, bigkeit, die Überheblichkeit und die Unterdrckung wurde mit einem Staat belohnt.« gekämpft hätten. Nur der Prophet Mohammed habe schließlich den Kampf gegen die jdische Überheblichkeit Ganz den klassischen Formen des Antisemitismus konsequent gefhrt. (→ Defnition) entsprechend, wird das »Mastermind« fr alles Übel in der Welt verantwortlich gemacht. Die Im Weiteren werden nahezu alle historischen Ereignisse angeblichen Machenschaften und Welteroberungspläne der Weltgeschichte mit den Machenschaften des »Mas- des »Mastermind«, also die Versuche zur Herstellung einer termind«, das nun zweifelsfrei mit dem Judentum und zionistischen Globalmacht, werden endlos aufgezählt: dem Zionismus gleichgesetzt wird, in Zusammenhang Seuchen, Hungerkatastrophen, Kriege, Kolonialismus, gebracht. So sei zum Beispiel der Erste Weltkrieg gefhrt Sklaverei, Zinswirtschaft, Plnderung und Ausbeutung, worden, um die Erdlquellen, die sich auf dem Territo- die Vernichtung indigener Vlker sowie der politische rium des Osmanischen Reiches befanden, zu erobern. Das Islam usw. Die Militär-Juntas der jngsten Vergangenheit »Mastermind« sei damals in Gestalt der imperialistischen seien ebenfalls vom »Mastermind« gesteuert worden. Großmächte in Erscheinung getreten, die das Osmani- Ob bewusst oder unbewusst arbeiteten auch CIA und sche Reich teilen und erobern wollten und es letztlich Mossad fr das »Mastermind« – und damit letztlich fr zerstrten. Ziel sei es gewesen, das Osmanische Reich, den Zionismus. Sie wrden Intrigen und Verschwrungen das panislamische Ziele verfolgte, anderen islamischen schmieden, sie seien die wichtigsten ausfhrenden Kräfte Ländern Hilfe leistete und unabhängig handelte, zu beseitigen. Auf diese Weise sei die Trkei nach dem Ersten 452 Bali, Komplo, s. 229 ff. Weltkrieg wirtschaftlich und politisch eine Marionette des 453 hasan Karakaya, chefredakteur der islamistischen zeitung vakit, die Westens geworden. In diesem Kontext wird die vermeint- 2005 vom damaligen Innenminister wegen antisemitischer hetze in liche Verschwrung der Juden gegen Sultan Abdulhamit II Deutschland verboten wurde.

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des »Mastermind« in der Welt. Personen wie Richard befrdert.457 Nur eine Person habe dieses Szenario durch- Nixon, Francis Fukuyama, Graham Fuller, Henry Kissin- schaut und zwar Erdoğan, der sich absolut sicher gewesen ger, Bernard Lewis und Samuel Huntington werden als sei, dass es bei den Protesten darum ging, die Unabhängig- die Elite des »Mastermind« eingefhrt. Den meisten wird keit und das Wachsen der Trkei zu begrenzen. So gipfelt unterstellt, sie seien Juden und bekämpften die muslimi- der letzte Teil der Dokumentation in einer propagandis- schen Bewegungen wie etwa die Muslimbrder und Millî tischen Glorifzierung Erdoğans als politischem Anfhrer Grş. Im Bereich der Innenpolitik wird zudem davon eines Volkes: Das »Mastermind« sei sich dessen bewusst, ausgegangen, die trkische Zentralbank sei vom »Master- dass die heutige Trkei nicht mehr die alte ist. »Das Gip- mind« gesteuert und erhhe knstlich die Zinsen mit dem feltreffen in Davos 2009 war das erste Zeichen dafr. Da Ziel die Regierung Erdoğans zu bekämpfen, die versuche, erhob Recep Tayyip Erdoğan seine Stimme gegen Israel, die Trkei vom Joch des »Mastermind« zu befreien. gegen das nicht einmal Privatpersonen, geschweige denn politische Fhrer ihre Stimme erheben konnten. An dem Im Film werden dem »Mastermind« vielfältige Einfuss- Tag veränderte sich die Welt«, so die Stimme aus dem Off. nahmen unterstellt, etwa in Form eines Putsches, einer politischen Partei, einer Lobbygruppe, eines Landes Nach dem Gezi-Aufstand, der wegen Erdoğan und weiter oder auch in Gestalt eines Wissenschaftlers. Alle wrden Teile der trkischen Bevlkerung erfolglos geblieben sei, bewusst oder unbewusst fr das »Mastermind« arbeite- habe das »Mastermind« ein altbekanntes Mittel ergriffen, ten.454 Gemäß der klassischen antisemitischen Topoi wird das bereits gegen Abdulhamit II. eingesetzt worden sei: dem »Mastermind« wie selbstverständlich auch unter- Der vom »Mastermind« herangezchtete Feind sei inst- stellt, die Medien zu kontrollieren. Zudem sei der »Jude rumentalisiert worden. Gemeint ist hier die Glen-Bewe- als Islamfeind« am Werke und manipuliere die Wahrneh- gung, aber auch die angeblich inszenierten Korruptionss- mung des Islams in der Welt. So seien durch gezielte Mani- kandale um Erdoğans Familie und andere AKP-Minister. pulation der Nachrichten nach den Anschlägen des 11. Glen sei vom »Mastermind« rekrutiert und ausgebildet September 2001, deren Drahtzieher – so wird es zumindest worden, um nicht nur in der Trkei, sondern auch im angedeutet – ebenfalls das »Mastermind« war (→ Ver- Nahen Osten und in Nordafrika zu agieren.458 schwrungstheorien), Islam und Terror in der ffentlichen Meinung in einen Zusammenhang gebracht worden. Diese Deutungsmuster und die Erdoğan zugesprochene Fhrungsrolle ist ein Phänomen, das ber die Landes- Im letzten Teil der Dokumentation geht es um die Rolle grenzen der Trkei hinausgeht. Ob die Palästinenser in Erdoğans, der den Plänen des »Mastermind« im Wege Gaza, Anhänger der Muslimbrder in Ägypten oder in stehe. Das »Mastermind« wolle ihn deshalb beseitigen. Europa lebende Muslime, viele von ihnen teilen diese Insbesondere eine wirtschaftliche und politische Unab- Sichtweise, auch in Deutschland. Erdoğan hat eine große hängigkeit der Trkei solle mithilfe des Finanzkapitals Anhängerschaft unter den trkischstämmigen Menschen verhindert werden. Strategien des »Mastermind« seien in Deutschland. Das zeigte sich zuletzt bei den trkischen dabei, politische Intrigen, Putschversuche sowie Protest- Parlamentswahlen im November 2015. Von den 575.564 bewegungen nach dem Vorbild des arabischen Frhlings bei der Wahl abgegebenen Stimmen der wahlberech- zu initiieren.455 Namentlich kritisiert werden an dieser tigten trkischen Staatsbrger in Deutschland haben Stelle die Gezi-Proteste im Sommer 2013 in Istanbul als 59,7 Prozent fr seine Partei, die AKP gestimmt. Auch in ein angeblich vom Ausland gelenkter und fnanzierter anderen europäischen Ländern gab es ähnliche Ergeb- Versuch, die Legitimität der trkischen Regierung in den nisse. Das zeigt die Relevanz von Erdoğans ideologischer Augen des Volkes zu erschttern. Genauso wie der arabi- Sichtweise fr die in Europa lebenden trkeistämmigen sche Frhling seien auch die Gezi-Proteste ein Komplott Menschen.459 Da fr die politischen Einstellungen der des »Mastermind« gewesen.456 Die Medien hätten nicht trkischen Migranten das trkischsprachige Fernsehen den wahren Grund fr die Proteste erkannt bzw. bewusst desinformiert. Insbesondere internationale Medien, allen voran der Medienmogul Rupert Murdoch, hätten dies 457 Der Us-amerikanische Medienunternehmer rupert Murdoch ist Grnder und Geschäftsfhrer von news corporation, eines der weltweit grßten Me- dienunternehmen. von den vielen ausländischen Medien hat cnn am meisten berichtet, der hier aber keine erwähnung fndet. 458 Die vorwrfe gegen die Glen-Bewegung werden neben der stimme aus 454 stimme aus dem Off. dem Off von den Journalisten Mustafa Kaplan, Mehmet ali Önel, alper tan, Be- 455 stimmen aus dem Off werden mit Beiträgen ber ägypten von den kir hazar, aydin Önal, latif erdogan und hasan Karakaya sowie dem damaligen Journalisten Mehmet ali Öner, alper tan, dem theologen Prof. ali Kse, den Justizminister Bekir Bozdag und dem stellvertretenden Ministerpräsidenten historikern Prof. sofuoglu und Prof. Mehmet celik sowie dem ehemaligen Po- Yalcin akdogan geäußert. lizei-chef cevdet saral unterfttert. 459 Mit dem ergebnis in Deutschland sowie denen der ehemaligen »Gastar- 456 Die Komplott-these zu Gezi wird von Journalisten wie ergn Diler, canan beiterländer« Frankreich (58,4 Prozent), Belgien (69,4 Prozent), niederlande Barlas, Mehmet Barlas, cem Kck, Mustafa Kaplan, ahmet tasgetiren sowie (69,7 Prozent) und Österreich (69,0 Prozent) bekam die aKP deutlich mehr vom Bildungsminister nabi avci und vom Berater des Ministerpräsidenten ety- stimmen als in der trkei. Dort lag erdoğans aKP bei 49,5 Prozent. Die angaben en Mahcupyan untermauert. stammen aus http://secim.haberler.com/2015 (eingesehen 15.8.2016).

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eine bedeutende Rolle spielt und fr viele eine wichtige Platz 151 der Rangliste der Pressefreiheit von 180 Staa- Informationsquelle darstellt,460 hatte die Ausstrahlung des ten.462 Nicht nur in der Trkei, sondern auch in Deutsch- Films »Mastermind« einen nicht unerheblichen Einfuss land haben die rund um den Dokumentarflm ber auf die Einstellung der Zuschauer. Als der Dokumentar- regierungsnahe Medien ausgestrahlten Expertengespräche flm bei atv-ahaber ausgestrahlt wurde, wurde er in der und Talkshows, die von trkischstämmigen Zuschauern Trkei in regierungsnahen Medien in Form von Exper- in der Bundesrepublik rezipiert werden, Wirkung gezeigt. tengesprächen und Talkshows im Fernsehen, aber auch Ähnliches gilt auch fr die im Internet verbreiteten Debat- auf Webseiten zwar vielfach rezipiert. Das Echo blieb ten ber die Dokumentation. dennoch zunächst verhalten. Der gescheiterte Putschver- such im Juli 2016 hat jedoch dem Verschwrungsmythos Die Ausstrahlung des Dokumentarflms »Mastermind« »Mastermind« zu einer enormen Popularität verholfen fand in der internationalen Öffentlichkeit kaum Beach- und anscheinend glauben in der politischen und medi- tung. Nur die Jerusalem Post berichtete ber das antise- alen Öffentlichkeit gefunden. Das »Mastermind« wurde mitische Machwerk, das als »Protokolle der Weisen von von Präsident Erdoğan, Ministerpräsident Binali Yildirim Zion à la Turca« bezeichnet wurde. Zudem fand der Film sowie von ihren Gefolgsleuten als Erklärung fr den im Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums Putschversuch herangezogen. Dabei wurde die als ausfh- im Jahr 2015 Erwähnung.463 Erst nachdem der Diskurs rende Gruppe des Putsches bezichtigte Glen-Bewegung ber Erdoğan in den westlichen Medien endgltig gekippt als Handlanger des »Mastermind« gesehen.461 war, wurde auch der Film »Mastermind« verstärkt in den westlichen Medien (NYT, Reuters, Die Welt u. a.) themati- Umso dramatischer ist die Wirkung von solchen Beiträgen siert. Anlass fr die mediale Aufmerksamkeit in Deutsch- wie des Films »Mastermind« und der in seinem Kontext land war der Fall des Satirikers Jan Bhmermann und verbreiteten Propaganda vor dem Hintergrund, dass in der rassistische Reaktionen auf trkeistämmige Abgeordnete Trkei ein regierungsunabhängiger und kritischer Journa- im Deutschen Bundestag aufgrund der Resolution zum lismus kaum mehr mglich ist und die Bevlkerung der Vlkermord an den Armeniern – auch dies wurde von antisemitischen Propaganda ber die von der Regierung Erdoğan als Resultat der Wirkung des »Mastermind« kontrollierten Zeitungen und TV-Sender ausgesetzt ist. gesehen. Laut Reporter ohne Grenzen steht die Trkei aktuell auf

460 eine studie des Bundesamts fr Migration und Flchtlinge (BaMF) kon- statiert, dass die trkischen Migranten am stärksten muttersprachliches Fern- sehen nutzen und sich darber ber die ereignisse in der trkei informieren. vgl. https://www.bamf.de/sharedDocs/anlagen/De/Publikationen/working 462 Die Organisation reporter ohne Grenzen hat im Oktober 2016 einen Be- Papers/wp34-mediennutzung-von-migranten.pdf?__blob=publicationFile richt ber Besitzverhältnisse in der trkischen Medienlandschaft verffentlicht. (eingesehen 1. 11. 2016). laut dem Bericht gehren sieben der zehn grßten Fernsehsendern Unter- nehmen, die in der Bau-, textil-, energie- und transportbranche tätig sind und 461 erdoğan äußerte sich dazu in einem Interview am 29.7.2016 bei atv – a staatliche aufträge ausfhren, http://www.mom-rsf.org/en/mediaownership haber folgendermaßen: »Manche sagen, Glen sei der Mastermind. Dem ist monitor/countries/turkey/ (eingesehen 17. 11. 2016). nicht so. er ist nicht so intelligent. er ist nur ein handlanger. es gibt einen Mas- termind ber ihm.« https://www.youtube.com/watch?v=wf4s9Bxs4e0 (einge- 463 http://www.state.gov/documents/organization/253121.pdf (eingesehen sehen 25. 11. 2016). 15. 8. 2016).

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Handlungsempfehlungen – Medialer Diskurs Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … ein Monitoring der sozialen Netzwerke durch staatliche Stellen und NGOs, deren Ergebnisse von den Landeskrimi- nalämtern und dem BKA genutzt werden. ein systematisches Monitoring inklusive einer entsprechenden analyse der sozialen Medien ist technisch mglich, bedarf aber fnanzieller Untersttzung, um das entsprechende Personal zur verfgung stellen zu knnen.

º … die Erhhung des Drucks auf die Plattformbetreiber durch das Bundesministerium fr Justiz und Verbraucherschutz sowie die Durchsetzung des Maßnahmenkatalogs, der im Dezember 2015 zusammengestellt wurde. Dies sollte durch eine interministerielle Initiative gesttzt werden, die Mechanismen schafft, um antisemitische und diskriminierende Inhalte besser melden und anschließend lschen zu knnen.

º … die Nutzung bereits vorhandener und neuer Instrumente, um Social Bots und Fake-Accounts, die zur Verbreitung von antisemitischer »Hate Speech« genutzt werden, lschen zu knnen.

º … die Schulung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der großen Kommunikations-Plattformen, um auch neuere Formen des Antisemitismus sowie antisemitische Chiffren erkennen und lschen zu knnen.

º … die Stärkung von Akteuren der Zivilgesellschaft, um »Hate Speech« im Internet entgegentreten zu knnen, z.B. durch entsprechende Frderprogramme des Bundesministeriums fr Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

º … die gezielte Frderung von Counter Speech z.B. in Form von Journalisten als »Faktencheckern«, um Lgen direkt entlarven zu knnen und eine weitere Verbreitung zu verhindern.

º … die Untersttzung und Aufrechterhaltung einer kritischen fremdsprachlichen Medienberichterstattung durch den Rundfunk- und Fernsehrat, um den verschiedenen migrantischen Communities in Deutschland ein kritisches Gegen- gewicht zu einer propagandistischen Medienberichterstattung der Herkunftsländer anbieten zu knnen.

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7 Antisemitismus und Parteien

Parteien sind die bedeutendsten politischen Akteure im 7.1 Das verhältnis der Parteien gesellschaftlichen und nichtstaatlichen Bereich.464 Deshalb zum antisemitismus ist es wichtig danach zu fragen, wie sich die verschiedenen Parteien gegenber Antisemitismus in der Gesellschaft positionieren und wie mit antisemitischen Vorkommnis- 7.1.1 Christlich Demokratische Union (CDU)/ sen innerhalb der eigenen Partei umgegangen wird. Zu Christlich Soziale Union (CSU) fragen ist auch, in welcher Weise sich die Parteien gegen Antisemitismus engagieren und wie dies nach Inhalt und Die CDU und die CSU467 legen in ihren Selbstbezeichnun- Wirkung einzuschätzen ist. 465 Um ein genaueres Bild aus gen ein Bekenntnis zu religisen Werten ab. Die christliche der Sicht der Parteien selbst zu erhalten, hat der Unabhän- Identität bildete in der Ideengeschichte des Antisemitis- gige Expertenkreis Antisemitismus einen standardisierten mus in seiner religisen Variante aber auch immer wieder Fragebogen an die Parteien verschickt und die Antworten einen festen Bezugspunkt fr Antisemitismus (→ Def- fr den Bericht ausgewertet. nition). Die Lehren aus der NS-Vergangenheit sowie der daraus resultierende anti-antisemitische Grundkonsens in Die Auswahl der Parteien richtete sich nach folgenden der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit fhren jedoch Kriterien: Die jeweilige Partei musste im Bundestag oder dazu, dass judenfeindliche Bezge in der programmati- in mindestens zwei Landtagen vertreten sein. Deshalb schen Grundausrichtung der beiden christlichen Parteien werden hier die Christlich Demokratische Union (CDU) und keine Rolle spielen. Dennoch lassen sich immer wieder die Christlich Soziale Union (CSU), die Sozialdemokratische Beispiele fr Antisemitismus in CDU und CSU fnden, wie Partei Deutschlands (SPD), Bndnis 90/Die Grnen, Die etwa in der Rede des damaligen CDU-Bundestagsabge- Linke die Freiheitlich Demokratische Partei Deutschlands ordneten , der 2003 unter dem Motto (FDP) und die Alternative fr Deutschland (AfD) unter- »Gerechtigkeit fr Deutschland« zum Nationalfeiertag sucht.466 Die Ausfhrungen zu den einzelnen Parteien am 3. Oktober den angeblichen Kollektivschuld-Vor- folgen einer einheitlichen Darstellungsweise. Lediglich die wurf gegen die Deutschen als »Tätervolk« thematisierte AfD und Die Linke heben sich davon aus je unterschied- und behauptete, auch die Juden knnten als »Tätervolk« lichen Grnden ab: Bei der AfD handelt es sich um eine gelten. Dass diese Haltung nicht dem Grundkonsens der neue Partei, die im ersten Expertenbericht noch keine christlichen Parteien in Deutschland entspricht, zeigte der Rolle spielen konnte. Sie wird daher hier ausfhrlicher darauffolgende Ausschluss Hohmanns aus Fraktion und untersucht. Die Partei Die Linke wird v.a. aufgrund einiger Partei. Vorfälle innerhalb der Partei anhand von Fallbeispielen in einem Exkurs eingehender betrachtet. Die Reihenfolge der Darstellung der Parteien ergibt sich nicht aus einem 7.1.2 Sozialdemokratische Partei inhaltlichen Kriterium, sondern formal aus ihrer gegen- Deutschlands (SPD) wärtigen Stärke bei Wahlen. Bei der SPD468 handelt es sich um die mit Abstand älteste der hier zu behandelnden Parteien. Insofern bedarf es auch hinsichtlich der zu errternden Problematik eines kurzen historischen Rckblicks: Nach der 1863 erfolgten Grndung entwickelte sich die SPD zunächst zu einer

467 vgl. Julia Kiopp/tobias neef, ausprägungen des antisemitismus in der cDU, in: Ionscu/salzborn (hrsg.), antisemitismus in deutschen Parteien, s. 11–52; Bodo Kahlmann, csU und antisemitismus. eine konservative Partei zwischen Problemwahrnehmung und ressentiments, in: ebenda, s. 53–78. au- ßerdem erschien dazu: Ute schmidt, hitler ist tot und Ulbricht lebt. Die cDU, der nationalsozialismus und der holocaust, in: werner Bergmann/rainer erb/ 464 ein entsprechendes Kapitel fand sich im ersten Bericht des Unabhängi- albert lichtblau (hrsg.), schwieriges erbe. Der Umgang mit nationalsozi- gen expertenkreises antisemitismus nicht (vgl. lediglich ebenda, s. 149 ff). alismus und antisemitismus in Österreich, der DDr und der Bundesrepublik 465 eine ausfhrliche Gesamtdarstellung zum thema: Dana Ionescu/samuel Deutschland, Frankfurt a.M. 1995, s. 65–101. salzborn (hrsg.), antisemitismus in deutschen Parteien, Baden-Baden 2014. 468 sebastian voigt, sPD und antisemitismus. annäherungen an eine 466 allgemeine aussagen zu den Parteien werden nicht näher belegt. vgl. 150-jährige auseinandersetzung, in: Ionesu/salzborn (hrsg.), antisemitismus dazu: Frank Decker/viola neu (hrsg.), handbuch der deutschen Parteien, wies- in deutschen Parteien, s. 79–122; siehe auch heinrich Potthoff, Die ausein- baden 2013; Oskar niedermayer (hrsg.), handbuch Parteienforschung, wiesba- andersetzung der sPD und der Gewerkschaften mit dem ns-system und dem den 2013. holocaust, in: Bergmann/erb/lichtblau (hrsg.), schwieriges erbe, s. 120–137.

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sich marxistisch und revolutionär verstehenden Partei. zwischen »Fundis« und »Realos« eine nicht unbedeutende Fr die ideologische und programmatische Ausrichtung, Rolle. Hier bestand eine Differenz bei der Einschätzung die auf das Konfiktverhältnis von Kapital und Arbeit in des Nahostkonfikts: Während die »Fundis« eine offen der soziokonomischen Sphäre bezogen war, spielten antiisraelische und pro-palästinensische Auffassung ethnische oder religise Identitäten von Menschen keine vertraten, hielten sich die »Realos« mit Einwänden gegen Rolle. Insofern lehnte die SPD seit Beginn ihrer Existenz Israel eher zurck. auch den Antisemitismus als manipulative und verwerf- liche Einstellung ab. Die Partei sah in ihm den Ausdruck Im Zusammenhang mit dem Nahostkonfikt äußerte einer falschen Ideologie, die die Arbeiter von den realen sich 2002 der nordrhein-westfälische Landtagsabgeord- Konfikten ablenken sollte. Die sozialistische Grundauf- nete Jamal Karsli. Er unterstellte der israelischen Armee fassung richtete sich gegen alle, nicht nur gegen jdische NS-Methoden. Dies lste heftige Kritik aus, die dazu Kapitalisten. Insofern kam auch die – häufg August Bebel fhrte, dass Karsli die Grnen verließ und in die FDP zugeschriebene – Rede vom Antisemitismus als dem eintrat.471 »Sozialismus der dummen Kerls« auf.469 Insgesamt zeigt sich jedoch fr den Bereich der Äußerun- Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhhte sich ange- gen gegenber Israel mittlerweile eine Mäßigung. Es lässt sichts der Kenntnisse um die Verfolgung und Ermordung sich keine kritiklose Positionierung mehr zugunsten der der europäischen Juden die Sensibilität gegenber der Gegner des Staates Israel konstatieren. Judenfeindschaft. Bereits frh wies der damalige Par- teivorsitzende Kurt Schumacher, der selbst jahrelang in Jenseits des Nahostkonfikts soll hier noch auf den Fall einem Konzentrationslager inhaftiert war, immer wieder des Landtagskandidaten Ulf Dunkel verwiesen werden, auf die Gefahren einer Rckkehr von Antisemitismus und der 2012 kurz vor den niedersächsischen Wahlen ein Nationalismus hin. Auch der Grndung und der Politik antisemitisches Gedicht verffentlichte, mit dem er auf des Staates Israel stand die SPD kontinuierlich positiv die ffentliche Debatte um die Beschneidung von Jungen gegenber. Dies gilt ebenfalls fr die Entwicklung nach (→ Beispiele: Beschneidung) reagierte und dabei in obsz- dem Sechstagekrieg von 1967, der innerhalb des politi- ner und polemischer Form sein Missfallen ber das Ritual schen Spektrums »links« von der Mitte zu einer Spaltung zum Ausdruck brachte. Direkt nach dem Bekanntwerden in ein anti- und ein pro-israelisches Lager fhrte. Wäh- dieses Gedichts reagierte die Parteispitze des Landesver- rend etwa die SPD-Jugendorganisation ab Beginn der bands: Dunkel wurde aufgefordert, auf seine Kandidatur 1970er-Jahre eine antiisraelische und pro-palästinensische zu verzichten; ein Parteiausschlussverfahren stand eben- Position einnahm, behielt die Mutterpartei ihre pro-israe- falls im Raum. Dunkel reagierte und erklärte fr den Fall lische Haltung bei. eines Mandatsgewinns seinen Verzicht. In der Gesamt- schau stellt der Fall Dunkel jedoch die Ausnahme dar, gibt es doch in der Partei keine ähnlichen Vorfälle. 7.1.3 Bndnis 90/Die Grnen

Bei der Partei Bndnis 90/Die Grnen (fortan: Grne)470, 7.1.4 Alternative fr Deutschland (AfD) die sich als eine menschenrechtlich und kologisch orientierte politische Kraft defniert, gibt es hinsichtlich Bei der 2013 gegrndeten Alternative fr Deutschland des politischen Selbstverständnisses keine Akzeptanz von (AfD) handelt es sich um eine Partei, die noch einen Antisemitismus. Angesichts des heutigen Bildes der Partei Entwicklungsprozess hinsichtlich ihrer genauen Positio- darf aber nicht ignoriert werden, dass in deren Grn- nierung durchmacht. Den Anlass fr die Entstehung bot dungsphase auch Rechtsextremisten um Einfuss bemh- die Kritik an der Euro-Rettungspolitik von deutscher Bun- ten. In diesem Kontext fanden sich in einzelnen Bereichen desregierung und Europäischer Union. Ende 2014 änderte auch judenfeindliche Tendenzen. Es gelang den Grnen sich die Schwerpunktsetzung, stand doch fortan die jedoch, sich relativ schnell von derartigen Akteuren zu Migrationspolitik im Zentrum. Nach internen Konfikten trennen. Erst vor dem Hintergrund des Nahostkonfikts erfolgte im Juli 2015 eine personelle Umgestaltung: Frauke kam es zu Debatten ber antisemitische Konnotationen. Petry lste Bernd Lucke ab, wobei der Fhrungswechsel472 Dabei spielten innerparteiliche Auseinandersetzungen auch fr einen Politikwechsel stand: Die nationalkon- servative ersetzte die bisher verfolgte liberalkonservative

469 lars Fischer, the socialist response to antisemitism in Imperial Germany, cambridge 2007; rosemarie leuschen-seppel, sozialdemokratie und antisemi- tismus im Kaiserreich. Die auseinandersetzungen der Partei mit den konservati- 471 vgl. hierzu die ausfhrungen im abschnitt zur FDP. ven und vlkischen strmungen des antisemitismus 1871–1914, Bonn 1978. 472 Dieser ging auch mit dem austritt vieler als liberale geltenden Parteimit- 470 saskia richter, antisemitismus und Bndnis 90/Die Grnen. Der Umgang glieder einher. sie organisierten sich in der neuen Partei »allianz fr Fortschritt mit antisemitismus und antizionismus in Parteigeschichte und Gegenwart, in: und aufbruch« (alFa) die sich heute liberal-Konservative reformer (lKr) Ionescu/salzborn (hrsg.), antisemitismus in deutschen Parteien, s. 123–151. nennt..

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Richtung. Gleichzeitig bildete sich ein noch weiter rechts Schatzmeister habe sich gar eines nationalsozialistischen stehender Flgel um den Fraktionsvorsitzenden im Th- Sprachgebrauchs durch die vielen Ungeziefer-Metaphern ringer Landtag, Bjrn Hcke. Bei diesen Entwicklungen bedient.475 Ziemann wurde mit sofortiger Wirkung seines spielte die Einstellung zum Antisemitismus keine Rolle, es Amtes enthoben, postete aber weiterhin auf Facebook kam jedoch zu einigen Skandalen und Vorfällen: einschlägige Kommentare.476

Ziemann bedient sich in seinen Aussagen eines juden- 7.1.4.1 Der Fall Peter ziemann feindlichen Duktus mit den Topoi klassischer antisemiti- scher Verschwrungstheorien. Der frhere AfD-Politiker Peter Ziemann, Informatiker und Schatzmeister des hessi- behauptete die Existenz einer Konspiration insbesondere schen Landesvorstands, verffentlichte kurz nach seinem von jdischen Finanzakteuren und Freimaurern zur Amtsantritt im Frhjahr 2013 auf Facebook ein Foto Umsetzung ihrer Weltherrschaft. Ziemann suggeriert, des frheren sowjetischen Diktators Josef W. Stalin mit dass die mächtigen Entscheidungsträger die »Finanz-Oli- einem Kommentar ber die freiheitliche demokratische gopole« seien. Er arbeitet aber auch mit biologistischen Grundordnung und das politische System der Bundesre- Kategorien, die sich im klassischen »Rasse«-Diskurs publik Deutschland: »Mir sind nationale Korruption und wiederfnden lassen. Da ist vom »Blut der Vlker« und den Mafosi lieber – bei denen weiß man zumindest, woran »tdlichen Bakterien« die Rede. Auch wenn es hier keine man ist – als die internationalen Mafosi, die unter dem direkten Bezge zu Juden gibt, so steht in der Gesamt- Deckmantel von Demokratie, Humanismus und Multi- schau dieser Sprachgebrauch fr die rassistische Variante. kulti die Menschheit in einen ko-faschistischen Gefäng- Angesichts der Deutlichkeit der Formulierungen kann es nisplaneten versklaven wollen.« An anderer Stelle hieß es: nicht verwundern, dass die bestehende Demokratie als »Der heutige Sozialismus, der sich Demokratie schimpft, tatsächliche Diktatur diffamiert wird. Ziemann wollte muss das gleiche Schicksal wie der Ostblock vor mehr als nicht nur bestimmte Gegebenheiten kritisieren, er trat fr 20 Jahren erleiden. Nur so knnen wir die satanistischen deren fundamentale Überwindung ein. Deutlicher kann Elemente der Finanz-Oligopole von den westlichen Vl- sich eine extremistische Grundposition kaum artikulieren. kern wieder abschtteln, die wie die Zecken das Blut der Vlker aussaugen und die Krper mit tdlichen Bakterien verseuchen.«473 Darber hinaus meinte Ziemann, dass der 7.1.4.2 Der Fall Jan-Ulrich weiß Staat »die Unterwanderung der Gesellschaft mit kriminel- len Migranten« frdere. Dahinter steckten aber bestimmte 2014 verffentlichte Jan-Ulrich Weiß, der als Nachr- Mächte. Als solche nannte er die US-amerikanische cker in den Brandenburger Landtag einziehen sollte, auf Unternehmerfamilie Rockefeller, das jdische Bankhaus Facebook eine Bildcollage mit Text. Dort hieß es: »›HALLO Rothschild und den jdischen Investor George Soros Mein Name ist Jacob Rothschild. Meine Familie ist mehr sowie die »ganzen freimaurerisch organisierten Tarnor- als 500 Trillionen Dollar schwer. Wir haben weltweit so ganisationen, die ein Großteil unserer Politiker-Attrappen gut wie jede Zentralbank im Besitz. Wir fnanzieren immer ber ihre Fhrungsoffziere steuern«.474 Allgemein msste beide Seiten von jedem Krieg, schon seit Napoleon. Wir demnach davon ausgegangen werden, dass Drahtzieher steuern deine Nachrichten Medien, ol (sic!) und deine von Freimaurern und Superreichen die Demokratie, die Regierung. … DU HAST WAHRSCHEINLICH NOCH NIE eigentlich schon ein Sozialismus sei, unterwanderten und VON MIR GEHÖRT …«477 Daneben fanden sich zwei Fotos versklavten. des Investmentbankers Jacob Rothschild und eine Kari- katur, die Ähnlichkeiten mit Rothschild aufwies und stark Der damalige Bundessprecher Konrad Adam erhob an die Figur des »Mr. Burns« aus der Zeichentrickserie schwere Vorwrfe gegen das nur wenige Tage zuvor »Die Simpsons« erinnerte. Burns ist in der Comic-Serie gewählte Vorstandsmitglied: Derartige Äußerungen seien ein Atomkraftwerksbesitzer und steht als Inkarnation fr geeignet, die AfD in die rechte Ecke zu rcken, wohin die einen geldgierigen Kapitalisten. Insofern sind hier durch- Partei nicht gehre. Ziemanns Agieren schädige sie und aus antisemitische Konnotationen denkbar. msse Konsequenzen haben. Der zweite Landessprecher Gunter Nickel erklärte, derartige Auffassungen seien vom Grundgesetz her nicht mehr gedeckt. Der kurzzeitige

475 Ohne autor, afD-vorstand des amtes enthoben; tornau/Meyer, rich- tungsstreit bei afD eskaliert. 473 zititiert nach: Ohne autor, afD-vorstand des amtes enthoben, in: Faz, 19. 12. 2013, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/hessischer-landesverband- 476 carsten Meyer/Joachim F. tornau, hessischer afD-Politiker hetzt gegen afd-vorstand-des-amtes-enthoben-12719304.html (eingesehen 4. 12. 2016). Juden, in: Fr-Online, 22.7.2016, http://www.fr-online.de/rhein-main/rechts extreme--hessischer-afd-politiker-hetzt-gegen-juden-,1472796,34532290.html 474 zititiert nach: Joachim F. tornau/carsten Meyer, alternative fr Deutsch- (eingesehen 4. 12. 2016). land. richtungsstreit bei afD eskaliert, in: Fr-Online, 20.12.2013, http://www.fr- online.de/landespolitik/alternative-fuer-deutschland-richtungsstreit-bei-afd- 477 zit. nach: Ohne autor, antisemitismus in der afD; alternative ganz rechts, eskaliert,23887878,25676910.html (eingesehen 4. 12. 2016). in: taz, 3.11.2014, http://www.taz.de/!5029568/ (eingesehen 4.12.2016).

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Nachdem dies bekannt geworden war, schloss die die in dem jdischen Bankhaus den konspirativen AfD-Fraktion Weiß nach einstimmigem Votum aus. Machtfaktor sah. Weiß erklärte nach seinem Freispruch, Darber hinaus beantragte der brandenburgische Par- das Großkapital beherrsche die Weltpolitik. Damit ließ er teivorstand ebenfalls einstimmig den Parteiausschluss erneut verschwrungsideologische Prägungen erkennen. beim Schiedsgericht.478 Die Art der Darstellung wurde – in Die Karikatur entstammte zwar nicht, wie ursprnglich Anlehnung an das judenfeindliche Hetzblatt der NS-Zeit – angenommen, dem »Strmer«, aber sie vermittelt im als »Strmer«-Stil angesehen. Das beantragte Eilverfahren Gesamtkontext ein ähnliches Zerrbild. zum Parteiausschluss scheiterte jedoch sowohl vor dem Bundes- wie dem Landesschiedsgericht der Partei. Als Auffällig bei der Betrachtung des Falls ist, dass die bran- Grund wurde angefhrt, dass die abgebildete Karikatur denburgische Landtagsfraktion und der brandenburgische aus einem anderen Kontext stamme und »Mr. Burns« Parteivorstand einstimmig fr einen Ausschluss von Weiß zeige. Weiß verließ zwar die Fraktion, blieb aber in der votierten. Dies war bei anderen Fällen nicht so. Gleichwohl Partei. Als Uckermärker Kreisvorsitzender nahm er sogar konnte sich der Parteivorstand gegenber den Schieds- weiter eine Parteifunktion wahr. gerichten nicht durchsetzen. Und auch in der AfD selbst verfgte Weiß ber Rckhalt. Der fraktionslose Landtag- Da der Vorwurf der Volksverhetzung gegen Weiß erhoben sabgeordnete erhielt von seinem Kreisverband politische wurde, kam es zu einem Prozess; im Juni 2016 wurde er Untersttzung: Die Antisemitismusvorwrfe seien »konst- vom Amtsgericht Prenzlau freigesprochen. Sein Anwalt ruiert« und »unhaltbar«.480 Es stellt sich daher die Frage, erklärte, das Bild sei nicht eindeutig gegen eine religise inwieweit die Entscheidungen von allen Mitgliedern der Gruppe gerichtet gewesen. Außerdem hätte sein Mandant bergeordneten Gremien der Partei aus inhaltlichen oder nicht gewusst, dass er die Karikatur ffentlich gemacht aus strategischen Motiven gefällt wurden. Der Freispruch habe. Die Richterin fhrte in ihrem Urteil aus, dass Bild vom Vorwurf der Volksverhetzung ändert an dem Anti- und Text mehrdeutig seien. Ein eindeutig antisemitischer semitismus-Befund sowohl fr die Forschung wie fr die Hintergrund knne nicht belegt werden. Die Staatsan- Partei nichts. Denn einschlägige Einstellungen knnen waltschaft hatte indessen fr eine Geldstrafe von 5000 auch in eindeutigen Anspielungen und mssen nicht nur Euro plädiert. Weiß selbst bemerkte, er habe damit nur immer in direkten Hassbildern gegen alle Juden vorkom- das Großkapital kritisieren wollen, beherrsche es doch die men. Weltpolitik. Antisemitisch sei er nicht, da doch auch der Mann seiner Cousine jdischer Abstammung wäre.479 7.1.4.3 Der Fall Gunnar Baumgart Beim Blick auf die Fotos und den Text fällt zunächst auf, dass es keine direkten Aussagen zu Juden gibt. Gleich- Der Grnen-MdB Volker Beck und der Hamelner wohl macht der inhaltliche Kontext deutlich, dass mit SPD-Vorsitzende Ingo Reddeck stellten 2015 Strafanzeige der Karikatur sowohl Aussagen des politischen wie des wegen Volksverhetzung und Verunglimpfung des Anden- sozialen Antisemitismus propagiert werden. Die Formulie- kens Verstorbener gegen Gunnar Baumgart, der kurz rungen spielen auf die Existenz einer geheimen Macht an, zuvor noch Mitglied im Vorstand des AfD-Kreisverbands die Medien, Politik und Wirtschaft steuert. Gemeint sein Weserbergland gewesen war. Den Anlass fr die Anzeige sollen damit das Bankhaus und die Familie Rothschild. bot ein Link zu einem Artikel in dem Blog »Wissen- Mit der Formulierung »seit Napoleon« wird auf eine schaft3000«, worin es bezogen auf den Holocaust hieß: jahrhundertlange Existenz einer solchen Verschwrung »Zyklon B diente zum Schutze des Lebens. Kein einziger verwiesen. Damit stehen diese Aussagen im Einklang mit Jude ist durch eine Ttungs-Gaskammer umgebracht wor- der antisemitischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, den.« Nachdem ihm die Anzeige bekannt geworden war, erklärte Baumgart gegenber den Medien: »Ich habe mich niemals der Holocaust-Leugnung schuldig gemacht.« Er 478 Marion Kaufmann, Grne stellen strafanzeige gegen Jan-Ulrich weiß.afD - sei nur gegen die Folgen fr deren Protagonisten gewesen: chef Gauland will nachrcker loswerden, in: Märkische allgemeine, 26.9.2014, http://www.haz.de/hannover/aus-der-region/springe/nachrichten/Bad- »Ich habe angefhrt, dass ich missachte, dass Leute, die Muender-vorwurf-der-volksverhetzung (eingesehen 4.12.2016); Ohne au- den Holocaust leugnen, nach Paragraf 130 verknackt wer- tor, antisemitismus-vorwurf. afD will abgeordneten aus Partei ausschließen, den. Auf gut deutsch: dass sie ins Gefängnis kommen.« in: sddeutsche zeitung, 29.9.2016, http://www.sueddeutsche.de/politik/ antisemitismus-vorwurf-afd-will-abgeordneten-aus-partei-ausschliessen- 1.2151619 (eingesehen 4. 12. 2016). 479 Ohne autor,Karrikatur auf Facebook. afD-Politiker vom vorwurf der volks- verhetzung freigesprochen, in: Der spiegel, 29.6.2016, http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/afd-politiker-jan-ulrich-weiss-vom-vorwurf-der-volks- verhetzung-freigesprochen-a-1100511.html (eingesehen 4.12.2016); Ohne 480 Ohne autor, cottbuser ermittler untersuchen vorwrfe. afD-Fast-land- autor, amtsgericht sieht keinen antisemitischen Bezug. afD-Politiker weiß tagsabgeordneter ist Fall fr den staatsanwalt, in: rbb-Online, 3.11.2014, http:// nach streit um Karikatur freigesprochen, in: rbb-Online, 29.6.2016, http://www. www.rbb-online.de/extra/landtagswahl-brandenburg-2014/beitraege/afD- rbb-online.de/politik/beitrag/2016/06/jan-ulrich-weiss-von-afd-wegen- Uckermark-Jan-Ulrich-weiss-volksverhetzung-strafanzeige.html (eingesehen volksverhetzung-vor-gericht.html (eingesehen 4. 12. 2016). 4. 12. 2016).

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Da Baumgart daraufin auch aus seiner Partei kritisiert verffentlichte einen Link, worin die Existenz von wurde, verffentlichte er im Internet eine weitere Klarstel- Gaskammern und der Judenmord geleugnet wurden. lung. Darin bemerkte er: »Da ich mehrfach durch Freunde Darber hinaus benannte er als Autoren einschlägige darauf aufmerksam gemacht wurde, dass untenstehende rechtsextremistische Quellen. Erst nachdem dies bekannt Aussage [Damit war das erwähnte »Wissenschaft3000«-Zi- geworden war, distanzierte sich Baumgart gegenber den tat gemeint, Anm. d. Verf.] missverstanden werden Holocaust-Leugnern und ihren Positionen. Damit hat man kann, mchte ich hier eindeutig klarstellen, dass ich die es hier mit einer Form des sekundären Antisemitismus Meinung der genannten Personen nicht teile! Ich mchte (→ Defnition) zu tun, wobei das Abstreiten oder die Rela- mit dem Beitrag lediglich zum Ausdruck bringen, dass es tivierung der Massenmorde an den Juden einen Sonderfall meiner Meinung nach nicht in Ordnung ist, Leute fr ihre darstellt. Derartige Aussagen mnden indirekt auch im Meinung, und sei sie noch so abwegig, ins Gefängnis zu politischen Antisemitismus: Denn sie gehen davon aus, stecken!« Und direkt danach schrieb er weiter: »Jeder, der dass die Geschichtsschreibung ber die nationalsozialisti- den Leuchter Report gelesen hat, jeder, der Ernst Zndel che Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden und seine Aussagen kennt und jeder der mit offenen durch eine große »jdische Konspiration« mit histori- Augen Auschwitz besucht hat, jeder der das Unrecht, wel- schen Verfälschungen zustande kam. ches Germar Rudolph [sic!] und vielen anderen widerfah- ren ist, weiss es!!! Wenn ich Kinder hätte, wrden sie den Baumgart war zum Zeitpunkt des Skandals ein einfaches Geschichtsunterricht in Deutschland nicht besuchen«.481 Parteimitglied, kein halbes Jahr zuvor hatte er noch als Mitglied des Kreisvorstands Weserbergland eine Funktion Baumgart erklärte außerdem, er habe große Sympathien auf kommunaler Ebene innegehabt. Aufgekommen war fr Israel. Wenn jemand sage, das habe alles frher gar der Skandal durch Strafanträge von Politikern anderer nicht stattgefunden, dann drfe man dies seiner Auffas- Parteien. Nachdem dadurch das Agieren von Baumgart sung nach verbreiten, selbst wenn er diese Meinung nicht ffentlich bekannt geworden war, reagierte zunächst teile. Auch in der AfD lsten Baumgarts Bekundungen der Kreisverband, dann aber auch der Landesverband. und die kritische Presseberichterstattung entsprechende Unklar bleibt hier, ob zumindest auf der kommunalen Reaktionen aus: Manfred Otto, der Vorsitzende der Orts- Ebene die Positionen von Baumgart nicht schon frher gruppe Weserbergland, erklärte auf Anfrage: »So etwas hat hätten auffallen mssen. Der AfD-Ortsgruppenvorsit- keinen Platz bei uns in der AfD. Wir haben mit Baumgart zende distanzierte sich dann aber nach Bekanntwerden bereits gesprochen und ihm gesagt, dass wir ihn aus der der Äußerungen von Baumgart ffentlich sehr deutlich. Partei rausschmeißen werden.« Er erwarte eine Austritts- Direkt danach legte er Baumgart den Parteiaustritt nahe. erklärung. Auch der niedersächsische Landesvorsitzende Auch der Landesvorsitzende zog binnen kurzer Zeit einen Armin-Paul Hampel bekundete: »Fr so jemanden ist kein deutlichen Trennstrich. Einer langwierigeren Ausein- Platz bei uns.«482 Baumgart trat aus der Partei aus.483 Sein andersetzung kam der Betroffene dann dadurch zuvor, Agieren hatte darber hinaus auch noch berufiche Kon- dass er aus der AfD mit der Begrndung austrat, er wolle sequenzen: Baumgart, der als Qualitätsmanager in einem Schaden von der Partei abwenden. Seniorenstift arbeitete, wurde von seinem Arbeitgeber mit sofortiger Wirkung freigestellt.484 7.1.4.4 Der Fall wolfgang Gedeon Entgegen Baumgarts eigener Darstellung trat er in seinen Äußerungen keineswegs nur gegenber Der 2016 in den Landtag von Baden-Wrttemberg den Holocaust-Leugnern fr Straffreiheit ein. Er gewählte Abgeordnete Wolfgang Gedeon verffent- lichte 2012 das Buch »Der grne Kommunismus und die Diktatur der Minderheiten«. Darin befasst er sich u.a. 481 alle zitate nach: Jens rathmann/thomas thimm,vorwurf der volksverhet- mit Christentum, Islam und Judentum, wobei Gedeon zung, in: hannoversche allgemeine, 13.8.2015, http://www.haz.de/hannover/ die moralischen und theologischen Differenzen der aus-der-region/springe/nachrichten/Bad-Muender-vorwurf-der-volksver hetzung (eingesehen 4. 12. 2016). Religionen aus seiner Sicht hervorheben will. Dort heißt 482 Dietmar neuerer, afD. Fall von holocaust-leugnung in der afD?, in: es: »Wie der Islam der äußere Feind, so waren die talmu- handelsblatt, 15. 8. 2015, http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ dischen Ghetto-Juden der innere Feind des christlichen alternative-fuer-deutschland-fall-von-holocaust-leugnung-in-der-afd/12191980. Abendlandes.«485 Daneben beschäftigt sich Gedeon in html (eingesehen 4. 12. 2016). diesem Buch auch mit den »Protokollen der Weisen von 483 Ohne autor, nach holocaust-skandal: Gunnar Baumgart verlässt afD, in: Dewezet, 17.8.2015, http://www.dewezet.de/region/ticker_artikel,-nach- Zion« (→ Medien), die von ihm fr echt gehalten werden. holocaustskandal-gunnar-baumgart-verlaesst-afd-_arid,732472.html (einge- Er schreibt: »Es wird aber nirgendwo ersichtlich, dass sehen 4. 12. 2016). die Urheber der Protokolle, die auch auf dem Baseler 484 DrK beurlaubt Gunnar Baumgart. arbeitgeber ist wegen des vorwurfs der volksverhetzung entsetzt, in: schaumburger-zeitung, 13.8.2015, http://www. szlz.de/startseite_artikel,-drk-beurlaubt-gunnar-baumgart-_arid,731592.html 485 wolfgang Gedeon, Der grne Kommunismus und die Diktatur der Min- (eingesehen 4. 12. 2016). derheiten. eine Kritik des westlichen zeitgeistes, Frankfurt a.M. 2012.

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Zionistenkongress von 1897 nicht offen, sondern nur der NS-Propaganda genutzte Vorstellung, distanziert sich in einer geheimen Parallelveranstaltung aufgetreten aber von Hitler, allerdings mit einer besonderen Motiva- sind, in irgendeiner Weise repräsentativ fr das jdische tion: »Mein Hauptvorwurf ist, dass er ein biologistischer Weltkollektiv wären.« Gedeon glaubt, eine »zionistische Heide war, der Deutschland und Europa in radikaler Weise Minderheit« als die eigentlichen Autoren identifzieren zu entchristlicht und verheidet hat.«489 Andere denken da knnen. Er differenziert zwischen Juden und Zionisten, eher an die Etablierung einer totalitären Diktatur oder die spricht aber gleichzeitig vom »jdischen Weltkollektiv«. Massenmorde an den Juden. Die Begrndung fr seine Außerdem behauptet Gedeon, dass es Parallelen zwischen Distanzierung ergibt sich aus Gedeons fundamentalisti- den Ausfhrungen in den »Protokollen« zu »Strategie und schem Verständnis des Christentums. Dies erklärt auch, Taktik und zum Beispiel den politischen Methoden der warum er den »talmudistischen Ghetto-Juden« als inne- Brsseler EU«486 gäbe. ren »Feind des christlichen Abendlands« ansieht. Auch bei seiner Apologie der »Protokolle der Weisen von Zion« Dass es sich hier um keinen Ausrutscher oder eine sttzt Gedeon sich auf einen Autor aus dem katholischen Fehldeutung handelt, macht ein Blick in eine frhere Fundamentalismus.490 Buchpublikation deutlich: Gedeon hatte 2009 unter dem Pseudonym »W. G. Meister« ein dreibändiges Werk mit Gedeons Auslassungen schpfen aus dem Repertoire des dem Titel »Christlich-europäische Leitkultur« verffent- religisen und politischen Antisemitismus. Hinzu kommt, licht. Der zweite Band »Über Geschichte, Zionismus und bezogen auf den Geschichtsrevisionismus, die sekundäre Verschwrungspolitik« enthält mehrere Abschnitte ber Variante (→ Defnition). Dies machen die Ausfhrun- die »Protokolle der Weisen von Zion«. Gleich zu Beginn gen zur NS-Vergangenheit deutlich: Die Auffassung, schrieb Gedeon: »Die Protokolle sind mutmaßlich keine wonach die Hauptschuld daran der Hitler-Regierung Fälschung.« Dabei ignoriert er, dass das aus diversen zuzuschreiben sei, hält Gedeon fr eine »im wesentli- fktionalen Textvorlagen zusammengestellte Machwerk chen vom Zionismus diktierte Version«. Bezogen auf den bereits 1921 als Plagiat entlarvt worden war. Gedeon Holocaust räumt er zwar ein, dass die »Massenmorde an hält jedoch an anderen Zuschreibungen fest: »Ich halte den europäischen Juden singulär« gewesen seien und die Beurteilung Fleischhauers […] fr plausibel: Danach man hier nicht »relativieren« knne. Trotzdem mssten handelt es sich um die Mitschrift einer Geheimtagung.« der »Holocaust-Revisionismus und die Geschichtsdissi- Ulrich Fleischhauer war in den 1930er- und 1940er-Jahren denten« ernst genommen werden. Deren Ausfhrungen der Leiter des antisemitischen Nachrichtenbros »Welt- sollten kritisch geprft werden: »Andernfalls wäre es Dienst«, das eine gleichnamige Zeitschrift herausgab. Und ehrlicher, gleich ein Wahrheitsministerium im Orwell- schließlich bemerkt Gedeon: »Wer die Geschichte und schen Sinn einzurichten und es beim Zentralrat der Juden Politik der letzten 100 Jahre betrachtet, muss konzedieren, in Deutschland anzusiedeln.«491 dass viele der in den Protokollen aufgefhrten Elemente und Praktiken schon tatsächlich umgesetzt wurden.«487 Angesichts der Deutlichkeit eines religisen, politischen und sekundären Antisemitismus in Gedeons Schriften Die Rede vom »jdischen Weltkollektiv« suggeriert die und deren starker Beachtung in der medialen Bericht- Existenz eines imaginierten homogenen Kollektivs, das erstattung, verdient der parteiinterne Umgang damit keine reale Grundlage hat. Gedeon bedient sich alter besonderes Interesse: Wie reagierte die AfD-Fhrung antisemitischer Stereotype und meint ernsthaft, dass die auf Bundes- und auf Landesebene? Die Aufdeckung der aktuelle Entwicklung in Gesellschaft und Politik im Lichte antisemitischen Konspirationsvorstellungen492 und der der »Protokolle der Weisen von Zion« gesehen werden Einschätzung, Holocaust-Leugner seien »Dissidenten«493, msse. Dies macht die tiefe Prägung durch antisemitische erfolgte nicht durch die Partei. Die AfD reagierte auf kriti- Verschwrungstheorien deutlich. Gedeon sieht aber auch sche Medienberichte. Dabei stellt sich zunächst die Frage, noch andere Akteure am Werk, seien doch die Freimau- ob die Einstellungen von Gedeon nicht bereits vorher rer »eine konspirative politische Organisation«, die eine »freimaurerische Weltregierung«488 zum Ziel hätte.

Gedeon vertritt so die Vorstellung einer »jdisch-freimau- 489 ebenda, s. 187. rerischen Verschwrung«. Der spätere AfD-Landtagsab- 490 ebenda, s. 466, gemeint ist Johannes rothkranz mit seinen verschw- geordnete teilt damit eine historisch, insbesondere von rungsideologischen Publikationen. 491 ebenda, s. 157, 221, 223 und 239. 492 vgl. armin Pfahl-traughber, wolfgang Gedeon und die »Protokolle der 486 ebenda, s. 277 f. weisen von zion«, in: hagail.com, 26.5.2016, http://www.hagalil.com/2016/05/ 487 w. G. Meister (= wolfgang Gedeon), christlich-europäische leitkultur. wolfgang-gedeon/ (eingesehen 4. 12. 2016). Die herausforderung europas durch säkularismus, zionismus und Islam, Bd. II: 493 vgl. hans. w. saure/anton Maegerle, skandal um antisemitisches Buch Über Geschichte, zionismus und verschwrungspolitik, Frankfurt a.M. 2009, von w. Gedeon.afDler nennt neo-nazi horst Mahler einen Dissidenten, in: BIlD, s. 466 und 480. 1. 6. 2016, http://www.bild.de/politik/inland/alternative-fuer-deutschland/ 488 ebenda, s. 268. antisemitisches-buch-46065860.bild.html (eingesehen 4. 12. 2016).

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hätten bekannt gewesen sein mssen. Da er selbst mit heraus wollten sich zehn Abgeordnete klar gegen den Bchertischen und Internethinweisen dafr warb, liegt Antisemitismus Gedeons positionieren.497 die Vermutung nahe. Hinzu kommt, dass der AfD-Bun- desvorsitzende und AfD-Landtagsfraktionsvorsitzende Jrg Meuthen bereits frh ber andere absonderliche 7.1.4.5 Bedeutung der antisemitismus- Auffassungen Gedeons Bescheid wusste. Er frchtete gar Fälle in der Partei bei deren Bekanntwerden um einen Imageschaden, unter- nahm aber nichts.494 Beim Blick auf die Fälle gilt es zu beachten: Es handelt sich nur um bekannte und eindeutige Beispiele, und diese Nachdem die Auffassungen von Gedeon durch die stehen nicht notwendigerweise fr die Gesamtpartei. Zum Medienberichterstattung wahrgenommen worden waren, erstgenannten Aspekt sei hier noch kursorisch auf zwei äußerten sich die fhrenden AFD-Politiker Gauland, Beispiele aus Sachsen-Anhalt verwiesen: Das heutige Lan- Meuthen und Petry dazu relativ deutlich: Es handele desvorstandsmitglied Dirk Hoffmann kommentierte 2014 sich um antisemitische Aussagen. Daraufin sollte ein auf Facebook: »Gerade die Israelis werfen und Deutschen Ausschluss aus der AfD-Fraktion erfolgen, wofr aber immer wieder den Haulocaust vor. Was aber die Israelis Meuthen bei mindestens drei Probeabstimmungen keine in Gaza machen ist mindestens genauso schlimm. Was in ntige Zweidrittelmehrheit erhielt. Er hatte sogar mit Gaza abläuft kann man denke ich als Vlkermord bezeich- seinem Austritt aus der Fraktion und seinem Rcktritt als nen.«498 Und der heutige Landtagsabgeordnete Volker Ole- Vorsitzendem gedroht. Darber hinaus betonte Meuthen, nicak hatte auf seiner Facebook-Seite mehrfach Beiträge dass der Eindruck von antisemitischen Auffassungen aus rechtsextremistischen Internetseiten zustimmend in der AfD nicht nur die Erfolge bei Wahlen gefährden kommentiert. Dabei teilte er 2015 ein Foto der Bundes- wrde, sondern mglichicherweise auch die Beobachtung kanzlerin, das folgenden Kommentar enthielt: »Verräterin durch den Verfassungsschutz motivierten.495 Meuthen Merkel gefährdet den Frieden in Europa. Rcktritt der argumentierte also nicht in Richtung einer Ablehnung des zionistischen US-Agentin.«499 Antisemitismus, sondern stellte die Nachteile fr die Par- tei heraus. Dennoch gelang es ihm nicht, eine Mehrheit fr Doch welche Bedeutung haben derartige Einstellungen Gedeons Ausschluss zu bekommen. Mit der Ankndigung, in der gesamten Partei? Die Antwort auf diese Frage kann entsprechende Gutachten einzuholen, sollte offenkundig zwischen der Deutung »Ausnahmefälle« und der Interpre- Zeit gewonnen werden. tation »Gesamtbild« erfolgen. Eine genaue Einschätzung ist gegenwärtig nicht mglich: Dazu bedrfte es Daten Durchaus berraschend trat Meuthen daraufin mit ber die Einstellung von Parteimitgliedern, die durch zwlf weiteren AfD-Abgeordneten aus seiner eigenen eine Umfrage zustande kommen mssten. Eine derartige Fraktion aus. Damit war diese schon zwei Monate nach Studie liegt aber weder fr die AfD noch fr eine andere den Wahlen zerbrochen.496 Gleichzeitig intervenierte die Partei vor. Es lässt sich hier allenfalls eine Hypothese ber Bundessprecherin Frauke Petry, reiste zu Gesprächen nach einen Umweg formulieren: Betrachtet man die empirische Stuttgart und drängte Gedeon offenbar zum »freiwilli- Forschung (→ Empirische Studien) zu den antisemiti- gen« Verzicht. Sie erhoffte sich dadurch, dass die Fraktion schen Einstellungspotenzialen hinsichtlich des jeweiligen wieder zusammenfnden wrde. Dies war aber nicht der Wahlverhaltens, so kann folgende Faustformel daraus Fall, denn Meuthen erklärte: An seinem Austritt und dem abgeleitet werden: Je eher eine linke Auffassung besteht, seiner Anhänger wrde sich dadurch nichts ändern. Diese desto geringer der Antisemitismus, je eher eine rechte Einstellung knnte man inhaltlich gut begrnden, denn Auffassung besteht, desto hher der Antisemitismus.500 Da die verbliebenen zehn Abgeordneten der ursprnglichen die AfD eine »rechte« Partei ist, drften demnach auch AfD-Fraktion hatten sich zu Gedeon bekannt. Damit wurde in aller Deutlichkeit klar, wie es um die Auffassun- gen zu Fragen des Antisemitismus gerade in der Landtags- 497 armin Pfahl-traughber, Keine entscheidung, sondern nur eine vertagung (22.6.2016), in: hagalil.com, 22.6.2016, http://www.hagalil.com/2016/06/afd-4/ fraktion der AfD steht, die als besonders gemäßigt und (eingesehen 4. 12. 2016). seris gilt. Noch nicht einmal aus taktischen Erwägungen 498 chr, ranghohes afD-Mitglied aus sachsen-anhalt postet antisemiti- sche Inhalte bei Facebook, in: huffngtonpost, 8.10.2014 (Orthographie und Grammatik im Original), http://www.huffngtonpost.de/2014/10/08/afd- facebook-antisemitisch_n_5951890.html (eingesehen 4. 12. 2016). 499 hagen eichler,Internet-hetze holt afD-Mann ein, in: volksstimme,2.6.2016, 494 Justus Bender/rdiger soldt, Im eiferer-Modus gegen Juden, in: Frankf- http://www.volksstimme.de/sachsen-anhalt/20160602/landtag-internet-hetze- urter allgemeine zeitung, 4. 6. 2016. holt-afd-mann-ein (eingesehen 4. 12. 2016). 495 roland Muschel, »es geht hier um alles«, in: Badische-zeitung, 500 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland. 18. 6. 2016, http://www.badische-zeitung.de/suedwest-1/es-geht-hier-um-al- erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze. Bericht des Unabhän- les--123252255.html (eingesehen 9. 12. 2016). gigen expertenkreises antisemitismus, Berlin 2012, s. 60 f. Beim antizionisti- 496 rdiger soldt, scheitern auf ganzer linie, in: Frankfurter allgemeine schen antisemitismus besteht eine ausnahme bei dieser regel, wobei hier aber sonntagszeitung, 10. 7. 2016. auch bezogen auf die Items nach der trennschärfe gefragt werden kann.

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derartige Einstellungen bei den Mitgliedern hher als in isoliert und umstritten. Der zweite Vorsitzende Meuthen anderen Parteien sein. hoffte nun wohl, in seiner Landtagsfraktion das Prob- lem schnell lsen zu knnen. Obwohl Meuthen einen Diese Einschätzung wrde auch erklären, warum in der hohen Imageschaden beschwor und mit seinem eigenen AfD solche Vorfälle besonders häufg vorkommen. Aber Rcktritt drohte, erhielt er bei keiner der mindestens drei auch diese Erkenntnis gestattet noch keine quantitative Probeabstimmungen eine Mehrheit fr den Ausschluss Wertung. Indessen besteht fr die AfD offenkundig ein Gedeons. Der Erfolg von Petrys Intervention, die Gedeon Antisemitismus-Problem, das aber fr sich allein aus ihr zum Rcktritt veranlasste, hat ihr am Ende zum innerpar- noch keine judenfeindliche Partei macht. Denn in den teilichen Sieg verholfen, hatte sie doch das Problem um meisten Fällen reagierten sowohl die Bundes- wie die Lan- den Skandal scheinbar gelst. Es ging aber schon gar nicht desfhrung negativ auf entsprechende Skandale. Es gab mehr um die Bekämpfung des Antisemitismus, sondern häufg Distanzierungen, aber nicht immer Konsequenzen: um die Machtposition in der Partei. Denn beide Akteure Während in den meisten Fällen jeweils Fraktions- und artikulierten danach ihre Hoffnung, dass die getrennten Parteiausschlsse angeregt wurden, geschah in anderen Fraktionen wieder verschmelzen knnten. Dies wrde Fällen gar nichts. Dies gilt etwa fr die Aufnahme des aber bedeuten, dass es eine Kooperation mit Landtag- frheren CDU-MdB Martin Hohmann. Auch konnten die sabgeordneten geben wrde, die sich in dem besagten beiden AfD-Funktionäre aus Sachsen-Anhalt auch nach Konfikt zugunsten eines Mandatsträgers mit judenfeind- Bekanntwerden ihrer Positionen ihre Karriere parteiin- lichen Verschwrungsvorstellungen positionierten. Eine tern erfolgreich fortsetzen. Auffällig in diesem Kontext ist, glaubwrdige inhaltliche Distanzierung sähe sicherlich dass alle erwähnten Fälle von Journalisten, Politikern oder anders aus. Wissenschaftlern thematisiert wurden. Die AfD ging nicht von sich aus gegen antisemitische Mitglieder vor. 7.1.4.7 zwischenfazit

7.1.4.6 antisemitismus im innerparteilichen Es lässt sich festhalten, dass Antisemitismus und Juden- Machtkampf tum gegenwärtig sowohl im Selbstverständnis wie in der Wirkung fr die AfD nicht relevant sind. Es gibt aber Der Fall Gedeon zeigt, welchen hohen Stellenwert das auch keinen ausgeprägten Anti-Antisemitismus, sieht Thema Antisemitismus auf unterschiedlichen Ebenen man einmal davon ab, dass die Judenfeindschaft diskursiv im innerparteilichen Machtkampf einnimmt. Gleiches den Muslimen zugeschrieben wird. Damit deutet sich ein gilt fr die Außendarstellung der AfD: Der Blick auf die instrumentelles Verhältnis der Partei zum Umgang mit Entwicklung der Wahlen in Europa macht deutlich, dass Antisemitismus an. Dies erklärt auch die ambivalenten eine »Rechtspartei« nur dann Erfolge verbuchen kann, Reaktionen bei Skandalen: Die Fhrung distanzierte sich wenn sie sich von dem Ideengut faschistischer und nati- bei Medienberichten schnell von Vorkommnissen. Dabei onalsozialistischer Parteien zwischen den 1920er- und wurden die entsprechenden Fälle extern und nicht intern 1940er-Jahren zumindest formal distanziert. Dazu gehrt thematisiert. Dies macht deutlich, dass ein intensiveres auch die ffentliche Ablehnung des Antisemitismus, was Interesse an deren Vermeidung wohl nicht besteht. Auch insbesondere fr die politische Kultur in Deutschland gilt. scheint der Ansehensverlust das Hauptmotiv bei den Klar- Dies bedeutet hinsichtlich der AfD, dass Distanzierungen stellungen zu sein, denn die jeweiligen Folgewirkungen durch die Fhrung aus innerer Einsicht wie auch aus sind hinsichtlich der Konsequenzen unterschiedlich: strategischer Rcksichtnahme erfolgen knnen. Antise- mitismus ist dann als solcher fr die Partei relevant. Dies Handelt es sich um eindeutige Fälle auf unteren Partei- erklärt, warum er im Kontext von Islam und Muslimen ebenen, kommt es schnell zu deutlicher Ablehnung und offensiv thematisiert wird. organisatorischen Ausschlssen. Bei Aussagen auf hherer Parteiebene gibt es zwar Distanzierungen, klare Trennun- Der Fall Gedeon verdeutlicht darber hinaus, wie die gen werden aber selten gezogen. Der Fall Gedeon illust- Einstellung gegenber der Judenfeindschaft im innerpar- riert dieses Verhältnis: Wochenlang gelang es hier nicht, teilichen Machtkampf instrumentalisiert wird. Nachdem Konsequenzen aus den antisemitischen Äußerungen eines Gedeons antisemitische Auffassungen in den Medien brei- Abgeordneten zu ziehen. Gerade hier wird deutlich, dass ter thematisiert wurden, erklärten mit Gauland, Meuthen die AfD zu den Parteien zählt, die den Antisemitismus und Petry die fhrenden AfD-Politiker ihre Distanz und aus strategischen Grnden ablehnen, ihn aber latent in forderten Konsequenzen. Ein entsprechender Entschluss den eigenen Reihen dulden. Demnach ist die AfD in der des Parteivorstands war ohne Petry erfolgt. Zwar gilt diese Gesamtbetrachtung keine antisemitische Partei, sie hat als ffentliches Gesicht der Partei und ist auch eine der aber mit Abstand das grßte Antisemitismus-Problem – beiden Vorsitzenden. Aufgrund ihrer Alleingänge und zumindest von den behandelten Parlamentsparteien. ihres Verhaltens ist ausgerechnet sie in der Fhrung aber

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7.1.5 Partei des Demokratischen Sozialismus bekennen sich nicht nur zur revolutionären Überwindung (PDS)/Partei Die Linke der bestehenden Gesellschafts- und Staatsordnung. Mit dieser Ausrichtung geht auch eine Feinderklärung an den Die Partei, die in der medialen Aufmerksamkeit nach der Staat Israel einher, der in der politischen Konstellation des AfD gegenwärtig am häufgsten mit Antisemitismus in Kalten Krieges als Repräsentant des westlichen Imperia- Verbindung gebracht wird, ist Die Linke.501 Diese Beobach- lismus im Nahen Osten gesehen wurde. Demgemäß posi- tung irritiert zunächst, denn die inhaltlichen Grundpositi- tionierten sich die Anhänger der Gruppierungen im Sinne onen bieten keine Anknpfungspunkte zum Antisemitis- einer internationalen Solidarität auf der arabischen bzw. mus.502 Von ihrem Selbstverständnis her geht es der Partei palästinensischen Seite, galten die dortigen Gesellschaften in erster Linie um die Frage der sozialen Gleichheit, fr die und Staaten doch gegenber Israel als unterdrckt.503 Die- ethnische oder religise Identitäten von Menschen keine jenigen Parteimitglieder, die einer antisemitischen Aus- Rolle spielen. Darber hinaus distanziert sich die Partei richtung verdächtigt werden, gehren meist diesem Flgel auch ausdrcklich vom Antisemitismus, gilt er ihr doch der Partei an. Insofern gibt es im politischen Spektrum der als Bestandteil einer reaktionären und rechten Gesinnung. Partei Die Linke eine pro-israelische Ausrichtung, die v.a. Wird in Politik, Publizistik und Wissenschaft von einem in Ostdeutschland, und eine anti-israelische Strmung, die Problem der Linken mit dem Antisemitismus gesprochen, v.a. in Westdeutschland verbreitet ist. Seit 2007 existiert bezieht sich dies in erster Linie auf die Einstellung von zudem in der parteinahen Jugendorganisation Linksju- Teilen der Partei gegenber der Politik des Staates Israel, gend [’solid] der »Bundesarbeitskreis Shalom«. Er macht die sich nicht auf legitime Kritik beschränkt, sondern mit seiner pro-israelischen Ausrichtung regelmäßig auf durchaus Grenzen berschreiten kann. problematische Entwicklungen in der Partei aufmerksam. Diese verschiedenen Facetten der Partei Die Linke machen Die Linke steht fr ein Sammlungsprojekt, in dem sich deutlich, wie vielfältig das Spektrum ist. Der dezidiert Anhänger unterschiedlicher sozialistischer Strmungen anti-israelische Flgel bildet zwar eine Minderheit. Fr zusammengefunden haben. In der medialen Berichter- die Gesamtpartei jedoch handelt es sich um einfussreiche stattung hat sich die Rede von »Reformern« und »Tra- und relevante Akteure. ditionalisten« eingebrgert. Mit dieser Einteilung lässt sich indessen allenfalls idealtypisch die Komplexität der Inwieweit bei ihnen Antisemitismus mit Israelfeind- Zusammensetzung erfassen, daher sei fr die hier zu lichkeit einhergeht, soll hier nun anhand von Beispielen behandelnde Fragestellung nur auf zwei Strmungen ver- errtert werden: Die Bundestagsabgeordnete Christine wiesen: Ein Großteil der Mitglieder in den ostdeutschen Buchholz, die aus einem trotzkistischen Kontext stammt, Ländern entstammt nicht nur der Partei des Demokra- positionierte sich 2006, bezogen auf den Nahostkonfikt, tischen Sozialismus (PDS), sondern auch ihrer Vorläu- auf der Seite der Friedensbewegung, aber auch der Hisbol- ferpartei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands lah.504 2008 blieben elf Abgeordnete der Partei Die Linke (SED). Obwohl diese Personen eine politische Sozialisation einer Abstimmung ber den Antrag zur Bekämpfung des sowohl allgemein in Richtung des Marxismus-Leninismus Antisemitismus fern. Sie begrndeten dies damit, dass sie wie besonders im Sinne einer antiimperialistischen Isra- die darin erklärte Solidarität mit Israel als bundesdeutsche elfeindlichkeit durchlaufen haben, lässt sich seit Beginn Staatsräson nicht mittragen wollten.505 Der Bundestags- der 1990er-Jahre eine langsame, aber stetige Abkehr und kandidat der Partei Chris Sedlmaier beklagte 2009 eine Mäßigung konstatieren. Kriminalisierung von Hamas und Hisbollah durch die EU, solidarisierte sich mit dem »Freiheitskampf« von Demgegenber entstammt ein bedeutender Teil der west- Saddam Hussein und erklärte Israel zu einem »rassisti- deutschen Mitglieder – wie der Blick auf deren politische schen Siedlerregime«.506 Derartige Aussagen und Vorfälle Biografe zeigt – aus unterschiedlichen linksextremisti- lsten im Sommer 2011 heftige Kritik an der Partei aus. schen Organisationen. Dazu zählen marxistisch-leninis- tische Parteien wie die Deutsche Kommunistische Partei

(DKP), maoistische Gruppierungen wie der Kommunis- 503 armin Pfahl-traughber, Israelfeindlichkeit zwischen antiimperialismus tische Bund (KB) oder trotzkistische Vereinigungen wie und antisemitismus – eine analyse zu erscheinungsformen und Motiven im Linksruck bzw. Marx21. Diese politischen Gruppierungen deutschen linksextremismus, in: Ulrich Dovermann (hrsg.), linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2011, s. 143–161. 504 , »Im Krieg muss sich Die linke positionieren«. Inter- view mit rdiger Gbel, in: Junge welt, 15.8.2006, https://www.jungewelt.de/ 501 Martin Kloke, antisemitismus in der linkspartei. »Die linke hat ein Prob- loginFailed.php?ref=/2006/08-15/039.php (eingesehen 4. 12. 2016). lem mit antisemitinnen und antisemiten.«, in: Ionesu/salzborn (hrsg.), antise- mitismus in deutschen Parteien, s. 153–193. 505 vgl. Ulla Jelpke u.a., erklärung zur Debatte. nicht-teilnahme an der ab- stimmung am 4.11.2008, in: http://www.ulla-jelpke.de/2008/11/erklaerung- 502 Diese aussage gilt auch gegenber der Kapitalismuskritik, die bei anti- zur-debatte-nicht-teilnahme-an-der-abstimmung-am-04-november-2008/ semiten einen Bezug auf das »Finanzkapital« bzw. die »zinsknechtschaft« auf- (eingesehen 9. 11. 2016). weist. Die Partei Die linke, die ideologisch am Marxismus orientiert ist, nimmt denn auch eine Frontstellung in Gänze und nicht nur in teilbereichen gegen 506 Uwe Kalbe, Kandidat sedlmaier zieht sich zurck, in: neues Deutschland, diese wirtschaftsform ein. 7.5.2009.

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Infolgedessen wuchs die Sensibilität in der Partei, was Bundestagsabgeordnete der Linken. Bereits beim Auslau- etwa zur Anerkennung des Existenzrechts Israel im neuen fen der Schiffe seien antisemitische Gesänge und Parolen Programm von 2011 fhrte. zu hren gewesen: Man habe an die Vernichtung eines jdischen Stammes durch die Armee Mohammeds erin- Exkurs: Anmerkungen zu Antisemitismus- nert, es sei der Ruf »Tod den Juden« laut geworden, und Vorwrfen gegenber der Partei Die Linke ein Aktivist habe der anrckenden israelischen Marine »Geht zurck nach Auschwitz« entgegen geschrien. In Nach Redaktionsschluss des Berichts des ersten UEA der internationalen Öffentlichkeit lste die Militärak- wurde am 25. Mai 2011 eine Bundestagsdebatte zum tion gegen den Schiffskonvoi heftige Emprung ber Thema »Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchun- Israel aus, schienen hier doch Soldaten gegen friedliche gen zu mglichen antisemitischen und israelfeindlichen Aktivisten vorgegangen zu sein.510 Erst einige Zeit später Positionen und Verhaltensweisen in der Partei Die Linke« wurde bekannt, dass viele Protestler keineswegs gewaltfrei angesetzt. Darin warfen Redner aller anderen Bundestags- agiert hatten. Darber hinaus spielte bei der Aktion die parteien einigen Teilen der Partei Die Linke antisemitische trkische Organisation Insan Hak ve Hrriyetleri ve Insani Positionen vor: CDU/CSU: »Doppelstrategie der Linken Yardim Vakf (IHH) eine wichtige Rolle. Sie gehrt dem brandmarken«, SPD: »Antisemitische Vorurteile und Kam- islamistischen Lager an und verfgt ber einschlägige pagnen«, FDP: »Teile pfegen antisemitischen Unterton« Kontakte zur Hamas. Offenkundig war das ganze Unter- und »Grne fordern stärkere argumentative Auseinan- nehmen ursprnglich nicht als Hilfsaktion, sondern als dersetzung«.507 Anlass dazu boten Presseberichte, wonach Propaganda projekt organisiert worden.511 eine sozialwissenschaftliche Studie dies belegt habe.508 Die Autoren Samuel Salzborn und Sebastian Voigt, beide Poli- Verhalten gegenber dem israelischen Präsidenten tikwissenschaftler, behaupteten in ihrem bis zu diesem Shimon Peres Zeitpunkt noch unverffentlichten Aufsatz »Antisemiten als Koalitionspartner?«, die Partei Die Linke habe sich seit Besondere Aufmerksamkeit erregten einige Bundestagsab- 2010 affrmativ zum Antisemitismus positioniert.509 Die geordnete der Partei Die Linke am 27. Januar 2010 dadurch, Grundlage fr diese Einschätzung waren mehrere Vorfälle, dass sie nach einer Rede des israelischen Präsidenten im in denen Abgeordnete und Funktionsträger der Partei sich Bundestag diesem nicht wie alle anderen Abgeordneten zum Nahostkonfikt geäußert hatten. Der folgende Exkurs stehend Beifall zollten. Shimon Peres hatte anlässlich will anhand von Beispielen die Frage errtern, ob es sich einer Gedenkstunde fr die Opfer des Holocaust im hierbei um Antisemitismus handelt. Parlament gesprochen. Nach dem Ende der Rede blieben Christine Buchholz, Sevim Dagdelen und Sahra Wagen- Teilnahme an der Gaza-Flottille knecht demonstrativ sitzen. Während dieses Verhalten sowohl in den Medien wie in der Partei kritisiert wurde, Insbesondere bezglich der Teilnahme von drei Bundes- fand es ausdrcklichen Beifall von rechtsextremistischer tagsabgeordneten der Partei Die Linke an der »Gaza-Flot- Seite. Wagenknecht verffentlichte daraufin eine Erklä- tille« kamen Vorwrfe des Antisemitismus auf: Ende Mai rung mit folgenden Worten: »Zum Gedenken an die Opfer 2010 hatten sich sechs Schiffe auf den Weg in Richtung des Holocaust habe ich mich selbstverständlich von mei- Gaza-Stadt gemacht, angeblich um mit Hilfslieferungen nem Platz erhoben. Dass ich nach der Rede von Shimon die Blockade des Kstenstreifens zu durchbrechen. Hun- Peres nicht an den stehenden Ovationen teilgenommen dert Kilometer vor dem Ziel beendeten israelische Solda- habe, liegt darin begrndet, dass ich einem Staatsmann, ten die Aktion mit Waffengewalt, wobei neun Menschen der selbst fr Krieg mitverantwortlich ist, einen solchen ums Leben kamen. An Bord befanden sich auch westliche Respekt nicht zollen kann.«512 In einem Interview mit Prominente wie die Friedensnobelpreisträgerin Mairead der Jdischen Allgemeinen erklärte Wagenknecht weiter, Corrigan und der Schriftsteller Henning Mankell, aber sie habe Peres keinen Beifall gezollt, »da er seine Rede auch mit , Inge Hger und […] dazu genutzt hat, fr einen Krieg gegen den Iran zu

507 Deutscher Bundestag, »linke soll Bekenntnis gegen antisemitismus ablegen« (stand: 25. Mai 2011), in: https://www.bundestag.de/dokumente/ textarchiv/2011/34536798_kw21_de_linke/205436 (eingesehen 9. 12. 2016). 510 John Goetz u.a., Flucht in die einsamkeit, in: Der spiegel, 7.6.2010, s. 83– 88. 508 z.B. Jan-Philipp hein, ein verdrängtes Problem. studie: In der Partei Die linke äußern sich regelmäßig antisemiten/spitze schweigt, in: Frankfurter 511 Doris akrap/Philipp Gessler, Die zweifelhaften Passagiere, in: taz, rundschau, 19. 5. 2011. 1. 7. 2010. 509 samuel salzborn/sebastian voigt, antisemiten als Koalitionspartner? 512 , erklärung zur rede des israelischen staatspräsiden- Die linkspartei zwischen antizionistischem antisemitismus und dem streben ten shimon Peres im Bundestag am 27.1.2010, in: www.sahra-wagenknecht.de, nach regierungsfähigkeit, in: zeitschrift fr Politik, 59 (2013) 1, s. 103–111, hier http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/829.erklaerung-zur-rede-des- s. 103. erst nach der Bundestagsdebatte erfolgte die Publikation, der ffentli- israelischen-staatspraesidenten-shimon-peres-im-bundestag-am-27-januar- chen Kontroverse lag ein unverffentlichtes Manuskript zugrunde. 2010.html (eingesehen 4. 12. 2016).

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werben«.513 Deutlich wird hier, dass Politiker ebenso wie »Toilettenaffäre« um Auftritte israelfeindlicher die Mehrheit der Brger Antisemitismus nur dann erken- Publizisten nen, wenn er sich historischer, rassistischer Komponenten bedient, aber nicht, wenn es sich um israelbezogene For- Bei der »Toilettenaffäre« – die Formulierung hatte sich in men handelt. Dennoch gehrt sicherlich das Verhalten der der Medienberichterstattung eingebrgert – ging es um Mitglieder der Partei Die Linke nach der Rede von Peres folgende Ereignisse: Fr den 9. November 2014 war in der eher in den Bereich einer → »Grauzone«. Berliner Volksbhne eine Diskussionsveranstaltung mit den beiden israelfeindlichen Publizisten Max Blumenthal Verweigerung der Untersttzung eines Synagogen- und David Sheen zum Nahostkonfikt angekndigt. neubaus Dagegen intervenierten die beiden Bundestagsabgeord- neten Volker Beck (Bndnis 90/Die Grnen) und Petra Im Rahmen der bundesweiten ffentlichen Debatte Pau (Die Linke), in deren Folge die Veranstaltung abgesagt um die Frage des Verhältnisses der Partei Die Linke zum wurde. Auf Einladung der Abgeordneten Annette Groh Antisemitismus und zu den Juden fand ein besonderes und Inge Hger sollte die Diskussion am 10. November regionales Ereignis grßere Aufmerksamkeit: Im Rat der stattdessen in den Räumen der Bundestagsfraktion der Stadt Herford wurde am 18. Juni 2010 darber abge- Partei Die Linke stattfnden. Der damalige Fraktionsvor- stimmt, ob der Neubau der rtlichen Synagoge fnanzi- sitzende untersagte dies. Daraufin wurde ell bezuschusst werden sollte. Als einzige Abgeordnete er von den Referenten wie auch von einigen Zuhrern stimmte die Vertreterin der Partei Die Linke Erika Zemaitis persnlich bedrängt und bis auf die Toilette verfolgt. gegen diesen Antrag. Sie begrndete ihre Ablehnung wie Später konnten die Ereignisse im Internet auf einem Video folgt: »Wenn alle Menschen in Herford Verzicht bei den verfolgt werden.516 Aus Protest gegen dieses Agieren von ffentlichen Einrichtungen ben sollen, kann es vorerst Bundestagsabgeordneten verffentlichten Mitglieder der keinen Platz fr das Partikularinteresse einer Religions- Partei die Stellungnahme »Ihr sprecht nicht fr uns!«, gruppe geben.«514 Die Linken-Bundestagsabgeordnete worin gegenber den beiden Bundestagsabgeordneten Inge Hger, seinerzeit auch Kreissprecherin ihrer Partei festgestellt wurde: »Wiederholt mssen wir konstatieren, in Herford, distanzierte sich in einer Stellungnahme von dass sich […] Mitglieder unserer Partei in verantwortlichen diesem Abstimmungsverhalten von Zemaitis und forderte Positionen durch Schrung obsessiven Hasses auf und der sie zu einer Entschuldigung oder zum Rcktritt auf.515 Dämonisierung von Israel antisemitischer Argumentati- Grundsätzlich kann das Abstimmungsverhalten durch onsmuster und eine Relativierung des Holocausts und der die Forderung nach einer strikten Trennung von Religion deutschen Verantwortung fr die millionenfache Vernich- und Staat oder die fnanzielle Notwendigkeit von Ein- tung der europäischen Jdinnen und Juden befrdern.«517 sparungen motiviert sein. Bercksichtigt man darber Dieser Auffassung kann hier zugestimmt werden.518 Auch hinaus, dass im gegenwärtigen Deutschland ffentlich wenn in der Stellungnahme fr die Beteiligten politische nur Rechtsextremisten gegen Synagogen aktiv sind, ist der Konsequenzen gefordert wurden, kam es weder zu Frakti- Eindruck eines antisemitischen Hintergrunds nicht von onsausschlssen noch Mandatsverzichten. Annette Groth der Hand zu weisen. und Inge Hger hatten – daran sei hier erinnert – auch an der Gaza-Flottille teilgenommen.

513 »Konstruierte vorwrfe«. sahra wagenknecht ber antisemitismus in der linkspartei, Kritik an Israel, die Gaza-Flottille und Boykottaufrufe, in: Jdi- sche allgemeine, 6. 6. 2011, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/ id/10506 (eingesehen 4. 12. 2016). 514 Keine ablehnung des synagogen-neubaus/erika zemaitis (linke). stel- lungnahme zu ihrem abstimmungs-nein, in: herforder Kreisblatt/westfalen 516 Markus Decker, toilettenaffäre der linken eskaliert, in: Berliner zeitung, Blatt, 2. 7. 2010, http://www.hiergeblieben.de/pages/textanzeige.php?limit=50 16.11.2014, http://www.berliner-zeitung.de/-fuegelkaempfe-ruecktrittsfor- &order=datum&richtung=Desc&z=1&id=29840 (eingesehen 4.12.2016). Die derungen-in-der-347552 (eingesehen 4.12.2016); Miriam hollstein, Gregor Gysi herforder linke untersttzte aber noch wenige wochen zuvor die Jesidische fieht vor antizionisten auf toilette, in: Die welt, 11.11.2014, https://www.welt.de/ Gemeinde, eine kurdische religionsgemeinschaft, bei ihrem engagement zur er- politik/deutschland/article134236216/Gregor-Gysi-fieht-vor-antizionisten- richtung eines Kulturzentrums. Journalistische anfragen bezglich der Grnde auf-toilette.html (eingesehen 4. 12. 2016). fr das abstimmungsverhalten blieben unbeantwortet.vgl. Jan Jetter,wer so al- les gegen synagogen in Deutschland aktiv ist…, in: www.blog.zeit.de, 28.6.2010, 517 Ihr sprecht nicht fr uns! eine stellungnahme von Mitgliedern der http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2010/06/28/wer-so-alles-gegen- Partei Die linke (14.11.2014), www.ihrsprechtnichtfueruns.de (eingesehen synagogen-in-deutschland-aktiv-ist_3745 (eingesehen 4. 12. 2016). 4. 12. 2016). 515 stellungnahme Inge hger MdB zum abstimmungsverhalten der linken 518 Das wiesenthal-center setzte die abgeordneten auf die liste der antise- ratsfrau erika zemaitis, herford thema Finanzzuschsse synagoge herford miten 2014, sprach aber in der Begrndung nur davon, dass sie einer bedeuten- (28. 6. 2010), http://www.dielinke-ostwestfalen.de/nc/presse/aktuell/detail/ den Gruppe von »hardcore-Israelfeinden« angehrten, vgl. Marcel leubecher, browse/30/zurueck/aktuell-47/artikel/stellungnahme-inge-hoeger-mdb- linke-Politikerinnen auf liste der antisemiten 2014, in: Die welt, 29.12.2014, zum-abstimmungsverhalten-der-linken-ratsfrau-erika-zemaitis-herford-t-2/ https://www.welt.de/politik/ausland/article135851827/linke-Politikerinnen- (eingesehen 4. 12. 2016). auf-liste-der-antisemiten-2014.html (eingesehen 4. 12. 2016).

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7.1.5.1 zwischenfazit 7.1.6 Freie Demokratische Partei (FDP)

Bei den hier genannten Ereignissen handelt es sich um Auch fr die Freie Demokratische Partei (FDP)522 gilt, dass Fallbeispiele von problematischen Verhaltensweisen.519 es von ihrem politischen Selbstverständnis her eigentlich Insbesondere im linken Flgel der Partei besteht eine keine Anknpfungspunkte fr Antisemitismus gibt. Diese ausgeprägte Israelfeindlichkeit, die sich offziell gegen die Grundeinstellung motivierte bereits in der zweiten Hälfte Palästinenser-Politik des Staates richtet und suggeriert, des 19. Jahrhunderts einzelne Juden, sich in liberalen auf der Seite der Schwachen gegen die Starken zu stehen. Parteien politisch zu betätigen. Dies hatte die später von Israel gilt nach dieser Vorstellung als imperiale Macht. Antisemiten propagierte Rede vom »jdischen Libera- Dabei artikulieren die Akteure einen ausgeprägten Anti- lismus« zur Folge. Beim Liberalismus handelt es sich um imperialismus. Inwieweit dieser aber auch durch Antise- kein ideologisch homogenes Lager, entstand doch bereits mitismus motiviert ist, lässt sich nur bei genauer Betrach- frh ein Nationalliberalismus als dominante Strmung. tung des Einzelfalls sagen. Zumindest sehen die Akteure Dieser sah in der ethnischen Identität ein konstitutives offenbar keine Probleme, mit arabischen Islamisten und Merkmal des eigenen Selbstverständnisses, was eben Nationalisten antisemitischer Prägung zu kooperieren. auch Aversionen gegen die dann ideologisch als Fremde Dass es auch Antisemiten in der Partei gibt, wird von konstruierten deutschen Juden einschließen konnte. Diese hohen Funktionsträgern wie etwa nicht besondere Tradition des deutschen Liberalismus erklärt bestritten. Er äußerte: »Ja, es gibt Antisemiten bei uns – auch, warum die FDP nach der Grndung der Bundes- allerdings wie in jeder anderen Partei auch.«520 Dann stellt republik Deutschland nicht wie später politisch zwi- sich aber auch die Frage nach deren Anteil und Ausmaß. schen CDU/CSU und SPD stand. Vielmehr nahm sie eine Position rechts von den Unionsparteien ein. Ihr gehrten Eine Antwort kann mangels Datenmaterial nicht formu- in den 1950er- und 1960er-Jahren auch Personen an, die liert werden. Die ausgeprägte Israelfeindlichkeit einer in der Ära der NS-Diktatur mitunter hohe Funktionen im Minderheit in der Partei lässt sich indessen klar konstatie- System bekleidet hatten. Dies galt v.a. fr die Landesver- ren. Gleichwohl kann man nicht eindeutig sagen, ob diese bände in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Auch mehr durch Antiimperialismus, mehr durch Antisemitis- wenn die Annahme eines Unterwanderungsversuchs mus oder eine Mischung von beidem motiviert ist. In den (Stichwort »Naumann-Verschwrung«) mittlerweile durch Kreisen der Partei Die Linke besteht bezogen auf Israel ein die Forschung als bertrieben eingeschätzt wird,523 kann Negativ-Bild. Damit geht gleichzeitig als Positiv-Bild eine die Anziehungskraft auf und die Präsenz von ehemaligen Wahrnehmung seiner Feinde als emanzipatorische Kräfte Nationalsozialisten schwerlich bersehen werden. der Befreiung einher, ohne deren teilweise antisemitische, frauendiskriminierende, islamistische oder nationalisti- Eine Abkehr der FDP von der frhen nationalliberalen sche Ausrichtung zu problematisieren. Und schließlich Prägung erfolgte erst Ende der 1960er- und Anfang der fndet in dem solche Haltungen vertretenden Flgel der 1970er-Jahre. Daher kann auch nicht verwundern, dass Partei auch keine kritische Refexion darber statt, welche danach Anspielungen und Ressentiments gegen Juden Wirkung ihr israelfeindlicher Diskurs in der Öffentlich- nicht mehr auszumachen waren. Dies änderte sich keit entfalten kann. All dies ignoriert auch die Kritik von indessen im Kontext der »Mllemann-Affäre« (2002) Wolfgang Gehrcke, Mitglied im Parteivorstand, der 2015 um den nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden in einer Buchpublikation »Rufmord« behauptet hatte, Jrgen Mllemann, der zuvor in seinem Bundesland bei es gebe eine »Antisemitismus-Kampagne gegen links«. den Landtagswahlen 2000 die FDP zu einem fulminan- Er sprach hier gar von einem »politischen Kampfegriff ten Erfolg von fast zehn Prozent der Stimmen gefhrt gegen Antifaschisten und Linke«.521 hatte. Die Affäre entzndete sich an den Äußerungen des Grnen-Abgeordneten Jamal Karsli, der das Vorgehen der israelischen Armee mit NS-Methoden gleichsetzte und damit in die Kritik geriet. Einem mglichen Ausschluss aus der Fraktion kam er dann – mit Untersttzung von Mllemann – durch seinen Übertritt in die FDP-Fraktion zuvor. Dass seine israelfeindliche Bemerkung auch anti- 519 vgl. zur kritischen einschätzung der Positionen von salzborn/voigt u.a. semitisch motiviert war, machte Karsli dann kurze Zeit armin Pfahl-traughber, antisemitismus und Israelfeindlichkeit in der Partei »Die linke«. eine kritische Prfung einschlägiger vorwrfe, in: Deutschland archiv, 44 (2011) 3, s. 331–337. Peter Ulrich/alban werner, Ist »Die linke« an- 522 teresa nentwig/Franz walter, Die FDP und der latente antisemitismus tisemitisch? Über Grenzen der »Israelkritik« und ihre Kritiker, in: zeitschrift fr der Mitte, in: Ionescu/salzborn (hrsg.), antisemitismus in deutschen Parteien, Politik, 58 (2011) 2, s. 424–441. s. 195–243. 520 »Ja es gibt antisemiten bei uns« (Interview mit Bodo ramelow), in: Der 523 Manfred Jenke, verschwrung von rechts? ein Bericht ber den rechts- spiegel, 27.6.2011, s. 42–44, hier s. 42. radikalismus in Deutschland nach 1945, Berlin 1961, s. 155–199; Gnter trittel, 521 wolfgang Gehrcke, rufmord. Die antisemitismus-Kampagne gegen links, »Man kann ein Ideal nicht verraten…« werner naumann – ns-Ideologie und Kln 2015, s. 10. politische Praxis in der frhen Bundesrepublik, Gttingen 2013.

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später in einem Interview ausgerechnet mit der rechten Antisemitismus zu erhalten, wurden alle genannten Par- Wochenzeitung Junge Freiheit deutlich: Darin sprach er teien mit einem einheitlichen Schreiben vom 29. Februar vom großen Einfuss der »zionistischen Lobby«, die den 2016 befragt.527 Es wurden Antworten auf einen Katalog grßten Teil der Medienmacht in der Welt innehabe und mit zehn Fragen erbeten. Diese erfolgten von der CDU, jede auch noch so bedeutende Persnlichkeit kleinkrie- der CSU, der SPD, Bndnis 90/Die Grnen, der Partei Die ge.524 Damit hatte Karsli das klassische Stereotyp der Linke und der FDP. Keine Antworten erhielt der UEA von »jdischen Verschwrung« im Sinne des politischen der AfD. Dies ist besonders bedauerlich, weil die Partei mit Antisemitismus bedient, was aber in seiner neuen Partei einschlägigen Skandalen aufgefallen ist. Die AfD-Partei- weder zu Distanzierungen noch zu Kritik fhrte.525 Ganz fhrung hielt es jedoch nicht fr ntig, wie alle anderen im Gegenteil nutzte Mllemann fortan dieses Politikfeld Parteien, auf die folgenden Fragen eine Antwort zu geben. zur Proflierung und Provokation in der Öffentlichkeit. Er behauptete etwa, dass der damalige Ministerpräsident 1) Welche Maßnahmen werden ergriffen, um präventiv Ariel Scharon die Hauptschuld am Nahostkonfikt trge gegen Antisemitismus bzw. antisemitische Äußerun- und der deutsche Fernsehjournalist jdischen Glaubens gen vorzugehen? Wie engagiert sich die Partei gegen Michel Friedman dessen politischer Propagandist sei. jegliche Art von antisemitischer Haltung? Werden Mllemann machte die beiden darber hinaus fr den dabei auch die subtilen Formen antisemitischer Res- Anstieg des Antisemitismus selbst verantwortlich, wrde sentiments in den Blick genommen, also unterschwel- doch deren gehässige und intolerante Art dessen Wirkung lige Zuschreibungen, die sich jenseits von strafaren steigern. Damit wurde die antisemitische Argumentation Inhalten bewegen? bedient, nach der Juden durch ihr Verhalten selbst fr Judenfeindschaft verantwortlich seien. 2) Wenn ja, welche sind dies? Bei dieser Frage wrden wir Sie bitten, v.a. jene Maßnahmen zu nennen, die ber Das Konzept ging nicht auf: Die Partei erhielt bei der die Fortbildungen/das Engagement im Hinblick auf Bundestagswahl 2002 7,4 Prozent statt der angestreb- Bildungsarbeit zur nationalsozialistischen Judenver- ten 18 Prozent der Stimmen. Darber hinaus wurden folgung hinausgehen. Mllemanns Aktivitäten als Lobby-Vertreter fr arabi- sche Unternehmen wie Unregelmäßigkeiten bei seinen 3) Sehen Sie den Antisemitismus als Problem des politi- Wahlkampffnanzierungen bekannt. Die Bundestagsfrak- schen Extremismus oder auch als eines der politischen tion schloss Mllemann aus, er selbst verließ seine Partei. Mitte? Später beging Mllemann Suizid, was in antisemitischen Kreisen diverse Verschwrungsvorstellungen motivier- 4) Wie geht die Partei mit israelbezogenem Antisemitis- te.526 Mllemann spielte mit Provokationen und Tabu- mus um? Werden Grenzen zwischen legitimer Kritik brchen, die auf antisemitische Einstellungspotenziale und antisemitischen Vorurteilen diskutiert? in der Gesellschaft setzten. Seine Partei ließ ihn in dieser Rolle gewähren und reagierte erst nach dem Scheitern des 5) Knnen Sie Beispiele fr antisemitische Vorfälle nen- Projekts. Danach kam es nicht mehr zu Skandalen und nen, die innerhalb der Partei diskutiert wurden? Wie Vorkommnissen, was man als Ergebnis eines politischen wurde auf mgliche antisemitische Vorfälle reagiert? Lernprozesses deuten kann. 6) Wird Antisemitismus als gesondertes Phänomen im Kontext der Tätigkeiten der Partei bercksichtigt (innerhalb des Parteiprogramms, als Richtlinien fr 7.2 stellungnahmen der Parteien die Ausbildung/Fortbildung etc.), oder fällt er unter zum antisemitismus andere Bereiche (Rassismus, Rechtsextremismus)? Bitte beziehen Sie auch Aktivitäten Ihrer Parteistiftung mit ein. Um Informationen ber die Einstellungen der Parteien im Selbstverständnis und zu ihren Maßnahmen gegen 7) Welchen Stellenwert hat der Bericht zum Antisemi- tismus des ersten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus in Debatten zum Thema in der Partei. 524 armin Pfahl-traughber, Jamal Karsli und die »Junge Freiheit«: eine »an- tisemitisch-antifreimaurerische verschwrung«, in: tribne, 41 (2002) 163, Gibt es Diskussionen hinsichtlich der Umsetzung der s. 26 f. Empfehlungen? Wenn ja, welche konkreten Folgen hat 525 aufgrund der annäherung der FDP an antiisraelische und pro-palästinen- dies? Wenn nein, warum nicht? sische Positionen trat mit hildegard hamm-Brcher 2002 eine jahrzehntelang als repräsentantin des linksliberalen Flgels geltende Persnlichkeit aus der Partei aus. 526 wolfgang Benz, antisemitismus ohne antisemiten. Die affäre Mlle- 527 Die anschreiben wurden von Dr. Juliane wetzel als Koordinatorin fr den mann, in: Ders., was ist antisemitismus?, s. 146–154. Uea an die jeweiligen Parteivorsitzenden gerichtet.

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8) Existieren im Bereich Antisemitismus Netzwerke oder ein Expertengespräch zu »Populismus, Antisemitismus Kooperationen mit anderen Parteien, pädagogischen und Rechtsextremismus«. Ausfhrungen zur Einschät- Einrichtungen oder wissenschaftlichen Instituten? zung frherer Ereignisse in der CDU mit antisemitischem Kontext fnden sich in dem Schreiben nicht. 9) Bestehen Kontakte zu Parteiinitiativen im europä- ischen Ausland, die sich mit dem Thema Antisemi- tismus auseinandersetzen? Werden Debatten im 7.2.2 Christlich Soziale Union (CSU) Europäischen Parlament zum Thema rezipiert? Die CSU antwortete mit einem 13-seitigen Schreiben, das 10) Was wrden Sie aus Sicht Ihrer Partei zur nachhaltigen detailliert auf den Fragenkatalog einging. Als Grundposi- Bekämpfung des Antisemitismus empfehlen? tion heißt es: »Wir lassen nicht zu, dass unser Zusammen- leben durch antisemitische Hetze in Frage gestellt oder das Existenzrecht Israels geleugnet wird.«531 Mehrfach 7.2.1 Christlich Demokratische Union (CDU) wird betont, dass sich die Partei durch vielfältige ffent- liche Verlautbarungen entschlossen gegen Antisemitis- Die CDU antwortete mit einem sechsseitigen Schreiben, mus stelle und das Existenzrecht Israels als Staatsräson in dem aber nicht dezidiert auf die Fragen eingegangen Deutschlands ansehe. Es gebe auch einen engen Austausch wurde. Es enthielt eher allgemein gehaltene Bekundun- mit der jdischen Gemeinde, außerdem räume man »der gen. Darin fand sich folgende Grundposition: »Antisemi- Sicherheit der jdischen Mitbrgerinnen und Mitbrger tische Äußerungen und Übergriffe verurteilen wir aufs vor Terrorismus und Antisemitismus hchste Priorität«532 Schärfste.«528 Die näheren Ausfhrungen erwecken den ein. Bei den folgenden Ausfhrungen stellt die CSU auf Eindruck, als ob die CDU Antisemitismus nur fr ein die Bekämpfung des Rechtsextremismus ab, erwähnt auch Problem aus dem Extremismus hält. So ist die Rede vom häufger ihr Engagement im Kontext der Erinnerung an »Spektrum des politischen und religisen Extremismus« den Nationalsozialismus etwa hinsichtlich der KZ-Ge- bzw. davon, dass »die Verbreitung antisemitischer und denkstätten. antizionistischer Hetze […] Rechtsextremisten, Linksextre- misten und Islamisten«529 verbinde. Erscheinungsformen Es heißt außerdem, »dass latent antisemitische Einstel- der Judenfeindschaft außerhalb der extremistischen Berei- lungsmuster bei einem Teil der Bevlkerung und damit che kommen nicht explizit zur Sprache. Die Bezugspunkte auch in der politischen Mitte vorhanden sind. Das ist uns der antisemitischen Agitation sieht die CDU im Kontext ein Alarmsignal, dem wir ebenso entschieden entgegen- der Erinnerung an die Judenverfolgung und -vernichtung wirken wie dem Antisemitismus des politischen Extremis- im Nationalsozialismus, aber auch bei der Hetze gegen mus.«533 Genauere Aussagen darber, wie dies geschehen den Staat Israel. Andere Formen werden nicht gesondert soll, fnden sich in dem Schreiben nicht. Auf die Frage angesprochen. nach dem Umgang mit antisemitischen Vorfällen in der Partei werden zwei Beispiele erwähnt, die aber keinen Die CDU macht außerdem darauf aufmerksam, dass sie direkten Bezug zur eigentlichen Frage haben. Im ersten sich in Form einschlägiger Interviews, Pressemitteilungen, Fall geht es etwa um das Engagement eines CSU-MdB Statements klar gegen Judenfeindschaft positioniere. Man gegen die Preisverleihung einer Stadt, die einer »Br- wolle sich auch »noch langfristiger mit den Gefahren gerrechtsgruppe mit einer israelfeindlichen Grundhal- des Antisemitismus beschäftigen, nicht nur refexartig tung«534 zugutekommen sollte. Darber hinaus verweist immer dann, wenn ein schreckliches Ereignis die politisch die CSU auf eine Flle von Fortbildungsmaßnahmen ihrer Verantwortlichen unter Erwartungs- und Handlungs- Jugendorganisation wie der ihr nahestehenden Hanns druck setzt«.530 Wie dies genau geschehen soll, wird nicht Seidel Stiftung. Als Lehre aus dem ersten Antisemitismus- ausgefhrt. Die Partei listet Aussagen aus dem Regie- bericht betont man, dass angesichts der Flchtlingskrise rungsprogramm von CDU/CSU fr 2013 bis 2017 sowie der Antisemitismus im Islamismus besondere Aktualität aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD erhalte. von 2013 auf, erwähnt Fachgespräche zur »Bekämpfung des Rechtsextremismus«, einen Kongress zu »Jdisches Leben in Deutschland schtzen«, ein Gespräch mit dem Präsidium des Zentralrats der Juden in Deutschland und

531 hans Michel strepp, hauptgeschäftsfhrer der csU, schreiben vom 13.5.2016 an den Uea, anschreiben. 528 , Generalsekretär der cDU, schreiben vom 10.6.2016 an den Uea, s. 1. 532 ebenda, s. 2. 529 ebenda, s. 1 f. 533 ebenda, s. 6. 530 ebenda. 534 ebenda, s. 10.

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7.2.3 Sozialdemokratische Partei Thema und nicht nur auf den rechten Antisemitismus Deutschlands (SPD) begrenzt sehe«. Es wird hier auch dezidiert auf das »vermehrte Aufommen antisemitischer Verschwrungs- Die SPD antwortete mit einem 13-seitigen Schreiben, das bndnisse (›Montagsdemos‹)« sowie auf »antisemitische auf den Fragekatalog in einer allerdings von ihr selbst Sprechchre aus vermeintlichen pro-Palästinensischen gekrzten Form eingeht. Bereits im ersten Satz heißt es: [sic!] Demos während des Gaza-Kriegs 2014« hingewiesen. »Die SPD ist diejenige politische Kraft in Deutschland, die Darber hinaus heißt es, man sehe »den Antisemitismus sich programmatisch stets dem Antisemitismus entgegen als eine Gefahr, die sich durch alle gesellschaftlichen gestellt hat.« Ob damit ein Exklusivitätsanspruch erhoben Schichten, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Religi- werden soll, ergibt sich nicht eindeutig. Es heißt weiter, onsgemeinschaften zieht. Eine Reduzierung des Antise- die SPD sei »die einzige Partei, in der sich ein eigener mitismus auf eine Gefahr von Rechts [sic!] wrde diesen Arbeitskreis jdischen Themen widmet«.535 Als Maßnah- Ansatz relativieren.«538 Aus den zitierten Beschlssen geht men zur Prävention wird die Frderung von Projekten hervor, dass sich die Partei dem Antisemitismus ebenso gegen antizionistischen und sekundären Antisemitismus wie anderen Diskriminierungsformen entgegen stellt. genannt, die durch Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig erfolgten. Als gefrderte Projekte listete die SPD Innerhalb der Grnen gebe es eine Diskussion ber die u.a. solche mit Titeln wie »Wenn Anne ein rosa Pali-Tuch »Grenzen legitimer Kritik an israelischer Regierungspoli- trägt. Ein Lernlabor zu Antisemitismus und Jugendkultur tik und israelbezogenem Antisemitismus«. Dann heißt es: in der Migrationsgesellschaft« oder »Schlussstrich, Welt- »Grundsätzlich ist auch unsere Partei nicht frei von anti- bank, Israel – Methoden fr die Auseinandersetzung mit semitischen Stereotypen.« Als unrhmliches Beispiel wird modernen Formen des Antisemitismus« auf. Dabei geht als einziger explizit genannter Fall das Mitglied genannt, es auch explizit um subtile Formen der Judenfeindschaft. das sich im Kontext der Beschneidungsdebatte in einem Gleichwohl handelt es sich hier um Projekte der Bun- »Gedicht« beleidigend gegenber dem Judentum geäu- desregierung, nicht der Partei – wenngleich das entspre- ßert hatte. Er wurde vom Landesschiedsgericht verwarnt. chende Ressort von einer Sozialdemokratin gefhrt wird. Auf frhere Vorkommnisse wurde nicht eingegangen. Es Die SPD sehe, so heißt es weiter, »Antisemitismus sowohl folgt dann: »Deshalb ist uns die Auseinandersetzung mit als Problem der politischen Mitte als auch als Problem des allen Formen von Antisemitismus auch so wichtig, das politischen Extremismus«.536 Was sich daraus ergibt, wird heißt christlicher Antijudaismus, Antisemitismus unter aber nicht näher ausgefhrt. Bezogen auf Aussagen des Muslimen, Antisemitismus in der Linken, der Rechten antizionistischen Antisemitismus, erinnert das Schrei- und natrlich der Mitte.«539 Wie dies genau geschieht bzw. ben daran, dass zwei SPD-Bundesminister »antijdische geschehen soll, wird nicht ausgefhrt. Es wird aber betont, Parolen auf Demonstrationen gegen den israelischen dass eine Bekämpfung des Antisemitismus nur dann Gaza-Einsatz«537 kritisierten. Hinsichtlich antisemitischer erfolgreich sein knne, wenn dessen gesamtgesellschaftli- Vorfälle innerhalb der Partei erwähnt man als prominen- che Verbreitung erfasst werde. tes Beispiel mit seiner Rede davon, dass »alle Juden ein bestimmtes Gen« teilten. Ein Antrag auf Parteiausschluss sei von der Schiedskommission einge- 7.2.5 Alternative fr Deutschland (AfD) stellt worden. Darber hinaus verweist die SPD auf eine Flle von Konferenzen und Publikationen, die Antise- Da die AfD sich nicht zu ihren Auffassungen zum Anti- mitismus im Kontext des Rechtsextremismus durch die semitismus äußerte, kann hier nicht darauf eingegangen nahestehende Friedrich Ebert Stiftung thematisiert hätten. werden.

7.2.4 Bndnis 90/Die Grnen (Grne) 7.2.6 Die Linke

Die Grnen antworteten mit einem fnfseitigen Schrei- Die Partei Die Linke antwortete mit einem elfseitigen ben, das jeweils zusammengefasst auf die zehn Fragen Schreiben, das detailliert auf den Fragebogen einging. des Katalogs einging. Demnach habe man eine ständig Darin bekundet sie ihre Ablehnung des Antisemitismus. tagende Rechtsextremismus-Kommission, die »die Einschlägige Äußerungen und Handlungen mssten Bekämpfung des Antisemitismus« als »ein dauerhaftes aufgedeckt werden, wozu regelmäßige parlamentarische Anfragen der Partei zur Entwicklung antisemitischer

535 angelica Dinger, Parteivorstand der sPD, schreiben vom 12.5.2016 an den Uea, s. 1. 538 simone Peter, Bundesvorsitzende Bndnis 90/Die Grnen, schreiben 536 ebenda, s. 5. vom 2.5.2016 an den Uea, nicht paginiert (s. 1). 537 ebenda, s. 7. 539 ebenda, nicht paginiert (s. 2).

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Straftaten dienten. Die Linke nehme auch »subtilere politischen Extremen in die politische Mitte« vorstoßen. Formen des Antisemitismus in den Blick. Sie versteht den Demnach scheint die Partei das Thema gegenwärtig noch Antisemitismus als ein Kennzeichen der traditionellen eher in den »Extremen« angesiedelt zu sehen. Genauere extremen Rechten in all ihren Schattierungen, der aber Ausfhrungen dazu, etwa ob es nur die rechten oder in tief in der Mitte der Gesellschaft wurzelt und immer welchem Ausmaß auch andere Extreme seien, fnden sich wieder durch Repräsentanten der Mitte gesellschaftsfähig in der sehr kurzen Stellungnahme nicht. gemacht wird.«540 Ausdrucksformen der Judenfeindschaft aus linken oder migrantischen Kontexten werden dem- Hinsichtlich der Frage nach einem antizionistischen nach an dieser Stelle nicht thematisiert. Das Engagement bzw. israelbezogenen Antisemitismus heißt es, man der Partei erwachse aus der historischen Verantwortung diskutiere in der Partei ber die Grenzziehung zwischen Deutschlands. Es wird dann auf Beschlsse verwiesen, legitimer Kritik und antisemitischen Vorurteilen. Es sei wonach jede Form des Antisemitismus abgelehnt und die hier besondere Behutsamkeit vonnten: »Denn einer- Anerkennung des Staates Palästina angestrebt werde. seits muss im politischen Diskurs berechtigte Kritik auch gegenber Freunden und Partnern immer mglich sein. Die Stellungnahme bedauert, dass im ersten Antisemi- Andererseits darf diese Kritik aber auch nicht sekundärem tismus-Bericht nicht eine Rede von Gregor Gysi zum 60. Antisemitismus ungewollt Vorschub leisten.«543 Gemeint Jahrestag der Staatsgrndung Israels von 2008 Erwäh- war hier wohl antizionistischer Antisemitismus. Bezogen nung fand. Dabei handelte es sich aber nicht um eine auf innerparteiliche Vorgänge fndet sich noch folgende Positionierung zum Antisemitismus, sondern eben zum Ausfhrung zu einem frheren Ereignis: »Die beispielhaft Staat Israel. Als Beleg fr den innerparteilichen Umgang intensivste Auseinandersetzung der FDP mit Antisemitis- mit dem Thema wird darber hinaus auf einen zwischen mus – der Fall Mllemann im Jahr 2002 – zeigt gleichzeitig 2012 und 2016 erfolgten einzigen Parteiausschluss wegen den entschiedenen Umgang der Freien Demokraten mit antisemitischer Äußerungen gegenber der Politik Israels solchen Vorfällen: Ausschpfung der satzungsrechtlich verwiesen. Darber hinaus erwähnt die Antwort kritisch mglichen Parteiordnungsverfahren bis zum Partei- mehrere Fälle, in denen Funktions- und Mandatsträger ausschluss.«544 Indessen erfolgte seinerzeit eine solche ohne Absprache an bedenklichen Demonstrationen und Maßnahme keineswegs so konsequent und schnell wie Veranstaltungen teilnahmen, hätte dort doch eine Kritik hier angedeutet. an der israelischen Politik in antisemitische Äußerungen bergehen knnen. In der Bildungsarbeit der parteinahen Rosa Luxemburg Stiftung werde, so heißt es in einer Erklä- 7.2.8 Antworten im Gesamtvergleich rung zu deren Selbstverständnis, Antisemitismus »nicht als ›Anhängsel‹ der Neofaschismus-Debatten im Lande, In den Antworten distanzierte sich jede Partei eindeu- sondern als eigenständiger Schwerpunkt betrachtet«.541 tig vom Antisemitismus und rief zu Auflärung und Bekämpfung auf. Dies entspricht in der Bundesrepublik Deutschland dem ffentlichen anti-antisemitischen 7.2.7 Freie Demokratische Partei (FDP) Grundkonsens. Bezogen auf das Ausmaß des Antisemitis- mus äußerten sich die Parteien nicht näher, hinsichtlich Die FDP antwortete mit einem vierseitigen Schreiben, der Verortung unterschiedlich: Die CDU und FDP sahen das knapp auf die zehn Fragen einging. Man lehne alle ihn primär im Extremismus, die CSU deutete zurckhal- Diskriminierungsformen ab, msse diesen entschlossen tend auch eine Präsenz in der »Mitte« an. SPD, die Grnen entgegentreten und auch die »subtilen Formen von Res- und Die Linke betonten deutlicher einen Antisemitismus sentiments und sekundärem Antisemitismus« beachten.542 in der »Mitte«, wenngleich dazu jeweils keine näheren Was damit genau gemeint ist und wie dies geschehen soll, Ausfhrungen gemacht wurden. Die Partei Die Linke hob wird nicht ausgefhrt. Als Maßnahmen werden bei- die Präsenz des Antisemitismus in der »Mitte« und bei spielhaft die Teilnahme einer Landtagsabgeordneten am Rechtsextremisten hervor, thematisierte aber nicht näher Kippa-Flashmob gegen Antisemitismus, die Beteiligung die Frage eines »linken Antisemitismus«. Gleichwohl an einem fraktionsbergreifenden Entschließungsantrag benannte die Stellungnahme kritisch einige Ereignisse, in in einem Landtag und der Israelbesuch einer Landtags- denen Funktions- und Mandatsträger sich israelfeindlich fraktion erwähnt. Mit AfD und Pegida, so eine geäu- geäußert hatten, ohne aber hier dezidiert von Antisemitis- ßerte Befrchtung, knne der Antisemitismus »von den mus zu sprechen.

540 Matthias hhn, Bundesgeschäftsfhrer Die linke, schreiben vom 29.4.2016 an den Uea, s. 1. 541 ebenda, s. 9. 543 ebenda, s. 2. 542 nicola Beer, Generalsekretärin der FDP, schreiben vom 29.2.2016 an den Uea, s. 1. 544 ebenda.

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Da es im Berichtszeitraum 2011 bis 2016 kaum antisemi- ausgeprägt israelfeindlichen Grundpositionen. Auch wenn tische Vorkommnisse in den Parteien gab, hielten sie sich die Fhrung eine distanzierende Haltung einnimmt, fehlt mit Stellungnahmen dazu zurck. Die SPD, die Grnen es an eindeutigen Konsequenzen, was Folgen fr solche und Die Linke nannten jeweils einen Fall. Die FDP spielte Parteiangehrige einschließen wrde. Demnach besteht auf die länger zurckliegenden Ereignisse um die »Ml- fr Die Linke hier weiterhin ein Problem. lemann-Affäre« an, CDU und CSU gaben keine Vorfälle an. Die Bekämpfung des Antisemitismus wurde von allen Im historischen Rckblick lässt sich bei den Parteien Parteien meist im Kontext der Bekämpfung des Rechtsex- eine bedenkliche Instrumentalisierung von Skandalen tremismus und der Erinnerung an den Nationalsozialis- konstatieren: Antisemitische Ereignisse in den eigenen mus gesehen. Zwar schien es ein Bewusstsein fr mgliche Reihen wurden meist von den Medien, nicht aber von Par- judenfeindliche Versatzstcke bei der Kommentierung teimitgliedern thematisiert. Demnach bestehen durchaus israelischer Politik zu geben, indessen wurde darauf hin- Optimierungspotenziale fr interne Sensibilisierungen, sichtlich potenzieller Maßnahmen nicht näher eingegan- wozu z.B. Fortbildungsmaßnahmen dienen knnten. gen. Gleiches gilt fr andere Formen des Antisemitismus. Die von der SPD genannten Projekte wurden nur durch Bezglich der Maßnahmen gegen Antisemitismus spre- ein SPD-gefhrtes Ministerium gefrdert, erfolgten aber chen alle Parteien von mehr Engagement. Dabei konzent- nicht aus der Partei selbst heraus. Auch die anderen Par- riert sich deren Aufmerksamkeit auf politische Bildung,545 teien entwickelten kaum Engagement gegen Antisemitis- wobei die Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung mus außerhalb des Holocaust-Kontextes. de Juden im Zweiten Weltkrieg im Zentrum steht. Gele- gentlich wurden auch andere und neuere Formen der Judenfeindschaft erwähnt,546 was insbesondere fr die 7.2.9 Fazit Grnen gilt. Indessen fnden sich kaum Ausfhrungen darber, wie man diesem gegenwärtigen Antisemitismus In der Gesamtschau lässt sich zunächst sagen, dass in den entgegentreten will. Die Antworten auf die Fragen des Parteien eine hohe Sensibilität gegenber dem Thema UEA enthalten daher zwar eine Aufistung von allgemei- besteht. Inwieweit dies Ergebnis einer inneren Einsicht nen Bekundungen, die aber nicht mit konkreten Modellen oder Rcksichtnahme auf ffentliche Stimmungen verbunden sind. Dies gilt auch fr die Frage nach der ist, kann nicht gesagt werden. Es gab aber auch keine Grenzziehung bei der Kritik an Israel, die sich zwischen Ereignisse mehr wie die »Hohmann«- oder »Mlle- menschenrechtlichen Einwänden und judenfeindlichen mann«-Skandale. Im erstgenannten Fall hatte die CDU Ressentiments bewegen kann. Die FDP, die Grnen und zwar zunächst noch zurckhaltend, dann aber doch Die Linke sprechen das Thema an. Allerdings gibt es dazu konsequent reagiert. Dies geschah auch gegen innerpar- keine näheren Ausfhrungen, ist doch nur vom kontinu- teilichen Widerstand. Dieser Flgel in der Partei hat in den ierlichen Diskussionsprozess die Rede. letzten Jahren immer mehr an Relevanz eingebßt. Dies minimiert die Mglichkeit derartiger Vorkommnisse in Bei allen kritischen Anmerkungen zu den Parteien kann der Zukunft. Die FDP hatte seinerzeit nicht so eindeutig deren grundsätzliche Ablehnung des Antisemitismus kon- und schnell auf das Phänomen »Mllemann« reagiert, wie statiert werden. Bezglich der AfD lässt sich eine solche sie es in der Antwort auf das Schreiben des UEA nahelegte. eindeutige Bewertung nicht vornehmen, wenngleich sich Dennoch stand das Ende der Affäre fr eine Lehre, die deren Fhrung auf Nachfrage von der Judenfeindschaft schon aus rein strategischen Grnden die Sensibilität fr distanziert. Zunächst hat der UEA zur Kenntnis nehmen das Thema verstärken drfte. mssen, dass die AfD die einzige Partei war, die auf den Fragenkatalog keine Stellungnahme vorlegte. Da es aber In ihrer Antwort hatte die SPD nahegelegt, in besonderer gerade dort mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu ein- Art und Weise schon immer gegen Judenfeindlichkeit schlägigen Skandalen kam, hätte sich die Fhrung ange- gewesen zu sein. In der historischen Gesamtschau kann sichts der vielen Fälle im Laufe ihrer erst kurzen Existenz dem bis in die Gegenwart hinein durchaus zugestimmt positionieren knnen. Es handele sich um werden. Bei den Grnen haben die israelfeindlichen Strmungen im Laufe ihrer Entwicklung an Relevanz verloren. Dadurch fnden sich kaum noch Bezugspunkte fr Kommentare zum Nahostkonfikt mit einschlägiger 545 Um dabei den eindruck von einem hohen engagement zu vermitteln, listeten die Parteien auch seminare zu anderen themen auf. Dazu gehrten antisemitischer Umdeutungsmglichkeit. Diesbezglich arbeitskreise zum politischen extremismus oder Besuche in israelischen Ins- verhält es sich bei der Partei Die Linke anders: Einerseits ist titutionen, was nicht notwendigerweise fr eine auseinandersetzung mit der sie im Bereich von Anfragen hinsichtlich von Ereignissen Judenfeindschaft stehen muss. mit Antisemitismus-Bezug durch einzelne Abgeordnete 546 Dies war bei den antworten auf die Fragen an die Parteien im ersten ex- pertenbericht nicht der Fall. eine solche einsicht ist begrßenswert, erklärt sich wie Petra Pau sehr engagiert, andererseits tummeln sich aber auch mglicherweise durch die dezidierte ansprache dazu im Fragenkata- in einem Flgel der Partei immer noch Mitglieder mit log.

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Einzelfälle, lauteten häufg ffentliche Statements dazu. werden, dass es in keiner anderen Partei derart häufg und Beim Blick auf die Parteien kann indessen konstatiert regelmäßig solche Vorkommnisse gab.

Handlungsempfehlungen – Antisemitismus und Parteien Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … allen Parteien regelmäßige Selbst- und Fremdevaluationen zu Aktivitäten der Parteien gegen Antisemitismus sowie zu Antisemitismus in den eigenen Reihen. Die demokratischen Parteien sollten sich (1) regelmäßig mit der Frage beschäftigen, welche aktivitäten sie gegen aktuellen antisemitismus unternehmen und inwieweit hier u.a. die empfehlungen des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus Bercksichtigung fnden und (2) sich von sich aus und selbstkritisch mit mglichen antisemitischen tendenzen in den eigenen reihen beschäftigen und derartige vorkommnisse nicht nur offensiv bei anderen konkurrie- renden Parteien strategisch instrumentalisieren.

º … die Grndung einer fraktionsbergreifenden Parlamentariergruppe im Bundestag und den Landtagen, die sich mit Fragen zum Antisemitismus beschäftigt und dazu in regelmäßigen Abständen einen Bericht verffentlicht.

º … der Partei Die Linke, die bei manchen Mitgliedern bestehenden israelfeindlichen Tendenzen parteiintern kritisch zu beobachten und auf antisemitische Tendenzen hin zu berprfen.

º … der Partei Alternative fr Deutschland einen klaren Trennungsstrich zu sich antisemitisch äußernden Abgeordne- ten und Tendenzen in der Partei zu ziehen, sofern sie sich als anti-antisemitisch und demokratisch verstehen will.

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8 Antisemitismus in politischen Bewegungen und Organisationen

Im Bericht des ersten UEA stand als einzige politische bzw. zeigen. Auch wenn hier das propagandistische Element soziale Bewegung das globalisierungskritische Netzwerk in der Eigenwahrnehmung unverkennbar ist, kann die Attac und die Frage nach dessen Nähe zu antisemitischen Bewegungsfrmigkeit des Rechtsextremismus dennoch Einstellungen im Fokus der Analyse. Folgt man den nicht ignoriert werden. Einige Sozialwissenschaftler tagespolitischen Entwicklungen seit der letzten Berichter- formulierten ihren Unmut: Angesichts der propagierten stellung hat Attac im ffentlichen Diskurs mittlerweile Fremdenfeindlichkeit knne man nicht von einer sozialen erheblich an Bedeutung verloren, und andere Zusam- Bewegung sprechen. Dabei ignorierten die Kritiker,549 dass menschlsse, vornehmlich mit rechtspopulistischen die Bezeichnung rechtsextremistischer Gruppierungen Ausrichtungen, haben sich entwickelt. Hier stellt sich als »soziale Bewegung« sich an klassischen Defnitionen die Frage, inwiefern diese neueren Gruppierungen sich sozialer Bewegungen orientiert: Eine soziale Bewegung antisemitischer Argumentations- und Agitationsmuster ist demnach »ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch bedienen bzw. anschlussfähig fr Antisemitismus sind. Zu kollektive Identität abgesttztes Handlungssystem mobi- nennen sind hier insbesondere die »Montagsmahnwa- lisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, chen«, Pegida sowie das Phänomen der »Reichsbrger«. welche sozialen Wandel mittels ffentlicher Proteste her- Aber auch der Antisemitismus in rechtsextremistischen beifhren, verhindern oder rckgängig machen wollen«.550 Bewegungen ebenso wie in salafstischen Gruppen, die Die Defnition stellt auf Handlungs- und Organisations- in Deutschland agieren, sollen eingehender betrachtet formen ab. Es geht nicht – wie etwa bei Parteien – um werden.547 feste Strukturen, solche knnen aber ein Bestandteil des Phänomens sein. Bewegungen bestehen vielmehr aus losen Zusammenschlssen, die angesichts von Gemein- samkeiten in Einstellungen, Forderungen und Stimmun- 8.1 antisemitismus in der gen kooperieren. Die dabei aufommende Ablehnung, Dis- rechtsextremistischen Bewegung tanz oder Kritik gegenber etablierter Politik muss nicht zwangsläufg »fortschrittlich« oder »links« sein.

8.1.1 Rechtsextremismus als soziale Bewegung Betrachtet man rechtsextremistische Akteure und deren Interaktion, so wird die Angemessenheit und auch der Beim Blick auf die Entwicklung des Rechtsextremismus Erkenntniswert der Rede vom »Rechtsextremismus als seit den 1990er-Jahren fällt auf, dass dieser verstärkt den sozialer Bewegung«551 deutlich. Darunter zu fassen sind Charakter einer Bewegung annimmt. Diese Einsicht fhrte die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) mit bereits frh dazu, dass in der Forschung vom »Rechtsext- 6650 Mitglieder, ca. 5200 Neonazis, die meist in »Kame- remismus als sozialer Bewegung« gesprochen wurde548 – radschaften« organisiert sind, und subkulturell geprägte eine Annahme, die durchaus auch der Eigenwahrneh- Rechtsextremisten mit ca. 8200 Personen.552 Die Verbin- mung der Rechtsextremen entsprach, sah man sich doch dung dieser verschiedenen Gruppen lässt sich nicht mehr als Nationale Außerparlamentarische Opposition (NAPO). allein durch Parteien- und Wahlforschung oder Gewalt- In Anlehnung an die linke Außerparlamentarische Oppo- und Jugendforschung untersuchen. Gerade angesichts der sition (APO) Ende der 1960er-Jahre wollten die rechtsex- tremistischen Akteure eine ähnlich ffentliche Präsenz 549 vgl. u.a. christoph Butterwegge, rechtsextremismus als neue soziale Be- wegung?, in: Forschungsjournal neue soziale Bewegungen, 6 (1993) 2, s. 17– 24; thomas Ohlemacher, schmerzhafte episoden: wider die rede von einer 547 Keine Betrachtung fndet hier aufgrund der geringen relevanz fr den rechten Bewegung im wiedervereinigten Deutschland, in: Forschungsjournal deutschsprachigen raum die BDs-Bewegung (BDs steht fr die englichen neue soziale Bewegungen, 7 (1994) 4, s. 16–25. Begriffe »Boycott«, »Divestment« und »sanctions«), die sich gezielt mit einem 550 Dieter rucht, soziale Bewegungen. ein historisch-systematischer Grund- waren-Boykott gegen Israel richtet und sich dabei z.t. einer sprache bedient, riss, Frankfurt a.M. 1985, s. 338, vgl. zur einordnung in die Forschung auch Boris die die Grenze der Kritik an Israel als staat berschreitet und antisemitische holzer, Politische soziologie, Baden-Baden 2015, s. 115–131. stereotype nutzt. Die BDs-Bewegung spielt international eine wichtige rolle. Dabei muss jedoch unterschieden werden zwischen (1) dem Boykott von waren 551 werner Bergmann/rainer erb, eine soziale Bewegung von rechts? ent- aus den siedlungsgebieten und (2) einem Boykott ganz Israels, der nicht nur wicklung und vernetzung einer rechten szene in den neuen Bundesländern, waren umfasst, sondern auch Personen mit einschließt. in: Forschungsjournal neue soziale Bewegungen, 7 (1994) 2, s. 80-98; armin Pfahl-traughber, noch einmal: rechtsextremismus als neue soziale Bewe- 548 hans-Gerd Jaschke, Formiert sich eine neue soziale Bewegung von gung?, in: Forschungsjournal neue soziale Bewegungen, 16 (2003) 4, s. 43–54. rechts? Folgen der ethnisierung sozialer Konfikte, in: Blätter fr deutsche und internationale Politik, 12 (1992), s. 1437–1447; Ders., rechtsradikalismus als 552 Die angaben folgen: Bundesministerium des Innern (hrsg.), verfassungs- soziale Bewegung. was heißt das?, in: vorgänge, (1993) 122, s. 105–116. schutzbericht 2015, Berlin 2016, s. 45.

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Aufsung starrer Grenzen zwischen den Organisationen, 8.1.3 Antisemitismus in der dem Bedeutungsanstieg ffentlicher Demonstrationen, Nationaldemokratischen Partei dem Bemhen um alltagskulturelle Verankerung, der Deutschlands (NPD) Entwicklung einer rechtsextremistischen »Gegen-Kultur«, der Herausbildung moderner Netzwerkstrukturen oder Die NPD existiert seit 1964 und ist mit 5200 Mitgliedern der Relevanz subkultureller Prägungen wird Bewegungs- die grßte Partei im gegenwärtigen Rechtsextremismus.554 forschung als notwendiges Untersuchungsmittel offen- Ab Mitte der 1990er-Jahre entwickelte sie sich von einer kundig. »deutsch-nationalistischen« hin zu einer »vlkisch-sozia- listischen« Orientierung. Damit einher ging eine Ausrich- tung an Elementen der nationalsozialistischen Ideologie 8.1.2 Antisemitismus in der Ideologie und auch ein Anstieg antisemitischer Bekundungen. des Rechtsextremismus Dennoch musste die NPD aus strategischen Grnden eine gewisse Zurckhaltung ben, denn es bestand immer die »Rechtsextremismus« kann als eine Bezeichnung fr poli- Mglichkeit eines Parteiverbots oder die Verurteilung tische Bestrebungen defniert werden, die sich zum einen wegen Volksverhetzung. gegen die Normen und Regeln einer modernen Demokra- tie und offenen Gesellschaft wenden und zum anderen Dies erklärt auch, warum in der vom »Amt fr Öffentlich- dabei die ethnische Identität zum hauptsächlichen keitsarbeit« der NPD herausgegebenen Broschre »Hand- Kriterium des politischen Selbstverständnisses machen. reichung fr die ffentliche Auseinandersetzung« mit Letzteres artikuliert sich meist in einer nationalistischen dem Titel »Argumente fr Kandidaten & Funktionsträger« bzw. rassistischen Grundposition. Sie steht fr die Auf- Veränderungen hinsichtlich eines eindeutigen Bezugs auf fassung von einer Ungleichwertigkeit von Menschen: Aus sozialen Antisemitismus vorgenommen wurden. Zunächst angeblichen oder tatsächlichen ethnischen Unterschieden hatte es geheißen: »Es handelt sich bei der Globalisierung leitet man einerseits die Hherwertigkeit der Eigengruppe um das planetarische Ausgreifen der kapitalistischen (»Arier«, »Deutsche«) und andererseits die Minderwertig- Wirtschaftsweise unter der Fhrung des Großen Geldes. keit der Fremdgruppe (»Ausländer«, »Juden«) ab. Dieses hat, obwohl seinem Wesen nach jdisch-noma- disch und ortlos, seinen politisch-militärisch beschirmten Daher spielt auch der nationalistische und rassistische Standort v.a. an der Ostkste der USA.«555 In einer Neuaus- Antisemitismus (→ Defnition) eine besondere Rolle. Er gabe lautete der zweite Satz dann nur noch: »Dieses hat, gehrt zu den zentralen Bestandteilen der Ideologie des obwohl seinem Wesen nach nomadisch und ortlos, seinen Rechtsextremismus. Ganz allgemein lässt sich sogar sagen, politisch-militärisch beschirmten Standort v.a. an der Ost- dass das organisatorisch, programmatisch und strategisch kste der USA.«556 Die eindeutige Formulierung »jdisch« keineswegs homogene politische Lager hier ber eine fndet sich hier nicht mehr, jedoch wird weiterhin der Gemeinsamkeit verfgt. Die Ideologie des gegenwärtigen Code »Ostkste« genutzt, der als Chiffre fr »jdische Rechtsextremismus ist von diesen ideengeschichtlichen Bankiers« an der Wall Street steht. Traditionen nicht nur bezglich der Judenfeindschaft geprägt. Darber hinaus gibt es noch andere Bezge, die Eine andere Formulierung, die dem »Schuldabwehr«- bzw. mit der Ideologieform des sekundären Antisemitismus sekundären Antisemitismus entspricht, lautet: »Antisemi- und der Zeit nach dem Nationalsozialismus zusammen- tismus meint wohl die Kritik an Juden? Selbstverständlich hängen. Mit der Erinnerung an den Holocaust verbindet darf man auch Juden kritisieren. Die von jdischer Seite sich fr Rechtsextremisten eine moralische Last, die zur seit mehr als 65 Jahren penetrant betriebene Schuldan- Aufrechterhaltung ihrer politischen Wertvorstellun- klage und die ewige jdische Opfertmelei muss sich kein gen berwunden werden muss. Der damit verbundene Deutscher gefallen lassen. Die psychologische Kriegfh- »Schuldabwehr-Antisemitismus«553 wirft den Juden vor, rung jdischer Machtgruppen gegen unser Volk muss ein sie nutzten die Erinnerung an den Vlkermord fr ihre Ende haben.«557 Im letzten Satz zeigt sich darber hinaus eigenen Vorteile aus. Durch dieses Argumentationsmus- ein politischer Antisemitismus. Derart deutliche und ter wird eine Täter-Opfer-Umkehr vorgenommen: Die Mahnung der Nachkommen und Überlebenden des Mas- 554 Marc Brandstetter, Die nPD unter Udo voigt. Organisation, Ideologie, senmordes wird als Akt der Aggression gegen Deutsche strategie, Baden-Baden 2013; armin Pfahl-traughber, Der »zweite Frhling« gesehen. der nPD. entwicklung, Ideologie, Organisation und strategie einer rechtsext- remistischen Partei, sankt augustin 2008. 555 nPD-Parteivorstand/amt fr Öffentlichkeitsarbeit (hrsg.), argumente fr Kandidaten & Funktionsträger. eine handreichung fr die ffentliche ausei- nandersetzung, 2. aufage, Berlin 2006, s. 19. 553 werner Bergmann, »nicht immer als tätervolk dastehen«. zum Problem 556 nPD-Parteivorstand (hrsg.), wortgewandt: argumente fr Mandats- und des schuldabwehr-antisemitismus in Deutschland, in: Dirk ansorge (hrsg.), an- Funktionsträger, 2. aufage, Berlin 2012, s. 31. tisemitismus in europa und in der arabischen welt, Paderborn/Frankfurt a.M. 2006, s. 81–106. 557 ebenda, s. 16 f.

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scharfe Formulierungen fndet man gleichwohl seltener in Auch die andere neonazistische Klein-Partei Die Rechte offziellen Stellungnahmen. Sie machen aber die eigent- äußerte sich im gleichen Kontext, wobei die feindseligen liche Grundposition in der NPD deutlich, die ansonsten Äußerungen zu Israel mit antiwestlichen Stereotypen mehr durch Andeutungen, Insinuationen und Suggestio- verknpft wurden. Als Alleinschuldiger galt der jdische nen vermittelt wird. Dies gilt insbesondere fr die Artikel Staat, dessen Legitimität mit der Rede von einem Kon- in der Deutschen Stimme, dem monatlich erscheinenden strukt negiert wurde: »Die Ursache fr die anhaltenden Parteiorgan. Dort fnden sich mit Anspielungen, Codes, Flchtlingsstrme aus dem Nahen Osten liegt u.a. in Insinuationen oder Symbolen regelmäßig derartige Stel- der Apartheidspolitik des israelischen Staates, der die len. palästinensische Bevlkerung entrechtet, terrorisiert und systematisch benachteiligt. Zur Seite stehen dabei willige Untersttzer, ganz gleich, ob sie in Washington, Paris oder 8.1.4 Antisemitismus in der Neonazi-Szene Berlin sitzen – sie schtzen jedes Kriegsverbrechen und sichern das Existenzrecht eines Konstrukts, welches nach Deutlicher artikuliert sich der Antisemitismus in der 1948 auf dem Boden der Palästinenser geschaffen wurde. Neonazi-Szene,558 wofr es handlungsbezogene wie […] Der Protest gegen die Kriegspolitik Israels ist deshalb ideologische Grnde gibt. Die Neonazi-Szene bekennt sich untrennbar mit dem Widerstand gegen den westlichen offen zum historischen Nationalsozialismus. Da dort der Imperialismus verbunden.«561 Die Autoren beschwren Judenfeindschaft ein herausragender Stellenwert zukam, gar eine gemeinsame Frontstellung mit islamistischen gilt dies fr dessen gegenwärtige Protagonisten in gleicher und nationalistischen Israelfeinden gegen die westlichen Weise. Einschränkungen erklären sich eher strategisch, Staaten. um Verbotsmaßnahmen zu vermeiden. Gleichwohl geht es der Neonazi-Szene nicht wie der NPD um ein direktes Hineinwirken in die Mehrheitsgesellschaft. Entsprechend 8.1.5 Antisemitismus in der drckt sich ihre offene Ablehnung der geltenden Gesetze rechtsextremistischen Musik auch in der Praxis deutlicher aus. Ein wichtiges Mobilisierungsmedium der Szene ist die Dabei werden auch aktuelle Fragen und Themen aufge- rechtsextremistische Musik,562 die allerdings hinsichtlich griffen, wozu z.B. die Kommentierung des Nahostkon- ihrer verschiedenen Stilrichtungen und Verbreitungsfor- fikts gehrt. Dort positioniert sich die Neonazi-Szene men differenziert behandelt werden muss. Nahezu jede israelfeindlich und mitunter auch pro-palästinensisch. Form populärer Musik bietet Mglichkeiten, mit rechts- So kursierte während des erneuten Auffammens des extremistischen Texten unterlegt zu werden. Einschlägige Gaza-Konfikts im Sommer 2014 ein Auflebermotiv mit Liedermacher oder Rockbands, auch Hip-Hop-Musiker der Aufschrift »Israel war gestern. Lang lebe Palästina!«, und Techno-DJs sorgen fr ihre Verbreitung. Alle bedienen wobei deutschnationalistische und palästinensische Sym- sich gleichermaßen antisemitischer Inhalte, sie arbei- bole miteinander verbunden wurden.559 Die auch unter ten mit Anspielungen, aber auch mit strafrechtlich im Demokraten kursierende Kritik am israelischen Vorgehen Sinne von Volksverhetzung relevanten Hassbildern oder wurde von den Neonazis zur judenfeindlichen Propag- Vernichtungsforderungen. Die Verbreitung solcher Inhalte anda umgedeutet. Die rechtsextremistische Kleinpartei ist offen nicht mglich, weil Herstellung und Vertrieb Der III. Weg bemerkte: Der Zentralrat der Juden in Deutsch- illegal sind. Das heißt aber auch, dass alle strategischen land habe einen »kläglichen Versuch« unternommen, Rcksichtnahmen wegfallen knnen. Das wiederum hat »den vlkermordenden zionistischen Vernichtungsfeldzug zur Folge, dass in hohem Maß zu Gewalt gegen Juden gegen das palästinensische Volk ffentlich zu verteidigen aufgerufen wird. und mit einer losgetretenen Antisemitismusdebatte vom kindermordenden Raubstaatsgeschwr im Nahen Osten Es gibt Bemhungen, den klassischen Antisemitismus mit abzulenken«.560 aktuellen Ereignissen textlich zu verbinden. Dies macht folgender Auszug aus dem Lied »Palästina« der Band

558 vgl. u. a. andrea rpke/andreas speit (hrsg.), Braune Kameradschaften. »Jungvolk« deutlich: »Parasitär, nur das Unheil gebracht. Die neuen netzwerke der militanten neonazis, Berlin 2004; Martin thein, wett- lauf mit dem zeitgeist. Der neonazismus im wandel. eine Feldstudie, Gttingen 2009. 561 Ohne autor,Dortmund: erneute Demonstration gegen israelischen staats- 559 Bildmotiv »Israel war gestern. lang lebe Palästina!«, http://www.patrio- terrorismus, in: Dortmund echo, 20.7.2014, www.dortmunderecho.org. ht- ten-propaganda.net/000005/solidaritat-mit-palastina/ (eingesehen 6. 12. 2016). tp://www.dortmundecho.org/2014/07/dortmund-erneute-demonstration- gegen-israelischen-staatsterrorismus/ (6. 12. 2016). 560 Ohne autor, Debatte ber antisemitismus frdert antisemitismus (30.6.2014), in: www.der-dritte-weg.info. http://www.der-dritte-weg.info/ 562 vgl. u.a. christian Dornbuch/Jan raabe (hrsg.), rechtsrock. Bestandsauf- index.php/menue/1/thema/69/id/4578/anzeigemonat/07/anzeigejahr/2014/ nahme und Gegenstrategien, Mnster 2006; rainer erb, »er ist kein Mensch, er infotext/Debatte_ueber_antisemitismus_foerdert_antisemitismus/akat/1/ ist ein Jud«. antisemitismus im rechtsrock, in: Dieter Baacke/Klaus Farin/Jr- such_0/antisemitismus/Politik_Gesellschaft_und_wirtschaft.html (eingesehen gen lauffer (hrsg.), rock von rechts II. Milieus. hintergrnde und Materialien, 6. 12. 2016). Bielefeld 1999, s. 141–159.

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Nur Schlechtes, Bses, Abart seit ew’ger Zeit. […]. Erst wenn und verffentlichte Musikaufnahmen mit einschlägigen all das Schlechte schwindet. Knnen wir unseren Frieden Texten.567 fnden. […] Erst wenn unsere edle Welt ganz befreit von seinem Geld.«563 Ein Erlsungsantisemitismus als Utopie Auf dem Album »2033« fnden sich mehrere Lieder mit geht hier mit einer Kombination der sozialen und antizi- antisemitischen Inhalten, häufg verbunden mit einer onistischen Ideologieform der Judenfeindschaft einher. deutlichen Gewaltkomponente. So heißt es in »Abteilung Auch rechtsextremistische Liedermacher äußern sich in Sturm«: »Und ihr kommt alle auf die Liste! Leider ist ähnlicher Weise. »Teja« singt in dem Lied »Rachezeit«: das Ding nicht wesensgleich, mit dem Ding von Schind- »Sind Judas Knste nur Spott? Gebt kein Pardon. Knnt ler, sondern das himmlische Gegenteil.«568 Da mit dem ihr das Schwert nicht heben. So wrgt sie ohne Scheu.« »Ding von Schindler« die Liste des Judenretters Oskar Und in einem weiteren Lied heißt es mit appellierendem Schindler gemeint ist, bedeutet hier das Gegenteil eine Unterton: »Keine Zweifel werden dich noch stren. Bei Androhung der Ttung von Juden. Darber hinaus heißt dem Aufstand bist du dabei. Wir zerschlagen die Juden- es mit Anklängen an den politischen, sozialen, aber auch tyrannei.«564 rassistischen Antisemitismus in »Wahrheit«: »Hochfnanz, immer dran, ganz dreckige Spielweise! Globale Konzerne Antisemitismus wird auch mit anderen Diskriminierungs- wollen immer dick im Spiel bleiben. Als ob du’s wsstest, formen verbunden. Dafr steht der folgende Auszug aus da sitzen ein paar sehr nette Herren mit Krawatten in »Skinheadkraft« der Band »Volkstroi«: »Parasiten wisst den Banken an der Ostkste. Ellenlange Nasen, schwarze ihr, wer das ist. Das ist der Jude und der Kommunist. […] Haare und ein Auge, das dich immer beobachtet, auch Doch wir meinen jetzt ist Schluss damit. Wenn wir alle wenn du gerade Pause machst.«569 Die Formulierungen dagegen stehen. Werden sie bald untergehen. […] Trken zu den schwarzen Haaren und langen Nasen stehen fr dealen, die Neger klauen. Doch wir werden ihnen die deutliche Anlehnungen an den NS-Antisemitismus im Fresse einhauen.«565 Die Gewaltandrohung geht hier mit rassistischen Sinne. der Pauschalisierung einer Gruppe einher ebenso wie im Auszug aus »Der Jud« der Band »Schwarze Division Sach- Dass es sich bei diesen Ausfhrungen nicht um »Ausrut- sen«. Dort heißt es: »Doch wer ist bald das schwächste scher« handelte, machte das danach erschienene Album Glied. Ganz klar, es ist der Semit. Wer wird sein Handeln »Reconquista Mixtape Vol. 1« deutlich. So heißt es in bald bereuen. Jedes verdammte Judenschwein.«566 »Heute noch«: »Sie waren immer ganz klein neben Dir [Hitler, Anm. d. Verf.], ganz winzig. Diese verschlagenen Exkurs: Antisemitismus in rechtsextremistischer Rap-Musik Itzigs nahmen sich ganz wichtig! So lang, bis Du da warst, dann war Zugabfahrt!«570 Der Sänger spielt darauf an, dass Rechtsextremistische Rapper sprechen insbesondere die »Itzigs«, also die Juden mit dem Zug in die Vernich- junge Menschen an. Der bekannteste unter ihnen heißt tungslager deportiert wurden. Fritsch lässt sich zudem Julian Fritsch und ist unter dem Namen »MaKss Damage« herabwrdigend ber die jdische Religion aus, fnden bekannt geworden. Seine ersten Aufnahmen zeigen, dass sich doch in »Gotenknige« folgende Aufforderungen: Fritsch zunächst linksextremistische Einstellungen hatte. »Benutze Deine Kippa als Frisbee, betret’ die Synagoge in Dafr sprechen Lobpreisungen des Diktators Stalin sowie Flip-Flops wie‘n Gipsy! Werf‘ den Rabbi ab mit NicNac‘s – der RAF-Terroristen. Er geriet aber angesichts seiner er frisst sie!«571 Angesichts der Deutlichkeit von Antise- frauenfeindlichen und gewaltverherrlichenden Aussa- mitismus und Gewaltaufforderung verwundert die freie gen schnell in die Kritik des linksextremistischen Lagers. Verkaufsmglichkeit. Später wandte sich Fritsch dann dem Neonazismus zu

567 vgl. u.a.antonia Baum,vergewaltigung mit ansage. rappende neo-nazis, in: Faz vom 19.5.2015, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/rappende- neo-nazis-vergewaltigung-mit-ansage-13596176.html (eingesehen 6. 12. 2016); anna Groß, »Ich bin ein rassist, und das tag fr tag«. ns-rap am Beispiel von MaKss Damage, in: aktion Kinder- und Jugendschutz schleswig-holstein (hrsg.), von Frei.wild bis rechtsrock. »heimatliebe«, nationalismus, rassismus. (Jugend-) Musikszenen in schleswig-holstein. Propagandamittel, szenekitt, le- bensgefhl, Kiel 2015, s. 22 ff. 563 Jungvolk, Der letzte Gang (tonträger) 2011, lied: Palästina. 568 MaKss Damage, 2033 (tonträger) 2015, lied: abteilung sturm. 564 teja, rachezeit (tonträger) 2011, lieder: lied der schwarzen Jäger und Unbekannter titel. 569 ebenda, lied: wahrheit. 565 volkstroi, skinheadkraft (tonträger) 2012, lied: skinheadkraft. 570 MaKss Damage, reconquista Mixtape vol. 1 (tonträger) 2016, lied: heute noch. 566 schwarze Division sachsen, Juden sind hier unerwnscht (tonträger) 2012, lied: Der Jud. 571 ebenda, lied: Gotenknige.

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8.1.6 Bedeutung der Holocaust-Leugnung 8.1.7 Bedeutung des Antisemitismus fr den Rechtsextremismus im Rechtsterrorismus

Geschichtsrevisionismus,572 also die politisch motivierte Nach der 2011 eher zufällig erfolgten Aufdeckung des Absicht einer Relativierung oder Leugnung des Massen- Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), dem zehn mords an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg Morde zur Last gelegt werden, fand auch der Rechtster- ist integraler Bestandteil rechtsextremistischer Denk- rorismus wieder grßere Aufmerksamkeit in der Öffent- strukturen. Derartige Geschichtsverfälschungen eignen lichkeit. Gemeint sind damit meist Klein-Gruppen, die sich ideal, das negative Image des Nationalsozialismus Anschläge mit rechtextremistischer Motivation und zu korrigieren, um dann besser einschlägige politische strategischem Vorgehen durchfhren. Derartige Akteure Positionen propagieren zu knnen. Da es sich bei der kamen in der Bundesrepublik Deutschland Ende der Holocaust-Leugnung aber in Deutschland um einen 1960er-Jahre auf und existierten meist nicht länger als Straftatbestand handelt, halten sich hiesige Rechtsextre- ein halbes Jahr.575 Trotzdem darf deren Gefahrenpotenzial misten meist zurck. Es gibt jedoch immer wieder Aus- nicht unterschätzt werden, auch wenn sie von den Sicher- nahmen, häufg von älteren Rechtsextremisten, die eine heitsbehrden binnen kurzer Zeit zerschlagen werden Verurteilung als Mglichkeit nutzen, sich als »Märtyrer« konnten. Antisemitismus spielte in der Gesamtschau bei zu gerieren. Ein solches Beispiel ist die bereits mehrfach den Gewaltakten nur am Rande eine Rolle, konzentrierten verurteilte Ursula Haverbeck-Wetzel, die in einem Artikel sich doch Anschläge und Attentate zunächst auf Einrich- ohne Beachtung der Forschungsergebnisse schrieb: »Bald tungen des politischen Gegners von »links« und danach wird dergleichen gelenkte Meinungsmache kaum noch auf Menschen mit Migrationshintergrund. jemand glauben. Dann zählen Tatsachen, nachprfare, forensische Beweise fr ungeheuerliche Anklagen. Bis Dennoch kam der Judenfeindlichkeit durchaus Relevanz heute harre ich vergeblich der Antwort des Zentralrats auf bei der Opfer- und Zielauswahl zu. Dafr stehen die meine Frage: ›Wann, wo und wie fand die Vergasung von Deutschen Aktionsgruppen (DA), die unter der Anleitung 6 Millionen Juden statt, nachdem Auschwitz als Syno- des Alt- und Neonazis Manfred Roeder 1980 Brand- und nym fr dieses Verbrechen nicht mehr aufrecht erhalten Sprengstoffanschläge meist gegen Flchtlingsunterknfte werden konnte?‹«573 Gleiches gilt fr eine andere Aussage durchfhrten. Sie richteten sich auch gegen das Land- von ihr: »Nun ist es unausweichlich, dass die bisher schon ratsamt Esslingen aufgrund einer dort gezeigten Aus- Befragten sich endlich zu einer Antwort bequemen […], chwitz-Ausstellung und ebendort gegen das Wohnhaus damit diese hchst umstrittene Behauptung von der des dafr verantwortlichen Landrats. Die DA erklärten, Vergasung von sechs Millionen Juden endlich geklärt wird. wer dem »Zionismus« diene, bekäme ihre Maßnahmen Wo, wie und wann fand dieses grßte Verbrechen statt? zu spren.576 Im gleichen Jahr erschoss Uwe Behrendt, Ist die ganze Nachkriegsgeschichte auf einer gigantischen ein fhrender Aktivist der neonazistischen »Wehrsport- Lge aufgebaut? Zu welchem Zweck?«574 Auch bei dieser gruppe Hoffmann«, den Rabbiner und Verleger Shlomo Aussage bedient sich Haverbeck-Wetzel einer Manipula- Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke.577 Und tionstechnik: Sie bestreitet etwas, was gar nicht behaup- schließlich sei noch der 2003 beabsichtigte Anschlag der tet wird. In der Forschung besteht ein Konsens darber, »Schutztruppe«, Aktivisten aus einer neonazistischen dass insgesamt etwa sechs Millionen Juden während »Kameradschaft« in Mnchen, erwähnt. Sie wollten die des Zweiten Weltkriegs zu Tode kamen. In Gaskammern Grundsteinlegung des jdischen Gemeindezentrums starb indessen nur ein Teil von ihnen. Angesichts der verhindern.578 strafrechtlichen Konsequenzen ging die Propagierung der Holocaust-Leugnung allerdings immer mehr zurck. 575 armin Pfahl-traughber, Geschichte des rechtsterrorismus in der Bun- Gleichwohl kursieren derartige Auffassungen im rechts- desrepublik Deutschland. eine analyse zu entwicklung, Gruppen und vergleich, extremistischen Lager, häufg befeuert von importierten in: einsichten und Perspektiven, 1 (2012), s. 56–71; Fabian virchow, nicht nur Publikationen aus anderen Ländern. der nsU. eine kleine Geschichte des rechtsterrorismus in Deutschland, erfurt 2016. 576 Uwe Backes, Bleierne Jahre. Baader-Meinhof und danach, erlangen 1991, s. 106–111; Bernhardt rabert, links- und rechtsterrorismus in der Bundesre- publik Deutschland von 1970 bis heute, Bonn 1995, s. 288–304. 577 hans Gerd Jaschke/Birgit rätsch/Yury winterberg, nach hitler. radikale rechte rsten auf, Mnchen 2001, s. 36–42; hans-wolfgang sternsdorff, »chef, 572 Brigitte Bailer-Galanda/wolfgang Benz/wolfgang neugebauer (hrsg.), ich habe den vorsitzenden erschossen«, in: Der spiegel, 19.11.1984, s. 71–82. Die auschwitzleugner. »revisionistische« Geschichtslge und historische wahrheit, Berlin 1996; Deborah e. lipstadt, Betrifft: leugnen des holocaust, 578 andrea rpke, Der terror von rechts. 1996 bis 2011, in: andrea rpke/ zrich 1994. andres speit (hrsg.), Blut und ehre. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Berlin 2013, s. 149–180, hier s. 169 f.; armin Pfahl-traughber, 573 Ursula haverbeck-wetzel, Brief an den zentralrat der Juden, in: stimme Gibt es eine »Braune armee Fraktion«? entwicklung und Gefahrenpotential des des reiches, 3 (2012), s. 4. rechtsterrorismus in Deutschland, in: Martin h. w. Mllers/robert chr. van 574 Dies., neues aus der holocaust-Forschung, in: stimme des reiches, 3 Ooyen (hrsg.), Jahrbuch fr ffentliche sicherheit 2006/2007, Frankfurt a.M. (2013), s. 6. 2007, s. 147–162, hier s. 154 f.

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Eine antisemitische Dimension gab es auch beim NSU, Hier verbinden sich politischer und sozialer Antisemitis- obwohl eine judenfeindliche Einstellung nicht die Opfer- mus, aber auch Formen einer eher marginalen religisen auswahl motivierte. Beim Blick auf das Gesamtphänomen Judenfeindschaft werden offensichtlich. lassen sich entsprechende Kontexte verdeutlichen. So hing 1996 an einer Autobahnbrcke ein Puppentorso, der mit Ebenfalls sehr deutlich äußerte sich diesbezglich die einem Kapuzensweatshirt bekleidet war, auf dem mehrere Europäische Aktion (EA). Hier handelt es sich um eine seit Davidsterne mit dem Wort »Jude« gedruckt waren. Es gilt 2010 bestehende Organisation, die fr Holocaust-Leugner als sicher, dass der spätere NSU-Aktivist Uwe Bhnhardt und deren »freie Rede« eintritt. Demnach kommt bei der diesen dort angebracht hatte. Nach dem Abtauchen in den EA sowohl dem Antisemitismus wie dem Revisionismus Untergrund stellte er mit Uwe Mundlos zusammen ein ein hoher Stellenwert zu. In ihrem Mitteilungsblatt Europa Brettspiel mit dem Titel »Pogromly« her. Es war formal ruft wird zur Flchtlingsentwicklung mit folgenden ähnlich wie »Monopoly« aufgebaut, enthielt aber Spiel- Worten Stellung genommen: »Die von den Demokraten karten mit antisemitischen Texten wie »Du musst nicht betriebene Politik der offenen Grenzen ist jedoch kein beim Juden bleiben. […] Verlasse diesen stinkenden Ort.«579 Zufallsprodukt dieser dsteren Tage. Im Gegenteil, sie ist ein elementarer Bestandteil des perfden Fahrplans zur irreparablen Umvolkung in Deutschland und Europa. Ob 8.1.8 Antisemitische Deutungen beim Diskurs nun EU-Kommission, IWF, UNO, NATO oder die nationa- ber die Flchtlingsentwicklung len Regierungen – sie alle stellen Organe ein und dersel- ben weltmachtpolitischen Interessengemeinschaft dar, die Antisemitismus fndet sich auch kontinuierlich bei der Zionismus heißt und im Judaismus ihre Wurzeln trägt.«581 Kommentierung von aktuellen politischen Ereignissen Auch hier wird demnach die Flchtlingsentwicklung ver- im Rechtsextremismus, wobei die Anlässe nicht not- schwrungsideologisch auf geplante »jdische Machen- wendigerweise etwas mit Juden zu tun haben mssen. schaften« hinter den Kulissen der Politik zurckgefhrt. Dies macht die hohe Bedeutung des Antisemitismus im Rechtsextremismus deutlich. Ein anschaulicher Beleg dafr ist die propagandistische Rezeption der Flchtlings- 8.1.9 Interne Bedeutung des Antisemitismus entwicklung. Diese wird auf eine jdische Verschwrung im Rechtsextremismus zurckgefhrt, die angeblich dazu dient, den Deutschen durch »Multikulturalismus« die Identität zu rauben und Betrachtet man den Anteil des Antisemitismus an der sie so zu »Einheitsmenschen« einer »neuen Weltordnung« rechtsextremistischen Propaganda in der Gesamtschau, so zu machen. Als Akteure im Hintergrund sieht man mal kann zu seiner Bedeutung Folgendes konstatiert werden: die USA, mal Israel, mal beide zusammen mit der Bezeich- Derartige Einstellungen bestehen in allen Bereichen nung »Usrael«. Es gibt auch hier, je nach Akteur, deutliche des Rechtsextremismus mehr oder weniger deutlich. Behauptungen ebenso wie indirekte Suggestionen. Gleichwohl handelt es sich hierbei im Unterschied zu der Gewichtung des Antisemitismus in diesem Lager vor 1945 Fr den Bereich der Behauptungen steht z.B. eine nicht mehr um das herausragende oder zentrale Themen- Einschätzung in der neonazistischen Zeitschrift Volk in feld. Als bedeutendere Agitationsinhalte gelten Einwande- Bewegung. Der Reichsbote, worin es hieß: »Die Ursachen rung, Globalisierung und der Islam, als wichtige Feindbil- der gezielten, verbrecherischen und scheinbar unaufalt- der Flchtlinge, Muslime und »das System«. Innerhalb des sam aufwachsenden Überfremdung liegen tatsächlich in Rechtsextremismus lässt sich eine stärkere Fixierung auf einem Plan gewisser Hintergrundmächte, weltweit mit die Probleme der Gegenwart und eine Zurckdrängung Schwerpunkt Europa eine Mischbevlkerung zu schaffen, von Themen der Vergangenheit ausmachen. Insbesondere die mangels ausreichender schpferischer Fähigkeiten will man, in den Worten des NPD-Strategen Jrgen W. leicht durch eine ‚jdische Adelsschicht’ zu lenken ist […], Gansel, »noch stärker die soziale Frage nationalisieren«.582 verantwortlich fr die verbrecherische Fehlsteuerung der Damit verliert der Antisemitismus fr die Außenwirkung Bevlkerungspolitik zeichnen natrlich die erwähnten an Bedeutung, bleibt aber lagerintern ein wichtiges Ideo- Hintergrundmächte, welche die Weltherrschaft anstreben. logieelement.583 Es handelt sich um den politischen Zionismus, bestehend aus einer kleinen Gruppe schwerstreicher Schwerstverbre- 580 cher, erfllt vom religisen Wahn der Auserwähltheit.« 581 Ohne autor, Die Dämme sind gebrochen, in: europa ruft, 4 (2015), s. 1. 582 Jrgen w. Gansel, Gegen einwanderung, europäische Union und Globali- sierung, in: Deutsche stimme, nr. 11 vom november 2005, s. 16. 579 Maik Baumgärtner/Marcus Bttcher, Das zwickauer terror trio. ereig- 583 so auch: rainer erb/Michael Kohlstruck, Die Funktionen von antisemi- nisse, szene, hintergrnde, Berlin 2012; christian Fuchs/John Goetz, Die zelle. tismus und Fremdenfeindlichkeit fr die rechtsextreme Bewegung, in: stephan rechter terror in Deutschland, reinbek 2012. Braun/alexander Geisler/ (hrsg.), strategien der extremen 580 rigolf henning, vlkermord durch Überfremdung, in: volk in Bewegung. rechten. hintergrnde – analysen – antworten, 2. aufage, wiesbaden 2016, Der reichsbote, 4&5 (2014), s. 8 f. s. 229–256, hier s. 250 f.

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Die Fortexistenz der Judenfeindschaft als inhaltliches und Marcel Reich-Ranicki zeigt. Dazwischen fndet sich Identifkationsmerkmal erklärt sich zunächst durch die die Formulierung »Deutsche und Juden« sowie »Wer hat historische Prägung und Tradition. Fr das rechtsextre- das Sagen?«585 Friedman und Reich-Ranicki sprach die mistische Lager spielte der Antisemitismus immer eine Zeitschrift so ihr »Deutschsein« ab und stellte sie den große Rolle. Außerdem lassen sich die meisten anderen »Deutschen« pauschal als feindlich gesinnte »Andere« ideologischen Deutungen der rechtsextremistischen gegenber. Darber hinaus suggeriert die Formulierung, Themenfelder mit antisemitischen Einstellungen koppeln: nicht mehr die Deutschen, sondern die Juden hätten im Amerikas und Israels »Eroberungskriege« werden als Land »das Sagen«. Schritte zur Erlangung der jdischen Weltherrschaft imaginiert, Einwanderung und »Überfremdung« gelten Auch in anderen Kontexten wird die Legitimation der als Beiträge zur Errichtung einer jdisch initiierten »One bestehenden Gesellschafts- und Staatsordnung in Frage World«-Politik, Globalisierung und Wirtschaftskrise fh- gestellt. Dafr steht auch die Berichterstattung zu Bun- ren Rechtsextremisten auf das Wirken jdischer Bankiers deskanzlerin Angela Merkel in der National-Zeitung. Hier an der »Ostkste« zurck, Erinnerungen an die Verfol- wurde anlässlich einer Preisverleihung an die Bundes- gung und Ermordung der europäischen Juden sowie die kanzlerin festgehalten: »Der aus Vererbung vermeintlich Kriegsschuld sollen »Moralkeulen« jdischer Interessen- polnischen, aus Zuneigung amerikanischen, aus Leiden- organisationen sein. schaft israelischen, aus Gleichgltigkeit deutschen Bun- deskanzlerin der BRD wird diese Auszeichnung verliehen Außerdem erfllt der Antisemitismus bestimmte Funk- in Wrdigung ihrer Politik gegen die Interessen ihres tionen:584 So sehr es sich bei ihm um eine ideologisch eigenen Landes.«586 Merkel gilt als Dienerin Israels und verzerrte Wahrnehmung sozialer Realität handelt, so darf Verräterin Deutschlands. doch dessen jeweiliger Nutzen fr den Rezipienten nicht ignoriert werden. Die Abgrenzung von »den Juden« als Antisemitismus, dies belegen die Ergebnisse der empiri- einer negativ beurteilten fremden Gruppe gestattet die schen Sozialforschung, lässt sich nicht auf die 22.600 orga- Identifzierung mit der als positiv bewerteten eigenen nisierten Rechtsextremisten reduzieren. So gaben in der Gruppe. Frher defnierte man sich dadurch als »Arier«, Mitte-Studie der FES aus dem Jahr 2016 etwa sechs Pro- Christ oder Deutscher, heute als Nationalist. Neben zent der deutschen Bevlkerung ihre Zustimmung zu dieser ersten Identitätsfunktion verbindet sich mit dem klassischem Antisemitismus, 26 Prozent zu sekundärem Feindbild »Jude« auch eine zweite Erkenntnisfunktion, Antisemitismus und 40 Prozent zu israelbezogenem Anti- v.a. bezglich des politischen Antisemitismus. Komplexe semitismus (→ Einstellungen). Aufgrund des anti-antise- gesellschaftliche Entwicklungen wie etwa die »Flcht- mitischen Konsenses in Medien, Öffentlichkeit und Politik lingskrise« oder die Globalisierung knnen durch das artikuliert sich dieses Potenzial aber meist nur im privaten behauptete konspirative Wirken der »Ostkste« scheinbar Bereich. Letztendlich hoffen Rechtsextremisten in einer einfach erklärt werden. Darber hinaus besteht drittens fr antisemitische Agitation gnstigeren Zeit eben dieses eine Mobilisierungsfunktion, die aber mit der externen Einstellungspotenzial auch ansprechen und mobilisieren Wirkung zusammenhängt. zu knnen. Da der organisierte Rechtsextremismus mit Ausnahme bestimmter Regionen in Ostdeutschland seine gesellschaftliche Marginalisierung nicht berwinden 8.1.10 Externe Bedeutung des Antisemitismus konnte, war den Absichten eines breiten Hineinwirkens im Rechtsextremismus in die Mehrheitsgesellschaft bislang noch kein Erfolg beschieden. Neben der internen Bedeutung des Antisemitismus fr den Rechtsextremismus, wird auch das Ziel verfolgt, damit in die Gesellschaft hineinzuwirken. Dies zeigte sich in der 8.1.11 Fazit Vergangenheit etwa im Rahmen der »Hohmann-Rede«, des »Mllemann-Skandals« oder der »Walser-Kontro- In Deutschland ist der politische Hauptträger der Juden- verse«. In allen drei Fällen ging es um den ffentlichen feindschaft der Rechtsextremismus. Fragt man nach dem Umgang mit der Kritik an Israel bzw. der Schuld am Bereich politischer Gruppen und Parteien, wo Antise- Holocaust. Rechtsextremistische Medien versuchten, mitismus in der Ideologie wie in der Propaganda den diese Debatten aufzugreifen und fr sich zu instrumen- hchsten Stellenwert hat, so mssen hier die NPD sowie talisieren. Dafr steht etwa ein Titelbild von Nation & die Neonazi-Szene und ihr Umfeld genannt werden. Diese Europa, das Portraits einerseits von Jrgen W. Mllemann Einschätzung ignoriert nicht, dass es judenfeindliche und Martin Walser, andererseits von Michel Friedman

585 nation & europa, 7/8 (2002), s. 1 (titelblatt). 584 armin Pfahl-traughber, antisemitismus in der deutschen Geschichte, Opladen 2002, s. 155–159. 586 Gerald Menuhin, Jetzt hat sie’s!, in: national-zeitung, 25 (2007), s. 2.

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Auffassungen auch in anderen gesellschaftlichen Berei- Bundesrepublik Deutschland und das Grundgesetz seien chen und politischen Sphären gibt. Gewaltaufforderungen illegal und illegitim. Einige der Akteure gehen davon aus, gegen Judenfndet man in dieser Schärfe und mit diesem dass sie selbst die »kommissarische Reichsregierung« Zynismus in keinem anderen Zusammenhang. Darber seien. Dabei beanspruchen sie nicht nur Ämter wie etwa hinaus existiert kein anderer politischer Bereich, bei dem das eines »kommissarischen Reichskanzlers«, sondern Antisemitismus in einem solchen Ausmaß zur besonderen erstellen auch Dokumente eines solchen »Reiches« wie Identität der jeweiligen Protagonisten gehrt. etwa einen »Reichsfhrerschein«. Es gibt indessen nicht nur eine derartige Gruppierung, sondern eine kaum noch Von außen betrachtet wird die Bedeutung der Judenfeind- berschaubare Flle von »Reichsbrger«-Organisationen. schaft fr den Rechtsextremismus nicht zwangsläufg Diese stehen auch in Konkurrenz zueinander, beansprucht wahrgenommen. Der Grund dafr besteht darin, dass doch jede dieser Organisationen, eben die eigentliche Rechtsextremisten in der Öffentlichkeit andere Themen »kommissarische Reichsregierung« zu sein. Alle sind von bevorzugen. Dies sind aktuell Themen wie »Flchtlinge«, einem hohen Ausmaß an Dogmatismus, Fanatismus und Islam und Muslime sowie EU-Krise, Migration und »Sys- Missionseifer geprägt. temversagen«. Da die damit einhergehenden Fragen auch in der Gesellschaft großes Interesse fnden, vom Alltagsge- Antisemitismus bildet kein herausragendes Ideologieele- spräch ber die Zeitungsschlagzeile, erhoffen sich Rechts- ment der »Reichsbrger«, wird aber immer dann instru- extremisten, hierdurch stärkeren Zuspruch zu bekommen. mentalisiert, wenn es um die angeblichen Hintergrnde Antisemitismus wird dabei von diesen Themen berlagert. der etablierten Politik geht. Es gibt Anspielungen ebenso Blickt man indessen auf die Binnenkommunikation in wie Hassbilder. Dazu einige Beispiele: Peter Fitzek, der diesem politischen Lager, so artikuliert sich der Antisemi- das »Knigreich Deutschland« grndete und sich zum tismus auch in den damit einhergehenden Diskursen, in »Imperator Fiduziar« krnen ließ, äußerte: »Diese Rolle denen als Akteur »hinter den Kulissen« der angeblichen des Judas spielst Du wirklich gut. […] Eine gewisse Volks- oder tatsächlichen Probleme nicht selten eine »jdische gruppe, die vorherrschend Deine Nasenform hat, lebt seit Verschwrung« vermutet wird. Langem in ähnlichen Lgen und wartet immer noch auf ihren Erlser. Erlst werden sie dann, wenn sie diesem Darber hinaus kann aktuell von einer Krise des auf die dann in der entsprechenden Zeit ihre Mittel und Kraft zur NPD und die Neonazi-Szene bezogenen Rechtsextremis- Transformation der Welt zur Verfgung stellen und ihre mus gesprochen werden. Der NPD ist seit 2013 – nach Rolle als Sklaven des Dunklen freiwillig beenden.«588 Diese dem Scheitern eines ersten Verbotsverfahrens im Jahr Aussage spielt auf das alte, schon im Nationalsozialismus 2009 – ein erneutes Verbotsverfahren anhängig, das die vorherrschende antisemitische Stereotyp des »hakenna- Existenz der Partei bedroht. Mit AfD und Pegida haben sigen Juden« an. Am Ende einer Erklärung der »Arbeits- sich zudem konkurrierende Akteure herausgebildet, die gemeinschaft Staatliche Selbstverwaltung«, die von Peter einschlägige Ressentiments, Stimmungen und Vorurteile Frhwald gegrndet wurde, wird festgestellt: »Noch haben erfolgreicher mobilisieren knnen. Dies fhrt zu einem wir die Mglichkeit, uns aus eigener Kraft vom Multikul- Bedeutungsverlust fr die NPD, die Neonazi-Szene und turalismus, Kapitalismus, Globalismus und Zionismus deren Umfeld. Gerade dadurch besteht die Gefahr einer zu befreien.«589 In einer Erklärung der »Exilregierung Radikalisierung, die sich angesichts von Enttäuschung und Deutsches Reich« zur Flchtlingsentwicklung heißt es im Frust in einem ansteigenden Fanatismus und einer erhh- gleichen Sinne, die USA seien »vom ›politischen Zionis- teren Gewaltbereitschaft niederschlagen kann. Dass der mus‹ gesteuert«.590 Ähnlich, nur deutlicher äußerte sich Antisemitismus dann in der Außenwirkung und nicht nur Lutz Prast vom »Freistaat Preußen« laut Gedächtnispro- im Binnenverhältnis eine große Relevanz hätte, macht die tokoll einer Fernsehsendung: »Wir wissen, dass die Merkel Existenz eines weiterhin bestehende Gefahrenpotenzials immer so dasteht – und wir wissen, dass die Merkel Jdin im Rechtsextremismus deutlich. ist und Freimaurerin. Und es gibt ein Bild, wo Adolf Hitler auch so dasteht. Der wurde von Anfang an von jdischen Exkurs: Reichsbrger

Seit einigen Jahren machen »Reichsbrger« mit Aktionen und Publikationen auf sich aufmerksam.587 Dabei handelt es sich um eine Sammelbezeichnung fr unterschied- liche Gruppen und Organisationen, die davon ber- 588 http://krd-blog.de/wp-content/uploads/2015/05/Peter-Fitzek-und- zeugt sind, das »Deutsche Reich« bestehe fort und die richard-Gantz-Die-letzte-e-Mail.pdf (eingesehen 9. 12. 2016). 589 verfassungsschutzbericht Brandenburg 2013, hrsg. vom Ministerium des Innern des landes Brandenburg, s. 124. 587 amadeu antonio stiftung (hrsg.), »wir sind wieder da«. Die »reichsbr- 590 exil-regierung Deutsches reich, nachruf auf die Deutschen vlker ger«: Überzeugungen, Gefahren und handlungsstrategien, Berlin 2014; Dirk (13. 9. 2015), in: http://friedensvertrag.org/index.php/aktuelles/443-nachruf- wilking (hrsg.), »reichsbrger«. ein handbuch, Potsdam 2015. auf-die-deutschen-v%c3/B6lker (seite kann nicht mehr aufgerufen werden).

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Banken untersttzt.«591 Derartige Behauptungen hatte 8.2 Montagsmahnwachen schon die vlkische »Ludendorff-Bewegung« nach 1949 fr den Frieden propagiert.

Die Auffassungen zur Fortexistenz des »Reichs« und zur 8.2.1 Die Entstehung der Montagsmahnwachen Nicht-Existenz der Bundesrepublik Deutschland mgen noch so absurd erscheinen, dennoch darf nicht igno- Ausgelst durch die Ukraine-Krise und die fr manche riert werden, dass die »Reichsbrger« beraus aktiv sind zu einseitige russlandkritische Berichterstattung in den und auch Auseinandersetzungen vor Gericht fhren. Medien im Frhjahr 2014, bildete sich in der Bundesre- Darber hinaus fnden deren Behauptungen, wie etwa publik eine neue Protestbewegung, die sich von Berlin »Die Bundesrepublik Deutschland ist eine GmbH und aus ber ganz Deutschland bis nach Österreich und in kein Staat«, ber das Internet erstaunlich weite Verbrei- die Schweiz in ber 120 Städte ausbreitete. Die Mobili- tung. Damit geht nicht primär, aber doch sekundär auch sierung erfolgte hauptsächlich ber die Facebook-Seite Antisemitismus einher. Besondere Aufmerksamkeit in Anonymous.kollektiv sowie das Nachrichtenportal KenFM den Medien erfuhren die »Reichsbrger« 2014 durch eine von Ken Jebsen. Der Journalist Stefan Lauer spricht von Rede, die der bekannte Sänger Xavier Naidoo bei einer einem »virtuellen Mob«, der am Anfang der Mahn- ihrer Versammlungen gehalten hatte.592 In seinem Song wachen-Bewegung in E-Mails an Redaktionen und in »Raus aus dem Reichstag« heißt es: »Baron Tothschild gibt Kommentarspalten auf diese aufmerksam gemacht und den Ton an und er scheißt auf euch Gockel. Der Schmock eine Berichterstattung eingefordert habe.595 Wie schon die is’n Fuchs und ihr seid nur Trottel.«593 Tothschild steht Namensgebung – Mahnwachen fr den Frieden, Friedens- hier fr die »Rothschilds«,594 der Familie, der nachgesagt bewegung 2.0, Friedensmahnwachen, Montagsdemonst- wird, sie wrde die Finanzwelt dominieren und die zum rationen 2014 oder Montagsmahnwachen – signalisiert, klassischen Topos antisemitischer Codes geworden ist. Das stellte sie sich in die Tradition der Montagsdemonst- jiddische Schimpfwort »Schmock«, das u.a. als Bezeich- rationen der Jahre 1989/90 in der DDR und der darauf nung fr einen unangenehmen Mann aus der gehobenen rekurrierenden Anti-Hartz-IV-Montagsdemonstrationen Gesellschaft bzw. einen Snob Anwendung fndet, sowie sowie in die der Friedenbewegung der 1970/1980er-Jahre. die Erwähnung eines Fuchses, dem gemeinhin unterstellt Die Kundgebungen sollten nach dem erklärten Willen der wird, gewieft und hinterlistig zu sein, zeigen durchaus Organisatoren fr alle politischen Richtungen offen sein antisemitische Ressentiments, die anschlussfähig weit und ein Gegengewicht gegen die angeblich manipulierten ber das rechtsextremistische Spektrum hinaus sein Massenmedien bilden. Dies fhrte dazu, dass die Mahn- knnen. wachen wegen ihres Prinzips des »offenen Mikrophons« auch zur Plattform von Rechtsextremen und Verschw- rungstheoretikern aller Couleur wurden. Zwar rckte der Initiator und Hauptredner der Bewegung, Lars Mährholz, bald vom Prinzip des »offenen Mikrophons« ab, um uner- wnschte Beiträge etwa von Verschwrungstheoretikern und rechten Esoterikern zu verhindern,596 doch waren die Mahnwachen von Anfang an in ihrer politischen Ausrich- tung umstritten. Beobachter beklagen eine inhaltliche Beliebigkeit der Redebeiträge auf den Mahnwachen und 591 Gedächtnisprotokoll lutz Prast, zitiert nach: »Kontraste«, außenseiter auf fehlende konkrete politische Ziele, so dass hier Räume dem vormarsch. wie gefährlich sind die reichsbrger?, http://www.rbb-online. fr die Äußerung antisemitischer und verschwrungs- de/kontraste/archiv/kontraste-09-06-2016/wie-gefaehrlich-sind-die-reichs buerger.html (eingesehen 9. 12. 2016). theoretischer Versatzstcke entstehen konnten, die 592 Ohne autor, sänger verteidigt reichsbrger-Gig. naidoo legt nach: «Deutschland ist kein souveränes land», in: Focus, 11.3.2015, http://www. focus.de/kultur/musik/bereue-reichsbuerger-auftritt-nicht-naidoo-bekraeftigt- thesen-ueber-unfreies-deutschland_id_4537600.html (eingesehen 14. 12. 2016). 593 xavier naidoo, raus aus dem reichstag, zitiert nach sebastian christ, antisemitische liedzeilen: xavier naidoo verbreitet judenfeindliche Klischees, in: huffngtonpost, 16.10.2014, http://www.huffngtonpost.de/2014/10/16/ xavier-naidoo-antisemitismus_n_5994710.html (eingesehen 7. 12. 2016). 595 stefan lauer, verschwrungsideologien, Mahnwachen fr den Frieden 594 totschild oder todtschild fndet sich immer wieder im zusammenhang und Männerrechtler. Über den journalistischen Umgang mit absurdität, in: »no mit Finanzmachtzuschreibungen, die »den Juden« nicht nur die Dominanz der world order«. wie antisemitische verschwrungsideologien die welt erklären, Brsen und Finanzmärkte unterstellen, sondern auch unlautere, konspirative hrsg. von der amadeu antonio stiftung, Berlin 2015, s. 52. Methoden. siehe etwa auch »staatenlos.info« des nPD-nahen rdiger Kla- sen/»nationale Befreiungsbewegung Deutschland«: »tothschild -Kapitän der 596 Julian Bruns/natascha strobl, (anti-)emanzipatorische antworten von neuen weltordnung«, http://staatenlos.info/index.php/tothschild (eingesehen rechts, in: Momentum Quarterly. zeitschrift fr sozialen Fortschritt, 4 (2015) 14. 1. 2016). 4, s. 212.

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Ansatzpunkte fr die extreme Rechte bieten.597 Bei der deren »Schuldgeldsystem«602 fr die »Kriegstreiberei« der Durchsicht der vorliegenden medialen Berichterstattung amerikanischen Außenpolitik und in einem Interview sowie wissenschaftlicher Studien fällt die Diskrepanz sogar fr alle kriegerischen Konfikte des 20. und 21. Jahr- zwischen der Selbstbeschreibung vieler Teilnehmerinnen hunderts verantwortlich machte, wurde der Vorwurf und Teilnehmer der Mahnwachen und der Berichterstat- der Rechtslastigkeit der Mahnwachen schon sehr frh tung in den Prestigemedien sowie in den wissenschaft- erhoben. lichen Analysen von Experten auf. V.a. in linken Kreisen war man ber den Charakter der Veranstaltung uneins. Die auf den Mahnwachen vertretene Deutung der »So steht vor allem der Vorwurf der Rechtslastigkeit, bzw. Ukraine-Krise als wesentlich von amerikanischen Eliten der Offenheit fr rechtsextreme Argumentationen und gesteuert, offenbart nach Einschätzung des Kommunika- Personen im Raum. Organisator/innen und Teilnehmer/ tionswissenschaftler Tobias Jaecker ein verschwrungs- innen der Mahnwachen, aber auch Untersttzer/innen theoretisches Denken, »teils mit deutlichen antisemiti- aus der linken Szene weisen diese Vorwrfe zurck.«598 schen Untertnen.« 603 Gleichzeitig wurde den etablierten Innerhalb der Montagsmahnwachen wurde ber die Frage Medien vorgeworfen, die kriegerischen Absichten dieses gestritten, »wie weit sich die Demonstrationen fr Rechte weltumspannenden Systems des Finanzkapitalismus und Vertreter haarsträubender Verschwrungstheorien ebenso wie die Kriegsabsichten der westlichen Regierun- ffnen sollten«.599 gen zu verschleiern. Gegen diese manipulativen etab- lierten Medien sollte mit den Montagsdemonstrationen Der erste Aufruf der Friedensmahnwache im Frhjahr und ber das World Wide Web eine Gegenffentlichkeit 2014 lautete: »Wir! Sind das Volk. Aufruf zum friedlichen formiert werden. Auch andere Hauptredner der ersten Widerstand. Fr Frieden in Europa und der Welt! Fr Berliner Mahnwachen, wie der Journalist Ken Jebsen, der Frieden mit Russland & gegen die Todespolitik der Federal Rechtspopulist Jrgen Elsässer604 und der »Zinskritiker« Reserve Bank! Schluss mit Lgen! Fr eine ehrliche Presse! Andreas Popp, 605 der die These Silvio Gesells ber das Demokratie jetzt!«, wobei die Federal Reserve Bank (FED) auf dem Poster als »Eine private Weltbank« bezeichnet wird. In diesem Aufruf defniert sich das »Wir« explizit als 602 Unter dem Begriff »schuldgeldsystem« werden das system von zins und »einfache Brger« und nicht als Partei oder Organisation, zinseszins sowie die fehlende Deckung des Geldes durch materialen eigenwert verstanden. Fr Mährholz sind die FeD und das zinssystem der »anfang allen und es will »keine Rechts- oder Linksextremisten dul- Übels«. 600 den«. Zwar werden die »Mahnwachen fr den Frieden« 603 tobias Jaecker, hauptsache gegen amerika, in: Jungle world, 21.5.2014. in den einzelnen Städten dezentral von Organisations- 604 Jrgen elsässer hat in den Jahren 1975 bis 2008 als autor, redakteur und/ teams veranstaltet, doch wurde der ursprngliche Aufruf oder Mitherausgeber fr eine reihe linksgerichteter Printmedien gearbeitet von den meisten Mahnwachen beibehalten. Die Montags- (Bahamas, Jungle world, Junge welt, Konkret). er stand eine zeit lang den »an- tideutschen« des linken politischen spektrums nahe und wandte sich dann ab mahnwachen distanzierten sich demnach sogleich vom 2009 dem rechtspopulismus zu. elsässer ist seit 2010 chefredakteur des dem Rechtsextremismus, doch fällt auf, dass bereits von Beginn rechtspopulismus zugerechneten Magazins compact-Magazin fr souverä- an die amerikanische Notenbank FED als Verursacherin nität und ist neben den Montagsmahnwachen auch bei veranstaltungen von Pegida und legida aufgetreten. er gilt als verfechter einer die politischen lager der Krise in der Ukraine identifziert wurde. Da auch Lars von rechts bis links verbindenden Querfront-strategie. Ihm wird vorgeworfen, Mährholz in seinem auf Facebook verbreiteten Motto der neben antiamerikanischen und homophoben auch antisemitische Positionen Mahnwachen601 die Politik der amerikanischen FED und zu vertreten (vgl. sebastian christ, elsässer, Jebsen und die Montagsdemos: warum die neue »Friedensbewegung« so gefährlich ist, in: huffngton Post, 22.4.2014). Ken Jebsen (brgerlich: Moustafa Kashef) war bis 2011 als Fernseh- und radiomoderator tätig, bevor ihn der rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) 597 stefan christoph, verschwrungstheorien und antisemitismus im namen nach einigen als antisemitisch kritisierten Bemerkungen wenig später wegen des Friedens, in: Blog.zeit.de, 19.8.2014, http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/ verstßen gegen journalistische standards entließ. er arbeitet seitdem als freier 2014/08/19/verschwoerungstheorien-und-antisemitismus-im-namen-des- Journalist und betreibt eine eigene sendung im Internet. einige seiner thesen, friedens_16882 (eingesehen 26.9.2016); andreas Kopietz, Montagsdemos. etwa zu den anschlägen am 11. september 2001 oder die Unterwanderung vlkische Friedensbewegung, in: Berliner zeitung , 16.4.2014, http://www. amerikanischer Medien durch zionisten werden als verschwrungstheoretisch berliner-zeitung.de/politik/montagsdemos-voelkische-friedensbewegung, eingestuft. Daneben fnden sich deutlich israelfeindliche aussagen. nik afanas- 10808018,26872180.html. (eingesehen 27. 9. 2016). jew/Joachim huber, ex-rBB-Moderator Jebsen »Israel will endlsung fr Pa- lästina«, in: Der tagesspiegel, 7.4.2012, http://www.tagesspiegel.de/ medien/ 598 Priska Daphi/Dieter rucht/wolfgang stuppert/simon teune/Peter Ul- ex-rbb-moderator-jebsen-israel-will-endloesung-fuer-palaestina/6485636. lrich, Occupy Frieden. eine Befragung von teilnehmer/innen der »Montags- html (eingesehen 14. 9. 2016). mahnwachen fr den Frieden«. Forschungsbericht, 16.7.2014, s. 3, https:// depositonce.tu-berlin.de/bitstream/11303/5035/1/daphi_etal.pdf (eingese- 605 andreas Popp ist Unternehmer und betreibt die sogenannte wissens- hen 14. 12. 2016). manufaktur, ein »unabhängiges Institut fr wirtschaftsforschung und Gesell- schaftspolitik«, das sich v.a. mit Fragen des Finanzsystems (Geld und zinssys- 599 hannah Beitzer, hauptsache gegen die nato, in: sddeutsche zeitung, tem) befasst und in der abschaffung des zinssystems die lsung aller Probleme 3. 12. 2014, http://www.sueddeutsche.de/politik/aufruf-zum-friedenswinter- sieht. Popp spricht regelmäßig auf den Konferenzen der verschwrungstheore- hauptsache-gegen-die-nato-1.2246474 (eingesehen 26. 9. 2016). tischen »anti-zensur-Koalition« des schweizers Ivo sasek. DvDs dieser Konfe- renzen werden in Berlin auf den Mahnwachen vertrieben. Frida thurm, Die ganz 600 Montagsdemo hamburg. wir! sind das volk. aufruf zum friedlichen wi- eigene welt der Montagsdemonstranten, zeit Online 22.4.2014, http://www. derstand. (2014); http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/fles/2014/04/1977267 zeit.de/gesellschaft/2014-04/montagsdemo-mahnwache-frieden-berlin/ _567236566717981_136613637_n.jpg (eingesehen 27. 9. 2016). seite-2 (eingesehen 6.12.2016). ein weiteres Mitglied der »wissensmanufak- 601 Daphi u.a., Occupy Frieden, s. 4. Die Formulierung geht auf ein Interview tur«, rico albrecht, berief sich ebenfalls auf den ns-zinskritiker Gottfried Feder von Mährholz fr voice of russia zurck. und sein »Manifest zur Brechung der zinsknechtschaft«.

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Zinssystem und Gottfrieds Feders These von der Brechung Sinne ber die Montagsmahnwachen.609 Die Kritik der »Zinsknechtschaft« wieder aufgriff, deuteten auf eine entzndete sich einmal an den genannten, z.T. rechtslas- rechte Schlagseite der Montagsmahnwachen hin. Frh tigen Themenschwerpunkten, zum anderen aber auch an kam es aber zu einem Richtungsstreit in der Bewegung, den Hauptakteuren, der Teilnahme von Anhängern der etwa ber die Rolle Elsässers.606 verschiedensten Verschwrungstheorien sowie wegen der Verbindungen zur NPD, AfD und zu Neonazis.610 Dies fhrte zu einer intensiven ffentlichen Debatte inner- und 8.2.2 Kritik und Skandalisierung rechter außerhalb des Teilnehmerspektrums. Die Veranstalter Tendenzen bei den Mahnwachen Mährholz und Jebsen wiesen den Vorwurf zurck, sie wrden rechtem und antisemitischem Gedankengut eine Die Verbindung des Ukraine-Konfikts mit der Politik der Plattform bieten.611 Viele Gruppen der alten Friedens- FED und den durch die Medien angeblich verschleierten bewegung und linksgerichtete Parteien wie Die Linke612 Kriegsabsichten westlicher Staaten wurde ab Frhjahr und Organisationen wie Attac613 grenzten sich von den 2014 in den Medien breit debattiert und zunehmend Positionen und Vertretern der Mahnwachen ab und warn- skandalisiert. Seit April 2014 kritisierten Beobachter und ten ihre Mitglieder vor einer Teilnahme an den Veran- Medien antiamerikanische, antisemitische, rechtsext- staltungen, weil auf den Mahnwachen nach rechts offene reme und verschwrungstheoretische Tendenzen bei Positionen vertreten wrden. Trotzdem nahmen bekannte den Mahnwachen. Besonders einfussreich war in dieser linke Aktivisten, Brgerrechtler sowie Vertreterinnen und Hinsicht ein Interview von Jutta Ditfurth, die, nachdem sie Vertreter der alten Friedensbewegung daran teil, die in bereits im März mit einer Aktion bei Facebook fr Diskus- den Mahnwachen die Chance fr eine emanzipatorische sion gesorgt hatte, in der 3sat-Sendung »Kulturzeit« am Bewegung sehen wollten und zur Kooperation mit ihnen 16. April 2014 die Rechtslastigkeit der Teilnehmerinnen aufriefen. So trat der fr Die Linke im Bundestag sitzende und Teilnehmer anprangerte und auf ein »Netzwerk von Abgeordnete am 9. Juni 2014 mit Wort- und Personen mit antizionistischer und antiamerikanischer Gesangsbeiträgen bei der Berliner Mahnwache fr den Agenda« aufmerksam machte, wobei sie Lars Mährholz, Frieden auf, und im Mai sprach der frhere Attac-Vertreter Jrgen Elsässer und Ken Jebsen als drei Hauptakteure Pedram Shayar bei den Mahnwachen. Am 23. Juni war benannte. Die Behauptung von Mährholz, dass hinter den Kriegen der letzten hundert Jahre immer die FED gesteckt habe, ist fr Ditfurth nichts anderes als eine camoufierte Neuaufage der These von der jdischen Weltverschw- rung.607 Jrgen Elsässer nannte sie in derselben Sendung einen »glhenden Antisemiten«, woraufin dieser sie verklagte.608 Ebenfalls am 16. April 2014 verffentlichte 609 vgl. u.a. »Der Querfront einen schritt näher gerckt«, in: taz, 21.5.2014, Zeit Online einen Beitrag mit einem ähnlichen Tenor: http://www.taz.de/!349171/ (eingesehen 6.12.2016); »nicht berall, wo Frieden »Reichsbrger, Neonazis und Antisemiten – Querfront draufsteht,steckt Frieden drin«,in: neues Deutschland,14.5.2014,https://www. kapert Friedensdemonstrationen«, und viele andere neues-deutschland.de/artikel/932802.nicht-ueberall-wo-frieden-draufsteht- steckt-frieden-drin.html (eingesehen 6.12.2016); Das Beratungsnetzwerk Mo- Zeitungen und Nachrichtenportale berichteten in diesem bile Beratung nrw gegen rechtsextremismus verffentlichte unter dem titel »Friedensbewegung in Brauntnen« am 9.9.2014 einen Bericht, in dem einer Mahnwache in herford ein »offener Bezug auf antisemitische und verschw- rungstheoretische weltbilder« und ein teils offenes Bekenntnis »zur extremen rechten« vorgeworfen wird, http://www.mobile-beratung-nrw.de/component/ eventlist/details/65-friedensbewegung-mit-brauntoenen (eingesehen 26. 9. 2016). 606 stefan Geyer, Montagsdemos in Berlin: worum es bei den Montagsdemos 610 lauer, verschwrungsideologien, s. 52. wirklich geht, in: Berliner zeitung, 6.5.2014; stefan lauer, »wer die Kritiker kri- tisiert, ist fr das system« – Die Montagsdemos kreisen weiter um sich selbst, 611 hannah Beitzer, aufruf zum Friedenswinter. hauptsache gegen die nato, in: vice.com, 22. 7. 2014, http://www.vice.com/de/read/die-montagsdemos- in: sddeutsche zeitung, 3.12.2014, http://www.sueddeutsche.de/politik/auf- interessieren-niemanden-ken-jebsen-lars-maehrholz-anonymous-juergen- ruf-zum-friedenswinter-hauptsache-gegen-die-nato-1.2246474 (eingesehen elsaesser-731 (eingesehen 6. 12. 2016). 26. 9. 2016). 607 http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj43135: neurechte Mon- 612 Der Bundesvorstand der Partei Die linke lehnte eine zusammenarbeit tagsdemos (eingesehen 5.9.2016). 3sat sah sich daraufhin von vielen zuschau- mit den Mahnwachen wegen dortiger Querfrontstrategien von »rechtspo- ern auf Facebook mit dem vorwurf konfrontiert, einem staatlichen Meinungs- pulisten, nationalisten, verschwrungstheoretikern und antisemiten« »ganz kartell anzugehren. grundsätzlich« ab. Die linke: Fr Frieden und Deeskalation in der Ukraine. Be- schluss des Parteivorstandes vom 25./26. Mai 2014. Die linksjugend kritisierte 608 aufgrund von Jutta Ditfurths aussage in der 3sat-sendung »Kulturzeit«, die Mahnwachen als »deutschnationale, antiamerikanische und antisemitische 16.4.2014, der Journalist Jrgen elsässer sei ein »glhender antisemit«, hat Bewegung« mit einer regressiven und strukturell antisemitischen Kapitalismus- dieser seit Mai 2014 einen ffentlich beachteten rechtsstreit angestrengt. kritik. siehe: »Frieden fordern und Kapitalismus kritisieren – ohne verschw- Darin ging es um die Frage, ob Ditfurths aussage von ihrem Grundrecht auf rungstheorien und aluhte!« erklärung des Bundessprecher*innenrats zur Meinungsfreiheit (art. 5 abs. 1 GG) gedeckt ist oder ob sie elsässers allgemei- »Friedensbewegung« 2014, https://www.linksjugend-solid.de/2014/05/28/ nes Persnlichkeitsrecht (art. 1 abs. 1, art. 2 abs. 1 GG) verletzt. In zwei Ge- frieden-fordern-und-kapitalismus-kritisieren-ohne-verschwoerungstheorien- richtsurteilen wurde Jutta Ditfurth bei strafandrohung untersagt, die aussage und-aluhuete/ (eingesehen 7. 9. 2016). zu wiederholen. am 16.3.2015 gab Ditfurths anwalt eine Unterlassungserklä- rung ab, doch legte Ditfurth im november 2015 verfassungsbeschwerde beim 613 http://attac.de/startseite/detailansicht/new/attac-warnt-vor-rechten- Bundesverfassungsgericht ein, dessen entscheidung noch aussteht. montagsdemonstrationen/ (seite ist nicht mehr verfgbar).

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dort auch ein Vertreter der Brgerrechtsbewegung Solidari- verantwortlich beteiligten, nicht mehr fnanziell zu unter- tät614 zu hren, und am 30. Juni sprach der Geschäftsfhrer sttzen. Auch die Friedensbewegung setzte sich im Mai des Bundesnetzwerks Brgerschaftliches Engagement615 auf 2015 wieder von den Mahnwachen ab. einer Montagsdemonstration. Zwar wird auch heute noch ber eine entsprechende Web- Im Dezember 2014 nutzten die Mahnwachen-Veranstalter site zu Mahnwachen aufgerufen, doch bereits im Septem- einen Appell prominenter Politiker gegen einen neuen ber 2014 wurde konstatiert, es sei still geworden um die Krieg in Europa vom 5. Dezember, um zusammen mit Montagsmahnwachen, und die Teilnehmerzahlen seien einer ganzen Reihe angesehener Organisationen (Koope- bundesweit rckläufg. Nach einer Flut von Berichten und ration fr den Frieden, International Association of Lawyers Warnungen sowohl vonseiten der etablierten Medien wie against Nuclear Arms [IALANA], Abgeordnete der Partei auch von Wissenschaftlern ist das Interesse an den Mon- Die Linke) zu einer Demonstrationsreihe »Friedenswinter tagsmahnwachen deutlich abgefaut. Die Ursache dafr 2014/15« aufzurufen. Obwohl etliche Organisationen sah eine Autorengruppe in der unvereinbaren »Mahn- (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Vereinigung der wachen«-Besetzung aus antiimperialistischen Linken, Verfolgten des Naziregimes) ihre Untersttzung kurzfris- Rechten aller Couleur, libertären Geldsystemkritikern, tig zurckzogen, brachte es die Hauptveranstaltung am Verschwrungstheoretikern, sogenannten Reichsbrgern, 13. Dezember 2014 vor dem Schloss Bellevue in Berlin auf Esoterikern und Querulanten, die zwar innerhalb weniger rund 4000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.616 Interes- Wochen auf mehrere tausend Zuhrer heranwachsen sant ist, dass ein Redner, wohl im Wissen um die gegen die konnte, sich aber nicht dauerhaft unter dem »Banner Montagsmahnwachen laut gewordenen Vorwrfe, eine des Friedens« vereinen ließ und sich in offenen Streiter- Distanzierung vom Antisemitismus, Rassismus, Nationa- eien und Feindseligkeiten verlor.620 Nur hin und wieder lismus und Faschismus sowie von der Neuen Rechten und gewinnen die Mahnwachen-Anhänger bis heute noch den »Reichsbrgern« verlas, obwohl auch rechte Akteure eine gewisse ffentliche Aufmerksamkeit, so auch als sie an der Kundgebung teilnahmen617 und antisemitische am 12. Juli 2016 zusammen mit Anhängern der NPD, der (»Kindermrder Israel«)618 bzw. verschwrungstheo- AfD, der Nationalbolschewisten, der »Reichsbrger« und retische Parolen (»9/11 – ich bin doch nicht bld!«) zu von Pegida gegen die Bilderberger-Konferenz in Dresden lesen waren.619 Nach dieser Demonstration beschloss die demonstrierten, wobei einige Redner die Bilderberger Linksfraktion am 16. Dezember 2014, Veranstaltungen, oder ihre Hintermänner als Exponenten einer jdischen an denen sich Organisatoren der Montagsmahnwachen Weltverschwrung identifzierten.621

614 Die 1992 gegrndete Brgerrechtsbewegung solidarität (Bso) ist eine deutsche splitterpartei, die sich selbst als teil der larouche-Bewegung sieht. während manche sie dem rechtsextremen spektrum zurechnen, sehen sie an- dere als eine um larouche kreisende Politsekte, wieder andere erkennen bei ihr linke zielvorstellungen etwa in der Kritik des monetaristischen wirtschafts- systems, allerdings verbunden mit rechten lsungskonzepten. Der Partei wird u.a. auch eine nähe zu antisemitischen verschwrungstheorien (Macht der »zionistischen lobby«) vorgeworfen. anna steinfort, Brgerrechtsbewegung solidarität (Bso) Parteiprofl, http://www.bpb.de/politik/wahlen/wer-steht- zur-wahl/europawahl-2014/180970/bueso (eingesehen 6. 12. 2016). 615 Das 2002 gegrndete Bundesnetzwerk Brgerschaftliches engagement (BBe) beschreibt sich selbst als einen »zusammenschluss von akteuren aus Brgergesellschaft, staat und wirtschaft«, deren »bergeordnetes ziel« es sei, »die Brgergesellschaft und brgerschaftliches engagement in allen Gesell- schafts- und Politikbereichen nachhaltig zu frdern«. Ihm gehren derzeit 258 Mitgliedsorganisationen an, http://www.b-b-e.de/netzwerk/wer-wir-sind/ (eingesehen 6. 12. 2016). 620 autorengruppe, Die Invasion der Mahnwichtel: verschwrungsthe- oretiker umstellen den Dsseldorfer landtag, http://www.ruhrbarone.de/ 616 Martin niewendick, Demo »Friedenswinter« in Berlin: verschwrungs- die-invasion-der-mahnwichtel-verschworungstheoretiker-umstellen-den- theoretiker, linke und neonazis gegen Gauck, in: Der tagesspiegel, 13.12.2014, dusseldorfer-landtag/89952 (eingesehen, 31. 12. 2016). http://www.tagesspiegel.de/berlin/demo-friedenswinter-in-berlin- verschwoerungstheoretiker-linke-und-neonazis-gegen-gauck/11116944.html 621 Jonas Fedders, verschwrungstheoretiker, Pegida und antisemiten pro- (eingesehen 6.12.2016). auf dieser veranstaltung traten eine ganze reihe von testieren gegen die Bilderberg-Konferenz, http://www.vice.com/de/read/ Prominenten auf, darunter liedermacher wie reinhard Mey und Konstantin bilderberg-in-dresden-die-weltregierung-gegen (eingesehen 13. 9. 2016); wecker sowie der Kirchenkritiker eugen Drewermann. lucius teidelbaum, Mit der Querfront gegen die vermeintliche »weltregie- rung«, 13. 6. 2016, http://www.hagalil.com/2016/06/bilderberger/(eingesehen 617 Die rede hielt der Geschäftsfhrer der deutschen sektion der Interna- 23.9.2016). Die Bilderberger und die gleichnamigen Konferenzen, benannt tional association of lawyers against nuclear arms (Ialana), der Journalist, nach dem ersten treffen im hotel »De Bilderberg« im niederländischen Ooster- aktivist und historiker reiner Braun. beek 1954, auf der sich jährlich wichtige Persnlichkeiten aus wirtschaft, Politik und Medien der natO-staaten zum informellen Gedankenaustausch treffen, 618 Die Parole »Kindermrder Israel« gilt als ausdruck einer antisemitischen sind seit langem Gegenstand abstruser verschwrungstheoretischer Unterstel- einstellung, da damit an vorwrfe aus dem arsenal des traditionellen antisemi- lungen von links bis rechts, häufg mit antisemitischem hintergrund. vgl. zum tismus angeknpft wird: den vorwurf des ritualmords an christlichen Kindern thema Marcus Klckner, Die diskrete Macht der Bilderberger, in: andreas an- sowie an die biblische Geschichte des Kindermords von Bethlehem. ton/Michael schetsche/Michael K. walter (hrsg.), Konspiration. soziologie des 619 niewendick, Demo »Friedenswinter« in Berlin. verschwrungsdenkens, wiesbaden 2014, s. 91–112.

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Abb. 8.1: Anliegen der Montagsmahnwachen allgemein (N = 138) und persnliche Anliegen der Teilnehmer/innen (N = 123)

nationalismus Politische aktivierung Umwelt

sonstiges ■ anliegen der verhaltensänderung Mahnwachen allgemein Demokratie ■ Persnliche anliegen Kapitalismuskritik Gemeinschaft Geldkritik Menschenrechte Gerechtigkeit Medien Frieden

0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 %

(Quelle: Daphi u.a., s. 15)

8.2.3 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Teilnehmerinnen und Teilnehmer als rechtsoffen oder Mahnwachen – Ergebnisse einer Befragung rechtsextrem einzuschätzen sind, dass sich aber auf den Montagsdemonstrationen »ein fr die Neue Rechte ideales Auf den Mahnwachen fr den Frieden versammeln sich Feld zur Diskursverschiebung nach rechts bietet«, indem laut der Zeit »die unterschiedlichsten Systemgegner«,622 sie auf emanzipatorische Ansätze nationalistische und die neben einem Gefhl der politischen Ohnmacht die verschwrungstheoretische Antworten gebe.625 Dies folge Ansicht teilen, dass »etwas schief läuft auf der Welt«. einer Querfrontstrategie, mit der die Neue Rechte an linke Der Publizist Wolfgang Storz benennt in einem Artikel Diskurse und Themen (wie Frieden, Kapitalismuskritik im Neuen Deutschland die Netzwerke, die die Montags- etc. ) anzuschließen versucht, um sie mit eigenen Konzep- mahnwachen organisieren. Sie bestehen seiner Meinung ten zu vereinen. Entsprechend zeigen die in der empiri- nach aus zahllosen untereinander verknpften Blogs und schen Untersuchung »Occupy Frieden« von Daphi u.a.626 Videoportalen, zu denen er die rechten und verschw- erhobenen Anliegen der Mahnwachen-Demonstranten, rungstheoretischen Publikationen des Kopp-Verlages dass die Themenschwerpunkte Frieden, Menschenrechte, und das Monatsmagazin Compact zählt.623 Die Bewegung Geld- und Medienkritik politisch von links nach rechts insgesamt wird aber als zu heterogen eingeschätzt, um als breit anschlussfähig sind und ein eher rechtes Thema wie eindeutig neurechte Bewegung gelten zu knnen.624 Von Kritikern wird zwar konzediert, dass nicht alle

625 Bruns/strobl, (anti)emanzipatorische antworten, s. 212. 622 thurm, Die ganz eigene welt der Montagsdemonstranten. 626 Methodisch handelt es sich um eine Online-Befragung in Berlin, Dort- 623 wolfgang storz, Die Unterschiede klarer machen wo hrt emanzipa- mund, Bremen, Frankfurt a.M., erfurt, Jena und Bonn. auf den Mahnwachen torische Kritik auf und wo fängt anti-aufklärung an?, in: neues Deutschland, wurden am 26.5. bzw. 2.6.2014 handzettel an die teilnehmer mit der auffor- 19.12.2014. Inhaltlich sieht er diese netzwerke ber folgende themen ver- derung verteilt, sich online an der Befragung zu beteiligen. ein scanbarer Qr- bunden: »Deutschland ist nicht souverän. Die Usa sind das Gegenteil eines code sicherte, dass nur teilnehmer der veranstaltungen auch an der Umfrage vorbildes. Die Massenmedien lgen und manipulieren. Deutsche drfen die teilnehmen konnten. Die in der studie präsentierten Daten sttzen sich nur israelische regierung nicht kritisieren. Die eU-Brokratie ist undemokratisch, auf die Berliner Mahnwache, da hier immerhin 33 Prozent der Protestierenden der euro ein Irrweg. Die Finanzmärkte beherrschen alles.« teilgenommen hatten, während die rcklaufquote in den anderen städten nur 624 Der rechtsextremismus-Forscher alexander häusler warnte am ein zehntel der teilnehmer betrug. Die soziale zusammensetzung unterschied 23.4.2014 davor, den einfuss neurechter Kräfte auf die neue »Friedensbewe- sich an den anderen Umfrageorten aber nicht von der in Berlin. Die verfasser gung« zu berschätzen: »Dahinter steckt keine organisierte neue Kraft, und auch sehen die Berliner rcklaufquote bei Online-Befragungen im oberen Bereich. diese Initiativen von rechts, dieses thema Frieden zu instrumentalisieren ist eine gewisse verzerrung liegt darin, dass intensive Internetnutzer eher jung und nichts neues.« http://www.deutschlandfunk.de/montagsdemos-ein-bisschen- männlich sind (Daphi u.a., Occupy Frieden, s. 6 f, tab. 1 zu den eckdaten der frieden.1818.de.html?dram:article_id=283526 (eingesehen 13. 9. 2016). Befragungen).

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Nationalismus als Anliegen kaum Zustimmung fndet Abb. 8.2: Anteil rechtsextrem (Abb. 8.1).627 eingestellter Personen (in Prozent)

Entsprechend entwickelten sich die Montagsmahnwachen Teilnehmer/innen Gesamtbevlkerung zu einem Sammelbecken ganz unterschiedlicher Str- an den Montags- nach der Mitte- mahnwachen Studie von 2014 mungen. Daphi u.a. betonen fr die frhe Phase der Mon- tagsmahnwachen ein »Moment des weiterhin Unklaren Befrwortung 3,9 3,6 und Unbestimmten«, das sich mit den herkmmlichen Diktatur Links-Rechts-Unterscheidungen nicht mehr ausreichend Chauvinismus 1,1 13,6 erklären ließe.628 In der Befragung im Juni 2014 lehnten Antisemitismus 1,5 5,1 39 Prozent das Rechts-Links-Schema generell ab, 38 Pro- Verharmlosung zent verorteten sich politisch eher links, 22 Prozent sahen 1,9 2,2 sich in der politischen Mitte, nur zwei Prozent rechts der des NS Mitte. Mit dieser Linkslastigkeit unterscheiden sich die Rechtsextremes 0,8 5,6 Mahnwachen nicht von anderen heterogenen Protesten Weltbild wie Stuttgart 21 oder der Occupy-Bewegung. Schaut man auf die Parteipräferenzen, so gaben 42,6 Prozent an, Quellen: Daphi u.a., Occupy Frieden, s. 21; Oliver Decker/ sie hätten bei der Bundestagswahl 2013 die Partei Die Johannes Kiess/elmar Brähler (hrsg.), Die stabilisierte Mitte. rechtsextreme einstellung in Deutschland 2014, leipzig 2014. Linke gewählt, 15,4 Prozent nannten die Piratenpartei, 12,8 Prozent die AfD und 12,2 Prozent die Grnen. Ein Drittel ordnete sich den Nichtwählern zu, während die beiden Regierungsparteien SPD und CDU zusammen auf Die vorstehende Abbildung zeigt, dass die befragten nur sieben Prozent kamen.629 Diese Ergebnisse stehen im Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Mahnwachen Widerspruch zur ffentlichen Diskussion ber die Mahn- mit einer Ausnahme (Befrwortung einer Diktatur) den wachen, die als Belege fr rechte und auch antisemitische Dimensionen einer rechtsextremen Einstellung selte- Tendenzen Ausschnitte aus Reden, Transparente sowie ner zustimmten als der Bevlkerungsdurchschnitt. Dies Äußerungen auf Internetvideos prominenter rechtslas- gilt auch fr antisemitische Einstellungen, die mit zwei tiger Verschwrungstheoretiker heranzieht und auf die Aussagen gemessen wurden. Der als verschwrungstheo- Aufrufe zur Teilnahme seitens rechtsextremer Organisati- retisch zu interpretierenden Aussage »Auch heute noch ist onen und Parteien verweist.630 Die Befragung ergab somit der Einfuss der Juden zu groß« stimmten nur 2,1 Prozent ein »anderes, ambivalentes Bild«.631 In der Befragung berwiegend oder ganz zu, weitere 3,2 Prozent wählten die »Occupy Frieden« wurden aus den sechs Elementen des Antwort »stimme teils zu, teils nicht zu« (11,7 Prozent und Fragebogens zur »Rechtsextremen Einstellung – Leipziger 21,4 Prozent der Gesamtbevlkerung).632 Ein zweites Item Form (FR-LF)« vier ausgewählt und den Demonstranten »Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit blen vorgelegt: Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen« erfährt eine hhere Zustimmung: Immerhin 8,9 Prozent stimmen hier berwiegend oder ganz zu, weitere 15,8 Prozent waren unentschieden (teils/teils) (10,3 Prozent und 18,8 Prozent der Gesamtbevlkerung).633 Diese und andere rechtsex- treme Aussagen stießen aber mehrheitlich auf Ableh- nung. Der Anteil der Befragten mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild lag 2014 also bei den Mahnwa- chen-Teilnehmern niedriger als beim Durchschnitt der Bevlkerung. Anders sieht es hingegen bei Fragen aus, die »nicht zwingend rechtslastig« sein mssen, sondern auch »teilweise in anderen politischen Kontexten anschlussfä- 627 ebenda, s. 15. hig« sind (Abb. 8.3).634 628 ebenda, s. 7. 629 ebenda, s. 18. 630 In der leipziger-Mitte-studie 2016 von Oliver Decker/Johannes Kiess/ elmar Brähler (hrsg.), Die enthemmte Mitte. autoritäre und rechtsextreme ein- stellung in Deutschland, Gießen 2016, s. 92 ergibt sich bei der aufschlsselung der in der studie erhobenen »verschwrungsmentalität« nach Parteipräferenz, dass sich diese Mentalität gerade unter den wählern der afD (65,3 Prozent), 632 Oliver Decker/Johannes Kiess/elmar Brähler (hrsg.), Die stabilisierte Mit- der linken (44,6 Prozent) und unter nichtwählern (37 Prozent) fndet, denen te. rechtsextreme einstellung in Deutschland 2014, leipzig 2014, s. 32. sich ein großer teil der Montagsmahnwachen-teilnehmer zurechnete. Fr die brigen Bundestagsparteien lagen die werte zwischen 26 und 28 Prozent. 633 ebenda. 631 Daphi u.a., Occupy Frieden, s. 18. 634 Daphi u.a., Occupy Frieden, s. 22.

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Abb. 8.3: Zustimmung zu Aussagen aus dem Kontext der Montagsmahnwachen (in Prozent)

Lehne vllig ab Lehne berw. teils/teils Stimme berw. Stimme voll zu ab zu

»amerika bzw. das amerikanische Militär ist 1,4 7,5 39,4 30,5 21.1 nichts als der Knppel der FeD (Us-notenbank)« »Die BrD ist kein souveräner 5,1 9,5 20,0 24,4 37,1 staat« »Die zionisten haben sich weltweit an die hebel der Macht gesetzt und lassen 37,5 15,5 19,7 14,0 13,3 nun Politik, Brse und auch die Medien nach ihrer Pfeife tanzen« »Friedensaktive werden derzeit von einer nahezu 3,0 0,7 7,4 37,1 51,8 gleichgeschalteten Presse in die rechte ecke gestellt«

Die Friedenaktivisten, die sich nahezu alle von den Funktionieren des politischen Systems in Deutschland Mainstream-Medien in die »rechte Ecke gestellt« sehen,635 aus. 93,9 Prozent widersprechen eher oder vllig der stimmen hier in hoher Zahl Aussagen zu, die ein starkes Ansicht, dieses funktioniere gut, und 76,8 Prozent sehen Misstrauen in die Macht einer eigenständigen staatlichen sich als politisch ohnmächtig an und haben ihrer Mei- Politik, sei es der USA oder der Bundesrepublik, belegen nung nach keinen Einfuss auf das Handeln der Regie- und eine hohe Affnität zu verschwrungstheoretischen rung.638 Das Misstrauen von Mahnwachen-Teilnehmern Annahmen ber die Macht des Finanzkapitals (FED) und gegenber etablierten Institutionen ist entsprechend der hier als Zionisten camoufierten Juden aufweisen.636 stark ausgeprägt und liegt hher als in der Bevlkerung Der empirische Befund, dass eine Diktatur als die »bes- insgesamt. Eine skeptische Einschätzung des politischen sere Staatsform« mit großer Mehrheit abgelehnt wird Systems sowie ein großes Misstrauen in Institutionen (92 Prozent) und 96,6 Prozent die »Idee der Demokratie« zeichnet v.a. die aus, die von den Autoren der »Occupy wertschätzen, man aber eine starke Fhrungspersnlich- Frieden«-Studie als Kerngruppe der Teilnehmer charakte- keit, die »Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand risiert werden. In ihrem Fazit konstatieren die Autoren der regiert«, nur zu 37,2 Prozent und damit seltener ablehnt Studie, dass viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer als in der Gesamtbevlkerung, zeigt den Wunsch nach parteipolitisch zur Linken, aber auch berdurchschnittlich einer eigenständigen nationalen Politik. »Offensichtlich häufg zur AfD tendieren, dass es aber »einen deutlichen befeuert die Unzufriedenheit mit der real erfahrenen Wunsch nach Abgrenzung von der extremen Rechten Demokratie […] auch autoritär-populistische Optionen«.637 und den Widerspruch zu der Darstellung als ›neurechte Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Montags- Bewegung‹« gibt.639 Es sind, in gewissem Widerspruch mahnwachen zeichnet eine große Skepsis gegenber dem dazu, aber auch »hohe Zustimmungsraten zu antisemiti- schen, antiamerikanischen und autoritären Aussagen« zu konstatieren, doch fnden sich nur bei einer Minderheit 635 Die autoren von »Occupy Frieden« weisen in diesem zusammenhang auf die tatsache hin, dass die umfangreich dokumentierten problematischen rechtsextreme Einstellungsfragmente, ohne sich zu einem aussagen im Kontext der Mahnwachen und die darauf fußende Kritik von den konsistenten rechten Weltbild zu formieren.640 Befragten mehrheitlich als ungerechtfertigt abgewiesen wurden – nur 8 Pro- zent gaben zu, dass die Kritik berechtigt sei. Dies zeigt eine abschottung der Mahnwachen-Bewegung nach außen (Daphi u.a., Occupy Frieden, s. 24). 636 Die aussage ber den »zu großen einfuss der Juden« hatten 95,6 Pro- zent der Befragten verneint, setzt man statt Juden aber den Begriff »zionisten« ein, der eine verbindung zu Israel herstellt, dann wird die aussage ber deren »weltweite Macht« nur von 53 Prozent abgelehnt. Diese verschiebung bezeich- nen werner Bergmann/rainer erb als »Umwegkommunikation«, da in Bezug auf Israelis/zionisten antisemitische einstellungen offener kommuniziert wer- den (Kommunikationslatenz, Moral und ffentliche Meinung. theoretische 638 ebenda, s. 25. Überlegungen zum antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Klner zeitschrift fr soziologie und sozialpsychologie, 38 (1986) 2, s. 223–246. 639 ebenda, s. 28. 637 Daphi u.a., Occupy Frieden, s. 20, tab.4. 640 ebenda.

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8.2.4 Zum Antisemitismus in der Friedenbewegung universalistisch-egalitär als eine nationale Grenzen ber- windende harmonische Gemeinschaft aller Menschen In ihrer Untersuchung »Zum Antisemitismus in der Frie- gedacht wird (Ken Jebsen, Pedram Shayar), Uneinigkeit densbewegung« haben sich die Autoren, Stefan Munnes besteht. Während der Bezug auf ein nationales Kollektiv u. a.641 die Frage gestellt, ob die Widersprchlichkeiten von potenziell fr die nationale Semantik des Antisemitismus linken und rechten Ideologemen bei den Montagsmahn- anfällig sei, ließe sich das fr die universalistisch-egalitäre wachen nicht doch Ausdruck einer einheitlichen Welt- Ausrichtung nicht ohne Weiteres sagen. Deshalb sehen deutung sind, in der sich Antisemitismus auf neue Weise die Autoren ihre Hypothese, »dass die Redner_innen der artikuliert.642 In der auf den Mahnwachen verbreiteten Mahnwachen ihren Zusammenhalt ber alle themati- Ideologie identifzieren die Autoren eine Reihe von Deu- schen Differenzen hinweg durch eine geschlossene, anti- tungsmustern, die anschlussfähig fr eine antisemitische semitische Ideologie sichern«, nicht vollends bestätigt.644 Personifzierung sind. Dies gilt zunächst fr das manichä- ische Weltbild, das von einem Antagonismus zwischen Ein zentrales Thema fr den Initiator der Mahnwachen, einer kleinen mächtigen Elite und einer beherrschten, Lars Mährholz, aber auch fr viele Mahnwachen-Redner harmonischen Gemeinschaft (Volk) strukturiert wird. Es und Teilnehmer war die Kritik an der Politik der FED. Lau- wird so eine Gemeinschaft des »Wir« gegen die »Ande- ra-Luise Hammel, die sich in einer Arbeit diskursanaly- ren«, die Feinde, konstruiert, wobei wir es mit der Perso- tisch mit Äußerungen aus dem Umfeld der Mahnwachen nifzierung gesellschaftlicher Prozesse zu tun haben, die zum Thema FED befasst hat, kommt zu dem Ergebnis, dass in einem weiteren Schritt dämonisiert werden.643 Krieg, sowohl die vorherrschende Darstellung der Grndung der Umweltzerstrung und das Finanzsystem werden auf amerikanischen Notenbank FED und von deren Politik als benennbare Täter reduziert, die sich, und hier kommt ein auch der Diskurs ber deren »Hintermänner« »mehr oder verschwrungstheoretisches Denken ins Spiel, mitein- weniger deutliche antisemitische Zuschreibungen enthal- ander absprechen bzw. im Verhältnis von Strippenzieher ten, welche aber nie direkt ›ausgesprochen‹, sondern ber (Obama) und Marionette (Merkel) miteinander verknpft Chiffren, kulturelle Codes und Andeutungen transportiert werden. Werden einige der »Feinde« konkret benannt, wie werden«.645 Mit Hinweisen auf »Rothschild-Agenten« die »Zionisten«, so bleibt es bei anderen bei vagen Andeu- werden die Bilder des Wucher- und Brsenjuden aufgeru- tungen wie »die da oben«. Wichtig ist dabei, dass den fen. Der FED wird vorgeworfen, praktisch alle Kriege des Mächtigen sowohl Omnipotenz als auch bse Absichten 20. und 21. Jahrhunderts vom Ersten Weltkrieg bis zum zugeschrieben werden. Die Mahnwachen verstehen sich Irakkrieg aus Gewinnsucht verursacht und anschließend als Ort der Entlarvung solcher Verschwrungen seitens dann am Wiederaufau der Zerstrungen – und damit der »gleichgeschalteten Systempresse«, weshalb sie angeb- doppelt – verdient zu haben.646 Auch dieses Bild der Juden lich von den Eliten auch in ihrer Meinungsfreiheit unter- als »Kriegsgewinnler« gehrt zum, auch von den Natio- drckt werden sollen. Was den Antisemitismus angeht, so nalsozialisten genutzten, antisemitischen Stereotypenre- bildet hier v.a. Israel ein Objekt der Dämonisierung und servoir. wird mit NS-Vergleichen, Vlkermord-Vorwrfen und Kindermord-Anschuldigungen (Jrgen Elsässer, Evelyn Auch im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Hecht-Galinski) belegt. Die Autoren der Studie betonen Zweiten Weltkrieg bedienen sich Teilnehmerinnen und aber, dass hinsichtlich der zentralen Frage, wie die kol- Teilnehmer der Mahnwachen abenteuerlicher Geschichts- lektive Identität bestimmt werden soll, ob als nationales konstruktionen. So wird behauptet, die Rockefeller Kollektiv, das durch eine Rckbesinnung auf das Nationale Standard Oil habe durch die Lieferung von Rohpetroleum und den Volkswillen gegen die vermeintliche Fremdherr- an die IG Farben zum Aufstieg der NSDAP und damit zum schaft verteidigt werden muss (Elsässer, Simon), oder ob es Deutschland in die Katastrophe fhrenden Weltkrieg beigetragen, da die IG Farben die Partei untersttzt habe. Somit hätten die »Wall Street Banker«, es werden in die- 641 stefan Munnes/nora lege/corinna harsch, zum antisemitismus in der sem Kontext Juden wie Max Warburg und die Rothschilds Friedensbewegung. eine weltanschauungsanalyse der ersten bundesweiten genannt, den Nazis zur Macht verholfen. Nach dieser »Mahnwache fr den Frieden«, in: Jahrbuch fr antisemitismusforschung, 25 (2016), s. 217–240. Diese erste bundesweite Mahnwache fand am 19.7.2014 Logik des Schuld-Abwehr-Antisemitismus (→ Defnition) im rahmen zweier Kundgebungen und einer Demonstration in Berlin statt, an seien somit nicht die Deutschen schuld am Zweiten Welt- denen rund 3000 Personen teilnahmen. krieg und damit auch an der Verfolgung und Ermordung 642 sie verweisen auf einen artikel von laura-luise hammel, die sich dis- kursanalytisch mit äußerungen aus dem Umfeld der Mahnwachen zum thema Federal reserve Bank befasst hat und darin die Kombination zweier 644 ebenda, s. 239. antisemitischer Bilder erkennt: die des »geldgierigen Juden und wucherers« und die vorstellung von einer »jdischen weltverschwrung«; https://www. 645 hammel, verschwrungstheorien, s. 95. academia.edu/13098275/antisemitische_und_antiamerikanische_verschw 646 ereignisse, die den Kriegseintritt der Usa in diese Kriege veranlassten, wie %c3%B6rungstheorien._eine_Diskursanalyse_im_Umfeld_der_Mahnwachen_ die torpedierung der rMs lusitania durch deutsche U-Boote, der japanische f%c3%Bcr_den_Frieden (eingesehen 7. 12. 2016). angriff auf Pearl harbour oder die terroranschläge von 9/11 seien von hinter- 643 Munnes u.a., zum antisemitismus in der Friedensbewegung, s. 228 ff. männern der FeD organisiert worden.

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der europäischen Juden, sondern die jdisch-amerikani- gegrndet.650 Dennoch drfte Pegida Nachwirkungen auf schen Bankhäuser.647 Laura-Luise Hammel zeigt zudem, den ffentlichen Diskurs, die politische Kultur und die dass etwa von Ken Jebsen und anderen zwischen Juden politische Landschaft haben. Diejenigen, die dort in der und zionistischen Tätern unterschieden wird (s.o. die Masse mitliefen, tragen viele ihrer Einstellungen weiterhin Ergebnisse der Umfrage). Während Erstere als Opfer des mit sich und artikulieren diese im Internet und/oder an Holocaust gelten, wenden sie sich gegen die »Zionisten«, der Wahlurne. Dies liefert ebenso wie die Zurckhaltung die keinen Finger fr die Opfer des Holocaust gerhrt der Sächsischen Landesregierung unter Ministerpräsi- hätten und fr die Hitler letztlich ihr Ziel, nämlich die dent Stanislav Tillich nicht zuletzt auch Legitimation Grndung Israels, herbeigefhrt habe. Heute wrden die und Ansporn fr die vielen gewalttätigen Übergriffe auf radikalen Zionisten die amerikanische Regierung und die Flchtlingsunterknfte in den Jahren 2015 und 2016.651 Zu Massenmedien kontrollieren.648 befrchten ist, dass Pegida trotz des Abfauens ihrer Mobi- lisierungskraft die Stimmung und die politische Kultur insbesondere in Sachsen, aber auch im brigen Bundes- 8.2.5 Fazit gebiet beeinfusst hat und dies auch den Antisemitismus befrdert haben knnte. Die Montagsmahnwachen stellen eine politisch hetero- gene Protestbewegung dar, deren Teilnehmer sich in ihrer Im Folgenden werden in Krze einige Beobachtungen großen Mehrheit eher als politisch links verstehen, aber und Einordnungen zur Frage zusammengefasst, wie und die aufgrund ihrer Offenheit und fehlenden politisch-in- inwieweit Antisemitismus bei Pegida und ihren Ablegern haltlichen Festlegung Raum fr Themen bietet, die mit eine Rolle spielte bzw. dort Stimmungen vorherrschten, der personifzierenden Kritik am Finanzkapitalismus, mit die auch mit Antisemitismus verknpft sind bzw. ihn der Behauptung, die Bundesrepublik sei kein souverä- befrdern knnen. Hierzu wurden ergänzend zu den ner Staat, manipulierte Massenmedien (»Lgenpresse«), Erkenntnissen aus aktuellen Studien Hintergrundgesprä- Weltverschwrungstheorien usw. eine gefährliche Nähe che mit Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft zu zentralen Topoi des Antisemitismus und zu rechtsext- und aus zivilgesellschaftlichen Organisationen gefhrt, die remen Deutungen aufweisen. als Beobachter in verschiedenen Regionen Demonstrati- onen unter dem »-gida«-Label begleitet haben. Es wurde gezielt die Expertise von Personen eingeholt, bei denen von einem kritischen Blick auf rechtspopulistische und 8.3 zur rolle von antisemitismus rechtsextreme Strmungen ausgegangen werden kann, bei Pegida u.a. weil die kritische Beobachtung regionaler rechtsextre- mer und antisemitischer Tendenzen zur Aufgabenstellung

8.3.1 Einleitung 650 zur entwicklung von Pegida ber die zeit siehe Karl-siegbert rehberg, Dresden-szenen. eine einleitende situationsbeschreibung, in: Karl-siegbert Am 20. Oktober 2014 fand die erste montägliche Demons- rehberg/Franziska Kunz/tino schlinzig, PeGIDa. rechtspopulismus zwischen tration in Dresden unter der Selbstbezeichnung Patrioten Fremdenangst und »wendeenttäuschung«?, Bielefeld 2016; armin Pfahl- Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) traugh ber, Pegida – eine Protestbewegung zwischen ängsten und ressenti- ments II, Dossier rechtsextremismus, Bundeszentrale fr politische Bildung statt. Schnell nahm diese Bewegung an Fahrt auf und zog vom 17. 2. 2016, https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/ ber ein Jahr lang die Aufmerksamkeit der medialen und 218681/pegida-eine-protestbewegung-zwischen-aengsten-und-ressentiments-ii (eingesehen 7. 12. 2016). politischen Beobachter auf sich. In etlichen anderen Städ- ten entstanden – nicht immer von den Pegida Initiatoren 651 zur anzahl von Übergriffen auf Flchtlingsunterknfte und auf gefch- tete Personen vgl. Bundeskriminalamt, lageberichte zur Kriminalität im Kon- autorisierte – Ableger unter dem »-gida«-Zusatz (Legida text von zuwanderung. Kernaussagen (erstes halbjahr 2016), wiesbaden 2016, in Leipzig, Bergida in Berlin, Mgida in Mnchen, Dgida s. 8. Den verstärkenden einfuss von sozialen normen und einstellungen im sozialen Umfeld auf verhalten belegen viele empirische studien, basierend auf 649 in Dsseldorf usw.) mit allerdings deutlich weniger dem klassischen Modell von ajzen/Fishbein; Überblick bei: Icek ajzen/Martin Beteiligten. Die Aufmerksamkeit und die Teilnehmerzah- Fishbein, the Infuence of attitudes on Behavior, in: Dolores albarracins/Blair len von Pegida sind mittlerweile deutlich zurckgegangen, t. Johnson/Mark P. zanna (hrsg.), the handbook of attitudes, Mahwah 2005, s. 173–221; Gordon w. allport, the nature of Prejudice, cambridge 2005. so einige montägliche Märsche mussten mangels Teilneh- sagte tillich in einem Interview mit der welt, 25.1.2016, in dem es eigentlich mern sogar abgesagt werden, etliche zentrale Akteure sind um Pegida ging: »Der Islam gehrt nicht nach sachsen«, https://www.welt.de/ politik/deutschland/article136740584/Der-Islam-gehoert-nicht-zu-sachsen. ausgestiegen bzw. haben z.T. auch im Streit Abspaltungen html (eingesehen 25.11.2016). Beispielhaft ist auch ein Interview im heu- te-Journal am 22.2.2016, in dem tillich auf die Frage des Umgangs mit Pegida ausweichend antwortete und zunächst auf die Proteste von stuttgart 21 ver- 647 hammel, s. 106. wies. In einer Pressekonferenz verwahrte sich der Ministerpräsident dagegen, wie »pauschalisiert ber sachsen gesprochen wird«, räumte aber ein, es be- 648 ebenda, s. 117 f. drfte der nachbesserungen auch in Polizei und Justiz beim Kampf gegen den 649 Die Dresdner Pegida Organisatoren distanzierten sich ffentlich von ei- rechtsextremismus. Kritik an tillichs unklarer Positionierung u.a. bei http:// nigen Bndnissen in nrw, darunter Kgida (Kln), Dgida (Dsseldorf) und www.tagesspiegel.de/politik/fremdenhass-in-sachsen-tillich-cdu-weltoffen- Bogida (Bonn). nur-in-worten/13003286.html (eingesehen 25. 11. 2016).

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der zivilgesellschaftlichen Organisationen, fr die sie tätig nicht thematisiert oder als nicht auffällig beobachtet; sind, gehrt und die u.a. auch durch das Bundesprogramm Ausnahme ist die Studie des Forscherteams um Dieter »Demokratie leben!« gefrdert werden. Rucht, die in einer Befragung von Pegida-Teilnehmenden auch eine Frage zum Antisemitismus stellten.656

8.3.2 Vorberlegungen zur Rolle von Dennoch stellt sich bei einer Ressentiment-Bewegung Antisemitismus bei Pegida immer die Frage, inwieweit dort auch Antisemitismus beobachtet werden muss bzw. mindestens subtil mit- Im vorliegenden Bericht wird generell auf die Demonstra- schwingt oder anschlussfähig ist. Rechtspopulistische tionen unter dem »-gida«-Label Bezug genommen, unab- Strmungen – und dazu lässt sich Pegida sowohl ber das hängig vom Ort der Demonstration und den Organisato- Auftreten und die Rhetorik ihrer Redner als auch in Bezug ren bzw. der Frage, ob diese von den Dresdner Initiatoren auf ihre Inhalte zählen – bieten in mehrfacher Hinsicht autorisiert wurden. Gerade die Verselbstständigung und ein Einfallstor fr Antisemitismus.657 Lediglich danach zu die zunehmende inhaltliche wie auch personelle Vermi- schauen, welche offen artikulierten Statements vonseiten schung mit verwandten Strmungen der »Querfront«, den der Akteure oder Demonstrationsteilnehmenden es gab, »Friedens- und Montagsmahnwachen«, verschwrungs- reicht daher nicht aus. Es gehrt vielmehr zum rhetori- theoretischen Publikationsorganen, der organisierten schen Mittel rechtspopulistischer Akteure, Botschaften in Neonazi- und Hooligan-Szene mit Überschneidungen zu Subtexten mitschwingen zu lassen, von denen man sich Hogesa (Hooligans gegen Salafsten) und den Identitären ist dann nicht in aller Eindeutigkeit distanziert. fr die Einordnung als gesellschaftliches Phänomen und fr die Untersuchung der Rolle von Antisemitismus von Nach Einschätzung der befragten Expertinnen und Exper- Bedeutung.652 ten spielte der Antisemitismus auf den Demonstrationen von Pegida vordergrndig keine Rolle. Dennoch war Anti- Die Protestbewegung, die sich mit Armin Pfahl-Traugh- semitismus in mehrfacher Hinsicht präsent. Offene und ber »als Ressentiment-Bewegung im Sinne des sozialen gezielte antisemitischen Ausfälle von Demonstranten und Rechtsextremismus«653 einordnen lässt, positionierte sich auf Plakaten ließen sich v.a. bei den kleineren Demonstra- zu Beginn insbesondere als »Anti-Islam«-Bewegung gegen tionen nachweisen, bei denen der Anteil von organisierten Muslime, bald aber auch gegen weitere soziale Gruppen, rechtsextremen Gruppierungen bzw. Akteuren deutlich darunter v.a. Gefchtete und homosexuelle Menschen hher war bzw. die dort dann auch offensiver auftraten bzw. gegen Homosexualität im Allgemeinen. Juden stan- als auf den Dresdner Demonstrationen. So bernah- den nicht direkt im Fokus. Die Bundesregierung konnte men beispielsweise auf den Kagida-Demonstrationen in im Rahmen der Demonstrationen von Pegida keine anti- Kassel (ein autorisierter »-gida«-Ableger) in der lokalen semitischen Aussagen, Tendenzen oder Slogans erkennen, Neonazi-Szene fest verankerte Personen regelmäßig die sie erwähnte lediglich eine Einfussnahme von ProNRW Ordnerfunktion, so wie dies z.T. auch in Dresden Mitglie- auf die Gida-Gruppierungen in einigen Städten in Nord- der der lokalen Hooligans taten.658 Michael Viehmann, rhein-Westfalen.654 Dem widersprach explizit u.a. Josef der Anmelder und Hauptorganisator von Kagida, schrieb Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, der her- in seinem persnlichen Facebook Account: »man solle vorhob, Antisemitismus ließe sich durchaus in Teilen von Merkel hängen, das Vieh«, da sie das »Judenpack« bei Pegida feststellen.655 Vorliegende Studien und Analysen zu den militärischen Auseinandersetzungen untersttzen Pegida haben bislang keinen expliziten Bezug auf Antise- wrde. Und weiter mit Bezug auf die Bombardierung des mitismus genommen, ihn entweder nicht gezielt erhoben, Gaza-Streifens durch die israelische Armee: »Wer stoppt Juden bei ihrem Massenmord, wir Deutschen werden die Juden wieder hassen.« Die Staatsanwaltschaft stellte 652 zur verbindung zu Pegida, hogesa und Montagsmahnwachen u.a. lars Geiger/stine Margs/Franz walter, Pegida. Die schmutzige seite der zivilgesell- schaft?, Bielefeld 2015, s. 23 f. 656 Priska Daphi/Piotr Kocyba/Michael neuber/Jochen roose/Dieter rucht/ 653 eine analyse von Pegida wenige Monate nach der entstehung und ein Franziska scholl/Moritz sommer/wolfgang stuppert/sabrina zajak, Protest- Jahr später bieten die Beiträge von armin Pfahl-traughber, Pegida – eine Pro- forschung am limit. eine soziologische annäherung an Pegida, Berlin 2015, testbewegung zwischen ängsten und ressentiments. eine analyse aus der s. 28, tab. 11. Keine erwähnung fndet der antisemitismus u.a. im sammelband sicht der Bewegungs-, extremismus- und sozialforschung. Bundeszentrale fr von tino heim, Pegida als spiegel und Projektionsfäche, wiesbaden 2016. Politische Bildung, Dossier rechtsextremismus vom 2.2.2015 und teil II vom 657 so warnt in diesem zusammenhang der israelische Politikwissenschaftler 17. 2. 2016. zeev sternhell in einem Interview mit der Jdischen allgemeinen, 24.11.2016: 654 antwort der Bundesregierung auf eine diesbezgliche anfrage von Bnd- »Die Juden mssen aufpassen, sehr aufpassen. Das schicksal der Juden hängt nis90/die Grnen, Drucksache 4173 vom 3.3.2015, s. 9, http://dip21.bundestag. nämlich vom status der liberalen werte ab. wenn diese werte wackeln, sind die de/dip21/btd/18/041/1804173.pdf (eingesehen 25. 11. 2015). Juden in Gefahr,« http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/27074 (eingesehen 25. 11. 2016). 655 Mathias Meisner, zentralrat der Juden widerspricht Bundesregierung, in: Der tagesspiegel, 5. 3. 2015, http://www.tagesspiegel.de/politik/antisemitismus- 658 auskunft der Mobilen Beratung gegen rechtsextremismus zu den De- bei-pegida-und-afd-zentralrat-der-juden-widerspricht-bundesregierung/ monstrationen in Kassel und Kulturbro sachsen Dresden; expertengespräch 11461234.html (eingesehen 25. 11. 2016). fr diesen Bericht.

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Strafanzeige und begrndete dies damit, er habe mit dem 3. Die diffuse Mischung aus Themen und Positionen: Eintrag »jahrhundertealte Klischees vom ›kindermorden- den Juden‹ bedient, die auch die Nazis verwendeten«. V.a. Bei der im selbstgewählten Namen formulierten Position aber war Antisemitismus subtil und unterschwellig durch »gegen die Islamisierung des Abendlandes« wird nicht die begleitenden Themen und insbesondere diversen erläutert, was genau damit gemeint ist. Nichtsdestotrotz Verschwrungsmythen präsent. Dafr steht die Aus- spielten die Themen Islam und Muslime eine zentrale wahl und die Position einiger prominenter Redner und Rolle auf den Demonstrationen, blieben aber keineswegs der Zuspruch, den sie im Publikum ernteten. Viehmans die einzigen Schwerpunkte. Als weiteren Themenstrang Behauptung, sein Facebook Account sei »gehackt« worden, gab es den Protest »gegen das System«, worunter sich folgte das Amtsgericht Kassel nicht und verurteilte ihn Angriffe gegen die Politik in ihrer Gesamtheit ebenso wie wegen Volksverhetzung.659 Pegida und ihre Ableger zeich- gegen einzelne konkrete Politikerinnen und Politiker, die neten sich durch einige Besonderheiten aus, die in Form als »Volksverräter« beschimpft wurden (u.a. Bundeskanz- und Ausmaß erstmalig so in Deutschland zu beobachten lerin Angela Merkel, der SPD-Vorsitzende waren und auch fr die Frage, inwiefern Antisemitismus oder die Grnen-Politikerin ), summieren bei Pegida eine Rolle spielt, von Bedeutung sind.660 lassen, wie auch gegen die Medien, oft beschimpft als »Lgenpresse«. 1. Die Grndung und Begleitung im Internet: 4. Die erklärte Untersttzung durch eine Partei: Kurz vor der ersten Demonstration richtete der Initiator Lutz Bachmann eine Facebook-Gruppe mit der Verlinkung Alexander Gauland, namhaftes Mitglied der Partei Alter- zu etlichen anderen Plattformen ein, die als mindestens native fr Deutschland (AfD), die parallel zu Pegida ihren rechtspopulistisch, z.T. auch klar rechtsextrem bzw. Aufstieg nahm, bezeichnete Pegida und ihre Ableger als neurechts eingestuft werden mssen, darunter u.a. die »den natrlichen Verbndeten der AfD« und machte Plattform Politically Incorrect (PI-news). Allerdings scheint viele gemeinsame Schnittmengen aus, rckte aber später die Information ber einschlägige Internetseiten fr die wieder davon ab.664 Nachdem das Verhältnis zwischen Teilnahme eher eine untergeordnete Rolle zu spielen; sie den Hauptakteuren von Pegida und der AfD zwischen- nutzten nach eigenen Angaben berwiegend kommerzi- zeitlich deutlich abgekhlt war, lud Lutz Bachmann von elle und ffentlich-rechtliche Medien.661 seinem »Exil« in Teneriffa zentrale Bundes- und Landes- vorsitzende der AfD (Frauke Petry, Alexander Gauland, 2. Die große Bedeutung individueller Akteure: Bjrn Hcke, Andre Poggenburg und Leif-Erik Holm) per Videobotschaft zum zweiten Jahrestag von Pegida nach Anders als bei vorangegangenen Protestbewegungen ging Dresden ein, um auf der Bhne zu sprechen.665 die Initiative nicht von einer politischen Organisation aus, sondern von Einzelpersonen, die sich zu einem Organi- Um die Rolle von Antisemitismus bei Pegida und ihren sationsteam von rund zehn Personen zusammenschlos- Ablegern abzuschätzen, wurden daher die folgenden sen.662 Auch wenn einige Akteure Mitglieder von Parteien Aspekte betrachtet bzw. in Expertengesprächen themati- waren bzw. sind, handelten sie offenbar nicht in deren siert: (1) Positionierung zu Juden und zum Antisemitismus Auftrag. Akteure sind bzw. waren hier u.a. der Haupt- auf der offziellen Homepage von Pegida, (2) Äußerun- initiator Lutz Bachmann (der sich inzwischen wegen gen und Agieren von Hauptakteuren und Rednern, (3) Volksverhetzung vor Gericht verantworten muss), Kathrin Meinungsäußerungen der Demonstrationsteilnehmenden Oertel, Siegfried Däbritz (ehemaliger FDP-Stadtrat), René verbal und auf mitgefhrten Plakaten, (4) Hinweise aus Jahn und Tatjana Festerling, die nach einem Zerwrfnis Meinungsumfragen ber politische Einstellungen der mit Lutz Bachmann inzwischen aus Pegida ausgeschlossen Teilnehmenden, (5) Beobachtungen zur milieuspezifschen wurde. 663 Zusammensetzung der Demonstranten sowie (6) Hinweise auf einen Einfuss auf die politische Kultur und Stim- mungslage.

659 Information der Mobilen Beratung gegen rechtsextremismus hessen, expertengespräch. vgl. auch Bericht in der hessenschau, 18.8.2016, http:// hessenschau.de/panorama/kagida-chef-muss-fuer-judenhetze-zahlen,prozess- kagida-100.html (eingesehen 25. 11. 2016). 664 Bericht auf welt/n24: https://www.welt.de/politik/deutschland/article 660 Pfahl-traughber, Pegida – eine Protestbewegung. 136927091/Fuer-afD-vize-Gauland-ist-das-thema-Pegida-erledigt.html (ein- gesehen 25. 11. 2016). 661 Daphi u.a., Protestforschung am limit, s. 18, abb. 10. 665 Die einladung von Bachmann wurde von Frauke Petry abgelehnt; http:// 662 Pfahl-traughber, Pegida – eine Protestbewegung. www.faz.net/aktuell/politik/inland/weniger-teilnehmer-kommen-zum-2- 663 Geiges/Marg/walter, Pegida, s. 13 ff. PeGIDa-jahrestag-14484171.html (eingesehen 25. 11. 2016).

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8.3.3 Wer demonstrierte mit bei Pegida? tonangebend,670 die bei Spielen von Dynamo Dresden bereits durch antisemitische Banner aufgefallen waren.671 Beteiligten sich an der ersten Pegida-Demonstration in Dresden nur 350 Personen, wuchs die Zahl der Teilneh- º Die Demonstrationsteilnehmenden bei Pegida in menden jedoch schnell an. Zeitweilig versammelten sich Dresden werden berwiegend als »Durchschnittsbevl- bis zu 25.000 Personen zu einem »Montagsspaziergang«, kerung« beschrieben. Die Teilnehmerschaft der deutlich so die offzielle Selbstbezeichnung. An ihrem zweiten kleineren »-gida«-Ableger ist stärker durch organisierte Jahrestag im Oktober 2016 waren noch 7500 Personen Rechtsextreme geprägt. beteiligt. Im November 2016 sank die Zahl der Teilneh- menden auf rund 2000 Personen ab666 Die Demonstrati- onen unter dem »-gida«-Label in anderen Städten waren 8.3.4 Die offzielle Homepage von Pegida672 deutlich kleiner und die Teilnehmerschaft deutlich stärker als die Dresdner Demonstrationen von der organisierten Auf ihrer Homepage zeigt Pegida auf der Startseite ein Neonazi- und Hooligan-Szene mitbestimmt. Foto von einem Demonstrationsplakat, auf dem steht: »Fr ein christliches Abendland«. In anderen Statements Mittlerweile liegen einige Studien, die auf Befragungen vereinnahmt Pegida Juden fr die Differenzierung zwi- der Teilnehmenden beruhen, und Beobachtungsberichte schen Christen und Juden auf der einen und Muslimen auf dazu vor, wer sich an den Demonstrationen von Pegida der anderen Seite. So wird auf der offziellen Pegida-Seite und ihren Ablegern beteiligte. Studien in Dresden, wo von einer Demonstration im Dreiländereck Villingen die mit Abstand grßten Demonstrationen stattfanden, berichtet: »Sehr interessant war auch die Rede eines beschreiben die Teilnehmenden auf Basis von Befragun- jdischen Arztes aus Frankreich, der im Krankenhaus, gen bereinstimmend als »normale Durchschnittsbr- wo er arbeitete, von moslemischen Patienten und deren ger«.667 Die Forschergruppe um Patzelt nennt als typische Angehrigen rigoros bedroht wurde und diese Umstände Demonstrationsteilnehmer »Männer aus Dresden und ihn zum Umzug nach Israel bewogen. Er meinte auch Umgebung, verheiratet, älter, konfessionslos, (frher) die Antifa seien die wahren Faschisten und eben nicht berufstätig, gute (praxisorientierte) Bildung, durchschnitt- die Pegida-Teilnehmer.« Die offzielle Pegida-Seite hat in liches bis unterdurchschnittliches Einkommen«, wobei die der Themenrubrik eine eigene Sparte zum Thema Juden Teilnehmerschaft zugleich auch in Bildung und Einkom- bzw. Judenverfolgung. Hier fnden sich drei Beiträge ber men sehr heterogen war und andere Befragungen auf linken Antisemitismus und Antisemitismus von musli- eine etwas jngere Altersstruktur verweisen.668 Allerdings mischer Seite, darunter ein Ausschnitt eines Beitrags auf war die Verweigerungsrate hoch669 und es muss davon faz.net mit Auszgen eines Interviews der dpa mit Petr ausgegangen werden, dass sich insbesondere Personen Papousek, dem Vizepräsidenten des Jdischen Weltkon- mit eindeutig rechtsextremen Einstellungen und aus gresses.673 Deutlich wird hier eine doppelte Instrumentali- organisierten rechtsextremen Gruppierungen, die in der sierung von Juden: Zum einen, um sich selbst als »juden- Regel eher jnger sind, nicht befragen ließen. So waren freundlich« darzustellen und durch diese Konstruktion in Dresden regelmäßig rechtsmotivierte Hooligans mit des »Wir« vom eigenen Antisemitismus abzulenken und den Vorwurf des Rechtsextremismus auszuhebeln, zum anderen, um sie gegen Muslime in Stellung zu bringen.674 Eine kritische Analyse von Antisemitismus im rechten und rechtsextremen Spektrum fndet nicht statt, ebenso wenig wie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemi- tismus in der »Mitte«, zu der sich viele der Teilnehmenden 666 zur Problematik der zählung der teilnehmenden von Demonstrationen und zur mglichen Bedeutung der publizierten zahlen fr die Mobilisierung der Pegida-Demonstrationen zählten. am Beispiel von Pegida vgl. roger Berger/stephan Poppe/Mathias schuh, ever- ything counts in large amounts. zur Problematik der zählung von Demons- trationsteilnehmern, in: rehberg/Kunz/schlinzig, Pegida, s. 113–132; zahlen fr november zum redaktionsschluss des vorliegenden Berichts: twittermel- 670 Olaf sundermeyer, wir machen dich platt, faz.net, 30.12.2014, http:// dungen der Forschergruppe »Durchgezählt« unter https://durchgezaehlt.org/ www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/pegida-demonstranten-machen- PeGIDa-dresden-statistik/ (eingesehen 25. 11. 2016). front-gegen-etablierte-medien-13345656.html (eingesehen 25. 11. 2016). 667 Geiges/Marg/walter, Pegida; hans vorländer/Maik herold/steven 671 http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2011/04/14/antisemitische-hetze- schäller, wer geht zu Pedgia und warum? schriften zur verfassung und Demo- unter-dynamo-dresden-fans_6079 (eingesehen 7. 12. 2016). kratieforschung, 1 (2015); Daphi u.a., Protestforschung am limit; werner Pat- zelt/Joachim Klose, Pegida. warnsignale aus Dresden. Dresden 2016; zentrale 672 https://PeGIDaoffziell.wordpress.com/ (eingesehen 25. 11. 2016). Befunde, ehttps://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/polsys/forschung/pegida/ 673 susanne Kusicke, Die neue angst der Juden in europa, in: faz.net, studie3-januar2016#section-2 (eingesehen 25. 11. 2016). 16. 2. 2015, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/anschlaege-und- 668 zusammenfassend Karl-heinz reuband, wer demonstriert in Dresden schaendungen-juden-europas-in-angst-13431441-p2.html (eingesehen 25.11. fr Pegida?, in: Mitteilungen des Instituts fr Deutsches und Internationales 2016). Parteienrecht und Parteienforschung (MIP), 21 (2015), s. 133–143. 674 zur Funktionalisierung vgl. u.a. wolfram stender, Der PeGIDa antisemi- 669 U.a. Daphi u.a., Protestforschung am limit. tismus, in: Überblick, 2 (2015), s. 5–9.

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Die Hauptseite von Pegida auf Facebook hat einen rasan- trägt, endlich in Ruhe!«679 Wenig später rief sie auf einer ten Aufstieg erlebt, der nach Einschätzung der beob- Demonstration in Sebnitz dazu auf, die eigentlichen Ver- achtenden Amadeu Antonio Stiftung selbst im Kontxt der ursacher und Strippenzieher hinter der Flchtlingskrise Sozialen Medien bemerkenswert ist. Die »Likes« ber- beim Namen zu nennen, wobei sie auf »den Finanzmogul stiegen zum Zeitpunkt der Beobachtung Anfang Februar George Sorros«, die »Bilderberger« und die im »verbor- 2015 z.B. bei Weitem die von SPD und CDU. Die Seite ist genen agierenden Hochfnanzknige« verwies.680 Die gut vernetzt mit anderen Facebook-Angeboten aus dem vordergrndige Globalisierungskritik durchzieht damit rechten Spektrum und erhält u.a. auch die Untersttzung ein eindeutig antisemitischer Subtext. vonseiten der NPD, der Identitären Bewegung und der German Defence League.675 Unter den eingeladenen Gastrednern fnden sich zuneh- mend Vertreter der Neuen Rechten, darunter Gtz Kubit- º Auf der offziellen Homepage von Pegida wird explizit schek und René Stadtkewitz sowie Michael Mannheimer, zu Antisemitismus Stellung bezogen, allerdings aus- der ber linken Antisemitismus publiziert und in einer schließlich mit Verweis auf Antisemitismus bei Linken rhetorischen Wendung die These vertritt, Hitler und die und unter Muslimen. Aussagen einzelner Juden werden NSDAP seien genuin links gewesen, der Antisemitismus fr die Positionierung gegen Muslime instrumentali- daher also ein Phänomen der Linken. Daneben verortet er siert. Die Facebook-Seite von Pegida erhält Unterstt- Antisemitismus v.a. bei Muslimen. Zu den Eingeladenen zung durch neurechte und rechtsextreme Gruppierun- gehrt u.a. auch der Grnder des Compact-Magazins und gen. Schreiber auf der rechtsextremen Plattform PI-News, der Journalist Jrgen Elsässer, vielfach Redner v.a. im Rah- men der »Montagsmahnwachen«, den Judith Ditfurth als 8.3.5 Antisemitismus in Statements vonseiten der einen »glhenden Antisemiten« bezeichnete und der sich Organisatoren und eingeladener Redner immer wieder antisemitischer Codes und Chiffren, wie z.B. des Verweises auf das US-amerikanische »Ostksten- Auf den Demonstrationen von Pegida fndet sich mit Blick kapital«, bedient.681 Eingeladen war auch Akif Pirinçci, der auf Antisemitismus ein gemischtes Bild, wobei die Reden mit einer Hass-Rede fr einen Eklat auf der Pegida-De- im Laufe der Zeit immer aggressiver und ausfallender monstration sorgte, indem er sagte: »Offenkundig scheint wurden.676 Einige der Hauptakteure wie Lutz Bachmann man bei der Macht die Angst und den Respekt vor dem und Tatjana Festerling sowie auch andere Rednerinnen eigenen Volk so restlos abgelegt zu haben, dass man ihm und Redner bedienten sich in ihren Beiträgen eines schulterzuckend die Ausreise empfehlen kann, wenn es typisch (neu-)rechten Jargons (dazu gehren die Rufe gefälligst nicht pariert. Es gäbe natrlich auch andere »Lgenpresse«, »Volksverräter« und die Bezugnahme Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer auf »das System«) mit eindeutig rassistisch-vlkischen Betrieb«. Er meinte damit zwar nicht – wie z.T. fälsch- Bezgen.677 So fand am 9. November 2015, am Tag zum lich interpretiert – Gefchtete, stellte aber die Gegner Gedenken an die Novemberpogrome von 1938, eine Pegi- von Flchtlingsheimen auf eine geschmacklose Weise da-Demonstration vor der Semperoper in Dresden statt,678 als Opfer von Verfolgung dar. Dabei gingen weitere in deren Rahmen Tatjana Festerling unter dem Jubel der versammelten Demonstranten forderte: »Wir erklären hier und heute, am 9. November 2015, den Schuldkom- 679 zitiert aus einem Beitrag von stefan locke auf faz.net, 9.11.2015, http://www. faz.net/aktuell/pegida-demonstrationen-lasst-uns-mit-eurem-schuldkult- plex aus zwlf Jahren Naziherrschaft fr beendet.« Und in-ruhe-13903510.html (eingesehen 25. 11. 2105) weiter: »Lasst uns mit eurem Schuldkult fr die Vergan- 680 tatjana Festerling, rede in sebnitz am 28.4.2016, https://www.youtube. genheit, fr die keiner von uns hier die Verantwortung com/watch?v=c6_IGxszsjw [ab 7:28 min.] »wie die versteckten strippenzieher hinter den Kulissen herrschen und bereits die weltpolitik bestimmen, haben wir in dem sogenannten eU-trkei-Deal gesehen. Und Merkel ist dabei nur ei- ne erfllungsgehilfn. sie bekommt ihre aufträge, inklusive fertiger Pläne von mächtigen Globalisten, wie diesem Finanzmogul George soros. soros, die Bil- derberger, die eU-Mafa, globale Konzernkartelle und v.a. die im verborgenen agierenden hochfnanzknige – all diese Gottspieler haben uns, den Menschen 675 no-nazi-net, aufstand der herren mittleren alters? ein Beitrag zu Pegida in europa nichts anderes als den Krieg erklärt« [ende 8:10 min] und weiter: [ab in den sozialen netzwerken, amadeu antonio stiftung, Berlin 2015. 8:30 min] »es ist hchste zeit, dass wir ber die Islamisierung hinausschauen und die verursacher beim namen benennen, denn sie offenbaren sich immer 676 U.a. rehberg/Kunz/schlinzig, Pegida. deutlicher. ein soros gibt ja quasi offen zu, dass er die Flchtlingskrise mitkre- 677 zusammenfassend dazu, christian Demuth, Politische Bildung nach Pe- iert, um so die europäische zentralregierung, eine europäische Diktatur einzu- gida, expertisen fr Demokratie, 1 (2016), s. 9 ff., http://library.fes.de/pdf-fles/ fhren« [ende 8:52 min]. dialog/12324-20160209.pdf (eingesehen 14. 12. 2016). 681 Kevin culina/Jonas Fedders, Im Feindbild vereint. zur relevanz des an- 678 eine von der Belegschaft der semperoper geplante Gegendemonstration tisemitismus in der Querfront-zeitschrift compact. Die autoren kommen zu auf dem theaterplatz wurde zugunsten der Pegida-Kundgebung von der stadt- dem schluss, dass antisemitische codes und chiffren nicht nur vereinzelt vor- verwaltung verboten. vgl. alexander Demling, Pegida-Demo am Jahrestag der kommen, sondern nach ihrer analyse den ideologischen rahmen der zeitschrift reichspogromnacht? ernsthaft, Dresden?, in: bento, 8.11.2015, http://www. bilden. siehe dazu Interview mit den beiden autoren auf heise.de: https:// bento.de/politik/pegida-theater-in-dresden-protestiert-gegen-demo-am-9- www.heise.de/tp/features/Mut-zum-antisemitismus-3256917.html (eingese- november-106758/ (eingesehen 7. 12. 2016). hen 25. 11. 2016).

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Entgleisungen, die Pirinçc in diesem Zusammenhang den Initiatoren anerkannter Ableger).685 Begleitet wurde äußerte, wie etwa die Rede von »Moslemmllhalden« und Pegida Mnchen von antisemitischer Hetze in den sozi- die damit verbundene Anleihe an die entmenschlichte alen Netzwerken, u.a. auch von Seiten eines der Haupt- Sprache der Nationalsozialisten, fast unter. Auf einer klei- verantwortlichen, wie die Zeitung weiter berichtet.686 Die nen Pegida NRW-Demonstration in Duisburg fabulierte Bergida-Demonstration am 9. November 2015 zum 77. ein »Uwe« von der Rednertribne aus ber die »Protokolle Jahrestag der Novemberpogrome fhrte an der Berliner der Weisen von Zion«, in denen »der Fahrplan fr ein Synagoge Rykestraße vorbei, während die Teilnehmenden Jahrhundert« stehe.682 Reichsfagge und Reichskriegsfagge tragend »Nationaler Sozialismus jetzt!« skandierten. Zuvor war die Bundesre- º Die Hauptakteure und Redner fallen vereinzelt durch gierung von einem Redner als »Brunnenvergifter« tituliert offen antisemitische Ausfälle auf. Meist wird Antise- worden.687 mitismus auf subtilem Weg ber Verschwrungsthe- orien und antisemitische Chiffren vermittelt bzw. die Zunächst in Berlin, später auch in Dresden, lief eine kleine Stimmung gegenber Minderheiten, aber nicht explizit Gruppe bei den Demonstrationen mit einem »JewGi- gegen Juden aufgeheizt. da«-Schild mit. Sie stieß allerdings bei großen Teilen der Pegida-Anhängerschaft auf Widerstand. Als Geert Wilders als Gastredner auf einer Kundgebung in Dresden zu 8.3.6 Antisemitische Plakate und uneingeschränkter Solidarität mit Israel aufforderte, ern- skandierte Parolen tete er Schweigen und Gemurre. Die beiden CSU-Stadträte Mariam Offmann und Richard Quaas berichteten ber Auf den Demonstrationen waren Bezge zum Antisemi- diverse judenfeindliche Sprche und Verschwrungs- tismus zwar nicht dominant, doch fanden sich diverse theorien (»jdisch gesteuerte ›Asyl-Industrie‹«) auf den Beispiele einer kruden Mischung: Während immer Demonstrationen in Mnchen. Nach ihrer Einschätzung wieder auch die blau-weiße Flagge Israels mit erkenn- sei die »Flaggenparade« nur »ein zynisches Ablenkungs- barem Davidstern geschwenkt wurde – was einer der manver, das die antisemitischen Tendenzen von Pegida interviewten Experten als »Persilschein« bezeichnete –, tarnen soll«.688 Bereist als die ersten Dresdner Demonstra- wurde andernorts und manchmal auch zeitgleich offener tionen stattfanden, berichtete der Journalist Olaf Sunder- und subtiler Antisemitismus geäußert. So wurde bei meyer von aggressiven antisemitischen Pbeleien gegen den Mnchner Demonstrationen Antisemitismus ganz Medienvertreter: »Wer bei den Protestierern als Journalist offen und direkt artikuliert bzw. nahmen Personen an persnlich bekannt ist, wird bedroht und angefeindet: prominenter Stelle teil, die sich in der Vergangenheit ›Wenn sich die Sache hier dreht, seid ihr die ersten, die bereits antisemitisch geäußert hatten. Der Bayerische dran glauben mssen‹, ruft ein Demonstrant. ›Verpiss Rundfunk berichtete in diesem Zusammenhang: »Ende dich, du Judenschwein, sonst machen wir dich platt‹, brllt Februar wurde auf der Internetseite von Pegida Bay- ein kräftiger junger Mann, dessen linker Arm eine weiße ern eine Abbildung von Angela Merkel mit einer Mtze Ordnerbinde ziert; wer Pegida und Hogesa regelmäßig mit Davidstern-Symbolik gezeigt. Nachdem dies in den kritisiert, wird auf deren Demonstrationen auch krper- Medien thematisiert wurde, haben die Vertreter von lich angegangen.«689 RIAS dokumentierte antisemitische Pegida die Davidsterne durch EU-Sterne ersetzt. Allerdings Bezge bei diversen Pegida-Demonstrationen, wie etwa mit dem Hinweis auf die Vermutung stark polnisch-j- das Tragen einer Solidaritätstasche fr eine verurteilite discher Wurzeln der Bundeskanzlerin«.683 Dies greift das im Internet kursierende Gercht auf, Angela Merkel

hätte eine jdische Mutter. Die Bundeskanzlerin wird 685 Martin Bernstein, Islamfeindlich und antisemitisch in einem, in: sd- in diesem Zusammenhang auch als »zionistische Jdin deutsche zeitung, 13.10.2015, http://www.sueddeutsche.de/muenchen/ Merkel« bezeichnet.684 Nach Beobachtung der Sddeut- pegida-in-muenchen-islamfeindlich-und-antisemitisch-in-einem-1.2692351 (eingesehen 7. 12. 2016). schen Zeitung war der Neonazi Karl-Heinz Statzberger, der 686 ebenda. zitiert wird hier aus einem Posting gegen den Filmproduzenten an der Planung des Sprengstoffanschlags bei der Grund- David Groenewold: »Das [sic!] die Juden nicht nur fast 100 Prozent aller Filme steinlegung des Jdischen Gemeindezentrums beteiligt in den Usa produzieren, sondern auch im deutschen Filmgeschäft kräftig mit- war, Dauerteilnehmer bei Mgida (ein offziell auch von mischen, sollte zur allgemeinbildung gehren.« 687 Bericht zur Demonstration am 9.11.2015 auf http://publikative.org/ 2015/11/11/9-november-deutscher-schuldkomplex-offziell-beendet/ und auf der seite von Bergida: http://www.baergida.net/veranstaltungen/abend spaziergaenge-von-baergida/2015-2/november/45-baergida/ (beides einge- 682 https://www.youtube.com/watch?v=daO-shxwQlo [ab 1:28 min.]. sehen 25. 11. 2016). 683 Michale Kubitza, Unter falscher Flagge? PeGIDa und der Davidstern, 688 ebenda. Beitrag vom 9. 3. 2016: http://www.br.de/nachrichten/PeGIDa-israelfagge- 689 sundermeyer, wir machen dich platt, in Frankfurter allgemeine zei- antisemitismus-100.html (eingesehen 25. 11. 2016). tung, 30. 12. 2014, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/pegida- 684 U.a. bei https://unbequemewahrheit2014.wordpress.com/tag/angela- demonstranten-machen-front-gegen-etablierte-medien-13345656.html (ein- merkel/ (eingesehen 25. 11. 2016). gesehen 31. 12. 2016).

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Holocaustleugnerin oder aber »Juden raus«-Rufe im Teilnehmenden und hier insbesondere diejenigen, die klar Rahmen einer Demonstration in Thringen.690 Thgida rechtsextrem positioniert werden knnen, haben sich an veranstaltete u.a. auch einen Fackelmarsch zum Gedenken den Befragungen nicht beteiligt – drfte das dort ermit- an den Geburtstag von Adolf Hitler.691 telte Ausmaß antisemitischer Einstellungen allerdings eine sehr konservative Schätzung sein. º Auf Pegida-Demonstrationen wurden vereinzelt anti- semitische Plakate und Rufe registriert. Insbesondere Bei einer Befragung gaben Demonstrationsteilnehmende auf kleineren Demonstrationen (im Westen, aber auch im Herbst 2015 als Motivation ganz berwiegend die bei Legida), die anteilsmäßig stärker von organisierten Unzufriedenheit mit dem politischen System an, ein Drit- Rechtsextremen geprägt waren, wurde dies häufger tel äußerte zudem Ressentiments im Zusammenhang mit beobachtet. Asylsuchenden und Zuwanderern.694 Die Forschergruppe um Werner Patzelt beobachtete ber den Zeitverlauf der Befragungen von Januar 2015 bis Januar 2016 zwar 8.3.7 Hinweise auf die Verbreitung antisemitischer keinen Rechtsruck, aber dennoch eine Radikalisierung Einstellungen der Demonstranten der Demonstrationen von Pegida in Dresden insbeson- dere bei den jngeren Teilnehmern. Der Ton sei deutlich Unter den Teilnehmenden fanden sich vielfach Hinweise schriller und rder geworden, bis hin an die Grenzen zur auf ein deutlich rechtspopulistisches Einstellungsmuster, Strafarkeit. Fremden-, Muslim- bzw. Islamfeindlichkeit das in Bevlkerungsumfragen eng mit Antisemitismus werden mit grßerer Selbstverständlichkeit geäußert, korrespondiert.692 Explizit erhoben wurde Antisemitismus und Aggressivität gegen tatsächlich oder vermeint- allerdings lediglich in der Befragung von Demonstrations- lich Andersdenkende habe deutlich zugenommen. Die teilnehmern der Forschergruppe um Dieter Rucht ber befragten Demonstrationsteilnehmer stufen sich selbst die Aussage: »Auch heute noch ist der Einfuss der Juden in der großen Mehrheit als »Patrioten« ein. Ihre politi- zu groß« als Indikator fr klassisch antisemitische Einstel- schen Einstellungen sind u.a. von einer ausgeprägten lungen. Hier stimmten 14 Prozent der Befragten eher oder Kritik an der Umsetzung von Demokratie geprägt, der voll zu. Fr Ostdeutsche Befragte weist die Leipziger-Mit- Einschätzung, die Globalisierung brächte berwiegend te-Studie 2014 hier eine Zustimmung von zehn Prozent Nachteile fr Deutschland und die Welt sowie einer sehr aus, der gleiche Anteil fndet sich in der FES-Mitte-Stu- distanzierten Haltung zu den USA und zugleich Sympa- die 2014.693 Aufgrund der angenommenen deutlichen thien gegenber Russland. Patzelt u.a. stufen Anfang 2016 Verzerrung der Stichprobe – ein hoher Prozentsatz der rund 20 Prozent der Protestteilnehmer in Dresden als »rechtsradikal« ein, gehen aber aufgrund der wahrschein- lichen Stichprobenverzerrung von einem etwas hheren 690 Dokumentierte twittermeldungen des recherche- und Informationsstel- Anteil aus und heben hervor: »Es hat sich ein Denk- und le antisemitismus (rIas): Empfndungszusammenhang herausgebildet, von dem aus lt. @zugespielt1 Person trug heute bei #Pegida in #Dresden solitasche fr die verurteilte schoa-leugnerin #haverbeck #antisemitismus #dd3110; https:// sich bruchlos auf rechtsradikale Positionen gelangen lässt, twitter.com/report_antisem/status/793199085322993664 (eingesehen falls man sein Denken und Reden nicht diszipliniert.«695 7. 12. 2016); 82 Prozent geben inzwischen an, bei der nächsten Wahl thgida: lt. @zumsaru gestern #antisemitismus in #rudolstadt #1607ru; die AfD wählen zu wollen. Antisemitismus wurde in dieser https://twitter.com/report_antisem/status/754669830247251968 (eingese- hen 7. 12. 2016). Befragung nicht erfasst. Allerdings korreliert das in der Studie geäußerte Einstellungsmuster in der Gesamtbevl- thgida: lt.@lcBendtner riefen #neonazis in #110gotha (#thringen) zur vernichtung Israels auf und Feindbild »hochfnanz« auf transparent https:// kerung insgesamt auch mit antisemitischen Einstellungen twitter.com/report_antisem/status/782515057812967424 (eingesehen (→Einstellungen). 7.12.2016); lt. @aktionsnetzwerk meint nPD-stadtrat und #thgida aktivist Kckert politische Gegner_innen gehren nach Israel abgeschoben #J0212 #Jena; https://twitter.com/report_antisem/status/804778537345552384 Im Rahmen der aktuellen FES-Mitte-Studie 2016 wurde (eingesehen 7.12.2016); lt.@laeUFtnIcht während eines Fackelmarsches in die potenzielle Teilnahmebereitschaft der Befragten an #Jena »Juden raus« rufe #antisemitismus #j2004 #nothuegida; https://twitter. com/report_antisem/status/722896661912027136 (eingesehen 7. 12. 2016); einer Demonstration gegen Zuwanderung abgefragt. Rund lt. @zumsaru gestern #antisemitismus in #rudolstadt #1607ru #thrin- sieben Prozent der Befragten sagten, es sei eher oder sehr gen bei einer thgida Demonstration https://twitter.com/report_antisem/ wahrscheinlich, dass sie sich an einer solchen Demons- status/754669830247251968 (eingesehen 7. 12. 2016). tration beteiligen wrden, 22 Prozent halten dies fr 691 Bericht und videos unter: https://de.sputniknews.com/videos/ 20160421309361193-eskalationen-thuegida-fakelmarsch-hitler-geburtstag- eher unwahrscheinlich und 71 Prozent fr sehr unwahr- jena/ (eingesehen 7. 12. 2016). scheinlich. Die Sozialstruktur derjenigen, die sich eine 692 U.a. Beate Kpper/andreas zick/Daniela Krause, Pegida in den Kpfen – wie rechtspopulistisch ist Deutschland?, in: andreas zick/Beate Kpper, wut, verachtung, abwertung. rechtspopulismus in Deutschland, hrsg. von ralf Mel- zer und Dietmar Molthagen fr die Friedrich ebert stiftung, Bonn 2015. 694 hans vorländer/Maik herold/steven schäller, Pegida. entwicklung, zu- sammensetzung und Deutung einer emprungsbewegung, wiesbaden 2016. 693 eigene auswertungen fr diesen Bericht. näheres zur studie siehe → ein- stellungen. 695 vgl. http://wjpatzelt.de/?p=761 (eingesehen 7.12.2016).

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Beteiligung vorstellen knnen, ähnelt den befragten Teil- Der Erfolg der Pegida-Kandidatin Tatjana Festerling bei nehmenden der Pegida-Demonstrationen in Dresden.696 den Oberbrgermeisterwahlen in Dresden, die insgesamt Auffällig war auch hier, dass diese Befragten gemessen zehn Prozent der Stimmen fr sich verbuchen konnte, in am Einkommen zwar berwiegend aus der sozio-ko- einigen Wahlbezirken sogar bis zu 15 Prozent, verweist nomischen Mittelschicht stammten, sich aber in ihrer auf die Untersttzung in einigen Teilen der Bevlkerung. subjektiven Wahrnehmung als Deutsche im Vergleich zu Deutschlandweit äußerten Anfang 2015 mindestens hier lebenden Ausländern kollektiv benachteiligter und 22 Prozent der Deutschen Verständnis fr die Demonstra- in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung bedrohter tionen in Dresden, im Osten konnten sich 15 Prozent der fhlen als jene, die sich nicht an solchen Demonstratio- Befragten vorstellen, selbst an einer Pegida-Demonstra- nen beteiligen wrden. Dies sind typische Bedingungen tion teilzunehmen (im Westen nur sechs Prozent).700 fr die Suche nach einem Sndenbock – und dazu zählen klassischerweise immer auch Juden. Deutlich wird: Christian Demuth kommt in seiner Analyse fr die Verglichen mit der Mehrheit der Befragten, die es fr sehr Friedrich Ebert Stiftung zur Auswirkung von Pegida auf die unwahrscheinlich halten, sich an einer Demonstration politische Kultur zu dem Schluss: »Es ist offensichtlich, gegen Zuwanderung zu beteiligen, neigen diejenigen, wie NPD, Nazi-Kameradschaften, die ›Neue Rechte‹ und die dies fr sich nicht gänzlich ausschließen (also nur fr auch die seit ihrer Spaltung nach rechts gerckte Alterna- eher unwahrscheinlich oder sogar eher oder sehr wahr- tive fr Deutschland (AfD) Pegida als Schwungrad fr ihre scheinlich halten sich zu beteiligen) signifkant eher zu ideologischen und parteipolitischen Ziele nutzen.«701 antisemitischen Einstellungen. Dies gilt fr klassischen, sekundären wie israelbezogenen Antisemitismus (→ Def- º Ein Einfuss von Pegida auf die politische Kultur ist nition).697 wahrscheinlich, lässt sich aber nicht unmittelbar nach- weisen. Die politische Stimmung in Sachsen ist alarmie- º Demonstrationsteilnehmende weisen ein Einstellungs- rend. Der Antisemitismus ist dort aber im Vergleich zum muster auf, das auch antisemitische Einstellungen brigen Bundesgebiet nicht auffällig weiter verbreitet. nahelegt. Die Stimmung in der Gesamtbevlkerung ist polarisiert mit einer Zuspitzung von rechtsextremen Positionen, die potenziell anschlussfähig fr Antisemitismus sind. 8.3.8 Einfuss auf die politische Kultur und die politische Stimmungslage 8.3.9 Fazit Die bei Pegida geäußerten Positionen lassen sich zwischen rechtskonservativ bis rechtsradikal verorten, in jedem Fall Insgesamt spielt offener Antisemitismus, so die Einschät- fnden sich deutlich fremden- und muslimfeindliche Ein- zung der befragten Expertinnen und Experten, keine stellungen. Als Redner wurden im Laufe der Demonstra- dominante Rolle bei Pegida, doch bildet Antisemitismus tionen zunehmend häufger Vertreter der Neuen Rechten den Begleittext etlicher Statements und schwingt als Sub- eingeladen, in den Reden fnden sich damit auch Bezge text vielfach mit. Insbesondere die Verbreitung von Ver- zu ihrer rassistisch-nationalistisch-vlkischen Ideolo- schwrungstheorien und die aggressive Stimmung gegen- gie.698 Diese Positionen sind typischerweise sehr leicht ber Flchtlingen, Einwanderern und Muslimen, aber anschlussfähig auch fr Antisemitismus. auch gegenber Anstrengungen zur Gleichstellung von nicht-heterosexuellen Menschen und Frauen, die unter Auch wenn in Sachsen mit den grßten Demonstrationen Rednern und Demonstranten deutlich wurden, sind ein ein alarmierend hoher Anteil der Bevlkerung demo- ernstzunehmendes Einfallstor auch fr Antisemitismus. kratiekritische bis -feindliche bis hin zu rechtsextremen Antisemitische Einstellungen wurden in Befragungen von Einstellungen vertritt, wie der jngste Sachsen-Monitor Demonstrationsteilnehmern bislang nur in einem Ein- ausweist, ist dort die Verbreitung antisemitischer Einstel- zelfall erhoben, der auf leicht erhhte Werte im Vergleich lungen (noch) nicht auffällig (→ Einstellungen).699 zur allgemeinen Bevlkerung hindeutet. Allerdings lässt ihr sonstiges Einstellungsmuster auch auf eine hhere Verbreitung antisemitischer Einstellungen schließen. In 696 anna Klein/Michael Mller, Demokratische Mitte oder Bad civil society?, in: andreas zick/Beate Kpper/Daniela Krause, Gespaltene Mitte – Feindseli- etlichen Reden, die im Rahmen der Pegida-Demonstratio- ge zustände, hrsg. von ralf Melzer fr die Friedrich ebert stiftung, Bonn 2016, nen gehalten wurden, fanden sich antisemitische Chiffren. s. 185–201, hier s. 196 ff. Darber hinaus ließ sich auch offener Antisemitismus 697 auswertung fr diesen Bericht von Beate Kpper. regional und lokal unterschiedlich, vereinzelt oder gehäuft 698 U.a. Beobachtung der Faz von der Demonstration zum zweiten Jahrestag von Pegida: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/weniger-teilnehmer- kommen-zum-2-PeGIDa-jahrestag-14484171.html (eingesehen 25. 11. 2016). 700 arD-Deutschlandtrend 8. 1. 2016. 699 sachsen Monitor 2016. ergebnisbericht und stellungnahme des Beirats zum sachsen-Monitor 2016. 701 Demuth, Politische Bildung nach Pegida, s. 2.

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bei den »-gida«-Demonstrationen beobachten, insbeson- Im Folgenden wird ein kurzer Einblick in die Geschichte dere bei kleineren Demonstrationen, die blicherweise des Salafsmus gegeben, um dann insbesondere auf die einen hheren Anteil auch organisierter Rechtsextremer antisemitischen Bestandteile der salafstischen Bewegung aufweisen. Es gibt innerhalb der Bewegung Entwicklun- und seine Bedeutung in Deutschland einzugehen. gen in der Ausrichtung und der Zusammensetzung der Teilnehmenden, die auf eine zunehmende Radikalisierung schließen lassen. Ressentiments wurden im Laufe der Zeit 8.4.1 Grundlagen des Salafsmus vonseiten der eingeladenen Redner sowie der Demonstra- tionsteilnehmenden immer offener und aggressiver ver- Der Salafsmus ist eine Form des Fundamentalismus im treten. Welchen Einfuss Pegida und seine Ableger auf die sunnitischen Islam, die sich auf die sogenannten salaf politische Kultur und Stimmungen in der Bundesrepublik al-salih (die frommen Altvorderen) bezieht, mit denen die haben, lässt sich noch nicht abschließend abschätzen und ersten drei Generationen der Muslime gemeint sind – aus- ist konkret auch schwer nachweisbar. Auf Basis der empi- gehend vom prophetischen Wirken Mohammeds ab dem rischen Befunde zu menschenfeindlichen und rechtsex- Jahre 610 bis zum Jahre 850. Zentral fr den Salafsmus tremen Einstellungen muss befrchtet werden, dass die ist die Orientierung am utopischen Vorbild der frhisla- mittlerweile auch in den Medien präsenten Themen von mischen Gemeinde. Die Vordenker des Salafsmus teilten Pegida den Boden fr Antisemitismus bereitet haben bzw. die Wahrnehmung, die politischen Krisen der damaligen Antisemitismus leicht daran anschlussfähig ist. islamischen Gesellschaften seien auf eine Entfernung und Entfremdung vom wahren Islam zurckzufhren. Als Aus- Fr eine Verhärtung der bei Pegida vertretenen Positionen weg aus der Krise wurde in erster Linie eine Rckbesin- spielt auch die z.T. enge bzw. personenidentische Vernet- nung auf die idealisierte frhislamische Epoche gesehen. zung der Akteure mit anderen rechtspopulistischen und Es wurde davon ausgegangen, dass innere Machtkämpfe rechtsextremen Bewegungen eine wichtige Rolle. Dazu im Abbasidenreich im 9. Jahrhundert (Ibn Hanbal), der gehrt v.a. die Vernetzung bzw. Vermischung mit der Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert (Ibn Tamiyya) sogenannten Querfront, den Akteuren der sogenannten und auch der moralische Verfall in der arabischen Welt Montagsdemonstrationen702 und einschlägigen Medien des 18. Jahrhunderts (Ibn Abd al-Wahhab) rckgängig wie Compact und der Internetplattform PI-News, zu denen gemacht werden knnten, wenn die Vielfalt islamischer sich auch Verbindungen mit neurechten Strmungen wie Quellendeutung bekämpft und der Islam streng und aus- der Identitären Bewegung, Parteien wie der NPD sowie schließlich nach Koran und Sunna gelebt werden wrde. der AfD nachweisen lassen. Auch die Teilnehmerschaft hat sich zunehmend mit verschiedenen rechten Szenen – Der Salafsmus ist in erster Linie als eine politische Hooligans, den Identitären, Ablegern der AfD – vermischt Ideologie zu verstehen, die seine Machtbestrebungen mit und bedarf mit Blick auf den Antisemitismus einer beson- primären Quellen der islamischen Religion zu legitimie- deren Beobachtung. ren versucht. Nach salafstischem Verständnis knnen Muslime Gottes Gebote nur einhalten, wenn sie nach wrtlicher Auslegung des Korans sowie der Sunna und damit in der Tradition des Propheten Mohammed leben. 8.4 salafsmus Sie verstehen ihren Glaubensgrundsatz als einzig wahren Islam und lehnen alle anderen Islam-Interpretationen als Seit etwa zehn Jahren ist in Deutschland eine religis-po- unislamisch ab. Sie verdammen die ber die Jahrhunderte litische Bewegung entstanden, die als Salafsmus oder entstandene Gelehrsamkeit und damit auch alle islami- Salafya bezeichnet wird.703 V.a. die Radikalisierung junger schen Rechtsschulen. Salafsten teilen Menschen in Gläu- Muslime sowie Anschläge in verschiedenen europäischen bige und Ungläubige. Als gläubig gelten nur die Muslime, Ländern – nicht zuletzt auch gegen jdische Einrichtun- die das salafstische Verständnis vorbehaltlos teilen und gen – werden mit dem Salafsmus in Verbindung gebracht. die entsprechenden Verhaltensvorschriften praktizieren.704 Ungläubig sind fr sie nicht nur Atheisten, Christen, Juden und andere Religionsangehrige, sondern auch Schiiten 702 so sprach u.a. auf den Kagida Demonstrationen in Kassel häufg victor und Sufs ebenso wie der gewhnliche nicht-salafstische seibel, der als anhänger von verschwrungstheorien auch Mitinitiator der Kas- seler Montagsmahnwache war; auskunft der Mobilen Beratung gegen rechts- Muslim. Ziel des Salafsmus ist die vollständige Umge- extremismus; expertengespräch. staltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach 703 sowohl im englischen sprachgebrauch als auch im deutschen Kontext einem salafstischen Islamverständnis. hat sich der Begriff salafsm bzw. salafsmus durchgesetzt. Der von den Islam- wissenschaftlern rauf ceylan und Michael Kiefer eingefhrte Begriff »neo-sa- lafsmus« konnte sich im Diskurs nicht durchsetzen. Die verwendung des Prefx »neo« wrde eine neuaufage des vorhergewesenen bedeuten, das träfe aber auf den salafsmus nicht zu, weil er ein Produkt der Moderne sei. hazim Fouad/ 704 Marwan abu taam, Die salafyya-Bewegung in Deutschland, http://www. Behnam t. said (hrsg.), salafsmus. auf der suche nach dem wahren Islam, bpb.de/politik/extremismus/islamismus/136705/die-salafiyya-bewegung- Bonn 2014 s. 28 ff. in-deutschland (eingesehen 21. 9. 2016).

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Nach dem weitgehend anerkannten Modell des US-Po- antisemitische Machwerk »Die Protokolle der Weisen von litikwissenschaftlers Quintan Wiktorowicz lässt sich das Zion«.707 heutige salafstische Spektrum in drei Kategorien ein- teilen. Demnach gibt es erstens die »Puristen«. Sie sind In der Ideologie des Salafsmus ist das Feindbild der apolitisch und auf ihre puritanische Lebensweise bedacht. Zionisten und Juden besonders bedeutsam, da dieses den Ihr Hauptanliegen ist die Missionierung zum Islam Kampf gegen den Staat Israel religis legitimiert. In einem (Daʼwa). Sie lehnen politischen Aktivismus und Gewalt ab. Gutachten formulierten Experten der deutschen Sicher- »Politische Salafsten« bilden die zweite, weitaus grßte heitsbehrden, dass Salafsten eine Bedrohung durch Gruppe, eine heteregone Sammlungsbewegung, deren eine jdische Weltverschwrung und einen israelischen Religionsauslegung in Deutschland auch als »Main stream- Staatsterrorismus konstruieren, die angeblich auf den Salafsmus« bezeichnet wird. Politische Salafsten sind in Untergang und die Vernichtung der Muslime abziele. erster Linie Aktivisten und wollen das islamische Recht Dabei werden in der frhislamischen Zeit ausgetragene fr das private und ffentliche Leben durchsetzen. Die politische Konfikte des Propheten Mohammed mit dritte Gruppe sind die »Dschihadisten«, die den Dschihad einigen jdischen Stämmen in Medina als Präzedenzfälle zur Pficht eines jeden Muslims erklären. Entgegen der zur Legitimierung eines konstanten jdischen Feindbilds gltigen Deutung des Dschihad als einem Verteidigungs- herangezogen. Auch Stereotype aus dem europäischen krieg propagieren sie einen aggressiven Angriffskrieg. Sie Antisemitismus sowie die Leugnung des Holocaust wer- sind militant und wollen mit Mitteln des bewaffneten den in diesem Zusammenhang verbreitet. Darber hinaus Kampfes einen Gottesstaat errichten.705 wird im Kontext des Nahostkonfikts Gewalt gegen Juden als defensiver Dschihad propagiert. Dieser schließe auch Selbstmordattentate ein, die im Rahmen einer asymmetri- 8.4.2 Antisemitismus und Salafsmus schen Kriegsfhrung als legitim betrachtet werden.708

Wie bei allen islamistischen Strmungen ist der Antise- mitismus ein wesentliches Merkmal des Salafsmus. Der 8.4.3 Verbreitung des Salafsmus in Deutschland salafstisch geprägte weltweite dschihadistische Terror bedroht daher nicht zuletzt auch das jdische Leben, wie Salafsten bilden unter den ca. vier Millionen Muslimen in sich in den jngsten islamistischen Anschlägen in Europa Deutschland eine verschwindend kleine Gruppe, gelten zeigte, die v.a. auf Juden und jdische bzw. als jdisch aber weltweit als die momentan dynamischste Bewegung wahrgenommene Einrichtungen zielten.706 im Islamismus. Die Zahl ihrer Anhänger ist in den letzten Jahren auch in Deutschland stetig gewachsen. Die Als Wegbereiter antisemitischer Ideen innerhalb des Sicherheitsbehrden sprechen von etwa 10.000 Anhän- Islamismus sowie als wichtiger Ideologe islamistischen gern in Deutschland. Das Spektrum ist sehr heterogen und Gedankenguts gilt der Ägypter Sayyid Qutb (1906–1966), umfasst auch Formen einer unpolitischen, orthodoxen der 1950 den Aufsatz »Unser Kampf mit den Juden« und frommen Religionsausbung. Dennoch lässt sich verffentlicht. Darin formulierte er anhand einer selek- unzweifelhaft feststellen, dass fast alle dschihadistischen tiven Bezugnahme auf den Koran die These einer ewigen Terroristen ihre politische Radikalisierung im salafsti- Feindschaft zwischen Juden und Muslimen. Neben Qutbs schen Millieu erfahren: »Nicht alle Salafsten werden anderen Schriften beeinfusst dieser Beitrag bis heute isla- Dschihadisten – aber alle Dschihadisten sind Salafsten«, mistische Kreise ideologisch. Die berwiegende Mehrheit so der franzsische Islamismusforscher Gilles Kepel.709 antisemitischer Stereotype und Ideologien allerdings, die im Islamismus zu beobachten sind, stammen aus Europa Laut Bundesamt fr Verfassungsschutz sind mindestens 850 (→ Defnition). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauch- Personen aus Deutschland in die Kampfgebiete des IS aus- ten vermehrt arabische und osmanische Übersetzungen gereist. Es ist die Rede von 140 Toten, die entweder in den europäischer Schriften auf. Später folgten nationalso- militärischen Gefechten oder als Selbstmordattentäter zialistische Werke wie Hitlers »Mein Kampf« oder das

707 vgl. Bundesamt fr verfassungsschutz (hrsg.), antisemitismus im poli- tischen extremismus. Ideologische Grundlagen und argumentationsformen, Berlin 2016, s. 9. vgl auch armin Pfahl-traughber, antisemitismus im Islamis- mus. Ideengeschichtliche Bedingungsfaktoren und agitatorische erscheinungs- 705 armin Pfahl-traughber, salafsmus – was ist das berhaupt? Defnitio- formen, http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/36356/antise- nen – Ideologiemerkmale – typologisierungen, http://www.bpb.de/politik/ mitismus-im-islamismus?p=all (eingesehen 20. 11. 2016). extremismus/radikalisierungspraevention/211830/salafismus-was-ist-das- ueberhaupt (eingesehen 20. 11. 2016). 708 vgl. lagebild zur verfassungsfeindlichkeit salafstischer Bewegungen 2011, http://www.innenministerkonferenz.de/IMK/De/termine/to-beschluesse/11- 706 attentat vor jdischer schule in toulouse 2012, anschlag auf das Jdische 06-22/anlage14.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (eingesehen 7. 12. 2016). Museum in Brssel 2014, anschlag auf die Kopenhagener synagoge 2015, Gei- selnahme und Mord in einem jdischen supermarkt 2015, anschlag auf israeli- 709 http://www.fr-online.de/kultur/terrorgefahr—der-salafsmus-predigt-den- sche touristen in Istanbul 2016. bruch-,1472786,34349614.html (eingesehen 20. 9. 2016).

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Abb. 8.4: Entwicklung der Ausreisezahlen in Kampfgebiete des IS 2014–2016

Quelle: Bundesamt fr verfassungsschutz

ums Leben gekommen sind (Abb. 8.4).710 In diesem Ausmaß darstellen. Dies kann aber bisher weder durch Zusammenhang wird in Deutschland v.a. die Radikali- empirische Studien oder Expertisen deutscher Sicher- sierung junger Muslime diskutiert. Und spätestens seit heitsbehrden noch durch Berichte aus der Bildungs- dem Sommer 2014 erhielt der Salafmus in der deut- praxis bestätigt werden. Im Gegenteil, es handelt sich schen medialen und politischen Öffentlichkeit große hierbei um eine kleine Minderheit unter den Muslimen in Aufmerksamkeit, da mehrfach salafstische Prediger im Deutschland.712 deutschen Fernsehen als Gäste bei ffentlich-rechtlichen Sendern wie etwa der Polit-Talkshow »Hart aber Fair« oder »Menschen bei Maischberger« eingeladen waren, 8.4.4 Salafsmus und Antisemitismus was unweigerlich zur Bekanntmachung der salafstischen in Deutschland Szene und der Verbreitung ihrer Ansichten in der Öffent- lichkeit fhrte. Neben der Informationspficht der Medien Auf einschlägigen salafstischen deutschen Internetsei- läuft die Berichterstattung hier jedoch auch Gefahr, zur ten werden antisemitische Stereotype und Deutungen »Stereotypisierung bzw. der Verbreitung von Vorurteilen verffentlicht und Videobotschaften von in der Szene gegenber Muslimen – als angeblich gewaltbereit, rck- bekannten salafstischen Predigern zum Download bereit- ständig, starrsinnig usw.«711 beizutragen. Auch kursorisch gestellt. In einem Text von Ali Abdur-Rahman al-Hudhaif herausgerissene und alarmistisch aufereitete Befunde auf »salaf.de« werden die »bsen Absichten und Ziele der von sozialwissenschaftlichen Studien in den Medien kn- Weltmächte« u.a. folgendermaßen charakterisiert: »Die nen den Eindruck verstärken, dass Salafsmus und die aus Stärkung und Festigung des zionistisch jdischen Staates; dieser Bewegung heraus entstehenden Radikalisierungen die Zerstrung der al-Aqsa Moschee und anstelle dieser junger Muslime ein Phänomen mit großem quantitativen die Errichtung einer Synagoge, um die alten Wnsche der Juden zufrieden zu stellen; die Aufrechthaltung der mili-

710 https://www.verfassungsschutz.de/static/generated/6097-diagramm- tärischen Souveränität der Juden ber die muslimischen ausreisezahlen-2013-2016.jpg (eingesehen 7. 12. 2016). 711 vgl. thorsten Gerald schneiders, Frdern unsere Medien die salafsten? Dynamiken, verantwortung und Grenzen der Berichterstattung ber salafs- 712 aycan Demirel, Prävention in Berliner schulen. Konzepte gegen radikali- tische Gruppen; http://www.sicherheitspolitik-blog.de/2016/01/25/foer- sierung junger Muslime, in: apabiz/MBr (hrsg.), Berliner zustände. ein schat- dern-unsere-medien-die-salafsten-dynamiken-verantwortung-und-grenzen- tenbericht ber rechtsextremismus, rassismus und antisemitismus im Jahr der-berichterstattung-ueber-salafstische-gruppen/ (eingesehen 26. 10. 2016). 2014, Berlin 2015.

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arabischen Länder; die Aneignung eines großen Teiles Ausschnitte in deutscher Übersetzung vor und gelang- des Ölvorkommens in den Golfstaaten. Den Saudis wird ten an die Öffentlichkeit. Gegen den Gast-Imam wurde nur der Rest zurckgelassen; bei der leichtesten Provo- Anklage erhoben, im Rahmen der Gerichtsverhandlung kation dem Islam den Todesstoß verpassen; alle Mittel soll es nochmals zu antisemitischen Äußerungen von frdern, die gegen den Islam sind und die Moralwerte und Muslimen aus dem Publikum gegenber einem anwesen- Tugenden zerstren, so dass als Folge sich die islamischen den Juden gekommen sein.715 Staaten ständig untereinander bekriegen.«713 Auffallend in der deutschsprachigen Literatur ber Sala- Neben israelbezogenem Antisemitismus fnden sich auch fsmus ist, dass der Aspekt Antisemitismus kaum Erwäh- andere antisemitische Stereotype auf »salaf.de«. Die Juden nung fndet. Selbst bei den Anschlägen in Paris im Januar seien nicht nur durch ihre Handlungen schlecht, son- 2015 auf den koscheren Supermarkt oder im Februar 2015 dern sie seien von Natur aus bse. Sie seien Heuchler und auf eine Synagoge in Dänemark haben judenfeindliche Querulanten und brächten die Gläubigen vom rechten Motive keine besondere Erwähnung in der ffentlichen Weg ab. In einem weiteren Dokument wird unterstellt: Berichterstattung gefunden, obwohl in den Verlautbarun- »Die Juden haben unterschiedliche Wege der Begehung gen des IS immer wieder konkrete Verweise auf Juden als von Verbrechen und Massakern in ihrer schandbefeckten Ziel von Anschlägen auftauchen.716 In der März-Ausgabe Geschichte. Sie lernen nicht von historischen Ereignissen. 2015 der IS-Propagandazeitschrift Dabiq ist von der Terro- Vielmehr ziehen sie es vor, in ihrem Verrat und in ihrem risierung von Christen, Juden und Atheisten in Dänemark abscheulichen Verbrechen hartnäckig zu sein. […] Alle die Rede.717 In weiteren Ausgaben werden immer wieder Katastrophen im palästinensischen Land wurden von den Vernichtungsfantasien gegen Israel artikuliert: Eine Juden verursacht. Sie entfachen Krisen mit ihren schmut- Expansion wrde vorbereitet, um » – mit Gottes Erlaub- zigen Händen, schändlichen Seelen, kranken Herzen und nis – dem jdischen Staat, der Familie Salul [vermutlich bsen Absichten. […] Sie haben sich auf der Erde aggressiv eine abwertende Bezeichnung fr die Familie Saud, Anm. verhalten und das Blut zahlreicher unschuldiger Kinder, d. Verf.] und dem Rest der vom Islam abgefallenen Tyran- alter Menschen und armer Frauen vergossen. Die jdi- nen, den Verbndeten des Kreuzes, ein Ende zu bereiten. sche Hochmtigkeit berschritt alle Grenzen, sie tten Die Flagge des Kalifats wird sich ber Mekka und Medina unschuldige Seelen ohne irgendein Gewissen.«714 erheben, selbst wenn Apostaten und Heuchler solches ver- achten. Die Flagge des Kalifats wird sich ber Baytul-Ma- Neben salafstischen Online-Publikationen ereignen sich qdis [al-Aqsa-Moschee, Anm. d. Verf.] und Rom erheben, auch reale antisemitische Vorfälle, wie etwa im Rahmen selbst wenn Juden und Kreuzzgler solches verachten.«718 der Freitagspredigt des dänischen Gastpredigers Abu Mit einer im Dezember 2015 verffentlichten Audiobot- Bilal in der Berliner al-Nur Moschee am 18. Juli 2014, in schaft drohte der selbsternannte Khalif des IS Abu Bakr der dieser sich auf den Gaza-Konfikt bezog und zionis- al Baghdadi Israel mit Anschlägen: »Die Juden dachten, tische Juden als Mrder von Propheten und Kindern dass wir Palästina vergessen haben und sie uns ablenken darstellte. Im abschließenden Bittgebet bat er Gott um konnten. Das ist nicht der Fall. Das Palästina wird ein Grab die Ttung der zionistischen Juden. Die Predigt wurde fr Israelis werden. Unsere Bataillone kommen mit jedem damals auf dem YouTube-Kanal der Moschee hochgeladen. Tag näher.«719 Schon wenige Stunden danach lagen die einschlägigen

715 Predigtauszge: https://www.youtube.com/watch?v=0lzbKlyalde. vgl. Der tagesspiegel, 23.10.2014, http://www.tagesspiegel.de/berlin/hetzprediger- an-moschee-in-berlin-neukoelln-staatsanwalt-ermittelt-gegen-abu-bilal-ismail/ 10876260.html (eingesehen 7.12.2016); http://www.vice.com/de/read/wie-ich- mit-meiner-kippa-auf-dem-kopf-einen-salafstenprozess-besuchte (eingese- hen 7. 12. 2016) 716 Peter neumann, Die neuen Dschihadisten. Is, europa und die nächste welle des terrorismus, Bonn 2016, s. 164. 717 Dabiq vom März 2015. s. 5 f. 713 ali abdur-rahman al-hudhaif, »eine ergreifende Botschaft an die mus- limische Umma«, s. 10, www.salaf.de; http://www.al-islaam.de/chutba/PDF/ 718 Dabiq vom Februar 2015. chu0009_eine%20ergreifende%20Botschaft%20an%20die%20Umma.pdf (ein- 719 In der Jerusalem Post fndet sich ein kurzer ausschnitt aus der audio- gesehen 7. 12. 2016). botschaft mit englischen Untertiteln: http://www.jpost.com/arab-Israeli- 714 »hilfst du der sache allahs, hilft er dir!«, www.salaf.de; http://home.arcor. conflict/IsIs-leader-Baghdadi-to-Israel-we-havent-forgotten-about-you- de/bisi.f/Khutba/khutba_flistin.pdf (eingesehen 7. 12. 2016). 438483 (eingesehen 21. 9. 2016).

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8.4.5 Fazit jdischer Religion«. Beide Religionen, das Judentum umd das Christentum, werden als Verfälschungen von der Trotz dieser Hinweise auf antisemitische Grundlagen in einen gttlichen Wahrheit betrachtet. Judenfeindliche der Ideologie des Salafsmus und den häufg gegen Juden Haltungen seien eher untergeordnet. Farschid und und jdische Einrichtungen gerichteten Anschlägen von Ekkehard betonen jedoch die Verwendung antisemitischer Salafsten in Europa gehen die Islamismus-Experten Olaf Stereotype bei salafstischen Bewegungen im Nahen Farschid und Rudolph Ekkehard davon aus, dass es im Osten, die eine Traditionslinie einer historischen Feind- »Mainstream-Salafsmus« keinen Unterschied im schaft zwischen Juden und Muslimen zeichnen, die sich Verhältnis zum Judentum und zum Christentum gibt und vom Frhislam bis zum israelisch-palästinensischen damit auch keine »spezifsche antijdische und in der Konfikt hinziehe.720 politischen Konsequenz antizionistische Wahrnehmungen

Handlungsempfehlungen –Antisemitismus in politischen Bewegungen und Organisationen Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … in dem vom Bundesministerium des Innern herausgegebenen Verfassungsschutzjahresbericht wieder ein gesonder- tes Kapitel »Antisemitismus im Rechtsextremismus« aufzunehmen (→ Handlungsempfehlungen Straftaten).

º … in die von den Landensinnenministerien bzw. –senaten herausgegebenen Verfassungsschutzjahresberichte im Bereich Extremismus ein Kapitel zum Antisemitismus in den jeweiligen Phänomenbereichen aufzunehmen.

º … der Bundesprfstelle fr jugendgefährdende Medien, darauf zu achten, dass antisemitische Aussagen nicht nur in der bekannten »Rechts-Rock«-Musik, sondern auch in rechtsextremistischer Rap-Musik und anderen Stilrichtungen der Musik vorkommen. hier sind auch Medienanstalten aufgefordert, kritisch zu berprfen, welche Interpreten sie spielen und bei sich auftre- ten lassen.

º … den politischen Stiftungen bei ihren Bildungsangeboten nicht nur Antisemitismus im Kontext des Holocaust oder des Rechtsextremismus, sondern auch bezogen auf seine aktuellen Erscheinungsformen (z.B. Israelfeindlichkeit) zu behandeln. hier gilt es auch erscheinungsformen im Blick zu haben, die rechtsextreme Inhalte ber modernisierte Begriffichkeiten vermitteln.

º … die fnanzielle Untersttzung einer Bewegungsforschung, die sich auch mit antisemitischen Strmungen innerhalb alter und neuer politischer Bewegungen auseinandersetzt.

720 rudolph ekkehard, von »schriftbesitzern« zu »Ungläubigen«. christen in der salafstischen Da’wa, in: thorsten Gerald schneiders (hrsg.), salafsmus in Deutschland. Ursprnge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014, s. 291–300; Olaf Farschid, antisemitismus im Isla- mismus. Ideologische Formen des Judenhasses bei islamistischen Gruppen, in: armin Pfahl-traughber (hrsg.), Jahrbuch fr extremismus- und terrorismusfor- schung 2009/2010, Brhl 2010, s. 435–485; Olaf Farschid, von der salafyya zum salafsmus. extremistische Positionen im politischen und jihadistischen salafsmus, in: Floris Biskamp/stefan e. hßl (hrsg.), Islam und Islamismus – Perspektiven fr die politische Bildung, Gießen 2013.

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9 Antisemitismus und Religion

9.1 einleitung Gleichzeitig wurde vom UEA die Notwendigkeit formu- liert, diese Diskrepanz mit empirischen Forschungen zu Der religse Antisemitismus gilt als die älteste Form der belegen. Dieses Desiderat gilt bleibend fr den jetzigen Judenfeindschaft (→ Defnition). Im Bericht des ersten Berichtszeitraum. Eine Ausnahme bildet lediglich eine UEA wurde der Themenbereich Antisemitismus und von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland Religion im Rahmen eines Unterkapitels zu Kirchen (EKD) 2014 bei ProVal (Gesellschaft fr sozialwissenschaft- betrachtet. Demnach sind die nach außen hin vertretenen liche Analyse – Beratung – Evaluation) in Auftrag gege- Positionen der großen Kirchen in Deutschland deutlich bene qualitative Studie zu den Fragen, in welcher Weise anti-antisemitisch. Aufgrund der empirischen Befunde unterschiedliche Gemeindekontexte und die Ausprägun- zu antisemitischen Einstellungen (→ Einstellungen) in gen von Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Homo- der Gesamtbevlkerung ist jedoch zu vermuten, dass die phobie zusammenhängen und welche Beziehungen es Positionierung gegen Antisemitismus in der Öffentlichkeit zwischen individuellen Glaubensberzeugungen sowie nicht auch zwangsläufg die Vorstellungen der Gemein- Glaubenspraktiken und den Ausprägungen von Antise- debasis widerspiegeln.721 V.a. in Anbetracht des 2017 mitismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie gibt. Da anstehenden »Lutherjahres« und den zu erwartenden die Ergebnisse der Studie erst nach dem Abgabetermin Diskussionen ber das Verhältnis zu Juden und Judentum fr den Bericht vorlagen, konnte lediglich die Zusammen- wird auch im vorliegenden Bericht lediglich ein kurzer fassung der Ergebnisse zur Kenntnis genommen werden. Überblick ber Antisemitismus in der katholischen und Danach schtzt der christliche Glaube nicht vor Antise- evangelischen Kirche gegeben. Angeregt wird jedoch, nach mitismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie. Je nach Ende des Lutherjahres retrospektiv die Debatten zu analy- Bibelauslegung kann der Glaube dazu beitragen Vorur- sieren und in einem gesonderten Bericht zu evaluieren. teilen entgegenzuwirken oder aber diese zu sttzen und zu festigen. Zumeist lassen sich daher in den Gemeinden Ergänzend wird im vorliegenden Bericht auch der Anti- beide Positionen fnden: Offenheit ebenso wie vorurteils- semitismus in Moscheegemeinden betrachtet. In diesem behaftete Einstellungen gegenber Juden, Muslimen oder Zusammenhang gab der UEA eine Expertise in Auftrag , in Homosexuellen. Ein interessanter Befund der Studie ist deren Rahmen qualitative Intervies mit Imamen gefhrt die Unterscheidung zwischen dem Umgang mit Vorur- wurden, die ihre Einschätzungen zu Antisemitismus in teilen in Großstadtgemeinden und Dorfgemeinden. Fr muslimischen Gemeinden thematisieren. Die Betrachtung Großstadtgemeinden wird von einer »intoleranten Kultur von Antisemitismus in der orthodoxen Kirche und in der Toleranz« gesprochen. Diese signalisiere nach außen Freikirchen wären nach Ansicht des UEA ebenfalls zwei hin eine große Offenheit gegenber den drei genannten wichtige Phänomenbereiche. Leider liegen bislang zu Gruppen, grenze aber nach innen Gemeindemitglieder, wenige Informationen fr den deutschen Sprachraum vor, die diese Haltung nicht teilen, diskursiv aus. In drfichen um darber verlässlich Bericht erstatten zu knnen. Gemeinden herrsche hingegen eine »tolerante Kultur der Intoleranz«, die insbesondere nach innen Vorurteile toleriere.

9.2 antisemitismus in den Angesichts des dennoch bleibenden Befunds der fehlen- christlichen Kirchen den empirischen Untersuchungen und dem gleichzeitigen Wissen, dass auch in kirchlichen Institutionen, insbeson- dere auf Gemeindeebene, antisemitische Einstellungen Bereits im Bericht des ersten UEA war festgehalten vorhanden sind bzw. ber kirchenspezifsche Handlungen worden, dass es angesichts der hohen Mitgliederzahlen in und Instrumente mglicherweise antisemitische Bilder der rmisch-katholischen und der evangelischen Kirche tradiert werden, entschied der zweite UEA, sich zumindest in Deutschland sowie den empirischen Befunden zu exemplarisch mit Themen innerhalb der evangelischen antisemitischen Haltungen innerhalb der Gesellschaft sowie der katholischen Kirche zu befassen. Dabei wurde eine offensichtliche Diskrepanz zwischen den offziellen der Fokus bewusst auf Institutionen der großen Kirchen Verlautbarungen beider Kirchen und den Einstellun- gelegt. Sich insbesondere im Bereich der evangelischen gen an der Kirchenbasis bzw. auf Gemeindeebene gibt. Gemeinden auch mit den freikirchlichen und/oder evangelikalen Gemeinden zu befassen, die in manchen Gegenden der Bundesrepublik großen Einfuss haben, 721 Bericht des Unabhängigen expertenkreises antisemitismus, antisemitis- mus in Deutschland. erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, wäre sinnvoll und ntig, konnte aber im Rahmen dieses Berlin 2011, s. 90 f. Berichts nicht geleistet werden.

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9.2.1 Antisemitismus und Evangelische Kirche grßeren Öffentlichkeit wahrgenommen und in Teilen skandalisiert. Ausgelst hat die Kontroverse ein Aufsatz Wie schon im ersten Bericht des UEA dargestellt, gilt fr des Theologen Notger Slenczka von der Humboldt–Univer- die Evangelische Kirche, dass sich in ffentlichen kirch- sität zu Berlin, der in einem Artikel die Position vertreten lich-theologischen Positionierungen »immer wieder hatte, das Alte Testament solle fr die Kirche keine nor- gegen antisemitische und antijdische Denkmuster«722 mative Geltung haben. Damit warf er die Frage auf, ob das und eine »Ent-Antijudaisierung« des Neuen Testaments Christentum eine Traditionslinie zwischen sich und dem gewendet wird.723 Auf der Ebene von Kirchenleitungen, Judentum sieht oder aber einen Traditionsbruch voraus- theologischen Fachkommissionen sowie mehrheitlich der setzt und damit die jdische und christliche Religion als universitären Lehre ist der theologische Diskurs geprägt nicht miteinander zu vereinbarende Glaubensrichtungen vom Bemhen um den christlich-jdischen Dialog und defniert. Slenczka knpfte damit an Texte und Diskussi- dem Bestreben, selbstkritisch mit der Untersttzung onen aus dem 19. Jahrhundert an und war sich bewusst, kirchlicher Kreise bei der nationalsozialistischen Verfol- dass seine Formulierungen in deutlichem Widerspruch zu gung der deutschen und europäischen Juden und dem den seit 1945 im Kontext des jdisch-christlichen Dialogs dafr genutzten Potenzial christlicher Tradition umzuge- entwickelten Positionen standen, da er von sich aus aus- hen. Dabei geht es auch um die kritische Auseinanderset- fhrte, seine Überlegungen knnten »unter dem Verdacht zung mit dem christlich tradierten Bild der »Verwerfung des ›Antijudaismus‹« stehen.726 Die in der Debatte um den Israels«. Zuletzt distanzierte sich die Synode der EKD am Artikel erhobenen Vorwrfe gegen Slenczka reichten von 9. November 2016 erneut eindeutig von der Judenmissi- der Einordnung seiner Aussagen in eine christliche Tradi- on.724 Inwieweit diese Selbskritik die Kirchengemeinden tionslinie des Antijudaismus bis hin zu Argumentations- erreicht, von Pfarrerinnen und Pfarrern diskutiert und mustern der vlkischen Bewegung innerhalb des Protes- mitgetragen wird, sich auf die Arbeit mit jungen und alten tantismus in der späten Weimarer Republik und während Gemeindemitgliedern auswirkt oder im Religionsunter- des Nationalsozialismus.727 Es gab heftige Kritik seitens der richt vorkommt, lässt sich nicht berprfen. Deswegen Gesellschaften fr Christlich-Jdische Zusammenarbeit, von werden hier exemplarisch eine ffentlich wirksame Vertreterinnen und Vertretern der Fakultät fr Evangeli- theologische Debatte sowie Diskussionen im Hinblick sche Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin sowie auf christliche Solidarität mit den Palästinenserinnen von jdischen Intellektuellen, die mit dem protestanti- und Palästinensern im Rahmen der sogenannten Kairos schen Diskurs vertraut sind. Die Kommentare setzten sich Erklärung vorgestellt. Die im Kontext des bevorstehenden theologisch mit dem Ansatz Slenczkas auseinander und Lutherjahres zu erwartenden Publikationen, Veranstal- warfen ihm einen Mangel an historischer Refexion vor.728 tungen und Diskussionen werden den Erkenntnisstand voraussichtlich erweitern. Slenczka selbst wehrte sich gegen die Vorwrfe und wies die Nähe zu antisemitischen Theologen aus der NS-Zeit zurck. Dass es Positionierungen in der ffentlichen 9.2.1.1 Die »slenczka-Debatte«: zur Debatte sowohl fr seine Thesen, als auch dagegen gab, relevanz des alten testaments fr verdeutlicht die Notwendigkeit detaillierterer Forschun- das christliche selbstverständnis gen, die klare Kriterien entwickeln, wann wir es mit kirch- lich-theologisch motivierten antisemitischen Haltungen Im Berichtszeitraum fand die »bedeutendste und schärfste innerhalb der evangelischen Kirche zu tun haben und akademische Debatte«725 statt, die die Frage des Ver- wann nicht. hältnisses der Kirche zum Alten Testament aufgriff, die innerhalb der Evangelischen Kirche immer wieder kon- trovers diskutiert wird und offenbar ungeklärt ist. Durch den Bezug zur Geschichte des christlichen Antijudaismus sowie zum Antisemitismus und dem damit einherge- henden Einfuss auf die Beziehungen zwischen Christen- tum und Judentum heute wurde die Debatte von einer

722 expertise fr den zweiten Uea: christian wiese, Gutachten antijudais- mus/antisemitismus in der evangelischen theologie und Kirche, o. s. 723 ekkehard stegemann, Der holocaust als Krise der christlichen theologie. Juden und christen II, tagung der evangelischen akademie Bad herrenalb, no- 726 ebenda, s. 84. vember 1979, s. 4 f. 727 ebenda, s. 10. 724 http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/ekd-synode- 728 z.B. Micha Brumlik, tenach. antijudaismus im neuen Gewand?, in J- distanziert-sich-von-judenmission (eingesehen 26. 11. 2016). dische allgemeine, 23. 4. 2015, http://www.juedische-allgemeine.de/article/ 725 wiese, Gutachten, s. 3 view/id/22056 (eingesehen 15. 12. 2016).

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9.2.1.2 antisemitismus und »Israelkritik« im benannt wird. Eine empirische Untersuchung steht in Kontext der evangelischen Kirche diesem Bereich ebenfalls noch aus.

Weitere Hinweise fr mgliche antisemitische Haltun- gen innerhalb der Evangelischen Kirche fnden sich im 9.2.2 Antisemitismus und Katholische Kirche Kontext von Äußerungen zum Nahostkonfikt sowie zur Solidaritätsarbeit und entsprechenden Solidaritätsbekun- Auch im Hinblick auf die Katholische Kirche hat es seit dungen mit den Palästinenserinnen und Palästinensern. dem Bericht des ersten UEA keine wissenschaftlichen Dies betrifft zum Beispiel Verffentlichungen und Aufrufe Untersuchungen gegeben, die Aufschluss ber antisemi- in Zusammenhang mit dem Ökumenischen Solidaritäts- tische Einstellungen auf Gemeindeebene geben. Vor dem netzwerk Kairos Europa, anhand derer auch die Komplexi- Hintergrund der von Experten formulierten Annahme, tät der Fragestellung sowie die der Grauzonen (→ Defni- dass Aussagen und Entscheidungen von Papst Benedikt tion) in der Beurteilung einer Äußerung als antisemitisch XVI. Auswirkungen auf die verstärkte Tradierung anti- deutlich gemacht werden knnen. So ließe sich etwa der semitischer Haltungen haben knnten, hat der jetzige Text auf der Internetseite Kairos/Kairos Palästina Solidari- Expertenkreis entschieden, erneut Bezug zu nehmen auf tätsnetz729 von stark israelkritisch bis hin zu antisemitisch Initiativen, die vor dem Berichtszeitraum lagen.731 Neben einordnen. Thematisch geht es hier um die »israelische der im letzten Bericht bereits genannten Aufebung der Besatzungs- und Siedlungspolitik« sowie um Boykott- Exkommunikation von vier Bischfen der Priesterbruder- forderungen gegen Waren aus »vlkerrechtswidrigen schaft Papst Pius X., von denen einer als Holocaustleugner israelischen Siedlungen in der Westbank«. Dabei sind zwei bekannt ist, betrifft dies insbesondere die Genehmigung, Aspekte von Bedeutung. Hinsichtlich des Boykottaufrufs, in der Liturgie des Karfreitagsgottesdienst wieder auf kann man auf der Seite zu lokalen Initiativen und deren Passagen zurckgreifen zu knnen, in denen der jdische Aufrufen navigieren. Im Appell des Netzwerks Heidelberg Glaube abgewertet und eine »Judenmission« gefordert heißt es, man verpfichte sich »zur Untersttzung des wird. Bis 1965 war es in der Karfreitagsmesse im Rahmen gewaltlosen Widerstands gegen die israelische Politik der des Frbittengebets blich , Juden als »treulos« und »ver- Besatzung, Kolonisierung und Blockade palästinensi- blendet« zu bezeichnen und bei der um ihre »Erleuch- scher Gebiete – einschließlich Maßnahmen wie Boykott, tung« betreffenden Bitte, nicht auf die Knie zu gehen. Desinvestition und Sanktionen (BDS)« und unterscheidet Zwischen 1962 und 1970 war es dann aber innerhalb der nicht mehr zwischen Siedlungen und dem Staat Israel.730 Katholischen Kirche gelungen, diese Perspektive sukzes- Weiterhin fällt auch die Gestaltung der Hauptseite des sive zu modifzieren und schließlich in eine Formulierung Solidaritätsnetzwerks auf. So knnte die Darstellung der umzuwandeln, die alle fr Juden demtigenden Passagen unter dem Titel »70 Jahre Israel – 70 Jahre Entrechtung vermied und einen positiven Blick auf das Judentum der Palästinenser« abgebildeten Landkarten durch den richtete.732 Die neuen Gebete entsprachen damit dem 1965 starken farblichen Kontrast und v.a. der isolierten Dar- formulierten Nostra aetate, der Erklärung des Zweiten stellung Israels und der palästinensischen Gebiete ohne Vatikanischen Konzils, die das Verhältnis der Katholischen die angrenzenden Regionen als Analogie zu dem vielfach Kirche zu den nichtchristlichen Religionen defnierte genutzten Bild einer weltbeherrschenden Krake verstan- und das Auserwähltsein des Judentums bestätigte. Sie war den werden. die Voraussetzung fr eine selbstkritische Auseinander- setzung der Katholischen Kirche mit ihrer Rolle bei der Insbesondere im Rahmen der Evangelischen Kirchentage jahrhundertelangen Verfolgung von Jdinnen und Juden. stellt sich regelmäßig die Frage, ob das Auftreten von Palästina Solidaritätsgruppen die Grenze einer Kritik zum Die Entscheidung, in lateinischen Messen auch wieder Antisemitismus berschreitet. So wird diskutiert, ob deren ältere Fassungen des Frbittengebets nutzen zu drfen, vermeintliches oder tatsächliches, ganz der Solidarität mit wurde innerhalb der Katholischen Kirche stark kriti- einem unterdrckten Volk gewidmetes Engagement fr siert, und insbesondere von Mitgliedern deutscher und Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schpfung v.a. internationaler Gesprächskreise Juden und Christen erfolgte deswegen problematisch ist, weil an keiner Stelle die Ver- die Bitte an den Vatikan, diese Entscheidung zurckzu- antwortung palästinensischer Vertreter, arabischer Staaten nehmen, jedoch ohne Erfolg. Es gab aber auch vereinzelt oder stark fundamentalistischer Organisationen, die seit Zustimmung und sogar weitergehende Forderungen, 1948 das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellen, wie beispielsweise seitens des emeritierten Mnchner Professors Robert Spaemann, der die Judenmission nicht

729 www.kairoseuropa.de (eingesehen 11. 11. 2016). 731 expertise fr den zweiten Uea: hanspeter heinz, antisemitismus in der katholischen Kirche am Beispiel der Karfreitagsfrbitte. 730 http://kairoseuropa.de/wp-content/uploads/2016/10/KPs-appell-fnal. pdf (eingesehen 11. 11. 2016). 732 ebenda, s. 3.

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nur in der Karfreitagsfrbitte erwähnt haben will, sondern Deutschland. Dabei geraten insbesondere muslimische auch in der Liturgie berhaupt.733 Angesichts der engen Verbände und Moscheegemeinden immer wieder unter Verknpfung von Karfreitagsliturgie und Judenmis- Antisemitismusverdacht. Imame werden in diesem sion mussten sowohl die Entscheidung Benedikts XVI. Zusammenhang v.a. als »Hassprediger« charakterisiert. als auch untersttzende Äußerungen mit großer Sorge Untersuchungen zu antisemitischen Einstellungen in aufgenommen werden, zumal die Judenmission nicht nur muslimisch geprägten religisen Milieus, die diese Ver- von einer mangelnden Wertschätzung gegenber einer mutungen untermauern knnten, gibt es bisher jedoch anderen Religion zeugt, sondern auch auf eine gewaltvolle kaum.735 Ein wichtiger Schritt, um diese Lcke zu schlie- Geschichte zurckblickt. So war auch einer der Kritik- ßen, soll eine erste qualitative Untersuchung sein, die vom punkte des Gesprächskreises Juden und Christen, wenn »die UEA in Auftrag gegeben wurde und auf deren Grundlage Kirche zum Gebet zur Bekehrung der Juden einlädt, legt weitere qualitative und quantitative Forschungen realisiert sich die Angst vor einer erneuten Judenmission nahe, auch werden knnen. Durchgefhrt wurde die Untersuchung wenn sie milde, d.h. ohne jede Ntigung und ohne Zwang von der empati gGmbH.736 erfolgen soll«.734

9.3.1 Methodische Vorgehensweise und 9.2.3 Fazit Durchfhrung der Studie

Sowohl fr die Evangelische als auch fr die Katholische Die in Auftrag gegebene Studie sollte erste Einblicke in das Kirche in Deutschland gilt, dass es auf Leitungs- bzw. bisher kaum untersuchte Feld der Einstellungen gegen- offzieller Ebene ein Bewusstsein fr antijudaistische und ber Jdinnen und Juden in muslimisch geprägten religi- antisemitische Traditionen gibt. Im Rahmen unterschied- sen Milieus geben. Im Fokus standen Imame als geistliche licher Initiativen werden zudem Bestrebungen unter- Autoritäten und deren Beobachtungen zu Antisemitismus sttzt, sich kritisch mit durch alte Liturgien tradiertem in ihren Gemeinden. Insgesamt wurden 18 Imame mit- Antijudaismus und aktuellem Antisemitismus auseinan- hilfe qualitativer, leitfadenorientierter Interviews befragt. derzusetzen. Dennoch bleibt nach wie vor offen, inwieweit Zentraler Ausgangspunkt war die Frage, welche antisemi- diese Initiativen auf Gemeindeebene, in der Theologieaus- tischen Stereotype, Vorurteile und Deutungsmuster bei bildung oder im schulischen Religionsunterricht ankom- der Untersuchungsgruppe vorhanden sind und wie diese men. begrndet werden.

Angesichts der Befunde zu schulischem Religionsun- Bei der Auswahl der Interviewpartner wurde die ethni- terricht (→ Prävention), den inzwischen Generationen sche Herkunft der Imame, ihre geografsche Verteilung von Schlerinnen und Schlern durchlaufen haben und im Bundesgebiet sowie die Zugehrigkeit zu verschie- der deswegen sowohl Jugendliche als auch Erwachsene denen Verbänden bercksichtigt. Entsprechend dem betrifft, ist zu befrchten, dass es keine hinreichende Wis- Anteil trkischstämmiger Muslime an der muslimischen sens- und Bewusstseinsbasis gibt, um sich produktiv mit Gesamtbevlkerung in Deutschland, bildete die Gruppe den genannten Phänomenen auseinanderzusetzen. der interviewten trkischstämmigen Imame mit zwlf von 18 Interviewpartnern die Mehrheit. Andere Her- kunftsländer waren Marokko, Ägypten, Bosnien, Alba- nien und Indonesien, wobei, laut Studie, die Herkunft 9.3 antisemitismus und muslimische des Imams in der Regel auch mehrheitlich die ethnische Moscheegemeinden Zugehrigkeit der Gemeindemitglieder widerspiegelt.737 Die meisten der befragten Imame waren zwischen 40 und 50 Jahren alt, was vermutlich in etwa der Altersstruktur Seit etwa zehn Jahren stehen Muslime im Fokus der gesell- der Imame in Deutschland entspricht. Fnf der Befragten schaftlichen Auseinandersetzung um Antisemitismus in sind mindestens fnf Jahre lang in Deutschland zur Schule gegangen, deutlich mehr als die Hälfte wurde mindestens

733 ebenda, s. 5. zu spaemanns vorstellungen der Judenmission siehe auch robert spaemann, Gott ist kein Bigamist, in: Faz-Online, 20.4.2009, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/judenmission-gott-ist-kein-bigamist- 735 Bereits im ersten expertenbericht, antisemitismus in Deutschland, wurde 1784941.html (eingesehen 13.12.2016) oder auch in: streitgespräch. »Dann auf dieses Forschungsdesiderat hingewiesen. gibt es eben keinen Dialog mehr«. Micha Brumlik, robert spaemann und Gre- gor Maria hoff ber Judenmission, Karfreitagsfrbitte und die zukunft des 736 studie der empati gGmbh, durchgefhrt unter der leitung von chaban katholisch-jdischen verhältnisses, in: Jdische allgemeine, 11.6.2009, http:// salih: »haltungen von Muslimen und muslimischen Organisationen zu Juden. www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/923/highlight/micha&brumlik Befragung von Imamen als religise repräsentanten muslimischer religions- (eingesehen 13. 12. 2016). gemeinschaften«. 734 heinz, antisemitismus. 737 ebenda, s. 4.

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in zwei Ländern ausgebildet, bevor sie in Deutschland eine tätig, und/oder geben Nachhilfe und äußern sich zu Gemeinde bernahmen. gesellschaftspolitischen Themen in sozialen Medien. Laut der vom UEA in Auftrag gegebenen Untersuchung Die Auswahl der Interviewpartner sollte sich auf das hat die Meinung der Imame in der Kommunikation mit gesamte Bundesgebiet erstrecken. Tatsächlich konnten den Gemeindemitgliedern ein besonderes Gewicht: »Sie Imame aus Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Berlin, sind die religisen Autoritäten, deren Urteil vertraut wird. Baden-Wrttemberg, Niedersachsen, Hessen und Bayern Dabei geht es nicht allein um religise Fragen, sondern fr die Untersuchung gewonnen werden. Damit wurden auch um viele gesellschaftliche bzw. politische The- die Bundesländer mit der grßten Anzahl an Moscheen men.«740 Dies erklärt sich v.a. daraus, dass viele Gemein- abgedeckt, wobei die meisten Moscheegemeinden in demitglieder ihr alltägliches Leben in Einklang mit den Großstädten oder Ballungszentren angesiedelt sind. Zwlf Glaubensgrundsätzen des Islams wissen wollen und der Befragten gehrten den grßten islamischen Verbän- hierzu die Untersttzung und Einschätzung der Imame den in Deutschland an: dem Islamrat, der Trkisch Islami- suchen. schen Union der Anstalt fr Religion e.V/Diyanet İşleri Trk İslam Birliği (DITIB) und dem Zentralrat der Muslime in Wenn Imame als Meinungsfhrer betrachtet werden, so Deutschland (ZMD). Aber auch Imame aus unabhängigen ließe sich davon ausgehen, dass Radikalisierungen in den Gemeinden wurden in die Befragung einbezogen. Gemeinden in erster Linie auf sie zurckzufhren sind. Damit wrde sich das eingangs erwähnte Bild der Imame Probleme bei der Datenerhebung ergaben sich daraus, als »Hassprediger« bestätigen. Im Einzelfall lassen sich sol- dass einige Imame ihre Beteiligung wieder absagten. che Entwicklungen sicher beobachten. In der Regel ist die Begrndung hierfr war v.a. die gegenwärtige politische Situation der Imame aber wohl komplexer. Sie befnden Situation und/oder die Sorge, sich unter Umständen sich laut eigenen Aussagen häufg in einem Spannungsfeld missverständlich zu äußern und damit der Gemeinde zu zwischen nichtmuslimischer Mehrheitsgesellschaft und schaden.738 Entsprechend war es fr die Durchfhrung den Vorstellungen ihrer Gemeindemitglieder und sind in der Studie von besonderer Bedeutung, ein Vertrauensver- diesem Zusammenhang – auch in Bezug auf Antisemitis- hältnis zu den Befragten zu entwickeln. Hierbei war v.a. mus – mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert. hilfreich, dass die Forschergruppe der empati gGmbH mit Auf der einen Seite fordert die Mehrheitsgesellschaft von dem Gemeindeleben und der Arbeit von Imamen vertraut Imamen – neben dem Bekenntnis zu Demokratie und war. Zudem konnten viele der Interviews mit trkisch- Menschenrechten – auch den Einsatz gegen Antisemitis- stämmigen Imamen muttersprachlich gefhrt werden, mus. Auf der anderen Seite verlangen einige Gemeinde- was ebenfalls vertrauensbildend wirkte und zugleich der mitglieder Engagement fr »Palästina« und haben kein Sorge entgegenwirkte, sich nicht richtig ausdrcken zu Verständnis dafr, wenn sich der Imam gegen Antise- knnen.739 mitismus engagiert.741 Dazu kommt noch der Aspekt der fnanziellen Abhängigkeit von den Gemeindemitgliedern. Imame knnen dementsprechend keine (politischen) Kon- 9.3.2 Die Ergebnisse fikte mit Vorständen und Verbandsstrukturen riskieren, da dies zu ihrer Entlassung fhren knnte. Darin liegt 9.3.2.1 rolle der Imame mglicherweise auch einer der Grnde fr die hohe Fluk- tuation der Imame in den Gemeinden: »Imame kommen In den Interviews zeigte sich, dass die Rolle der Imame in und gehen wie die Kellner«, so der Religionswissenschaft- ihren Gemeinden weit ber die Freitagspredigt hin- ler Rauf Ceylan.742 Ausgenommen sind hier die Imame ausgeht. Sie fhren verschiedene religise Riten durch, von DITIB. Sie werden vom trkischen Staat bezahlt. Hier fungieren als Seelsorger und Familienberater, schließen ergibt sich jedoch das Problem der politischen Kontrolle Ehen, leiten Bestattungen und Trauerfeiern. Sie geben durch die trkische Religionsbehrde. Angesichts der regelmäßig Islam-Unterricht, beteiligen sich an politi- gegenwärtigen politischen Situation lässt sich vermuten, schen Diskussionen mit Moscheebesuchern. Sie wirken als dass nur regimetreue Imame aus der Trkei entsendet Meinungsfhrer weit ber die Predigten zum Freitagsge- werden. Gerade Deutschland ist hier besonders wichtig, bet und ber das unmittelbare Moschee-Umfeld hinaus. Manche sind zugleich in der Schule als Religionslehrer

738 Im Untersuchungszeitraum stand v.a. der islamische verband DItIB auf- grund seiner äußerungen hinsichtlich des Putschversuchs in der trkei sowie zur armenien-resolution im Deutschen Bundestag stark in der Kritik, sodass 740 vgl. ebenda, s. 8. viele der vereinbarten termine mit Imamen aus DItIB-Gemeinden abgesagt wurden. 741 vgl. ebenda, s. 9 f. 739 vgl. salih, haltungen von Muslimen und muslimischen Organisationen, 742 vgl. rauf ceylan, Die Prediger des Islams. Imame – wer sie sind und was s. 6 f. sie wirklich wollen, Freiburg 2010, s. 69–72.

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da die vergleichsweise hohe Zahl trkisch-muslimischer die Imame diesen Themenbereich immer wieder auf und Migranten ein großes Mobilisierungspotenzial darstellt.743 es wird eine »immense Wirkung des Konfikts auf die Imame und Muslime«748 konstatiert. Meinungen, die in diesem Zusammenhang artikuliert werden, sind an der 9.3.2.2 themen Grenze zum Antisemitismus einzuordnen oder ber- schreiten diese zuweilen auch (→ Defnition). Zentral fr Gesprächskontexte in muslimischen Gemein- den mit Bezug auf Jdinnen und Juden, in deren Zusam- Die meisten Befragten sehen den Nahostkonfikt als politi- menhang auch Antisemitismus geäußert wird, ist der Nah- schen und nicht als religisen Konfikt. »Politik trenne, ostkonfikt. Die befragten Imame sehen sich hier selbst Religion verbinde«,749 meint einer der befragten Imame. häufg als progressiver in ihren Einstellungen als manche Nach Meinung eines anderen sei an dem Konfikt nicht die ihrer Gemeindemitglieder. Wenn Imame sich gegen Anti- Religion schuld, »sondern die Politiker, die ihren Zielen semitismus in ihrer Gemeinde einsetzen, sei daher eine und Ideologien eine religise Komponente zuschrei- sensible Vorgehensweise wichtig, um nicht die meinungs- ben«.750 Der Religion wird eine positive Rolle zugewiesen: bildende Multiplikatorenrolle zu verlieren.744 Die befrag- »Ich habe schon das Gefhl, dass (Vorurteile) mit der Zeit ten Imame bestätigen, dass in den Gemeinden antisemi- aufgrund der Politik im Nahen Osten dann auch wirklich tische Einstellungen existieren: »Es gibt unter Muslimen leider steigen. Genau da brauchen wir die Religion, um das Haltungen, die innerhalb der Grenzen des Antisemitismus zu beseitigen.«751 fallen.«745 Auch das Kursieren von Verschwrungstheorien wird in diesem Zusammenhang genannt. Als mglichen Ein weiterer Befund der Studie ist, dass die meisten der Grund fr antisemitische Haltungen sieht einer der Inter- befragten Imame eine Differenzierung zwischen Juden viewpartner die Vermischung von Tradition und Religion. und Israelis vornehmen. Sie beschuldigen nicht pauschal Dies mache einige Gemeindemitglieder anfälliger fr »die Juden«, wenn Palästinensern aus ihrer Sicht Unrecht die Übernahme antisemitischer Stereotype.746 Religise widerfährt. Ein Imam widerspricht der Vorstellung, dass Imame, d.h. solche, die eine theologische Basis haben, die jdische Gemeinschaft in Deutschland nicht kritisch seien offener und differenzierter und orientierten sich im mit der israelischen Regierung umgehe. Ein anderer Imam Umgang mit dem Judentum an der Deutung von »Wrdi- berichtet von einer Diskussion mit einem Jugendlichen gung als Ahl-ul-Kitab.«747 ber den Vorfall mit der »Gaza-Flottille« 2010: »›Haben Sie gesehen, was die Juden gemacht haben?‹ Sofort habe Im Rahmen der Interviews wurden verschiedene Bereiche ich gesagt ›Stop! Das waren nicht die Juden! Das waren thematisiert, in deren Zusammenhang antisemitische einige Soldaten. Aber bitte, bitte nicht die Juden dafr Einstellungen in muslimischen Gemeinden von den zur Rechenschaft ziehen!‹«, Die Differenzierung geht bei befragten Imamen beobachtet wurden: (1.) Nahostkonfikt, einem anderen Interviewpartner weiter. Er verweist auf (2.) religise Quellenauslegung, (3.) Holocaust, (4.) Medien- den Unterschied »zwischen israelischer Regierung und berichterstattung und (5.) Antisemitismus vs. Islamfeind- Juden«. Fr das Regierungshandeln drfe man nicht die lichkeit. Juden und auch nicht die ganze Nation verantwortlich machen. 1. Nahostkonfikt Zugleich warnen die Imame davor, den Nahostkonfikt Dem Thema Nahostkonfikt kommt, laut Untersuchung, zum Thema gemeinsamer Veranstaltungen im Rahmen ein besonderer Stellenwert zu. In den Interviews greifen des interreligisen Dialogs zu machen. Es sollte in lokalen Zusammenhängen gedacht werden und man sollte sich von Diskursen und Ereignissen im Nahen Osten fernhal- 743 Die massenweise entlassung von Glen-sympathisanten und anderen ten. Diese Haltung ist zwar durchaus verständlich, aber (insbesondere pro-kurdischen und linken) staatsbediensteten aus religions- behrden, Universitäten, Justiz etc. im Jahr 2016 bestätigen diese vermutung. umgeht das zentrale Problem, an dem antisemitische Insgesamt wurden seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli des Jahres Äußerungen von Muslimen am häufgsten artikuliert 110.000 Menschen entlassen. erdoğan ordnete weitere Massenentlassungen an, in: Die zeit, 22.11.2016, http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-11/ werden. Daher ist es unumgänglich, den Nahostkonfikt tuerkei-putschversuch-schliessungen-wohltaetigkeit-medien-entlassungen zu thematisieren, wenn man sich mit Antisemitismus in (eingesehen 14. 12. 2016). muslimischen Gemeinden auseinandersetzen und präven- 744 ebenda, s. 10. tiv eingreifen mchte. Richtig ist, dass der Nahostkonfikt 745 ebenda. 746 ebenda, s. 9 f. 748 salih, haltungen von Muslimen und muslimischen Organisationen, s. 20. 747 Der Begriff geht auf die besondere stellung sowohl des Judentums als auch des christentums im islamischen herrschaftsraum zurck. Beide religio- 749 ebenda. nen werden als »Buchbesitzer« genannt: In der islamischen Geschichte haben 750 ebenda. angehrige dieser religionen besonderen schutz und autonomie genossen, mussten aber auch als Gegenleistung besondere steuern entrichten. 751 ebenda, s. 21.

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zu viel Konfikpotenzial fr die muslimisch-jdischen ausdrcklich, gute nachbarschaftliche, wirtschaftliche Beziehungen birgt, um ihn als Einstieg in den Dialog zu und auch eheliche Beziehungen mit Juden und Jdin- nutzen. Der emotional besetzte und nicht selten mit fami- nen zu pfegen. Darber hinaus fhren die Imame auch liärer Betroffenheit verbundene Zugang zum Thema kann Beispiele aus dem Leben des Propheten Mohammed an: erst nach einer gewissen Vertrauensbildung geschaffen seine Ehe mit einer Jdin, die bekannte Erzählung ber werden. Es ist ein Prozess, der von Fachleuten moderiert den respektvollen Umgang bei einer jdischen Bestattung bzw. begleitet werden muss. Erst dann knnen Refexti- oder die gemeinsame Verfassung von Medina. Zudem onsprozesse initiiert werden, an deren Ende eine gewisse nennen Imame Beispiele des guten Zusammenlebens Ambiguitätstoleranz gegenber unterschiedlichen Deu- im islamischen Mittelalter, in dem viele muslimische tungen entstehen kann. Das Ziel von solchen Maßnahmen Gesellschaften in Andalusien oder im Osmanischen Reich sollte es sein, Verständnis fr den Gesprächspartner und freundschaftliche Beziehungen zu Juden hatten und ihnen fr die Nachvollziehbarkeit der Argumentationsmuster Schutz gewährten. Die zweite Strategie beinhaltet eine des Gegenbers zu entwickeln. historisch-kritische Interpretation der problematischen Quellen: »Das heißt, viele Aussagen, die wir im Koran 2. Religise Quellenauslegung haben, die von Juden handeln oder [das] Judentum behan- deln, […] sind in ihrem historischen Kontext zu sehen«,755 Der Kenntnisstand und die Quellen des Wissens ber das sagt ein Interviewter. Man drfe historische Ereignisse Judentum sind bei den befragten Imamen zwar unter- nicht auf heute bertragen. schiedlich, aber sie alle haben sich in ihrem theologischen Studium in unterschiedlichster Weise und mehr oder Dennoch, so wird in der Untersuchung festgehalten, gibt weniger ausfhrlich damit auseinandergesetzt. Grundsätz- es auch Stellen in den religisen Quellen, die von radika- lich sei, so die befragten Imame, der Bezug zum Judentum len Gruppen instrumentalisiert werden knnen, wie sich im Studium neutral bis positiv vermittelt worden. Unter- am Beispiel der Sprechchre während der sogenannten schiede im Verständnis des Judentums lassen sich v.a. bei Al-Quds-Tag-Demonstrationen in Berlin zeigt. Dort werde den fnf Imamen konstatieren, die in Deutschland aufge- immer wieder »Chaibar, Chaibar, ya, Yahoud« skandiert. wachsen und zur Schule gegangen sind. Sie haben sich im »Chaibar« steht hier fr eine Schlacht der Muslime gegen Laufe ihrer Schulzeit mit der Verfolgung und Ermordung einen jdischen Stamm in der Zeit Mohammeds und der deutschen und europäischen Juden befasst. Dies gilt der Sprechchor wirkt wie eine Drohung gegenber den fr Imame, die ihre Schulbildung im Ausland erhalten Juden heute, denen dasselbe Schicksal bevorstnde. Gegen haben nicht unbedingt. Bezogen auf die Auslegung der diese Instrumentalisierung wenden sich die Imame und religisen Quellen und die damit verbundene Frage, ob betonen, dass der Konfikt, auf den hier Bezug genom- diese auch antisemitisch interpretiert werden knnen, men werde, ein politischer und kein religiser Konfikt nimmt die große Mehrheit der Befragten deutlich Stellung gewesen sei und ausschließlich die damaligen jdischen und lehnt judenfeindliche Deutungen ab. Ein Imam Stämme betroffen hätte. Dies sei nicht bertragbar auf formuliert etwa: »Judenfeindlichkeit drfte islamisch heutige Juden. Das Fehlverhalten der damaligen jdischen theologisch gesehen nicht sein!«752 Ein anderer meint: Stämme, so die Interviewpartner, knne nicht als allge- »Das ist ein falsches Verständnis des Islams.«753 Dabei meines Wesensmerkmal der Juden verstanden werden.756 wird die Existenz des Antisemitismus unter Muslimen In der Untersuchung wird in diesem Zusammenhang nicht abgestritten, nur die Religion in Schutz genommen: darauf hingewiesen, dass nicht entscheidend sei, wie »Wenn manche Muslime antisemitisch sind, dann sind sie schlssig die Argumentation der Imame ist, mit der sie es nicht, weil es ihnen ihre Religion gebietet.«754 gegen antisemitische Deutungen vorgehen, vielmehr erziele allein die Tatsache, dass die religise Autorität fr Auf die Frage, wie Imame mit problematischen Aussagen eine offene Einstellung einsteht und Koranverse, Hadithe in religisen Quellen (Koran und Prophetenaussagen) und Beispiele aus der Geschichte anfhrt, eine Wirkung.757 umgehen, gibt es laut Studie zwei Strategien. Die erste Strategie versucht, die Bezugnahme auf kritische Stellen Interessant ist hierbei ein Blick auf die Islamdiskurse des Korans zu vermeiden und sich auf positive Aussagen hinsichtlich der Forderungen nach einer »Reformierung ber Juden wie etwa auf die wertschätzende Bezeich- des Islams«. In den ffentlichen Debatten kommen inne- nung Ahl-ul-Kitab zu konzentrieren, die bedeutet, dass rislamische historisch-kritische Deutungen der religisen Gott ihnen einen »Platz an unserer Seite« zugewiesen Quellen ausschließlich als Forderung von liberal gesinn- hat. Damit erlauben die heiligen Schriften den Muslimen ten Muslimen vor. Überraschend belegt die Studie aber,

752 ebenda, s. 16. 755 ebenda, s. 17. 753 ebenda. 756 ebenda, s. 17 ff. 754 ebenda. 757 ebenda, s. 18.

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dass dieser Zugang zu kritischen Passagen aus dem Koran problematisch, da eine Gleichstellung der Berichterstat- längst auch von Imamen aus konservativen Verbänden tung eines staatlichen Propaganda-Mediums wie das praktiziert wird. aus dem Iran mit der freien Presse in Europa stattfndet und damit die grundlegende Skepsis gegenber »westli- 3. Holocaust chen Medien« zeigt. Diese Sichtweise ist unter Muslimen weitverbreitet. Neben dem allgemeinen Misstrauen gibt es Bezogen auf die nationalsozialistische Verfolgung und gerade bei der Berichterstattung ber den Nahostkonfikt Ermordung der deutschen und europäischen Juden ist den Vorwurf gegen »westliche Medien«, sie berichteten auffällig, dass alle Imame, die aus dem Ausland kamen, nicht wahrheitsgemäß und seien pro-israelisch ausge- erst in Deutschland begonnen haben, sich mit diesem richtet. In der Artikulation von solchen Meinungen ber Themenbereich auseinanderzusetzen. Alle befragten westliche Medien verbirgt sich die Gefahr, das dichotome Imame verurteilten den Holocaust. Keiner versuchte, Bild von »Muslimen« auf dem einen und »dem Westen« den Holocaust zu relativieren oder gar zu leugnen. Die auf der anderen Seite zu stärken – eines der zentralen befragten Imame zeigten bzgl. der jdischen Geschichte Propagandafelder des Islamismus.760 im Nationalsozialismus stattdessen eine tiefe emotio- nale Betroffenheit. Interessant ist hier die Aussage eines 5. Antisemitismus vs. Islamfeindlichkeit Imams, er habe auf die Thematisierung des Holocaust als Predigtthema verzichtet, weil er befrchte, dadurch eine Die befragten Imame sehen sich persnlich mit Islam- große Wut und neue Vorurteile gegenber der deutschen feindlichkeit konfrontiert. Sie setzen diese Erfahrung mit Gesellschaft auszulsen. Allerdings wird in zwei Inter- Antisemitismus ins Verhältnis und stellen dabei einen views auch eine vermeintliche Instrumentalisierung des ungerechten Umgang fest: »Die gesellschaftliche Wahr- Holocaust durch Juden heute angesprochen.758 Ein Inter- nehmung ist ganz unterschiedlich. Wenn es um Antisemi- viewter verweist vage darauf, dass es in seiner Gemeinde tismus geht, ist jeder sehr, sehr sensibel. Aber wenn es um Menschen geben knne, die Hitlers Taten gutheißen: Islamfeindlichkeit geht, da redet man mehr von Islam- »Unter den [Gemeindebesuchern] knnen einige Ver- phobie: Das bedeutet ja etwa Angst [vor dem Islam, Anm. wirrte sagen, hat er gut gemacht der Hitler. Aber selbst d. Verf.], es ist ja sozusagen etwas Normales. Man muss dieser Mann wird das […] nicht sagen, weil er Hitler mag alle beide gleich behandeln«, so ein Interviewter.761 Er […]. Vielleicht sagt er das aufgrund der Entwicklungen im empfndet die Verwendung des Begriffs »Islamphobie« als Nahen Osten, vielleicht wegen seines falschen Verständ- etwas Bagatellisierendes. Eine Erklärung fr die ungleiche nisses. Das empfnde ich als gefährlich […], denn in dem, Behandlung sieht ein Imam darin, dass die in der Gesell- was Hitler gemacht hat, gibt es nichts, was man gutheißen schaft verankerte Fremdenfeindlichkeit in der Gegenwart kann.« Das Forscherteam deutet diese Haltung als Pro- einfacher ber Islamfeindlichkeit artikuliert wird als ber vokation angesichts »einer Machtlosigkeit bezglich des Antisemitismus. Eine weitere Begrndung fr das unfaire Nahostkonfikts«, aber nicht als »Beleg fr tiefe antisemi- Verhalten der deutschen Mehrheitsgesellschaft sei – mit tische Überzeugungen«.759 vage formulierten Andeutungen –, dass die Deutschen gegen Juden aufgrund der Geschichte des Nationalsozia- 4. Medienberichterstattung lismus nichts sagen knnten. Im Verhältnis zu Juden käme »ihr Unterdrcktes zum Vorschein«.762 Dabei lässt sich auf In Bezug auf antisemitische Einstellungen in muslimi- der Ebene der Einstellungen tatsächlich eine quantitativ schen Gemeinden wird von einigen der befragten Imame grßere Dimension des antimuslimischen Rassismus ber einen einseitigen Medienkonsum berichtet, der zu feststellen,763 fr die jedoch die gesellschaftliche Sensibi- Unwissenheit und Vorurteilen gegenber Juden fhre. lität weitgehend fehlt. Rechtspopulistische Strmungen Auch die Imame selbst sind hier, so zeigt die Untersu- gewinnen durch die Hetze gegen Muslime weltweit immer chung, nicht frei von solcher Beeinfussung. So verweist mehr an gesellschaftlicher Relevanz und stellen eine etwa ein Imam vordergrndig selbstkritisch auf die unter- zunehmend große Bedrohung fr pluralistische Demokra- schiedliche Darstellung des Nahostkonfikts in iranischen tien dar. Gleichzeitig beobachten in Deutschland lebende und europäischen Medien. Schlussfolgernd mchte er sich keine feste Meinung bilden, »ohne es mit eigenen Augen 760 aycan Demirel/Mirko niehoff (hrsg.), zusammenDenken. refexionen, gesehen zu haben«. Diese Haltung suggeriert auf den ers- thesen und Konzepte zu politischer Bildung im Kontext von Demokratie, Islam, ten Blick zwar einen differenzierten und kritischen Blick rassismus und Islamismus – ein Projekthandbuch, Berlin 2013 (im auftrag der Kreuzberger Initiative gegen antisemitismus), s. 54 und 86 ff. auf die Medienberichterstattung, bleibt aber dennoch 761 salih, haltungen von Muslimen und muslimischen Organisationen, s. 22. 762 ebenda. 758 ebenda, s. 19. Der Interviewte nimmt in seiner argumentation Bezug auf 763 laut religionsmonitor der Bertelsmann stiftung »sonderauswertung Is- die äußerungen des historikers Michael wolfssohn in einer Fernsehsendung. lam 2015« stimmten 57 Prozent der Befragten der aussage »Der Islam ist be- 759 salih, haltungen von Muslimen und muslimischen Organisationen, drohlich« zu. 40 Prozent stimmten auch der folgenden aussage zu: »Durch die s. 19 ff. vielen Muslime fhle ich mich manchmal wie fremd im eigenen land«.

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Muslime einen deutlich sensibleren Umgang – zumindest Verschlossenheit zurck. Dies interpretieren sie wiederum auf der offziellen Ebene – mit Antisemitismus. als Teil der Geschichte der jdischen Religion: »Meiner Meinung nach war die jdische Gemeinschaft in der Hier zeigt sich eine »Opferkonkurrenz«, wobei die befrag- Geschichte eine verschlossene Gemeinschaft und auch ten Imame zugleich refektieren, dass die Feststellung der heute sind sie verschlossen«, so einer der Befragten.766 In ungleichen Aufmerksamkeit fr Diskriminierung nicht zu einigen Fällen wird aber auch von Imamen selbstkritisch Ressentiments gegen Juden fhren sollte. Ziel sollte nicht angemerkt, dass sie nicht gengend Zeit aufringen fr eine Schwächung der jdischen Position innerhalb der den Dialog mit jdischen Gemeinden. deutschen Gesellschaft sein, sondern eine Stärkung und Anerkennung der eigenen Position.764 Fr einen mglichen Dialog und ein gemeinsames (gesellschaftspolitisches) Engagement schlagen Imame als Themen Schächtung, Beschneidung, Halal-Kosher, Men- 9.3.2.3 Prävention von antisemitismus in schenrechte, Jugendkriminalität, Kampf gegen Rechtspo- muslimischen Gemeinden pulismus, Engagement gegen Antisemitismus und Islam- feindlichkeit vor. Besonders betonen mehrere Imame, dass Viele der befragten Imame gehen in den Interviews davon Juden und Muslime im Kampf gegen Rechtspopulismus aus, dass der Antisemitismus in ihren Gemeinden kein und Religionsfeindlichkeit zusammenstehen sollten. Ausdruck einer geschlossenen und manifesten Ideologie Darber hinaus lassen mehrere der Interviewten eine ist, sondern es sich eher um unrefektierte antisemitische wertschätzende Haltung gegenber Juden in Deutschland Stereotype bzw. Ideologiefragmente handelt. Sie sehen erkennen. Sie gehen davon aus, dass Muslime von Juden darin eine Chance, in die »Bewusstseinsbildung« der lernen knnen: »Die muslimische Gemeinde kann sehr Gemeindemitglieder einzugreifen und Vorurteile abzu- viel von der jdischen Gemeinde lernen, weil die jdische bauen. Hierbei wird zum einen von einigen Imamen auf Gemeinde historisch gesehen vor uns hier war und schon das Gespräch gesetzt, durch das Auflärungsarbeit geleis- bestimmte Errungenschaften hat und Europa kulturell tet und insbesondere die Gleichsetzung zwischen Juden mitgeprägt hat. Da knnen wir wirklich von der jdischen und dem Staat Israel aufgehoben werden soll: »Wenn ich Gemeinde lernen, wie wir Muslime unseren kulturellen aufgeklärt habe, gerade den Unterschied zwischen Israel Beitrag zu Europa leisten knnen.«767 und den Juden auch dargestellt habe, dann haben die Ver- ständnis gehabt. Und ich habe gemerkt, wie gut es ist, dass wir miteinander reden.«765 Zum anderen versuchen die 9.3.3 Fazit befragten Imame, antisemitischen Vorurteilsstrukturen durch Begegnungen mit Jdinnen und Juden entgegen- Die vom UEA in Auftrag gegebene Studie zu »Haltun- zuwirken. Alle befragten Imame – auch die, die in anderen gen von Muslimen und muslimischen Organisationen Zusammenhängen durchaus antisemitische Positionen zu Jdinnen und Juden« kann als eine erste explorative vertraten – konnten sich vorstellen, mit Jdinnen und Untersuchung in einem Themenfeld gesehen werden, zu Juden und/oder mit jdischen Gemeinden in Kontakt zu dem es bisher so gut wie keine empirischen Daten gibt. treten und zusammenzuarbeiten. In der Untersuchung In den gefhrten Interviews haben sich keine radikalen wird darauf verwiesen, dass ein Großteil der Befragten antisemitischen Stereotype gezeigt, wohl aber Gleich- bereits Kontakte zu einer jdischen Gemeinde habe, setzungen der nationalsozialistischen Verfolgung und gemeinsam an Podiumsdiskussionen teilnehme, in Ermordung der deutschen und europäischen Juden mit Dialogprojekten kooperiere, gemeinsame Bildungsreisen der Situation der Palästinenser heute. Die meisten Befrag- nach Jerusalem unternehme, Begegnungstage veranstalte ten zeigten durchaus refektierte Haltungen gegenber oder gegenseitig die Gotteshäuser besuche. Aus diesen ins- Jdinnen und Juden sowie dem Judentum und verwiesen titutionalisierten Kontakten entstnden z.T. auch private auf ihre alltägliche Arbeit, in deren Rahmen sie bemht Freundschaften. seien, vorhandene Ressentiments in ihren Gemeinden abzubauen. Deutlich wurde aber auch das Spannungsfeld, Neben diesen positiven Erfahrungen des interreligisen bestehend aus Erwartungen der nichtmuslimischen Mehr- Dialogs und der Begegnung sehen drei der befragten heitsgesellschaft und Vorstellungen der muslimischen Imame aber auch Probleme, die sie v.a. bei den jdi- Gemeindemitglieder, in dem sich die Imame bewegen. schen Gemeinden verorten. Sie attestieren den jdischen Hier ließ sich eine weitgehend refektierte Haltung der Gemeinden eine geringe Dialogbereitschaft und fh- Imame feststellen, die sich auch in anderen Themenfel- ren dies auf vermeintliches Desinteresse bzw. auf eine dern wie etwa der Auslegung des Korans, dem Umgang

764 salih, haltungen von Muslimen und muslimischen Organisationen, s. 25. 766 ebenda, s. 13. 765 ebenda, s. 11. 767 ebenda.

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mit dem Nahostkonfikt und der Auseinandersetzung mit es daher notwendig, dass sich muslimische und jdische dem Holocaust zeigte. Gemeinden als Partner begreifen und gemeinsame Strate- gien entwickeln und nicht Opferkonkurrenzen herstellen. Als besonders wichtig fr die befragten Imame war die Wahrnehmung einer geringeren gesellschaftlichen Auf- Weitere Studien zu diesem Themenfeld mssen zeigen, merksamkeit fr antimuslimischen Rassismus, die auch inwieweit sich diese Untersuchungsergebnisse bestätigen die Auffassung vieler muslimischer Gemeindemitglieder lassen. widerspiegelt. Fr die Bekämpfung sowohl von Antisemi- tismus als auch von antimuslimischem Rassismus scheint

Handlungsempfehlungen – Antisemitismus und Religion Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … zum Ende des 2017 anstehenden »Lutherjahres« retrospektiv die zu erwartenden Diskussionen ber das Verhältnis der Evangelischen Kirche zu Juden und Judentum zu analysieren und in einem gesonderten Bericht zu evaluieren.

º … die Durchfhrung von qualitativen und quantitativen Studien zu frdern, um bislang fehlende empirisch gesttzte Erkenntnisse ber die Verbreitung und Ausformung von Antisemitismus auf Gemeindeebene der Evangelischen und Katholischen Kirche sowie den Freikirchen zu erlangen.

º … der einzurichtenden Bund-Länder-Kommission, staatsvertragliche Regelungen zur Auseinandersetzung mit Anti- semitismus im Bereich Religion (unter Bercksichtigung der hier vertretenen großen Religionsgemeinschaften) zu schaffen.

º … die Erkenntnisse der deutsch-israelischen Schulbuchkommission ernst zu nehmen.

º … eine gezielte Frderung von Moscheegemeinden, muslimischen Trägern, Institutionen und Projekten, die konkrete Maßnahmen im Bereich der interkulturellen und interreligisen Begegnungs- und Dialogarbeit mit jdischen Part- nern sowie Trägern der politischen Bildung gegen Antisemitismus durchfhren. Das zusammendenken von antisemitismus und antimuslimischem rassismus schafft neue Mglichkeiten fr die Bekämpfung des antisemitismus.

º … die Wrdigung der Dialogarbeit vieler Imame im Kampf gegen Antisemitismus und die Einbeziehung ihrer Erfah- rungen fr die weitere antisemitismuskritische Arbeit auch in anderen muslimischen Gemeinden.

º … die Fokussierung auf Themen zur Sensibilisierung gegen Antisemitismus in muslimischen Gemeinden, die Gemein- samkeiten von Islam und Judentum hervorheben.

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10 Antisemitismus bei Gefchteten

10.1 erkenntnisbedarf gegen die Übergriffe auf Flchtlinge und Asylunterknf- te.771 Allerdings gibt es sowohl aus der jdischen Gemein- Das Thema »Flucht« hat in den vergangenen eineinhalb schaft als auch darber hinaus warnende Stimmen, den Jahren seit dem Sommer 2015 und damit parallel zur Gefchteten nicht vorschnell Antisemitismus zu unter- Arbeit des zweiten UEA enorm an Dynamik gewonnen: stellen772 und sich hier nicht von rechtspopulistischer Seite Rund 1,1 Millionen Flchtlinge bzw. Asylsuchende sind instrumentalisieren zu lassen.773 nach derzeitigen Schätzungen des Bundesamts fr Migra- tion und Flchtlinge (BAMF) 2015 und 2016 nach Deutsch- Bislang ist ber das tatsächliche Ausmaß und das Muster land gekommen.768 Viele der Gefchteten werden fr antisemitischer Haltungen bei Gefchteten jedoch wenig längere Zeit oder dauerhaft in Deutschland bleiben. bekannt. Es fehlt derzeit noch an Studien, die hierber konkret und empirisch verlässlich Auskunft geben knn- Die berwiegende Mehrheit der aktuell als Flchtlinge ten. Da dennoch in diesem Bereich ein hoher Erkennt- bzw. Asylsuchende nach Deutschland gekommenen nisbedarf besteht, hat der UEA beschlossen, das Thema Personen stammt aus Ländern des Nahen und Mittleren Flucht/Gefchtete und Antisemitismus als eigenständiges Ostens.769 Die Erfahrungen der Demonstrationen im Zuge Kapitel in den Expertenbericht aufzunehmen, es aber mit des letzten Gaza-Konfikts im Jahr 2014, bei denen musli- der gebotenen Zurckhaltung und dem deutlichen Ver- misch-migrantische Teilnehmende durch z.T. offenen und weis auf die dnne Erkenntnislage zu behandeln. aggressiven Antisemitismus auffelen, sowie die Terroran- schläge in jngerer Zeit, die in Frankreich und Dänemark Um erste Informationen ber Erscheinungsformen von auch gezielt gegen die jdische Bevlkerung gerichtet Antisemitismus bei gefchteten Personen zu erhalten, waren, sind insbesondere in der jdischen Gemeinschaft aus denen sich Empfehlungen fr Intervention und präsent und haben das Gefhl der Bedrohung und des Prävention ableiten lassen, hat der UEA zwei externe Misstrauens gegenber Migrantinnen und Migranten Expertisen in Auftrag gegeben. Ziel der ersten Expertise aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens verstärkt (Expertise I)774 war eine Einordnung des Themas Antisemi- (→ Jdische Perspektiven). Josef Schuster, der Vorsitzende tismus und Flucht in den gesellschaftlichen Diskurs und des Zentralrats der Juden in Deutschland, warnte in diesem eine Sondierung, inwieweit und ggf. welche gesicherten Zusammenhang in einer Rede auf Einladung der Katholi- Erkenntnisse zum Thema Antisemitismus bei Gefchte- schen Akademie Bayern: »Die Flchtlinge, die in so großer ten bereits vorliegen bzw. in Arbeit sind. Ziel der zweiten Zahl seit dem vergangenen Jahr bei uns Zufucht suchen, Expertise (Expertise II)775 war es, mehr ber die Verbrei- kommen ganz berwiegend aus Staaten, die mit Israel tung und das Muster von Antisemitismus bei Gefchteten tief verfeindet sind. […] Wer mit einem solchen Feindbild zu erfahren. Hierfr sollten qualitative Interviews mit groß geworden ist, legt es nicht einfach beim Grenzber- tritt ab«.770 Er verwies zudem darauf, dass schon heute Antisemitismus unter jungen Muslimen in Deutschland 771 rede des Präsidenten des zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef schuster, bei der Gedenkfeier des landesverbandes der Israelitischen Kultus- besonders verbreitet sei. Zugleich warb er fr Empathie gemeinden in Bayern anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des Kz mit Gefchteten und forderte mehr Anstrengungen Dachau, 3. 5. 2015, http://www.zentralratdjuden.de/de/article/5243.rede-des- pr%c3%a4sidenten-des-zentralrats-der-juden-in-deutschland-dr-josef- schuster-bei-der-gedenkfeier-des-landesverbandes-der-israelitischen-kultus gemeinden-in-bayern.html (eingesehen 25. 11. 2016). 772 Dazu u.a. Micha Brumlik in einem Interview mit der taz, 2.12.2015 und Proteste aus den reihen der jdischen Gemeinschaft gegen die äußerungen des zentralratsvorsitzenden: Jdische allgemeine, 24.11.2015, http://www. juedische-allgemeine.de/article/view/id/24019 (eingesehen 25. 11. 2016). 773 U.a. auch netz-gegen-nazis: http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/ 768 schätzung basierend auf den angaben zu asylanträgen des Bundesamts wie-antisemitisch-ist-die-afd-11021, verweis auf die »taktische solidarität fr Migration und Flchtlinge (BaMF), aktuelle zahlen zu asyl, 11 (2016), bei europäischen rechtspopulist_innen« mit Israel und den Juden und auf auf Basis der auskunft des Bundesinnenministers vom 30.9.2015; dazu ähn- versuche der afD, »jdische Gemeinden zu instrumentalisieren, um sich ge- lich auch Die welt, 30.9.2016, https://www.welt.de/politik/deutschland/ meinsam gegen ›islamischen antisemitismus‹ zu positionieren«. (eingesehen article158465433/Deutschland-korrigiert-Fluechtlingszahl-fuer-2015.html, 25. 11. 2016). und von Pro asyl basierend auf den zahlen des easY-systems unter: https:// 774 sina arnold, antisemitismus und Flucht. vorstudie fr den expertenkreis www.proasyl.de/thema/fakten-zahlen-argumente/ (eingesehen 25. 11. 2016). antisemitismus, Berlin 2016 (expertise I). 769 BaMF, aktuelle zahlen zu asyl, s. 8. 775 sina arnold/Jana Knig, Flucht und antisemitismus. Qualitative Befra- 770 rede bei der Katholischen akademie Bayern um thema »Jdisches leben gung von expert_innen und Gefchteten. erste hinweise zu erscheinungsfor- in Deutschland heute«, in: Die welt, 28.6.2016, https://www.welt.de/politik/ men von antisemitismus bei Gefchteten und mgliche Umgangsstrategien. article156658717/zentralrat-der-Juden-fuerchtet-neuen-antisemitismus. expertise fr den Unabhängigen expertenkreis antisemitismus, Berlin 2016 html (eingesehen 25. 11. 2016). (expertise II).

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Gefchteten gefhrt und ergänzend einige ausgewählte Kurzprojektbeschreibung in den Herkunftssprachen Expertinnen und Experten befragt werden. Hieraus lassen wurde berdies an Einzelpersonen und in Unterknften sich Hinweise fr die Formulierung weiterer Fragen an die verteilt. Die Gespräche wurden in den Unterknften oder Forschung sowie fr die Entwicklung gezielter Präven- Räumlichkeiten der Humboldt-Universität durchgefhrt tions- und Interventionskonzepte ableiten. Dies umfasst und im Anschluss anonymisiert. Der Leitfragebogen bein- sowohl Hinweise auf Einstellungsmuster als auch auf haltete die Themenbereiche »Lebenssituation in Deutsch- Wissenslcken ber die nationalsozialistische Verfolgung land«, »Identitätsbezge«, »Einstellungen zu Diversität und Ermordung der europäischen Juden als besonderen und Minderheiten«, »Bilder von Juden und Jdinnen«, Teil der deutschen Geschichte. Hier ist u.a. die Frage von »Einstellungen zu Israel« sowie »Wissen, Wissensquellen Relevanz, inwieweit sich Antisemitismus bei Gefchteten und Ansichten zum Nahostkonfikt und zum Holocaust«. grundsätzlich anders oder ähnlich artikuliert als in der Ergänzend wurden neun Hintergrundgespräche sowie deutschen bzw. der deutschen migrantischen Bevlke- 14 Interviews mit Expertinnen und Experten gefhrt, die rung. Daraus kann abgeleitet werden, welche Zugangswei- zivilgesellschaftlich, als Multiplikatoren oder durch ihre sen, Facetten von Antisemitismus und ggf. Narrative bei Tätigkeit bei jdischen Organisationen einen Themenbe- der Intervention besonders im Vordergrund stehen sollten zug haben. Diese Gespräche fokussierten Beobachtungen bzw. welche Maßnahmen sinnvoll sein knnten. und Erfahrungen bei der Arbeit mit Gefchteten, die Einschätzung der generellen Situation ebenso wie Fragen Aufgrund der begrenzten Zeit, die dem UEA zur Verfgung danach, wie mit diesem Themenbereich weiter umgegan- stand, konnte keine eigene grßere quantitative Studie zu gen werden sollte. dem Thema in Auftrag gegeben werden, ber die verlässli- chere Aussagen zu Verbreitung und Ausmaß von Anti- Fr die Auswertung wurden die deutschsprachigen semitismus unter Gefchteten mglich gewesen wäre. Übersetzungen der Interviews transkribiert und die Texte Hier hätte es einer großen und sorgfältig ausgewählten anschließend mithilfe eines Programms zur qualitati- Stichprobe bedurft, um der Heterogenität der Gefchte- ven Inhaltsanalyse ausgewertet. Ein auf Grundlage des ten gerecht zu werden. Aus zeitlichen und methodischen Materials erstellter Codier-Leitfaden wurde in einem Grnden wurde auch auf den Versuch verzichtet, in eine fortwährend zirkulären Prozess während der Codierung der wenigen aktuell laufenden quantitativen Studien, in ergänzt und berarbeitet. Forschungshypothesen wurden denen Gefchtete befragt werden, eigene Fragen zum am Material geprft und auf Basis der Auswertung neu Antisemitismus einzubringen. Mit beiden externen Exper- generiert. tisen wurde das Institut fr empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin unter der Leitung von Sina Arnold beauftragt.776 10.2 Konfiktlinien in zusammenhang Exkurs: Stichprobe, Methodik und Vorgehensweise mit Flucht und antisemitismus der qualitativen Studie »Expertise II«

Expertise II wurde zwischen dem 1. August und dem 15. Fr die Vermutung, Antisemitismus sei unter Menschen Oktober 2016 durchgefhrt. In ihrem Rahmen fanden aus arabischen Ländern besonders verbreitet, lassen sich, 25 Leitfadeninterviews mit Gefchteten in Berlin statt. zumindest was den israelbezogenen Antisemitismus Die Interviews wurden auf Arabisch bzw. Farsi mit Hilfe betrifft, einige Argumente fnden.777 Unabhängig aber vom von Übersetzerinnen und Übersetzern gefhrt. Unter den tatsächlichen Ausmaß und der Ausformung von Antise- Interviewten befanden sich 16 Männer und neun Frauen mitismus unter Gefchteten hat die Zuweisung von Anti- im Alter von 16 bis 53 Jahren. Die Auswahl beschränkte semitismus an die Neuankmmlinge auch funktionale sich auf Gefchtete aus Syrien, Afghanistan und dem und instrumentalisierende Aspekte. Mit dem Verweis auf Irak als den drei wichtigsten Herkunftsländern der »Kultur« und »Religion« in Verbindung mit dem Vorwurf Fluchtbewegungen des Jahres 2016. Sechs der Befragten des Antisemitismus (und auch des Sexismus und der haben einige Jahre formale Schulbildung durchlaufen, Homophobie) wird suggeriert, diese Einstellungen seien in fnf befanden sich bei Antritt der Flucht noch in der erster Linie ein Problem der Gefchteten und nicht auch Schulausbildung, elf haben ein Studium begonnen oder Bestandteil der deutschen Mehrheitsgesellschaft. abgeschlossen. Auch sogenannte antizionistische und sich als pro-pa- Die Kontaktaufnahme mit den Interviewten geschah lästinensisch verstehende Gruppen und Einzelpersonen, durch Personal in den Flchtlingsunterknften. Eine

777 vgl. u. a. Bernhard lewis, semites and anti-semites: an Inquiry into con- fict and Prejudice, new York 1986; Michael curtis, Jews, antisemitism, and the 776 arnold, expertise I und arnold/Knig, expertise II. Middle east, new Brunswick 2013.

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deren gegen Israel gerichteten Äußerungen und Aktivi- Herkunftsländern.780 Auf der anderen Seite unterschei- täten nicht selten antisemitische Zge tragen oder sogar den sie sich aber auch in einigen Aspekten von der dort eindeutig und offen antisemitisch sind, instrumentalisie- noch ansässigen Bevlkerung. Insbesondere verfgen sie ren Gefchtete fr ihre politischen Anliegen. Sina Arnold ber Erfahrungen, die sie sowohl von der Bevlkerung im stellt in ihrer Expertise inhaltliche und personelle Über- Herkunftsland als auch von anderen Migrantinnen und schneidungen zwischen diesen Akteuren und Flchtlings- Migranten in Deutschland unterscheiden, und die ggf. helfern fest. Hier werden Gefchtete mit Palästinensern Einfuss auf ihren mglichen Antisemitismus haben kn- gleichgesetzt und bei der Untersttzung von Gefchteten nen. Dies sind u.a. die Entscheidung zur Flucht aus eben zugleich eine Positionierung gegen Israel eingefordert. gerade diesem Herkunftsland, Erfahrungen vor der Flucht Beispielhaft hierfr war der »Karneval fr Gefchtete«, bzw. Erfahrungen, die zur Fluchtentscheidung gefhrt eine Demonstrationsveranstaltung, die am 20. März 2016 haben, die Fluchterfahrung selbt, das Erleben der Auf- in Berlin auf Initiative des Refugee Club Impulse (RCI) nahme, aber auch des »Fremdseins« in einem neuen Land unter Beteiligung pro-palästinensischer Gruppen wie einschließlich Ablehnungserfahrungen, das Herantasten F.O.R. Palestine sowie Vertreterinnen und Vertretern der an eine neue Kultur usw. Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS)-Kampa- gne stattfand. In einem Redebeitrag hieß es: »Solidarität Die Erfahrungen vor der Flucht und die Zustände in mit Gefchteten setzt Solidarität mit Palästina voraus. In den Herkunftsländern, die zur Entscheidung zur Flucht Deutschland, in Palästina, und berall.« Gefordert wurde, gefhrt haben, drften bei etlichen Gefchteten eine man msse sich gegen das »zionistische Apartheidsre- distanzierte bis ablehnende Haltung zum Herkunftsland gime« stellen.778 Die pädagogischen und knstlerischen wahrscheinlich machen. Die gefhlte Distanz drfte stark Leiterinnen und Leiter des Theaterprojekts fr Gefch- in Abhängigkeit der Fluchtgrnde bzw. der Zugehrigkeit tete, das der RCI durchfhrte, sind auch regelmäßig an den zu politischen Lagern und sozialen Subgruppen variieren. Al-Quds-Demonstrationen in Berlin beteiligt, auf denen Diese mehr oder weniger ausgeprägte Distanz knnte sich offener Antisemitismus gezeigt wird.779 mittelbar auch auf die häufg israel- und judenfeindliche offzielle Linie der Regierungen in den Herkunftsländern beziehen. Wahrscheinlich ist – aber dazu liegen bislang keine gesicherten Befunde vor –, dass sich das Ausmaß 10.3 hinweise auf die verbreitung und und die Art und Weise von Antisemitismus etwa bei west- ausformung von antisemitismus lich orientierten Regimefchtlingen aus dem Iran oder Syrien von dem traditionell orientierter, streng religiser unter Gefchteten Personen aus diesen Ländern oder von säkularen, ber- zeugten Regimebefrwortern, die ebenfalls vor dem Krieg Im Folgenden wird zunächst eine Beschreibung Derjeni- in Syrien fiehen, unterscheiden. Welche Rolle die Bildung gen vorgenommen, die nach bisherigen Erkenntnissen spielt, ist ebenfalls noch nicht geklärt. Im vorliegenden in den vergangenen beiden Jahren als Gefchtete nach Sample der qualitativen Studie scheint Bildung kein rele- Deutschland gekommen sind. Anschließend werden die vanter Einfussfaktor fr Einstellungen zu sein. Auch in bislang vorliegenden Erkenntnisse in Bezug auf Verbrei- Bezug auf Geschlecht lassen sich nur geringe Unterschiede tung und Ausformung von Antisemitismus bei Gefchte- feststellen. ten zusammengetragen. Hier fießen auch die Ergebnisse aus der qualitativen Befragung von Gefchteten im Rahmen der in Auftrag gegebenen Expertise II ein. 10.3.2 Diskriminierungserfahrungen

Die große Mehrheit der Gefchteten fhlt sich in 10.3.1 Erfahrungen in Zusammenhang mit Deutschland willkommen, auch wenn dieses Gefhl etwas der Flucht und als Gefchtete nachzulassen scheint, was offenbar auch an enttäusch- ten Erwartungen liegt. Etliche sprechen von Diskrimi- Die Menschen, die als Flchtlinge nach Deutschland kom- nierungserfahrungen und dem Gefhl, abgelehnt zu men, drften auf der einen Seite als ehemalige Bewohner der Länder, aus denen sie stammen, ber die gleichen Sozialisationserfahrungen und kulturellen Prägungen verfgen, wie andere Personen aus den entsprechenden

780 vgl. hierzu die weltweit 2014 und 2015 durchgefhrte Umfrage der an- ti-Defamation league (aDl), Global 100: an Index of anti-semitism, new York 2014, zu antisemitismus und antizionismus in den regionen des Mittleren 778 zitiert nach sina arnold, expertise I, s. 11. Osten und nordafrikas (Mena), http://global100.adl.org/public/aDl-Global- 779 ebenda. 100-executive-summary.pdf (eingesehen am 10.4.2016).

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werden.781 Die im Rahmen von Expertise II interviewten 10.3.3 Einstellungen und Werthaltungen mit Blick Gefchteten berichten etwa von Diskriminierungen auf Demokratie und Menschenrechte durch Übersetzer, Sicherheitspersonal und andere Bewohner nicht nur in den Unterknften. Auch der Eine groß angelegte Studie des Bundesamts fr Migration mehrheitsgesellschaftliche Rassismus hat Auswirkungen und Flchtlinge (BAMF), in deren Rahmen im Jahr 2014 auf ihre Lebensrealität: So kursieren unter den Gefch- Befragungen durchgefhrt wurden, hat erste empirische teten Warnungen vor und Erfahrungen mit rassistischen Befunde vorgelegt, die u.a. Auskunft zu Werthaltungen Übergriffen. Mehrere äußerten die Angst, dass der Diskurs von Gefchteten geben.783 Antisemitische Einstellungen um Terrorismus und Islamismus Einfuss darauf hat, wie wurden in dieser Befragung des BAMF nicht gesondert Gefchtete von der deutschen Mehrheitsgesellschaft erhoben. wahrgenommen werden. Frauen wie Männer berichten in diesem Zusammenhang etwa von abwertenden Blicken Die Ergebnisse verweisen einerseits auf eine hohe Zustim- und Kommentaren im ffentlichen Raum aufgrund ihrer mung zu Demokratie und Rechtsstaat, andererseits aber Religionszugehrigkeit. Die Angst vor entsprechender auch, insbesondere bei Personen aus Ländern des Nahen Diskriminierung äußerte ein Fnftel der Gesprächspart- Ostens, auf autokratische und technokratische Grundhal- nerinnen und -partner. tungen sowie die Befrwortung des Erlasses von Gesetzen durch Religionsfhrer. In einer begleitenden qualitativen Die Erfahrung als Gefchtete und als Minderheit in Befragung von 123 Gefchteten durch das BAMF wird Deutschland knnte auf der einen Seite Empathie mit zudem deutlich, dass viele Gefchtete von den negativen Juden als verfolgter Minderheit befrdern. Andererseits Erfahrungen der politischen und religisen Verfolgung in verweisen Studien darauf, dass eigene Diskriminie- ihren Heimatländern geprägt sind und daher ausdrcklich rungserfahrungen eher antisemitische Einstellungen Werte der Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit sowie Fami- befrdern.782 In den Interviews der Expertise von Arnold/ lienwerte befrworten.784 Sie schätzen demokratische Knig (Expertise II) lässt sich allerdings kein direkter Werte, den respektvollen Umgang miteinander und die Zusammenhang zwischen Diskriminierungserfahrun- Achtung der Menschenrechte. Gerade auch die Religions- gen – ob in Deutschland oder dem Herkunftsland – und freiheit und das Zusammenleben verschiedener Religio- einem hohen Ausmaß an antisemitischen Einstellun- nen werden von den Befragten positiv hervorgehoben. In gen herstellen. Im Gegenteil: Diejenigen Befragten, die der qualitativen Studie von Sina Arnold und Jana Knig stärker von Rassismuserfahrungen berichten, sind oftmals meinen viele der Interviewten, den Islam in Deutsch- weniger antisemitisch eingestellt und weisen ein hheres land besser ausben zu knnen, da dieser hier weniger Maß an Empathie gegenber jdischen Anliegen auf. Ein politisiert sei. Auch die Mglichkeit, nicht religis zu sein, Unterschied zeigt sich zwischen der Wahrnehmung von und das Ausmaß an brgerlichen Freiheiten, insbeson- persnlicher Diskriminierungserfahrung und der einer dere fr Frauen, schätzen viele von ihnen. Insgesamt zeigt generellen Diskriminierung von Muslimen bzw. dem sich bei den Befragten eine hohe Identifkation mit den Islam. Letztere wird in manchen Fällen damit erklärt, in Deutschland verankerten Werten, so ein Zwischenfa- dass – so ein Interviewpartner – die »Juden die Muslime zit der Studie.785 Eine Studie der Hochschule fr Medien, schlecht darstellen«. Hier existiert also eine antisemiti- Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) bestätigt den sche Interpretation der Wahrnehmung von Muslimen als Befund, wonach sich Flchtlinge klar zu Demokratie und benachteiligter Gruppe. zur Trennung von Staat und Religion bekennen, mehrheit- lich aber ein konservatives Weltbild vertreten.786

Ganz ähnlich auch die Befunde aus der Befragung im Rahmen von Expertise II ber die Vorstellungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben und den Wnschen der Befragten. Mehrere Befragte kritisierten die gesell- schaftlichen Verhältnisse in ihren Herkunftsländern: Sie 781 was wir ber Flchtlinge (nicht) wissen. Der wissenschaftliche erkennt- nisstand zur lebenssituation von Flchtlingen in Deutschland. eine expertise im auftrag der robert Bosch stiftung und des svr-Forschungsbereichs, Januar 783 IaB-BaMF-sOeP-Befragung von Gefchteten: Überblick und erste er- 2016, s. 75 ff. gebnisse, in: IaB Forschungsbericht 14 (2016). 782 Jrgen Mansel/viktoria spaiser, abschlussbericht Forschungsprojekt: 784 herbert Brckner/tanja Fendel/astrid Kunert/Ulrike Mangold/Manu- soziale Beziehungen, Konfiktpotentiale und vorurteile im Kontext von erfah- el siegert/Jrgen schupp, Gefchtete Menschen in Deutschland. warum sie rungen verweigerter teilhabe und anerkennung bei Jugendlichen mit und ohne kommen, was sie mitbringen und welche erfahrungen sie machen, IaB Kurzbe- Migrationshintergrund, Universität Bielefeld 2010. hier zeigen sich ähnlichkei- richt 15 (2016). ten zum effekt, der als kollektive relative Deprivation (→ einstellungen) dem 785 ebenda, s. 5. Gefhl, als Gruppe schlechter gestellt zu sein im vergleich zu einer anderen, bekannt ist. thomas F. Pettigrew/Oliver christ/Ulrich wagner/roul Meertens/ 786 ronald Freytag, Flchtlinge 2016. studie zu Demokratieverständnis und rolf van Dick/andreas zick, relative deprivation and intergroup prejudice, in: Integrationsbereitschaft unter Flchtlingen der hochschule fr Medien, Kom- Journal of social Issues 64 (2008), s. 385–401. munikation und wirtschaft (hMKw), Berlin 2016, Folien 8 und 9.

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wnschen sich ein demokratischeres System, in dem die durch die rtliche Lage (bspw. Nähe zur Unterkunft oder bestehenden Diskriminierungen von Minderheiten durch Sprachschule) oder Empfehlungen von Familienmitglie- Gleichstellung abgelst werden. Während zwei Befragte dern bestimmt. Dieser Pragmatismus deckt sich mit der Homosexualität explizit ablehnen, tolerieren andere – Einschätzung vieler Befragter, dass inner-muslimische trotz grundsätzlicher Skepsis – gleichgeschlechtliche Konfikte in Deutschland weniger relevant als im Her- Lebensweisen. Vier weitere Befragte zogen den Islam kunftsland sind. Es gibt nur wenige Hinweise auf aktive sogar heran, um ihre Akzeptanz von Homosexualität zu Rekrutierungsversuche durch islamistische Gruppen in begrnden. Zwei Interviewpartner äußerten die Hoffnung, Unterknften. Ein Sozialarbeiter berichtete von vereinzel- dass sich durch die Konfrontation mit anderen Lebens- ten Vorfällen. Aufgrund der Erfahrungen mit Islamismus realitäten in Deutschland auch Rollenerwartungen unter in den Herkunftsländern meiden einige Gefchtete aktiv Gefchteten ändern, etwa in Bezug auf Frauenrechte. Fast Orte, an denen sie mit entsprechenden Akteuren konfron- alle der Befragten planen eine Zukunft in Deutschland, tiert werden knnen. Bei mehreren Interviewpartnern nur drei hoffen auf eine Rckkehr in ihr Heimatland. lässt sich beobachten, dass sie ihre Religion weniger bzw. In Bezug auf die Einstellung zur Gleichberechtigung privater praktizieren als im Herkunftsland. Hier zeigen zwischen den Geschlechtern ähneln die Einstellung eher sich erste Hinweise darauf, dass neben der Gefahr der denen von Befragten aus Deutschland, weniger denen von Radikalisierung auch ein Potenzial fr eine De-Radi- Einwohnern in den Herkunftsländern, so die Befunde der kalisierung in Deutschland besteht, als Ergebnis einer BAMF-Studie. Konfrontation mit diversen Lebensstilen und Glaubens- richtungen. Dass bei der Beantwortung der Fragen auch die Motiva- tion, sich sozial erwnscht und angepasst zu verhalten, eine Rolle gespielt hat, lässt sich nur vermuten. Allerdings 10.3.5 Der Import antisemitischer Prägungen sind auch die Antworten der deutschen Befragten von aus den Herkunftsländern diesen Faktoren in nicht unerheblichem Ausmaß zuguns- ten toleranterer Werthaltungen beeinfusst.787 Bei den Der Nahostkonfikt ist in vielen der Herkunftsländer ein Gefchteten drfte der Wunsch, einen guten Eindruck zu präsentes und oft auch gezielt aufrechterhaltenes Thema. hinterlassen, stark ausgeprägt sein, insbesondere bei einer Antisemitismus und insbesondere solcher in Bezug auf Face-to-face-Befragung durch Interviewer des BAMF, das Israel wird vielfach z.B. durch Schulbcher und Filme ber ihre Asylbescheide verfgt. Viele Gefchtete sind – nicht selten in quasi-dokumentarischer Form (→ Medien) so die Erfahrung in Praxisprojekten – hoch motiviert, sich bewusst und gezielt befrdert. Antisemitismus ist vielfach anzupassen und »alles richtig« zu machen.788 Auch die selbstverständlicher Teil der Sozialisation durch Schule, BAMF-Studie berichtet von einem ausgeprägten Willen Elternhaus und Medien und dient nicht zuletzt auch als zur Integration. Deutlich wird zudem eine hohe Bereit- Instrument der eigenen Darstellung als Opfer.789 schaft zur positiven Reziprozität, d.h. der Wunsch, etwas zurckzugeben. Offenbar sind die Sozialisationserfahrungen im Iran hin- gegen andere. Trotz der offziellen anti-israelischen und antisemitischen Propaganda ist die Bevlkerung nicht so 10.3.4 Religion, Religiosität, religise Praxis antisemitisch, wie vielleicht erwartet werde knnte. Hier knnte auch die Existenz einer alteingesessenen jdischen In der qualitativen Befragung im Rahmen von Exper- Gemeinschaft, die ggf. persnliche Kontakte zu Juden tise II bezeichneten sich bis auf vier der Befragten alle ermglicht hat, eine positive Wirkung entfalten. Bei vielen Interviewten als Muslime. 15 von ihnen beten regelmäßig, jungen Iranern, die jetzt nach Deutschland kommen, sieben fasten und acht besuchen häufg die Moschee. drfte auch die Kampagne in den Sozialen Medien »Israel Die Wahl der Moschee wird dabei fast ausschließlich loves Iran«790 bekannt sein, die 2012 startete und viele per- snliche Kontakte sowie auch die umgekehrte Kampagne

787 Indiz dafr sind u.a. die abweichungen der zustimmungswerte zu homo- »Iran loves Israel« nach sich zog. phobie, aber auch zu anderen elementen Gruppenbezogener Menschenfeind- lichkeit in der durch die Friedrich ebert stiftung gefrderten studie von andreas In der qualitativen Befragung von Sina Arnold und Jana zick/Beate Kpper/Daniela Krause, Gespaltene Mitte – Feindselige zustände. rechtsextreme einstellungen in Deutschland, Bonn 2016, in der die Befragten Knig berichtete die Hälfte der Befragten von persnli- telefonisch interviewt werden, und der studie von Oliver Decker/Johannes chen Kontakten zu Juden oder Jdinnen, von denen wie- Kiess/elmar Brähler, Die enthemmte Mitte. autoritäre und rechtsextreme ein- stellungen in Deutschland Die leipziger »Mitte«-studien 2016, hrsg. v. heinrich derum die Hälfte erst in Deutschland zustande kam – etwa Bll stiftung, leipzig 2016, in der die Befragten die gleichen Fragen anonym per Fragebogen beantworten, und die z.t. deutlich hhere zustimmungswerte ausweist. 789 esther webman, Discourses in antisemitism and Islamophobia in arab 788 erfahrungen u.a. in Projekten im rahmen des Bundesprogramms »Inte- Media, in: european societies, 14 (2012) 2, s. 222–239. gration durch Qualifzierung«, konkret beobachtet u.a. im Projekt »Kulturelle vielfalt in Betrieben«, IQ-netz nrw. 790 http://thepeacefactory.org/israel-loves-iran/ (eingesehen 25. 11. 2016).

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ber jdische Mitschler in der Sprachschule, durch (→ Einstellungen).795 Hier spielt insbesondere der Nah- Untersttzerkreise oder WGs.791 Diese Kontakte beschrei- ostkonfikt eine wichtige Rolle fr die Legitimation eines ben die Gefchteten als neutral bis positiv. Negative israelbezogenen Antisemitismus, aber auch klassische Einstellungen gegenber »den Juden« scheinen selten als antisemitische Stereotype und Verschwrungstheo- Argument gegen eine persnliche Beziehung zu Jdinnen rien fnden Verwendung. Zugleich zeigen sich hier aber und Juden verwendet zu werden. Unterschiede in Abhängigkeit vom jeweiligen Herkunfts- land. Während antisemitische Einstellungen bei jungen Menschen in Deutschland aus nord-afrikanischen bzw. 10.3.5.1 ergebnisse aus einstellungsbefragungen arabischen Ländern besonders weit verbreitet waren, mit Personen aus ländern des galt dies weniger fr jene aus den Herkunftsländern nahen und Mittleren Ostens Afghanistan, Irak, Iran oder Pakistan, also Ländern, aus denen ebenfalls ein nennenswerter Teil der Gefchteten Die vergleichende Studie der Anti-Defamation League stammt (die ADL-Studie Global 100 weist allerdings sehr (ADL) (→ Einstellungen) zeugt von einer weiten Ver- hohe Werte antisemitischer Einstellungen fr den Irak breitung antisemitischer Einstellungen bei Befragten aus).796 Beobachtungen aus einer qualitativen Befragung aus Ländern des Mittleren und Nahen Ostens sowie aus von Schlerinnen und Schlern sowie begleitend von nordafrikanischen Ländern. Fr Syrien liegen keine Anga- Lehrpersonen in Deutschland deuten darauf hin, dass das ben vor, aber auch hier drfte das Ausmaß hoch sein.792 Sprechen ber »Juden« im schulischen Kontext ebenfalls Dies gilt nicht nur fr befragte Muslime, sondern– wenn- von antisemitischen Stereotypen durchsetzt ist. Während gleich in etwas geringerem Ausmaß – auch fr Christen sich hier allerdings Jugendliche mit trkisch/arabischem aus diesen Ländern. Erhoben wurde in dieser Studie die Hintergrund eher verhalten äußerten und offenbar Zustimmung zu klassischen antisemitischen Stereotype die weitgehende Ächtung antisemitischer Äußerungen (→ Einstellungen) und Verschwrungstheorien, die Juden beachteten, äußerten sich Schlerinnen und Schler aus einen beraus großen globalen Einfuss unterstellen. Spätaussiedler-Familien deutlich offener und brutaler Israelbezogener Antisemitismus, der vermutlich noch antisemitisch. Inwieweit hier v.a. fragmentarisch bekannte hhere Zustimmungswerte erhalten hätte, wurde nicht Klischees reproduziert werden oder eine tiefer veran- abgefragt. Zugleich zeigen sich im Rahmen der Studie der kerte antisemitische Weltanschauung dahintersteht, ist ADL Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern im unklar.797 Ausmaß von Antisemitismus. So ist Antisemitismus unter Befragten aus dem Iran vergleichsweise weniger verbreitet In der qualitativen Befragung von Sina Arnold und Jana und erreicht hier Werte, die ähnlich auch in europäischen Knig wird deutlich, dass die Gefchteten in den ver- Ländern wie Griechenland, Rumänien, Bulgarien und schiedenen Herkunftsländern unterschiedliches Wissen Polen beobachtet wurden.793 erwerben, das sich auch auf antisemitische Einstellungen auswirkt: Antisemitische Äußerungen treten bei den Muslime mit berwiegend migrantischem Hintergrund Interviewpartnern aus Syrien, dem Irak und Afghanistan zeigten in ausgewählten europäischen Ländern ebenfalls fragmentarisch auf und sind häufg von Widersprchen hhere Zustimmungswerte zu antisemitischen Einstel- gekennzeichnet. Lediglich bei einer Interviewpartnerin lungen als Nichtmuslime in diesen Ländern, zugleich aber zeigte sich ein kohärentes antisemitisches Weltbild. In nicht so hohe Werte wie die Einwohner in den entspre- allen anderen Fällen sind Einstellungen vielmehr Teil chenden Herkunftsländern.794 Weit verbreitet sind antise- eines selbstverständlichen Alltagsverständnisses, das mitische Einstellungen auch unter muslimisch-migranti- in Medien- und Alltagsdiskursen des Herkunftslands schen jungen Menschen in Deutschland mit arabischem geprägt wurde. In der weltweiten, 2014 durchgefhrten Hintergrund bzw. unter solchen, die aus Ländern des und 2015 teilweise aktualisierten Umfrage der ADL798 Mittleren und Nahen Ostens stammen. Eine juden- feindliche Haltung wird vielfach als geradezu »normal« 795 Gnther Jikeli, antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen betrachtet und als Teil der kollektiven Identität als junger Muslime in europa. ergebnisse einer studie unter jungen muslimischen muslimisch-migrantischer Jugendlicher verstanden Männern, essen 2012, s. 312 f. 796 wolfgang Frindte/Klaus Boehnke/henry Kreikenbom/wolfgang wagner (hrsg.), abschlussbericht »lebenswelten junger Muslime in Deutschland«: ein sozial- und medienwissenschaftliches system zur analyse, Bewertung und Prä- vention islamistischer radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutsch- 791 Dies drfte sicher mit dem Befragungsort Berlin und der dort ansässigen land, Berlin 2011. zusammenfassend zu antisemitismus unter jungen Muslimen vergleichsweise großen jdischen Gemeinschaft zusammenhängen und nicht in europa: Jikeli, antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen, 2012. unbedingt auf andere regionen bertragbar sein. 797 wolfram stender/Guido Follert/Mihri Özdogan (hrsg.), Konstellationen 792 aDl Global 100; aDl Global 100: 2015 Update in 19 countries, http:// des antisemitismus. antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, global100.adl.org/#map/2015update (eingesehen 10. 4. 2016). wiesbaden 2010, s. 7–40. 793 ebenda. 798 vgl. global100.adl.org/ (eingesehen 14.10.2016). Fr die herkunftsländer 794 aDl Global 100 update 2015. syrien, Irak und afghanistan gibt es allerdings keine eigenen länderstudien.

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wird gezeigt, dass 74 Prozent der Befragten in der Region individuelle Auslegung von Religion zu sein, die Auswir- Mittlerer Osten und Nordafrika zwischen sechs und elf kungen auf das Ausmaß antisemitischer Einstellungen der abgefragten negativen Stereotype ber Juden fr hat: Diejenigen Interviewpartner, die Religion als etwas »wahrscheinlich wahr« halten.799 Diese Selbstverständ- Individuelles sehen, zeigen generell ein hheres Maß an lichkeit betrifft nicht nur das »Wissen« ber Jdinnen und Toleranz gegenber unterschiedlichen Glaubens- und Juden, sondern noch viel stärker die binäre Sicht auf den Lebensentwrfen. Dies gilt ebenfalls fr die Gesprächs- Nahostkonfikt. Fr diesen Alltags-Antizionismus spielen partner, die eine grundsätzliche Religionskritik artikulie- als Einfussquellen Medien- und Alltagsdiskurse sowie Ins- ren. Die Kritik am Islam wirkt sich in ihrer Sichtweise auf titutionen eine Rolle: Ein negatives Bild von Israel wird in historisch-politische Erzählungen in den Herkunftslän- der Schule ebenso wie im ffentlichen Raum als Selbstver- dern aus, die sie in der Folge kritisch hinterfragen. ständlichkeit präsentiert. Syrien etwa stand seit der Grn- dung Israels dem jdischen Staat feindselig gegenber, Im vorliegenden Sample vertreten die Interviewpartner- und es wurde nicht nur Hass gegen Israel, sondern auch innen und -partner mit arabischem Hintergrund häufger Antisemitismus offensiv verbreitet.800 Auch fr den Irak antisemitische Einstellungen als andere. Hier zeigt sich ist diese Verbreitung nicht nur historisch, sondern auch in eventuell der Einfuss des arabischen Nationalismus, der jngeren Jahren bekannt.801 Auf die Selbstverständlichkeit sich in zahlreichen Aussagen in Form einer starken Selb- und gleichzeitig mangelnde ideologische Festigkeit dieser stidentifkation andeutet. Mit dieser Grundhaltung, das Einstellungen verweisen mehrere der im Rahmen der erinnern auch zwei Gesprächspartner aus ihrer Schulbil- Studie befragten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren dung, werden dabei teilweise »die Juden« als Gegenbild zu aufgrund ihrer Erfahrungen in der politischen Bildungsar- »den Arabern« stilisiert und Israel entsprechend dämo- beit mit Gefchteten. nisiert.802 Diese Art der arabischen Selbstidentifkation verstärkt in der Folge die Solidarisierung mit der paläs- Auf Basis der bestehenden Untersuchungen und den tinensischen Seite im Nahostkonfikt. Unter den Befrag- zusätzlichen Ergebnissen der Studie von Arnold/Knig ten befand sich nur eine Person mit palästinensischer kann daher festgehalten werden, dass dem Herkunftskon- Selbstbeschreibung. In ihrem Fall waren diese Identität text keine determinierende Funktion zukommt und nicht und ein damit emotional aufgeladener Bezug auf den von einer homogenen »Herkunftskultur« gesprochen Nahostkonfikt entscheidend fr das Äußern antisemiti- werden kann. Vielmehr mssen weitere Einfussfaktoren scher Haltungen. bercksichtigt werden, die antisemitische Haltungen verstärken oder verringern. Aufgrund des kleinen Samples Auffällig ist, dass in der Studie die afghanischen sind dies allerdings lediglich erste Beobachtungen, die in Gesprächspartner geringere antisemitische und antiis- weiteren Forschungen quantifziert werden mssten. raelische Einstellungen aufweisen als die syrischen und irakischen. Die befragten afghanischen Männer vertreten sogar eine auffällig pro-israelische Sichtweise. Bei zweien 10.3.5.2 religise, nationale und ethnische Identitäten von ihnen existiert auch ein Wissen um antisemitische Vertreibungen in der arabischen Welt. Sie ben berdies Manche der Gesprächspartnerinnen und -partner begrn- Kritik am antisemitischen Antizionismus im Iran. Fast den ihre antisemitischen wie antiisraelischen Einstellun- alle afghanischen Gesprächspartner haben eine lange gen mit ihrer muslimischen Identität: Sie generalisieren Migrationsgeschichte mit bis zu 19 Jahren Aufenthalt die Annahme, dass Muslime und Juden sich historisch im Iran hinter sich und erlebten dort Ausgrenzung und bedingt feindlich gegenberstnden. In diesen Fällen Rassismus.803 Unter Umständen haben diese Erfahrungen verhindert das religis geprägte »Wissen« ber Juden Auswirkungen auf ihr eher negatives Bild der islamischen sogar einen mglichen freundschaftlichen Kontakt. Weni- Republik und tragen dazu bei, dass der dort verbreiteten ger als der Grad der Religiosität scheint es allerdings die staatlichen Propaganda – etwa ber Juden und Israel – mit Skepsis begegnet wird. Auch ihre langen transnationalen Migrationserfahrungen in mehreren Ländern knnten 799 ebenda, im vergleich zu einem weltweiten schnitt von 26 Prozent. 800 zu antisemitismus in syrien siehe aktuelle Kurzeinschätzungen von Michael Kiefer/aladin el-Mafaalani, wie antisemitisch sind arabische Flchtlinge, ruhr- 802 Fr eine entsprechende analyse vgl. Jochen Mller, ventil und Kitt – Die barone, 3. 11. 2015, www.ruhrbarone.de/wie-antisemitisch-sind-arabische- Funktion von Israel und »den Juden« in der Ideologie des arabischen natio- fuechtlinge/116536#; sowie von Jeffrey herf, was wird aus dem Judenhass der nalismus, in: Israel in deutschen wohnzimmern. realität und antisemitische Flchtlinge, in: welt/n24, 14.12.2015, www.welt.de/debatte/kommentare/ wahrnehmungsmuster des nahostkonfikts, hrsg. v. Initiative antisemitismus- article149944120/was-wird-aus-dem-Judenhass-der-Fluechtlinge.html (ein- kritik hannover, hannover 2003, s. 44–69. gesehen 25. 11. 2016). 803 Dies gilt fr viele angehrige der afghanischen Minderheit im Iran, vgl.: 801 vgl. amatzia Baram, Irak, in: wolfgang Benz (hrsg.), handbuch des anti- Fariba adelkhah/zuzanna Olszewska, the Iranian afghans, in: Iranian studies, semitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. länder und regi- 40 (2007) 2, s. 137–165; Iran covertly recruits afghan shias to Fight in syria, onen, Mnchen 2008, s. 150–154. Bezglich der verbreitung von antizionismus in: the Guardian, 30.6.2016, https://www.theguardian.com/world/2016/ und antisemitismus in afghanistan liegen keine ausfhrlichen Untersuchungen jun/30/iran-covertly-recruits-afghan-soldiers-to-fght-in-syria (eingesehen vor. 21. 6. 2016).

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unter Umständen dazu beigetragen haben, dass die 10.3.5.3 wissen ber Juden und das Judentum afghanischen Interviewpartner mit unterschiedlichen Darstellungen historischer wie politischer Ereignisse, mit In der qualitativen Studie im Rahmen von Expertise II Interkulturalität und Widersprchen konfrontiert waren. sind die meisten Interviewpartner davon berzeugt, wenig ber das Judentum und Juden zu wissen. Als Wissensquel- Die drei kurdischen Befragten aus Syrien äußerten sich len geben sie Gespräche in der Familie wie auch Alltags- alle wenig bis gar nicht ablehnend gegenber Israel und/ gespräche an. Die Schule wird kaum als Quelle genannt. oder Juden. Alle verstehen sich als religis, teilen aber eine Einige beziehen die Regionalgeschichte in Form von sehr individualistische Auslegung des Islams. Als mg- persnlichen Kontakten wie auch berlieferten histori- lichen Einfussfaktor hierfr wird in der Expertise von schen Erzählungen ber die Region als Wissensquelle ber Sina Arnold und Jana Knig die Erfahrung der Kurden als Juden und Judentum ein. Nur sehr wenige Gesprächspart- unterdrckte Minderheit in Syrien herangezogen, die eine ner beziehen sich auf den Koran. Einige benennen etwa Identifkation mit nationalen Narrativen unter Umstän- die Konfikte zwischen Mohammed und den jdischen den erschwert und eine Kritik gegenber staatlicher Poli- Gemeinden. Andere lehnen den Koran als Quelle fr nega- tik befrdert. Aber auch realpolitische Entwicklungen in tive Judenbilder allerdings explizit ab. den kurdischen Gebieten mgen eine Veränderung in den Bildern ber Israel bewirkt haben. So hat etwa die Region Irakisch-Kurdistan in den letzten Jahren Beziehungen zu 10.3.5.4 wissen und wissensquellen zum holocaust Israel verstärkt, in den Medien fndet sich wenig antisemi- tische Propaganda und als einziger Ort in der arabischen In Afghanistan und Pakistan, in denen der Nahostkonfikt Liga wird hier der Holocaust-Gedenktag begangen.804 allein aus geografschen und auch aus identitätsstiften- Ebenso zwischen Kurden in Syrien und Israel existieren den Grnden eine deutlich untergeordnete Rolle spielt, punktuell gute Beziehungen, auch wenn es keine off- scheint mehr noch als in anderen Ländern sehr wenig ziellen pro-israelischen Erklärungen gibt. Die Beobach- faktisches Wissen ber die deutsche Geschichte sowie die tung, dass unter kurdischen Gefchteten antisemitische nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung der Einstellungen weniger verbreitet sind, bestätigen auch die Juden in Europa vermittelt worden zu sein bzw. verfgen interviewten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Gefchtete aus diesen Ländern kaum ber entsprechen- des Wissen. Werden die Ergebnisse der Expertise von Sina Arnold und Jana Knig zugrunde gelegt, zeigt sich ein Zusammenhang Auch in der Befragung von Sina Arnold und Jana Knig zwischen der Ausprägung des Bezugs auf kollektive – reli- wird deutlich, dass ber den Holocaust bei den Befragten gise, ethnische, nationale – Identitäten und pauschali- sehr wenig und wenn nur fragmentarisches und teilweise sierenden Konstruktionen von anderen gesellschaftlichen historisch falsches Wissen vorhanden ist. Zwei afghani- Gruppen: Personen, die ein eher individualistisches sche Frauen haben noch nie von Adolf Hitler gehrt, viele Verständnis von Identitätsbezgen aufweisen, neigen im der anderen knnen die Person nicht richtig einordnen. Sample weniger zur homogenisierenden Wahrnehmung Zwar zirkulieren kontextualisierte Hitlerzitate in Sozialen anderer gesellschaftlicher Gruppen. Es bleibt abzuwar- Medien, allerdings ohne Zusammenhang mit der national- ten, was passiert, wenn sich die in der Mehrheit noch sozialistischen Politik. In der Folge wird diese oft verharm- jungen Flchtlinge in die migrantischen Communities in losend beschrieben. Mit dem Holocaust assoziieren einige Deutschland einfgen, in denen Antisemitismus Teil der Befragte zwar Hass gegen Juden, Vertreibung und Ghettoi- Identitätskonstruktion in der Einwanderungsgesellschaft sierung, der Massenmord an den europäischen Jdinnen ist.805 und Juden wird allerdings kaum explizit erwähnt. Sechs der Befragten haben noch nie vom Holocaust gehrt. In der Studie wird deutlich, dass dieses Wissen in der Schule nicht vermittelt und der Holocaust auch im Geschichtsun- terricht zum Zweiten Weltkrieg kaum thematisiert wurde. Die fragmentierten historischen Vorstellungen speisen sich vielmehr aus herkunftsbezogenem Alltagswissen und -gesprächen wie auch historischen Romanen, Bchern 804 vgl. etwa: wunderbare Freundschaft. Die autonome region Kurdis- oder Zeitungen. tan sucht nähe zu Israel, in: Jdische allgemeine, 9.6.2016, www.juedische- allgemeine.de/article/view/id/25763; oder auch Israelisch-Kurdische Bezie- hungen. Die landkarte des nahen Ostens verändern, in: Faz, 27.8.2016, http:// Die Konfrontation mit dem Holocaust fndet fr viele www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/israelisch-kurdische-beziehungen- Gefchtete erst in Deutschland statt, etwa ber den 13116886.html (eingesehen 20. 10. 2016). Besuch des Denkmals fr die ermordeten Juden Europas 805 claudia Dantschke, Feindbild Juden – zur Funktionalität der antisemiti- schen Gemeinschaftsideologie in muslimisch geprägten Milieus, in: stender/ mit dem Deutsch-Sprachkurs, oder durch die Wahr- Follert/Özdogan (hrsg.), Konstellationen des antisemitismus, s. 129–146. nehmung anderer Denkmäler im ffentlichen Raum.

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Entsprechend begaben sich mehrere Interviewpartner in Israel grundsätzlich nicht, fr sie ist die Region »Palästina« Deutschland auf eine aktive Informationssuche (bei- und Israel lediglich ein knstlicher Staat. Andere wiede- spielsweise ber Dokumentarflme im Internet), merkten rum betonen die Normalität. Sie betrachten Israel als ein sie doch, dass der Nationalsozialismus hier ein wichtiges Land wie jedes andere. In den meisten Fällen differenzie- Thema ist. ren die Interviewpartner sehr aktiv zwischen Juden, Israe- lis und der israelischen Regierung (→ Religion). Vereinzelt Zahlreiche Interviewpartner stimmen auf Nachfrage der werden allerdings alle Juden fr die Handlungen des Staa- Aussage »Was Israel heute mit den Palästinensern macht, tes Israels verantwortlich gemacht. Deutlich wird hier eine ist das Gleiche was die Nazis mit den Juden gemacht ausgeprägt negative Haltung gegenber Israel, die häufg haben« zu. Allerdings handelt es sich hier – gerade vor auch von israelbezogenem Antisemitismus durchzogen ist. dem Hintergrund des eklatanten Mangels an Wissen ber Von ambivalenten Haltungen zeugt die Inkohärenz, dass den Holocaust – nicht um einen historisch informierten viele Befragte einerseits explizit zwischen Israel und Juden Vergleich mit dem (expliziten oder impliziten) Ziel der unterscheiden, andererseits aber doch antisemitischen Holocaustrelativierung. Vielmehr wird der Holocaust zu Stereotypen und Mythen folgen. einem abstrakten Symbol, einem Synonym fr Leiden, Unrecht, Verbrechen, eingesetzt zur Skandalisierung bei der Beschreibung des Nahostkonfikts und anderer Ereig- 10.3.5.7 einstellungen zum nahostkonfikt nisse – nicht zuletzt auch der Situation in Syrien. Der Nahostkonfikt – dies ist ebenfalls ein Befund aus der qualitativen Studie von Arnold/Knig – wird primär 10.3.5.5 Bilder von Juden und Jdinnen als politischer und nicht etwa religiser, Konfikt um Land und Ressourcen gedeutet, der aber gesellschaftlich Bei der Artikulation negativer Einstellungen gegen Juden in ethnisch-nationalen Kategorien interpretiert wird. und Jdinnen wurden in der qualitativen Befragung von Spiegelbildlich zu den negativen Einstellungen gegen- Sina Arnold und Jana Knig zahlreiche klassische anti- ber Israel bzw. der israelischen Regierung als Täter und semitische Stereotype und Vorstellungen geäußert. So aggressiver Akteur im Nahostkonfikt fndet sich bei den assoziierten die Interviewten in mehreren Fällen Juden Befragten eine Darstellung der Palästinenser als Opfer. mit Geld und Macht oder imaginierten einen »jdischen In wenigen Fällen wird zwar auch gegenber der palästi- Einfuss« in der Welt. In einzelnen Fällen wurde diese nensischen Konfiktpartei Kritik gebt, v.a. in Bezug auf Annahme verbunden mit der Vorstellung, dass Juden religise Radikalisierung. Fr jdische Sichtweisen und verantwortlich fr weltweite Kriege seien. Diese Charakte- Verfolgungsgeschichten im Nahostkonfikt gibt es aller- risierung ging in einigen Fällen mit dem Stereotyp einher, dings wenig Verständnis. Lediglich ein Interviewpartner Juden besäßen eine besondere Schläue und kalkulierende erwähnt fr die Staatsgrndung Israels auch die Diskri- Rationalität. Andere beschreiben Juden als unmoralisch. minierung und Vertreibung jdischer Minderheiten aus In wenigen Fällen zeigen sich verschwrungstheoreti- arabischen Ländern als einen Einfussfaktor. sche Tendenzen, bei denen Juden ein bergroßes Maß an Verantwortung fr die negativen Ereignisse in der Welt zugesprochen wird. 10.3.5.8 wissensquellen zum nahostkonfikt und Israel

Wissen ber Israel und den Nahostkonfikt, so die Befunde 10.3.5.6 einstellungen zu Israel und der Expertise von Sina Arnold und Jana Knig, wird v.a. als israelbezogener antisemitismus Alltagswissen aus dem Herkunftsland beschrieben Dort wird es reproduziert ber Gespräche in der Familie und Fast alle Interviewpartner stehen Israel kritisch gegen- im Freundeskreis wie auch in medialen Diskursen und ber. Die Charakterisierungen reichen dabei von einer der Schule. Dies gilt insbesondere fr Syrien und Irak. In allgemeinen Kritik an der israelischen Politik gegenber Afghanistan scheint dieses Alltagswissen weniger präsent den Palästinensern bis zu einer Fundamentalkritik, die zu sein. Diese Omnipräsenz und Selbstverständlichkeit Israel als einfussreichsten Staat der Welt, verantwortlich der Positionierung bedeuten auch, dass gegenläufge fr weltweite Kriege (auch in Syrien) und machtvoll ber Positionen schwer zu vertreten sind – es wrde bedeu- seine tatsächliche Grße hinaus beschreibt. Diese Darstel- ten, sich explizit gegen den Herkunftskontext zu stellen. lungen haben Anklänge an Verschwrungstheorien, nach Teilweise wird bei der Beschreibung des Konfikts ein denen der jdische Staat in der Lage sei, nach Belieben konkreter historischer Bezug zu Syrien hergestellt – in die Geschicke der Welt zu bestimmen. Israel wird verein- negativer (z.B. Besatzung von syrischem Land) wie in zelt auch als rassistisches Land, als Besatzungs- und/oder positiver Form (z.B. Erinnerung an friedliche Koexistenz Kolonialmacht oder als religiser Staat charakterisiert und zwischen Juden und Arabern in Damaskus). Religise entsprechend kritisiert. Fnf der Interviewten akzeptieren Institutionen, Moscheen und Imame werden nur von

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drei Interviewpartnern als Wissensquellen genannt. Diese religis erklärt, sondern primär ber eine ungleiche Res- kritisieren beispielsweise, dass es in Predigten zu einer sourcenverteilung. Weil im Syrien-Krieg benennbare und Vermischung von Religion und Politik käme. andere Feinde erkennbar wurden, tritt der Nahostkonfikt jedoch in den Hintergrund. Auch durch den Arabischen Auffällig ist, dass »Israel« fr viele Gefchtete ein tabu- Frhling scheint sich das Israelbild bei einigen der Befrag- isiertes Thema ist. Zwei Interviewpartner verweigerten ten gewandelt zu haben. explizit ihre Antwort auf die Frage, was sie ber den israelischen Staat denken, und mehrfach wurde auffällig Die Befunde verweisen auf große Unterschiede zwischen einsilbig geantwortet. Ein Interviewpartner wollte sich bei Gefchteten aus unterschiedlichen Ländern mit jeweils dieser Frage rckversichern, dass alle Angaben anonymi- unterschiedlicher antisemitischer Prägung und Sozialisa- siert werden. Hier deutet sich an, dass es bei Gefchteten tion. Sie unterstreichen zudem die Rolle von kollektiven ein Bewusstsein ber problematische Themen in Deutsch- religisen, nationalen und ethnischen Identitäten. Die land gibt, was eine entsprechende Vorsicht beim Antwort- Bindung an die Herkunftsländer scheint ebenfalls von verhalten nach sich zieht. Bedeutung zu sein. Fr gefchtete Personen lässt sich eine vermutlich gespaltene Bindung an die Herkunftslän- der vermuten, in denen sie auf der einen Seite sozialisiert 10.3.5.9 wandel im Israelbild wurden, aus denen sie aber auf der anderen Seite gefohen sind. Die hohe Befrwortung von Grundwerten der Men- Die geografsche und politische Nähe zwischen den Her- schenrechte, der Demokratie, der Freiheit der Religions- kunftsländern und Israel erffnet in einigen Fällen inter- ausbung und des wertschätzenden Umgangs miteinan- essante Chancen: Auf der Grundlage der Kriegserfahrung der fällt auf und wird in Opposition zu den Verhältnissen beschreiben etwa zwei syrische Interviewpartner, wie sich im Herkunftsland positiv hervorgehoben. Auch wenn hier ihr negatives Bild von Israel gewandelt hat. Statt abstrak- sicher die starke Motivation, sich zu integrieren und daher ter Projektionen, bei denen Israel als »Ursprung allen auch in der Befragung einen guten Eindruck zu machen, Übels« imaginiert wird, ließen sich in den letzten Jahren das Antwortverhalten mit beeinfusst hat und im Einzel- sehr konkrete Akteure fr Krieg und Leiden verantwort- nen nachgefragt werden msste, was genau die Befragten lich machen – etwa Assad, Russland, Iran oder der IS. Diese mit diesen Werten verknpfen. Beobachtung wird auch von manchen der Expertinnen und Experten geteilt: Durch den Syrienkrieg und den Problematisch auch mit Blick auf die Entwicklung von Arabischen Frhling sei es zu einer Fokusverschiebung Antisemitismus erscheint die Lebenssituation, in der viele gekommen, bei der Israel wie auch der Nahostkonfikt Gefchtete verharren mssen. Während sie derzeit noch weniger relevant geworden sind. Fr die Befragten gibt es v.a. mit den Alltagsproblemen des Aufaus eines neuen schlichtweg wichtigere Krisenregionen, allen voran ihre Lebens beschäftigt sind und Antisemitismus als Thema eigenen Länder. Und nicht nur war Israel – anders als von fr sie nachrangig ist, steht zu befrchten, dass Enttäu- vielen Befragten antizipiert – keine Kriegspartei im aktu- schungen sowie eigene Diskriminierungs- und Margina- ellen Geschehen in Syrien, vereinzelt wurden sogar uner- lisierungserfahrungen in Deutschland ein Einfallstor fr wartet positive Erfahrungen gemacht: so etwa Berichte, Radikalisierungen sein knnten. Dies knnte v.a. dann nach denen israelische Polizisten syrische Verwundete an passieren, wenn die Gefchteten – auch getrieben durch den Grenzen pfegten. Einsamkeit, psychische und somatische Belastungen sowie Hoffnungslosigkeit, verbunden mit Ärger und Wut ber ihre Situation – Anschluss an radikalisierte migrantische 10.3.6 Zusammenfassung der bisherigen Befunde Milieus fnden oder von diesen gezielt angesprochen zu Antisemitismus bei Gefchteten werden. Der bei vielen Gefchteten mindestens latent vorhandene Antisemitismus knnte sich dann in antise- Zusammenfassend legen die Befunde ein vergleichsweise mitischen Handlungen niederschlagen. Hier drften sich hohes Maß an antisemitischen Einstellungen und große ber kurz oder lang die auch aus anderen migrantischen Wissenslcken unter Gefchteten aus arabischen und Milieus bekannten Muster und Entwicklungen abzeich- nordafrikanischen Ländern bzw. Ländern des Nahen nen, wenn die Gefchteten zu »normalen« Migranten und Mittleren Ostens nahe. Zugleich besteht ein großes werden und ihnen Integrationschancen erschwert, verz- Interesse an Information ber den Holocaust. Insbeson- gert oder gar verwehrt werden. dere spielen hier der Nahostkonfikt und seine durchaus auch antisemitische Rezeption eine große Rolle, aber auch Es gibt insgesamt viele Hinweise sowohl fr die Annahme klassisch antisemitische Stereotype und Verschwrungs- einer großen Verbreitung von Antisemitismus bei theorien sind anzutreffen. Das Wissen ber Israel mit Gefchteten aus arabisch-muslimisch geprägten Ländern. einer klaren Täter-Opfer Zuweisung ist im Heimatland Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die Lage komplex omnipräsent. Der Nahostkonfikt wird dabei aber nicht ist. Die Gefahr besteht, den Blick zu einseitig nur auf die

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muslimische Bevlkerung bzw. aktuell auf Gefchtete als die derzeit noch als Gefchteten betrachteten Personen in Träger antisemitischer Einstellungen zu richten. absehbarer Zeit zu »normalen« Migranten werden, gilt es auch die mglichen Besonderheiten im Blick zu behalten. Exkurs: Präventionsarbeit mit Gefchteten Dazu gehren neben dem Verlust der Heimat und der Sorge um zurckgelassene Angehrige auch eigene viel- Fr die Arbeit im Bereich der Prävention von Antisemi- fach belastende und traumatisierende Erfahrungen vor tismus ist das tatsächliche Ausmaß von judenfeindlichen und während der Flucht. Einstellungen unter Gefchteten und die Frage, ob sie nun etwas mehr oder weniger antisemitisch sind als Es gibt bereits eine Reihe von Aktivitäten (Seminare, Fh- die alteingesessene Bevlkerung zunächst gar nicht so rungen etc.) gerade auch von Gedenkstätten, die sich mit erheblich. Es geht vielmehr darum, mehr ber das Muster der Frage auseinandersetzen, welche Formate und Ansätze des Antisemitismus zu erfahren, um geeignete Ansätze angemessen sind. In einem Workshop mit Mitarbeite- zur Prävention und Intervention zu entwickeln. Hier stellt rinnen und Mitarbeitern von Gedenkstätten zur histo- sich v.a. die Frage, inwieweit mit Blick auf Gefchtete risch-politischen Bildungsarbeit mit Gefchteten, der am eigentlich tatsächlich neue, andere und besondere Ansätze 8. September 2016 in Berlin stattfand, wurden zum einen ntig und angemessen sind. Angebote speziell fr Willkommensklassen vorgestellt, zugleich sprachen sich die Teilnehmenden dafr aus, keine In den Arbeitsbereichen Prävention und Intervention spezifschen Formate fr Gefchtete anzubieten, son- von Antisemitismus wurden in den vergangenen Jah- dern sie in bestehende Formate zu integrieren u.a. auch ren zunehmend zielgruppenspezifsche Ansätze einge- in solche, die sich an migrantische Zielgruppen richten setzt, weil erkannt wurde, dass der Nahostkonfikt eine bzw. diese als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren besondere Rolle spielt und herkunftskulturelle Narrative einbinden. In anderen Regionen, z.B. in Baden-Wrttem- weitergetragen und aufrechterhalten werden. Zugleich berg, sind Gedenkstätten bereits aktiv und bieten Formate verweisen Studien darauf, dass auch eingewanderte Bevl- an, die in der Regel Gefchtete und die einheimische kerungsteile in Deutschland durchaus den Holocaust und Bevlkerung gemeinsam ansprechen.807 das Thema Antisemitismus als wichtig erachten.806 Dies spricht sowohl fr gemeinsame wie fr zielgruppenspe- Eine erste auf dem Workshop vorgestellte Evaluation zifsche Herangehensweisen. Diese werden zunehmend machte auf eine Reihe von Notwendigkeiten bei der Arbeit konzipiert und erprobt und knnten ggf. auch auf die mit Gefchteten aufmerksam, die ganz ähnlich aber auch Zielgruppe der Gefchteten sinnvoll erweitert werden. fr andere Zielgruppen gelten:

Ermutigend sind zum einen der hohe Integrations- º Vorhandene Informationsangebote mssen strikt redu- wille und die hohe Zustimmung zu Menschenrechten ziert werden und Demokratie, an die sich – auch wenn im Einzelnen nicht klar ist, was genau die Befragten fr sich darunter º Konkretes ist wichtiger als abstrakte Information; verstehen – anknpfen lässt. Etliche der – in der berwie- Visualisierung geht vor Sprache genden Zahl jungen und daher besonders lernfähigen und lernbereiten – Gefchteten drften offen und motiviert º Die Art und Weise der Vermittlung von Wissen ber die sein, sich neue Perspektiven zu erschließen. Daran knnte europäischen Juden bei Fhrungen mssen berdacht ggf. auch in Bezug auf die sicher von vielen mitgebrachte und das sehr unterschiedliche Vorwissen sollte berck- Israel- und Judenfeindschaft angeknpft werden. Zugleich sichtigt werden gibt die Expertise von Sina Arnold und Jana Knig erste Hinweise darauf, an welchen Stellen auch problematische º Die Gefchteten sollten nicht unbegleitet im Raum der Entwicklungen einsetzen knnen – wenn sich Gefchtete Information bleiben und die Erwartungen an die eigene nicht willkommen, einsam und ausgegrenzt fhlen. Dies Vermittlungsarbeit sollte reduziert werden ist eine Konstellation, in der sie ggf. anfällig fr den Rck- zug in eigene kollektive Identitäten und Communities º Es gilt, Antisemitismus nicht unter der Perspektive von sind, in denen Antisemitismus verbreitet ist. Auch wenn als unsere/ihre Geschichte zu vermitteln, sondern so, dass das Vermittelte fr alle verstehbar und anknpfar ist 806 Geteilte erinnerung: Deutschtrken und der holocaust, Befragung von tns emnid im auftrag der zeIt 2010, http://www.zeit.de/2010/04/editorial- Umfrage/komplettansicht bzw. Pdf-Datei siehe https://www.google.de/ url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&ved=0ahUKewiswKr89Yl- rahwBM1aKhdI2B0sQFgghMae&url=http%3a%2F%2Fzfds.zeit.gaertner. de%2Fcontent%2Fdownload%2F107%2F624%2Ffle%2Farbeitsblatt_Februar 2010.pdf&usg=aFQjcnGl03Kh8mxn1aK9retddlQ0poyuhw (eingesehen 807 http://www.gedenkstaetten-bw.de/ausgedenkstaette_fuechtlinge_16. 25. 11. 2016). html (eingesehen 25. 11. 2016).

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Handlungsempfehlungen – Antisemitismus bei Gefchteten Forschung Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … die Initiierung, Durchfhrung und Frderung von Forschung zu Antisemitismus unter Gefchteten, die mindes- tens durch das Bundesamt fr Migration und Gefchtete geleistet werden sollte. Bislang fehlt es an empirisch gesttzten erkenntnissen ber die verbreitung und ausformung von antisemitismus bei Gefchteten. Gefragt sind sowohl qualitative als auch quantitative studien, im besten Fall eine verbindung aus beiden, ggf. kann die Fragestellung zunächst auch in eine bereits angelaufene langzeitstudie integriert werden. Im Forschungs- design sowie der auswertung ist es erforderlich, die sehr große heterogenität dieser zielgruppe zu bercksichtigen. Ferner sollten dabei einfussfaktoren auf antisemitische einstellungen systematisch untersucht werden. Dazu gehren u.a. religise, nationale und ethnische Identitäten und sozialisationserfahrungen, aber insbesondere auch Besonder- heiten der erfahrungen und lebenssituation als Gefchtete; ebenso zu bercksichtigen sind Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. außerdem sollten hier auch die vermittelten wissensbestände und Infor- mationen mit antisemitischen Inhalten, die Gefchtete aus ihren herkunftsländern mitbringen, bzw. durch Medien, die sie hier nutzen, analysiert werden.

º … die Untersuchung des Wissens und der Einstellung unter Ehrenamtlichen und Untersttzerinnen von Gefchte- ten im Rahmen der Forschung zum Ehrenamt. ehrenamtliche und Untersttzerinnen sind häufg die wichtigsten Kontaktpersonen fr Gefchtete, daher ist es von zentralem Interesse, mehr darber zu erfahren, was sie in zusammenhang mit dem thema antisemitismus weiterge- ben. Die erkenntnisse sollten auch bei der schulung von ehrenamtlichen verwendung fnden.

Politische Bildung Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … die Vernetzung und den professionellen Erfahrungsaustausch von Wissenschaft, Praxis und insbesondere Trägern der historisch-politischen Bildung zum Thema Flucht und Antisemitismus; gefragt sind hier insbesondere die Fr- der- und Bildungsprogramme von Bund und Ländern. hier gilt es, in neu entwickelte oder bestehende vernetzungen erkenntnisse zu antisemitismus bei Gefchteten und ggf. auch unter ehrenamtlichen einzubringen und einen interdisziplinären Fachaustausch ber den zuschnitt von Bil- dungsangeboten zu initiieren.

º … die Anerkennung von Gefchteten als politisch Denkende und Handelnde mindestens in den Bildungsprogram- men von Bund und Ländern. hier gilt es, Gefchtete als politisch Denkende und handelnde mit ihren eigenen erfahrungen und Perspektiven ernst zu nehmen, ihre Bildungsinteressen zu bercksichtigen, an herkunftsspezifsches wissen und antisemitische narrative anzuknpfen und die politischen Diskussionen zu befrdern. Dies sollte stets unter einbeziehung ihrer lebenssituation (unsicherer aufenthaltsstatus, traumatische Fluchterfahrungen, herkunftskontexte und Motivationslagen) geschehen. Mgliche ansatzpunkte sind die Befrwortung demokratischer und menschenrechtlicher werte, die stärkung der sich aus den Biografen ergebenden empathie und bei Jugendlichen das große Interessen an der eigenen Identität und die hohe Motivation, neues zu lernen, das land zu verstehen und sich zu integrieren.

Medien Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt…

º … eine noch grßere Bereitstellung, Verbreitung und Zugänglichkeit von Information und Angeboten fr Gefch- tete auch in den jeweiligen Landessprachen; gefragt sind hier mindestens die ffentlich-rechtlichen Medien und die Bundes- und Landeszentralen fr politische Bildung. ziel sollte es sein, mglichst viele Menschen mit Fluchterfahrungen zu erreichen. Das gilt ebenso fr Informationen und angebote der politischen Bildung im zusammenhang mit antisemitismus. v.a. das Fernsehen, das viele Gefchtete erreicht, sollte muttersprachliche artikel und sendungen anbieten – das gilt v.a. fr politische Formate. Gefchtete sollten dabei auch aktiv in die Medienproduktion einbezogen werden. viele von ihnen bringen Medienkompetenzen mit, die fr den aufbau neuer Formate und Plattformen genutzt werden knnten.

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11 Prävention und Intervention

Der Bericht des ersten UEA sollte einen mglichst weitrei- »antisemitische Wissen«809 (z.B. antisemitische Bilder, chenden Überblick darber geben, wie unterschiedliche Sprachwendungen etc.) weiter und ist in Deutschland ein Akteurinnen und Akteure, Institutionen und Organisati- Bestandteil gesellschaftlicher und politischer Diskurse onen präventiv gegen Antisemitismus vorgehen und wel- zu Identität und Selbstverständnis. Gleichzeitig wird die che Fort-, Weiter- und Ausbildungsmaßnahmen existieren. Existenz von Antisemitismus als sozialem Phänomen Demzufolge wurden Erhebungen durchgefhrt und aus- oft bestritten oder als wenig bedeutsam erachtet. Die gewählte Institutionen mit bundesweitem Aktionsradius in diesem Bericht vorgelegte → Defnition und die dort zu ihren Maßnahmen befragt. Die zu diesem Zeitpunkt beschriebenen unterschiedlichen Erscheinungsformen bestehenden Bundesprogramme wurden beschrieben und liefern Hinweise fr die anhaltende Relevanz von Antise- verschiedene Veranstaltungsformate analysiert. Durch mitismus als pädagogischem Lernfeld sowie der Notwen- dieses Vorgehen konnte ein breites Spektrum der Hand- digkeit, neue Formate, Methoden und Zugänge fr den lungsfelder (von Fußballvereinen ber die Feuerwehr schulischen und außerschulischen Kontext zu entwickeln. bis hin zum Justizministerium und den Schulen) erfasst und vorgestellt werden. Der Auftrag des Bundestags fr Die Erscheinungsformen des Antisemitismus sind den zweiten UEA forderte eine Auswertung bestehender vielschichtig und nicht immer eindeutig voneinander Präventionskonzepte sowie eine Einschätzung der Umset- abgrenzbar. Auch wird die Frage der aktuellen Relevanz zung von im ersten Bericht formulierten Empfehlungen. und Wirkung von Antisemitismus unterschiedlich beant- Daher wird in diesem Kapitel ausfhrlich auf die mit wortet. Antisemitische Auffassungen fnden sich in allen Prävention verbundenen Herausforderungen eingegan- gesellschaftlichen Gruppen und beschränken sich nicht gen. Neuere pädagogische Ansätze werden vorgestellt und nur auf direkte Ausdrucksformen wie der Gebrauch des begrndet sowie die Rahmenbedingungen und der Bedarf Begriffs »Jude« als Schimpfwort, sondern treten v.a. auch von Bildungsarbeit gegen Antisemitismus diskutiert. subtil und zwischen den Zeilen in Erscheinung.810 Eine direkte Thematisierung von Antisemitismus ist schwierig, Um eine inhaltlich qualitative Erweiterung des ersten da sie meistens von vielfältigen Abwehrhaltungen, wie Berichts vorzulegen, fnden sich im folgenden Kapitel Relativierung des Holocaust oder einer Täter-Opfer-Um- theoretische Überlegungen, die in den letzten Jahren kehr, begleitet wird.811 So spiegeln nicht nur Positionen fachlich diskutiert wurden und fr die praktische Arbeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch gegen Antisemitismus relevant sind. Hierzu werden an antisemitische Untertne gesellschaftlicher Minderhei- einigen Stellen neue und fr viele sicherlich ungewohnte ten, insbesondere im Zusammenhang mit Antizionismus Begriffichkeiten eingefhrt. Sie werden jedoch bewusst oder verkrzter »Israelkritik«, die widersprchlichen eingesetzt, um die qualitative Weiterentwicklung pädago- Identifkationen mit »Opfer-« und »Täterpositionen« gischer Konzepte abzubilden.808 wider. Mglich ist aber auch, dass Minderheiten, die von der Mehrheitsgesellschaft selbst als »Andere« oder »Fremde« bezeichnet und behandelt werden, auf anti- semitische Erklärungsmuster zurckgreifen. In ihrer 11.1 zentrale pädagogische Wahrnehmung sind es dann »die Juden«, die aus ihrer herausforderungen Sicht aufgrund der Vergangenheit heute quasi eine pri- vilegierte gesellschaftliche Position einnehmen und mit

11.1.1 Ausgangsberlegungen

Trotz einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung 809 Der Begriff racial knowledge geht auf David theo Goldberg zurck und beschreibt den Prozess, indem rassismus durch etablierte wissenschaften mit demokratiefeindlichen Ideologien wirkt das legitimiert wird. In Deutschland wird der Begriff häufg genutzt, um kollektiv geteilte vorstellungen ber »Fremde« und »andere« als eine gesellschaftliche Praxis zu zeigen. Diese endet nicht bei einstellungen, sondern verbindet sich mit institutioneller Macht und hegemonialer Kultur. 810 lars rensmann, Die ausgrenzung des eigenen und die exklusion der ›an- deren‹. zur politischen Psychologie des antisemitismus heute, in: Psychoanaly- se – texte zur sozialforschung, 17 (2013) 2, s. 171. 808 Das vorliegende Kapitel fokussiert auf die Prävention von antisemitismus 811 astrid Messerschmidt, (Un)sagbares – Über die thematisierbarkeit von primär mit dem Blick auf jene, die antisemitismus teilen oder teilen knnten. rassismus und antisemitismus im Kotext postkolonialer und postnationalsozi- Die Perspektive der jdischen Bevlkerung auf Prävention bzw. Maßnahmen alistischer verhältnisse, in: Marina chernivsky/christiane Friedrich/Jana scheu- zur Untersttzung der von antisemitismus Betroffenen werden im Kapitel ring. Praxiswelten – zwischenräume der veränderung. neue wege zur Kompe- → Jdische Perspektiven betrachtet. tenzerweiterung, Berlin 2014, s. 55–74.

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einer gesellschaftspolitischen Übermacht ausgestattet sind 1. Antisemitismus als Ausdruck tradierter (→ Religion).812 Stereotype/Vorurteile

Die historische Tradierung stellt die pädagogische Arbeit Viele antisemitische Stereotype halten sich hartnäckig im gegen Antisemitismus vor Herausforderungen: Die Dis- gesellschaftlichen Diskurs. So wird etwa die imaginierte kussion um Antisemitismus in Deutschland wird vielfach fnanzielle Besserstellung von Juden als Erklärung fr in direkter Verbindung mit dem systematischen Mas- Ausgrenzung und Verfolgung genutzt. Auf die Gegenwart senmord an den europäischen Juden gesehen, was einen bezogen, wird dieses Bild durch verschwrungstheo- sachlichen und konstruktiven Umgang erschwert. Dass retische Annahmen und Verweise auf ihre angebliche der Fokus der Präventionsarbeit oftmals ausschließlich Finanzmacht ergänzt. auf der Thematisierung des Holocaust und nicht auf der Problematisierung des gegenwärtigen Antisemitismus 2. Auf »Verschwrungstheorien« liegt, kann ebenfalls zu einem verzerrten Bild fhren: basierender Antisemitismus Juden sollten heute besonders geschtzt werden, »nur« weil sie so oft und so lange verfolgt wurden.813 Dennoch Verschwrungstheorien werden eingesetzt, um komplexe ist die historische Bildung, die sich nicht nur an Jugend- Zusammenhänge refexartig mit verschwrerischen, liche, sondern auch an Erwachsene richtet, die Basis fr antisemitisch konnotierten Deutungen zu erklären und jede weiterfhrende Beschäftigung mit historischem und in wechselnden Varianten miteinander zu verknpfen. aktuellem Antisemitismus. Dabei sollte das Verständnis Verbunden mit der Überzeugung einer vermeintlichen von historischer Bildung jedoch breiter gefasst werden Übermacht der »jdischen Presse« oder des »jdischen und auch die Entstehungsgeschichte von sekundärem Finanzwesens«, ist diesen Theorien kaum mit sachlichen Antisemitismus (→ Defnition) einbeziehen. Argumenten zu entgegnen (→ Medien).

3. Antisemitismus als Abwehr gegen 11.1.2 Erscheinungsformen von Antisemitismus die Auseinandersetzung mit einer in pädagogischen Kontexten schuldbelasteten Vergangenheit

Eine der wichtigsten Herausforderungen der pädagogi- Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden schen Praxis zu Antisemitismus besteht darin, seine aktu- stellt angesichts der Dimension des Verbrechens fr viele ellen Erscheinungsformen zu erkennen und ihre Wirkung Jugendliche und Erwachsene eine emotionale Belastung einzuschätzen, ohne einzelne Personen damit gleich als dar. Vielfach bleibt in pädagogischen Kontexten kein »Antisemiten« entlarven zu wollen.814 Wichtig sind auch Raum fr den Umgang mit diesen Emotionen. So wird Kenntnisse darber, mit welchen pädagogischen Ansätzen stattdessen auf entlastende Erklärungsmuster zurck- welcher Form von Antisemitismus begegnet werden kann. gegriffen, um komplexe Sachverhalte zu erklären und Das Bewusstsein dafr, dass nicht immer nach einem die eigene Familie, Bezugsgruppe oder die ganze Gesell- gleichbleibenden Schema vorgegangen werden muss, son- schaft zu entschulden. Dazu gehrt auch, den Grund fr dern unterschiedliche Maßnahmen miteinander verbun- Verfolgung und Ermornung bei »den Juden« zu suchen815 den werden knnen, ist dabei eine zentrale Erkenntnis. oder festzuhalten, »die Juden« nutzten ihre Verfolgungs- geschichte »zu ihrem Vorteil« und beteiligten sich heute Bei den Adressatinnen und Adressaten pädagogischer selbst an vergleichbaren Verbrechen im Kontext des Interventionen ist in der Regel nicht von einem geschlos- Nahostkonfikts. senen antisemitischen Weltbild auszugehen. Es zeigen sich aber verschiedene Erscheinungsformen des Anti- 4. Antisemitismus als Resultat eigener semitismus (→ Defnition), die in der Regel miteinander Diskriminierungserfahrungen verknpft sind und oft nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden knnen. Dazu gehren: Viele als »fremd« oder »anders« markierte Gruppen erleben in ihrem Alltag Diskriminierung. Hier geht es um subtile, aber auch manifeste Ausdrucksformen eines Alltagsrassismus. Angesichts eines im ffentlichen und politischen Diskurs immer wieder betonten anti-antise- 812 ebenda mitischen Grundkonsenses der deutschen Gesellschaft 813 leo-Baeck-Institut (hrsg.), Deutsch-Jdische Geschichte im Unterricht. kann dies von anderen ausgegrenzten Gruppierungen Orientierungshilfe fr lehrplan und schulbucharbeit, Frankfurt a.M. 2011. als Benachteiligung erlebt werden und zu der Annahme 814 Bildungsstätte anne Frank (hrsg.), Fr eine differenzierte wahrnehmung des lernraumes und unterschiedlicher Motivationen hinter antisemitismus, in: weltbild antisemitismus. Didaktische und methodische empfehlungen fr die 815 In dieser aussage verbirgt sich zugleich die bis heute tradierte und weit- pädagogische arbeit in der Migrationsgesellschaft, Frankfurt a.M. 2013, s. 9. verbreitete trennung von »Deutschen« und »Juden«, die teil des Problems ist.

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fhren, Juden erhielten aufgrund ihrer Geschichte mehr Antisemitismus kann aber auch in Form eines nicht ideo- Rechte und Schutz vonseiten der Mehrheitsgesellschaft. logisch geformten Fragments auftreten. Einzelne antise- Diese Annahme kann in pädagogischen Kontexten in mitisch konnotierte Haltungen oder Differenzannahmen »Stellvertreterauseinandersetzungen« mnden, bei denen kommen in alltäglichen Kommunikationszusammenhän- antisemitische Äußerungen auch gegen die nichtjdischen gen besonders oft zum Tragen. Pädagogen gerichtet werden. Noch komplexer gestaltet sich die Situation, wenn Pädagoginnen und Pädagogen Auch unbewusste antisemitische Stereotype knnen auf- selbst jdisch oder in einem pädagogischen Kontext auch treten, ohne dass ihnen eine gefestigte Ideologie zugrunde Jdinnen und Juden anwesend sind, da hier der Schutz der liegt. Die Reproduktion antisemitischer Stereotype äußert Opfer von Antisemitismus in Konkurrenz zur Situation sich in diversen Alltagskommunikationen durch klassi- der Opfer von Rassismus gerät (→ Religion). sche Stereotype und Sprachwendungen, Illustrationen in der Presse oder durch Lehrbcher. »Die Aneignung 5. Antisemitismus im Kontext des Nahostkonfikts tradierter antisemitischer Stereotype in Alltagsäuße- rungen, wie ›Juden sind reich‹ […], geschieht, wenn diese Der im Kontext des Nahostkonfikts artikulierte Antise- […] unwidersprochen bleiben, weil ein stillschweigendes mitismus zeichnet sich in erster Linie durch projektive Einverständnis besteht oder weil ihre Problematik nicht Besetzungen von Opfer-Täter-Positionen aus und bedient erkannt wird.«819 sich u.a. der klassischen Motive eines verschwrungs- theoretischen Denkens. Israel wird dämonisiert, einseitig Die Motivation hinter Antisemitismus kann auch von mit Schuldzuweisungen belegt und mit dem NS-Regime Gruppenidentitäten geleitet sein und Teil einer jugend- verglichen. Hier sind Pädagoginnen und Pädagogen gefor- kulturellen Rhetorik sein, die auf Abgrenzung, Gruppen- dert, »Jugendliche [aber auch Erwachsene, Anm. d. Verf.] bildung und Identitätsfndung ausgerichtet ist. mit konträren Positionen vertraut zu machen« und sie zu einem »mglichen Perspektivenwechsel zu ermuntern«.816 Gezielte Provokation ist ein weiteres Motiv, das häu- fg unterschätzt wird. Bei einer Provokation kann das Bewusstsein fr die provozierende Wirkung antisemiti- 11.1.3 Verschiedene Motive von Antisemitismus817 scher Rhetorik durchaus vorhanden sein. Das Wissen um den antisemitischen Gehalt tradierter Vorurteile und Ver- Hinter jedem antisemitischen Argument stecken in der schwrungstheorien wird in Verbindung mit dem Wissen Regel unterschiedliche Motive und Begrndungen, die um den gesellschaftlichen anti-antisemitischen Diskurs nicht immer eine gezielte antisemitische Absicht verfol- gelegentlich ganz bewusst eingesetzt, um zum Beispiel gen. Das äußert sich beim Sprechen ber Juden, das häufg Pädagoginnen und Pädagogen zu provozieren oder ihre durch Stereotype, antisemitische Fragmente, Konnotati- Grenzen auszutesten. onen oder gängige Differenzannahmen gekennzeichnet ist. In pädagogischen Kontexten knnen antisemitische Äußerungen folgenden Motiven und Kategorien zugeord- 11.1.4 Emotionen und Abwehrhaltungen als net werden: (pädagogische) Herausforderung820

Antisemitismus kann aufgrund einer gefestigten Ideolo- Emotionen waren schon immer Teil des Antisemitismus. gie oder einer geschlossenen Weltanschauung in Erschei- Gegen Juden gerichtete negative Gefhle wie Neid, Wut, nung treten und aus dem Motiv einer vereinfachenden Ekel, Abscheu und Verachtung entstanden nicht erst mit (kausalen) Welterklärung heraus erfolgen. »Die Ansicht, dem Nationalsozialismus und verschwanden auch nicht die Juden hätten die Kontrolle ber die Weltherrschaft, mit ihm.821 Dabei wird Antisemitismus von der nichtj- kann beispielsweise in einer solchen geschlossenen dischen Bevlkerung oft als historisch berwunden und Ideologie begrndet liegen.«818 Die starke Präsenz von Ver- daher nicht relevant fr die gegenwärtige gesellschaftliche schwrungstheorien ist ein Zeichen fr die welterklärende Situation gesehen.822 Dennoch zeigen sich auch hier die Funktion von Antisemitismus.

819 ebenda. 820 Marina chernivsky/christiane Friedrich, »wege aus der Distanzierung – 816 aycan Demirel/Yasmin Kassar/Malte holler, Israel, Palästina und der Beobachtungen im seminarraum«, in: Praxiswelten – zwischenräume der ver- nahostkonfikt. ein Bildungs- und Begegnungsprojekt mit muslimischen Ju- änderung. neue wege zur Kompetenzerweiterung, Berlin 2014, s. 74–83. gendlichen im spannungsfeld von anerkennung und Konfrontation, KIga e.v., 821 Uffa Jensen/stefanie schler-springorum, antisemitismus und emo- Berlin 2010, s. 6. tionen, in: aus Politik und zeitgeschichte, 64 (2014) 28-30, https://www.bpb. 817 Bildungsstätte anne Frank (hrsg.), Fr eine differenzierte wahrnehmung, de/system/fles/dokument_pdf/aPuz_2014-28-30_online.pdf (eingesehen s. 11. 15. 12. 2016). 818 ebenda. 822 Messerschmidt, (Un)sagbares.

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Nachwirkungen des Holocaust: Allein schon die Beschäf- Diskriminierungserfahrungen treffen aufeinander. Dazu tigung mit Antisemitismus wird von vielen als Anachro- kommt der Umstand, dass Erfahrungen und Bedrfnisse nismus gesehen und als beschämend oder bedrckend der potenziell Betroffenen nicht immer mitbedacht erlebt. Entsprechend wird eine Auseinandersetzung mit werden. Im Hinblick auf Antisemitismus wird vielfach Antisemitismus abgewehrt oder in erneute antisemitische davon ausgegangen, dass die Teilnehmerinnen und Teil- Deutungsmuster umgekehrt. In pädagogischen Kontexten nehmer von pädagogischen Maßnahmen nicht jdisch fhrt dies zu einer Bagatellisierung und Relativierung sind. Aufgrund negativer Erfahrungen geben sich die antisemitischer Sachverhalte und zeigt sich in Äußerun- jdischen Teilnehmenden oftmals nicht zu erkennen, um gen wie: »Das Thema ist unangenehm«, »wenig aktuell«, einer mglichen Stigmatisierung zu entgehen (→ Jdische »vllig berfssig und an der Realität vorbei«.823 Solche Perspektiven). Fehlender Schutz der Betroffenen und Reaktionen sind erfahrungsgemäß gepaart mit weiteren die Verharmlosung antisemitischer Vorkommnisse sind Abwehrmechanismen wie der Rationalisierung eigener jedoch gravierende Verletzungen der Bildungsräume, die Ressentiments oder der Verlagerung antisemitischer auch als Schutzräume fungieren sollen.826 Argumentationen an den rechten Rand der Gesellschaft. Auch das Verhandeln antisemitischer Vorfälle als bedau- erliche Ausnahmeerscheinungen kann als Beispiel fr die De-Thematisierung des Antisemitismus als gegenwärtiger 11.2 zielgruppen und und relevanter Diskriminierungsstruktur herangezogen Präventionsformen werden.824

Der Umstand, dass die meisten Menschen sich heute als 11.2.1 Zielgruppen nicht-antisemitisch verstehen, erschwert die kritische Refexion ber antisemitische Positionen. Nicht nur fr Fr den UEA ist von großer Bedeutung, dass Antisemitis- Jugendliche, sondern auch fr Lehr- und Fachkräfte ist es musprävention nicht nur Jugendliche anspricht, sondern kaum nachvollziehbar, warum sie sich mit dem Thema sich auch an Erwachsene richtet, die im Umfeld der beschäftigen sollen: »Antisemitismus scheint sehr weit Sozialisation und Bildung von Jugendlichen tätig sind, wie weg und wenig bis nichts mit den Alltagserfahrungen beispielsweise Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, der meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu tun zu (Jugend-)Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie haben.«825 So kommt es hier zu einer Externalisierung: Mitarbeitende in außerschulischen Jugend- und Bildungs- Antisemitismus wird nicht als Teil des Eigenen verstanden, projekten. Angesichts der Relevanz, die Antisemitismus in sondern stets als Problem der anderen defniert. der gesamten Gesellschaft hat, soll sich die Antisemitis- musprävention aber auch an jene Berufsgruppen richten, die mit der Erfassung und Verfolgung antisemitischer 11.1.5 Heterogener Lernraum Straftaten befasst sind, wie die Polizei oder Angehrige der Justiz (Richterinnen und Richter, Strafvollzugsbeamte Das Gelingen pädagogischer Interventionen hängt etc). Auch weitere Akteure aus Politik und Verwaltung sind unmittelbar davon ab, ob die Heterogenität der Lern- wichtige Zielgruppen präventiver Angebote. räume und Zielgruppen bei pädagogischen Maßnah- men bercksichtigt wird. In der Regel wird unter einem heterogenen Lernraum ein Kontext verstanden, in dem 11.2.2 Präventionsformen sowohl antisemitische Haltungen als auch anti-antisemi- tische Positionen aufeinandertreffen knnen. Hier ist es Bildung leistet einen wichtigen Beitrag sowohl zur Stär- wichtig, zwischen gefestigten antisemitischen Argumen- kung demokratischer Grundwerte als auch zur Vorbeu- tationen und jener in Form von antisemitischen Frag- gung von Gewalt und Radikalisierung. Aus diesem Grund menten zu unterscheiden und die Jugendlichen nicht in bezieht sich das Präventionsverständnis des UEA v.a. auf »Antisemiten« oder »Nicht-Antisemiten« zu unterteilen. Bildung und Bildungsprozesse. Die Bildungsarbeit gegen Heterogene Lernräume sind zudem durch asymmetrische Antisemitismus fndet in Deutschland bisher berwiegend Machtverhältnisse gekennzeichnet. Jugendliche mit und in Form von Projektarbeit statt. Bundesweit werden jähr- ohne Migrationshintergrund, Menschen mit und ohne lich Hunderte von Projekten und Programmen umgesetzt, die sich als Prävention gegen Antisemitismus defnieren. Je nach Ziel und Format setzen die Projekte auf Sensibi- 823 O-tne aus diversen Fortbildungen, Projekt »Perspektivwechsel Plus« lisierung, Auflärung und Kompetenzerweiterung ihrer (zentrale wohlfahrtsstelle/zwst). Adressatinnen und Adressaten. 824 Messerschmidt, (Un)sagbares. 825 wolfram stender, Konstellationen des antisemitismus, in: Ders./Guido Follert/Mihri Özdogan, Konstellationen des antisemitismus – antisemitismus- 826 Bildungsstätte anne Frank (hrsg.), Fr eine differenzierte wahrnehmung, forschung und sozialpädagogische Praxis, wiesbaden 2010, s. 36. s. 12.

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Der UEA versteht unter Antisemitismusprävention in º keine erkennbaren antisemitischen Einstellungen erster Linie: äußern, aber dennoch antisemitische Denkmuster aufweisen.829 Diese Gruppe wird im TFKS Bericht nicht º Sensibilisierung: genannt, sollte aber bercksichtigt werden (»universelle Auflärung ber gegenwärtige Formen des Antisemitis- Prävention«). mus (→ Defnition) º potenziell gefährdet sind und rechtsextreme, fremden- º Qualifzierung: feindliche oder antisemitische Erscheinungsformen Befähigung zum kompetenten Umgang mit Antisemi- aufweisen (»universelle Prävention«). tismus º besonders gefährdet sind und in Sozialräumen verkeh- º Implementierung: ren, in denen berdurchschnittlich häufg antisemiti- Verankerung präventiver Ansätze in pädagogischen sche bzw. fremdenfeindliche Einstellungen verbreitet Einrichtungen bzw. Regelstrukturen sind (»selektive Prävention«).

Im Bereich der Jugendbildung bezieht sich der Präven- º bereits rechtsextrem orientiert sind und die eigenen tionsauftrag v.a. auf die kritische Refexion antisemiti- Einstellungen verteidigen (»indizierte Prävention«). scher Einstellungen und die Vorbeugung antisemitischer Gewalt. Dabei ergeben sich Schnittstellen zum Kinder- Darber hinaus kann unterschieden werden, ob die und Jugendschutz, zum Beispiel, wenn es sich vorrangig präventiven Maßnahmen auf Veränderungen bei Indivi- um den Schutz der Betroffenen handelt oder auch um duen zielen (»personelle« Verhaltensprävention) oder ob Maßnahmen nach Gewalttaten. sie ber die Veränderung von (sozialen) Strukturen eine Risikoeindämmung beziehungsweise Risikominimierung Im Bereich der Erwachsenenbildung besteht der päd- intendieren (»institutionelle« oder »strukturelle Präven- agogisch-präventive Auftrag v.a. darin, Kenntnisse zu tion«). erweitern, eine Refexion ber Antisemitismus anzuregen und zur Weiterentwicklung wirksamer Handlungsstrate- Die Ergebnisse der TFKS-Evaluation zeigen, dass eine gien gegen Antisemitismus beizutragen. Zentral ist dabei ganzheitliche Prävention besonders erfolgversprechend die Frage, welche Zielgruppen angesprochen werden, mit ist. Diese ist dann gegeben, wenn (1) unterschiedliche welchen Zielstellungen und Erwartungen der Präventi- Präventionsansätze miteinander verbunden werden, wenn onsauftrag verbunden ist und welche anderen angrenzen- (2) neben der präventiven Arbeit mit Kindern und Jugend- den Bereiche eine sinnvolle Erweiterung darstellen. lichen auch Fort-, Weiter- und Ausbildung von pädagogi- schen Fachkräften sowie weiteren (politisch) relevanten Das Präventionsverständnis des UEA knpft an bereits Akteuren (z.B. Polizei, Justiz, Verwaltung) angeboten existierende Präventionsbemhungen an und bezieht werden und wenn (3) der Schutz der Betroffenen gewähr- gleichzeitig neue Ansätze ein. Auf Grundlage der Evalua- leistet ist. In Bezug auf pädagogische Maßnahmen und tionsergebnisse des Programms Toleranz frdern – Kom- erprobte Ansätze bezieht sich der ganzheitliche Anspruch petenz stärken (TFKS),827 das vom Deutschen Jugendinstitut u.a. auf die Methodenvielfalt und Erweiterung der klassi- (DJI) vorgelegt wurde, werden v.a. universelle, selektive schen Durchfhrungsformate.830 und indizierte Präventionsformen unterschieden.828

Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Formen 11.2.3 Intervention der Prävention sind fießend und richten sich in der Regel an Personen/Gruppen (im TFKS Bericht genannt »Akteure In der pädagogischen Praxis mit Jugendlichen sind die und Strukturen«), die entweder: Schnittstellen zwischen Prävention und Intervention fie- ßend, insbesondere im Kontext der Schule und Jugend(So- zial)Arbeit. Die pädagogische Bearbeitung von konkreten Vorfällen bedarf zum Beispiel einer Kombination von Prävention, Beratung, Untersttzung der Betroffenen, 827 Bundesministerium fr Familie, senioren, Frauen und Jugend (BMFsFJ), Elterngesprächen und Polizeivermittlung. Hier sind die abschlussbericht des Bundesprogramms »toleranz frdern – Kompetenz stär- ken«, Berlin 2014. Aneignung spezifscher Kompetenzen, Erschließung 828 ansätze der »selektiven« bzw. »indizierten« Prävention knnen als »ge- zielte« bzw. »spezifsche« Prävention bezeichnet werden. es kann zudem zwi- 829 amadeu antonio stiftung, Kritik oder antisemitismus? eine pädagogische schen Maßnahmen unterschieden werden, die sich als »direkte« Prävention handreichung zum Umgang mit israelbezogenem antisemitismus, Berlin 2014, entweder direkt an die gewnschte zielgruppe richten, oder die schlsselper- s. 53. sonen ansprechen, die als »Mittlerinnen« und »Mittler« mit der zielgruppe in- teragieren (»indirekte« Prävention). ebenda, s. 69. 830 BMFsFJ, abschlussbericht des Bundesprogramms, s. 24.

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interdisziplinärer Bndnisse und Kooperationen (bspw. Dies kann in der Folge mit einer Überinterpretation der mit Opferberatungsstellen) wie auch die Zusammenarbeit Positionen der Jugendlichen einhergehen.831 Fhlen sich zwischen Schule, Jugendhilfe, Polizei und Justiz ein wichti- die Jugendlichen von den Erwachsenen an dieser Stelle zu ger Bestandteil der Präventionsarbeit. Unrecht kritisiert, besteht die Gefahr, dass die ablehnende Haltung gegenber dem Lehrpersonal zu einer Ablehnung der Beschäftigung mit der Geschichte fhrt.

11.3 systematische einordnung Schließlich darf das historische und/oder historisch-poli- von Bildungs- und tische Lernen nicht mit der Bildung gegen Antisemitismus gleichgesetzt werden. Das Wissen ber die Geschichte Präventionsansätzen immunisiert nicht automatisch gegen gegenwärtige Res- sentiments.

11.3.1 Historische Bildung 11.3.2 Politische Bildung Die historische Bildung gehrt seit Jahrzehnten zu den am häufgsten genutzten Ansätzen in der Antisemitismusprä- Neben der historischen ist die politische Bildung ein vention und verfgt ber breitgefächerte Erfahrungen wichtiger Bestandteil von Antisemitismusprävention. Die in diesem Arbeitsbereich. Im schulischen Kontext geht Trennlinien zwischen beiden sind nicht immer klar def- es v.a. um die Traditionslinien des Antisemitismus von niert,832 und es gibt zahlreiche Bildungseinrichtungen, die der christlich geprägten Judenfeindschaft im Mittelalter ihre pädagogische Arbeit als historisch-politische Bildung bis hin zum »Rassenantisemitismus« im Nationalsozia- verstehen. Inhaltlich bezieht sich politische Bildung oft lismus oder aber um die Behandlung des Phänomens im v.a. auf Ausprägungen von Antisemitismus nach 1945. Kontext der jeweiligen Epoche. Dies birgt die Gefahr, ein Außerdem werden, neben der Vermittlung von Wissen Verständnis von Antisemitismus als lediglich historisches ber Antisemitismus, verstärkt Ansätze genutzt, die sich Phänomen zu vermitteln, das fr heutige gesellschaftliche mit den gesellschaftlichen und psychologischen Voraus- Zusammenhänge keine Relevanz mehr hat. setzungen von Vorurteilen auseinandersetzen. Auch der Ansatz der Intervention gegen vorurteilsbasierte Einstel- In Gedenkstätten und außerschulischen Lernorten lungen wird daher der politischen Bildung zugerechnet. zur Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung der Dieser setzt bei der Antisemitismusprävention v.a. an der europäischen Juden wird hingegen verstärkt versucht, Auflärung ber Vorurteile an. Dabei geht es im Wesentli- nicht nur diese Entwicklung nachzuzeichnen, sondern chen um die Entstehung antisemitischer Stereotype, aber v.a. zu verdeutlichen, dass mit Ende des Nationalsozialis- auch um allgemeine Grundsätze der Vorurteilsbildung, die mus nicht auch gleichzeitig antisemitische Einstellungen mit dem Gegenstand des Antisemitismus nicht zwingend verschwanden. Hier besteht weitgehend Einigkeit darber, zusammenhängen. Dabei soll darauf geachtet werden, dass Kenntnisse ber die nationalsozialistische Verfol- dass Vorurteile nicht nur theoretisch bearbeitet werden, gungspolitik unabdingbar fr die Auseinandersetzung sondern auch emotionale, soziale und verhaltensbezogene mit gegenwärtigen Formen des Antisemitismus sind und Aspekte Bercksichtigung fnden. durch die Beschäftigung mit historischen Quellen (Doku- menten, Zeugenaussagen und Biografen) eine Sensibili- Ein weiterer Ansatz aus diesem Bereich ist die Dekon- sierung fr aktuelle Fragestellungen erreicht werden kann. struktion antisemitischer Bilder und Diskursfguren. Sie richten sich zudem nicht nur an Jugendliche, sondern Wichtig ist dabei, dass sowohl eine Auseinandersetzung an die gesamte Gesellschaft als Lern- und Erinnerungs- mit der Entstehungsgeschichte dieser Bilder als auch orte. eine Refexion der eigenen Position und Haltung dazu stattfndet. Angelehnt an die Methoden der Bild- und Gleichzeitig birgt die historische Bildung, die sich streng Medienanalyse entwickelt sich dieser Ansatz zunehmend auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkt, auch Risi- stärker zu einer eigenständigen Methode innerhalb der ken. So haben Lehrkräfte oft den Anspruch, sich von der Antisemitismuspräventionspädagogik. Mit diesem Ansatz Tätergeneration abzugrenzen und eine vom Nationalso- kann die Anpassungsfähigkeit antisemitischer Bilder und zialismus deutlich abweichende ethische Haltung zu ver-

mitteln. Diese moralische Erwartungshaltung kann aufsei- 831 elke Gryglewski, anerkennung und erinnerung. zugänge arabisch-paläs- ten der Lehrkräfte zu einer erhhten Empfndlichkeit fr tinensischer und trkischer Berliner Jugendlicher zum holocaust, Berlin 2013, ablehnendes Verhalten von Schlerinnen und Schlern als s. 101. Reaktion auf die Auseinandersetzung mit Geschichte und 832 vgl. u. a. wolf Kaiser/Kuno rinke, zum verhältnis von historischer und politischer Bildung in Gedenkstätten fr die Opfer des nationalsozialismus, in: Antisemitismus fhren. Der Blick fr Fragen und Bedrf- elke Gryglewski u. a. (hrsg.), Gedenkstättenpädagogik. Kontext, theorie und nisse der Jugendlichen geht hier mglicherweise verloren. Praxis der Bildungsarbeit zu ns-verbrechen, Berlin 2015, s. 147–165.

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Denkfguren verdeutlicht und die Brcke zu aktuellen herausgestellt werden. Auch kann es problematisch sein, Formen des Antisemitismus geschlagen werden. Dazu wenn bei Begegnungsprojekten ausschließlich Antisemi- zählen z.B. die Darstellungen der Legende des Ritual- tismus thematisiert wird, denn auf diese Weise werden mords, die im Mittelalter entstand, vom nationalsozi- jdische und nichtjdische Teilnehmende zwangsläufg alistischen »Strmer« aufgegriffen wurde und auch in auf »Opfer«- und »Täterpositionen« festgelegt.835 Bei aktuellen Karikaturen zum Nahostkonfikt zu fnden ist Begegnungen sollte es um einen gegenseitigen Austausch (→ Medien). Adressatinnen und Adressaten von Bildungs- gehen, aber auch darum, die Beteiligten als Individuen zu veranstaltungen knnen mittels dieses Ansatzes befähigt sehen, die »wie alle anderen Menschen auch Verursacher werden, judenfeindliche Bilder und Diskursfguren als ein von rassistischen Haltungen dann, wenn die Beteiligten kollektives »Erbe« zu erkennen, an dessen Reproduktion sich als Stellvertreterinnen und Stellvertreter, Gedanken, alle (willentlich oder unwillentlich) beteiligt sind. Bildern oder Vorurteilen sein knnen«.836 Begegnungso- rientierte Interventionen erscheinen demnach nur dann sinnvoll, wenn sie eine kritische Auseinandersetzung mit 11.3.3 Begegnungspädagogik Zuschreibungen und Differenz anregen.837

Der begegnungspädagogische Ansatz ist bei vielen Maß- nahmen, die in der Schule, der Jugendbildung oder auch 11.3.4 Anerkennungspädagogik im Sport mit dem Ziel der »Antisemitismusbekämpfung« umgesetzt werden, zentral. Es handelt sich idealtypisch In jngster Zeit haben Erfahrungen aus der Bildungspraxis um pädagogisch angeleitete Interventionen, die durch an Bedeutung gewonnen, die antisemitische Positionen direkte Kommunikation mit Jdinnen und Juden auf insbesondere von Jugendlichen in den Kontext je eigener einen Austausch, den Abbau von Vorurteilen und Berh- Diskriminierung stellen. Getragen von der Leitformel rungsängsten sowie den Aufau von Kontaktfähigkeit »Lernen fr Anerkennung durch Anerkennung« analog ausgerichtet sind. des Konzepts »Lernen fr Demokratie durch Demokra- tie«838 wurde gezeigt, dass sich Adressatinnen und Adressa- Eine häufge Umsetzungsform der Begegnungen sind Zeit- ten offener auf die Inhalte pädagogischer Praxis einlassen zeugengespräche und Treffen mit jdischen Überlebenden und Phänomene der Distanzierung oder Provokation des Holocaust. So berichtet zum Beispiel die jdische wesentlich minimiert werden, wenn ihre Geschichte, Oberschule Berlin, dass sie regelmäßig Anfragen erhält, ob ihre Lebensweltbezge und ihre Erfahrungen anerkannt Begegnungen ihrer Schlerinnen und Schler mit nichtj- und im Lernprozess bercksichtigt werden. Dazu gehrt, dischen Jugendlichen mglich sind. Ebenfalls weitverbrei- »Antisemitismus als biografsche Erfahrung im sozia- tet sind Bildungsreisen nach Israel, in deren Rahmen im len Nahraum« zu betrachten,839 Antisemitismus also im schulischen oder außerschulischen Kontext Begegnungen Zusammenhang von Diskriminierung, Inklusion oder mit israelischen Jugendlichen wie auch Fachkräften statt- Exklusion, auf Basis individueller und sozialer Erfahrun- fnden. In den letzten Jahren hat sich gerade im Kontext gen zu diskutieren. von langfristigen Projekten mit muslimischen Jugendli- chen Begegnungspädagogik in Verbindung mit Studien- Während die Pädagogik der Anerkennung bislang keinen reisen nach Israel als sinnvolle Ergänzung zu historischer strengen Regeln folgt und jede Bildungseinrichtung ihre Bildung und Anerkennungspädagogik erwiesen.833 Auch eigenen Überlegungen umsetzt, folgt der Bildungsansatz an Hochschulen und im Rahmen von Weiterbildungen des Antisemitismus als Erfahrung im sozialen Nahraum fr Erwachsene fnden Studienreisen statt, die sich der einem Konzept der Antidiskriminierungspädagogik Begegnung und dem Fachaustausch zwischen israelischen entlang klarer Vorgaben.840 Das Risiko dieses Ansatzes und deutschen Studierenden stellen. besteht darin, dass die Spezifka des Antisemitismus nicht ausreichend herausgearbeitet werden. Gleichzeitig bietet Bei diesen Ansätzen besteht jedoch die Gefahr, dass ein der Antidiskriminierungsansatz die Chance, Zielgruppen Lernen ber »Andere« angeregt wird und die Fremd- heitserwartungen und gegenseitigen Vorbehalte nicht 835 ebenda. zwingend abgebaut, sondern sogar verfestigt werden knnen.834 Dies gilt v.a. von Kollektiven gegenber- 836 ebenda. treten und gegenseitig die jeweiligen Besonderheiten 837 Barbara schäuble, was haben wir damit zu tun. zum pädagogischen Um- gang mit antisemitismus, in: KIga e.v. (hrsg.), widerspruchstoleranz. ein the- orie-Praxis-handbuch zu antisemitismuskritik und Bildungsarbeit, Berlin 2013. 838 nach John Dewey, Demokratie und erziehung. eine einleitung in die phi- 833 Beispiele hierfr sind studienreisen nach Israel der Gedenk- und Bil- losophische Pädagogik, weinheim 2000 (1930) – u.a. bertragen auf den päda- dungsstätte haus der wannsee-Konferenz in den Jahren 2009 und 2015 sowie gogischen Kontext bei Gryglewski, anerkennung und erinnerung. der Kreuzberger Initiative gegen antisemitismus im Jahr 2010. 839 Monique eckmann, Bildungsstrategien gegen antisemitismen, s. 47. 834 Monique eckmann, Bildungsstrategien gegen antisemitismen, in: ein- sicht, 8 (2012), s. 48. 840 ebenda.

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fr Refexionsprozesse zu erreichen, die sonst der Refe- Verhältnisse gesehen wird und heterogene Lernräume xion von Antisemitimus kritisch gegenberstehen. erschlossen werden.845

11.4.1 Antisemitismuskritische Bildung 11.4 aktuelle Diskurse und neuere ansätze in der Ein relativ neues Feld im Bereich der Antisemitismusprä- vention ist die antisemitismuskritische Bildung. Es auseinandersetzung handelt sich hier um eine interventionsorientierte Form mit antisemitismus der Pädagogik, die sowohl präventiv als auch reaktiv (nach antisemitischen Vorfällen) genutzt wird. Dabei geht es v.a. darum, das Problem nicht, wie mehrheitlich blich, nur Der pädagogische Fachdiskurs zu Antisemitismus entwi- bei den Lernenden zu suchen, sondern auch die Pädago- ckelt sich weiter und legt neue Formen der pädagogischen ginnen und Pädagogen selbst in den Blick zu nehmen.846 Arbeit fest. Dabei werden Ansätze und Konzepte disku- tiert, die dazu fhren, dass Bildungsarbeit gegen Antise- Mit diesem Ansatz sollen Lernräume geschaffen wer- mitismus mittlerweile als eigenständiges pädagogisches den, die eine Refexion ber die eigene Involviertheit in Bildungsfeld betrachtet werden kann. Die Anerkennung diskriminierende Strukturen und Handlungen anregen. 847 dieser Eigenständigkeit ist jedoch in der ffentlichen Damit handelt es sich um eine Pädagogik, die nicht darauf Wahrnehmung und in Fachkreisen bis heute nicht abge- abzielt, einzelne Personen als Antisemiten zu entlarven schlossen und befndet sich im Wandel:841 »Noch immer oder voreilig Verdächtigungen auszusprechen, sondern wird in pädagogischen Diskussionen, Programmen und Antisemitismus mit seinen unterschiedlichen Erschei- Ansätzen im Bereich der Prävention von Vorurteilen und nungsformen und in seiner strukturellen Dimension Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) das zu thematisieren.848 Fr diese Form der Sensibilisierung Thema [Antisemitismus, Anm. d. Verf.] nur selten expli- gegenber antisemitischen Vorurteilen ist eine vertrau- zit erwähnt.«842 Exemplarisch steht hierfr die Frage, ob ensvolle Atmosphäre unerlässlich. es sinnvoll ist, Ansätze aus der anti-rassistischen Bil- dungsarbeit im Feld der anti-Antisemitismuspädagogik Damit hat eine wesentliche Neuerung im Antisemitis- einzufhren und in den Kontext einer weiterreichenden musdiskurs stattgefunden, die an das Grundprinzip der Diversity-, Social Justice- und Menschenrechtspädagogik Rassismuskritik angelehnt ist.849 Antisemitismus wird zu stellen.843 Gefordert wird in diesem Zusammenhang demnach als kollektiver Wissensbestand begriffen, der auf z.B. eine zweigleisige Vorgehensweise, die auf der einen alle Beteiligten einwirkt und sich in Sprache, Gedanken Seite eine eingehendere Auseinandersetzung mit den und Strukturen festsetzt: »Um eine antisemitismuskri- Wechselwirkungen zwischen Antisemitismus, Rassismus tische Perspektive herauszubilden, ist zunächst anzuer- und der Zugehrigkeit zu einer sozialen Schicht, zugleich kennen, dass antisemitische Positionen vielfältig einge- aber auch die Weiterentwicklung von Ansätzen der antise- nommen werden und sich nicht an Herkunftskontexten mitismuskritischen Bildungsarbeit auch ohne eine solche festmachen lassen. Im Gegenteil zeichnet er sich dadurch explizite Kontextualisierung nutzt.844 Diese und ähnliche aus, dass er verschiedenste politische Lager, kulturelle und Fragen werden derzeit kontrovers diskutiert. Ziel ist, die vorliegenden Konzepte dahingehend zu erweitern, dass Antisemitismus im Kontext aktueller gesellschaftlicher

845 niehoff, antisemitismus im globalen Klassenzimmer; albert scherr/Bar- bara schäuble, »Ich habe nichts gegen Juden, aber …«. ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen antisemitis- mus, Berlin 2007. 841 stender, Konstellationen des antisemitismus, s. 38. 846 astrid Messerschmidt, Bildungsarbeit in der auseinandersetzung mit ge- 842 Mirko niehoff, handlungsbedingungen einer Pädagogik gegen antisemi- genwärtigem antisemitismus, in: aus Politik und zeitgeschichte, 28-30 (2014). tismus im globalen Klassenzimmer, in: stender/Follert/Özdogan (hrsg.), Kons- verwendung fnden hierbei Überlegungen aus der kritischen und postkolo- tellationen des antisemitismus, s. 246. wobei es hier auch ausnahmen gibt, wie nialen theorie und damit eine Perspektive, die das augenmerk auf die Fort- etwa das Projekt Ju:an der amadeu antonio stiftung. hier werden Bildung und dauer, Folgen und wirkmächtigkeit von post-kolonialen Diskursen, Praktiken weiterbildung fr Multiplikatoren mit dem gemeinsamen Fokus auf antisemi- und Denkweisen auf die gegenwärtigen politischen sowie wissenschaftlichen tismus und anti-muslimischen rassismus angeboten. strukturen legt. 843 Barbara schäuble z.B. plädierte 2012 fr eine Integration der pädagogi- 847 Ilka Quindeau, Das Unbehagen an der Geschichte, in: Marina chernivsky schen Bearbeitung des antisemitismus »in den Kontext einer breiter gefassten (hrsg.), Die abwertung der anderen, 2. aufage, Berlin 2014, s. 20–25, hier s. 24. Diversity- und social Justice-education«, Barbara schäuble: »anders als wir«. Differenzkonstruktionen und alltagsantisemitismus unter Jugendlichen, Berlin 848 Bildungsstätte anne Frank (hrsg.), Fr eine differenzierte wahrnehmung; 2012, s. 440. schäuble, was haben wir damit zu tun, in: KIga e.v. (hrsg.), widerspruchstole- ranz. 844 Messerschmidt in ihrem Kommentar der tagung Blickwinkel. antisemi- tismuskritisches Forum fr Bildung und wissenschaft. 7. tagung: Kommunika- 849 Paul Mecheril, einfhrung in die Migrationspädagogik, weinheim 2004, tion: latenzen – Projektionen – handlungsfelder, Kassel, 9./10.6.2016. s. 205.

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nationale Zuordnungen verbindet und soziale Spaltungen vereinnahmt zu werden.«855 Das betrifft selbstverständlich berbrckt.«850 nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugend- liche. Der Ansatz der antisemitismuskritischen Bildung gilt heute als bergeordnete Bezeichnung fr viele pädago- gische Konzepte im Feld der Antisemitismusprävention. 11.4.3 Lebensweltlicher Ansatz Dabei geht es nicht um didaktische Handlungsanwei- sungen, sondern um neue Denkrichtungen und Heran- In den Ansätzen der Jugendhilfe, Sozialarbeit und vielfach gehensweisen. Diese sttzen sich auf eine Vielfalt von auch in der historisch-politischen Bildung ist die Lebens- Ansätzen aus der historischen und/oder der politischen weltorientierung ein Grundsatz der pädagogischen Arbeit Bildung, der Antidiskriminierungspädagogik und der ras- mit Jugendlichen und Erwachsenen. Dabei wird davon sismuskritischen Bildungsarbeit. Der Erfolg der antisemi- ausgegangen, dass jede Wahrnehmung und jeder Lernpro- tismuskritischen Bildung ist von einer kontinuierlichen, zess vor dem Hintergrund der persnlichen Erfahrungen qualifzierten und strukturell verankerten Bildungsarbeit gemacht werden. Dabei wird u.a. folgenden Dimensionen abhängig.851 eine besondere Bedeutung beigemessen:

1) Zeit: biografsche Erfahrungen/Wahrnehmung 11.4.2 Subjektorientierung von Veränderungen, Gegenwartsbezge

Die Bildungsarbeit gegen Antisemitismus wendet sich 2) Raum: Bezugsgruppen, Orte in der Regel an nichtjdische Teilnehmende.852 Jdinnen und Juden werden zwar thematisiert, ihre Erfahrungen 3) Ressourcen: Beziehungen, Identitäten und Perspektiven bleiben jedoch häufg marginalisiert (→ Jdische Perspektive). Es wird ber Juden und nicht mit Im Evaluationsbericht des Bundesprogramms Toleranz Juden gesprochen. Um dies zu vermeiden, wird stattdessen frdern – Kompetenz stärken856 wird der lebensweltliche eine »subjektorientierte Perspektive«853 vorgeschlagen, Ansatz besonders hervorgehoben und in seiner päda- die sich nicht darauf beschränkt, nur ber Antisemitis- gogischen Bedeutung unterstrichen. Da die Entstehung mus und Jdinnen und Juden zu informieren, sondern von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremden- sie als Subjekte in die Bildungsarbeit einzubeziehen. Die feindlichkeit in der biografschen Entwicklung angelegt Subjektorientierung als Bildungsprinzip stßt jedoch an ist und vom Einfuss der unterschiedlichen Sozialisati- ihre Grenzen, wenn keine aktive Auseinandersetzung onsinstanzen im Umfeld der Kinder und Jugendlichen mit (fremdmachenden) Perspektiven der nichtjdischen abhängt (Familie, Kindergarten, Schulen, Peer Groups, Mehrheitsgesellschaft erfolgt. Antisemitismuskritische Partnerschaften, Medien, außerschulische Jugendarbeit), Bildungsarbeit regt dazu an, das Fremdmachen bzw. sind lebensweltliche Bezge in der Bildung besonders zu »Othering« zu problematisieren. Dem Schutz der Betrof- bercksichtigen.857 fenen ist dabei Priorität einzuräumen.854 Ebenso ist darauf zu achten, Jdinnen und Juden nicht ausschließlich zu Opfern zu stilisieren. Schließlich sollte dieser multipers- 11.4.4 Konfiktpädagogik und pektivische Zugang davon getragen sein, eine Vielfalt von (kollegiale) Fallberatung Zugängen zum Thema zu ermglichen: »Multiplikatorin- nen und Multiplikatoren mit eigenen Antisemitismuse- Der Ansatz der Konfiktpädagogik ist eine sinnvolle rfahrungen mssen ihre Perspektiven oftmals explizit Ergänzung des antisemitismuskritischen Bildungsfelds. machen, um sprechen zu knnen und gehrt, aber nicht Diese pädagogische Herangehensweise spricht bestehende Konfikte an, ohne dabei persnlich oder bloßstellend vorzugehen. Schuldzuschreibungen und Moralisierun- gen werden vermieden, niemand wird angeklagt oder

850 Messerschmidt, Bildungsarbeit in der auseinandersetzung mit antisemi- angegriffen. Es geht immer um konstruktive Kritik, bei tismus, s. 43. der getrennt wird zwischen Person und Situation, um eine 851 Bildungsstätte anne Frank (hrsg.), Fr eine differenzierte wahrnehmung, s. 7. 852 ebenda, s. 12. 853 anne Klein, »Jude sein ist keine einfache sache«. Identität, sozialität und ethik in der Migrationsgesellschaft, in: richard Gebhardt/anne Klein/Marcus 855 astrid Messerschmidt, Bildungsarbeit in der auseinandersetzung mit an- Meier (hrsg.), antisemitismus in der einwanderungsgesellschaft. Beiträge zur tisemitismus, s. 44. kritischen Bildungsarbeit, weinheim 2012, s. 209–229, hier s. 213. 856 BMFsFJ, abschlussbericht, s. 21. 854 Bildungsstätte anne Frank (hrsg.), Fr eine differenzierte wahrnehmung, s. 12. 857 ebenda, s. 23.

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Personalisierung zu vermeiden und sich einem Problem Die Refexion pädagogischer Praxis ist dabei von beson- aus verschiedenen Blickwinkeln anzunähern.858 derer Bedeutung. Das Durchfhrungsformat reicht von Fortbildungen bis hin zu themenbezogener Supervision. Bei antisemitischen Konfikten/Vorfällen ist die Nutzung des konfiktpädagogischen Ansatzes ein Beispiel fr eine Das Anliegen, Fachkräfte zu ermutigen, ihre eigene Invol- Schnittstelle zwischen Intervention und Prävention. Das viertheit in Antisemitismus zu thematisieren, bisherige Ziel der Konfiktberatung bezieht sich dann auf die Steige- pädagogische Haltungen zu hinterfragen und neue For- rung der Konfiktfähigkeit und Kompetenz der Fachkräfte, men der pädagogischen Herangehensweise einzuben, ist Vorfälle bewusst wahrzunehmen, nicht zu verschweigen ein ambitioniertes Vorgehen und bedarf einer durchdach- oder herunterzuspielen, sondern offen und direkt zu ten methodisch-didaktischen Strategie. Die besondere problematisieren (→ Straftaten). Wiederkehrende Vorfälle Schwierigkeit bei der Thematisierung der eigenen Soziali- sollten nicht als Einzelfälle betrachtet werden, sondern sation zeigt sich in der Ambivalenz und Befangenheit der als sich wiederholende Verhaltensmuster, die nur durch Beteiligten, sich solchen Fragen zu stellen oder sich an den direkte Thematisierung und lsungsorientiertes Han- entsprechenden Veranstaltungen zu beteiligen.860 deln bearbeitbar werden. Durch die Thematisierung der Vorfälle fndet auch ein Schutz der Betroffenen statt: Die Anerkennung ihrer Perspektiven und Solidarität mit ihren Erfahrungen sind stärkende Handlungen und gleichzeitig 11.5 ausgewählte handlungsfelder ein Signal dafr, dass Vorurteile und Diskriminierung nicht unwidersprochen bleiben (→ Jdische Perspektiven). Da der erste Bericht Umfragen zur Antisemitismuspräven- tion in einem breiten Kreis unterschiedlicher gesellschaft- 11.4.5 Dialogischer Refexionsansatz licher Sozialisationsinstanzen durchgefhrt hat und die Erfahrungen aus den Bildungskontexten der Mitglieder Die Einbung der Refexionsfähigkeit sollte fes- des Expertenkreises darauf hindeuteten, dass es im neuen ter Bestandteil pädagogischer Professionalität sein. Berichtszeitraum keine wesentlichen Veränderungen im Selbstrefexion setzt dabei einen Rahmen voraus, der Befund gibt, werden hier nur ausgewählte Handlungs- eine achtsame Selbstbefragung ermglicht. Dieser kann felder, wie Schule, Hochschule, Aus-, Fort- und Weiter- zum Beispiel mit dem dialogischen Refexionsansatz bildung sowie die offene Jugend- und Sozialarbeit in den ermglicht werden, der in Fort- und Weiterbildungen Blick genommen. von Fachkräften seit einigen Jahren eingesetzt wird. Der Ansatz ist systemisch und zeichnet sich durch eine hohe Prozessorientierung aus. Angelehnt an den diskriminie- 11.5.1 Schule rungskritischen Anti-Bias-Ansatz setzt man sich mit den Ursprngen, Motiven und Bedingungen von Ressenti- Im Hinblick auf die Bearbeitung von Antisemitismus und ments, Dominanzkulturen und Ideologien auseinander Vermittlung von Wissen im schulischen Kontext hat es und analysiert, welchen Einfuss ihre Tradierung auf das seit dem Bericht des ersten UEA keine wesentliche Ent- eigene Denken und Verhalten hat.859 Die dialogische Refe- wicklung gegeben. Nachdem dieser Bericht v.a. Aktivitäten xion fokussiert nicht den persnlichen Werdegang der im Bereich der außerschulischen Antisemitismuspräven- Beteiligten, sondern macht sie auf den Zusammenhang tion betrachtet hatte,861 wurde fr den jetzigen Berichts- von Individuum und Gesellschaft aufmerksam. So knnen zeitraum der Fokus auf die Regelstrukturen und damit individuelle Biografen zu historischen und gegenwärtigen auf die pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus in den Gesellschaftskonstellationen in Beziehung gesetzt und vor Schulen selbst gelegt. Dabei steht die Frage im Zentrum, dem Hintergrund der persnlichen Erfahrungen refek- in welchen Unterrichtsfächern und welchen inhaltlichen tiert werden. Das pädagogische Vorgehen zielt dabei nicht Konstellationen eine Beschäftigung mit Antisemitismus auf das Bloßstellen »falschen« Denkens ab, sondern auf die Betrachtung von Motiven und Bedingungen, die Anti- semitismus immer noch erzeugen und aufrechterhalten.

858 Monique eckmann/Maryam eser Davolio, rassismus angehen statt ber- 860 vgl. Programmevaluation »Demokratie leben!« wissenschaftliche Beglei- gehen. theorie und Praxisanleitung fr schule, Jugendarbeit und erwachsenen- tung der Modellprojekte zu GMF, Demokratiestärkung und radikalisierungs- bildung, luzern 2003. prävention. zwischenbericht fr den zeitraum 1.1.2015 bis 31.12.2015. 859 Projekteigener ansatz, entwickelt und erprobt im rahmen des Modell- 861 Insbesondere wurden die Forschungsergebnisse eines vom Fritz-Bau- projekts »Perspektivwechsel Plus« (in der trägerschaft der zwst), v.a. in der er-Institut in Kooperation mit dem Jdischen Museum Frankfurt durch- Fort- und weiterbildung von Fachkräften aus der schule, dem Bereich der so- gefhrten Projekts zu narrativen strukturen jdischer Geschichte und zialen arbeit und der verwaltung. Gefrdert durch die Bundesprogramme im schulgeschichtsbchern sowie die ergebnisse der deutsch-israelischen schul- zeitraum von 2007–2014. buchkommission in den Bericht einbezogen.

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stattfndet bzw. stattfnden kann.862 Nach wie vor stehen Wiedervereinigung erschienen sind, Antisemitismus hier v.a. sozial- und geisteswissenschaftliche Fächer, wie »explizit und systematisch in den grßeren Zusammen- Geschichte, Politik, Gesellschaftswissenschaften, Ethik- hang von Vorurteilsbildung (ge)stellt«867 wird. Dieser und Religionsunterrich,t im Vordergrund. Antisemitismus Befund deckt sich mit den Lehrplänen fast aller Bundes- wird dabei mehrheitlich als Darstellung von Haltungen länder. Auch hier wird Antisemitismus lediglich deskriptiv und Handlungen in den Blick genommen, während in den Kontext der historischen Ereignisse gestellt und beispielsweise sozialpsychologische Erklärungsversuche, behandelt. Eine Ausnahme bildet das Bundesland Ham- wenn berhaupt, kurz und eher schlagwortartig vorkom- burg. Im Bildungsplan fr die Stadtteilschulen (Politik/ men.863 Die historischen Kontexte, in denen Antisemitis- Gesellschaft/Wirtschaft) fr die Klassen 7–11 wird in den mus zum Thema wird, sind weiterhin das Mittelalter, die Richtlinien fr den Kompetenzbereich »Konfiktfähigkeit« Auflärung und berwiegend die nationalsozialistische formuliert, dass sich die Schlerinnen und Schler zum Verfolgungspolitik, und in wenigen Fällen auch der Nah- Übergang in Klasse 11 u.a. »mit Demokratie ablehnenden ostkonfikt. Orientierungen und Handlungsmustern (z.B. Antise- mitismus) auseinander [setzen] und [sie] argumentativ Obwohl die deutsch-israelische Schulbuchkommission [widerlegen]«868 knnen sollen. Da dieser Lehrplan fr bereits seit 1985 fordert, dass jdische Geschichte – und einen Schultypus tendenziell nicht bildungsprivilegierter damit auch die Geschichte des Antisemitismus – nicht Jugendlicher formuliert ist, stellt sich die Frage, ob hier allein auf die Darstellung von Konfikten und den implizit die Annahme und Zuschreibung reproduziert Holocaust reduziert werden soll,864 und die Leo-Baeck-Ge- wird, Antisemitismus sei lediglich ein Problem sogenann- sellschaft seit 2003 fundierte Empfehlungen fr den ter bildungsbenachteiligter Schlerinnen und Schler. Unterricht und die Lehrerbildung verffentlicht, wird In den untersuchten Lehrplänen fr Gymnasien wurden Antisemitismus nach wie vor vielfach ausschließlich im vergleichbare Aussagen mehrheitlich nicht gefunden. Hier Kontext des Nationalsozialismus thematisiert. So erscheint stellt Berlin eine Ausnahme dar, da im Rahmenlehrplan Antisemitismus als ein ausschließlich den Nationalso- fr Politikwissenschaft der gymnasialen Oberstufe im zialisten zuzuordnendes Phänomen, das 1933 quasi aus Kontext der Auseinandersetzung mit Extremismus explizit dem Nichts erschien und 1945 wieder verschwand. Juden auch auf Antisemitismus eingegangen wird. werden in dieser verkrzten – und historisch verfälschen- den – Darstellung ausschließlich als Opfer oder Verfolgte Nimmt man diesen Befund zur Kenntnis, berrascht es dargestellt. 865 nicht, dass Jugendliche – und die in den letzten Jahr- zehnten in diesem Schulsystem sozialisierten Generati- Die Form der Darstellung von Antisemitismus in den onen – Antisemitismus als ein Phänomen wahrnehmen, genannten Kontexten reicht von dem Versuch einer dif- das seit 1945 keine Rolle mehr spielt. Vielfach kann selbst ferenzierten Behandlung im Sinne einer Durchbrechung bei engagierten Schlerinnen und Schlern oder Lehr- antisemitischer Bilder und dem Versuch multikausaler kräften beobachtet werden, dass sie Aussagen, die dem Erklärungsansätze bis hin zur Tradierung antijdischer sekundären oder dem israelbezogenen Antisemitismus und antisemitischer Bilder.866 Judentum nach 1945 zuzuordnen sind, zwar als in hohem Maße problema- wird – wenn berhaupt – mehrheitlich im Kontext des tisch einstufen, mit den genannten Kategorien jedoch Nahostkonfikts dargestellt. Bemerkenswert ist, dass nichts anfangen knnen. Dazu kommt das Problem einer in keinem der untersuchten Schulbcher, die nach der potenziellen Verstärkung antisemitischer Stereotype ber Rahmenlehrpläne und Schulbcher. Antisemitische Einstellungen knnen durch die unzulängliche und unan- 862 Die ergebnisse basieren auf einer kleinen exemplarischen studie durch Falk Pingel, ehem. Mitarbeiter des Georg-eckert-Instituts fr internationale gemessene Beschäftigung mit jdischer Geschichte, dem schulbuchforschung, die vom Uea in auftrag gegeben wurde, sowie einer weit- Judentum oder Israel entstehen oder verstärkt werden. gehend systematischen Untersuchung der lehrpläne fr die Fächer Geschichte, Seit Jahrzehnten weisen Wissenschaftler auf die Tradie- Gesellschaftswissenschaften, Politikwissenschaft etc. ab Klasse 6 aller Bundes- länder. als schwierigkeit der Untersuchung der rahmenlehrpläne/lehrpläne rung antisemitischer Stereotype in Schulbchern hin.869 stellte sich die Unbersichtlichkeit der Internetauftritte mancher schul- bzw. Kultusverwaltungen heraus, die die Feststellung der aktualität von lehrplänen erschwerte. 867 ebenda. 863 Falk Pingel, zur Darstellung des antisemitismus in deutschen schulb- chern, unverffentlichte Untersuchung im auftrag des zweiten Uea, 2016. 868 Freie und hansestadt hamburg – Behrde fr schule und Berufsbildung (hrsg.), Bildungsplan stadtteilschulen. Jahrgangsstufen 7–11. Politik/Gesell- 864 Deutsch-israelische schulbuchempfehlungen. zur Darstellung der deut- schaft/wirtschaft, hamburg 2014, s. 29, http://www.hamburg.de/contentblob/ schen Geschichte und der Geographie der Bundesrepublik Deutschland in israe- 4327788/0679d3a1ca0bc83f0f85512500266c68/data/pgw-sts-2014-06-04- lischen schulbchern, Frankfurt a.M.1992 sowie http://www.lehrerfortbildung- web.pdf (eingesehen 16. 11. 2016). leo-baeck.de/seite_05.html (eingesehen 5.5.2011). vgl. hierzu Bundesministe- rium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland. erscheinungsformen, 869 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus, s. 85 f. Beson- Bedingungen, Praventionsansatze, Berlin 2011. ders ist hierzu chaim schatzker zu nennen, historiker, ab 1981 Mitglied der deutsch-israelischen schulbuchkommission. Publikationen u. a.: Die Juden in 865 ebenda, s. 86. den deutschen Geschichtsbchern. schulbuchanalyse zur Darstellung der Ju- 866 ebenda. den, des Judentums und des staates Israel, Bonn 1981.

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Seit 2015 arbeiten der Zentralrat der Juden in Deutschland das Thema Holocaust bzw. holocaustbezogene Inhalte und die Kultusministerkonferenz an einer gemeinsamen gelehrt wurden.872 Empfehlung zur Verbesserung der Vermittlung jdischer Geschichte, Kultur und Religion im Schulunterricht. In Bezug auf aktuellen Antisemitismus stellt sich die Lage »Jdisches Leben gibt es seit vielen Jahrhunderten in allerdings sehr viel schlechter dar. Hier steht eine ent- Deutschland. Das Judentum ist jedoch mehr als eine sprechende empirische Untersuchung noch aus. Neben Verfolgungs- und Opfergeschichte. Leider wird es in dem Zentrum fr Antisemitismusforschung der Technischen deutschen Geschichtsbchern häufg auf diese Aspekte Universität Berlin, dem einzigen Institut deutschlandweit, reduziert und klischeehaft dargestellt. Informations- das sich dem Phänomen in seinen verschiedenen histo- materialien, die ein authentisches Bild des Judentums rischen Dimensionen explizit widmet, wird das Thema vermitteln knnten, sind kaum erhältlich. Darber hinaus an einigen wenigen Instituten u.a. der Geschichte und muss die Shoa als präzedenzloses Ereignis vermittelt und Soziologie oder Politikwissenschaft gelehrt, ist aber stark didaktisch so aufereitet werden, dass Lehrer mit dem abhängig von einzelnen Professorinnen und Professoren, Thema die junge Generation, auch mit Blick auf unsere die ein besonderes Interesse an der Thematik haben. Wis- Einwanderungsgesellschaft, erreichen knnen. Nicht nur sensvermittlung ber aktuelle Formen des Antisemitis- die Besuche in KZ-Gedenkstätten, auch deren adäquate mus beschränkt sich also im Allgemeinen auf Einzelfälle. Vor- und Nachbereitung mssen einen hohen Stellenwert Dieser Zustand kann Auswirkungen auf Debatten in Stu- haben. Uns ist wichtig, dass das Judentum im Schulunter- dentenkreisen und auf dem Campus haben, insbesondere richt in seiner Gesamtheit dargestellt wird.«870 dann, wenn es um den Nahostkonfikt oder Boykottauf- rufe gegen israelische Waren und Wissenschaftler geht.

11.5.2 Hochschule Das Thema Nahostkonfikt und die Schiefage, die durch Debatten, aber auch durch Studienangebote hervorge- Am 28. Juni 2016 präsentierten Lucia Verena Nägel und rufen werden knnen, hat jngst das Beispiel der Hoch- Lena Kahle vom Center fr Digitale Systeme der Freien schule fr angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) Universität Berlin erste Ergebnisse ihrer Studie »Die Lehre in Hildesheim gezeigt. Nachdem ein Seminar an der ber den Holocaust an deutschen Hochschulen«. Das Hochschule Hildesheim fr einen Skandal gesorgt hatte, Projektteam hat zwei Jahre lang die online verfgbaren wurde die Leiterin des Zentrums fr Antisemitismusfor- Vorlesungsverzeichnisse von 78 Hochschulen danach schung, Prof. Stefanie Schler-Springorum, beauftragt, ein untersucht, ob und wie das Thema Holocaust angebo- Gutachten ber das Seminar und mgliche antisemitische ten wird. Die Ergebnisse waren ernchternd. Selbst ein Implikationen zu erstellen: In der Kurzfassung ihres Gut- Grundwissen ber den Mord an den europäischen Juden achtens konstatierte sie auf einer Pressekonferenz Mitte wird nur an wenigen Hochschulen vermittelt. Mehr als die November 2016: »Besonders problematisch erscheint Hälfte (44) der untersuchten Hochschulen boten inner- in diesem Zusammenhang die bis zum Wintersemester halb von vier Semestern keine Lehrveranstaltung ber die 2015/16 fast durchgehend benutzte Zusammenstellung historischen Ereignisse, die zum Holocaust fhrten, an. ›Berhmte jdische Persnlichkeiten haben gesagt…‹, Vor dem Hintergrund, dass fr die Auseinandersetzung die in der Tradition antisemitischer Propaganda seit dem mit Antisemitismus heute, insbesondere mit Fragen der 19. Jahrhundert steht. ›Die Juden‹ werden dabei als inter- sekundären Formen, zumindest ein Basiswissen ber den nationale und berzeitlich homogene Gruppe imaginiert: Holocaust vorhanden sein muss, zeigen die Ergebnisse Während man frher die Hinterlist der jdischen Reli- der Studie der Freien Universität eine negative Entwick- gion oder jdischer Weltverschwrungspläne auf diese lung. Dies hat Auswirkungen auf die Wissensvermitt- Weise ›belegte‹, bezeugt man damit heute die angebliche lung an Schulen. Lehramtsstudenten mssen demnach Illegitimität des Zionismus bzw. des Staates Israel.« Die zwangsläufg mit einem mangelnden Kenntnisstand die Gutachterin bemängelte auch den »missionarischen Universitäten verlassen, da sie – aufgrund des mangeln- Charakter« der »Lehrveranstaltung, die weder auf plurale den Angebots – keine entsprechenden Seminare belegen knnen.871 Betrachtet man die Ergebnisse positiv, so ist festzuhalten, dass an 34 bundesdeutschen Universitäten 872 Prof. andreas wirsching, Direktor des Instituts fr zeitgeschichte in Mnchen, hatte bereits frher eine quantitative studie durchgefhrt, in der un- tersucht wurde, wie viele Kurse an Universitäten in sddeutschland in den Jah- ren 1997 bis zum sommersemester 2011 zum thema holocaust und national- 870 Josef schuster, in: Pressemitteilung der KultusministerKonferenz, zen- sozialismus angeboten wurden. er stellte einen anstieg der Beschäftigung mit tralrat der Juden und KMK erarbeiten gemeinsame Unterrichts-empfehlung, dem nationalsozialismus fest, allerdings blieb der holocaust als solcher nicht https://www.kmk.org/presse/pressearchiv/mitteilung/zentralrat-der-juden- selten ein ranständiges thema. akademiker, die sich zum thema holocaust und-kmk-erarbeiten-gemeinsame-unterrichts-empfehlung-1.html (eingese- spezialisierten, so wirsching, gebe es nur ganz vereinzelt (andreas wirsching, hen 23. 11. 2016). Geschichte des nationalsozialismus oder des holocaust? schwerpunktsetzun- 871 erste ergebnisse der studie »Die lehre ber den holocaust an deutschen gen in der akademischen lehre, in: Michael Brenner/Maximilian strnad (hrsg.), hochschulen«, 29. 6. 2016, http://www.vha.fu-berlin.de/news/news103.html Der holocaust in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Bilanz und (eingesehen 28. 11. 2016). Perspektiven, Gttingen 2012, s. 71–82.

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Meinungsbildung oder (selbst-)kritische Refexion abzielte 11.5.3 Fort- und Weiterbildung fr noch in Textauswahl und -präsentation den Mindeststan- Lehr- und Fachkräfte dards an Wissenschaftlichkeit gengte«.873 Das Semi- narmaterial der Lehrveranstaltung, die bereits seit zehn Nachdem viele Jahre mehrheitlich Jugendliche im Jahren angeboten wird, hatte zuvor der wissenschaftliche Zentrum historisch-politischer Interventionen standen, Mitarbeiter Jan Riebe von der Amadeu Antonio Stiftung wenden sich zahlreiche Fort- und Weiterbildungsan- untersucht und analysiert. Seine Bewertung fel ebenso gebote inzwischen auch an pädagogische Fachkräfte. negativ aus: »Ein in dieser Art aufgebautes Seminar ist Viele der aktuellen Angebote legen den Schwerpunkt auf unvereinbar mit den demokratischen Grundsätzen einer Selbstrefexion, inhaltliche Qualifkation und die Nutzung Hochschule. Es wird den Studierenden ein zutiefst antiis- multiperspektivischer sowie antisemitismuskritischer raelisches, in Teilen sogar antisemitisches Weltbild vermit- Arbeitsmaterialien.877 telt […]. Die Situation in Israel/Palästina soll nicht kritisch diskutiert, sondern den Studierenden ein vorgefasstes Bild Dem Entwurf des Evaluationsberichts Toleranz frdern – oktroyiert werden.«874 Das Beispiel Hildesheim zeigt, dass Kompetenz stärken des Deutschen Jugendinstituts (DJI)878 ist erst eine kritische Presseberichterstattung zu Reaktionen jedoch zu entnehmen, dass in der aktuellen Frderperiode bei den Verantwortlichen der Universität und der Landes- des Bundesprogramms »Demokratie leben!« (Frderzeit- regierung gefhrt hat. Studenten, die seit Jahren Kritik an raum 2015–2019) eher ein kleiner Teil der Modellprojekte der Lehrveranstaltung gebt hatten, wurden nicht gehrt. der Qualifzierung der Fachkräfte sowie der Entwicklung von fachlichen Standards gewidmet ist. Von besonderer Andererseits knnen Studentenausschsse auch die Bedeutung ist dabei, dass diese Projekte sich mit ihren Plattform fr Boycot, Divestment, Sanctions (BDS)-Kam- Angeboten v.a. an pädagogische Fachkräfte richten, die pagnen und Israel-Boykottaufrufe sein. Abraham de Wolf entweder im Umgang mit antisemitischen Äußerungen vom Arbeitskreis jdischer Sozialdemokraten weist auf die verunsichert sind oder befrchten, ihre bisherigen Ansätze Problematik hin und stellt fest, dass deutsche Universi- der Auseinandersetzung mit Antisemitismus seien unzu- täten inoffziell Israel boykottieren. Sie wrden einfach reichend. Neben inhaltlichen Fortbildungsangeboten zur nicht an dortigen Konferenzen teilnehmen: »Das kann Erweiterung des Sachwissens werden die eigenen Ver- man aber nicht mit einem Gesetz bekämpfen, sondern strickungen der Fachkräfte in Vorurteile und Ideologien nur durch eine offene Debatte.« Ein Mittel sei, so de Wolf, von Ungleichwertigkeit problematisiert und selbstrefexiv Partnerschaften zwischen deutschen und israelischen bearbeitet. Universitäten aufzubauen.875 Die Technische Universität Berlin veranstaltete im Februar 2014 einen Israeltag, der Ein Modellprojekt umfasst beispielsweise die »Entwick- von israelischer Seite von der Partneruniversität Technion lung und Implementierung fachlicher Standards« fr eine Israel – Institute of Technology in Haifa untersttzt wurde. gezielte pädagogische Auseinandersetzung mit (aktuellem) Anhänger der BDS-Kampagne demonstrierten gegen die Antisemitismus und trägt so zu einer fachlich-metho- Veranstaltung unter dem Motto »Technion am Isra- dischen Strukturentwicklung der offenen Kinder- und el-Tag der TU am 6. Februar 2014 boykottieren und der Jugendarbeit bei. Ein anderes Projekt entwickelt ein TU-Technion Kooperation eine Absage erteilen!« Die Refexions-, Fortbildungs- und Beratungsangebot fr Mul- Demonstranten unterstellten dem Technion, eine Waffen- tiplikatoren aus den Bereichen Schule, Jugendsozialarbeit, schmiede zu sein bzw. Bulldozer entwickelt zu haben, die Verwaltung, Polizei und Justiz. Ihre Problembeschreibung palästinensische Häuser einreißen.876 fußt auf der Annahme einer weitgehenden Normalisie- rung und De-Thematisierung von Antisemitismus und Rassismus sowie der bisher eher oberfächlichen Antise- mitismusprävention, die viel zu stark auf der kognitiven Ebene verbleibt und ausschließlich individuelle Vorurteile 873 Gutachterliche stellungnahme zur Frage des vorwurfs des antisemitis- fokussiert (im Gegensatz zu gesellschaftlichen Strukturen). mus in Bezug auf Konzeption einschließlich curricularem Kontext und Durch- fhrung des seminars »soziale lage der Jugendlichen in Palästina« der Fakultät Hierfr entwickelt das Projekt Instrumente und Formate, »soziale arbeit und Gesundheit« der hochschule fr angewandte wissenschaft die Selbstrefexion trainieren, Sachwissen frdern und und Kunst in hildesheim/holzminden/Gttingen sowie daraus abgeleitet emp- Strategien bieten, Antisemitismus durch Qualifzierung fehlungen fr eine wissenschaftsadäquate neukonzeption des lehrangebots Gutachten Kurzfassung, s. 2, http://www.mwk.niedersachsen.de/aktuelles/ und Supervision auch strukturell reduzieren zu knnen. presseinformationen/gutachten-bescheinigt-seminar-gravierende-maengel- Ein weiteres Modellvorhaben – ein Wissenschafts-Praxis- 148567.html (eingesehen 25. 11. 2016). projekt – zielt darauf ab, pädagogische Konzepte, Ange- 874 Jdische allgemeine, 21. 7. 2016, http://www.juedische-allgemeine.de/ bote sowie Materialien zu erarbeiten, die subjektorientiert, article/view/id/26107 (eingesehen 28. 11. 2016). 875 Jdische allgemeine, 7. 4. 2016, http://www.juedische-allgemeine.de/ article/print/id/25130 (eingesehen 28. 11. 2016). 877 schäuble, was haben wir damit zu tun. 876 http://bds-kampagne.de/2014/02/05/denkschule-oder-waffenschmiede/ (eingesehen 28. 11. 2016). 878 zwischenevaluation Modellprojekte, Deutsches Jugendinstitut.

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»multiperspektivisch«, partizipativ und diversity-orien- verbandsorientierten Jugendarbeit auch mit wechselnden tiert angelegt sind.879 Adressatinnen und Adressaten zu tun hat. Die Untersu- chung von Heike Radvan »Pädagogisches Handeln und Jenseits dieser Projekte880 scheint die Beschäftigung mit Antisemitismus. Eine empirische Studie zu Beobachtungs- aktuellem Antisemitismus fr viele der pädagogisch Enga- und Interventionsformen in der offenen Jugendarbeit« gierten immer noch ein Novum zu sein. Fortbildungen zu zeigt, dass Fachkräfte in der offenen Jugendarbeit bei aktuellem Antisemitismus sind in den meisten Regel- vermeintlichem und tatsächlichem Antisemitismus bei strukturen wenig bis gar nicht verankert und die Ausei- Jugendlichen vielfach unsicher reagieren und sich mehr nandersetzung mit dem Problem fndet berwiegend bis Untersttzung wnschen. Als Grund fr die Unsicherheit ausschließlich im Rahmen externer Veranstaltungen/Pro- gibt Radvan an, dass die Thematik aktueller Antisemi- jekte statt. Das mangelnde Bewusstsein fr die Relevanz tismus bei Jugendlichen moralisch berfrachtet wird, der Thematik wie auch die fehlenden Rahmenbedingun- angstbesetzt ist und bei den Pädagogen auf eigene Ambi- gen in den Strukturen scheinen zentrale Faktoren zu sein valenzen trifft. Wie repräsentativ die von ihr erkannten fr das unterrepräsentierte Interesse an Bildungsveran- Reaktionen von Pädagogen sind, die unbewusst zu einer staltungen zum Antisemitismus.881 Tradierung antisemitischen Gedankenguts beitragen, kann aufgrund der vorliegenden Daten bislang nicht beur- teilt werden.883 Eine qualitative Befragung von Fachkräften 11.5.4 Offene Jugend- und Sozialarbeit in der Fortbildung, die in Berlin durchgefhrt wurde, untersttzt jedoch ihre Befunde.884 Die Studie zeigt laut Die offene Jugendarbeit ist ein Teilbereich der profes- Zwischenbericht, dass die Beschäftigung von Fachkräften sionellen Sozialen Arbeit mit einem sozialpolitischen, in der Jugendarbeit mit aktuellem Antisemitismus eher pädagogischen und soziokulturellen Auftrag. Offene eine Ausnahme als die Regel ist. Die Befragten der Studie Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit grenzen sich stellten bei Jugendsozialarbeiterinnen und -arbeitern von schulischen oder verbandlichen Formen der Jugend- ohne Diskriminierungserfahrungen eine geringe Wahr- arbeit dadurch ab, dass ihre Angebote ohne besondere nehmung und ein oft fehlendes Verständnis fr (aktuellen) Zugangsvoraussetzungen genutzt werden knnen. Das Antisemitismus fest. Zudem brächten sie teilweise selbst Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) legt die bergeord- antisemitische und rassistische (v.a. antimuslimische) neten Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendarbeit Sichtweisen und Ressentiments zum Ausdruck. Fach- als außerschulische Jugendbildung mit eigenständigem kräfte fhlten sich in vielen Fällen fr dieses »historische« Bildungsauftrag neben der Schule fest. Aufgrund der Thema nicht zuständig und meiden die Bearbeitung von Lebenswelt- und Alltagsorientierung sowie der informel- Vorfällen aus Unkenntnis oder auch Verunsicherung, len Lernprozesse jenseits festgeschriebener Lehrpläne bie- »etwas falsch zu machen«. tet das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit gute Gelegenheiten fr die Bearbeitung des Themenbereichs Antisemitismus.882 Gleichzeitig kann sich Antisemitismus in diesem Handlungsfeld besonders stark artikulieren, z.B. 11.6 rahmenbedingungen der zur Stabilisierung der Identität und Gruppenzugehrig- antisemitismusprävention keiten oder aber als Ausdruck von Kompensation eigener Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen. Die Arbeit gegen Antisemitismus fndet in Deutschland Der Umgang mit Antisemitismus in der offenen unter bestimmten, von Bund und Ländern gesetzten, Jugendarbeit ist schwer zu beurteilen, weil die konkrete Rahmenbedingungen statt. Im Folgenden sollen diese Arbeit vor Ort von den unterschiedlichen Richtlinien näher erläutert werden. Einige Empfehlungen des ersten der jeweiligen Träger abhängt und im Gegensatz zur Berichts des UEA werden neu aufgegriffen und auf ihre Umsetzung hin erläutert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf präventiv-pädagogischen Maßnahmen. Präventi- 879 ebenda, s. 46. onsmaßnahmen im Bereich der Justiz, Polizei, Parteien, 880 hier sind nicht nur Modellprojekte gemeint, sondern auch bundeszen- Schulen, Kirchen und Vereine werden teilweise in anderen trale träger, die ebenfalls durch das Bundesprogramm »Demokratie leben!« Kapiteln dieses Berichts behandelt. Im Vergleich zu den untersttzt werden. 881 einige lehrerfortbildungsinstitute – zum Beispiel das thringer Institut fr lehrerfortbildung, lehrerplanentwicklung und Medien (thillm) – bieten re- 883 heike radvan, Pädagogisches handeln und antisemitismus. eine em- gelmäßig Fortbildungen zu diesem thema an. von 2010 bis 2014 existierte am pirische studie zu Beobachtungs- und Interventionsformen in der offenen thillm in Kooperation mit der zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutsch- Jugendarbeit, Bad heilbrunn 2010, in: Bundesministerium des Innern (hrsg.), land eine aktive arbeitsgruppe »lehrer handeln gegen antisemitismus«. antisemitismus in Deutschland, s. 89. 882 Pädagogische ansätze zur Bearbeitung von antisemitismus in der Ju- 884 rosa Fava, schwierigkeiten, Bedrfnisse und vorschläge fr Fortbildun- gendarbeit. ergebnisse des Modellprojekts »amira – antisemitismus im Kontext gen zu antisemitismus. Befragung von Multiplikator*innen, durchgefhrt im von Migration und rassismus«, Berlin 2010. auftrag der KIga e.v., Berlin 2016.

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Ergebnissen des ersten Berichts gab es hier keine maßgeb- 11.6.1 Präventionsmaßnahmen auf Bundesebene lichen Veränderungen. Bereits seit Anfang der 1990er-Jahre reagierte die Politik Im ersten Teil geht es um die Bundes- und Landes- auf den Anstieg rechtsextremer Gewalt mit spezifschen programme zur Demokratiefrderung. Dabei wird ein präventiv-pädagogisch ausgerichteten Programmen. Schwerpunkt auf die aktuellen Bundesprogramme Demo- Deren Entwicklung wurde bereits im Bericht des ersten kratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und UEA ausfhrlich beschrieben.889 Die Bundesregierung Menschenfeindlichkeit des Bundesministeriums fr Familie, setzte dabei auf Maßnahmen, die »neben den sicher- Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und Zusammenhalt heitspolitischen Aufgaben das demokratische Handeln durch Teilhabe des Bundesministeriums des Innern (BMI) stärken und Radikalisierungsprozesse hemmen« sollen. gelegt. Neben einer Darstellung der Programme werden Die Adressatinnen und Adressaten dieser Maßnahmen die wichtigsten Entwicklungen seit dem Bericht des ersten waren sowohl die »aufgeklärte Brgergesellschaft« als Expertenkreises Antisemitismus beschrieben. Die Ergeb- auch »gefährdete Menschen« und potenzielle Täterinnen nisse der wissenschaftlichen Evaluation der Bundespro- und Täter, um die Wiederholung von Gewalt- und anderen gramme, allen voran jene zum Bundesprogramm Toleranz Straftaten zu verhindern.890 frdern – Kompetenz stärken, werden ebenso einbezogen885 wie Ergebnisse einer Evaluation von Präventionsmaßnah- Dieses Verständnis von Prävention891 und die damit men in der historischen und politischen Bildungsarbeit, einhergehende Schwerpunktsetzung bei den Zielgruppen die im Auftrag des UEA durchgefhrt wurde.886 zeigt sich auch in der Gestaltung der aktuellen Bundes- programme zur Extremismusprävention, die sowohl Die aktuelle Regierung hat im Koalitionsvertrag verein- den politischen Rand als auch die Mitte der Gesellschaft bart, dass »der Einsatz fr Demokratie und gegen Extre- einbeziehen. In der Strategie der Bundesregierung zur mismus […] eine gesamtstaatliche Aufgabe« ist und daher Extremismusbekämpfung heißt es dazu, dass Radika- »einer ressortbergreifenden Gesamtstrategie«887 bedarf. lisierungstendenzen keine bloßen Randerscheinungen Dieses wichtige Vorhaben, das einer Empfehlung des ers- sind, sondern bis in die Mitte der Gesellschaft sichtbar ten UEA entspricht, mndete 2015 in einer interministeri- werden. Daher sind alle gesellschaftlichen und politischen ellen Arbeitsgruppe, die die unterschiedlichen Aktivitäten Akteure herausgefordert.892 Vor diesem Hintergrund setzt der Ressorts in den Bereichen der Extremismusprävention die Regierung mit den Bundesprogrammen nicht nur sowie der dazugehrenden Frderung von Demokratie Maßnahmen gegen Extremismus und Gruppenbezogene und zivilgesellschaftlichem Engagement systematisch Menschenfeindlichkeit (GMF) um, sondern sie bestimmt erfasst hat. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die im Juli auch maßgeblich den Rahmen fr die Zusammenarbeit 2016 verffentlichte »Strategie der Bundesregierung zur zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Extremismusprävention und Demokratiefrderung«.888 Sie beschreibt den Ansatz der Bundesregierung und deren Auf das im Bericht des ersten UEA beschriebene Bun- Handlungsfelder und wird in der Folge mehrmals zitiert, desprogramm »Vielfalt tut gut« des BMFSFJ folgte 2011 um die staatlich gefrderten Präventionsmaßnahmen das Programm »Toleranz frdern – Kompetenz stärken« entsprechend einzuordnen. Im zweiten Teil geht es um und 2014 im selben Ressort das Programm »Demokratie weitere Frdermaßnahmen der Antisemitismuspräven- leben!« Das letztgenannte Programm wurde gegenber tion, um die Zusammenarbeit zwischen Forschung und den Vorläufermodellen in vielerlei Hinsicht verbessert: Praxis, die Frderung der Vernetzung und des fachlichen Es hat eine verlängerte Laufzeit von fnf statt drei Jahren, Austausches sowie um die Frage der staatlichen Frderung und der fnanzielle Umfang wurde kontinuierlich erhht der Opferberatung fr von Antisemitismus Betroffene. von 30 auf 50 Mio. Euro und zuletzt fr 2017 sogar auf ber 100 Mio. Euro. Aus Perspektive des Expertenkreises leistet das Programm derzeit wohl den wichtigsten Beitrag zur pädagogisch-präventiven Antisemitismusbekämp- fung jenseits der Regelstrukturen (hier v.a. Schulen):893 Im Rahmen von »Demokratie leben!« werden aktuell (2016)

885 BMFsFJ, abschlussbericht. 886 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen in der historischen und politischen Bildungsarbeit. Im auftrag des zweiten Unabhängigen exper- 889 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland, tenkreises antisemitismus, Berlin 2016. Durchgefhrt haben die evaluation s. 161 f. christian Baier und Kerstin engelhardt. 890 Die Bundesregierung (hrsg.), strategie der Bundesregierung, s. 11. 887 Koalitionsvertrag der cDU, csU und sPD 2013, s. 107, https://www.cdu. 891 BMFsFJ, abschlussbericht, s. 69 f. de/sites/default/fles/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf (eingesehen 21. 12. 2016). 892 Die Bundesregierung (hrsg.), strategie der Bundesregierung, s. 7. 888 Die Bundesregierung (hrsg.), strategie der Bundesregierung zur extre- 893 Diese einschätzung wurde auch von der im auftrag des expertenkreises mismusprävention und Demokratiefrderung, Berlin 2016. durchgefhrten evaluation bestätigt.

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bundesweit 19894 Modellprojekte gefrdert, die sich expli- des ersten UEA aufgegriffen. Dort wurde gefordert, »die zit dem Themenfeld Antisemitismus widmen,895 sowie Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus nicht auf drei Träger, die mit ihren Angeboten zum Antisemitismus den Holocaust und einzelne geschichtliche Momente zu bundesweit tätig sind896. Hinzu kommen 218 lokale »Part- reduzieren, sondern Informationsarbeit umfassend und in nerschaften fr Demokratie« und Demokratiezentren in der historischen und sozialwissenschaftlichen Vorurteils- allen 16 Bundesländern mit den angebundenen Opferbe- forschung aufgehoben fundiert in deutlich gegenwarts- ratungsstellen und Mobilen Beratungsteams. bezogenem Zusammenhang zu vermitteln«.899 Insgesamt scheint sich diese Erkenntnis weitgehend durchgesetzt zu Gemeinsam mit dem Programm »Zusammenhalt durch haben. Zumindest theoretisch ist das Bewusstsein dafr Teilhabe« des Innenministeriums (Gesamtvolumen: gestiegen, dass Antisemitismusprävention mehr sein muss 12 Mio. Euro) und den Angeboten der Bundeszentrale fr als die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus politische Bildung ist in den letzten Jahren in der Tat eine und der Verfolgung und Ermordung der europäischen umfassende Frderlandschaft fr die Zivilgesellschaft Juden. Praktisch zeigt sich dies zwar auch in der Themen- entstanden, die laut Auskunft der Bundesregierung mit setzung der von »Demokratie leben!« gefrderten Projek- fast 700 zivilgesellschaftlichen Trägern und Zuwendungs- te,900 im Bereich der regelgefrderten Strukturen scheint empfängern zusammenarbeitet. Dadurch hat sich in diese Erkenntnis aber nur z.T. angekommen zu sein. Deutschland ein »europaweit exemplarisches Beratungs- und Präventionsnetzwerk« entwickelt.897 Die Logik der Themencluster insgesamt beizubehalten, war eine weitere, konkrete Forderung des ersten Exper- Aus inhaltlicher Sicht haben sich die Bundesprogramme tenkreises in Hinblick auf die Bundesprogramme (im Spe- seit dem Bericht des ersten Expertenkreises entschei- ziellen »Vielfalt tut gut«). Gleichzeitig wurde betont, bei dend und durchaus positiv weiterentwickelt. Damals berzeugenden Ansätzen aber auch clusterbergreifende wurde mit Blick auf das damalige Programm »Vielfalt Projekte zu ermglichen, die mehrere Unterthemen bear- tut gut« (BMFSFJ) zwar einerseits eine Fortfhrung des beiten knnen. Im aktuellen Bundesprogramm »Demo- Themenclusters Antisemitismus untersttzt, jedoch kratie leben!« bildet Antisemitismus ein eigenständiges darauf hingewiesen, dass zuknftig die Stigmatisierung Themenfeld neben Rassismus, Antiziganismus, Islam/ von Jugendlichen mit Migrationshintergrund vermieden Muslimfeindlichkeit, Homo- und Transphobie. Antragstel- werden sollte.898 Schon im Nachfolgeprogramm »Tole- ler fr ein Modellprojekt mssen ein Themenfeld wählen, ranz frdern – Kompetenz stärken«, in dessen Rahmen dem das geplante Modellprojekt »schwerpunktmäßig« 14 Modellprojekte gegen Antisemitismus Frdermittel zuzuordnen ist. Die Wahl mehrerer, clusterbergreifender erhielten, wurde diese auch von zivilgesellschaftlichen Themenfelder innerhalb eines Projektantrags ist jedoch Akteuren immer wieder kritisierte Zuschreibung ver- nicht vorgesehen. Dies hat Vor- und Nachteile. Einerseits mieden. Stattdessen war nun vom »Antisemitismus in wird dadurch sichergestellt, dass auch tatsächlich Projekte der Integrationsgesellschaft« die Rede. Im aktuellen entwickelt werden, die eigenständige Ansätze der Antise- Programm »Demokratie leben!« liegt der Frderschwer- mitismusprävention erproben, andererseits erschwert dies punkt auf »Antisemitismusphänomenen der Gegenwart«, den oft sinnvollen Austausch mit Projekten zur Auseinan- wobei besonders Projekte gegen antizionistischen/isra- dersetzung mit anderen Phänomenbereichen Gruppenbe- elbezogenen und sekundären Antisemitismus gefrdert zogener Menschenfeindlichkeit. werden. Auch hier wurde eine Empfehlung des Berichts Bei all den positiven Entwicklungen gibt es jedoch auch weiterhin Defzite, die im Folgenden beschrieben werden

894 http://www.demokratie-leben.de/mp_modellprojekte-zu-ausgewaehl- sollen. ten-phaenomenen-gruppenbezogener-menschenfeindlichkeit-und-zur-de- mokratiestaerkung-im-laendlichen-raum.html#t-4 (eingesehen 30.10.2016). 895 Im vorgängerprogramm »toleranz frdern – Kompetenz stärken« waren es 14, davon sechs explizit zum themenfeld holocaust, acht zum aktuellen an- tisemitismus. Die trennung zwischen historischem und aktuellem antisemitis- mus wurde im nachfolgeprogramm »Demokratie leben!« aufgehoben. 896 Dazu zählen das anne Frank zentrum, die Kreuzberger Initiative gegen antisemitismus und die zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. 897 Die Bundesregierung (hrsg.), strategie der Bundesregierung, s. 8. 898 Der expertenkreis berief sich hier auf einen Frderschwerpunkt des Pro- gramms »vielfalt tut gut« des BMFsFJ, der aktuellen antisemitismus explizit bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund verortete unter dem titel »antisemi- 899 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland, tismus bei jugendlichen Migrantinnen und Migranten«. vgl. regiestelle vielfalt s. 184. (hrsg.), abschlussbericht der Bundesprogramme »vielfalt tut gut. Jugend fr vielfalt, toleranz und Demokratie« und »kompetent fr Demokratie – Bera- 900 siehe: http://www.demokratie-leben.de/mp_modellprojekte-zu-ausge tungsnetzwerke gegen rechtsextremismus« Frderphase 2007–2010, Berlin waehlten-phaenomenen-gruppenbezogener-menschenfeindlichkeit-und-zur- 2011, s. 5. demokratiestaerkung-im-laendlichen-raum.html#t-4 (eingesehen 22. 11. 2016).

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11.6.1.1 Fehlende systematische und des Bund-Länder-Dialogs zur Stärkung von Demokratie dauerhafte Frderung und Prävention zu fnden ist.905

Eine der zentralen Forderungen im Bericht des ersten UEA war, die Frderprogramme der Bundesregierung längerfris- 11.6.1.2 Jugendliche als (alleinige) zielgruppe tig anzulegen und nach vorangegangener positiver Evalua- tion in die Regelpraxis zu berfhren und zu verstetigen.901 Der Expertenkreis hat bereits im ersten Bericht auf das Problem hingewiesen, dass meist nur Kinder und Jugend- Fr diesen Bereich kann durchaus eine positive Entwick- liche im Fokus der vom Bund umgesetzten Präventions- lung festgestellt werden. Mit der auf fnf Jahre verlängerten maßnahmen stehen. Dabei wurde schon damals die Not- Programmlaufzeit im Falle von »Demokratie leben!« und der wendigkeit gesehen, auch Erwachsene, wie z.B. Lehrkräfte, kontinuierlichen Aufstockung der Mittel wurde hier eine die Polizei oder Journalisten, mit Fortbildungsangeboten wichtige Forderung des Expertenkreises umgesetzt. zum Antisemitismus zu erreichen.906 Eine Leerstelle, die im Abschlussbericht zum Bundesprogramm »Toleranz fr- Was bleibt, ist das Problem einer fehlenden systematischen dern – Kompetenz stärken« bestätigt wird: Angesichts der und dauerhaften Frderung zivilgesellschaftlicher Träger weiten Verbreitung von fremdenfeindlichen Anschauun- jenseits der Projektfrderung. Dies liegt u.a. daran, dass gen und Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlich- das Bundesprogramm »Demokratie leben!« im Rahmen keit »wäre eine stärkere Ergänzung um weitere, erwach- des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) läuft. Nach sene Zielgruppen erwägenswert«, v.a. fr Personen, die fr diesem hat der Bund nur eine Anregungskompetenz im Kinder und Jugendliche sozialisationsrelevant sind.907 Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, soweit Aufgaben nicht allein von einem Bundesland erledigt werden kn- Die Frderprogramme des BMFSFJ laufen auf der gesetzli- nen und diese von berregionaler Bedeutung sind. Mg- chen Basis des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Dies stellt lichkeiten einer institutionellen, langfristigen Frderung fr die Erreichung erwachsener Zielgruppen ein struktu- bietet dieser gesetzliche Rahmen nicht. Die gesetzliche relles Problem dar. Auch wenn es im Kontext des Kinder- Grundlage fr die Trägerfrderung zu verändern, ist daher und Jugendplans des Bundes (KJP) mglich ist, im Sinne der nicht nur eine Forderung des Expertenkreises, sondern indirekten Prävention Mittlerpersonen wie Lehrkräfte, auch des NSU-Untersuchungsausschusses. Dieser spricht Multiplikatoren oder Erzieher ber das Programm zu sich in seinen Empfehlungen »mit Nachdruck fr eine erreichen, so bleibt der Fokus dennoch auf Kinder und Neuordnung der Frderung zivilgesellschaftlichen Engage- Jugendliche gerichtet. Anders sieht es im vom BMI umge- ments gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechts- setzten Programm »Zusammenhalt durch Teilhabe« und extremismus aus, die fr Verlässlichkeit sorgt und Pla- in anderen Maßnahmen der politischen Bildung, etwa der nungssicherheit bietet«. Verfassungsrechtliche Bedenken Bundeszentrale fr politische Bildung, aus. Diese richten drfen laut Untersuchungsausschuss einer »langfristigen, sich zwar durchaus auch an Erwachsene, aber hier fehlen dauerhaften Finanzierung der Arbeit gegen Neonazismus meist explizite Angebote zum aktuellen Antisemitismus. und fr Demokratiefrderung durch eine eigenständige Institution auf Bundesebene nicht entgegenstehen«.902 Eine veränderte gesetzliche Grundlage fr die Bundes- programme des BMFSFJ wrde folglich nicht nur positive Der Expertenkreis begrßt es vor diesem Hintergrund, Auswirkungen auf die dauerhafte Sicherung der Trä- dass sich die Bundesregierung in der eingangs erwähn- gerlandschaft haben, sondern auch auf die Erreichung ten Strategie vornimmt, die Maßnahmen der Extre- relevanter Zielgruppen, wie etwa Erwachsene jenseits der mismusprävention und Demokratiefrderung in die Kinder- und Jugendhilfe. Regelstrukturen zu berfhren und die »Mglichkeiten fr eine verbesserte rechtliche Basis fr die Arbeit der 903 Zivilgesellschaft [zu] prfen« – ein Vorsatz, der auch im 905 Dort heißt es in empfehlung 6: »Fr eine verstetigung der Maßnahmen Koalitionsvertrag904 und in den aktuellen Empfehlungen des Bundesprogramms ist eine verbesserte rechtsgrundlage notwendig. Die verantwortlichen Ministerinnen und Minister, senatorinnen und senatoren der länder begrßen grundsätzlich das vorhaben des Bundesministeriums fr Familie, senioren, Frauen und Jugend, in abstimmung mit den ländern eine 901 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland, gesetzliche Grundlage zu schaffen.« Demokratie und Prävention stärken. Ge- s. 185. meinsame erklärung der Bundesministerin fr Familie, senioren, Frauen und 902 Deutscher Bundestag, Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersu- Jugend und der fr das Bundesprogramm »Demokratie leben!« verantwortli- chungsausschusses nach artikel 44 des Grundgesetzes, Drucksache 17/14600, chen Ministerinnen und Minister, senatorinnen und senatoren der ländern, 22. 8. 2013, s. 866 f. https://www.bmfsfj.de/blob/109050/2f6feb45c8f0214753f67658972facdc/ 20160719-10-punkte-erklaerung-demokratiestaerkung-data.pdf (eingesehen 903 Die Bundesregierung (hrsg.), strategie der Bundesregierung, s. 9. 26. 11. 2016). 904 »Die bestehenden Programme werden langfristig fnanziell sicherge- 906 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland, stellt und auf bundesgesetzlicher Grundlage, soweit Gesetzgebungskompetenz s. 186 ff. vorliegt, weiterentwickelt.« Deutschlands zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen cDU, csU und sPD, s. 107. 907 BMFsFJ, abschlussbericht, s. 25.

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11.6.1.3 ausbau ressortbergreifender der Landesprogramme oder anderer Frderer oft nicht zusammenarbeit berein mit jenen der Bundesprogramme. Hinzu kommt, dass die Landesprogramme Frdermittel meist nur Eine weitere Forderung des ersten UEA war, dass die Ein- jährlich vergeben, was zu einem nicht zu unterschätzen- zelprogramme des Bundes stärker bergreifend arbeiten den wiederkehrenden brokratischen Aufwand fr die sollen. Ziel sollte hier sein, Konzepte zur Bekämpfung Träger fhrt.909 In allen beschriebenen Fällen wrde eine von Antisemitismus besser aufeinander abzustimmen. verbesserte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern So sollte das »bislang zu beobachtende Nebeneinander ebenso hilfreich sein wie eine Vereinfachung der Bestim- von Aktivitäten samt Informationsdefziten ber vorlie- mungen zur Kofnanzierung, etwa beim Nachweis der gende Konzepte und bestehende Programme« vermieden verwendeten Mittel. Vorbildlich läuft dies bereits in der werden.908 Zusammenarbeit zwischen der Regiestelle »Demokratie leben!« und der Bundeszentrale fr politische Bildung. Diese Forderung, die auf allgemeiner Ebene der Extre- mismusprävention auch Einzug in den Koalitionsvertrag gefunden hat, mndete in die bereits eingangs genannte 11.6.2 Präventionsmaßnahmen auf Länderebene interministerielle Arbeitsgruppe, die unter der Feder- fhrung von BMI und BMFSFJ die unterschiedlichen Im Bereich der Extremismusprävention und Demokra- Aktivitäten der Ressorts in den Bereichen der Extremis- tiefrderung leisten die Bundesländer einen wichtigen musprävention systematisch erfasst hat. Ziel der inter- Beitrag, schon allein deshalb, weil sie fr polizeiliche ministeriellen Arbeitsgruppen soll ein erneuerter »Nati- Prävention, Strafvollzug, Fragen der Jugend- und Sozial- onaler Aktionsplan der Bundesregierung« sein, der sich arbeit sowie fr Bildung zuständig sind. Hinzu kommen der Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit die Landeszentralen fr politische Bildung, die – nach und Antisemitismus widmet. Mit einem vom BMI und einem entsprechenden Beschluss des Niedersächsischen BMFSFJ gemeinsam durchgefhrten Demokratiekongress Landtags vom April 2016 – nun wieder in allen 16 Ländern (Gemeinsam Zukunft gestalten) am 8. November 2016 tätig sind. wurde dieses gemeinsame Vorgehen, das Intervention und Prävention systematisch zusammendenkt, offziell Der Abschlussbericht zum Bundesprogramm Toleranz fr- bekräftigt. Der Expertenkreis untersttzt diese positive dern – Kompetenz stärken hat herausgestellt, wie wichtig Entwicklung seit dem ersten Bericht und unterstreicht gut ausgebaute und etablierte Landesstrukturen fr das die Notwendigkeit, dass auch weiterhin die anderen fr Gelingen der Bundesprogramme sind. Diese sind zentral die Bekämpfung des Antisemitismus relevanten Ressorts fr Synergie-Potenziale auf Länderebene, die sich zum in diese interministerielle Arbeit eingebunden werden, Beispiel in der Zusammenarbeit zwischen den (Landes-) allen voran das Bundesministerium der Justiz und fr Beratungsstellen oder den Lokalen Aktionsplänen (seit Verbraucherschutz, das Bundesministerium fr Bildung und 2015: Partnerschaften fr Demokratie) zeigen.910 Des Forschung sowie das Auswärtige Amt. Weiteren spielen die Landesstrukturen eine zentrale Rolle beim Transfer von Projektergebnissen und -erkenntnis- sen in die regelgefrderten Angebote der Kinder- und 11.6.1.4 Problem Kofnanzierung Jugendhilfe sowie in weitere Sozialisationsinstanzen (zum Beispiel Schule). Dieser Transfer wird fr die erfolgrei- In Hinblick auf die Bundesprogramme sprach sich der che Umsetzung der Bundesprogramme einerseits als erste UEA fr eine Senkung der hohen Kofnanzierungs- »essenziell«911 beschrieben, andererseits zeigt die fr den rate fr Modellprojekte aus, die zum Zeitpunkt des Expertenkreis durchgefhrte Evaluation, wie schwierig ersten Berichts noch bei 50 Prozent lag. Fr »Demokratie der Transfer in der Praxis ist. So berichten mehrere Träger leben!« wurde die Kofnanzierung 2014 auf 20 Prozent ber Probleme, Schulen und Ämter als feste Koopera- und zuletzt auf 15 Prozent gesenkt. Fr die Träger ist dies tionspartner fr Projekte der antisemitismuskritischen eine grundsätzlich sehr positive Entwicklung. Ange- Bildungsarbeit zu gewinnen. Neben fehlendem Interesse sichts der gestiegenen Frdervolumen und der ebenfalls oder Zeit- und Kapazitätsmangel wird hier auch die feh- gestiegenen Anzahl an gefrderten Projekten, bleibt lende Untersttzung seitens der Schulleitungen als Grund die Kofnanzierung aber weiterhin fr viele Träger eine fr diese Schwierigkeit angegeben.912 große Herausforderung. Die Landesprogramme (siehe unten) verfgen z.T. nicht ber ausreichend Mittel, um die Kofnanzierung immer neuer Projekte zu gewährleis- ten. Außerdem stimmen die inhaltlichen Schwerpunkte 909 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen, s. 82. 910 BMFsFJ, abschlussbericht 2014, s. 76. 911 ebenda, s. 79. 908 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland, s. 185. 912 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen, s. 81.

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11.6.2.1 landesprogramme und landesinitiativen Antisemitismus positiv auf. Dies und die wichtige Funk- tion des Landesprogramms bei der Ko-Finanzierung von Mittlerweile verfgen alle 16 Bundesländer ber »Lan- Projekten der Bundesregierung fhrte zur damaligen desprogramme«, »Landesinitiativen« und kommunale Einschätzung des Expertenkreises, dass sich das Land Strategien. Allerdings unterscheiden sich diese deutlich Berlin zu einem wichtigen und innovativen »Kompetenz- voneinander und zwar sowohl in ihrer strukturellen zentrum« mit bundesweiter Ausstrahlung im Handlungs- Einbettung als auch in ihrer inhaltlichen Ausrichtung. feld »Antisemitismus« entwickelt hat.914 Seit 2014 ist das Während einige direkt in die Strukturen der Verwaltung Landesprogramm in der Senatsverwaltung fr Arbeit, integriert oder den Landeszentralen fr politische Bildung Integration und Frauen und dort in der Landesstelle fr zugeordnet sind, ist die Umsetzung anderer Landespro- Gleichbehandlung und Diskriminierung (LADS) angesie- gramme zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Uni- delt. 2017 wird es in die Zuständigkeit des Senats fr Justiz, versitäten bertragen worden. Der Anteil an Projekten, die Verbraucherschutz und Antidiskriminierung wechseln. Seit im Rahmen der Landesprogramme gefrdert werden und dem letzten Berichtszeitraum sind die Mittel des Lan- sich dabei gezielt mit dem Phänomenbereich Antisemitis- desprogramms um knapp 40 Prozent auf 3,2 Mio Euro mus befassen, variiert ebenfalls stark. (2016) gestiegen. Dank dieser Mittel knnen insgesamt etwa 50 Projekte gefrdert werden. Antisemitismus wird als Teil Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) 11.6.2.2 Bedeutung des Phänomenbereichs gesehen, jedoch unter Bercksichtigung der Spezifka des antisemitismus in den landesprogrammen Antisemitismus. Antisemitismus wird dabei in der Präven- tionsarbeit nicht nur als Bestandteil historisch-politischer Um einen detaillierteren Einblick in die Frderstrukturen Bildung betrachtet, sondern auch in Bezug auf aktuelle der Landesprogramme und die Bedeutung des Phäno- Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das menbereichs Antisemitismus zu erhalten, wurden fr die- Berliner Landesprogramm untersttzt daher gezielt auch sen Bericht alle zuständigen Landesstellen angeschrieben. Projekte mit Fokus auf Antisemitismus. Genannt werden Hier erwies sich die unterschiedliche strukturelle Einbet- hier u.a. die Recherche- und Informationsstelle Antisemitis- tung der Landesprogramme als Hrde fr die Recherche mus (RIAS), das Anne Frank Zentrum oder die Praxisstelle und die anschließende Anfrage, da in einigen Fällen nicht fr antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit eindeutig war, wo die Landesprogramme angesiedelt sind (Amadeu Antonio Stiftung). und wer als Ansprechpartner dient. Das Berliner Landesprogramm erfasst die gefrderten Von allen 16 angeschriebenen Landesprogrammen Projekte entlang einer Einteilung von Handlungsfeldern haben sich acht Vertreter zurckgemeldet und – soweit wie »Stärkung von Demokratie und Menschenrechten«, mglich – die Fragen beantwortet. 913 Rckmeldungen »Bildung und Jugend fr Demokratie« und »Demokratie kamen aus Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nord- im Gemeinwesen und im Sozialraum«. Eine gezielte Erfas- rhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und sung der Projekte nach Phänomenbereichen erfolgt nicht. Thringen. 2. Bremen Drei Länder sollen hier exemplarisch vorgestellt werden. In Bremen ist die Senatsverwaltung fr Soziales, Jugend, 1. Berlin Frauen, Integration und Sport und hier das Referat fr Kin- der- und Jugendschutz Ansprechpartnerin fr Fragen zum Das Berliner Landesprogramm wurde bereits im ers- Landesprogramm zur Extremismusprävention. Direkte ten Bericht des UEA exemplarisch vorgestellt. Schon Antworten auf die Fragen wurden nicht geschickt, jedoch im Titel des Programms (Demokratie. Vielfalt. Respekt. auf eine Anfrage der Grnen-Fraktion zu Antisemitismus Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitis- an den Senat verwiesen. Demzufolge werden zahlreiche mus) fällt die explizite Ausrichtung auf das Themenfeld Maßnahmen gegen Antisemitismus und Rassismus gefr- dert. Dazu gehren laut Antwort des Senats u.a. folgende:

913 Die schriftliche anfrage, die ende august/anfang september 2016 ge- stellt wurde, enthielt folgende Fragen: º Auflärung ber Judentum und jdisches Leben, Vor- wird antisemitismus in Ihrem landesprogramm als spezifsches und eigen- träge ber die Geschichte der Juden in Europa sowie die ständiges Phänomen wahrgenommen und gezielt Präventionsarbeit gegen Untersttzung des jdisch-christlichen und jdisch-is- antisemitismus gefrdert? lamischen Dialogs werden Projekte, die ber das landesprogramm gefrdert werden, nach the- menbereichen erfasst? Falls ja, gibt es Daten zur anzahl der Projekte, die sich gezielt mit dem Phänomenbereich antisemitismus befassen? welche rolle spielt bei der Frderung von Präventionsprojekten gegen antise- 914 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland, mitismus die Ko-Finanzierung von Projekten in Bundesprogrammen? s. 163.

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º Untersttzung der »Nacht der Jugend«, ein Projekt bisher vorwiegend phänomenbergreifend. Das heißt, dass zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust sowie der Antisemitismus – wenn berhaupt – im Kontext anderer Ermordung von Sinti und Roma, Homosexuellen und gruppenbezogener Diskriminierungsformen verhandelt Andersdenkenden im Nationalsozialismus wird. Was aus pädagogischer Sicht durchaus sinnvoll sein kann, fhrt in der Praxis aber meist dazu, dass das Thema º Untersttzung der Betroffenen im Kampf gegen antise- Antisemitismus vllig ausgeklammert wird. So konnten mitischen Äußerungen und/oder Beleidigungen nur wenige Landesprogramme Auskunft darber geben, inwiefern es berhaupt Projekte gibt, die sich mit Anti- Zusätzlich werden laut Senatsangaben im Bereich der semitismus beschäftigen. Diese Beobachtung wird durch schulischen Bildung, der Aus- und Fortbildung und dem die Ergebnisse der fr diesen Bericht erstellten Evaluation Studium Maßnahmen gegen Antisemitismus gefrdert. bestätigt. Hier wurde deutlich, dass ohne die Frderung Ebenso werden Projekte im Bereich der Begegnungspä- des Bundesprogramms »Demokratie leben!« viele der spe- dagogik sowie weitere Präventionsprojekte (namentlich zifschen Anti-Antisemitismus-Projekte, die auf Landese- erwähnt wird hier etwa der Fanclub Werder Bremen, der bene umgesetzt werden, nicht existieren wrden. Projekte gegen Antisemitismus durchfhrt) gefrdert.

Aus diesen Angaben geht zwar nicht dezidiert hervor, 11.6.2.4 schwierigkeiten bei der zusammenarbeit inwiefern Antisemitismus als eigenständiger Phänomen- zwischen Bund und ländern bereich betrachtet wird, jedoch zeigt sich, dass Projekte und Maßnahmen gefrdert werden, die sich entweder Neben den großen Unterschieden zwischen den zuständi- speziell, oder aber als Bestandteil einer allgemeinen Extre- gen Ressorts ergeben sich aber auch noch andere Pro- mismusprävention mit Antisemitismus befassen. bleme, die die Zusammenarbeit und Vernetzung unter den Ländern sowie zwischen Bund und Land erschweren. 3. Hessen Berhrungspunkte zwischen Bund und Ländern ergeben sich bisher v.a. im Kontext der Kofnanzierung einzel- In Hessen werden die Vorgaben des Landesprogramms ner Projekte in den Bundesprogrammen »Demokratie zur Extremismusprävention Hessen – aktiv fr Demo- leben!« und »Zusammenhalt durch Teilhabe« durch einige kratie und gegen Extremismus vom beratungsNetzwerk Landesprogramme und die Zusammenarbeit mit den Lan- hessen – Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus des-Demokratiezentren. Diese wurden in allen 16 Bun- umgesetzt. Das beratungsNetzwerk ist am Fachbereich desländern fr die Weiterentwicklung von Konzepten und Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität-Mar- Strategien sowie die Vernetzung der lokalen Aktivitäten burg angesiedelt. Das Landesprogramm umfasst sieben mithilfe des Bundesprogramms eingesetzt.915 Frderbereiche: (1) Salafsmus, (2) Rechtsextremismus, (3) Linksextremismus, (4) Modellprojekte des Bundes oder Die Bundesregierung verweist in ihrer Strategie zur Extre- der EU: Ko-Finanzierung, (5) Partnerschaften fr Demo- mismusprävention auf die entscheidende Rolle der guten kratie: Ko-Finanzierung, (6) Aktionsfonds: Frderung von Zusammenarbeit mit den Ländern. Diese stellt sowohl zeitlich befristeten Mikroprojekten und (7) Wissenschaft: den Fachaustausch als auch den Wissenstransfer in die Evaluation der Programme und Projekte sowie Frderung regelgefrderten Strukturen sicher. Vor dem Hintergrund von Extremismusforschung. Ein eigener Schwerpunkt zu dieser Notwendigkeit sollte die Bundesregierung die Antisemitismus existiert bisher nicht. Allerdings gehren Einrichtung eines zentralen ständigen Bund-Länder-Di- dem beratungsNetzwerk nach eigener Aussage Träger an, alogs prfen, und zwar aller mit Prävention befassten die sich explizit mit Antisemitismus befassen. Ministerien. Gerade im Bereich der Schulen knnten so gemeinsam Maßnahmen entwickelt und umgesetzt werden.916 Einen ersten Schritt in diese Richtung hat das 11.6.2.3 einordnung BMFSFJ unternommen, in dem es am 19. Juli 2016 eine 10-Punkte-Erklärung unter dem Titel »Demokratie und Die vorgestellten Beispiele und die Auswertung der ins- gesamt acht Rckmeldungen zeigen die bereits eingangs beschriebenen großen strukturellen Unterschiede in der konzeptionellen und strategischen Ausrichtung der

Landesprogramme. Mit wenigen Ausnahmen (Berlin, 915 Überblick ber die landes-Demokratiezentren: https://www.demokratie- Niedersachsen) wird Antisemitismus so gut wie nie als leben.de/programmpartner/demokratiezentren.html (eingesehen 30. 10. 2016). eigenständiges Phänomen betrachtet und entsprechende Der abschlussbericht zu »toleranz frdern« listet zwischen 2011 und 2013 fnf treffen der landeskoordinierungsstellen auf. außerdem wurden fr die lan- Frdermaßnahmen umgesetzt. Antisemitismus ist deskoordinatoren zwei modulare weiterbildungsreihen konzipiert. BMFsFJ, stattdessen meist Bestandteil einer Gesamtstrategie der abschlussbericht, s. 17. Extremismusbekämpfung und die Handlungsfelder sind 916 Die Bundesregierung (hrsg.), strategie der Bundesregierung, s. 31.

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Prävention stärken« verffentlicht hat.917 Es handelt sich Auf nationaler wie internationaler Ebene hat sich die dabei um eine gemeinsame Erklärung des BMFSFJ und Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« (EVZ) zu der fr das Bundesprogramm »Demokratie leben!« ver- einem wichtigen Frderer von Projekten zur Auseinander- antwortlichen Ministerinnen und Minister, Senatorinnen setzung mit Antisemitismus entwickelt, mit einem beson- und Senatoren der Länder. Sie enthält auch Forderungen, deren Schwerpunkt in Mittel- und Osteuropa. Im Jahr die sich explizit im Zuständigkeitsbereich der Länder 2016 hat die Stiftung im Frderprogramm Facing Antise- befnden, etwa die konsequente Strafverfolgung (2), die mitism and Antigypsyism zivilgesellschaftliche Projekte dauerhafte Sicherung von mobiler und Opferberatung (3) in Polen, der Tschechischen Republik, Litauen, Ungarn, oder die Bedeutung von präventiv-pädagogischer Arbeit Rumänien, Russland und der Ukraine untersttzt. in Schule sowie Kinder- und Jugendhilfe (8). Der Experten- kreis sieht darin eine wichtige Initiative zur Verbesserung Gefrdert wird in diesem Programm auch ein internati- der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und onales Projekt des Anne Frank Hauses Amsterdam, das empfehlt, die Idee eines Bund-Länder-Dialogs konse- Online-Bildungsmaterial zu den Themen Antisemitismus, quent und unter Einbeziehung aller Ressorts weiterzuent- Antiziganismus und anderen Diskriminierungsformen wickeln. in Deutsch, Englisch, Polnisch, Ungarisch und Ukrainisch entwickelt und ber Online-Seminare an Schulen bringt. Ein internationaler Wettbewerb des Netzwerks Humanity 11.6.3 Weitere Frdermaßnahmen der in Action wurde mit acht Action Projects gegen Antisemi- Arbeit gegen Antisemitismus tismus und Antiziganismus im Oktober 2016 erfolgreich beendet. Neben den genannten Programmen der Bundesregierung und der Länder gibt es eine Vielzahl weiterer Frder- Seit 2016 wird das Projekt Immigration, Antisemitism and programme, die sich der Extremismusbekämpfung und Toleration in Western Europe Today des Pears Institute for Demokratiefrderung verschrieben haben. Nur wenige the Study of Antisemitism in London gefrdert, das mit adressieren aber direkt Antisemitismusprävention. In internationalen Partnern Handlungsempfehlungen fr der Folge sollen wenige ausgewählte staatliche und die Zivilgesellschaft erarbeitet. Der deutsche Partner ist nicht-staatliche Organisationen vorgestellt werden, die das Zentrum fr Antisemitismusforschung der Technischen entweder durch eigene Maßnahmen oder Frderpro- Universität Berlin. Auch in Litauen, der Tschechischen gramme Projekte gegen Antisemitismus auf nationaler Republik, Polen, Ungarn und der Ukraine wird 2017 die und internationaler Ebene umsetzen. Erarbeitung länderbezogener Handlungsempfehlungen im Kampf gegen Antisemitismus und Antiziganismus Die Bundeszentrale fr politische Bildung stellt in ihren untersttzt. Die Erarbeitung erfolgt in Zusammenarbeit Medienzentren und auf ihrer Webseite eine Flle an mit zivilgesellschaftlichen Akteuren in diesen Ländern. Dossiers und Materialien zur Verfgung, die sich dem Die Ergebnisse sollen Anfang 2018 vorliegen. Antisemitismus und dem pädagogischen Umgang damit widmen.918 Diese sind fr die schulische und die außer- In Deutschland frdert die EVZ seit sechs Jahren die schulische Bildungsarbeit geeignet und richten sich auch Tagungsreihe »Blickwinkel. Antisemitismuskritisches an Erwachsene. Darber hinaus frdert die Bundeszent- Forum fr Bildung und Wissenschaft«, in der zu unter- rale im Rahmen ihrer Richtlinien- und Modellfrderung schiedlichen Jahresthemen aktuelle Analysen und innova- Veranstaltungen und Projekte der politischen Bildung, die tive Bildungsansätze diskutiert werden. Die Tagungsreihe sich auch der Auseinandersetzung mit Antisemitismus wird 2017 und 2018 fortgesetzt und vom BMFSFJ mit widmen. Nach Auskunft der Bundeszentrale waren dies gefrdert. 2015 wurde die fnfte internationale Muslim 2015 35 Veranstaltungen nach den Frderrichtlinien und Jewish Conference, die in Berlin stattfand, und eine bun- vier Modellprojekte nach § 44 der Bundeshaushaltsord- desweite Fachtagung zum Thema »Politischer Antiziganis- nung (BHO). Darber hinaus leistet die Bundeszentrale mus« mit Mitteln des Programms untersttzt. einen wichtigen Beitrag bei der Kofnanzierung von Modellprojekten in den Bundesprogrammen. Das Auswärtige Amt und der bei ihm angesiedelte Sonder- beauftragte fr die Beziehungen zu jdischen Organisatio- nen und Antisemitismusfragen frdert, den Aufgaben des Ressorts entsprechend, in erster Linie internationale Maß- nahmen gegen Antisemitismus. Ein Schwerpunkt liegt 917 http://www.bmfsfj.de/redaktionBMFsFJ/engagement-und-Gesellschaft/ dabei auf Erinnerungsprojekten und Projekten der histo- Pdf-anlagen/20160719-10-Punkte-erkl_c3_a4rung-Demokratiest_c3_ risch-politischen Bildungsarbeit in Mittel- und Osteuropa. a4rkung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf (eingesehen 7. 8. 2016). Zur Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus 918 siehe z. B.: https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/ frdert das Auswärtige Amt derzeit ein bei der OSZE (siehe (eingesehen 23. 11. 2016).

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unten) angesiedeltes Programm mit dem Titel »Turning 11.6.4 Zusammenarbeit zwischen Words Into Action to Address Anti-Semitism«.919 Forschung und Praxis

Auf EU-Ebene laufen verschiedene Maßnahmen der Eine wichtige Voraussetzung fr eine gelingende Präven- Antisemitismusbekämpfung seit Dezember 2015 bei der tionsarbeit ist nicht nur eine spezifsche und umfassende neu geschaffenen und in der Europäischen Kommission Antisemitismusforschung, sondern auch die Zusammen- (DG Justiz) angesiedelten Stelle einer Koordinatorin zur arbeit zwischen Wissenschaft und Praxis. Dazu gehrt Bekämpfung des Antisemitismus zusammen.920 In engem auch eine gute Ausbildung von Praktikerinnen und Austausch mit dem Europäischen Parlament, den Mit- Praktikern und umgekehrt die Bereitschaft seitens der gliedsstaaten und anderen internationalen Organisati- Wissenschaft, von der Praxis zu lernen. onen widmet sich die Koordinatorin beispielsweise den Themenschwerpunkten Bildung, Hate Speech in den Zu diesem Themenbereich gab es bereits im Bericht des Sozialen Medien, Hasskriminalität und dessen straf- ersten UEA zahlreiche Forderungen und Empfehlungen. rechtliche Verfolgung, Holocaust-Leugnung, Monitoring, Diese reichen von einer umfassenden gesamtdeutschen Opferschutz und Antidiskriminierung.921 empirischen Untersuchung, Forschungen im Hinblick auf »migrantische Bevlkerungsgruppen«, Einzelunter- Ein weiterer wichtiger Frderer von (hauptsächlich inter- suchungen zu antisemitischen Inhalten in deutschen nationalen) Maßnahmen der Antisemitismusbekämpfung Medien bis hin zu den Forderungen eines Forschungsver- ist das OSZE Bro fr demokratische Institutionen und bunds und didaktischer Forschungsvorhaben.923 Menschenrechte (ODIHR), das in Warschau angesiedelt ist und ber einen eigenen Berater (Advisor) fr den Bereich Auch die Bundesregierung selbst verweist in ihrer Strate- der Antisemitismusbekämpfung verfgt. Es frdert und gie zur Extremismusbekämpfung auf die wichtige Rolle initiiert verschiedene Maßnahmen des Austauschs und der Forschung fr die Prävention. Sie diene einerseits der Vernetzung zivilgesellschaftlicher Träger und der Wei- dazu, »zivilgesellschaftliche und institutionelle Angebote terentwicklung von Angeboten der Antisemitismusprä- der Extremismusprävention und Demokratiefrderung im vention. Darber hinaus gibt ODIHR mit verschiedenen Hinblick auf ihre Strukturen und Prozesse […] zu untersu- Kooperationspartnern Materialien zur pädagogischen chen«. Außerdem helfe sie, die Angebote der Prävention Auseinandersetzung mit Antisemitismus heraus, wie z.B. und der Demokratiefrderung zielgerichtet zu konzipie- die Handreichung »Adressing Antisemitsm: Why and ren.924 how? A guide for Educators«, die in zehn Sprachen verf- fentlicht wurde. Seit Anfang 2016 fhrt ODIHR ein inter- Die Bundesregierung listet diverse Forschungsvorhaben nationales Projekt unter dem Titel »Turning Words into zu Radikalisierungsursachen und -verläufen auf. Fr den Action« durch, das sich mit Sicherheitsfragen jdischer Bereich Prävention interessant ist die beim Deutschen Gemeinden beschäftigt und die Vernetzung der Commu- Jugendinstitut (DJI) angesiedelte »Arbeits- und For- nities frdert. Dieses Projekt wird vom Auswärtigen Amt schungsstelle Rechtsextremismus und Radikalisierungs- fnanziert (siehe oben). prävention«, die laut Selbstauskunft folgende Aufgaben hat: »fachliches Wissen zu diesen pädagogischen Hand- Im Rahmen des Frderprogramms der International lungsfeldern fr Wissenschaft, Fachpraxis und Politik zu Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) werden u.a. generieren und aufzubereiten. Ein besonderer Fokus liegt Projekte gefrdert, die das Bewusstsein fr den Holocaust dabei auf praxisrelevantem Wissen zu jugend(-phasen) schärfen und damit dazu beitragen, Antisemitismus und spezifschen Dimensionen der Phänomene sowie auf der Xenophobie zu bekämpfen.922 Sicherung und Systematisierung von Praxiserfahrungen, die in der pädagogischen Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen gewonnen wurden.«925 Außerdem fhrt die Forschungsstelle 2016 eine Erhebung zur Rolle neuer Medien fr Radikalisierung und Radikalisierungspräven- tion phänomenbergreifend durch. Antisemitismus fndet nur Erwähnung unter dem Stichwort »neue Varianten«. Ansonsten liegt ein besonderer Fokus auf »(gewaltorien- 919 http://www.osce.org/odihr/254901 (eingesehen 26.11.2016). tiertem) Salafsmus und Dschihadismus«. 920 Die derzeitige amtsinhaberin Katharina von schnurbein berichtete im ex- pertenkreis ber die arbeit der eU-Kommission im themenfeld antisemitismus im rahmen einer sitzung am 28.9.2016. 923 Bundesministerium des Innern (hrsg.), antisemitismus in Deutschland, 921 http://ec.europa.eu/justice/events/colloquium-fundamental-rights- s. 186 f. 2015/fles/fundamental_rights_colloquium_conclusions_en.pdf (eingesehen 23.11.2016). 924 Die Bundesregierung (hrsg.), strategie der Bundesregierung, s. 26. 922 https://www.holocaustremembrance.com/grant-programme. 925 http://www.dji.de/?id=323 (eingesehen 14.8.2016)

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Auf eine Anfrage aus dem Bundestag,926 welche Maßnah- wurde auch durch die im Auftrag des Expertenkreises men der Antisemitismusforschung das Bundesministerium durchgefhrte Evaluation bestätigt. Die befragten Träger fr Bildung und Forschung (BMBF) durchfhrt, verweist formulierten sehr konkrete Wnsche an die Forschung dieses auf die Mitarbeit bei der Strategie der Bundesre- und bemängelten beispielsweise Defzite bei aktuellen gierung zur Extremismus-Prävention und Demokra- Ausprägungsformen des Antisemitismus, bei ost- und tiefrderung. Außerdem frdert das BMBF das Zentrum westdeutschen Spezifka des aktuellen Antisemitismus Jdische Studien Berlin-Brandenburg und verschiedene oder hinsichtlich einer Verzahnung von Forschungs- Maßnahmen im schulischen Bereich, wie den Wettbe- vorhaben zur rassismus- und antisemitismuskritischen werb Demokratisch handeln oder Lernstatt Demokratie. Zu Bildungsarbeit. Außerdem fehlen Zentren, die bestehende Recht verweist das BMBF hier aber auf seine beschränkten Ansätze und Methoden sammeln, sie in Hinblick auf ihre Handlungsspielräume aufgrund der fderalen Strukturen Wirksamkeit bewerten, fr andere Interessierte zugäng- im Bereich schulischer Bildung. lich machen und aktiv bewerben. Diese Zentren knnten auch eine Vermittlerfunktion zwischen Forschung und Als konkrete Forschungsprojekte untersttzt das BMBF Praxis einnehmen.930 die Arbeit der Deutsch-Israelischen Schulbuchkommission »Antisemitismus in Deutschland« durch die Frderung Im Wissenschaftssystem selbst knnte der Austausch des beteiligten Leibniz-Instituts fr internationale Schul- mit der Praxis beliebter gemacht werden, indem die buchforschung Georg Eckert.927 angewandte Forschung mit Credits gefrdert wrde. Fachhochschulen wären einerseits dafr die geeigneten Insgesamt fällt die Bilanz der konkret gefrderten Institutionen, andererseits liegen deren Schwerpunkte auf Forschung zum Antisemitismus eher ernchternd aus. Lehre und weniger auf Forschung. In der Strategie der Bundesregierung wird zwar auf die zuknftige Stärkung interdisziplinärer Forschungsansätze, die Verbesserung von Forschungsfrderung, die Notwen- 11.6.5 Zusammenarbeit zwischen digkeit internationaler Forschungskooperationen und zivilgesellschaftlichen Organisationen verbesserte Ansätze der Wirkungsevaluation verwiesen, und staatlichen Organen aber konkrete phänomen- und damit antisemitismusspe- zifsche Forschungsvorhaben werden nicht erwähnt.928 Nicht nur die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ähnlich verhält es sich im 10-Punkte-Plan der Bund-Län- Ländern, Wissenschaft und Praxis, sondern auch die der-Kommission. Auch dort bleiben die Forderungen sehr »Verbesserung der Kommunikation zwischen staatlichen allgemein und empfehlen zwar eine »bedarfsorientierte Exekutivorganen und nichtstaatlichen Organisationen« Stärkung des Austauschs zwischen Wissenschaft, Politik war eine zentrale Empfehlung des Berichts des ersten und Praxis«,929 konkrete Angaben zu einer phänomen- UEA.931 Auch hier kommt das Deutsche Jugendinstitut in und insbesondere antisemitismusspezifschen Forschung seinem Abschlussbericht zum Bundesprogramm »Toleranz fehlen aber auch hier. frdern – Kompetenz stärken« zu einem ähnlichen Schluss: Eine zentrale Bedingung fr die nachhaltige Wirkung von Auf Länderebene arbeitet etwa die am Zentrum fr Anti- Präventionskonzepten ist vernetztes Handeln, und zwar semitismusforschung angesiedelte Arbeitsstelle »Rechts- deshalb, weil die Vernetzung auf regionaler und fachli- extremismus und Jugendgewalt« im Auftrag des Berliner cher Ebene dafr sorgt, »dass bedarfsgerechte Angebote Senats sowohl zu Fragen der Gewaltprävention wie auch entstehen, die fachlich refektiert und somit qualitativ zu Phänomenen und Intervention im Bereich Antisemi- hochwertig sind«. Hier zeigt sich laut DJI nicht nur das tismus. Potenzial »vernetzter Lernprozesse«, sondern Vernetzung ist auch eine Voraussetzung dafr, »dass die gewonnenen Der Expertenkreis sieht auch weiterhin die Notwendigkeit Erfahrungen und Erkenntnisse verbreitet und ber die der Frderung anwendungsbezogener Forschung jenseits Modellphase hinaus genutzt werden«.932 Die im Auftrag der Evaluation von Projekten der Bundesprogramme. Dies des zweiten Expertenkreises durchgefhrte Evaluation konnte hierfr konkrete Beispiele fnden. Mehrere Träger gaben an, dass sie Methoden und Zugänge, die andere 926 es handelt sich hier um eine anfrage der cDU-Bundestagsabgeordneten Projekte entworfen und publiziert hatten, aufgreifen Barbara woltmann vom april 2016. konnten, um sie fr ihren jeweiligen Kontext anzupassen. 927 antwort des Bundesministeriums fr Bildung und Forschung auf eine in- Dies spart aus Sicht der Träger Ressourcen und erweitert formelle anfrage der cDU-abgeordneten Barbara woltmann am 18.4.2016. 928 Die Bundesregierung (hrsg.), strategie der Bundesregierung, s. 28. 929 http://www.bmfsfj.de/redaktionBMFsFJ/engagement-und-Gesellschaft/ 930 socius, evaluation von Präventionsmaßnahmen, s. 83. Pdf-anlagen/20160719-10-Punkte-erkl_c3_a4rung-Demokratiest_c3_ 931 Bundesministerium des Innern, antisemitismus in Deutschland, s. 185. a4rkung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf (eingesehen 7. 8. 2016). 932 BMFsFJ, abschlussbericht, s. 59.

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die inhaltlichen und methodischen Optionen, aus denen beinahe allen Regionen der Bundesrepublik sicherstellen. Projekte schpfen knnen.933 Die Vernetzung fndet in der Regel ber die Landesdemo- kratiezentren statt. Individuell Betroffene rechtsextremer, Die Forderung einer Verbesserung der Zusammenarbeit rassistischer, antisemitischer und islamfeindlicher Vorfälle der Akteure auf verschiedenen Ebenen ist auch eines der knnen sich fr direkte Untersttzung an Opferbera- wichtigsten Ziele der Strategie der Bundesregierung. Ganz tungsstellen wenden. Diese untersttzen die Betroffenen allgemein heißt es dort, dass »im Sinne einer weiteren bei der rechtlichen, medizinischen und psychologischen Effzienzsteigerung Ansätze und Programme der Bun- Be- und Verarbeitung der erlittenen Taten und versuchen desregierung noch sichtbarer gemacht und intensiver so Prozesse sekundärer Viktimisierung zu verhindern. Zu verzahnt werden mssen, um Synergien zu schaffen und den Aufgaben der Opferberatungsstellen gehren auch die Lcken zu schließen.« Ein wichtiges Ziel ist, das koordi- Recherche, die Beobachtung und die Dokumentation der nierte Zusammenwirken der unterschiedlichen Akteure Vorfälle.936 in Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft zu untersttzen. Dazu gehrt auch, die Zusammenarbeit Befragungen des Kompetenzzentrums fr Prävention der zivilgesellschaftlichen Akteure aktiv zu frdern, wie und Empowerment (ZWST) sowie die fr diesen Bericht es beispielsweise im Programm »Zusammenhalt durch erstellte Studie zu → Jdischen Perspektiven zeigen einen Teilhabe« des Bundesministeriums des Innern oder in den hohen Bedarf seitens der jdischen Bevlkerung an »Partnerschaften fr Demokratie« in »Demokratie leben!« verlässlichen Beratungs- und Untersttzungsangeboten erfolgt.934 dieser Art. Die bestehenden Beratungsangebote sind bei Jdinnen und Juden sowie jdischen Institutionen jedoch Konkrete Foren des Erfahrungsaustauschs, die von der wenig bekannt oder werden aus anderen Grnden nur sel- Bundesregierung in den letzten Jahren initiiert wurden, ten kontaktiert. Daraus resultiert auch das hohe Dunkel- sind etwa die Trägerkonferenzen und Arbeitsgruppen feld im Bereich antisemitischer Gewalt- und → Straftaten. der Bundesprogramme, das Forum gegen Rassismus Gleichzeitig gibt es umgekehrt wenig Erfahrung seitens (Bundesministerium des Innern), die Vernetzung und der der Beratungsstellen im Umgang mit Antisemitismus. Austausch im Rahmen der Arbeit des Bndnisses fr Tragfähige Kooperationen zwischen den Beratungsstellen Demokratie und Toleranz (Bundesministerium des Innern/ und lokalen jdischen Institutionen existieren kaum. Eine Bundesministerium der Justiz und fr Verbraucherschutz) wichtige Erweiterung der Antisemitismusprävention stellt und vergleichbare Netzwerke auf Landesebene. Trotzdem daher die Schaffung und Etablierung von spezifschen muss festgehalten werden, dass es auch weiterhin keine Beratungs- und Empowerment-Angeboten fr von Anti- dem Vorbild der beim Berliner American Jewish Committee semitismus Betroffene dar. Außerdem sollte eine engere (AJC) angesiedelten Taskforce Education on Antisemitism935 Zusammenarbeit von jdischen Organisationen mit auf Bundesebene gibt, wie schon im Bericht des ersten bestehenden Beratungsstrukturen initiiert und gefrdert Expertenkreises gefordert. Außerdem fehlt es an Struk- werden. turen, um die erprobten Ansätze von Modellprojekten in regelgefrderte Formen zu berfhren oder die Wech- Beispielhaft fndet diese Zusammenarbeit ab 2017 zwi- selwirkung zwischen einzelnen Phänomenbereichen zu schen dem Kompetenzzentrum fr Prävention und Empo- errtern, um daraus Schlussfolgerungen fr die Präventi- werment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden e. V. (ZWST) onsarbeit zu ziehen. Fr Ersteres bildet der oben beschrie- und der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus bene vom BMFSFJ initiierte Bund-Länder-Dialog einen Berlin (RIAS) sowie dem Verein fr demokratische Kultur in ersten wichtigen Impuls, der aus Sicht des UEA weiterver- Berlin e. V. (VDK) statt. Ziel dieser Kooperation ist es nicht folgt werden sollte. nur, das Monitoring zu verbessern, sondern auch Bera- tungs- und Untersttzungsstrukturen zu schaffen, die bei Jdinnen und Juden in Berlin und perspektivisch bundes- 11.6.6 Opferberatung in Zusammenarbeit weit grßeres Vertrauen und Akzeptanz genießen.937 mit jdischen Organisationen

Durch die Frderung zahlreicher Bundes- und Landes- programme sind in den vergangenen Jahren Netzwerke entstanden, die mittlerweile eine Vor-Ort-Beratung in

933 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen, s. 82. 936 Die Bundesregierung, strategie der Bundesregierung, s. 23. 934 Die Bundesregierung, strategie der Bundesregierung, s. 9. 937 siehe gemeinsame Presseerklärung zwst und rIas (vdk) vom 29.9.2016, 935 http://www.ajcgermany.org/site/c.fklsJcMUKth/b.1722115/k.ac56/ http://www.zwst.org/cms/documents/520/de_De/16-09-27%20PM_zwst_ Bildungsprogramme.htm (eingesehen 27.11.2016). rIas_aktuell.pdf (eingesehen 26.11.2016).

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11.7 Qualitätsmerkmale herauszufnden, ob sich bei Teilnehmenden von Projek- pädagogischer Maßnahmen ten Veränderungen in ihrer Haltung gegenber Jdinnen und Juden sowie Antisemitismus erkennen lassen bzw. gegen antisemitismus – wie die Selbstwahrnehmungen von Teilnehmenden in zentrale Befunde der dieser Frage sind. Dabei wurde auch die Bestärkung einer Projektevaluation von socius938 bereits bestehenden Haltung als »Veränderung« gewertet. Evaluationsinstrumente bildeten Dokumentenanalysen, Befragungen von Projektverantwortlichen, -durchfhren- Der UEA hat die Socius Organisationsberatung damit den und -teilnehmenden sowie passive Beobachtungen beauftragt, eine Evaluation fr sechs ausgewählte Bil- bei vier Projekten und hier z.T. bei mehreren Maßnahmen dungsprojekte im Feld der Antisemitismusprävention pro Projekt. durchzufhren. Ziel der Evaluation war die »Identifzie- rung von konkreten ›best practice‹ Ansätzen und Metho- Zwei relevante Befunde ergaben sich schon während der den in der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus im Projektrecherche:940 Rahmen historischer und politischer Bildungsarbeit«. Dieses Evaluationsziel basierte auf der Feststellung des 1) Außerhalb spezieller ffentlicher Frderprogramme UEA, dass zwar viele entsprechende Ansätze, Projekte und konnten kaum Projekte recherchiert werden, die sich Programme in der schulischen und außerschulischen mit aktuellem Antisemitismus befassen und nicht Bildungsarbeit sowie der Erwachsenenbildung vorliegen, schwerpunktmäßig historischen Antisemitismus jedoch nur wenig ber die Qualität der Projekte bekannt bearbeiten. Das Thema, so erläuterten einige Befragte, ist. Um dem Auftrag des Deutschen Bundestages gerecht werde nur wenig nachgefragt, v.a. dann nicht, wenn es werden zu knnen und sinnvolle Forderungen fr den nicht offensiv mit anderen Themen wie v.a. Rassismus Bereich der Antisemitismusprävention zu stellen, war es verknpft wird.941 notwendig, bestehende Projekte und ihre Vorgehensweise zu evaluieren. Die Projekte sollten aus den Bereichen (1) 2) Bei den Projektdurchfhrenden und -trägern (mit Sport, (2) Kirche, (3) offene Jugendarbeit, (4) Schule, (5) Ausnahme des Bereichs Sport) bestand eine Scheu, Verwaltung und (6) Verbände stammen.939 Zudem sollten sich evaluieren zu lassen. Grnde hierfr waren laut die Projekte sich mit aktuellen Ausprägungen des Anti- Gesprächspartnerinnen und -partnern: (a) ein ungns- semitismus befassen und keine »Einmalaktionen« sein, tiger Zeitpunkt im jeweiligen Projektverlauf, (b) keine sondern die durchfhrenden Einrichtungen und Träge- Kapazitäten fr den zusätzlichen Aufwand durch eine rorganisationen sollten Erfahrung und Kompetenzen in externe Evaluation, (c) schlechte Erfahrungen mit der Beschäftigung mit Antisemitismus haben. Bei den Evaluationen, (d) Befrchtungen (trotz gegenteiliger auszuwählenden Projekten musste es sich nicht zwangs- Versicherungen und Zusicherung von Anonymisie- läufg um »best-practice-Beispiele« handeln. rung), dass sich kritische Ergebnisse auf weitere Pro- jektbeantragungen negativ auswirken knnten und (e) In Abstimmung mit dem Auftraggeber wurden zwi- Befrchtungen, etwas falsch zu machen und sich Ärger schen Frhjahr und Herbst 2016 sechs Projekte aus den einzuhandeln. Insbesondere der letzte Punkt macht Bereichen Schule, Sport, Träger mit religisen Wurzeln, deutlich, dass die Bearbeitung des Themas aktueller Jugend, Fachkräfte verschiedener Bereiche und »Sonstige« Antisemitismus als besonders sensibel eingeschätzt evaluiert, die in weiten Teilen ber die Frderung durch wird. spezifsche Bundes- oder Landesprogramme initiiert bzw. gesttzt wurden. Es handelte sich um Bildungsträger mit Im Folgenden werden die zentralen Evaluationsergebnisse langjährigen Felderfahrungen und um laufende oder vorgestellt, um anschließend Qualitätsmerkmale fr päda- regelmäßig wiederholte Maßnahmen, die auf mindes- gogische Maßnahmen im Bereich der Antisemitismusprä- tens zwei Jahre angelegt sind. Die Maßnahmen wurden vention zu benennen, insbesondere im Kontext der Fort- in sieben Bundesländern in Ost- und Westdeutschland und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte. umgesetzt. Das weitergehende Ziel der Evaluation war

11.7.1 Erschließung/Gewinnung von Zielgruppen 938 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen. 939 Die oben genannten Projekt-auswahlkriterien ließen sich laut abschluss- Die von Socius befragten Projektbeteiligten waren bericht nicht in aller Konsequenz umsetzen: Kriterium verbände: hier konnte sich darin einig, dass der aktuelle Antisemitismus von trotz intensiver recherche kein entsprechendes Projekt/keine Maßnahme iden- tifziert werden. auch das Kriterium »Kirche« (verstanden als evangelische oder Katholische Kirche) konnte nicht wie geplant erfllt werden. stattdessen wurde ein anderer träger mit religisen hintergrnden fr die Mitarbeit gewonnen. 940 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen, s. 11. Das Kriterium »verwaltung« konnte ebenfalls so nicht umgesetzt werden und wurde ersetzt durch das Kriterium »Fachkräfte verschiedener Bereiche«. 941 Die Projekt-recherchephase erfolgte im Frhjahr 2016.

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großer Relevanz ist: »latent dauerhaft vorhanden, sich fhren eine intensive Theoriediskussion und leiten ihre in verschiedenen Facetten zeigend und weiterhin ein Praxis aus theoretischen Einordnungen und Forschungen Aggressions-Potenzial aufweisend, das, ggf. ausgelst ab. »Diese Einordnungen reichen von der Kritischen The- durch gesellschaftliche Entwicklungen oder Ereignisse, orie bis zur Psychoanalyse, von individual-biografschen bedrohlich anwachsen knne«. Das Thema spiele im Ansätzen bis hin zur historisch-politischen Refexion ber gesellschaftlichen Raum jedoch kaum eine Rolle und gesellschaftliche Prozesse und Entwicklungen. Überwie- werde entsprechend nur wenig nachgefragt. Im Moment gend alle Projekte beziehen die Betroffenen-Perspektive befasse sich die Gesellschaft mehr mit anderen Fragen, z.B. ein.«944 Rechtspopulismus, der Situation der Gefchteten und/ oder Untersttzung fr die Helferinnen und Helfer.942 Die meisten der evaluierten Projekte bearbeiten den aktu- ellen Antisemitismus im Kontext anderer Phänomene der Die von Socius evaluierten Bildungsprojekte erarbeiten GMF, betonen aber zugleich die Spezifk des Antisemitis- verschiedene Strategien, um ihre Zielgruppen zu errei- mus als eigenständiges und besonderes Phänomen in der chen. Sie sprechen unterschiedliche Personengruppen deutschen Geschichte. Auch die verschiedenen Erschei- persnlich an – Jugendliche bis hin zu berufstätigen nungsformen, etwa sekundärer oder israelbezogener Erwachsenen – oder bekommen diese ber Schulen Antisemitismus, werden in die Überlegungen der Projekte und andere Institutionen vermittelt. Genannt werden einbezogen. Einige wenige Befragte formulierten ein auch soziale Netzwerke wie Facebook und in Einzelfällen Unbehagen: »Sie sehen darin die Gefahr einer Relativie- Entscheidungsträgerinnen und -träger in Institutionen. rung, wenn Antisemitismus auf eine Ebene gestellt wird Schulen oder Institutionen als feste Kooperationspartner mit anderen gruppenbezogenen Diskriminierungsformen zu gewinnen, so berichteten mehrere Befragte, sei schwie- wie beispielsweise Diskriminierung von bergewichti- rig bzw. langwieriger als geplant. gen Menschen.«945 Socius stellt fest, dass die von ihnen evaluierten Projekte an diesem Punkt noch im Stadium der Entwicklung und Erprobung sind. »Werden die Ver- 11.7.2 Selbstrefexion als Ziel bindungen mit GMF innerhalb einer Einzelveranstaltung pädagogischer Maßnahmen bearbeitet, erhht sich die Komplexität zusätzlich allein ber die inhaltliche Stoffflle – auch wenn die Maßnah- Die von Socius befragten Projekte messen der Selbstrefe- men mehrtägig sind.« Hier sieht Socius das Problem einer xionsfähigkeit als Voraussetzung fr eine gelingende Bil- mglichen Überforderung insbesondere von Jugendli- dungsarbeit eine hohe Bedeutung zu. Ihrer Meinung nach chen.946 sei eine hohe Bereitschaft zu ständiger Selbstrefexion eine Grundvoraussetzung fr die Arbeit auf mehreren Ebenen. Eine »automatische« Übertragung der Erkenntnisse von Sie sei wichtig, um sich selbst zu hinterfragen und von einem Phänomen der GMF auf ein anderes funktioniert anderen hinterfragen zu lassen, um das eigene Handeln nicht, so die Erfahrung aus einzelnen Projekten, besonders in schwierigen Situationen analysieren zu knnen und, nicht im Rahmen von Kurzzeitpädagogik.947 Eine der im schließlich sei sie Grundlage fr die Bereitschaft, sich stän- Rahmen der Evaluation befragte Person erklärte in diesem dig hierzu weiterzubilden. Die Befragten befrworteten Zusammenhang, speziell der Transfer anderer Diskrimi- die Selbstrefexion als Voraussetzung zur Auseinander- nierungsmechanismen und -erfahrungen auf Antisemi- setzung mit den eigenen Vorurteilen (»wir reproduzieren tismus funktioniere nicht. Andere Projekte verweisen doch auch!«).943 Entsprechend soll den Teilnehmenden auf gegenteilige Erfahrungen und unterstreichen die von Bildungsveranstaltungen im Rahmen der pädagogi- Bedeutung dieser Verknpfung fr ihre Praxis, machen schen Maßnahmen die Selbstrefexion ermglicht werden, jedoch darauf aufmerksam, dass diese einer durchdachten um tradierte antisemitische Bilder und Positionen zu Kontextualisierung bedarf. erkennen und ihr Weitergabe zu unterbrechen. Eine weitere Herausforderung fr Projektträger bei der Konzeption und Durchfhrung von Fort- und Weiterbil- 11.7.3 Theoretische Auseinandersetzung dungsmaßnahmen ist das unterschiedliche Verständnis mit Antisemitismus von aktuellem Antisemitismus (→ Defnition). Es existiert

Die evaluierten Projekte verfgen ber weitgehend 944 ebenda. schlssige theoretische Konzepte, einige mit mehr, andere mit weniger experimentellen Elementen. Alle Projekte 945 ebenda. 946 ebenda, s. 44 ff. 947 eine vergleichbare einschätzung formulierte anne Goldenbogen auf nachfrage im rahmen der tagung »nicht jdisch noch griechisch«. rassismus- 942 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen, s. 8. kritische Perspektiven auf selbstbilder und abgrenzungsmuster. evangelische 943 ebenda, s. 44. akademie zu Berlin, schwanenwerder, 30.9.–2.10.2016.

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keine einheitliche Defnition von Antisemitismus, die auf 11.7.4 Vielfalt an pädagogischen alle Situationen und Projekte bertragbar wäre. Manche Ansätzen/Methoden Projekte setzen sich mit Theorien auseinander und bauen fr sich ein Defnitionskonstrukt, das ihren Bedrfnissen Die pädagogischen Ansätze sind laut Evaluationsbericht entspricht. Andere Projekte folgen der EUMC »Working ähnlich vielfältig wie die theoretischen Bezugnahmen. Defnition«. »Die meisten Projekte entwickeln ein Ver- Sie entstammen der historisch-politischen Bildung, der ständnis von Antisemitismus, das in den Teams ausge- Demokratieerziehung, der Antidiskriminierungspädago- handelt und z.T. aufs Neue ausgehandelt wird. In einem gik, der antirassistischen und interkulturellen Pädagogik Fall wird eine Defnition entwickelt, die speziell fr ein sowie der Kreativpädagogik. Darber hinaus integrieren konkretes Projekt gelte.«948 sie auch Elemente klassischer Bildung, wie Konferenzen, Tagungen oder Museumsbesuche. Die Formate reichen In der Bildungspraxis der Projekte werden zahlreiche von Fortbildungen bis hin zu kollegialen Beratungen und antisemitische Stereotype und Konstruktionen theore- Supervision. »Damit praktizieren die Projekte gängige tisch und praktisch diskutiert. Den Projekten ist dabei das Vorgehensweisen der politischen Bildung, wonach der Dilemma bewusst, einerseits antisemitische Stereotype Sinn des Einsatzes von Übungen, Methoden und auch dekonstruieren zu wollen und sie dafr benennen zu von Filmen […] vor allem darin liegt, Abstrakteres leichter mssen, andererseits dabei v.a. Jugendlichen solche Ste- zugänglich zu gestalten und die Mglichkeit zu bieten, es reotypen berhaupt erst zu vermitteln. In der Konsequenz sinnlich zu erfahren.«952 benennen manche Projekte von sich aus Stereotype, die sie als relevant betrachten, während andere nur diejenigen Auf die Frage nach bevorzugt eingesetzten Methoden aufgreifen, die aus den Zielgruppen heraus formuliert ergeben sich aus der Evaluation folgende Ergebnisse: werden. º Kommunikatives und dialogisches Lernen Eine weitere theoretische Diskussion, die fr die Projekte Selbstrefexion, Diskussionen und kollegialen Aus- wichtig ist, ist die Frage, wie Verbindungslinien zwischen tausch; gelenkte oder offene Diskussionen; aktive dem historischen und dem aktuellen Antisemitismus Einbeziehung der Teilnehmenden; spielerische Formen, sinnvoll hergestellt werden knnen. Angesichts der Erfahrungsaustausch; theoretischer Input. Fachdiskussion der letzten Jahre kann davon ausgegangen werden, dass eine sogenannte Holocaust Education949 als º Arbeit mit Beispielen, Medien, Zitaten und Bild- alleiniges Mittel nicht hinreichend gegen den gegen- material wärtigen Antisemitismus immunisiert,950 dass aber eine Kurze Inputs als Teaser oder am Ende zusammenfas- Sensibilisierung fr den gegenwärtigen Antisemitismus send. unter Ausklammerung des historischen Lernens ebenfalls nicht ausreichend ist. In der Evaluation zeigt sich, dass ein º Lebensweltansatz historischer Rckbezug erforderlich ist, um die Tradierun- Workshops Schreiben; Fotografe; Referate; Museums- gen des Nationalsozialismus und die Nachwirkungen der besuch, die klassischen Bildungsansätze. nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden verstehen zu knnen: »Ein eindeuti- º Lebensweltbezug ges Ergebnis der Evaluation lautet, dass der aktuelle Anti- Kreativmethoden, Arbeit mit Eigen- und Fremdbiogra- semitismus in unserer Gesellschaft nicht ohne Rckbezug fen, Straßeninterviews und Spurensuchen, theater- und auf die historischen Hintergrnde sinnvoll bearbeitet begegnungspädagogische Elemente; Zeitstrahl; Übung werden kann. Die von uns untersuchten Projekte experi- zu Verschwrungstheorien; Expertengespräche, Inter- mentieren hier und versuchen einen Weg zu fnden, den net-Recherchen; Einbindung lokaler und regionaler historischen Part so zu gestalten, dass er fr die Zielgrup- Partner aus dem sozialen, kulturellen und religisen pen nachvollziehbar ist, der Schwerpunkt weiterhin auf Bereich. der Bearbeitung des aktuellen Antisemitismus liegt und die Zielgruppen nicht angesichts der auch damit verbun- º Sozialbertragungsanalyse denen Stoffflle berfordert werden.«951 Form von Aufstellung; Gespräch; innerer und äußerer Kreis; Zitate von Fachkräften (z.B. von Guides in jdi- schen Museen ber Aussagen von Besucherinnen und 948 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen. Besuchern); Simulationen; Arbeit mit dem Resonanz- 949 Da dieser Begriff inzwischen aus guten Grnden auch problematisiert raum der Gruppe. wird, sprechen immer mehr einrichtungen von »teaching and learning about the holocaust«. 950 Bundesministerium des Innern (hrsg.), Bericht des ersten Uea, s. 156 und 178. 951 socius, zwischenbericht, 2016. 952 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen, s. 48.

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º Perspektivwechsel sind, um Erfahrungen nachzuvollziehen, die sie selbst Perspektive der Betroffenen einbeziehen; Interviews; nicht gemacht haben. Ein Projekt teilte diese Einschätzung Arbeit mit Bildern und Karikaturen. zwar grundsätzlich, erläuterte aber, beim Thema Antise- mitismus doch eine gewisse Zurckhaltung gegenber Unterschiede in den Ansätzen zeigten sich in der Evalua- Perspektivwechseln zu pfegen, mit der Begrndung: »Ich tion insbesondere auf der Ebene von Prozess- und Ergeb- weiß gar nicht, was Juden und Jdinnen alles mit sich nisorientierung. Hier legen die Projekte unterschiedliche herumschleppen, weil ich da halt gewisse Erfahrungen Schwerpunkte, auch je nach Setting der Seminare und nicht gemacht habe, auch familiengeschichtlich und ganz Zielgruppe. Bei den Zielgruppen junge Erwachsene und allgemein.«956 Rollenspiele werden hingegen fast vollstän- Erwachsene liegt ein stärkeres Gewicht auf der Prozessori- dig vermieden. Es gehe weniger darum, »aus Empathie entierung als bei der Zielgruppe Jugendliche. zu Jd*innen heraus zu agieren, sondern Antisemitismus als Phänomen z.B. der vermeintlichen Krisenbewältigung Laut Socius versuchen alle Projekte, an der Lebenswelt oder aufgrund von psychologischen Momenten, wie sie im der Zielgruppen anzuknpfen, jedoch sei das »Thema sekundären Antisemitismus zu fnden sind, zu verstehen. Antisemitismus, so äußerten sich mehrere Befragte, […] fr Und sich dagegen zu wenden. Wir wollen so verhindern, viele Menschen, insbesondere Jugendliche, häufg abstrakt, dass ber Juden als die anderen gesprochen wird […], im da sie keine Jdinnen oder Juden kennen und bis zum Zentrum sollen die antisemitischen Akteure von gestern Seminar oft wenig bewusste Berhrung mit dem Thema und heute stehen.« Hier wird die oben formulierte Ziel- hatten. Auch deshalb sei ein Lebensweltbezug oftmals stellung Empathiegewinnung relativiert. nicht so einfach herzustellen.«953 Die Ebene der Diskriminierungserfahrungen spielte hier Konzeptionelle Unterschiede zeigten sich auch in der auch eine wichtige Rolle. In einem Projekt, das vornehm- Gewichtung der Arbeit mit dem Themenbereich Emo- lich mit freiwilligen Zielgruppen arbeitet, werden solche tionen. Antisemitismus wird emotional tradiert und Erfahrungen als Querschnittsthema begriffen und explizit »Menschen in der zweiten, dritten und sogar vierten bearbeitet. Ein anderes Projekt hat eine zurckhaltende Generation [knnen] ber ihre Vorfahren in die Gefhle bis kritische Position dazu, insbesondere im Rahmen des Antisemitismus eingebunden sein«.954 Danach ist schulischer Settings. Ein geschtzter Rahmen sei hier, v.a. Antisemitismus ein »emotionsgeschichtliches Problem« bei Maßnahmen mit geschlossenen Klassenverbänden, oft und sowohl in Familiengedächtnissen als auch im sozi- nicht gegeben. Die Gefahr, dass solche ffentlich geäu- alen Gedächtnis einer Gesellschaft verankert. »Um diese ßerten Erfahrungen auch destruktive Reaktionen und ›Gefhlserbschaften‹ konstruktiv bearbeiten zu knnen, damit womglich weitere Verletzungen hervorrufen, sei msse die Bildungspraxis neben Auflärung und Wissens- zu groß. Bei (freiwilligen) Erwachsenenseminaren gebe es vermittlung solche Gefhle und ihre Funktionen einbezie- fr solche Bearbeitungen andere Voraussetzungen, die ein hen, individual-biografsch sowie als historisch-politische solches Vorgehen ermglichen, so der Befund. Refexion ber Gesellschaft.«955 Welches Gewicht Emotionen in der jeweiligen konkreten Bildungsmaßnahme einnehmen, hängt von mehreren 11.7.5 Stellenwert von Austausch, Perspektiv- Faktoren ab: (1) Inhaltsebene, geplant: bewusste Themati- wechsel, Diskriminierungserfahrungen von sierung von Emotionen als Teil des Bildungskonzepts und Teilnehmenden und Umgang mit Emotionen der Auseinandersetzung mit der Thematik. (2) Methodi- sche Ebene, geplant: Einsatz von Methoden, die Emotio- Der Austausch der Teilnehmenden mit den Teamerinnen nen ansprechen mit dem Ziel, Motivation und Lerneffekte und Teamern, aber v.a. untereinander, wurde von allen zu befrdern. (3) Reaktionen, ungeplant bzw. abhängig von Projekten als wesentlich fr das Gelingen der Vermitt- Gruppenzusammensetzungen, -dynamiken und in der lungsziele eingeschätzt. Auch der Perspektivwechsel wird Gruppe vorhandenen Erfahrungen und Haltungen. Alle von allen Projekten als wichtiges zielfhrendes Element drei Ebenen kommen in der Bildungspraxis der Projekte der pädagogischen Umsetzung betrachtet. Ziel dabei sei es, vor, die Ebenen (1) und (2) in je unterschiedlichem Umfang formulierte ein Interviewpartner, die Empathieentwick- bzw. unterschiedlicher Gewichtung, je nach Konzept. lung zu frdern, sodass sich die Teilnehmenden in die Per- spektiven hineinversetzen knnen, die nicht ihre eigenen Wie oft und intensiv diese Zugänge ausprobiert und implementiert werden, hängt von der Qualifzierung der Durchfhrungen sowie vom Setting und Kontext der 953 ebenda, s. 48 Durchfhrung ab. 954 Marina chernivsky, vortrag am 19.11.2015 beim Fachaustausch »aktuel- le Formen des antisemitismus« des Bundesprogramms »Demokratie leben!« in Berlin. socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen, s. 50. 955 ebenda. 956 socius e.G., evaluation von Präventionsmaßnahmen, s. 38.

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11.7.6 Freiwilligkeit der Teilnahme heterogen zusammengesetzt. Das hängt u.a. von dem an Bildungsveranstaltungen vorhandenen Pool mglicher Teamerinnen und Teamer zum Antisemitismus ab: In Großstädten, zumal wenn Hochschulen existieren, ist dieser Pool wesentlich grßer als in mittelgroßen oder Die Frage der Freiwilligkeit der Teilnahme bleibt eine kleinen Städten. Und es ist nochmal schwieriger, quali- Herausforderung fr die Umsetzung von Fort- und fzierte Honorarkräfte zu fnden, wenn weite ländliche Weiterbildungsmaßnahmen, sie stellt die außerschulische Räume abgedeckt werden sollen.957 Bildungsarbeit vor Herausforderungen. Projekte, die sich im Bereich der Erwachsenenbildung verorten, setzen daher eher auf eine freiwillige Teilnahme. Auch wenn die 11.7.8 Bercksichtigung heterogener Lernräume Freiwilligkeit der Teilnahme ein wichtiges Qualitätskrite- rium darstellt, stellt sich die Frage, ob es gleichzeitig nicht Die Bercksichtigung heterogener Lernräume, unter- sinnvoll wäre, durch eine vom Arbeitgeber – zum Beispiel schiedlicher Ausgangsbedingungen und Motivationen ist Schule – verordnete Maßnahme auch diejenigen zu errei- eine zentrale Voraussetzung fr das Gelingen der Bil- chen, die sich sonst fr eine solche Veranstaltung nicht dungsprozesse. Die ganzheitliche Prävention – bezogen anmelden wrden. Besonders beim Thema Antisemitis- auf Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen – kann mus kann die Motivation fr die Teilnahme sehr unter- weitreichende Wirkungen entfalten und nicht nur nach schiedlich ausfallen und mehrdeutig sein. So kann das innen, sondern auch nach außen Multiplikationsef- Interesse geweckt und die Motivation gesteigert werden, fekte erzielen. Aus dem Evaluationsbericht von Socius sich mit dem Thema nach der Maßnahme zu beschäfti- geht beispielsweise hervor, dass die Projekte auf ihre gen. Außerdem hängt es von Projektarten ab: ein Begeg- Umgebung geplant wie auch ungeplant stark einwirken nungsprojekt sollte beispielsweise nur auf freiwilliger (knnen): »Einige Projekte gehen mit ihren Produkten in Basis erfolgen. Allerdings bleibt anzumerken, dass beim Teilffentlichkeiten (schulinterne Präsentationen). Andere Thema Antisemitismus auch eine freiwillige Teilnahme laden allgemein alle Interessierten zu Veranstaltungen ein nicht davor schtzt, dass unrefektierte Haltungen und gar (Produktpräsentationen, Informationsveranstaltungen). Konfrontationen auftreten. Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Maßnahmen enga- gieren sich anschließend zivilgesellschaftlich in ihrem Wohnumfeld […] und wirken damit in die Stadt hinein. 11.7.7 Zusammensetzung der Andere treffen sich nach Ende der Maßnahme regelmä- durchfhrenden Teams ßig zur Refexion. Ein Projekt entwirft ein Produkt, das dauerhaft im ffentlichen Raum installiert wird. Und viele In allen Projekten sind die Teamzusammensetzungen Projekte planen methodische Handreichungen oder aus- vielfältig, aber in fast allen Fällen bernehmen nahezu wertende Broschren, die der allgemeinen Öffentlichkeit ausschließlich freiberufiche Honorarkräfte die Semi- zur Verfgung gestellt werden sollen.«958 narleitung. Die Teams selber sind mal mehr, mal weniger

957 ebenda, s. 50 f. 958 ebenda, s. 34.

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Handlungsempfehlungen – Prävention und Intervention Empfehlungen zur Schaffung besserer Rahmenbedingungen fr die Prävention Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt …

º … die Arbeit der interministeriellen Arbeitsgruppe zur Schaffung einer ressortbergreifenden Gesamtstrategie zur Extremismusbekämpfung und Demokratiefrderung ber die Legislaturperiode hinaus weiter zu fhren unter Einbe- zug aller fr den gegenwärtigen Antisemitismus relevanten Ressorts, insbesondere auch dem BMJV, dem BMBF und dem Auswärtigen Amt. Der gegenwärtige antisemitismus muss im nationalen aktionsplan eine eigenständige erwähnung fnden. Das Bundes- programm »Demokratie leben!« allein reicht nicht aus, um antisemitismus auf allen ebenen zu begegnen.

º … den Ausbau und die Frderung der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und nicht-staatlichen Organi- sationen, um das koordinierte Zusammenwirken der unterschiedlichen Akteure in Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft nachhaltig zu untersttzen. Die durch das Bundesprogramm »Demokratie leben!« initiierten strukturen (landes-Demokratiezentren, Partnerschaf- ten fr Demokratie u. a.) sollten antisemitismus unter Bercksichtigung seiner unterschiedlichen erscheinungsformen stärker in ihrer arbeit bercksichtigen.

º … die nachhaltige Frderung fester, langfristiger Kooperationen zwischen Regelinstitutionen – Schulen, Träger der Kinder- und Jugendhilfe, konfessionelle Träger, Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspfege, Jugend- und Sozia- lämter –, und spezialisierten Bildungsträgern. Die im rahmen der Bundesprogramme entstandenen strukturen knnen hier wichtige Bedingungen fr das Gelingen der Präventionsarbeit schaffen. Die zusammenarbeit zwischen Bund und ländern ist dabei unerlässlich.

º … den vielfältigen Bestand an pädagogischen Handlungsmglichkeiten inklusive praktisch-methodischer Vorschläge weiter auszubauen und kostenfrei zugänglich zu machen. Basis knnte die vielfalt-Mediathek »Bildungsmedien gegen rechtsextremismus, Menschenfeindlichkeit und Gewalt« des IDa e.v. und DGB Bildungswerkes bilden. Jedoch msste hier der themenbereich antisemitismus deutlich erweitert werden.

º … die institutionelle Frderung von Trägern/Zentren, die bestehende Ansätze evaluieren, im Hinblick auf ihre Wirk- samkeit bewerten, zugänglich machen und aktiv (und immer wieder neu) bewerben. als »vernetzungsknoten« knnten diese träger/zentren aktuelle Forschungen und evaluationen auswerten und die ergebnisse in die Praxis einspeisen. sie knnten ferner eigene evaluationen ber längere zeiträume durchfhren, eine Übersicht ber träger und Institutionen des arbeitsfeldes aktuell halten und neue trägerbergreifende Fortbildungen initiieren. Das Bundesprogramm »Demokratie leben!« (BMFsFJ) knnte hierfr entsprechende Mittel zur verfgung stellen.

Empfehlungen fr die Bildungsarbeit Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt …

º … den Bereich Prävention durch Bildung breiter zu verstehen und mit Intervention zusammen zu denken. Prävention sollte eine Kombination aus Bildung und Beratung sein. Dazu sind spezifsche Kompetenzen, interdisziplinäre Bnd- nisse und Kooperationen (bspw. mit Opferberatungsstellen) sowie eine engere Zusammenarbeit zwischen Schule, Jugendsozialarbeit, Jugendhilfe, Polizei und Justiz ntig. hier sind qualifzierte Fort- und weiterbildungsangebote fr erwachsene und Fachkräfte von besonderer Bedeutung. Der Bereich Intervention sollte zudem stärker in den Fokus gerckt werden. zusätzlich zur vorbeugung antisemitischer einstellungen sollten alltagserfahrungen mit antisemitismus bercksichtigt, Opferschutz gewährleistet und antisemiti- sche vorfälle konsequent bearbeitet werden.

º … die Antisemitismusprävention als ein eigenständiges (pädagogisches) Handlungsfeld auszubauen und stärker zu frdern. Dies betrifft sowohl die Forschung als auch die Praxis der schulischen wie auch außerschulischen Bildung und sozialar- beit und gilt v.a. fr die weiterentwicklung theoretischer und methodischer Grundlagen.

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º … eine stärkere Verzahnung von post-kolonialen, rassismuskritischen und antisemitismuskritischen Ansätzen mit dem Ziel der Weiterentwicklung einer interdisziplinären und differenzsensiblen Bildungsarbeit, die ber die konstru- ierten »Gruppen« der GMF hinaus geht (Intersektionalität). Das zusammendenken von antisemitismus und antimuslimischem rassismus kann insbesondere in der arbeit mit muslimisch sozialisierten zielgruppen mgliche stigmatisierungsängste und abwehrreaktionen verringern und damit die Bereitschaft erzeugen, sich kritisch mit antisemitismus auseinanderzusetzen. Die Bercksichtigung von wechselwir- kungen zwischen den verschiedenen Phänomenbereichen darf dabei nicht zur relativierung der spezifschen Beschaf- fenheit von antisemitismus fhren. vielmehr sollte die verzahnung das handlungsfeld bereichern, neue Impulse fr die fachliche und methodische weiterentwicklung setzen sowie die zusammenarbeit mit weiteren akteuren der politischen Bildung – beispielsweise mit muslimischen Bildungsprojekten – ausbauen und verstärken.

º … die Bearbeitung des gegenwärtigen Antisemitismus unter Bercksichtigung historischer Entwicklungslinien und Hintergrnde zu verfolgen. Der einbezug historischer Perspektiven sollte dabei ber eine auseinandersetzung mit nationalsozialismus und holocaust hinausgehen und auch die Folgen mit einbeziehen. Der expertenkreis empfehlt daher, Projekte zu frdern, die sich speziell dieser Fragestellung widmen und darauf bezogene ansätze erproben. Modellvorhaben dieser art mssten nicht nur ein Frderschwerpunkt des Bundesprogramms »Demokratie leben!« sein, sondern auch im rahmen anderer Programme – beispielsweise in der Gedenkstättenkonzeption der Bundesregierung (Beauftragte der Bundesre- gierung fr Kultur und Medien) – gefrdert werden.

º … Dialog- und Begegnungsarbeit im jdisch-muslimischen Kontext auszubauen und generell Kooperationen zwi- schen jdischen und nichtjdischen Bildungsträgern zu frdern. Begegnungs- und Dialogprojekte zwischen jdischen und muslimischen Partnern sollten nicht allein auf den paläs- tinensisch-israelischen Konfikt reduziert werden. stattdessen sollten sie um weitere aspekte, wie z.B. Identitätsfra- gen oder Diskriminierungserfahrungen erweitert werden. Fr die Bearbeitung des themas braucht es gegenseitiges vertrauen und professionelle pädagogische Begleitung (→ handlungsempfehlungen religion). es ist wichtig, dass die Partner sich auf augenhhe begegnen, die Beteiligten die Geschichte, Kultur, religion des Partners kennenlernen.

º … insbesondere Fort-, Weiter- und Ausbildungsangebote auszubauen und zu frdern, die sich der Fähigkeit zur (Selbst-)Refexion der pädagogischen Fachkräfte widmen. Diese hat eine hohe Bedeutung fr das Gelingen von antisemitismusprävention durch schulische und außerschulische Bildung. Organisierte selbstrefexion und refexion pädagogisch schwieriger situationen sollte teil der Qualitätssiche- rung sein und stärker gefrdert werden, etwa durch trägerinterne oder trägerbergreifende coachings oder supervisi- onsangebote fr die pädagogisch verantwortlichen.

Empfehlungen fr pädagogische Angebote und Handlungsfelder Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt …

º … die Kombination aus niedrigschwelligen Ansätzen und langfristigen pädagogischen Formaten. Um bei lehrkräften, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren ein Bewusstsein fr verschiedene (insbesondere auch israelbezogene) Facetten von antisemitismus zu stärken, Berhrungsängste abzubauen und die relevanz des antisemi- tismus zu verdeutlichen, knnen kurzfristig einsetzbare Interventionen gefrdert werden, die z.B. nur einen geringen zeitbedarf umfassen. Damit verbunden knnen weiterfhrende langfristige pädagogische angebote, die eine vertie- fende Beschäftigung mit dem thema antisemitismus ermglichen, beworben werden.

º … bliche Fortbildungsformate um weitere Formate – Fachberatung, kollegiale Fallanalysen oder Coaching-Ange- bote – zu ergänzen, um mglichst breite Zielgruppen zu erreichen.

º … Angebote zur Fort- und Weiterbildung von Lehr- und Fachkräften – hier auch der Polizei, Jugend(sozial)Arbeit, Verwaltung, Wissenschaft, Medien – stärker auszubauen und zu frdern. Die themenbezogenen schulungen drfen nicht ausschließlich projektbezogen, sondern mssen als teil der ausbildung in den regelgefrderten strukturen umgesetzt werden. auch hier gilt es, die verschiedenen Facetten von antisemitismus einzubeziehen.

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º … pädagogisch-präventive Ansätze mit Lebenswelt- und Sozialraumbezug als besonders wirksam zu frdern. verbindende elemente knnen zum Beispiel sport (insbesondere Fußball), Musik oder andere Formen der Freizeit- gestaltung sein. Bundesprogramme wie »Zusammenhalt durch Teilhabe« (BMI) gehen bereits in diese lebensbereiche hinein, indem sie die zusammenarbeit mit großen zivilgesellschaftlichen trägern wie der sportjugend, Feuerwehr oder hilfsorganisationen wie dem DrK frdern. Inhaltlich sollten die Programme allerdings noch stärker um das thema antisemitismus erweitert werden.

º … Moscheegemeinden und muslimische Träger fr die Arbeit gegen Antisemitismus zu gewinnen und gezielt Pro- jekte zu frdern, die konkrete Maßnahmen im Bereich der interkulturellen, interreligisen Begegnung- und Dialo- garbeit mit jdischen Partnern sowie Trägern politischer Bildung gegen Antisemitismus durchfhren. Dabei kann die einbeziehung muslimisch-sozialisierter Bildungsreferentinnen und -referenten von vorteil sein, da sie durch ihre Biografe gewisse Identifkationsmglichkeiten mit den adressaten bieten sowie durch ihre kulturelle nähe Fachkompetenzen zu Fragen des Islam mitbringen knnen.

º … Präventionsmaßnahmen gegen religisen Extremismus, insbesondere gegen salafstische Radikalisierung in Schu- len, Moscheegemeinden und Jugendhilfe, weiter zu entwickeln. erfolg versprechende Konzepte sollten in der Breite implementiert werden. Dabei geht es v.a. darum, gefährdete Jugendliche in der auseinandersetzung mit Diskriminierung, rassismus und antisemitismus zu stärken und ihnen wege der gesellschaftlichen Partizipation aufzuzeigen.

º …Bildungsangebote fr den schulischen und außerschulischen Bereich zu entwickeln, die eine kritische Auseinan- dersetzung mit nationalistischer und islamistischer Propaganda, insbesondere aus der Trkei, aber auch aus anderen Herkunftsländern, ermglichen.

º … der Kultusministerkonferenz, eine dringend erforderliche, fächerbergreifende Überarbeitung der Schulbcher zu initiieren. trotz wiederholter empfehlungen, u.a. der deutsch-israelischen schulbuchkommission, wird antisemitismus nach wie vor mehrheitlich und v.a. beschreibend im Kontext des Mittelalters und des nationalsozialismus behandelt. Damit ein verstärktes Bewusstsein fr die aktualität von antisemitischen Bildern und haltungen geschaffen werden kann, sollten im rahmen der Bund-länder-Kommission richtlinien erarbeitet werden, die auf länderebene verbindlichkeit bei der auseinandersetzung mit antisemitismus im schulischen Kontext schaffen.

º … fr den Bereich der Hochschulen und Universitäten die stärkere Einbeziehung des aktuellen Antisemitismus in die entsprechenden Rahmenpläne und Curricula. Die angebote sollten sich insbesondere an angehende lehrkräfte, erzieherinnen und erzieher, sozialpädagoginnen und sozialpädagogen und erwachsenenbildnerinnen und -bildner richten. Beispielhaft hierfr sind seminarreihen, die auch andere gesellschaftsrelevante themen ansprechen und antisemitismus explizit miteinbeziehen. Der Bezug zum jewei- ligen lern- und Berufsfeld kann durch selbstrefexion und Praxisanalysen hergestellt werden. Das Bundesministerium fr Bildung und Forschung sollte entsprechende Formate mit einem Frderprogramm initiieren.

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12 Beispiele

In dem Bericht des zweiten UEA wird deutlich, dass Praxis der Beschneidung jdischer und muslimischer Antisemitismus ein in nahezu allen gesellschaftlichen Jungen stelle eine strafare Krperverletzung dar, was eine Bereichen relevantes Problem ist, das sich nicht nur in Flut von Leserbriefen und Blogs auslste, in denen sich Form eines klassischen rassistischen Antisemitismus alte religise, aber auch sekundär-antisemitische Vorur- (→ Defnition) Bahn bricht, sondern sich auf vielfältige teile Bahn brachen. Im Fall des Antisemitismus im Fußball Weise artikuliert. Dabei stehen die Auseinandersetzungen haben wir es hingegen mit einem rechtsmotivierten, sehr mit Antisemitismus in den verschiedenen gesellschaftli- direkt und offen artikulierten Antisemitismus zu tun, der chen Bereichen meist nicht nebeneinander, sondern sind sich gleichermaßen gegen jdische wie nichtjdische eng miteinander verknpft. Dies zeigt sich nicht zuletzt Spieler, Fans und Vereine richtet. immer wieder in ffentlichen Debatten, in denen sich die verschiedenen Diskurse etwa aus dem Bereich der Medien, der Religion, der Politik usw. verbinden und aus je unterschiedlichen Positionen heraus Bezug nehmen auf 12.1 Die augstein-Debatte einzelne Themen, die auf verschiedene Weise Antisemi- tismus transportieren (Abb. 12.1). Um diese Verknpfung Bis zur Jahrtausendwende entzndeten sich ffentliche der Perspektiven deutlich zu machen und zu zeigen, wie Debatten ber Antisemitismus zumeist an Aussagen wichtig das Thema Antisemitismus auf vielen Ebenen des ber Juden im Kontext von Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Diskurses ist, werden hier exemplarisch der NS-Vergangenheit und deren Folgen (Wiedergutma- drei Beispiele fr ffentliche Auseinandersetzungen mit chung, Umgang mit der Erinnerung an die Verfolgung Antisemitismus vorgestellt: die Augstein-Debatte, die und Ermordung der Juden). Dabei war der antisemitische Beschneidungs-Debatte und die Debatten im Bereich Gehalt der inkriminierten Aussagen zumeist weniger »Fußball«. strittig als heute. Dies hat sich seitdem verändert, da nun zunehmend Stellungnahmen und Aktionen, die sich auf Die drei Beispiele decken verschiedene Erscheinungsfor- den Staat Israel und seine Politik beziehen, in den Vorder- men des aktuellen Antisemitismus ab: Ging es in der grund gerckt sind (Gaza-Flottille, Grass-Gedicht, anti- Augstein-Debatte um die Frage, ob es sich bei Publikatio- israelische Demonstrationen). Auch in der sogenannten nen Augsteins zur Politik Israels um einen israelbezoge- Augstein-Debatte wurden zwei zentrale Fragen der gegen- nen Antisemitismus von links handele, wurde in der wärtigen Diskurse ber Antisemitismus abgehandelt, Beschneidungsdebatte der Vorwurf erhoben, die religise nämlich (1) das Problem einer trennscharfen Abgrenzung

Abb. 12.1: Verknpfung verschiedener gesellschaftlicher Diskurse am Besipiel der Beschneidungsdebatte

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einer antisemitischen von einer nichtantisemitischen die USA und Deutschland erhebt,960 ein Textausschnitt Kritik an der Politik des Staates Israel (→ Defnition) sowie von Henryk M. Broder, der als angesehener Kolumnist (2) die Frage, ob als antisemitisch bewertete Aussagen Der Welt und als Antisemitismusexperte eingefhrt wird. einer Person ausreichend sind, um diese als Antisemiten Broder sollte hier offenbar als Kronzeuge dienen. In bezeichnen zu knnen. Im Kern geht es dabei also um ein diesem Textabschnitt wird zunächst darauf hingewiesen, Ringen darber, welche Aussagen und Handlungen heute dass Broder Augstein als »kleinen Streicher« eingestuft als antisemitisch gelten sollen, worber offenbar und habe, bevor ein direktes, (ins Englische bersetztes) Zitat gerade in Bezug auf Kritik an Israel kein Konsens besteht. Broders folgt: »Jakob Augstein ist kein Salon-Antisemit, er Aus diesem Grund gibt es Bemhungen auch auf inter- ist ein lupenreiner Antisemit […] ein Überzeugungstäter, nationaler Ebene, Übereinkunft ber eine »Antisemitis- der nur Dank [sic!] der Gnade der späten Geburt um die mus-Defnition« zu erreichen (→ Defnition). Die Klärung Gelegenheit gekommen ist, im Reichssicherheitshauptamt dieser Frage ist deshalb von so großer Bedeutung, weil Karriere zu machen. Das Zeug dazu hätte er.«961 Broder Anti-Antisemitismus Teil der bundesdeutschen »Staats- hatte diese Zeilen in Reaktion auf einen Kommentar doktrin« ist und antisemitische Äußerungen einen Bruch Augsteins zu dem Hetzvideo »Innocence of Muslims« der geltenden Sagbarkeitsregeln bedeuten. Die folgende geschrieben.962 Er warf Augstein vor, er habe in seinem Analyse der Augstein-Debatte zeichnet nach, welche der Kommentar nahegelegt, dass die israelische Regierung in zahlreichen Akteure, Journalisten, Vertreter jdischer Zusammenarbeit mit den US-Republikanern »die Sache Organisationen im In- und Ausland, Politiker, Verbände, Historiker und Sozialwissenschaftler, sich wie in dieser Frage positioniert haben. Einen Konsens hat die Debatte nicht stiften knnen.959 960 zitate der ttas-liste aus augsteins Kolumne auf spiegel Online: (1) »Mit der ganzen rckendeckung aus den Usa, wo ein Präsident sich vor den wahlen immer noch die Untersttzung der jdischen lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewältigung inzwischen eine militärische Kom- ponente hat, fhrt die regierung netanjahu die ganze welt am Gängelband 12.1.1 Der Konfiktanlass und erste eines anschwellenden Kriegsgesangs.«; (2) »›Die atommacht Israel gefährdet journalistische Stellungnahmen den ohnehin brchigen weltfrieden.‹ Dieser satz hat einen aufschrei ausgelst. weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein schriftsteller, ein nobel- preisträger, weil Gnter Grass ihn sagt. Darin liegt ein einschnitt. Dafr muss Die Augstein-Debatte wurde dadurch ausgelst, dass das man Grass danken. er hat es auf sich genommen, diesen satz fr uns alle aus- Simon Wiesenthal Center/Los Angeles (SWC) im Novem- zusprechen«, (3) »Israel wird von den islamischen Fundamentalisten in seiner nachbarschaft bedroht. aber die Juden haben ihre eigenen Fundamentalisten. ber 2012 fnf aus seiner Sicht israelfeindliche Aussagen sie heißen nur anders: Ultraorthodoxe oder haredim. Das ist keine kleine, zu Jakob Augsteins auf seine jährliche Rangliste der »Top vernachlässigende splittergruppe. zehn Prozent der sieben Millionen Israelis Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs« (TTAS) setzte. Unter zählen dazu. Benjamin netanjahu hat in seinem Kabinett Mitglieder gleich drei- er fundamentalistischer Parteien sitzen. Die gleichen werte? Diese leute sind der Überschrift »Infuential German Media Personali- aus dem gleichen holz geschnitzt wie ihre islamistischen Gegner. sie folgen ty´s Bigotry« wurde Augstein auf Platz neun dieser Liste dem Gesetz der rache.«; (4) »Das Feuer brennt in libyen, im sudan, im Jemen, in platziert. Darunter folgte, neben fnf unkommentierten ländern, die zu den ärmsten der welt gehren. aber die Brandstifter sitzen an- derswo. Die zornigen jungen Männer, die amerikanische – und neuerdings auch Zitaten Augsteins auf Spiegel Online, in denen er Vorwrfe deutsche – Flaggen verbrennen, sind ebenso Opfer wie die toten von Bengasi gegen die israelische Politik und die Untersttzung durch und sanaa. wem ntzt solche Gewalt? Immer nur den wahnsinnigen und den skrupellosen. Und dieses Mal auch – wie nebenbei – den Us-republikanern und der israelischen regierung.« (aus diesem deutschen Originaltext wurde hier eine sinnentstellend bersetzte Fassung: »always the insane and unscrupulous. and this time itʼs the Us-republicans and the Israeli government.«); (5) »Gaza ist ein Ort aus der endzeit des Menschlichen. 1,7 Millionen Menschen hausen da, zusammengepfercht auf 360 Quadratkilometern. Gaza ist ein Gefängnis. ein lager. Israel brtet sich dort seine eigenen Gegner aus.« 961 Dieses zitat stammt aus Broders Blog »achse des Guten«, einer von eini- gen autoren als rechtspopulistisch eingeschätzten Plattform, die auch der of- fenen hetze gegen Muslime und den Islam raum gibt (vgl. Marin Majica/Ulrike simon, Broder beleidigt augstein, in: Frankfurter rundschau, 18.9.2012). Broder hat sich am 12. Oktober fr den vergleich augsteins mit Julius streicher, dem herausgeber des ns-hetzblattes »Der strmer«, entschuldigt, sie aber inhalt- lich letztlich nicht zurckgenommen; http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ debatten/antisemitismus-vorwurf-gegen-augstein-broder-entschuldigt-sich- 12022867.html (eingesehen 12.10.2016). Diese entschuldigung war dem swc offenbar entgangen, als es das Broder-zitat verwendete, oder aber der Inhalt wurde durchaus weiterhin geteilt. so äußerte efraim zuroff, der Direktor des swc in Jerusalem, verständnis fr Broders streicher-vergleich und bezeich- nete augstein offen als antisemiten (vgl. Philipp Peyman engel, »›emprend und ekelhaft‹ efraim zuroff ber Gnter Grass, Jakob augstein und die top ten der schlimmsten antisemiten«, in: Der tagesspiegel, 3.1.2013, http://www. juedische-allgemeine.de/article/view/id/14867 (eingesehen 24. 10. 2016). 962 »Innocence of Muslims« ist der titel eines im september 2012 verffent- lichten Films, der wegen seines von vielen Muslimen als beleidigend empfunde- 959 aus Grnden der lesbarkeit und Übersichtlichkeit wurde bei dieser auf- nen Inhalts zum auslser von teilweise gewalttätigen Demonstrationen in einer zählung auf die explizite nennung der weiblichen Form verzichtet. reihe arabischer länder wurde.

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auf den Weg gebracht habe«.963 Broder hat im Laufe der zuträfen,968 er die Adressaten seiner Kritik genau benenne Debatte Anfang Januar 2013 in der Frankfurter Allgemei- und im Unterschied zu den anderen auf der TTAS-Liste nen Sonntagszeitung seine Kritik noch einmal bekräftigt, aufgefhrten Personen niemals die Juden in ihrer Gesamt- indem er erklärte: Das »Lupenreine an Augsteins Antise- heit dämonisiere. »Augstein hat weder in seinen Artikeln mitismus ist die absolute Eins-zu-Eins-Übertragung von im Freitag noch als Kolumnist von Spiegel Online Juden allem, was frher ber Juden gesagt wurde, auf Israel«.964 beleidigt oder den Staat Israel. Er hat fr keine Vernich- Er beschuldigte Augstein, der dem modernen Typus des tung plädiert und fr keine Vertreibung, aus seinen Texten Antisemiten entspreche, sogar der Wegbereitung eines spricht kein Hass und kein Ressentiment. Augstein nimmt neuen Holocaust. Daraufin bezeichnete Augstein Broder sich lediglich die Freiheit, die Regierung Netanjahu dafr als einen »Stalker«. Das Problem sei nur, dass »er spinnt. zu kritisieren, wofr sie alle Welt kritisiert«, wie Christian Und in diesem Fall hat das Spinnen einen Grad erreicht, Bommarius meinte.969 Während Augstein selbst das SWC wo der Spaß aufrt.«965 In vielen der direkt auf die TTAS- als eine wichtige und international anerkannte Institution Liste reagierenden Artikel wurde auch Henryk M. Broder wertete, die ihren Zielen allerdings durch die Aufnahme wegen seines beleidigenden Angriffs auf Augstein mehr seiner Texte schade, stellten andere das SWC als Teil der oder weniger scharf kritisiert und als Person abgewertet. »Israel-Lobby« infrage, kritisierten die Methoden des Es dominiert in dieser frhen Phase eine starke Fokussie- Rankings und verwiesen »die Geschichte […] ins weite rung der Debatte auf Augstein und Broder. Reich des Absurden«.970 Einige Journalisten sahen in der Aufnahme Augsteins in die Liste eine aggressive und In ihrer Analyse des Mediendiskurses zur Augstein-De- absichtliche Diffamierung seitens des SWC, um damit batte haben der Philologe Lukas Betzler und der Poli- einen Kritiker Israels mundtot zu machen, was etwa tikwissenschaftler Manuel Glittenberg vier Phasen der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, identifziert.966 Die frhen journalistischen Reaktionen Niels Minkmar, als einen schweren strategischen Fehler bilden demnach eine erste Phase der Debatte, in der die ansah.971 Einige Journalisten griffen den Vorwurf Aug- Frage nach der Berechtigung der Platzierung Augsteins steins auf, dass »jeder Kritiker Israels damit rechnen muss, auf der TTAS-Liste und die Frage, ob dieser als Antisemit als Antisemit beschimpft zu werden«, und kritisierten die zu bezeichnen sei, das Kernthema bildeten. Nach der infationäre Verwendung des Antisemitismusvorwurfs, Publikation der Liste im November 2012 und der Antwort die dazu diene, jegliche Kritik an Israel zu diffamieren und Augsteins »Überall Antisemiten«967 am 26. November den Sprechenden zu bedrohen.972 Einige Autoren wählten begann die publizistische Debatte Ende Dezember und sogar eine Selbstpositionierung als Antisemit, um sich mit hielt dann den Januar 2013 ber an. Ohne mit einem Wort Augstein zu solidarisieren. Wenn dessen Kritik an Israel auf die Liste des Simon Wiesenthal Centers einzugehen, antisemitisch sei, dann seien auch sie Antisemiten (Reine- wehrte sich Augstein in dem genannten Artikel mit dem cke973, Martenstein974). Argument, der Antisemitismusvorwurf werde infationär verwendet und dazu missbraucht, »Israels Besatzungspo- litik mit dem Antisemitismusvorwurf gegen jede Kritik in Schutz zu nehmen«. Seiner Ansicht nach muss »jeder 968 Frank Drieschner, Israel: wer hasst da wen? Das simon-wiesenthal-zen- Kritiker Israels damit rechnen, als Antisemit beschimpft trum diffamiert einen Israel-Kritiker, in: Die zeit, 3.1.2013, http://www.zeit. zu werden«, was den »wirklichen Judenfeinden« ntze de/2012/02/augstein-antisemitismus-vorwurf (eingesehen 25. 10. 2016). und Israel schade. In der Prestigepresse (Die Zeit, Frank- 969 christian Bommarius,antisemitismus. Broder diffamiertaugstein, in: Frank- furter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Der furter rundschau, 2.1.2013, http://www.fr-online.de/medien/antisemitismus- broder-diffamiert-augstein,1473342,21374630.html (eingesehen 25. 10. 2016); Spiegel, taz) erschienen Anfang Januar Artikel, in denen niels Minkmar, antisemitismus-vorwurf. eine offene Gesellschaft. Das si- Augstein vom Vorwurf des Antisemitismus freigesprochen mon-wiesenthal-center hat Jakob augstein als schlimmen antisemiten deklariert: Das ist unsinnig und die Begrndung lächerlich, in: Frankfurter allgemeine zei- wird, da seine Feststellungen »trivial« seien und durchaus tung, 1. 1. 2013, http:/www.faz.net/aktuell/feuilleton/antisemitismus-vorwurf- eine-offne-gesellschaft-12011369.html (eingesehen 25. 11. 2016). 970 stefan reinecke, Kommentar swc-Preis fr augstein. wir antisemi- 963 Majica/simon, Broder beleidigt augstein, interpretieren den text anders ten, in: taz, 3.1.2013, http://www.taz.de/!5076152 (eingesehen 25.10.2016); als Broder. Jan Fleischhauer, Der Fall augstein, in: spiegel Online, 6.1.2013, http://www. spiegel.de/politik/deutschland/antisemitismus-debatte-der-Fall-augstein-a- 964 zweite jdische Organisation kritisiert augstein, in: welt am sonntag, 875976.html (eingesehen 25. 10. 2010). 5. 1. 2013, https://www.welt.de/politik/deutschland/article112421766/zweite- juedische-Organisation-kritisiert-augstein.html (eingesehen 12. 10. 2016). 971 Minkmar, antisemitismus-vorwurf. 965 ebenda. 972 »Das swc betitelt Jakob augstein als antisemiten. Das Problem ist nicht der neue unsichtbare antisemitismus, sondern die entgrenzung des Begriffes.« 966 lukas Betzler/Manuel Glittenberg, antisemitismus im deutschen Medi- (reineke, wir antisemiten, in: taz, 3.1.2013); Driescher, Israel. endiskurs. eine analyse des Falls Jakob augstein, Baden-Baden 2015; die auto- ren nehmen in ihrem Buch eine diskurs- und textanalytische Untersuchung zum 973 reinecke, wir antisemiten. thema vor und stufen viele aussagen augsteins als antisemitisch ein. 974 harald Martenstein, nach vorwrfen gegen Jakob augstein. Ich will 967 spiegel Online, 26.11.2012, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ auch auf die antisemiten-liste!, in: Der tagesspiegel, 6.1.2013, http://www. kritik-an-israel-inflationaerer-gebrauch-des-antisemitismus-vorwurfs-a- tagesspiegel.de/meinung/nach-vorwuerfen-gegen-jakob-augstein-ich-will- 869280.html (eingesehen 25. 11. 2016) auch-auf-die-antisemiten-liste/7592230.html (eingesehen 25. 10. 2016).

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In dieser ersten Phase gab es kaum eine intensive inhalt- Kritik an der Politik Israels be. »Deshalb aus ihm einen liche Auseinandersetzung ber die Texte Augsteins, da Antisemiten schmieden zu wollen, geht vllig fehl und diese in der ffentlichen Debatte vielfach als »Israelkri- untersttzt den schleichenden Antisemitismus.«978 Auch tik« deutlich vom Antisemitismus abgegrenzt wurden. Julia Klckner, die stellvertretende Bundesvorsitzende Fr Betzler und Glittenberg zeigt die Argumentation der CDU, sah es als gutes Recht an, wenn »jemand in einer vieler Journalisten, die sich in dieser Phase äußerten, ein freien Gesellschaft Regierungen kritisiert«, und hielt es bestimmtes, enges Verständnis von Antisemitismus, in fr sehr gewagt, »wenn jemand Antisemitismus daraus dem die Verwendung antisemitischer Stereotype, Codes ableitet«.979 Beide folgen hier der Argumentation der Jour- und Chiffren nicht als Antisemitismus begriffen werde.975 nalisten, indem sie Augsteins Kritik an der Politik Israels Augsteins Texte werden als zwar sehr scharf, aber auf als berechtigt ansehen und im Gegenzug den Kritikern konkrete Ereignisse oder Aspekte der israelischen Politik Augsteins vorwerfen, mit ihren Angriffen Antisemitismus bezogen wahrgenommen, nicht aber als antisemitisch. zu begnstigen. Auch vonseiten des Deutschen Journalis- Die große Mehrheit der Journalisten sah den Antisemi- tenverbandes wurde Augstein gegen die Kritik des SWC in tismusvorwurf gegen Augstein als Person gerichtet und Schutz genommen. nicht gegen dessen Texte und nahm ihn in Schutz. Es gab aber einige wenige Ausnahmen: Clemens Vergin teilte die Vonseiten jdischer Organisationen kamen in die- seiner Meinung nach unkritische Verteidigung Augsteins ser Phase sehr unterschiedliche Stellungnahmen. Der nicht, sondern wertete dessen Texte als antisemitisch, ADL-Direktor Ken Jacobson urteilte in der Jerusalem da auch linke »Israelkritik« antisemitisch sein knne. Er Post, Augsteins Kommentar ber die jdische Kont- konstatierte bei Augstein einen »Juden- und Israelknacks« rolle der US-Außenpolitik »berschreite die Grenze zu und warf seinen Journalistenkollegen vor, »blind gegen- antisemitischen Verschwrungstheorien«. Er wisse aber ber Antisemitismus« zu sein. Vergin hielt dennoch ber Augstein zu wenig, »um ihn als Antisemiten zu die Platzierung Augsteins auf der TTAS-Liste fr nicht bezeichnen«.980 Auch Shimon Samuels, der Direktor fr gerechtfertigt und die Heranziehung Broders als Kronzeu- Internationale Beziehungen am SWC in Paris, erklärte gen seitens des SWC fr »keine gute Idee«.976 Auch Anetta in einem Interview mit dem Tagesspiegel vom 11. Januar Kahane vertrat etwas später die Position, »Israelkritik« 2013, Augstein habe den Bereich der legitimen Kritik an knne sehr wohl antisemitisch sein und Augsteins Texte Israel verlassen und argumentiere antisemitisch. Er bezog hätten die Schwelle zum Antisemitismus berschritten, sich dabei auf den sogenannten 3D-Test des ehemaligen da seine Darstellung israelischer Politik selten »giftfrei« israelischen Diasporaministers Natan Sharansky (→ Def- ausfele.977 nition) und die Defnitionen der Berliner Erklärung zum Antisemitismus der OSZE von 2004, ohne allerdings den antisemitischen Gehalt von Zitaten Augsteins konkret 12.1.2 Pro- und contra Stellungnahmen von deutlich zu machen.981 Vom Zentralrat der Juden meldeten Politikern, Wissenschaftlern und jdischen sich der Präsident und der Vizepräsident in der Debatte sowie nichtjdischen Organisationen zu Wort, die beide in Augstein keinen Antisemiten sehen wollten. Salomon Korn, der damalige Vizepräsident, nahm Auf die frhen journalistischen Reaktionen folgten in Augstein in einem Interview am 4. Januar 2013 gegen die einer zweiten Phase Stellungnahmen von Politikern, Vorwrfe des SWC in Schutz, dem er vorwarf, »die deut- Wissenschaftlern, vom Zentralrat der Juden in Deutschland, schen Verhältnisse nicht zu kennen« und sich zu einseitig von der Anti-Defamation League (ADL), vom Deutschen auf das Urteil eines Publizisten wie Broder verlassen zu Journalistenverband sowie vonseiten des SWC. Unterstt- zung fr Augstein kam von Politikern aus den beiden poli- tisch entgegengesetzten Lagern. Gregor Gysi (Die Linke) lobte Augstein als einen herausragenden und kritischen 978 zitirt nach: Gysi und Klckner verteidigen augstein gegen antisemi- Journalisten, der teils berechtigte, teils unberechtigte tismusvorwurf, in: spiegel Online, 3.1.2013, http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/gysi-und-kloeckner-verteidigen-augstein-gegen-antisemitismus- vorwurf-a-875610.html (eingesehen 24. 10. 2016). 979 ebenda. 975 Betzler/Glittenberg, antisemitismus im deutschen Mediendiskurs, 980 zweite jdische Organisation kritisiert augstein, in: welt am sonntag , s. 210 f. 5. 1. 2013, https://www.welt.de/politik/deutschland/article112421766/zweite- 976 clemens vergin,augsteins verteidiger sind auf dem linken auge blind, in: Die juedische-Organisation-kritisiert-augstein.html (eingesehen 12. 10. 2016); an- welt, 3. 1. 2013, https://www.google.de/search?q=clemens+vergin+augstein- tisemitismus-Debatte um augstein: »auch worte knnen tten«, in: Der ta- Debatte&ie=utf-8&oe=utf-8&aq=t&rls=org.mozilla:de:offcial&client=frefox- gesspiegel, 11. 1. 2013, http://www.tagesspiegel.de/meinung/antisemitismus- a&gfe_rd=cr&ei=YQt-v6zUOMnU8gfl4Ih4cg#q=clemens+wergin+augstein- debatte-um-augstein-auch-worte-koennen-toeten/7617228.html (eingese- Debatte (eingesehen 12. 10. 2016). hen 24. 10. 2016). 977 anetta Kahane, erst einmal versuchen zu verstehen, in: Frankfurter rund- 981 antisemitismus-Debatte um augstein: »auch worte knnen tten«, in: Der schau, 6. 1. 2013, http://www.fr-online.de/meinung/kolumne-broder-augstein- tagesspiegel, 11.1.2013, http://www.tagesspiegel.de/meinung/antisemitismus- streit-erst-mal-versuchen-zu-verstehen,1472602,21398944.html (eingesehen debatte-um-augstein-auch-worte-koennen-toeten/7617228.html (eingese- 2. 11. 2016). hen 24. 10. 2016).

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haben.982 Er schätzte zudem die Bedeutung des SWC eher konzentrieren, als unzutreffend zurck.987 Graumann warf gering ein, da das Zentrum recht klein, nicht besonders Augstein zwar vor, in Sachen Israel Stimmung zu machen gut ausgestattet sei und nicht an das Renommee seines und auf der »Welle von Populismus« zu reiten, einen Namenspatrons heranreiche. Andererseits warf er Aug- »camoufierten Antisemitismus, der sich der Israel-Hetze stein vor, in seiner Kritik an Israels Besatzungspolitik zu bedient« ,wollte er ihm aber nicht unterstellen.988 berziehen und die Verhältnisse in Israel (hier bezogen auf den Vergleich der Ultraorthodoxen mit islamistischen Unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Fundamentalisten) nicht zu kennen. Obwohl Korn in der die sich in dieser Debatte zu Wort meldeten, lassen sich »lustvollen« Kritik an Israel in Deutschland die Tendenz verschiedene Positionen ausmachen. Eine ganze Reihe zur Schuldentlastung und Täter-Opfer-Umkehr erkannte, von ihnen (der israelische Historiker Tom Segev, der wertete er dies nicht als antisemitisch.983 Erziehungswissenschaftler und langjährige Leiter des Fritz Bauer Instituts zur Erforschung der Geschichte und Wirkung Der damalige Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter des Holocaust Micha Brumlik, der Historiker Michael Graumann, beantwortete in einem Spiegel-Gespräch mit Wolffsohn) nahm kaum zu den Aussagen Augsteins Jakob Augstein am 14. Januar 2013 die Frage, ob er letzte- Stellung, sondern kritisierte v.a. die Aufnahme Augsteins ren fr einen Antisemiten halte, mit nein und sah ihn zu in das Ranking des SWC. Diese wird teils als politisch Unrecht auf der SWC-Liste platziert.984 Dennoch urteilte er motiviert beurteilt, soll sie doch Kritik an der israelischen deutlich schärfer als Korn, indem er Augsteins Kolumnen Politik als antisemitisch diskreditieren,989 teils werden »abscheulich und abstoßend« nannte und ihm vorwarf, dem SWC konomische Motive unterstellt, da es sich mit »fahrlässig antijdische Ressentiments zu schren«, durch der Verffentlichung der Liste von Antisemiten selbst im seine Konzentration allein auf Israel »eine moralische Gespräch halten wolle.990 Die Historikerin Juliane Wetzel Asymmetrie zu erzeugen« und ber Israel mit dem »Fin- konzedierte in einem Interview mit dem Magazin Cicero gerspitzengefhl eines Bulldozers« zu schreiben. Grau- zwar, dass Kritik an Israel im Sinne einer »Umwegkom- mann gab auf Nachfrage eine Defnition von Antisemitis- munikation« genutzt werden knne, um antisemitische mus,985 der Augstein sofort beipfichtete und sich selbst auf Äußerungen zu tätigen, doch sah sie dies im Fall Aug- dieser Grundlage aber nicht als Antisemiten, sondern als stein als nicht gegeben an. Sie beurteilte die Vorwrfe jemanden betrachtete, der Israel wie jeden anderen Staat des SWC als »maßlos berzogen« und warnte vor einem behandelt und kritisiert und eben keine Doppelstandards infationären Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs, der anlegt.986 Er wies auch den Vorwurf Graumanns, er wrde sich in seinen außenpolitischen Kolumnen ganz auf Israel 987 Der spiegel druckte direkt hinter die Graumann-augstein-Debatte einen Beitrag des israelischen Journalisten und experten fr sicherheitspolitik, ro- nen Bergman, mit dem titel »Fr immer David. warum manche Juden berall antisemitismus sehen« ab. nachdem antisemitismus in Israel lange nicht als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen worden sei, habe sich dies in den letzten zehn Jahren geändert. »viele Israelis und Juden verwechseln seither antisemi- tismus und antiisraelische Politik« (s. 129). als Ursache dafr sieht er die angst vor einer Delegitimierung Israels. Dies treibe etwa das swc und andere an, Is- rael zu verteidigen, was dazu fhre, »dass sie Kritik, wie heftig sie auch sein mag, fälschlicherweise mit antisemitismus gleichsetzen«. (ebenda). 982 Das wiesenthal-zentrum kennt die deutschen verhältnisse nicht, in: Frankfurter allgemeine zeitung, 12.1.2013, http://www.faz.net/aktuell/ 988 Die volksstimme, 8. 1. 2013, http://www.volksstimme.de/nachrichten/ feuilleton/salomon-korn-zum-fall-augstein-das-wiesenthal-zentrum-kennt- deutschland_und_welt/meinung_und_debatte/998936_augstein-debatte-zieht- die-deutschen-verhaeltnisse-nicht-12014865.html (eingesehen 12. 10. 2016). kreise-broder-nimmt-seinen-hut-beim-rbb.html (eingesehen 12. 10. 2016). Das Interview wurde am 4.1.2016 im Deutschlandradio gefhrt und erfuhr ein großes Medienecho. 989 tom segev fragte in der taz, ob er nicht auch auf der liste stehe (vgl. Da- niel Bax, antisemitismusdebatte um augstein. wie eine Berliner ›szene-Feh- 983 ebenda. de‹. Ist Freitag-herausgeber Jakob augstein ein antisemit? Der vorwurf des simon-wiesenthal-zentrums lst bei experten viel Kopfschtteln aus, in: taz, 984 spiegel-streitgespräch: »was ist antisemitismus?«, in: Der spiegel, 3.1.2013, www.taz.de/!5076135/ (eingesehen 2.11.2013). Fr Micha Brumlik 14.1.2013. Fr sein Urteil, dass augstein nicht auf das ranking gehre, gab stand hinter der Platzierung die absicht, »auch linksliberale Kritiker der isra- Graumann im Magazin Focus folgende Begrndung: »Diese Meinung vertrete elischen regierungs- und siedlungspolitik als antisemiten zu bezeichnen. […] er aber nicht ›aus Frsorge fr herrn augstein, sondern weil die anderen auf augstein manvriert zwar gelegentlich an der Grenze zum ressentiment, aber der liste, auch die widerlichen naziparteien in unseren europäischen Partner- er argumentiert differenziert.« (ebenda). ländern Ungarn und Griechenland, damit unzulässig verharmlost werden‹«, http://www.focus.de/kultur/medien/kultur-und-leben-medien-schauderhaft- 990 Michael wolffsohn, warnte im Gespräch mit christoph heinemann davor, und-schrecklich_aid_892242.html?drucken=1 (eingesehen 2. 11. 2016). den antisemitismus-vorwurf infationär zu verwenden. Das swc wrde mit der liste nicht den antisemitismus bekämpfen, sondern konomischen nut- 985 In seiner Defnition hielt sich Graumann an die blichen Kriterien: »wer zen daraus ziehen wollen: »historiker: ›In einer Demokratie muss auch Unsinn berall eine jdische weltverschwrung wittert oder ›die Juden‹ fr alle Übel erlaubt sein‹. Michael wolffsohn hält Debatte um augstein-äußerungen fr im zusammenleben der vlker verantwortlich macht. wer Israel das existenz- berzogen«, http://www.deutschlandfunk.de/historiker-in-einer-demokratie- recht abspricht, es verteufelt oder seine vernichtung in Kauf nimmt. wer grob- muss-auch-unsinn-erlaubt-sein.694.de.html?dram:article_id=233050 (eingese- schlächtige nazi-vergleiche anbringt, um Israels Politik zu verdammen«, in: hen 2.11.2016). ähnlich hatte auch Jan Fleischhauer auf spiegel Online argu- spiegel-streitgespräch – was ist antisemitismus? mentiert: »schon die erfndung einer top-ten-liste weist auf die nähe zum Un- 986 auf die vorhaltungen Graumanns hin bedauerte augstein seinen aus- terhaltungsgewerbe hin, wo man weiß, wie man die leute bei der stange hält.« druck »lager« fr den Gazastreifen, verteidigte aber wendungen wie »jdische Jan Fleischauer, Der Fall augstein, in: spiegel Online, 6.1.2013; http://www. lobby« in Bezug auf die Usa und die Gleichsetzung jdischer und islamistischer spiegel.de/politik/deutschland/antisemitismus-debatte-der-fall-augstein-a- »Fundamentalisten« gegen die Kritik Graumanns (vgl. ebenda). 875976.html (eingesehen 1. 11. 2016)

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ausgehhlt wrde, wenn jede scharfe Kritik als antise- nicht stellen wolle, sondern diese auf Israel projiziere.996 mitisch gelte.991 Sie räumte allerdings einschränkend ein, Trotz dieser Argumentation mchte auch Salzborn Aug- dass »Grauzonen« (→ Defnition) existierten, in denen sich stein offenbar nicht als Antisemiten bezeichnen. So hielt Augsteins Aussagen bewegten. Der Sozialwissenschaftler er es fr sekundär, ob Augstein sich im Klaren darber sei, Peter Ullrich hielt die Wortwahl »Lager« und »Gesetz der dass er antisemitisch argumentiert. Zusammenfassend Rache« ebenfalls fr »problematisch« und »mindestens kann man sagen, dass diejenigen Kritiker, die den antise- mehrdeutig«.992 mitischen Gehalt von Augsteins Artikeln hervorhoben, dies mit der Verwendung von Verschwrungstheorien (angebliche Macht einer jdischen Lobby), Gleichsetzun- 12.1.3 Kritik an Augstein und seinen Untersttzern gen israelischer Politik mit der des Nationalsozialismus (Gaza als Lager, Anti-Terror-Kampf als Vernichtungskrieg Im weiteren Verlauf der Debatte zeichnete sich allerdings u.a.) sowie Merkmalen des sekundären Antisemitismus eine Veränderung ab. Es gab nun zunehmend Kritik (Täter-Opfer-Umkehr) begrndeten. an den Aussagen Augsteins, aber auch an denen seiner Verteidiger. Ihnen wurde vorgeworfen, ihre Parteinahme Gegen Ende der Debatte im Januar 2013 verschärfte das fr Augstein sei nicht in dessen Aussagen begrndet, SWC die Angriffe auf Augstein noch einmal. Auf einer sondern in der Einschätzung seiner Person und gesell- Pressekonferenz vertrat der Vizepräsident des SWC, Rabbi schaftlichen Stellung.993 Diese kritischen Stimmen hatten Abraham Cooper, nachdem Augstein sich nicht fr seine allerdings eine wesentlich »geringere diskursive Präsenz Äußerungen entschuldigt hatte, die Ansicht: »Er ist ein als die Verteidigungen Augsteins zuvor«, da sie eher in den Antisemit.«997 Cooper bezog sich auf den Namensgeber Meinungs-und Kommentarspalten der Zeitungen zu Wort des SWC, Simon Wiesenthal, der »Angst vor ›neuen Nazis‹ kamen. und ›gegenwärtigen Gefahren‹ gehabt habe, um damit zu rechtfertigen, warum das Zentrum den deutschen Publi- Ebenfalls in einem Interview mit der Welt kritisierte der zisten Jakob Augstein auf einer Liste fhre«,998 mit der das Politikwissenschaftler Samuel Salzborn, Augstein hinge SWC dort auf den Antisemitismus aufmerksam machen der antisemitischen Machtfantasie an, »Juden beziehungs- wolle, wo ihm nach Meinung des SWC nicht die ntige weise Israel wrden die Welt lenken und kontrollieren, Aufmerksamkeit geschenkt werde. »Die Listung von Jakob sie wrden von Kriegen proftieren und sie gar selbst Augstein ist nicht nur ein Vorwurf an ihn, sondern auch zum eignen Nutzen inszenieren«.994 Augstein nutze eine ein Vorwurf an eine Gesellschaft, die nach der Lektre sei- Täter-Opfer-Umkehr, indem NS-Verbrechen auf Israel ner Kolumnen diesen Vorwurf nicht selbst erhob.«999 Niels projiziert wrden, so Salzborn und warf Augstein vor, die Kruse zog im Stern vom 31. Januar 2013 aus dem Vorwurf israelische Politik mit einem doppelten Standard zu mes- Coopers, der Zentralrat der Juden, die Regierungspar- sen und Israel zu dämonisieren, um die israelische Politik teien und die Journalisten hätten alle Augstein geschtzt, zu delegitimieren.995 Salzborn rechtfertigte Augsteins den Schluss, dieser habe damit andeuten wollen, »dass Platzierung auf der SWC-Liste, da dieser eine Haltung des die Solidarität mit Augstein ein Hinweis auf einen weit linksintellektuellen Spektrums repräsentiere, das sich den verbreiteten Antisemitismus in Deutschland sein knnte«. Versäumnissen und Fehlern seiner eigenen Vergangenheit Kruse hielt aber auch eine andere Lesart fr denkbar, der- zufolge diese Solidarität ein Hinweis sei, dass sich das SWC mit seiner erneuerten Einschätzung vielleicht vergalop- 991 cicero, 4.1.2 013. wetzel zieht in dem artikel die Grenze von Kritik an isra- piert haben knnte.1000 Der angegriffene Augstein nahm elischer Politik und antisemitismus wie folgt: »erstens, wenn das existenzrecht Israel infrage gestellt wird oder bestritten wird. zweitens, wenn zionismus und rassismus gleichgestellt werden. Drittens, wenn das vorgehen des israelischen Militärs mit dem nationalsozialistischen vlkermord gleichgesetzt wird«. http:// 996 ebenda. www.cicero.de/weltbuehne/grenzwertig-aber-nicht-antisemitisch/53060 (eingesehen 25. 11. 2016). 997 leander steinkopf, ›Fall augstein‹.wie wird man einer der schlimmsten an- tisemiten?, in: Frankfurter allgemeine zeitung, 31.1.2013, http://www.faz.net/ 992 Peter Ullrich, Deutsche, linke und der nahostkonfikt. Politik im antise- aktuell/feuilleton/debatten/fall-augstein-wie-wird-man-einer-der-schlimmsten- mitismus- und erinnerungsdiskurs, Gttingen 2013, s. 79 f. antisemiten-12046164.html (eingesehen 24.10.2016); Daniel Bax, augstein und 993 Malte lehming,Debatte um Jakob augstein.was im 21. Jahrhundert antise- der antisemitismus. rabbiner cooper legt nach, in: taz, 31.1.2013. mitisch ist, in: Der tagesspiegel, 9.1.2013, http://www.tagesspiegel.de/meinung/ 998 Bax, augstein und der antisemitismus. cooper nennt als Motiv fr diese debatte-um-jakob-augstein-was-im-21-jahrhundert-antisemitisch-ist/ liste die verteidigung Israels gegen jeden, der »die legitimität Israels als jdi- 7602976.html (eingesehen 25.11.2016); Deniz Ycel, Mit fettarschiger selbst- schen staat« infrage stelle. zufriedenheit. Die sache mit dem ›kriddischen Dschornalismus‹ oder warum fast alle deutschen Journalisten Jakob augstein so inbrnstig verteidigen, in: 999 steinkopf, Fall augstein. taz, 15. 1. 2013, http://www.taz.de/!5075375/ (eingesehen 2. 11. 2016). 1000 niels Kruse, Besuch beim wiesenthal-zentrum. wie Jakob augstein zum 994 Interview mit Philip Kuhn, Dämonisierung mit dem ziel der Delegiti- antisemiten wurde. erst war Jakob augstein jemand, der antisemitische texte mierung, in: Die welt, 16.1.2013, https://www.welt.de/ politik/deutschland/ schreibt, nun ist er ein antisemit. zumindest aus sicht des simon-wiesent- article112787522/Daemonisierung-mit-dem-ziel-der-Delegitimierung.html hal-zentrums – Ortstermin einer anklageverlesung, in: stern, 31.1.2013, (eingesehen 24. 10. 2016). http://stern.de/politik/deutschland/besuch-beim-wiesenthal-zentrum-wie- 995 ebenda. jakob-augstein-zum-antisemiten-wurde-1964230.html (eingesehen 24. 10. 2013).

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nicht an der Pressekonferenz teil, wurde aber danach von antisemitische Stereotype, Symbole und Bilder, wie der der Nachrichtenagentur dpa dazu befragt. »Mit Antisemi- Konspirationsmythos vom »jdischen Einfuss«, vom tismus-Vorwrfen, wie sie gegen mich erhoben werden, »jdischen Meinungsdiktat« in Deutschland, vom »Juden« wird Politik gemacht und versucht, die Öffentlichkeit zu als Geldmenschen und Wucherer sowie der jdischen kontrollieren«, sagte Augstein in diesem Zusammenhang. Rachsucht auf. Sie sehen zudem Manifestationen des isra- Er fände es unseris, wenn gleichzeitig noch sein Dis- elbezogenen Antisemitismus in der Dämonisierung und kussionsangebot an das SWC verweigert wird, da seiner Delegitimierung Israels und in der Verwendung doppelter Meinung nach zwei Themen zur Debatte stnden: Israels Standards in der Beurteilung der israelischen Politik. Sicherheitspolitik und der Antisemitismus in Deutschland. »Über beides muss man reden. Man sollte es aber nicht Die Herangehensweise der Autoren des Buches ist in ungebhrlich vermengen.«1001 Augstein nahm zu den Rezensionen aus methodologischen Grnden kritisiert Äußerungen Coopers auf der Pressekonferenz auch auf worden. Dem Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traug- Facebook Stellung, worber aber in den Zeitungen nicht hber zufolge birgt die Herangehensweise der Autoren ein berichtet wurde. Er unterstellte, Cooper und er hätten analytisches Problem: die Methodik der Studie identi- offenbar sehr unterschiedliche Auffassungen von Pres- fziere in den »Einseitigkeiten und Pauschalisierungen, sefreiheit. Was er derzeit fr Erfahrungen mache, knne Stereotypen und Vereinfachungen« Augsteins nur »Anti- man nur mit fundamentalistischen oder totalitären Insti- semitismus-Potentiale«, doch fehle ein »trennscharfer tutionen machen. Damit warf Augstein dem SWC letztlich Gesichtspunkt zur Erkennung von nichtantisemitischer vor, eine fundamentalistische und totalitäre Einrichtung Kritik an der israelischen Politik«. Die identifzierten zu sein.1002 formalen Gemeinsamkeiten »mssen nicht fr inhaltli- che Übereinstimmungen stehen«.1005 Auch fr Wilhelm Kempf, Prof. em. fr Psychologische Methodenlehre, 12.1.4 Die Mediendebatte aus scheitert das Anliegen des Buches »an einer Reihe von wissenschaftlicher Sicht methodologischen Fehlern«.1006 So wrden die vom SWC angefhrten Zitate Augsteins, die den Diskursanlass boten, Mit der Pressekonferenz Coopers und der Pressebe- in dem entsprechenden Unterkapitel gar nicht analysiert. richterstattung dazu kam die Augstein-Debatte in der Tatsächlich wrden sie auch nicht die neun ausgewählten Medienffentlichkeit zu einem Ende. Nach einer ersten Kolumnen, sondern »lediglich eine Reihe von aus dem noch sehr zeitnahen Analyse der Mediendebatte durch das Zusammenhang gerissenen Textstellen« analysieren und Jdische Forum fr Demokratie und gegen Antisemitismus zudem die Grundregel der interpretativen Sozialforschung vom 4. Februar 20131003 erschien 2015 die diskursana- missachten, indem sie »andere Lesarten der inkrimi- lytische Studie zur Augstein-Debatte von Lukas Betzler nierten Textstellen von vornherein« ausschließen und es und Manuel Glittenberg.1004 Das Buch enthält neben der damit den Lesern unmglich machen, »die Richtigkeit detaillierten Nachzeichnung des Verlaufs der Debatte ihrer Interpretationen nachzuprfen«.1007 Fr Kempf eine kritische Textanalyse von neun Kolumnen Aug- ergibt sich aus der Dynamik von Konfiktkommunikation, steins zwischen 2011 und 2014. Sie kommen in dieser dass es auf beiden Seiten zu »kompetitiven Fehlwahrneh- Analyse zu dem Schluss, Augsteins Texte wiesen zentrale mungen« kommt und, wenn Augstein in Bezug auf Israel ein geschlossenes antisemitisches Weltbild habe, dies umgekehrt auch fr die Autoren gelte, die die »Komple- 1001 zitiert nach Kruse, Besuch beim wiesenthal-zentrum. xität der Konfikte im Nahen Osten und die Frage, wie 1002 zitiert bei Betzler/Glittenberg, antisemitismus im deutschen Mediendis- Menschen sich in Deutschland dazu verhielten, auf die kurs, s. 266. eine Dimension des Antisemitismus reduzierten«.1008 1003 Jdisches Forum fr Demokratie und gegen antisemitismus, analyse der Mediendebatte zur Platzierung Jakob augsteins auf der rankingliste »top ten antisemitic/anti-Israel slurs 2012« des simon wiesenthal centers, jfda.de/ wp-content/uploads/2013/08/JFDa-analyse-der-augstein-Debatte.pdf (ein- 12.1.5 Fazit gesehen 25.11.2016). Das seit 2012 bestehende Jdische Forum beschreibt sich auf seiner website selbst als »ein gemeinntziger verein, der sich v.a. durch Bildungs-, Öffentlichkeits- und Kulturarbeit der stärkung des demokratischen Im Kapitel zur → Defnition von Antisemitismus wurde, staatswesens als auch dem Kampf gegen antisemitismus widmet«. In der aus- v.a. in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Politik einandersetzung hat das JFDa drei Positionen in den deutschen Medien iden- tifziert: Die erste Position wurde von Journalisten eingenommen, die Jakob augsteins aussagen nicht als antisemitisch wahrnahmen und ihn vom vorwurf des antisemitismus freisprechen wollten: augstein wrde eine legitime Kritik an israelischer Politik betreiben, antisemitismus sei in keiner Form zu fnden. 1005 armin Pfahl-traughber, rezension. Der Fall Jakob augstein, humanistischer vertreter der zweiten Position wandten ein, dass augstein zwar ressentiments Pressedienst, 5. Mai 2015, http://hpd.de/artikel/11665 (eingesehen 25.10.2016). bediene, seine aussagen jedoch in einer »Grauzone« zu verorten seien, die die 1006 wilhelm Kempf, rezension in: confict & communication online, 15 (2016) rote linie zum antisemitismus nicht berschreite. Die dritte Gruppe stimmte 2, www.cco.regener-online.de (eingesehen 25.11.2016). dem swc zu und bescheinigte augstein die Überschreitung der Grenze zum antisemitismus. 1007 ebenda. 1004 Betzler/Glittenberg, antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. 1008 ebenda.

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Israels, herausgestellt, dass hier oft nur schwer zwischen Beschnitten werden nach religisen Vorschriften Juden kritischen und antisemitischen Äußerungen unterschie- und Muslime. Schnell wurden aber auch die jdischen den werden kann. Im Expertenkreis wurde versucht diese Bräuche Teil der z.T. heftigen Auseinandersetzungen Schwierigkeiten der eindeutigen Zuordnung mit dem zwischen Gegnern und Befrwortern. Zu Wort meldeten Rckgriff auf das Konstrukt der »Grauzonen« zu erfassen. sich Vertreterinnen und Vertreter jdischer und muslimi- Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass scher Organisationen. Sie versuchten, den Gegnern ihren sich zwar die Übergänge zwischen einer, wenn auch har- Standpunkt deutlich zu machen und verwiesen auf die ten oder gar ungerechten Kritik an der israelischen Politik Gefahr, die ein Verbot der Beschneidung fr die Existenz auf der einen und Antisemitismus auf der anderen Seite jdischen und muslimischen Lebens in Deutschland theoretisch durchaus defnieren lassen, im Einzelfall aber bedeuten wrde. In letzter Konsequenz wrde eine solche eine Entscheidung darber, ob bestimmte Äußerungen zu einschneidende Entscheidung dazu fhren, dass religise Israel als kritisch oder als antisemitisch zu verstehen sind, Menschen aus beiden Konfessionen das Land verlassen deutlich schwerer fällt. Es kommt in diesen Fällen immer mssten. auf den Kontext der Aussagen an, etwa wer, was, wann sagt und ob die Kritik ohne Zuschreibungen an ein unterstell- Waren es in den letzten Jahren berwiegend Debat- tes jdisches Kollektiv erfolgt, mit stereotypen Merkmalen ten zum Nahostkonfikt und zu Israel, die als Platt- belegt wird, oder im Sinn einer »Umwegkommunikation« form genutzt wurden, das anti-antisemitische Tabu im Israel nur an die Stelle »der Juden«, quasi als Legitimie- ffentlichen Diskurs zu durchbrechen, so ist mit der rung antisemitischer Einstellungen und Positionen, tritt. Beschneidungsdebatte ein weiteres Feld hinzugekommen, Ferner ist zu bedenken, dass unabhängig davon, ob eine das – diesmal im Namen der Menschenrechte und des Aussage antisemitisch »motiviert« ist, der Inhalt einer Kindeswohls – Stereotype aus dem breiten Kanon antise- Aussage dennoch als antisemitisch bewertet werden kann. mitischer Vorurteile bedient.1009 In der Debatte zeigen sich verschiedene Erscheinungsformen des Antisemitismus. Im Fall der Augstein-Debatte blieb die Einschätzung Sekundär antisemitische Haltungen sind ebenso zu fnden der Kritik Jakob Augsteins an der Politik Israels in der wie religis bedingte antisemitische Argumentationen Öffentlichkeit umstritten und zwar sowohl unter Jour- (→ Defnition). Sicherlich ist dabei nicht zu unterstellen, nalisten der Prestigepresse als auch unter Vertreterinnen dass jene 45 Prozent der deutschen Bevlkerung, die laut und Vertretern jdischer Organisationen sowie den sich Umfrage die Beschneidung als rechtswidrige Krperver- zu Wort meldenden Wissenschaftlerinnen und Wissen- letzung sehen,1010 dies aufgrund verfestigter antisemiti- schaftlern. Dies zeigt wiederum, dass – wie schon die scher Einstellungen tun, sondern auch andere Faktoren Probleme bei der Festlegung einer allgemein akzeptierten bei der Ablehnung der Beschneidung eine Rolle spielen. und umfassenden Antisemitismusdefnition zeigen – die So muss z.B. in Betracht gezogen werden, dass das Klner Auffassungen, wann Kritik an Ìsraels Politik im Nahost- Urteil sich im konkreten Fall mit der Beschneidung konfikt die Grenze zum Antisemitismus berschreitet, eines muslimischen Jungen befasst hatte und Islam- auch bei Akteuren weit auseinandergehen, die sich in der bzw. Muslimenfeindlichkeit in der darauffolgenden Bewertung des antisemitischen Charakters von Äuße- Debatte eine mindestens ebenso große Rolle spielte wie rungen in den nachfolgend dargestellten Debatten zur Beschneidung und zu Antisemitismus im Bereich des Fußballs, weitgehend einig sein drften. Diese Bewer- tungsdifferenzen zeigen sich in diesem Fall auch unter den Mitgliedern des UEA. Der Begriff der »Grauzonen« soll diese Deutungsambivalenzen transparent machen und eine Debatte darber ermglichen, was in Einzelfällen als Antisemitismus gelten kann.

12.2 Die Beschneidungsdebatte 1009 Dieser Beitrag basiert weitgehend auf dem artikel von Juliane wetzel, Judenfeindliche stereotypisierungen: Das Beschneidungsurteil im ffentlichen Die emotional stark aufgeladene Debatte um die Be- Diskurs, in: Johannes heil/stephan J. Kramer (hrsg.), Beschneidung: Das zei- schneidung jdischer und muslimischer Jungen begann chen des Bundes in der Kritik. zur Debatte um das Klner Urteil, Berlin 2012, im Frhsommer 2012 nach einem Urteil des Klner s. 264–275. eingefossen sind auch teile der expertise zur Beschneidungsde- batte fr den Unabhängigen expertenkreis von elke wittich. Landgerichts, das im Fall eines Arztes, der von den Eltern 1010 Umfrage – viele Deutsche gegen Beschneidung, in: Klner stadt-anzei- eines muslimischen Kindes wegen eines Behandlungsfeh- ger, 19. 7. 2012, lers angezeigt worden war, die Beschneidung aus nicht- http://www.ksta.de/politik/umfrage-viele-deutsche-gegen-beschneidung- medizinischen Grnden als Krperverletzung verurteilte. 4782490 (eingesehen 31. 10. 2016).

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Antisemitismus.1011 Dennoch zeigt sich auf unterschied- fragte hierzu: »Sind bei der Anzahl Beschneidungen inbe- liche Weise, wie schnell antisemitische Stereotype und griffen?«1014 Zahlreiche weitere Kommentare zu diesem Vorurteilsstrukturen, je nach Tagesgeschehen, abrufar Interview wurden mit dem Verweis »Dieser Kommentar bleiben und genutzt werden. entsprach nicht den AGB« gelscht.

Darber hinaus wurden individualrechtliche Argumente gegen eine Beschneidung vorgebracht, die nicht zwin- 12.2.1 Medialer Diskurs gend antisemitische oder muslimfeindlich motiviert sein mssen. Allerdings ignorieren sie, dass ein Verbot der Folgt man dem Mnchner Professor fr jdische Beschneidung die Ausbung der Religionspraxis fr Juden Geschichte und Kultur, Michael Brenner, so ist der und Muslimen mindestens sehr erschweren, wenn nicht durch die Beschneidungsdebatte »angerichtete Schaden gar unmglich machen wrde. […] kaum wieder gutzumachen«.1015 Brenner konsta- tiert in seinem Beitrag fr die Sddeutsche Zeitung am Im Rahmen der Beschneidungsdebatte erreichte ein 30. August 2012: »In dieser Debatte setzte sich ein Bild der Brief das Zentrum fr Antisemitismusforschung, in dem Juden und Muslime als die anderen durch, die barbari- der Autor glaubt, im Zusammenhang mit dem Beschnei- schen Bräuchen anhängen und es in Kauf nehmen, das dungsurteil kundtun zu mssen: »Daher gibt es auch Kindeswohl zu verletzen.«1016 Dass Brenners Urteil nicht keinen einzigen Unterschied zwischen einem ›Juden‹ aus der Luft gegriffen ist, bestätigt ein Kommentar zum und einem ›Nationalsozialisten‹: denn beide glauben an Artikel »Im Hintergrund schwelen Kastrationsängste« ein ›auserwähltes Volk‹ (›Nation‹) und eine ›selektierte von Doron Rabinovici in der Sddeutschen Zeitung vom Rasse‹.«1012 Hier spiegelt sich bereits eine Tendenz wider, 11. Juli 2012. Hier schrieb ein Leser namens »bosaudf«: die im »geschtzten« Raum des Internets noch einmal »Wenn das Judentum nur in der Beschneidung besteht potenziert wird und sich nicht auf die Beschneidungs- und die Beschneidung das zentrale Merkmal des Juden- debatte beschränkt (→ Medien). Exemplarisch hierfr tums ist, und mit der Beschneidung die jdische Religion lässt sich z.B. die Online-Reaktion auf ein Interview der ausstirbt, dann ist es um diese Steinzeitreligion nicht Rheinischen Post (RP) vom 17. September 2012 mit Michel schade, dann ist sie einer von ungezählten barbarischen Friedman, ehemaliges Mitglied des Zentralrats der Juden Steinzeitkulten, die sich berlebt haben und die zurecht in Deutschland, der lange Zeit als Projektionsfäche fr die von der Erde verschwinden. […] Kompromissbereitschaft Artikulation antisemitischer Haltungen diente, anfhren. meinerseits: Keine. Der Penis eines Jungen gehrt dem Friedman erklärt in diesem Interview: »Die Anzahl der Jungen, nicht irgendwelchen kranken Spinnern.«1017 Gewaltakte gegen Juden und Ausländer ist besorgniserre- gend.«1013 Ein Kommentator, der sich »franz jaffa« nennt, Die Debatte in Deutschland 2012 war, so die Journalistin Elke Wittich, »in den ersten Wochen von einer gewissen Asymmetrie geprägt. Während die meisten Journalisten 1011 als die Beschneidungsdebatte im ffentlichen Diskurs abzuebben schien, ebenso wie die breite Öffentlichkeit kaum faktenbasiertes ereignete sich ende august in Berlin-schneberg der tätliche angriff auf rab- biner Daniel alter und dessen tochter. wenngleich alter selbst von »schlägern« sprach, stand in der medialen Öffentlichkeit v.a. das »arabische aussehen« der 1014 Franz jaffa, in: rP-Online, 17.9.2012, lesermeinungen, http://www.rp- jugendlichen täter im Mittelpunkt, und Muslime gerieten unter den General- online.de/politik/deutschland/aemter-haben-nazi-pannen-vertuscht-1. verdacht des antisemitismus. zu beobachten war, wie – trotz der kurz zuvor 2996463?commentview=true#commentsField-2101938 (eingesehen 31. 10. 2016). noch relativ einmtig im rahmen der Beschneidungsdebatte geäußerten Mei- nung, sowohl Islam als auch Judentum befolgten archaische rituale – nun in 1015 Michael Brenner, streit um die religise Beschneidung. vermeintliche erster linie »die Muslime« an den Pranger gestellt wurden. Dass der ffentliche Barbaren, in: sddeutsche zeitung, 30.8.2012, http://www.sueddeutsche.de/ Diskurs um die Beschneidung erst kurz zuvor unbersehbar zur Plattform fr wissen/streit-um-die-religioese-beschneidung-v ermeintliche-barbaren-1. antisemitische ressentiments, vorurteile und Klischees geworden war, schien 1454038, (eingesehen 31. 10. 2016). vergessen. auf der islamfeindlichen Internetplattform »Politically Incorrect« 1016 ebenda. (Pi) verstieg sich ein Kommentator gar zu der aussage, »dass die Juden jetzt vor- geschickt werden, um fr die Moslems das Beschneidungsrecht zu erstreiten. 1017 Doron rabinovici, Kritik an ritueller Beschneidung. Im hintergrund […] es geht um ein zusammengehrigkeitsgefhl des jdischen volkes. Dass das schwelen Kastrationsängste, in: sddeutsche zeitung-Online, 11.7.2012, http:// wichtig ist, kann ich anhand der Geschichte und der Gegenwart des volkes Israel www.sueddeutsche.de/kultur/kritik-an-ritueller-beschneidung-im-hintergrund- natrlich gut nachvollziehen. Das ist aus meiner sicht auch der einzige akztep- schwelen-kastrationsaengste-1.1408075 (eingesehen 31.10.2016). leserkom- table [sic!] Grund fr eine ausnahmegenehmigung. Dann fände ich es allerdings mentar von »bosaudf«, angst kann leben retten, in: sddeutsche zeitung, grundverkehrt, wenn andere religionsgemeinschaften als ›trittbrettfahrer‹ 12. 7. 2012, http://www.sueddeutsche.de/kultur/kritik-an-ritueller-beschneidung- davon proftieren. Die islamische Ummah defniert sich nämlich nicht ber imhintergrund-schwelen-kastrationsaengste-1.1408075?commentcount=55& die Beschneidung.« (»ein Gespräch ber die Beschneidung im Judentum«, in: commentspage=4#kommentare (eingesehen 19.9.2012 – die Kommentare Pi, http://www.pi-news.net/2012/08/ein-gesprach-uber-die-beschneidung- sind nur kurze zeit online verfgbar. Orthografe und zeichensetzung im Ori- im-judentum/ (eingesehen 31.10.2016). hier liegt der Kommentator falsch und ginal). ähnliche Kommentare verursachte etwa auch die seit Frhjahr 2016 in lässt tief in die abgrnde islamfeindlicher haltungen blicken, gleichzeitig offen- Dänemark erneut aufkommende Debatte zum thema Beschneidung. Im som- bart er aber eine philosemitische tendenz. mer wurde die folgende hassbotschaft von einem Dänen auf Facebook einge- stellt: »In meinen augen ist die Beschneidung etwas ähnliches wie Pädophilie. 1012 e-Mail im Besitz des zentrums fr antisemitismusforschung. wenn das argument dafr die religion ist, dann ist es wohl erlaubt zu sagen, 1013 Interview mit Michel Friedman, ämter haben nazi-Pannen vertuscht, in: wie schade es ist, dass hitler nicht alle Juden vergast hat.« elke wittich, Die rP-Online, 17. 9. 2012, http://www.rp-online.de/politik/deutschland/aemter- Beschneidungsdebatte, externe expertise fr den Unabhängigen expertenkreis haben-nazi-pannen-vertuscht-1.2996463 (eingesehen 31. 10. 2016). antisemitismus, s. 1.

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Wissen ber das Thema Beschneidung hatten, hatten Überheblichkeit, die solchen Urteilen ber andere Men- sich die Gegner der Zirkumzision […] auf den Tag X, also schen und deren Religion häufg immanent ist, lässt sich den Beginn der ffentlichen Diskussion, vorbereitet. zwar bisweilen schwer ertragen, doch sie fällt in die Rubrik In einschlägigen Internetforen und Facebook-Gruppen Meinungsvielfalt. Vorurteilsbeladene Inhalte allerdings hatten verschiedene Gruppen schon seit Jahren Argu- werden in der Presse häufg – wie viele Beispiele zeigen – mente gegen die ›Knabenbeschneidung‹ gesammelt ber die Bildsprache transportiert. Besonders häufg sind und sich dabei auch mit ähnlichen Gruppen in den USA es Karikaturen, die antisemitische bzw. rassistische Inhalte vernetzt. Diese gehren in aller Regel zur Verschwrungs- zeigen. So verffentlichte etwa der Berliner Kurier im theoretiker-Szene, die meist antisemitisch ausgerichtet Juli 2012 einen Cartoon des slowakischen Karikaturisten ist und sehr lange von der Öffentlichkeit unbeobachtet Marian Kamensky, der antimuslimische und antisemiti- vor sich hin werkeln konnte. Gearbeitet wurde und wird sche Konnotationen gleichermaßen bedient. Zu sehen ist in diesen Kreisen mit allem, was man heute zum Beispiel ein Beschneider mit muslimischer Kopfedeckung, der von Rassisten-Gruppen kennt: Halbwahrheiten, gefälsch- in der einen Hand ein Messer hält, von dem Blut tropft, ten Bildern, aus dem Zusammenhang gerissenen oder und in der anderen den abgeschnittenen Penis eines ihm bewusst falsch bersetzten Zeitungsartikeln, anonymen gegenberstehenden Jungen, der eine Kippa trägt. Der als Aussagen angeblich Betroffener. Das Ziel: Ängste, Zweifel muslimisch markierte Beschneider sagt: »Oh, oh, heute und Hass schren. Und genau das wurde im Rahmen der ist nicht mein Tag«, woraufin der als Jude zu erkennende Beschneidungsdebatte auch erreicht. Allerdings besteht Junge erwidert: »Kopf hoch, es wird bald nicht mehr die Beschneidungsgegner-Szene nicht nur aus wirren strafar!«1020 Verschwrungstheoretikern, die heute im Internet eher Gefahr laufen, ausgelacht zu werden. Weit gefährlicher, Zu einem Artikel von Jrg Lau zum Beschneidungsverbot, und das nicht nur aufgrund ihrer ideologischen Entschlos- der am 5. September 2012 in der Zeit publiziert wurde, senheit, waren und sind die sogenannten Maskulisten, sind innerhalb von acht Tagen 1064 Kommentare gepostet zu Deutsch: Männerrechtler, die Männer und Jungen als worden.1021 Lau geht explizit auf antisemitische Konno- Opfer des modernen Zeitgeists sehen, der ihrer Meinung tationen in der Beschneidungsdebatte ein: »Die Entwer- nach von Feminismus, Gleichstellung, politischer Kor- tung der jdischen Religion, diesmal nicht im Zeichen rektheit und Quotenregelung geprägt ist und die Unter- des rassistischen Antisemitismus, sondern im Zeichen drckung beziehungsweise Abschaffung der Männlichkeit der Auflärung und der Menschenwrde. Endlich kann zum Ziel hat.«1018 man den Juden am Zeug ficken, ohne sich dem Verdacht des Antisemitismus auszusetzen, denn es geht ja um den Ein gewisser »lorenz« kommentierte in der Hochphase der Kinderschutz, hier verstanden als Schutz jdischer Kinder Beschneidungsdebatte 2012 auf FR-Online: »Es ist sagen- vor den Juden.«1022 Ein gewisser »F. Klein« kommentierte haft, was sich da gerade abspielt. Das Klner Landgericht dies und nutzte dabei die blichen, aus der Geschichte entscheidet sich, eine religis motivierte Krperverlet- antisemitischer Haltungen bekannten argumentativen zung an Kindern als strafare Handlung zu bewerten und Verfahren, um den Juden selbst die Schuld zuzuschie- binnen Stunden formiert sich – ungeachtet der breiten ben: »Nachdem ich ihren Artikel zu ende gelesen habe Untersttzung der Entscheidung in der Bevlkerung – kommt mir irgendwie der Eindruck hoch, den Juden eine merkwrdige Einheitsfront aus Politik, Religionsver- ginge es nicht darum ihren Kindern einen Teil ihres Penis tretern und Medien gegen dieses Urteil. Mit von der Partie abzuschneiden um so den Jungen Teil einer religisen auch die Frankfurter Rundschau, bei der sich mittlerweile Gemeinschaft werden zu lassen. Es geht nur noch darum offensichtlich religise Fundamentalisten aller Glaubens- den Krieg, gegen diese verdammte deutsche Gesellschaft richtungen die Klinke in die Hand drcken.«1019 und deren Gerichte zu gewinnen. Egal mit welchen Mit- teln und egal mit welcher Rhetorik. […] Die wahre Grße Die meisten Artikel, die zur Beschneidungsdebatte eines ›Volks‹ liegt darin einem anderen Volk fr dessen erschienen sind, enthielten vordergrndig keine antisemi- Fehler verzeihen zu knnen. Wer das nicht fertig bringt, tischen Konnotationen, auch wenn manche juristischen oder medizinischen Experten sich mit dem Impetus des sachlichen Urteilsvermgens ber religise Begrn- 1020 auf den Punkt gebracht – Die besten KUrIer-cartoons, nr. 40, http://www. dungen stellen und meinten, die Beschneidung aus rein berlinerkurier.de/politik---wirtschaft/auf-den-punkt-gebracht-die-besten- kuriercartoons, 7169228,11950508.html (eingesehen 24.9.2012; nicht mehr wissenschaftlicher Perspektive klären zu knnen. Die auf der seite verfgbar). siehe auch: http://blog.zeit.de/joerglau/2012/07/17/ islamophobie-und-antisemitismus-vereint-gegen-beschneidungen_5642 (ein- gesehen 31. 10. 2016). 1018 wittich, Die Beschneidungsdebatte.. 1021 Insgesamt ist die zahl auf 2059 angestiegen. 1019 navid Kermani, aufs Diesseits fxierte weltsicht, in: Fr-Online, 4.7.2012, 1022 Jrg lau, Beschneidungsverbot und die zukunft des Judentums in und leserkommentar von »lorenz«, 4.7.2012, http://www.fr-online.de/politik/ Deutschland, in: zeit Online, 5.9.2012, http://blog.zeit.de/joerglau/2012/ navid-kermani--aufsdiesseits-fxierte-weltsicht-,1472596,16542516.html (ein- 09/05/beschneidungsverbot-und-die-zukunft-des-judentums-indeutschland_ gesehen 19.9.2012; steht online nicht mehr zur verfgung). 5696 (eingesehen 31. 10. 2016).

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wird auch nie mit diesem Volk befreundet sein knnen Publizisten Sergey Lagodinsky und dem Rechtsanwalt und oder wollen. So oft wie Menschen jdischen Glaubens religionspolitischen Sprecher der Linkspartei Raju Sharma die Holocaust-Karte zcken darf man sich am Ende nicht in der taz vom 9. September 2012 sowie die dazugehrige wundern, wenn die Menschen in Deutschland die Juden Kommentierung durch Leserinnen und Leser: Obwohl die nicht mehr fr Voll nehmen.«1023 Diskutanten sich z.T. gegenseitig heftig angreifen, sich die Beschneidungsgegner als Verfechter des Grundgesetzes Solche Formen des sekundären Antisemitismus bedient und des Kindeswohls verstehen und den Befrwortern auch der Kommentator des Artikels »Umfrage – Viele Kindesmisshandlung oder gar Amputation vorwerfen, Deutsche gegen Beschneidung« im Klner Stadt-Anzeiger fnden sich in den hier vorgebrachten Argumentationen vom 19. Juli 2012. »Friedrich T.« meint: »Das Beschnei- keine Verweise auf antisemitische Stereotype.1026 dungsurteil wird schnell revidiert! Das entsprechende Gestz schnel durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht! Und als Buße wird noch ein Uboot nach Israel geliefert! 12.2.2 Die Politik am Pranger Die Klner Richter werden mit der Nazikeule aud dem Amt gejagt! Schne Demokratische WelT!!«1024 Auch auf Versuche der Politik Rechtssicherheit fr Beschneidungen von Jungen ber eine entsprechende Artikulieren sich Kommentarschreiberinnen und Gesetzesvorlage herzustellen, die »unter Bercksichtigung Kommentarschreiber in den Online-Foren der Zeitun- der grundgesetzlich geschtzten Rechtsgter des Kindes- gen gewissermaßen im geschtzten Raum, weil sie ihre wohls, der krperlichen Unversehrtheit, der Religions- Texte unter einem Pseudonym posten, so scheuen sie freiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung […] eine sich in E-Mails an jdische Institutionen nicht, Namen medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne und Adresse anzugeben. In Phasen ffentlicher Debatten unntige Schmerzen« zulässt, wurde vor allem in den erhalten der Zentralrat der Juden in Deutschland wie auch Kommentarspalten der Online-Presse antisemitisch und die Botschaft Israels eine Flut von E-Mails. Im Zusam- islamfeindlich reagiert.1027 So erboste sich »Frank Schulze« menhang mit dem Beschneidungsurteil gingen solche ber einen Artikel zum Antrag der Fraktionen von CDU/ Elaborate in Kopie auch an den Zentralrat der Muslime. Ein CSU, SPD und FDP zur »Rechtlichen Regelung der Verfasser aus Dsseldorf etwa schrieb am 23. Juli 2012 an Beschneidung minderjähriger Jungen« in der Online-Aus- den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland gabe von Bild vom 19. Juli 2012: »Die deutschen Politiker mit Kopie an die israelische Botschaft und den Zentral- knicken vor allem und jedem ein! Es ist nur zu hoffe, dass rat der Muslime: »Nicht wenige Anhänger Ihrer Religion die diversen Beschneidungen nicht bzw. nicht mehr von inner- und außerhalb Ihres ›jdischen Gottesstaates den Kassen bezahlt werden! Leider werden vorgescho- Israel‹ wehren und verweigern sich gegen das archaische bene Vorhautverängungen von der Allgemeinheit bis Brauchtum der Beschneidung, […] ein offenbar abstruses jetzt bezahlt! Dies sollte unter harte Strafe gestellt werden Relikt aus der Zeit des heidnischen Gtzendienstes und denn der Dumme ist der Versicherte!«1028 Und »Prof Harry des Menschenopfers. Was ist das fr ein blutrnstiger Gott, Ball«1029 ereiferte sich: »Das ist ein parteibergreifender der sich an Kinder- und Tierschändung (Beschneidung Skandal. Nicht nur, dass sich die Herren und Damen Abge- und Schächtung) labt und gar die Beschneidung als Siegel ordneten in der kurzen Zeit garantiert keine objektive des Bundes mit ihm, diesem diffusen Gott, fordert? Dass Meinung gebildet haben … nein, der eigentliche Skandal in dieser verwerfichen Sache die Moslems auf ihrer Seite ist das Einknicken vor religisen Gruppierungen aus Angst sind, ist ebenso zu verurteilen, dass die Sache jedoch auch Untersttzung durch die christlichen Glaubensgemein- schaften fndet, ist ungeheuerlich.«1025

Dass die Debatte um Beschneidung nicht zwangsläufg 1026 streitgespräch zur Beschneidung: trauma oder recht auf Identität, in: antisemitisch konnotiert sein muss, zeigt ein Streit- taz-Online, 9. 9. 2012, http://www.taz.de/!101193/ (eingesehen 31. 10. 2016) gespräch zwischen dem Rechtswissenschaftler und sowie die leserkommentare dazu, taz, 9.9.2012, http://www.taz.de/streit gespraech-zur-Beschneidung/Kommentare/!c101193/ (eingesehen 24. 9. 2012; steht online nicht mehr zur verfgung). 1027 antrag der Fraktionen der cDU/csU, sPD und FDP, rechtliche regelung 1023 F. Klein, in: zeit Online, 5.9.2012 (Kommentar nr. 11), http://blog.zeit.de/ der Beschneidung minderjähriger Jungen, Deutscher Bundestag, 17. wahlpe- joerglau/2012/09/05/beschneidungsverbot-und-die-zukunft-des-judentums- riode, Drucksache 17/10331, 19.7.2012, http://dip21.bundestag.de/dip21/ indeutschland_5696/comment-page-2#comments (eingesehen 24. 9. 2012; btd/17/103/1710331.pdf, (eingesehen 31. 10. 2016). Ortho graphie und Interpunktion im Original). 1028 Kommentar von »Frank schulze«, in: Bild Online, 19.7.2012, 1024 Umfrage – viele Deutsche gegen Beschneidung, in: Klner stadt-anzei- ger, 19.7.2012, und leser-Kommentar von »Friedrich t.«, in Klner stadt-an- http://www.bild.de/politik/inland/beschneidung/resolution-bundestag-will- zeiger, 21. 7. 2012, http://www.ksta.de/politik/umfrage-viele-deutschegegen- beschneidungen-erlauben-25240968.bild.html# (eingesehen 31. 10. 2016; beschneidung,15187246,16656034 (eingesehen 19.9.2012; nicht mehr online Orthographie und Interpunktion im Original!). verfgbar; Orthographie und Interpunktion im Original). 1029 Inzwischen wurde der Username gelscht, der Kommentar ist nicht mehr 1025 Kopie im archiv des zentrums fr antisemitismusforschung. einsehbar.

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vor Unverständnis. Nun ist es endgltig klar, dass unsere Fußballverein F.C. Hansa Rostock.1032 Nur fnf Tage später, Politik manipulierbar ist und keinen Mumm hat.«1030 am 9. September 2012, kam es zu einer antisemitischen FarbAttacke auf die evangelische Kirche von Atterwasch Am 21. Juli 2012 meldeten sich mehr als 700 Mediziner bei Guben. In großen Lettern waren judenfeindliche Paro- und Juristen, aber auch weniger berufene Experten in len und ein NS-Symbol an die Kirche gesprht worden.1033 einem »offenen Brief« zu Wort und erklärten: »Kernpunkt ist die Abwägung der Grundrechte auf Religionsfreiheit Im Einzelnen kann der Zusammenhang zwischen anti- von Erwachsenen mit dem Recht des Kindes auf krperli- semitischen Debatten in der Öffentlichkeit und Gewalt- che Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung sowie handlungen nicht belegt werden. Dass Einstellungen mit die Achtung seiner Wrde. In diesem Zusammenhang grßerer Wahrscheinlichkeit in Handlungen bersetzt kann die Religionsfreiheit kein Freibrief zur Anwendung werden, wenn die wahrbenommen sozialen Normen und von (sexueller) Gewalt gegenber nicht einwilligungs- die vermuteten Einstellungen im sozialen Umfeld – hier fähigen Jungen sein. […] Der schwerwiegende Vorwurf besetzbar mit Debatten in der Öffentlichkeit – diese jedoch – unter assoziativem Verweis auf den Holocaust – sttzen, ist allerdings vielfach empirisch belegt.1034 Konkret durch ein Verbot der rituellen Jungenbeschneidung wrde verweisen verurteilte rechtsextreme Täter auf die Mehr- ›jdisches Leben in Deutschland‹ unmglich werden, ist heitsmeinung, die ihre Taten sttzt.1035 Die auffällige fr Vertreter des Kinderschutzgedankens nicht hinnehm- Häufung antisemitischer Übergriffe und Straftaten im bar.«1031 Zuge ffentlicher antisemitisch konnotierter Debatten bzw. Demonstrationen drfte daher mit einiger Sicherheit nicht nur korrelativ, sondern auch kausal miteinander in 12.2.3 Die Debatte und ihre Folgen Verbindung stehen.

Solche Einträge geben Anlass zu der Frage, ob die Beschneidungsdebatte, die schnell zu einer medialen 12.2.4 Reaktionen der Politik Auseinandersetzung wurde und sich im Wesentlichen um Beschneidungen jdischer Jungen drehte, einen Boden Es hat zunächst lange gedauert, bis die Politik auf das fr antisemitische Übergriffe bereitet hat. In der bundes- Klner Urteil reagierte. Erst sechs Wochen nach dem Rich- republikanischen Geschichte lässt sich beobachten, dass terspruch am 7. Mai 2012 begann die Debatte als Reaktion ffentliche Debatten und, seit Beginn der Zweiten Intifada auf einen Artikel in der Financial Times Deutschland. Die im Jahr 2000, medial begleitete Ereignisse im Nahostkon- Zeitung war von dem Passauer Professor fr Rechtswis- fikt antisemitische Reaktionen auslsen. Häufg handelt senschaft, Holm Putzke, informiert worden. Putzke hatte es sich um verbale Angriffe, die in Briefen von Leserinnen bereits 2008 in wissenschaftlichen Artikeln auf das Recht und Lesern sowie in Kommentarleisten von Online-Zei- auf krperliche Unversehrtheit verwiesen und vehement tungen oder in E-Mails an jdische Institutionen geäußert gegen das Ritual der Beschneidung gekämpft.1036 Das werden. Aber auch antisemitische Straftaten häufen sich Klner Gericht hat Putzkers Sicht auf die Beschneidung in in solchen Phasen. Dies scheint auch zu gelten, wenn eine Debatte, wie wir sie seit dem Klner Urteil erleben, breite

mediale Aufmerksamkeit fndet. So ist die Schändung des 1032 Jdischer Friedhof in Krpelin geschändet, in: nDr, 4.9.2012, jdischen Friedhofs in Krpelin bei Rostock am 4. Septem- http://www.ndr.de/regional/mecklenburg-vorpommern/friedhof195.html ber 2012 mit großer Wahrscheinlichkeit ein Resultat der (19.9.2012) und Jdischer Friedhof von hansa-Fans geschändet?, in: nDr, medialen Präsenz. Die dort angebrachten Hakenkreuz- 4.9.2012, http://www.ndr.de/regional/mecklenburg-vorpommern/kroepelin 101.html (eingesehen 24.9.2012). Der Friedhof wurde erneut im Januar 2016 – schmierereien und antisemitischen Parolen – »Scheiß vermutlich am abend des Gedenktages an die Opfer des nationalsozialis- Juden« und »Sieg Heil« – gehen vermutlich auf das mus – geschändet, in: Die welt, 28.1.2016, https://www.welt.de/regionales/ Konto rechtsextremer Fußballfans von Hansa-Rostock. mecklenburg-vorpommern/article151563382/erneut-juedischer-Friedhof-in- Kleinstadt-Kroepelin-geschaendet.html (eingesehen 31. 10. 2016). Auf einem der Grabsteine hinterließen die Täter das 1033 Bischof Drge ruft zu Bekämpfung von antisemitismus auf, in: evange- Graffto »Zone F.C.H.« – das Krzel F.C.H. steht fr den lischer Pressedienst – landesdienst Ost, http://www.epd.de/landesdienst/ landesdienst-ost/schwerpunktartikel/bischofdr Prozentc3 ProzentB6ge-ruft- zu-bek Prozentc3 Prozenta4mpfung-von-antisemitismus (eingesehen 19.9. 2012; online nicht mehr verfgbar). 1034 zum einfuss von Massenmedien auf Gesellschaft sowie individuelles 1030 Kommentar von »Prof harry Ball«, »vor 2 Monaten«, in: Bild Online, verhalten u.a. elisabeth Perse, Mass Media and society, Mahwah 2001; studi- 19. 7. 2012, en basierend auf dem klassischen einstellungs-verhaltens-Modell von Martin Fish bein/Icek ajzen, Belief, attitude, Intention, and Behavior: an Introduction http://www.bild.de/politik/inland/beschneidung/resolution-bundestag-will- to theory and research, reading 1975. beschneidungen-erlauben-25240968.bild.html# (eingesehen 31. 10. 2016). 1035 Klaus wahl (hrsg.), skinheads, neonazis, Mitläufer: täterstudien und Prä- 1031 verffentlicht in der Frankfurter allgemeinen zeitung, 21.7.2012, http:// vention, Opladen 2003. www.faz.net/aktuell/politik/inland/offener-brief-zur-beschneidung- religionsfreiheit-kann-kein-freibrief-fuer-gewalt-sein-11827590.html (einge- 1036 Peter widmann, ein Gerichtsurteil und seine mediale Inszenierung, in: sehen 3. 11. 2016). heil/ Kramer (hrsg.), Beschneidung, s. 219–227, hier s. 220 f.

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sein Urteil einfießen lassen und fr strafrechtlich relevant Menschenwrde verstoße.1042 Das geplante Beschnei- erklärt. Putzker begrßte die »Rechtssicherheit« und legte dungsverbot wurde jedoch letztlich nicht in das Parteipro- das Urteil so aus, dass die Beschneidung nun in Deutsch- gramm aufgenommen.1043 land illegal sei.1037

Bundeskanzlerin Angela Merkel sah das anders. Zeitungs- 12.2.5 Reaktionen des Zentralrats der berichten von Mitte Juli 2012 zufolge hat sie vor einem Juden in Deutschland Beschneidungsverbot gewarnt und erklärt, Deutschland wrde sich zur »Komiker-Nation« machen, wenn es Juden Der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in nicht zugestehe, ihre Riten auszuben.1038 , Deutschland, Dieter Graumann, äußerte sich im August Beauftragte fr Kirchen und Religionsgemeinschaften der 2012 in einem Interview, das auf der Webseite des Zentral- SPD-Bundestagsfraktion, äußerte ihr Unverständnis ber rats eingestellt wurde: »Es ist kein bloßes Sommertheater, den »nahezu missionarischen Eifer gegen Religion« im auch ein Sommermärchen fhlt sich defnitiv anders Allgemeinen und die Beschneidung im Besonderen durch an. […] Ich habe festgestellt, dass die meisten Menschen atheistische Organisationen. Dies mache ihr Angst, sagte in Deutschland in Bezug auf die Beschneidung auch gar sie, v.a. auch, weil die emotionale Debatte 2012 in »richti- nicht Bescheid wissen. […] Wenn die Debatte sachlich und gen Hass gegen Juden und Muslime und auch Verachtung vernnftig gefhrt wird, auch von kontroversen Stimmen von religiser Tradition« umschlug.1039 begleitet, ist das absolut legitim. Das hat mit Antisemitis- mus und Rassismus zunächst einmal gar nichts zu tun. Im Dezember 2012 hat der Deutsche Bundestag mit deut- Gleichwohl gibt es aber diejenigen, die sozusagen auf den licher fraktionsbergreifender Mehrheit das neue Gesetz Zug aufspringen und ihre antijdischen und antimuslimi- zur Beschneidung verabschiedet, das am 28. Dezember in schen Ressentiments im Rahmen dieser Debatte ausleben Kraft trat (BGB, § 1631d: Beschneidung des männlichen wollen. Das fnden wir gerade sehr häufg im Internet. Kindes). Den Antrag hatte die damalige Bundesjustiz- Wenn man bestimmte Blogs liest, kann einem wirklich ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) schlecht werden. Dort tummeln sich die, die Beschnei- gestellt. Sie betonte, dass das neue Gesetz Rechtssicherheit dung sagen und Antisemitismus und Muslimfeindschaft schaffe und eine »Rckkehr zur Normalität« bedeute.1040 meinen. Das gibt es häufger und schriller, als viele denken. Bereits im Juli hatte sich der Bundestag dafr ausgespro- […] Wenn ich den Offenen Brief der 700 Wissenschaftler chen, »dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung an Bundesregierung und Bundestag lese, dann ist das eine von Jungen ohne unntige Schmerzen grundsätzlich einzige Anklageschrift. Eine Schmähschrift, welche die zulässig ist«.1041 jdische Gemeinschaft heute und alle Juden seit Jahrtau- senden vor uns als notorische Kinderquäler diffamiert. Da Das Thema Beschneidung wurde im April 2016 von wird von namhaften Medizinern und Juristen behauptet, der AfD wieder auf die politische Agenda gesetzt. Im wir bten ›sexuelle Gewalt‹ gegen unsere Kinder aus. Man Entwurf des Parteiprogramms fand sich die Bemer- tue Kindern nicht weh, heißt es dort, und dieser Satz wird kung, die Beschneidung des männlichen Kindes »ohne auch noch marktschreierisch mit einem groben Ausru- medizinische Indikation wegen gravierender Grund- fezeichen versehen. Das ist eine Form von Anklage und rechtsverletzungen« sei abzulehnen, weil sie gegen die Belehrungsdenken, die man nirgendwo auf der Welt sonst noch fndet. […] Es gibt eine große berregionale Tageszei- tung, die ich selbst seit Jahrzehnten lese, die seit Wochen einen regelrechten journalistischen Kreuzzug gegen die 1037 ebenda, s. 221. Beschneidung fhrt. Immer wieder wird die Brit Mila dort 1038 siehe u.a. spiegel Online, 16.7.2012, http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/bundeskanzlerin-merkel-warnt-vor-beschneidungsverbot-a - gleichgesetzt mit Kindesmisshandlung und -missbrauch, 844671.html (eingesehen 3.11.2016); Merkel – »wir machen uns zur Komikerna- mit Genitalverstmmelung von Mädchen, mit der Pr- tion«, in: Die welt Online , 16.7.2016, https://www.welt.de/politik/deutschland/ gelstrafe und sogar Menschenopfer. Und das mit einem article108304605/Merkel-wir-machen-uns-zur-Komikernation.html (einge se- hen 3.11.2016); Focus Online, 16.7.2012, http://www.focus.de/politik/deutsch- land/wir-machen-uns-zur-komikernation-merkel-will-beschneidungen- billigen_aid_782613.html (eingesehen 3. 11. 2016). 1039 pro. christliches Medienmagazin, 11.12.2016, http://www.pro-medien magazin.de/politik/detailansicht/aktuell/das-ist-richtiger-hass-80652/ (einge- sehen 1. 11. 2016). 1042 entwurf des Grundsatzprogrammes, https://correctiv.org/media/public/ 1040 Mehrheit im Bundestag fr Beschneidungsgesetz, in: pro. christliches a6/8e/a68ed5e4-32a8-4184-8ade-5c19c37ff524/2016_02_23-grundsatz Medienmagazin, 12. 12. 2012, http://www.pro-medienmagazin.de/politik/ programmentwurf.pdf (eingesehen 1.11.2016); Bild, 11.3.2016, http://www.bild. detailansicht/aktuell/mehrheit-im-bundestag-fuer-beschneidungsgesetz- de/politik/inland/umfrage/afd-will-minarette-und-muezin-rufe-verbieten- 80647/ (eingesehen 1. 11. 2016). 44894024.bild.html (eingesehen 1. 11. 2016). 1041 pro. christliches Medienmagazin, 20.7.2012, http://www.pro-medien 1043 Deutschlandradio, 15. 7. 2016, http://www.deutschlandradiokultur.de/afd- magazin.de/politik/detailansicht/aktuell/bundestag-moechte-beschneidun- front-national-und-co-rechtspopulisten-buhlen-um-juden.1079.de.html? gen-erlauben-81115/ (eingesehen 1. 11. 2016). dram:article_id=360241 (eingesehen 1. 11. 2016).

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Eifer, der mir von dieser Zeitung in keinem anderen Fall 12.2.6 Empirische Studien bekannt ist.«1044 Nach einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung (durchge- Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen fhrt von Emnid) im Jahr 2013 ist die Akzeptanz fr die Kultusgemeinde Mnchen, schrieb in einem Kommentar in rituelle Beschneidung im Judentum eher gering. Lediglich der Sddeutschen Zeitung: »Seit Jahrzehnten erklären wir, 14 Prozent der deutschen Befragten sind der Meinung, die warum es trotzdem nicht nur richtig, sondern auch gut deutsche Regierung solle »unter allen Umständen« die ist, in diesem Land zu leben, wir tun das selbst dann noch, Beschneidung aus religisen Grnden erlauben; insgesamt wenn in Deutschland Rabbiner oder als Juden erkenn- liegt die Zustimmungsrate fr das Item »Beschneidung bare Juden angepbelt und krankenhausreif geschlagen aus religisen Grnden erlauben« bei 49 Prozent.1047 werden. Beinahe mein ganzes Leben lang war und bin ich der Kritik der restlichen jdischen Welt ausgesetzt. Im Jahr 2014 fhrte das Moses Mendelssohn Zentrum Seit sechs Jahrzehnten muss ich mich rechtfertigen, weil eine Online-Umfrage zu »Religion, Zuwanderung und ich in Deutschland geblieben bin – als Überbleibsel einer interkulturelle Wahrnehmungen« unter Studierenden zerstrten Welt, als Schaf unter Wlfen. […] Ich frage mich, der Universität Potsdam durch. Einem Verbot der rituellen ob die unzähligen Besserwisser aus Medizin, Rechtswis- Beschneidung von jdischen Jungen wrden 38,3 Prozent senschaft, Psychologie oder Politik, die ungehemmt ber der Befragten uneingeschränkt oder teilweise zustimmen; ›Kinderquälerei‹ und ›Traumata‹ schwadronieren, sich einen solchen rituellen Akt untersagen wrden bei Musli- berhaupt darber im Klaren sind, dass sie damit neben- men nur unwesentlich mehr Personen, und zwar 39,5 Pro- bei die ohnedies verschwindend kleine jdische Existenz zent.1048 In der Studie der Fundamental-Rights-Agency in Deutschland infrage stellen. […] Menschen, die offenbar sagten 71 Prozent der befragten Jdinnen und Juden, ein keine Ahnung von der religisen Bedeutung der Brit Mila, Verbot der Beschneidung wrde ein Problem fr sie dar- der Beschneidung, haben, die vermutlich niemals mit stellen. In der fr den vorliegenen Bericht in Auftrag gege- einem Juden gesprochen haben, wollen uns nun vor- benen qualitativen Befragung äußerten sich die Befragten schreiben, ob und wie wir unsere Religion ausben dr- kritisch, sie sähen sich aufgrund der Beschneidung unter fen.«1045 Sie musste nun zurecht daran zweifeln, dass ihre Rechtsfertigungsdruck gesetzt (→ Jdische Perspektiven). bei der Grundsteinlegung zur neuen Hauptsynagoge mit dazugehrigem jdischen Gemeindezentrum am Jakob- splatz in Mnchen gefällte Entscheidung, die »gepackten 12.2.7 Fazit Koffer« auszupacken, weil sie sich hier in Deutschland wieder heimisch fhlte, vor dem Hintergrund des Hasses, Die hasserfllten Auswchse der Beschneidungsdebatte, der ihr und anderen in Deutschland lebenden Juden im die v.a. im Internet virulent waren, haben einmal mehr Zusammenhang mit der Beschneidung entgegenschlug, gezeigt, dass es nur eines Trigger-Ereignisses bedarf, um die falsche war. »Das erste Mal«, so Knobloch, »sprten latent vorhandene antisemitische Stimmungen emotional wir bei der Beschneidungs-Debatte, wie groß die Freude aufzuladen und in den sozialen Netzwerken ungefltert an ist, Juden zu kritisieren. […] Der einzige Lichtblick war der die Oberfäche zu splen. Kommentare in den Online-Ver- Zuspruch der Politik, allen voran der Bundeskanzlerin. sionen seriser Tageszeitungen wurden ebenso genutzt, Die Juden mssen offenbar unter dem Schutz der Politik um die Beschneidung als archaisches Ritual berkom- und der Sicherheitskräfte stehen. Das macht mich sehr mener religiser Vorstellungen abzuqualifzieren und nachdenklich. Es klafft eine Lcke zwischen der politi- diskriminierende antijdische Parolen zu äußern. Auch schen Räson und der gesellschaftlichen Stimmung.«1046 wenn es sich ursprnglich um den Fall eines muslimi- (→ Prävention; → Jdische Perspektiven) schen Jungen handelte, standen die jdischen Riten bald wesentlich stärker im Fokus der Debatte. Es verfestigte sich zunehmend der Eindruck, dass die Beschneidung und die Verschiebung der Argumentationslinien von religisen Gebräuchen hin zu Fragen von Kinder- und Menschenrechten eine willkommene Abwechslung boten

1044 http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3770.geradezu-besessen- 1047 Deutschland und Israel heute. verbindende vergangenheit, trennende dieter-graumann-Prozentc3 ProzentBcber-gef Prozentc3 Prozenta4hrliche-t Gegenwart?, Gtersloh 2015, https://www.bertelsmann-stiftung.de/fleadmin/ Prozentc3 ProzentB6ne-im-beschneidungsstreit.html (eingesehen 3.11.2016). fles/Bst/Publikationen/GrauePublikationen/studie_lw_Deutschland_und_ 1045 sddeutsche zeitung, 29.9.2012, http://www.sueddeutsche.de/politik/ Israel_heute_2015.pdf, s. 44 (eingesehen 1.11.2016). beschneidungen-in-deutschland-wollt-ihr-uns-juden-noch-1.1459038-2 (ein- 1048 religion, zuwanderung und interkulturelle wahrnehmungen, Potsdam gesehen 3. 11. 2016). 2015, http://www.mmz-potsdam.de/meldung-lesen/items/erfreuliche- 1046 Der tagesspiegel, 13. 9. 2014, http://www.tagesspiegel.de/politik/de- ergebnisse-einer-mmz-online-umfrage.html (eingesehen 1.11.2016); siehe auch: monstration-gegen-antisemitismus-charlotte-knobloch-zum-judenhass-die- http://www.mmz-potsdam.de/fles/MMz-Potsdam/Download-Dokumente/ anstaendigen-scheinen-zu-schlafen/10697002.html (eingesehen 3. 11. 2016). nl_Dialog_PDFs/Dialog Prozent2066.pdf (eingesehen 1.11.2016).

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gegenber den inzwischen schon klassisch gewordenen wollten eine Sonderrolle einnehmen und das schlechte Zuschreibungen im Nahostkonfikt, die vermeintlich keine Gewissen der Deutschen zu ihrem Vorteil nutzen. antisemitischen Konnotationen transportieren wrden. Der Verlauf der Debatte hat deutlich gemacht, dass in der Mehrheitsgesellschaft ein Mangel an Sensibilität hinsicht- 12.3.1 Zur Situation in Deutschland lich der Frage herrscht, welche Wirkung solche ffentli- chen, hasserfllten Zuschreibungen bei den Betroffenen Mitte der 1980er- bis in die 1990er-Jahre hinein prägten auslsen. Demgegenber gilt es allerdings festzuhalten, in der alten Bundesrepublik und der DDR v.a. rechte und dass mit einer Auseinandersetzung etwa ber die Aus- neonazistische Gruppen die Fankultur. Seitdem gehren fhrung des Rituals keineswegs immer antisemitische auch antisemitische Schmähungen zum Repertoire der Haltungen einhergehen mssen, sondern durchaus auch Fußballfans. Dabei waren angesichts der verschwindend frei von solchen Einstellungen argumentiert werden kann. kleinen Zahl jdischer Fußballer zunächst fast ausschließ- lich nichtjdische Personen oder Gruppen betroffen. Häu- fg wurden Schiedsrichter zum Ziel von als Beleidigung gemeinten, aber hinsichtlich ihres antisemitischen Gehalts 12.3 antisemitismus im Fußball oft kaum refektierten »Jude«-Rufen.1049 Derartige Vor- kommnisse treten seit den späten 1990er-Jahren seltener In Deutschland, wie auch in einer ganzen Reihe anderer auf, doch gibt es sowohl unter Wissenschaftlern wie Sze- europäischer Länder, gehrt zur Kultur der Rivalität zwi- nekennern keinen Konsens darber, wie die heutige Situ- schen Fußballvereinen, dass sich Zuschauer und insbe- ation einzuschätzen ist. Man nimmt an, dass auch durch sondere Fangruppen von den Spielern und Anhängern der die Bildung antirassistischer Fangruppen (Ultrakultur) gegnerischen Mannschaft durch derbe Herabsetzungen neonazistische und antisemitische Vorkommnisse v.a. im und Beschimpfungen abgrenzen, um so ihr Zusammenge- Bundesligafußball seltener geworden sind.1050 Es gibt aber hrigkeits- und Überlegenheitsgefhl zu demonstrieren. auch die These, dass sich die Vorfälle nur aus dem Stadion Neben dieser Funktion einer Vergemeinschaftung spielen auf die An- und Abfahrtswege sowie von der Bundesliga in auch die Demonstration von Männlichkeit und damit die unteren Ligen verlagert haben knnten.1051 So besteht auch Fragen von Macht, Ehre und Gewalt in diesen Kon- das Problem von zumeist offen geäußertem, in manchen fikten eine zentrale Rolle, wobei gerade in Jugendkulturen Fällen auch gewalttätigem Antisemitismus auf allen dazu typischerweise auch abweichendes Verhalten gehrt. Ebenen des deutschen Fußballs – bis hin zu Auftritten der So dienen antisemitische und rassistische Beschimpfun- Nationalmannschaft im Ausland – fort. Die wissenschaft- gen, mit denen bewusst gegen gesellschaftliche Normen liche Forschung hat Diskriminierungen im Fußballsta- verstoßen wird, als ein probates Mittel der Provokation, dion bisher zumeist nur im Hinblick auf Rassismus und wobei sich diese in vielen Fällen nicht direkt gegen Juden Fremdenfeindlichkeit untersucht, Antisemitismus spielte oder Angehrige der angesprochenen ethnischen Grup- dabei nur eine Nebenrolle. Entsprechend liegen nur wenig pen richten. Vielmehr dienen antisemitische Schmähun- spezifsche Studien zum Antisemitismus im Fußball und gen zumeist der Beschimpfung des Schiedsrichters und der Fankultur vor.1052 der Spieler oder Anhänger der gegnerischen Mannschaft, transportieren aber gleichzeitig antisemitische Vorstel- Hinzugetreten ist ein neues Phänomen, von dem v.a. die lungen. Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen in mehreren Städten aktiven Fußballvereine des jdischen Milieus, in denen sich antisemitische Ressentiments eher verdeckt äußern, herrschen in der Öffentlichkeit des Fuß- balls zumeist sehr direkte und brutale Ausdrucksformen 1049 es wird in der Forschung darber diskutiert, welche Funktion die antise- mitischen stereotype in der aktuellen sprachverwendung haben, ob etwa die vor, so etwa wenn offen und affrmativ auf die Ermordung verwendung des Begriffs »Jude« als eine synonyme verwendung fr abwer- der Juden Bezug genommen wird (U-Bahn-Bau nach tende Bezeichnungen eine Bedeutungsveränderung erfährt oder als ausdruck Auschwitz, Zyklon B usw.) oder wenn Beleidigungen wie eines antisemitischen weltbilds begriffen werden muss. vgl. Michael reichelt, Das lexem ›Jude‹ im jugendlichen sprachgebrauch. eine Untersuchung am Bei- »Drecksjude« benutzt werden. Neben diesen Formen des spiel sächsischer Fußballplätze, in: Jahrbuch fr antisemitismusforschung, 18 rassistischen Antisemitismus spielt v.a. das Stereotyp des (2009), s. 17 f.; Monika schwarz-Friesel, sprache und emotion, tbingen/Basel jdischen Reichtums eine zentrale Rolle, wenn bestimmte, 2007, s. 338. zumeist fnanzkräftige Vereine als »jdisch« geschmäht 1050 laut Jahresbericht der zentralen Informationsstelle sporteinsätze (zIs) wurden fr die saison 2012/13 fr die drei Bundesligen 16 standorte rechts werden, wie es z.B. bei Ajax Amsterdam, Tottenham Hots- offener oder neonazistischer Fangruppen ermittelt. http://www.polizei-nrw. pur oder Bayern Mnchen der Fall ist. Wir fnden aber auch de/media/Dokumente/12-13_Jahresbericht_zIs.pdf (eingesehen 25. 11. 2016). Formen des sekundären Antisemitismus, z.B. wenn die 1051 Gunter a. Pilz, Fangewalt, rechtsextremismus und Diskriminierungen im von Antisemitismus betroffenen jdischen Vereine auf die Fußballsport, in: Gnther Degener/wilhelm Krner (hrsg.), Gewalt und aggres- sion im Kindes- und Jugendalter: Ursachen, Formen, Intervention, weinheim Schmähungen mit Beschwerden reagieren und deshalb 2011, s. 243. als berempfndlich gelten und ihnen unterstellt wird, sie 1052 vgl. Florian schubert, Fußball und antisemitismus. Gutachten fr den Unabhängigen expertenkreis antisemitismus, 2016, s. 4.

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Turn- und Sportverbands in Deutschland Makkabi e. V. vonseiten der Neonazis mit antisemitischen Unterstellun- betroffen sind, die sich nach Auskunft des Vereinsvor- gen bedacht wurde, die auf seine Finanzkraft anspielen. sitzenden Alon Meyer seit sechs, sieben Jahren seltener Angriffen von Rechtsextremen oder antisemitischen »Während eines Pokalspiels schmetterten hunderte Fans Personen aus den gegnerischen Mannschaften ausgesetzt des Zweitliga-Klubs Dynamo Dresden ihrem favorisierten sehen, dafr aber zunehmend zum Ziel von »Verbalat- Gegner entgegen: ›Jude, Jude, Jude – Eintracht Frankfurt‹«, tacken […] von einer muslimisch geprägten Minderheit« während sich zwei Jahre später die zweite Mannschaft werden.1053 des Vereins (Sportgemeinschaft Eintracht) von Anhängern des fnanziell weniger gut ausgestatteten Rivalen Kickers Offenbach »Zyklon B fr die SGE-« und »Judenschwei- 12.3.2 Ausdrucksformen des Antisemitismus ne«-Rufe anhren musste. Der Verein distanziere sich »ausdrcklich von Gewalt sowie antisemitischen und ras- Antisemitismus drckt sich in den Fußballstadien, auf sistischen Parolen«, sagte Geschäftsfhrer David Fischer den An- und Abfahrtswegen sowie in den Fanforen im Spiegel Online. »Wir haben bereits in Zusammenarbeit mit Internet in unterschiedlichen Formen aus. Verbal werden der Polizei einen Teil der Strer ermittelt und Stadionver- antisemitische Beschimpfungen oder Anspielungen teils bot gegen die entsprechenden Personen verhängt.«1056 Im von Einzelpersonen vorgebracht, zumeist aber mit gr- Fall der Makkabi-Vereine stammen die Beschimpfungen ßerer Öffentlichkeitswirksamkeit in Form gemeinschaft- aber häufg nicht nur von den Fans der gegnerischen licher Fangesänge oder antisemitische Transparente und Mannschaft, sondern sogar von deren Spielern und Banner.1054 Häufg wird das Wort »Jude« zur Diffamierung Betreuern. Neu ist das Phänomen, dass Spieler von Fans des gegnerischen Vereins (wie »Juden Hannover« oder des eigenen Vereins antisemitisch beleidigt werden. Dies »Juden Aue«) sowie seiner Fans benutzt, v.a. wenn er aus erlebte der israelische Prof Itay Schechter im Februar 2012 einer Stadt mit einer jdischen Vereinstradition kommt, durch rechtsgerichtete Fans von FC Kaiserslautern.1057 wie etwa im Falle Bayern Mnchens. Ein weiteres Motiv, das sich aus der antisemitischen Vorstellung von jdi- Antisemitismus fndet sich zudem häufg im Kontext von schem Reichtum und jdischer Macht speist, ist der Neid Anspielungen auf den Nationalsozialismus und die Verfol- auf fnanziell besser ausgestattete Vereine, v.a. wenn ein gung und Ermordung der Juden. Die krassesten Beispiele reicher Sponsor den Verein frdert. Solche Vereine werden dafr sind das sogenannte U-Bahn nach Auschwitz-Lied, in häufg mit antisemitischen Schmähungen bedacht.1055 Die dem der Bau einer U-Bahn zum Ort der Judenvernichtung verwendeten antijdischen Bilder knnen dabei auch sehr vorgeschlagen wird, und »Zyklon B«-Rufe fr gegnerische subtil auftreten. Der Fußballjournalist Ronny Blaschke Mannschaften. So sangen Fans von Borussia Neunkirchen vermutet etwa, dass die Proteste von tausenden Fans am 25. August 2015 beim Spiel gegen TuS Koblenz dieses gegen den aufstrebenden damaligen Zweit- und heutigen Lied und riefen »SS, SA, Borussia«.1058 Es fnden sich neu- Erstligisten Rasenballsport Leipzig, der von einem ster- erdings aber auch Beispiele, insbesondere in der Zeit von reichischen Milliardenunternehmen, der Firma Red Bull, Eskalationen im Nahostkonfikt wie im Sommer 2014, bei getragen wird, mit der Verballhornung des Vereinsna- denen rechtsextreme Fangruppen israelfeindliche Slogans mens in »Rattenball« eine von Neonazis aus Sachsen verbreiteten und ihre Solidarität mit den Palästinensern verwendete Anspielung auf die im NS-Film »Der ewige verkndeten. So skandierten bei einem Testspiel zwi- Jude« verwendete Gleichsetzung von Juden und Ratten schen Hannover 96 und Lazio Rom dreißig Anhänger des benutzt hätten, ohne mglicherweise diesen Hintergrund Fan-Freundeskreises »Legion Germania«: »Scheiß Israel«, zu kennen. Die meisten Fans, denen »Rattenball« ber die Lippen kommt, wrden den Verdacht des Antisemitismus wohl zurckweisen. Fr eine antisemitische Lesart von »Rattenball« spricht, dass der Verein seit seiner Grndung 1056 Diese rufe sind auf einem Youtube-video festgehalten. siehe: http:// www.spiegel.de/sport/fussball/kickers-offenbach-geht-gegen-antisemiti- sche-anhaenger-vor-a-922763.html (eingesehen 9.10.2016). vgl. zu diesem vorfall auch: Florian schubert, antisemitismus in Fußball-Fankulturen, in: Gerd 1053 ronny Blaschke, Judenhass im Fußball. Bundeszentrale fr politische Dembowski/Martin endemann/Jonas Gabler (hrsg.), zurck am tatort stadion. Bildung, www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/202637/ Diskriminierung und antidiskriminierung in Fußball-Fankulturen, Gttingen judenhass-im-fussball (eingesehen 15.9.2016); Philipp Peymann engel, ›wir 2015, s. 94. werden oft bedroht und beschimpft‹. claudio Offenberg ber Judenhass im 1057 zu den vorgängen in Kaiserslautern im Februar 2012: aufregung in Kai- Fußball, ewiggestrige und der wunsch nach solidarität, in: Jdische allgemei- serslautern. Der FcK-Prof shechter wurde von eigenen Fans antisemitisch ne, 24. 9. 2012. beleidigt, in: spiegel Online, 27.2.2012, http://www.spiegel.de/sport/fussball/ 1054 z.B. Banner, das von Dynamo Dresden Fans zur schmähung des Gegners an aufregung-in-kaiserslautern-fck-prof-shechter-von-fans-antisemitisch-belei- die absperrung am spielfeldrand gehängt wurde, auf dem eine comic-Figur zu digt-a-817771.html (eingesehen 25.11.2016); »Drecksjude« auf dem trainings- sehen ist, die einen chassidischen Juden im Ghostbusters-stil zeigt, der durchge- platz.Der israelische Fußballer Itay shechter ist beim Fc Kaiserslautern beleidigt strichen ist, http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2011/04/14/antisemitische- worden, in: Jdische allgemeine, 28.2.2012, http://www.juedische-allgemeine. hetze-unter-dynamo-dresden-fans_6079 (eingesehen 12. 12. 2016). de/article/view/id/12409 (eingesehen 9.10. 2016). 1055 ronny Blaschke, Judenhass im Fußball. 1058 zitiert nach schubert, expertise Fußball und antisemitismus, s. 26.

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»Eine Bombe auf Israel« und »Duce«.1059 Der Sozialwissen- es kommt auch zu Gewalttätigkeiten, wobei die Tätergrup- schaftler Gerd Dembowski sieht darin Beispiele fr eine pen meist rechte und neonazistische Fangruppen sind, neue Variante der Judenfeindschaft im Fußball, die als die sich bei ihren Angriffen auf antirassistische Fangrup- brachiale Kritik an Israel getarnt sei.1060 pen oder solche, die einen Ruf als Linke haben, mitunter antisemitischer Rufe oder Posen bedienen. Das Besondere Eine noch wirksamere, weil ber Internetforen auch wei- ist dabei, dass sich diese Angriffe nicht mehr nur gegen ter zu verbreitende Form antisemitischer Hetze bedient fremde Fangruppen, sondern auch gegen die des eigenen sich visueller Präsentationsformen wie Transparenten, Vereins richten knnen.1064 Wandmalereien oder Grafftis. Die im Stadion gezeigten Transparente enthalten teils offen brutale antisemitische Schmähungen, benutzen teils aber auch raffniertere 12.3.3 Die jdischen Makkabi-Vereine als Anspielungen.1061 Ein bekanntes Beispiel fr den offenen Zielscheibe von Antisemitismus Antisemitismus, der zumeist auf die Ermordung der Juden rekurriert, ereignete sich bei einem Spiel der deutschen Zielt die Gewalt unter Verwendung antisemitischer Nationalmannschaft am 4. September 1996 in Zabrze, Schmähungen oft auf nichtjdische, antirassistische das ca. 50 Kilometer von Auschwitz entfernt liegt. Dort Fangruppen, so werden bei Spielen von Makkabi-Vereinen, entrollten mitgereiste Neonazis ein Transparent: »Schind- in denen Juden gemeinsam mit Christen und Muslimen ler-Juden – wir grßen euch!« und riefen: »Wir sind spielen, Spieler und Fans gleichermaßen bedroht und in Polen, um die Juden zu versohlen.«1062 Ein ähnliches angegriffen. Nach Aussagen des sportlichen Leiters von Vorgehen fand sich auch im Spiel des TuS Sachsenhausen Makkabi Berlin, Claudio Offenberg, waren trkische Spie- gegen Babelsberg 03 am 8. Mai 2013: Es wurde ein Trans- ler, die meist muslimischen Glaubens sind, von trkischen parent mit dem Schriftzug »Gas geben Sachsenhausen« Spielern der gegnerischen Mannschaft angefeindet und gezeigt und damit eine Verknpfung zum ehemaligen KZ mit Ausdrcken wie: »Ihr solltet euch ja schämen, bei den Sachsenhausen und der Erstickung von Juden mit Gas Saujuden zu spielen. Und du bist selber ein Saujude« usw. hergestellt. Bei den visuellen Präsentationsformen fnden bedacht worden.1065 Insgesamt fnden Bedrohungen und sich aber auch Schmähungen Israels, v.a. von rechts, ver- Angriffe v.a. bei Spielen gegen muslimisch-migrantische bunden mit rechter Symbolik, der Fahne des Deutschen Vereine statt und gehen von deren Spielern, Fans und Kaiserreichs etc. So zeigten im Juli 2014 vierzehn Neo- (Vereins-)Angehrigen aus.1066 »Du stinkst schon wie ein nazis aus dem Umfeld der Partei »Die Rechte« bei einem Jude« – mit solchen Beleidigungen sollen Spieler, Verant- Freundschaftsspiel zwischen Maccabi Netanya und einem wortliche und Fans des BSV Hrtrkel die Gegner vom TuS Nachwuchsteam in Dortmund zwei Palästinenserfaggen Makkabi in einem Spiel am 25. März 2012 beleidigt haben. und eine Fahne des Deutschen Kaiserreichs. Ihre Parolen Das Sportgericht des Berliner Fußball-Verbands (BFV) waren: »Nie wieder Israel« und »Juden raus aus Palästina«. belegte den BSV Hrtrkel daraufin mit einer Aufsehen Die Partei »Die Rechte« dokumentierte den Auftritt in erregenden Strafe. »Es war das erste Mal, dass der Para- einem Video auf YouTube. 1063 Das Internet und hier beson- graph 46, ›Diskriminierung und ähnliche Tatbestände‹ in ders die Fanforen bieten Fußballfans die Mglichkeit, Berlin im Männerbereich in einer vergleichsweise hohen antisemitische Kommentare zu verbreiten, umgekehrt Spielklasse (siebte Liga) zur Anwendung kam. […] Das aber auch zur Gegenwehr (s.u.).

1064 Bei einem auswärtsspiel von eintracht Braunschweig gegen Borussia Die Äußerungsformen antisemitischer Einstellungen Mnchengladbach in der 2. Bundesliga wurden antirassistische Braunschwei- beschränken sich aber nicht auf verbale Angriffe, sondern ger Ultras am 20.9.2013 unter Beschimpfungen wie »du/ihr Jude(n)«, »ver- pißt euch, ihr antifafotzen!« gewalttätig angegriffen. Ultras Braunschweig (22.9.2013): Massive Übergriffe auf die Gruppe Braunschweiger Ultras beim auswärtsspiel in Mnchengladbach, Braunschweig. zitiert nach schubert, ex- 1059 schubert, antisemitismus in Fußball-Fankulturen, s. 95; auch: Blaschke, pertise antisemitismus im Fußball, s. 8. Judenhass im Fußball; http://fanzeit.de/antisemitische-parolen-bei-hannovers- testspiel-gegen-lazio/8909 (eingesehen 9. 10. 2016). 1065 zitiert nach Blaschke, Judenhass im Fußball; alon Meyer berichtet von einem Jugendspiel, das Makkabi kurz vor schluss fr sich entschieden hatte. Die 1060 vgl. hierzu auch die aussage Gerd Dembowskis in: schubert, antisemitis- Gegner fhlten sich provoziert: »auf dem weg zur Kabine ist es dann sehr, sehr mus in Fußball-Fankulturen. heiß gelaufen. Ich habe zum Glck mein handy mit videokamera schon gehabt. Ich habe das Ding auch aufgenommen und geflmt. Die ganzen vorkommnisse, 1061 Fans von energie cottbus zeigten am 15. Mai 2015 im spiel gegen Babels- die ganze schlägerei, wie die da drauf gekommen sind. Ich habe es dann ge- berg 03 eine Fahne mit der aufschrift »zcKn, zGnr & JDn«, bei der man als schafft, die leute noch in die Kabine zu bringen, ich war selber dabei. Und dann zuschauer nur die vokale ergänzen musste (»zecken, zigeuner & Juden«). zit. wurde draußen skandiert. soweit skandiert, dass ich gesagt habe: Ich kann die nach schubert, expertise Fußball und antisemitismus, s. 25. sicherheit meiner sportler auf dem weg jetzt nach hause nicht mehr garantie- 1062 zum vorfall in zabrze: Gerd Dembowski/Jrgen scheidle (hrsg.), tat- ren und werde jetzt die Polizei rufen. Und wir warten, bis die Polizei kommt und ort stadion. rassismus, antisemitismus und sexismus im Fußball, Kln 2002, erst dann werden wir hier rausgehen, aus der Kabine. Und werden nach hause s. 196 f. dann, entweder begleitet oder fahren unter Polizeischutz nach hause«. Blasch- ke, Judenhass im Fußball; siehe auch Deutschlandradio, 18.1.2015, http:// 1063 https://www.youtube.com/watch?v=xDe_ui2gUto (eingesehen 25.11. www.deutschlandradiokultur.de/antisemitismus-im-fussball-klischees-in- 2016), http://www.derwesten.de/staedte/dortmund/nord-west/neonazis- der-kurve.966.de.html?dram:article_id=308164 (eingesehen 11. 1. 2017). stoeren-fussball-spiel-gegen-israelische-mannschaft-id9626318.html (einge- sehen 25.11.2016). vgl. auch Blaschke, Judenhass im Fußball. 1066 schubert, expertise Fußball und antisemitismus, s. 9.

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Sportgericht sah es als erwiesen an, dass es in der Landes- sportliche Leiter von Makkabi Frankfurt, Roman Zurek, liga zwischen Hrtrkel und TuS Makkabi am 25. März sagte angesichts von aufgeheizten Situationen im Nahen zu rassistischen und antisemitischen Beleidigungen Osten: »Wir werden als israelische Mannschaft gesehen. Es gegen Spieler von Makkabi gekommen war. Auf Makka- gibt Gegner, die sehen den Davidstern auf unserem Trikot bis Homepage wird die Situation auf dem Sportplatz am und meinen, sie spielen gegen Israel. Ich muss aber auch Columbiadamm als eine durch ›blanken Hass geprägte sagen: Sprche aus der rechten Szene habe ich persnlich Atmosphäre der Beleidigungen, Beschimpfungen und erst ein Mal mitbekommen.«1070 So vermischen sich die Bedrohungen‹ beschrieben.«1067 Im Amateurfußball sind herkmmlichen antisemitischen Beleidigungen mit anti- die Spieler von Makkabi regelmäßig solchen antisemi- israelischen, wenn etwa Spieler von TUS Makkabi Kln am tischen Anfeindungen ausgesetzt, dies gilt bis hinab zu 6. September 2015 von ihren Gegenspielern unter »Scheiß den Jugendmannschaften. Der Präsident des jdischen Juden«- und »Free Palästine-Rufen« [sic!] Attackiert Sportvereins TuS Makkabi, Alon Meyer, berichtete 2012 wurden.1071 Zu solchen Vorkommnissen kommt es aber von regelmäßigen, fast wchentlichen antisemitischen keineswegs bei allen arabisch-muslimischen Fußballverei- Vorfällen. Polizeischutz bei Spielen sei inzwischen keine nen. Es fnden sich auch dezidierte Gegenreaktionen, etwa Seltenheit mehr.1068 So wurde in der laufenden Saison als das Freizeitteam des Vereins Trkiyeempor Berlin im 2015/16 die dritte Herrenmannschaft des TuS Makkabi Februar 2015 mit einem Spiel gegen TuS Makkabi Berlin Berlin schon zweimal Opfer antisemitischer Übergriffe. ein Zeichen der Solidarität und gegen Antisemitismus »Ende August letzten Jahres wurde das Team von aggres- setzte. Von den Beteiligten wurde gefordert, das Problem siven Spielern des BFC Meteor 06 während eines Matches des Antisemitismus, das auf dem Fußballplatz oft baga- krperlich angegriffen und antisemitisch beleidigt, im tellisiert werde, klar zu benennen. Auch der Bundesligist Oktober war es massiven Bedrohungen durch die Spieler Hertha BSC verffentlichte im Herbst 2014 zusammen mit des 1. FC Neuklln ausgesetzt.«1069 Anders als im Stadion, Makkabi auf YouTube einen Videoclip gegen Judenhass.1072 wo antisemitische Anfeindungen in erster Linie von rech- ten Fangruppen ausgehen, ist der Täterkreis bei Spielen Nach den Erfahrungen des sportlichen Leiters von TuS muslimisch-migrantischer Mannschaften häufg breiter, Makkabi Berlin, Claudio Offenberg, erhielten die Makka- da neben den Fans auch Spieler, Betreuer und Vereinsan- bi-Vereine nach antisemitischen Vorfällen meist keine gehrige antisemitisch agieren. Die Anfeindungen ver- Entschuldigungen vonseiten der gegnerischen Mann- stärken sich bei Eskalationen des Nahostkonfikts, was zu schaften, und auch Solidaritätsbekundungen von ande- einer Art Stellvertreterkrieg auf dem Spielfeld fhrt. Der ren Vereinen gibt es sehr selten. Vielmehr stnden die anderen Vereine dem Problem gleichgltig bis ignorant gegenber. Hinzu kämen teilweise herabsetzende Sprche

1067 sebastian stier, »Kein aufstieg fr antisemitismus«, in: Der tagesspiegel, oder Vorwrfe einer Mitschuld an diskriminierenden 6. 6. 2012, http://www.tagesspiegel.de/sport/berlinsport/punktabzug-fuer- Ereignissen.1073 Dies verweist auf ein weiteres Problem: huertuerkel-kein-aufstieg-fuer-antisemitismus/6715082.html (eingesehen 22.9. Von Vereins- und Verbandsseite sind die jdischen 2016). Vereine Unterstellungen und Vorwrfen ausgesetzt, sie 1068 »antisemitische Pbeleien gehren zum Fußball dazu«, sagt ein 19-jähri- ger student aus Frankfurt a.M., der seit Jahren bei Makkabi Fußball spielt. »Die instrumentalisierten ihren Opferstatus aus der Zeit des gegnerische Mannschaft tritt häufg mit freudiger aggressivität und Gewaltbe- Nationalsozialismus, um sich Vorteile oder eine beson- reitschaft gegen uns an.« Jungspielern werde auf dem weg zum auto oder Bus dere Aufmerksamkeit fr ihre Probleme zu verschaffen aufgelauert, manche wrden verprgelt, einem Freund von ihm sei einmal die nase gebrochen worden. zitiert nach: Freia Peters, Das schwierige leben der (→ Defnition).1074 Die Referatsleiterin im Referat Sport und Juden in Deutschland, in: welt Online, 9.9.2012, http://boerneplatz.blogspot. Politik der Sportjugend Hessen, Angelika Ribler, bestätigt, de/2012/09/juden-in-deutschland-i-welt.html (eingesehen 16. 9. 2016). dass man Makkabi mit der Haltung begegnet, »es msse 1069 Frederik schindler, Kicken gegen den antisemitismus, in: Jdische allge- doch mal Schluss sein mit dem Thema Holocaust-Vor- meine, 8. 2. 2016, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/24621 (eingesehen 16.9.2016). Beim heimspiel gegen die »zweite Mannschaft des wurf«.1075 Auch traditionelle Stereotype von »den reichen 1. Fc neuklln waren die spieler des jdischen vereins massiven Bedrohungen ausgesetzt, sodass das spiel in der verlängerung abgebrochen werden musste.« »Ich stech dich ab«, »wir kommen gleich mit unseren Messern«, »nach dem spiel seid ihr tot« oder »Du hast dir gerade dein eigenes Grab geschaufelt«, lau- 1070 Frankfurter Presse, 12.3.2012: »einzelne Gegner sind unbelehrbar«. zi- teten einige der Drohungen von spielern mit vermutlich arabischen wurzeln, tiert nach schubert, expertise Fußball und antisemitismus, s. 12. wie Makkabi-teamkoordinator leonard Kaminski im Gespräch mit der Jdi- schen allgemeinen berichtet. er vermutet einen Bezug auf die derzeitigen Mes- 1071 ayala Goldmann, Fußball-Kreisliga: Beschimpfungen nach dem abpfff. serattacken in Israel. Der schiedsrichter werner Maass bestätigte dieser zei- antisemitische Beleidigungen beim spiel von tus Makkabi Kln gegen esv Olym- tung, dass er am ende des spiels diese äußerungen selbst gehrt und sich auch pia, in: Jdische allgemeine, 9.9.2015, http://www.-juedische-allgemeine.de/ selbst bedroht gefhlt habe. Frederik schindler, spieler schtzen, in: Jdische article/view/id/23257 (eingesehen 16. 9. 2016). allgemeine, 22. 10. 2015, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/ 1072 https://www.youtube.com/watch?v=F55ljD3smy (eingesehen 16. 9. 2016). id/23630 (eingesehen 16.9.2016); Katharina schmidt-hirschfelder, Fußball: ›nicht mehr sportlich‹, in: Jdische allgemeine, 1.9.2015. Beim Kreisligaspiel 1073 schindler, Kicken gegen antisemitismus. zwischen BFc Meteor und Makkabi Berlin kam es zu antisemitischen Beleidi- 1074 schubert, expertise Fußball und antisemitismus, s. 12. gungen und handgreifichkeiten. Der Meteor-spieler, der laut inzwischen vor- liegendem schiedsrichterbericht die Gewalt ausgelst hatte, sowie die gesamte 1075 angelika ribler, Präventionsmaßnahmen auf verbandsebene, in. angelika Mannschaft wurden bis zur verhandlung des Berliner sportgerichts ende sep- ribler/astrid Pulter (hrsg.), Konfiktmanagement im Fußball, Frankfurt a.M. tember gesperrt. Der betreffende spieler wurde , verein ausgeschlossen. 2010, s. 140.

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Juden« fnden sich in den offziellen Stellungnahmen Präsident des Zentralrats der Juden war, diesbezgliche gegenber Makkabi.1076Auch wenn die Makkabi-Vereine Briefe an Verbände und Vereine geschrieben hatte. Dies als ganz normale Vereine wahrgenommen werden wollen, änderte sich unter dem DFB-Präsidenten Theo Zwanzi- werden sie nach ihrer eigenen Einschätzung in eine ger, der die Landesverbände entsprechend in die Pficht Sonderrolle gedrängt und zunächst als Juden begriffen. nahm.1079 Die Verbandsstatuten wurden mittlerweile »Wenn andere Vereine, Mannschaften, Umfeld lautstark nun so angepasst, »dass antisemitisches Verhalten ohne sind, fr ihre Rechte eintreten, sich beklagen oder den Probleme bestraft werden kann«.1080 Die Strafen kn- Schiedsrichter noch einmal verbal Attackieren, dann ist nen unterschiedlich ausfallen, vom Punkteabzug fr das alles legitim. […] Wenn Makkabi das macht, dann hat die pbelnde Mannschaft bis hin zum Ausschluss vom das alles eine ganz andere Wertigkeit. Dann sind die ja Spielbetrieb. Nach Florian Schubert sind durch das ver- schon wieder am Heulen und hrt mal auf zu meckern. stärkte Durchgreifen der Verbände, wie etwa in Frankfurt, Und ihr habt doch immer was. Und immer die gleichen antisemitische Angriffe zurckgegangen.1081 Dennoch wer- stereotypen Vorwrfe.«1077 Florian Schubert macht den weiterhin manche der gemeldeten Vorfälle von den deutlich, dass allein schon die notwendigen Sicherheits- Verbänden dilatorisch behandelt, v.a. wenn die beklagten maßnahmen, wenn etwa manche Vereinsaktivitäten nicht Vereine die Vorfälle ihrerseits abstreiten, sodass Makkabi angekndigt werden, dazu fhrten, Makkabi nicht als ganz die weitere Behandlung immer wieder anmahnen muss. normalen Verein zu betrachten. Auch die Reaktionen auf Dies gilt v.a. auf regionaler Ebene, wo einige Verbände fr antisemitische Übergriffe vonseiten Makkabis drängten ihre zu zgerliche Praxis im Umgang mit antisemitischen diesen in eine Sonderrolle.1078 Vorfällen und wegen einer mangelnden Solidarität mit angegriffenen Spielern von Makkabi kritisiert werden. Ein Verantwortlicher von Makkabi Berlin, Claudio Offenberg, 12.3.4 Die Reaktionen auf antisemitische antwortete 2012 in einem Zeitungsinterview auf die Frage, Vorfälle im Fußball ob der Verband genug täte: »Nur teilweise. Es gibt im BFV [Berliner Fußball Verband, Anm. d. Verf.] viele engagierte Die Makkabi-Vereine und die Verbände gehen unter- Mitarbeiter, die in dieser Frage guten Willens sind. Leider schiedlich mit antisemitischen Vorfällen um. Die Mak- werden diese jedoch oft ausgebremst durch solche, die kabi-Vereine selbst berlegen es sich gut, welche Fälle meinen, Ruhe und Zurckhaltung sei das Allerwichtigste, sie berhaupt melden, um dem Vorwurf, sie wrden um antisemitische Konfikte zu lsen.«1082 Auch einfach eine Sonderrolle spielen und jeden Vorfall gleich der zu ergreifende Maßnahmen, wie das Entsenden von Presse melden, zu entgehen. Einige Makkabi-Vereine, wie Beobachtern und erfahrenen Schiedsrichtern zu Spielpaa- TuS Makkabi Frankfurt, haben die lange bliche Praxis, rungen, bei denen Vorfälle zu erwarten sind, werden nur hauptsächlich indirekt mit Beschwerden zu reagieren, selten umgesetzt. Nach Meinung des Vizepräsidenten des zugunsten einer eher offensiven Strategie aufgegeben, Berliner Fußball-Verbandes (BFV), Gerd Liesegang, wrden indem sie vor anstehenden Spielen das Gespräch mit den jedoch heute immer mehr ehrenamtliche Funktionäre gegnerischen Mannschaften suchen, um so angespannte darauf achten, dass Antisemitismus gar nicht erst entste- Situationen von vornherein zu deeskalieren. hen kann: »Wir sind vorbereitet, wir haben den Spielplan durchgeschaut. Wir gucken auch auf Freundschafts- Der DFB hat es lange vermieden, das Thema Antisemi- spiele, die im Netz sind, wo Paarungen sind, wo wir sagen tismus offen anzugehen, obwohl Dieter Graumann, der mssen, da mssen wir aufpassen: Welche Vereine spielen Makkabi Frankfurt zwlf Jahre leitete und vier Jahre lang gegeneinander? Wir versuchen es auch mit gestandenen Schiedsrichtern dann zu steuern.«1083 Der BFV hebt die

1076 Der Präsident von Makkabi, alon Meyer, schildert einen solchen typischen von ihm getroffenen Verbesserungen hervor, nämlich dass Fall: »Das passiert auch bei Funktionären, und v.a. Beamten, bei Gesprächen mit Schiedsrichter Schulungen besuchten und Konfiktmana- der stadt, mit der Bank. wenn wir dann im Prinzip jetzt sprechen ber einen ger Risikospiele beobachteten. Der BFV hat ein Postfach neuen sportplatz, den wir vielleicht irgendwie kriegen, wo ein ganz kleines licht sich im Dunkeln geffnet hat. wenn sie dann mit den stadtverantwortlichen fr anonyme Hilferufe eingerichtet, druckt Broschren, reden, dann werden Ihnen Plätze angeboten, die unbebaut sind, wo ein acker verteilt Plakate, produziert Ratgeber-DVDs. »Er veranstal- drauf ist. wo man dann sagt: hrt mal zu, Ihr habt doch das Geld, Ihr habt doch die entsprechenden Mglichkeiten. Fr euch wäre es doch ein leichtes, tet Integrationsfeste, organisiert Deeskalationstraining. wenn wir euch die Fläche geben, da was hinzubauen. Und da merkt man dieses Unterschwellige: die Juden haben doch Geld, fr euch ist es doch einfacher als fr andere vereine. Das kriegen wir immer wieder mit. aber auch spieler, wenn 1079 zitiert nach Blaschke, Judenhass im Fußball. sie zu uns kommen: wenn sie ber wechselprämien, ber eine ausstattung re- 1080 schubert, expertise Fußball und antisemitismus, s. 14. den, dann erwarten die einfach sehr oft mehr als, glaube ich, als sie bei anderen vereinen erwarten.« zitiert nach Blaschke, Judenhass im Fußball. 1081 ebenda. 1077 so wird der sportliche leiter von tus Makkabi Berlin claudio Offenberg zi- 1082 Philipp Peyman engel,wir werden oft bedroht und beschimpft. claudio Of- tiert bei: thorsten Poppe, rechtsaußen ins abseits, in: Deutschlandradio Kultur, fenberg ber Judenhass im Fußball, ewiggestrige und den wunsch nach mehr so- 21. 5. 2009, http://www.deutschlandradiokultur.de/rechtsaussen-ins-abseits. lidarität, in: Jdische allgemeine, 24.9.2012, http://www.juedische-allgemeine. 966.de.html?dram:article_id=149538 (eingesehen 22. 9. 2016). de/article/view/id/14037 (eingesehen 22. 12. 2016). 1078 schubert, expertise Fußball und antisemitismus, s. 13. 1083 zitiert nach Blaschke, Judenhass im Fußball.

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Der Verband pfegt Partnerschaften: mit der Jdischen 12.3.5 Fazit Gemeinde, der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremis- mus, dem Verein Gegen Vergessen oder dem Zentralrat Offene Formen von Antisemitismus kommen in den Bun- Deutscher Sinti und Roma.«1084 Es scheint, dass es in den desligen in den letzten Jahren seltener vor, doch scheinen Verbänden immer noch zu sehr von einzelnen Personen v.a. die unteren Ligen hier grßere Probleme zu haben. abhängt, inwieweit das Thema wichtig genommen wird. Ob es insgesamt eine Veränderung in der Anzahl und Heftigkeit antisemitischer Vorfälle gibt, ist bisher nicht Neben den direkten Maßnahmen gegen antisemitische erforscht, zumal auch hier die Dunkelziffer nicht gemelde- Vorfälle in den Stadien oder auf den Zufahrtswegen, wobei ter Vorfälle nicht unerheblich sein drfte. Antisemitismus Letztere eher nicht sanktioniert werden, hat der DFB bleibt weiterhin, häufger nun auch mit israelfeindlichen eine Reihe von Entwicklungen und Maßnahmen auf der Anteilen verbunden, Teil der v.a. von den rechten Fan- symbolischen und erinnerungspolitischen Ebene auf den gruppen und Hooligans ausgehenden Diskriminierun- Weg gebracht. Dies gilt v.a. fr die Auseinandersetzung gen im Fußball. Der Fußball wird zudem strategisch als mit den Folgen der NS-Vergangenheit fr jdische Sport- Plattform genutzt – z.B. auch ber Internetforen – um ler und Vereine. So hat die historische Erforschung der hierber andere Fußballfans zu erreichen. Damit gewinnt NS-Vergangenheit einiger Traditionsklubs begonnen und der Antisemitismus im Kontext des Fußballs eine ganz der DFB vergibt seit zehn Jahren den Julius-Hirsch-Preis erhebliche gesellschaftliche Breitenwirkung. Ganz direkt gegen Diskriminierung und erinnert damit an den jdi- und besonders stark davon betroffen sind die jdischen schen Nationalspieler Julius Hirsch, der 1943 in Auschwitz Makkabi-Vereine und israelische Mannschaften,1087 die ermordet wurde. Ebenfalls auf dem Programm des DFB in jngster Zeit zum Ziel antisemitischer Anfeindungen steht eine Reise der Nachwuchsteams nach Israel, wo sie insbesondere auch von trkisch-muslimischen Vereinen auch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besuchen. und deren Spielern werden, sowie antirassistische Fan- gruppen. Auf der Verbandsebene fehlt eine gemeinsame Neben der Bewegung von oben gibt es auch einige ent- bergreifende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitis- sprechende Aktivitäten von unten. So besuchen Fan- mus in den Stadien, sodass auf solche Vorfälle uneinheit- gruppen Gedenkstätten, organisieren Vorträge, verlegen lich reagiert wird und die Sportgerichte zu milde Urteile Stolpersteine, setzen sich mit der Geschichte ihres Verein fällen.1088 Dass die Verbände antisemitische Vorfälle nicht in der NS-Zeit auseinander und entdecken dabei Vorbil- immer gengend ahnden, liegt nach Meinung Schuberts der, wie den jdischen Vereinspräsidenten des FC Bayern auch daran, dass die »Sensibilisierung gegenber Antise- Mnchen, Kurt Landauer.1085 Antirassistische Fangruppen, mitismus […] nicht immer sehr ausgeprägt ist. Der Fokus die sich zunehmend der Gewalt aus den rechten und der Verbände und der Vereine ist sehr stark auf physische neonazistischen Fangruppen ausgesetzt sehen, versuchen Gewalt gerichtet, nicht so sehr auf verbale Gewalt.«1089 ihrerseits, den aktuellen Antisemitismus im Fußball zu In Fällen antisemitischer Beleidigungen oder Gesänge bekämpfen. Mitglieder der Bremer Ultra-Gruppe Caillera werden diese in den Verbänden als »weniger schlimm« haben 2013 das Forum »Fußballfans gegen Antisemitis- angesehen und auch weniger konsequent geahndet. Dies mus« gegrndet, auf dem sie im Internet antisemitische spiegelt sich auch in einigen der Fanprojekte, die sich Vorfälle dokumentieren und auf Info-Veranstaltungen oft nur sehr allgemein gegen rassistische und physische hinweisen.1086 Gewalt richten, das Klima der Bedrohung, das von verba- len Attacken ausgeht, aber nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen.

1087 In Dortmund bestritt eine U19-stadtteilauswahl ein Freundschaftsspiel gegen Maccabi netanya. Dazu: elmar vieregge, Dortmunder neonazis stren 1084 ebenda. Fußballspiel mit antisemitischer Provokation, in: endstation rechts, 30. Juli 2014, http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/fussball/artikel/dortmunder- 1085 Kurt landauer: Der vergessene erfnder des Fc Bayern, in: zeit Online, neonazis-stoeren-fussballspiel-mit-antisemitischer-provokation.html (einge- 14. 10. 2014, http://www.zeit.de/sport/2014-10/kurt-landauer-fc-bayern-flm/ sehen 22. 9. 2016). komplettansicht (eingesehen 9. 10. 2016). 1088 schubert, expertise Fußball und antisemitismus, s. 18. 1086 Fussballfans gegen antisemitismus, in: caillera, 17.10.2013, http://caillera. net/fussballfans-gegen-antisemitismus (eingesehen 9. 10. 2016). 1089 ebenda, s. 15.

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13 Fazit

Neben der Aktualisierung der Ergebnisse, die der erste Muslimen, explizit jenen im Rechtsextremismus, aber Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus im November auch in der gesellschaftlichen und politischen Mitte zu 2011 als erste Bestandsaufnahme zum Antisemitismus in vernachlässigen oder gar implizit zu verharmlosen. Deutschland vorgelegt hat, hat sich der zweite Unabhän- gige Expertenkreis mit einer Reihe von Themen beschäf- tigt, die im ersten Berichtszeitraum noch keine oder nur wenig Relevanz hatten bzw. solchen, die der Deutsche Defnition Bundestag als Auftraggeber besonders in den Vorder- grund gestellt sehen wollte. Neu sind in diesem Bericht Der Expertenkreis hat sich eingehend mit der Frage einer die Perspektive der Betroffenen sowie erste Erkenntnisse geeigneten Defnition fr das Phänomen Antisemitis- zu einem mglichen Antisemitismus bei Gefchteten. mus beschäftigt und eine wissenschaftliche Begriffsbe- Eingehend betrachtet werden auch die Entwicklungen stimmung erarbeitet, die versucht, die verschiedenen im Internet und in den Sozialen Medien, die zum zent- Facetten der Judenfeindschaft, wie sie im politischen und ralen Verbreitungsinstrument von Hassbotschaften und gesellschaftlichen Umfeld in Erscheinung treten sowie antisemitischer Hetze geworden sind. Besonders in den im aktuellen Diskurs virulent sind, zu erfassen. Fr die Blick genommen hat der zweite Expertenkreis das Thema praktische Arbeit etwa der Polizei oder der Justiz erscheint Prävention, wobei neben Projekten, die sich an Jugendli- uns die Defnition, die 2005 von verschiedenen NGOs und che richten vor allem das bisher weitgehend vernachläs- dem ehemaligen European Monitoring Center on Racism sigte Thema Erwachsenenbildung stärker im Fokus steht. and Xenophobia (EUMC), der heutigen Fundamental Anders als im ersten Bericht wird hier ein verstärktes Rights Agency (FRA), erarbeitet wurde, als geeignet, die Augenmerk auf die theoretische Auseinandersetzung mit vielschichtigen Formen antisemitischer Erscheinungs- nachhaltigen pädagogischen Ansätzen einer Präventions- formen – zumindest fr eine erste Wertung – einordnen pädagogik gelegt. Ein wichtiges Feld, das der erste Exper- zu knnen. Die Bedeutung, die diese Defnition – trotz tenkreis bereits thematisierte, wurde im vorliegenden kritischer Stimmen aus der Wissenschaft – inzwischen Bericht erneut aufgegriffen. Eine in Auftrag gegebene Stu- im internationalen Rahmen erlangt hat, zeigt sich daran, die sollte mithilfe von qualitativen Interviews mit Imamen dass sie 2016 von der 31 Mitgliedsstaaten umfassenden zum Thema Antisemitismus in muslimischen Gemein- International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) den Einblick geben in einen Bereich, der seit Jahren im angenommen wurde und das Britische Parlament sie als Zentrum der medialen Aufmerksamkeit steht. Nicht selten Arbeitsgrundlage eingefhrt hat. Eine allgemein gltige wird der Anschein erweckt, als seien »die Muslime« die Defnition von Antisemitismus existiert nicht, es kann Hauptträger des Amtisemitismus in diesem Land. Seit der sich immer nur um eine Annäherung an ein Phänomen Zuwanderung von Flchtlingen sind solche Zuschreibun- handeln, das extrem fexibel und anpassungsfähig an gen noch einmal verstärkt wahrzunehmen. Das hat dazu Zeitläufte ist. Fr die subtileren Formen, die nicht unter gefhrt, dass der Rechtsextremismus als zentrales Milieu die Kategorie mglicher strafarer Inhalte fallen, ist der antisemitischer Haltungen in der gesellschaftlichen Aus- jeweilige Kontext, und was wer zu welchem Zeitpunkt und einandersetzung um Antisemitismus in Deutschland in mit welcher Absicht sagt, entscheidend. den Hintergrund getreten ist. Insbesondere muslimische Verbände und Moscheegemeinden werden undifferenziert Antisemitismus kann sich unterschiedlich artikulieren, in als Hort antisemitischer Agitation gesehen und Imame latenten Einstellungen, in verbalisierten Diffamierungen, als »Hassprediger« charakterisiert. Untersuchungen zu in politischen Forderungen, in diskriminierenden Prak- antisemitischen Einstellungen in muslimisch geprägten tiken bis hin zu persnlichen Angriffen. Eine genauere religisen Milieus, die diese Vermutungen untermauern Analyse der Straf- und Gewalttaten sowie der erhobenen knnten, gibt es bisher jedoch kaum, deshalb bedeutet die Umfragedaten zu antisemitischen Einstellungen ist fr die Studie zu Imamen eine erste Annäherung an das Thema. Einschätzung des Grades und der Verbreitung von Anti- semitismus unerlässlich. Subtilere Formen, unterschwel- Nach Einschätzung des Unabhängigen Expertenkeises gilt lige Diffamierungen, die keinen Straftatbestand erfllen, es, den Antisemitismus unter Muslimen zu beobachten fallen freilich nicht darunter und knnen nur durch die und hier auch verstärkte Präventionsanstrengungen zu Befragung der Betroffenen bzw. ihrer Bereitschaft, solche unternehmen, allerdings gleichzeitig Diskrimierungs- Übergriffe zu melden, genauer betrachtet werden. erfahrungen durch antimuslimischen Rassismus in den Blick zu nehmen. Zugleich warnt der UEA ausdrck- lich davor, mit dem Verweis auf Antisemitismus unter

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straftaten Strafverfolgungsprozesses zu einer sukzessiven Abnahme der Bewertung als »vorurteilsmotiviert«. Antisemitische Straftaten zählen in Deutschland zur poli- tisch motivierten Kriminalität (PMK). Fremdenfeindliche Die BKA-Statistik ist eine Eingangsstatistik, d.h., es werden Straftaten werden heute ganz berwiegend als extre- alle angezeigten Fälle mit entsprechend ermittelter oder mistisch eingestuft, und antisemitische Straftaten gelten unterstellter Tatmotivation gezählt. Es fehlte jedoch bis generell als extremistisch. Beides wird unter dem Begriff vor Kurzem eine Übersicht ber die Zahlen der Ermitt- der »Hasskriminalität« zusammengefasst. Eine Besonder- lungsverfahren und der erfolgten Verurteilungen. Diese heit der Hasskriminalität, die auch als vorurteilsmotivierte Lcke wurde erst 2016 durch die Verffentlichung einer Kriminalität bezeichnet wird, besteht in der zufälligen seit Langem vom Bundesamt fr Justiz (BfJ) gefhrten Auswahl der Opfer, die durch verbale und krperliche Statistik ber Verfahren wegen rechtsextremistischer/ Gewalt eingeschchtert und verunsichert werden sollen. fremdenfeindlicher Straftaten (darunter fallen auch Kriterien der Erfassungspraxis politisch motivierter Straf- antisemitische) geschlossen, in denen auch Zahl und Alter taten und damit auch der Teilmenge antisemitisch moti- der Beschuldigten, die ergangenen Haftbefehle, Verur- vierter Fälle sind seit Längerem Gegenstand der Kritik und teilungen oder andere Entscheidungen zur Beendigung haben bei den Polizeibehrden und im Bundesministerium des Verfahrens aufgelistet werden. Fr antisemitische des Innern (BMI) Anlass zur Diskussion ber Verbesse- Straftaten liegt allerdings nur eine Aufistung der eingelei- rungsmglichkeiten gegeben. Die Einfhrung des neuen teten Ermittlungsverfahren nach Bundesländern geordnet Defnitionssystems »Politisch motivierte Kriminalität« vor, die weiteren Spezifzierungen lassen sich fr diese (PMK) ab 2001 stellt bereits eine Weiterentwicklung der Straftaten somit nicht nachvollziehen. vorherigen Praxis dar. Das zentrale Erfassungskriterium ist nun die »politisch motivierte Tat«, d.h. die Erfassung orientiert sich nicht am Extremismus-Begriff, sondern an der tatauslsenden Motivation. Das neue System der einstellungen »Richtlinien fr den Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität« (KPMD-PMK) Im historischen Vergleich mit der Zeit vor 1945, aber erfasst nun neben den klassischen Staatsschutzdelikten auch mit den letzten 60 Jahren in Deutschland oder den und extremistischen Straftaten auch Hass- oder Vor- meisten anderen europäischen Ländern war der offene urteilskriminalität. Die Polizei kann jedoch nur solche Antisemitismus gesamtgesellschaftlich selten so sehr an Straftaten erfassen, die sie entweder selbst ermittelt hat den Rand gedrängt wie heute. Gleichzeitig sind modernere oder die ihr von dritter Seite bekannt gemacht werden. Facetten des Antisemitismus auch in der breiten Bevlke- D.h., wir haben es auch hier, wie bei allen Formen von rung nach wie vor weit verbreitet; dazu gehrt zum einen Kriminalität, mit einem Hellfeld-Dunkelfeld-Problem zu die Forderung nach einem »Schlussstrich«, in dem auch tun. Eine Ursache dafr ist das sogenannte Underrepor- immer eine gewisse, fr den Antisemitismus typische ting, d.h., viele antisemitische Straftaten werden von den Täter-Opfer-Umkehr mitschwingt, zum anderen aber Betroffenen oder Zeugen nicht angezeigt. Die Zahl (laut auch der israelbezogene Antisemitismus. Darber hinaus BKA Straftaten 2014: 1596 und 2015: 1366; Gewalttaten erleben wir derzeit in gewissen altbekannten Spektren, 2014: 45 und 2015: 36) der tatsächlichen antisemitischen nämlich im Bereich des Rechts- und Linksextremismus, Vorfälle wird auch dadurch systematisch unterschätzt, aber auch im islamistischen Fundamentalismus eine dass bei jedem Vorfall, bei dem es zu mehreren Delikten antisemitische Mobilisierung, die durch mehrere par- gekommen ist (z.B. Beleidigung, Raub, Krperverletzung), allele Entwicklungen der politischen Weltlage seit 1989 nur das Delikt mit der hchsten Strafandrohung gezählt begnstigt wird. Eine weitgehend stabile Situation, was die wird. Die Einordnung einer Straftat als antisemitisch Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevl- hängt von der Wahrnehmung und von den Kriterien ab, kerung betrifft, geht einher mit einer erhhten Aktivität nach denen eine Tat eingestuft wird. Die Polizei scheint auf der Ebene von Meinungsäußerungen, Propaganda und doch immer wieder zu Vermeidungsstrategien zu neigen. Übergriffen auf der Handlungsebene. Selbst bei der Offensichtlichkeit des Tatmotivs verweist sie häufg auf alternative, nicht politische Tathintergrnde. Alle Aussagen, die zur Erfassung von Antisemitismus in Als Beispiel wird hier auf die große Diskrepanz zwischen derzeit vorliegenden repräsentativen Studien verwendet der von den Behrden genannten Zahl von Todesopfern werden, hängen so eng zusammen, dass sie eine einzige rechter Gewalt und den von Journalisten und NGOs Dimension bilden, die eindeutig als Antisemitismus gezählten Fällen hingewiesen. Trotz gegenteiliger Vorga- interpretiert werden kann – das gilt fr Aussagen zum ben wird Hasskriminalität von Gerichten nur selten als klassischen wie fr sekundären und israelbezogenen Anti- erschwerender Umstand beurteilt, und bei als rechtsmo- semitismus. In Einzelfällen kann die Zustimmung auch tiviert beurteilten Gewalttaten kommt es im Verlauf des als harsche Kritik an Israel verstanden werden, ohne eine zwingend antisemitische Konnotation. Die empirischen

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Befunde bestätigen allerdings einen engen Bezug gerade Einstellungen. Antisemitismus ist deutlich mit Rechtspo- des NS-Vergleichs der Politik Israels zu Antisemitismus. pulismus, Rechtsextremismus und neurechten Positionen Das Phänomen der sozialen Erwnschtheit fhrt in der verknpft. Regel zu einer geringeren Zustimmung zu klassischem Antisemitismus und einer hheren Zustimmung zu sub- Unter den Älteren ist die Verbreitung antisemitischer Ein- tileren Formen, was sich auch als Kommunikationslatenz stellungen zurckgegangen, bei den Jngeren stagniert sie beschreiben lässt. Modernere Facetten, wie der sekundäre hingegen. Hier zeigt sich ein positiver Generationeneffekt, Antisemitismus, der ber den Holocaust kommuniziert der sich aber nicht einfach fortzusetzen scheint. Demogra- wird, und der israelbezogene Antisemitismus, der im fsche Faktoren spielen fr die Erklärung von Antisemitis- Gewand einer Kritik an Israel, die jedoch antisemitisch mus insgesamt nur eine geringe Rolle. Wenn, dann trägt aufgeladen ist, daherkommt, unterliegen weniger der sozi- vor allem eine bessere Schulbildung zu einem geringeren alen Ächtung und werden daher offener kommuniziert. Ausmaß an traditionellem und sekundärem Antisemi- tismus bei, während sie israelbezogenen Antisemitismus Das Ausmaß der Zustimmung aus verschiedenen Studien kaum positiv beeinfusst. ist aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsmethoden (u.a. einer unterschiedlichen Skalierung der Antwortka- Heutzutage ist Antisemitismus vor allem in sozial schwa- tegorien) nur begrenzt vergleichbar. Auch das Ausmaß chen Schichten verbreitet, während die Zustimmung in der Zustimmung zu verschiedenen Facetten von Anti- der Mittelschicht, defniert ber Einkommen, Bildung und semitismus ist nur mit Vorsicht zu vergleichen, weil die Beruf, im Mittelfeld liegt. Ein Anstieg ist hier nicht zu kon- verwendeten Aussagen unterschiedlich hart bzw. weich statieren. Antisemitismus fndet sich hingegen auch bei formuliert sind, sodass eine Zustimmung zu einzelnen Befragten, die sich selbst der politischen Mitte zuordnen Aussagen schwerer oder leichter fällt. Es lassen sich aber bzw. Parteien der politischen Mitte präferieren. Personen, Hinweise auf die Verbreitung und die Ausdrucksformen die sich selbst „ganz links“ einordnen oder die Linkspartei von Antisemitismus ableiten. Die repräsentativen Umfra- präferieren, neigen nicht stärker zu Antisemitismus als gen zeigen fr die deutsche Gesamtbevlkerung einen Wähler und Wählerinnen der anderen demokratischen kontinuierlichen Rckgang bei den offen klassisch-anti- Parteien. Dies gilt auch fr israelbezogenen Antisemitis- semitischen Einstellungen in den vergangenen rund 15 mus. Personen, die die AfD präferieren, hingegen zeigen Jahren, der sich auch im Jahr 2016 fortsetzt. So liegt die eine auffällig hohe Zustimmung zu allen Facetten von Zustimmungsrate zu klassischem Antisemitismus, der Antisemitismus. in verschwrungstheoretischer Manier Juden »zu viel Einfuss« unterstellt und mit klassischen antisemitischen Die Zugehrigkeit zu einer der beiden großen christlichen Stereotypen arbeitet, nur noch bei rund fnf Prozent im Kirchen und das Ausmaß selbsteingeschätzter Religiosität Jahr 2016, 2002 lag diese noch bei rund neun Prozent. spielt fr die Zustimmung zu antisemitischen Einstellun- Auch die Zustimmung zu sekundärem Antisemitismus gen so gut wie keine Rolle. Christen sind also nicht per se ist deutlich rckläufg. Hier stimmen noch 26 Prozent antisemitischer, aber eben auch nicht weniger antisemi- eindeutig zu. Formen eines israelbezogenen Antisemi- tisch als Konfessionslose. Hingegen steigt der Antisemi- tismus hingegen stoßen 2016 bei 40 Prozent der Bevl- tismus mit zunehmend christlich-fundamentalistischer kerung auf Zustimmung. Eine harsche Kritik an Israel Überzeugung an. Das Ausmaß antisemitischer Einstel- muss nicht immer mit Antisemitismus einhergehen, tut lungen unter muslimisch sozialisierten Jugendlichen und dies aber doch häufg. 80 bis 90 Prozent der Befragten von Erwachsenen mit Einwanderungshintergrund ist hher 2004, die einer zunächst nicht antisemitisch konnotierten als unter nichtmuslimischen. Zugleich zeichnen sich Kritik an Israel zustimmten, äußerten damals zugleich deutliche Unterschiede zwischen Muslimen aus unter- auch ihre Zustimmung zu mindestens einer Facette von schiedlichen Herkunftskulturen bzw. -regionen ab. Insbe- Antisemitismus. In der Nacherhebung zur sogenannten sondere Migranten aus arabischen bzw. nordafrikanischen Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung 2014 votierten Ländern neigen zum Antisemitismus. Neben der Religion noch 55 Prozent der Befragten, die Kritik an Israel zustim- scheint also offenbar vor allem die Herkunftsregion von men, fr mindestens eine weitere Facette der Judenfeind- Bedeutung zu sein. Hier gilt es zu differenzieren. Während schaft einschließlich des israelbezogenen Antisemitismus. junge Muslime deutlich antisemitischer sind als gleich- 53 Prozent dieser Befragten pfichteten auch mindestens altrige Nichtmuslime, unterscheiden sich ältere Muslime einer weiteren Dimension von Antisemitismus ohne und Nichtmuslime ber 60 Jahre kaum voneinander; direkten Bezug zu Israel bei. junge Muslime sind ähnlich antisemitisch wie ältere Nichtmuslime. Schulbildung trägt auch bei jungen Mus- Antisemitismus im Sinne eines Vorurteils gegenber limen zu einer Reduktion von Antisemitismus bei. Eigene Juden korreliert mit der Abwertung anderer sozialer Grup- Ausgrenzungserfahrungen knnen eine Motivation und pen: Wer z.B. fremdenfeindliche Einstellungen vertritt, Legitimation fr die Abwertung anderer bieten, so auch teilt mit hherer Wahrscheinlichkeit auch antisemitische fr Antisemitismus, sind aber keine Entschuldigung.

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Die Perspektive der Betroffenen zweiten Blick, erkennbar ist. So wie der Antisemitismus noch immer weltweit verbreitet ist, fndet er sich auch Eine in Auftrag gegebene Studie zum Antisemitismus aus in den Sozialen Medien. Wer Antisemitismus ausleben der Sicht der Betroffenen ergab, dass die große Mehr- mchte, kann dies in sozialen Netzwerken hemmungslos heit der Befragten Antisemitismus als großes Problem und berdies weitgehend unreguliert tun. Das Netz kennt sieht, darunter fällt u.a. die verzerrte Darstellung Israels. keine Staatsgrenzen, und die Mglichkeiten gesellschaftli- Antisemitismus schlägt ihnen insbesondere im Internet cher Sanktionierung sind beschränkt. In den letzten zwei und anderen Medien entgegen, aber auch auf Demonstra- Jahren hat sich die Debatte verschärft. Die Verbreitung tionen und durch verbale und alltägliche Beleidigungen. antisemitischer Stereotype und Vorurteile scheint – Viele Befragte haben den Eindruck, Antisemitismus hätte zumindest in den sozialen Netzwerken – kein Tabubruch in den vergangenen Jahren zugenommen, und befrchten mehr zu sein. Inhalte, die noch vor ein paar Jahren in einen weiteren Anstieg in der Zukunft. Insbesondere in Briefen an den Zentralrat der Juden in Deutschland oder an den Sozialen Medien wie Facebook fnden sich entspre- die Israelische Botschaft in Berlin formuliert wurden, und chend der Beobachtung der Befragten zunehmend auch damit nur einem kleinen Leserkreis zugänglich waren, ganz offen antisemitisch agierende Gruppen. Zudem ist werden heute im Internet unverblmt gepostet und mit Blick auf die Gefchteten aus Ländern des Nahen verbreitet. Ostens die Sorge groß, sie knnten den in ihren Ländern verbreiteten Antisemitismus mitbringen. Antisemitismus Als eines der digitalen Themen sozialer Interaktion stehen begegnet den Befragten in vielfältigen Ausdrucksfor- antisemitische Inhalte in sozialen Netzwerken stärker im men: Die Spannbreite reicht von subtilen Formen bis hin Fokus der Aufmerksamkeit. Doch jedes Netzwerk geht zu offen geäußerten antisemitischen Stereotypen. Als mit antisemitischen Inhalten auf der eigenen Plattform besonders gravierend empfnden sie es, Antisemitismus anders um. Dies liegt zum einen am herkunftsbedingten in machtvollen Abhängigkeitsverhältnissen ausgesetzt zu Verständnis von Meinungsfreiheit, zum anderen obliegt sein. Antisemitismus ist fr viele Befragte eine allgegen- die Beurteilung von kritischen Inhalten immer speziel- wärtige und häufge Erfahrung. Als Täter wurden von den len Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der jeweiligen Betroffenen berproportional häufg muslimische Perso- Plattform. Diese entscheiden darber, ob Inhalte entfernt nen genannt, daneben aber auch links und rechts Orien- werden mssen oder nicht. Die Betreiber der sozialen tierte und gerade bei den versteckten Andeutungen auch Netzwerke tun sich zum Beispiel bei der Lschung von Personen aus der »Durchschnittsbevlkerung«. Fast alle Inhalten schwer, die das Existenzrecht Israels bestreiten. Befragten empfnden den Antisemitismus, der sie umgibt, Tatsächlich ist die Ablehnung des Existenzrechts des Staa- als belastend. Zugleich wählen nur recht wenige Befragte tes nicht strafrelevant. den Weg, konkrete Vorfälle zu melden, noch weniger lassen sich beraten. Das Dunkelfeld der nichtangezeigten Auch Holocaust leugnende Inhalte wurden und werden auch gravierenden Vorfälle drfte daher hoch sein. unterschiedlich behandelt. Auf Plattformen aus Deutsch- land mussten entsprechende Inhalte aus rechtlichen Grnden gelscht werden. Insgesamt hält sich die Zahl der tatsächlich nicht mehr zugänglichen Mitteilungen aber in Medialer Diskurs Grenzen. Auf Facebook werden diese Inhalte meist nur fr Deutschland geblockt und nicht gelscht. Den Nutzerin- Die im Internet verbreiteten antisemitischen Inhalte spie- nen und Nutzern fehlt selbst oft das entsprechende Hin- geln die in der Gesellschaft vorhandenen Einstellungen tergrundwissen, um z.B. israelbezogenen Antisemitismus wider. Das Netz ist nur ein Medium. Wohl aber poten- erkennen und ihm entgegentreten zu knnen. Gleiches zieren sich antisemitische Meinungen im Netz durch die gilt fr Verschwrungstheorien. Soziale Medien begnsti- Mglichkeit der schnellen Verbreitung und der großen gen emotionale Kommunikation, beschleunigen sie gera- Reichweite. Zudem bietet das Netz Mglichkeiten, sich dezu, sodass viele Debatten gerade bei einem so sensiblen Gruppen von Gleichgesinnten anzuschließen, was dazu Thema wie dem Antisemitismus nur emotional ausgetra- fhrt, dass die Postings sich immer stärker radikalisieren. gen werden. Dies stellt jene, die sich gegen Antisemitismus Wer sich ber die Sozialen Medien beispielsweise zum engagieren, vor große Probleme, da kritische Debatten vor Nahostkonfikt informieren mchte, gerät schnell in die diesem Hintergrund nahezu unmglich werden. Propagandamhlen, die von Israel als einem »Terrorstaat«, einem »Apartheid-Regime« oder einem Staat sprechen, Bei den Betreibern von Facebook oder YouTube, aber auch dessen Einwohner »Kindermrder« seien. Dies vermischt in den Online-Redaktionen von Zeitungen ist eine gewisse sich nicht selten mit Holocaust bezogenem bzw. sekun- Sensibilisierung zu erkennen. Inzwischen beginnen diese därem Antisemitismus und einer Täter-Opfer-Umkehr. Medien, verantwortlicher zu handeln. Dies wird nicht Gleiches gilt fr Verschwrungstheorien, deren anti- zuletzt daran deutlich, dass sie immer wieder die Mglich- semitischer Gehalt, wenn auch manchmal nur auf den keit verwehren, Kommentare zu eingestellten Filmen oder

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Beiträgen abzugeben. Entweder standen bereits volksver- wenn die Fhrung eine distanzierende Haltung einnimmt, hetzende Inhalte kurzfristig im Netz, bis die Kommentar- fehlt es an eindeutigen Konsequenzen fr solche Parteian- leiste deaktiviert wurde, oder kommentierende Einträge gehrige. werden von vorneherein unterbunden, weil die Betreiber der Seiten strafare Inhalte befrchten. Insgesamt lässt sich bei den Parteien eine sehr zurckhal- tende Reaktion auf Skandale konstatieren: Antisemitische Ereignisse in den eigenen Reihen wurden meist von den Medien, nicht aber von Parteimitgliedern thematisiert. Parteien Demnach bestehen durchaus Optimierungspotenziale fr interne Sensibilisierungen, wozu z.B. Fortbildungs- Alle im Bundestag vertretenen Parteien haben gegenber maßnahmen dienen knnten. Bezglich der Maßnahmen den 1990er- und den beginnenden 2000er-Jahren eine gegen Antisemitismus sprechen sich alle Parteien fr deutlich hhere Sensibilität fr das Thema Antisemitis- mehr Engagement aus. Dabei konzentriert sich deren Auf- mus entwickelt, wenngleich sie teilweise doch immer merksamkeit auf politische Bildung, wobei die Erinnerung wieder in die alten Vorstellungen verfallen, Antisemitis- an die Verfolgung und Ermordung der Juden im Zweiten mus sei nur als solcher zu werten, wenn ihm rassistische Weltkrieg im Zentrum steht. Vorstellungen zugrunde liegen. Dies zeigt sich insbeson- dere auch im Bereich der Bildungsprogramme, die nach Eine klare Vorstellung darber, wie dem gegenwärtigen wie vor stark auf die Thematisierung von Nationalsozia- Antisemitismus am besten entgegenzutreten sei, ist bei lismus und Holocaust setzen, in der Meinung, dies wrde keiner der Parteien zu erkennen. Die Antworten auf die aktuellen Antisemitismus bekämpfen knnen. Fragen, die der UEA allen im Bundestag und in min- destens zwei Landtagen vertretenen Parteien gestellt Inwieweit eine gewisse Sensibilisierung fr das Thema hat, enthalten zwar eine Aufistung von allgemeinen einer inneren Einsicht oder einer Rcksichtnahme auf Bekundungen, die aber nicht mit konkreten Modellen ffentliche Stimmungen geschuldet ist, lässt sich nicht verbunden sind. Dies gilt auch fr die Frage nach der erkennen. Allerdings gab es aber auch keine Ereignisse Grenzziehung bei der Kritik an Israel, die sich zwischen mehr wie die »Hohmann«- oder »Mllemann«-Affäre. menschenrechtlichen Einwänden und judenfeindlichen Im erstgenannten Fall hatte die CDU zwar zunächst noch Ressentiments bewegen kann. Die FDP, die Grnen und zurckhaltend, dann aber doch konsequent reagiert und Die Linke sprechen das Thema an. Allerdings gibt es dazu den 2016 der AfD beigetretenen Hohmann aus der Partei keine näheren Ausfhrungen, ist doch nur vom kontinu- ausgeschlossen. Dies geschah gegen innerparteilichen ierlichen Diskussionsprozess die Rede. Widerstand; dieser Flgel hat in den letzten Jahren immer mehr an Relevanz eingebßt. Die FDP hatte seinerzeit Bei allen kritischen Anmerkungen zu den Parteien kann nicht so eindeutig und schnell auf das Phänomen »Ml- deren grundsätzliche Ablehnung des Antisemitismus kon- lemann« reagiert. Dennoch stand das Ende der Affäre fr statiert werden. Bezglich der AfD lässt sich eine solche eine Lehre, die schon aus rein strategischen Grnden die eindeutige Bewertung nicht vornehmen, wenngleich sich Sensibilität fr das Thema verstärken drfte. deren Fhrung auf Nachfrage von der Judenfeindschaft distanziert. Die AfD war die einzige Partei, die auf den Fra- Die SPD sieht sich in einer langen Tradition des Anti-An- genkatalog des UEA nicht reagiert hat. Da es aber gerade tisemitismus. Dies entspricht auch den historischen Gege- dort mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu einschlägigen benheiten bis in die Gegenwart hinein, allerdings heißt Skandalen kam und kommt, hätte sich die Fhrung ange- dies nicht, dass es nicht auch antisemitische Einstellun- sichts der vielen Fälle im Laufe ihrer erst kurzen Existenz gen bei Parteimitgliedern gibt, wie das ebenso bei CDU/ positionieren knnen. CSU oder der FDP der Fall ist. Bei den Grnen haben die israelfeindlichen Strmungen im Laufe ihrer Entwicklung an Relevanz verloren. Kommentare zum Nahostkonfikt mit antisemitischer Konnotation werden in der Öffent- Bewegungen lichkeit nicht geäußert, und die Partei setzt sich kritisch mit israelbezogenem Antisemitismus linker Strmungen Im Bericht des ersten UEA wurde als einzige politische auseinander. Diesbezglich verhält es sich bei der Partei bzw. soziale Bewegung das globalisierungskritische Die Linke anders: Einerseits sind einzelne Abgeordnete wie Netzwerk Attac und die Frage nach dessen Nähe zu Petra Pau äußerst engagiert in der Bekämpfung sämtlicher antisemitischen Einstellungen thematisiert. Attac hat im Formen des Antisemitismus sowohl auf Parlamentsebene ffentlichen Diskurs mittlerweile erheblich an Bedeu- wie auch im ffentlichen Diskurs, andererseits sind in tung verloren, aber andere Gruppierungen, die unter dem einem Flgel der Partei immer noch Mitglieder mit ausge- Begriff der sozialen Bewegungen gefasst werden knnen, prägt israelfeindlichen Grundpositionen zu fnden. Auch vornehmlich mit rechtspopulistischen Ausrichtungen,

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haben sich entwickelt. Beispielhaft wurden fr den Bericht der personifzierenden Kritik am Finanzkapitalismus, mit die »Montagsmahnwachen«, Pegida sowie das Phänomen der Behauptung, die Bundesrepublik sei kein souverä- der »Reichsbrger« hinsichtlich ihrer mglichen anti- ner Staat, manipulierte Massenmedien (»Lgenpresse«), semitischen Konnotationen untersucht. Aber auch der Weltverschwrungstheorien usw. eine gefährliche Nähe Antisemitismus in rechtsextremistischen Bewegungen wie zu zentralen Topoi des Antisemitismus und zu rechtsext- in salafstischen Gruppen, die in Deutschland agieren, war remen Deutungen aufweisen. ein Thema. Als dritte Form sozialer Bewegungen hat der UEA die Insgesamt spielt offener Antisemitismus keine domi- salafstische Szene genauer in den Blick genommen. Trotz nante Rolle bei Pegida, doch bildet Antisemitismus den der antisemitischen Vorstellungen, die Bestandteil der Begleittext in einer Reihe von Statements oder schwingt Ideologie des Salafsmus sind, und den häufg gegen Juden als Subtext vielfach mit. Insbesondere die Verbreitung von und jdische Einrichtungen gerichteten Anschlägen von Verschwrungstheorien und die aggressive Stimmung Salafsten in Europa, gehen die Islamismus-Experten gegenber Flchtlingen, Einwanderern und Muslimen, Olaf Farschid und Rudolph Ekkehard davon aus, dass aber auch gegenber Anstrengungen zur Gleichstellung es im »Mainstream-Salafsmus« keinen Unterschied im von nicht-heterosexuellen Menschen und Frauen, die Verhältnis zum Judentum und zum Christentum gibt und unter Rednern und Demonstranten deutlich wurden, sind damit auch keine »spezifsche antijdische und in der ein ernstzunehmendes Einfallstor fr Antisemitismus. In politischen Konsequenz antizionistische Wahrnehmun- etlichen Reden, die im Rahmen der Pegida-Demonstratio- gen jdischer Religion«. Beide Religionen, das Judentum nen gehalten wurden, fanden sich antisemitische Chiffren. und das Christentum, werden als Verfälschungen von Darber hinaus ließ sich auch offener Antisemitismus der einen gttlichen Wahrheit betrachtet. Judenfeindli- regional und lokal unterschiedlich, vereinzelt oder gehäuft che Haltungen seien eher untergeordnet. Farschid und bei den »-gida«-Demonstrationen beobachten, insbeson- Ekkehard betonen jedoch die Verwendung antisemi- dere bei kleineren, die blicherweise einen hheren Anteil tischer Stereotype bei salafstischen Bewegungen im auch organisierter Rechtsextremer aufweisen. Es gibt Nahen Osten, die eine Traditionslinie einer historischen innerhalb der Bewegung Entwicklungen in Ausrichtung Feindschaft zwischen Juden und Muslimen zeichnen, die und Zusammensetzung der Teilnehmenden, die auf eine sich vom Frhislam bis zum israelisch-palästinensischen zunehmende Radikalisierung schließen lassen. Ressenti- Konfikt hinziehe. ments wurden im Laufe der Zeit vonseiten der eingela- denen Redner sowie der Demonstrationsteilnehmenden immer offener und aggressiver vertreten. Welchen Einfuss Pegida und seine Ableger auf die politische Kultur und religion Stimmungen in der Bundesrepublik haben, lässt sich noch nicht abschließend abschätzen und ist konkret auch Obgleich es ein zentrales Anliegen des zweiten Unabhän- schwer nachweisbar. Fr eine Verhärtung der bei Pegida gigen Expertenkreises Antisemitismus war, den Empfeh- vertretenen Positionen spielt auch die z.T. enge bzw. lungen des ersten Expertenkreises zu folgen und eine personenidentische Vernetzung der Akteure mit anderen Analyse ber mgliche antisemitische Haltungen oder rechtspopulistischen und rechtsextremen Bewegungen Vorkommnisse auf Gemeindeebene in der evangelischen eine wichtige Rolle. Dazu gehrt vor allem die Vernetzung und katholischen Kirche zu präsentieren, ist es nicht bzw. Vermischung mit der sogenannten Querfront, den gelungen, entsprechende Ergebnisse vorzulegen. Um das Akteuren der sogenannten Montagsdemonstrationen Thema zumindest ansatzweise zu beleuchten, wurden und einschlägigen Medien wie Compact und der Inter- Expertisen zum Kirchentag, zur Karfreitagsliturgie und netplattform PI-news, zu denen sich auch Verbindungen zur »Slenczka-Debatte« eingeholt und ausgewertet. Eine mit neurechten Strmungen wie der Identitären Bewe- von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland gung, Parteien wie der NPD sowie der AfD nachweisen (EKD) 2014 bei ProVal (Gesellschaft fr sozialwissenschaft- lassen. Auch unter die Teilnehmer haben sich zunehmend liche Analyse – Beratung – Evaluation) in Auftrag gegebene Mitglieder der verschiedenen rechten Szenen – Hooligans, qualitative Studie zu den Fragen, in welcher Weise unter- den Identitären, Ablegern der AfD – gemischt, sodass diese schiedliche Gemeindekontexte und die Ausprägungen mit Blick auf den Antisemitismus einer besonderen Beob- von Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie achtung bedrfen. zusammenhängen und welche Beziehungen es zwischen individuellen Glaubensberzeugungen sowie Glauben- Die Montagsmahnwachen stellen eine politisch hetero- spraktiken und den Ausprägungen von Antisemitismus, gene Protestbewegung dar, deren Teilnehmer sich in ihrer Islamfeindlichkeit und Homophobie gibt, ist leider erst großen Mehrheit eher als politisch links verstehen, aber nach Redaktionsschluss des vorliegenden Berichts ffent- die aufgrund ihrer Offenheit und fehlenden politisch-in- lich geworden. So muss eine Untersuchung der Diskurse haltlichen Festlegung Raum fr Themen bietet, die mit auf Gemeindeebene, der Inhalte von Konfrmanden- und

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Firmunterricht bzw. anderer Bildungsprogramme im Ländern bzw. Ländern des Nahen und Mittleren Ostens kirchlichen Rahmen auch weiterhin ein Desiderat bleiben. nahe. Zugleich besteht ein großes Interesse an Informa- Die Amtskirchen distanzieren sich von Antisemitismus in tion ber den Holocaust. Insbesondere spielen hier der jeglicher Form, d.h. allerdings nicht, dass auf Gemeinde- Nahostkonfikt und seine durchaus auch antisemitische ebene oder in der Vorbereitung von kirchlichen Israelfahr- Rezeption eine große Rolle, aber auch klassisch antisemi- ten antisemitische Konnotationen ausgeschlossen wären. tische Stereotype und Verschwrungstheorien sind anzu- treffen. Das Wissen ber Israel mit einer klaren Täter-Op- Die vom UEA in Auftrag gegebene Studie zu »Haltun- fer Zuweisung ist in vielen Heimatländern omnipräsent. gen von Muslimen und muslimischen Organisationen Der Nahostkonfikt wird dabei aber nicht religis erklärt, zu Jdinnen und Juden« kann als eine erste explorative sondern primär ber eine ungleiche Ressourcenvertei- Untersuchung in einem Themenfeld gesehen werden, zu lung. Weil im Syrienkrieg benennbare und andere Feinde dem es bisher so gut wie keine empirischen Daten gibt. In erkennbar wurden, tritt der Nahostkonfikt jedoch in den den mit Imamen gefhrten Interviews haben sich keine Hintergrund. Auch durch den Arabischen Frhling scheint radikalen antisemitischen Stereotype gezeigt, wohl aber sich das Israelbild bei einigen der Befragten gewandelt zu Gleichsetzungen der nationalsozialistischen Verfolgung haben. und Ermordung der deutschen und europäischen Juden mit der Situation der Palästinenser heute. Die meis- Die Befunde verweisen auf große Unterschiede zwischen ten Befragten zeigten durchaus refektierte Haltungen Gefchteten aus unterschiedlichen Ländern mit jeweils gegenber Jdinnen und Juden sowie dem Judentum und unterschiedlicher antisemitischer Prägung und Sozialisa- verwiesen auf ihre alltägliche Arbeit, in deren Rahmen tion. Sie unterstreichen zudem die Rolle von kollektiven sie bemht seien, vorhandene Ressentiments in ihren religisen, nationalen und ethnischen Identitäten. Fr Gemeinden abzubauen. Deutlich wurde aber auch das gefchtete Personen lässt sich eine gespaltene Bindung Spannungsfeld, bestehend aus Erwartungen der nicht- an die Herkunftsländer vermuten, in denen sie auf der muslimischen Mehrheitsgesellschaft und Vorstellungen einen Seite sozialisiert wurden, aus denen sie aber auf der der muslimischen Gemeindemitglieder, in dem sich die anderen Seite gefohen sind. Die hohe Befrwortung von Imame bewegen. Hier ließ sich eine weitgehend refek- Grundwerten der Menschenrechte, der Demokratie, der tierte Haltung der Imame feststellen, die sich auch in Freiheit der Religionsausbung und des wertschätzenden anderen Themenfeldern wie etwa der Auslegung des Umgangs miteinander fällt auf und wird in Opposition zu Korans, dem Umgang mit dem Nahostkonfikt und der den Verhältnissen im Herkunftsland positiv hervorgeho- Auseinandersetzung mit dem Holocaust zeigte. ben.

Besonders wichtig fr die befragten Imame war die Problematisch auch mit Blick auf die Entwicklung von Wahrnehmung einer geringeren gesellschaftlichen Auf- Antisemitismus erscheint die Lebenssituation, in der viele merksamkeit fr antimuslimischen Rassismus, die auch Gefchtete verharren mssen. Während sie derzeit noch die Auffassung vieler muslimischer Gemeindemitglieder vor allem mit den Alltagsproblemen des Aufaus eines widerspiegelt. Fr die Bekämpfung sowohl von Antisemi- neuen Lebens beschäftigt sind und Antisemitismus als tismus als auch von antimuslimischem Rassismus scheint Thema fr sie nachrangig ist, steht zu befrchten, dass es daher notwendig, dass sich muslimische und jdische Enttäuschungen sowie eigene Diskriminierungs- und Gemeinden als Partner begreifen und gemeinsame Strate- Marginalisierungserfahrungen in Deutschland ein Einfall- gien entwickeln und keine Opferkonkurrenzen aufauen. stor fr Radikalisierungen sein knnten. Dies knnte vor Weitere Studien zu diesem Themenfeld mssen zeigen, allem dann passieren, wenn die Gefchteten Anschluss an inwieweit sich diese Untersuchungsergebnisse bestätigen. radikalisierte migrantische Milieus fnden oder von diesen gezielt angesprochen werden. Der bei vielen Gefchteten mindestens latent vorhandene Antisemitismus knnte sich dann in antisemitischen Handlungen niederschlagen. Flucht Es gibt insgesamt viele Hinweise sowohl fr die Annahme Die Befunde einer im Auftrag des UEA erarbeiteten ersten einer großen Verbreitung von Antisemitismus bei Studie, die eine Annäherung an das Thema Antisemitis- Gefchteten aus arabisch-muslimisch geprägten Ländern. mus im Zusammenhang mit Flucht und Gefchteten Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die Lage komplex bietet, legen ein vergleichsweise hohes Maß an antisemi- ist. Die Gefahr besteht, den Blick zu einseitig nur auf die tischen Einstellungen und große Wissenslcken unter muslimische Bevlkerung bzw. aktuell auf Gefchtete als Gefchteten aus arabischen und nordafrikanischen Träger antisemitischer Einstellungen zu richten.

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Prävention Eine weitere Herausforderung fr Projektträger bei der Konzeption und Durchfhrung von Fort- und Weiterbil- Der UEA hat die Socius Organisationsberatung damit dungsmaßnahmen ist das unterschiedliche Verständnis beauftragt, eine Evaluation fr sechs ausgewählte Bil- von aktuellem Antisemitismus. Es existiert keine einheit- dungsprojekte im Feld der Antisemitismusprävention liche Defnition von Antisemitismus, die auf alle Situatio- durchzufhren. Ziel der Evaluation war die »Identifzie- nen und Projekte bertragbar wäre. rung von konkreten ›best practice‹ Ansätzen und Metho- den in der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus im Die pädagogischen Ansätze sind laut Evaluationsbericht Rahmen historischer und politischer Bildungsarbeit«. ähnlich vielfältig wie die theoretischen Bezugnahmen. Zwischen Frhjahr und Herbst 2016 wurden sechs Pro- Sie entstammen der historisch-politischen Bildung, der jekte aus den Bereichen Schule, Sport, Träger mit religi- Demokratieerziehung, der Antidiskriminierungspädago- sen Wurzeln, Jugend, Fachkräfte verschiedener Bereiche gik, der antirassistischen und interkulturellen Pädagogik und »Sonstige« evaluiert, die in weiten Teilen ber die sowie der Kreativpädagogik. Die Formate reichen von Frderung durch spezifsche Bundes- oder Landespro- Fortbildungen bis hin zu kollegialen Beratungen und gramme initiiert bzw. gesttzt wurden. Supervision. Die Bercksichtigung von Emotionen – hier auch Bedrfnisse, Widerstandsstrategien und Abwehrhal- Zwei relevante Befunde ergaben sich schon während tungen – ist wichtig. Zentral ist die nachhaltige Frderung der Projektrecherche: Außerhalb spezieller ffentlicher fester, langfristiger Kooperationen zwischen Regelinsti- Frderprogramme konnten kaum Projekte recherchiert tutionen, wie z.B. Schulen oder Trägern der Kinder- und werden, die sich mit aktuellem Antisemitismus befassen Jugendhilfe und spezialisierten Bildungsträgern sowie und nicht schwerpunktmäßig historischen Antisemi- die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Bund tismus bearbeiten. Bei den Projektdurchfhrenden und und Ländern bei einer gesamtheitlich verstandenen -trägern (mit Ausnahme des Bereichs Sport) bestand eine Prävention und Intervention. Zudem gilt es eine stärkere Scheu, sich evaluieren zu lassen. Verzahnung von post-kolonialen, rassismuskritischen und antisemitismuskritischen Ansätzen zu schaffen, mit dem Die von Socius befragten Projektbeteiligten waren sich Ziel der Weiterentwicklung einer interdisziplinären und darin einig, dass der aktuelle Antisemitismus von großer differenzsensiblen Bildungsarbeit, die ber die konstruier- Relevanz ist, im gesellschaftlichen Raum der Zielgruppen ten »Gruppen« der GMF hinausgeht (Stichwort Intersek- jedoch kaum eine Rolle spiele und entsprechend nur tionalität). wenig nachgefragt werde. Die von Socius evaluierten Bil- dungsprojekte erarbeiten verschiedene Strategien, um ihre Zielgruppen zu erreichen. Sie sprechen unterschiedliche Personengruppen persnlich an – Jugendliche bis hin zu Beispiele berufstätigen Erwachsenen – oder bekommen diese ber Schulen und andere Institutionen vermittelt. Genannt Im Kapitel zur Defnition von Antisemitismus wurde, werden auch soziale Netzwerke wie Facebook und in insbesondere in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Einzelfällen Entscheidungsträgerinnen und -träger in Ins- Politik Israels, herausgestellt, dass oft nur schwer zwischen titutionen. Schulen oder Institutionen als feste Kooperati- kritischen und antisemitischen Äußerungen unterschie- onspartner zu gewinnen, so berichteten mehrere Befragte, den werden kann. Der Expertenkreis hat versucht, diese sei schwierig bzw. langwieriger als geplant. Schwierigkeiten der eindeutigen Zuordnung mit dem Rckgriff auf das Konstrukt der »Grauzonen« zu erfassen. Die Projekte messen der Fähigkeit einer Selbstrefexion als Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Voraussetzung fr das Gelingen von Bildungsarbeit eine sich zwar die Übergänge zwischen einer, wenn auch har- hohe Bedeutung zu. Die evaluierten Projekte verfgen ten oder gar ungerechten Kritik an der israelischen Politik ber weitgehend schlssige theoretische Konzepte, einige auf der einen und Antisemitismus auf der anderen Seite mit mehr, andere mit weniger experimentellen Elemen- theoretisch durchaus defnieren lassen, im Einzelfall aber ten. Die meisten Projekte bearbeiten den aktuellen Antise- eine Entscheidung darber, ob bestimmte Äußerungen zu mitismus im Kontext anderer Phänomene der Gruppen- Israel als kritisch oder als antisemitisch zu verstehen sind, bezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF), betonen aber deutlich schwerer fällt. Es kommt in diesen Fällen immer zugleich die Spezifk des Antisemitismus als eigenständi- auf den Kontext der Aussagen an, etwa wer, was, wann sagt ges und besonderes Phänomen. Auch die verschiedenen und ob die Kritik ohne Zuschreibungen an ein unterstell- Erscheinungsformen, etwa sekundärer oder israelbezo- tes jdisches Kollektiv erfolgt, mit stereotypen Merkmalen gener Antisemitismus, werden in die Überlegungen der belegt wird oder im Sinn einer »Umwegkommunikation« Projekte einbezogen. Israel nur an die Stelle »der Juden«, quasi als Legitimie- rung antisemitischer Einstellungen und Positionen, tritt. Ferner ist zu bedenken, dass unabhängig davon, ob eine

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Aussage antisemitisch »motiviert« ist, der Inhalt einer Zuschreibungen im Nahostkonfikt, die vermeintlich keine Aussage dennoch als antisemitisch bewertet werden kann. antisemitischen Konnotationen transportieren wrden. Der Verlauf der Debatte hat deutlich gemacht, dass in der Die Debatte um die Äußerungen des Journalisten und Ver- Mehrheitsgesellschaft ein Mangel an Sensibilität hinsicht- legers Jakob Augstein Ende 2012 hat deutlich gemacht, wie lich der Frage herrscht, welche Wirkung solche ffentli- umstritten die Einschätzung seiner Kritik an der Politik chen, hetzerischen Zuschreibungen bei den Betroffenen Israels in der Öffentlichkeit war und zwar sowohl unter auslsen. Journalisten der Prestigepresse als auch unter Vertrete- rinnen und Vertretern jdischer Organisationen sowie Offene Formen von Antisemitismus kommen in den den sich zu Wort meldenden Wissenschaftlerinnen und Bundesligen in den letzten Jahren seltener vor, doch Wissenschaftlern. Dies macht wiederum deutlich, dass – scheinen vor allem die unteren Ligen hier grßere Prob- wie schon die Probleme bei der Festlegung einer allgemein leme zu haben. Ob es insgesamt eine Veränderung in der akzeptierten und umfassenden Antisemitismusdefnition Anzahl und Heftigkeit antisemitischer Vorfälle gibt, ist zeigen – die Auffassungen, wann Kritik an Israels Politik bisher nicht erforscht, zumal auch hier die Dunkelziffer im Nahostkonfikt die Grenze zum Antisemitismus ber- nicht gemeldeter Vorfälle nicht unerheblich sein drfte. schreitet, auch bei Akteuren weit auseinandergehen, die Antisemitismus bleibt weiterhin, häufger nun auch mit sich in der Bewertung des antisemitischen Charakters von israelfeindlichen Anteilen verbunden, Teil der vor allem Äußerungen in den nachfolgend dargestellten Debatten von den rechten Fangruppen und Hooligans ausgehenden zur Beschneidung und zu Antisemitismus im Bereich des Diskriminierungen im Fußball. Damit gewinnt der Antise- Fußballs, weitgehend einig sein drften. Der Begriff der mitismus eine ganz erhebliche gesellschaftliche Breiten- »Grauzonen« soll diese Deutungsambivalenzen transpa- wirkung. Direkt und besonders stark davon betroffen sind rent machen und eine Debatte darber ermglichen, was die jdischen Makkabi-Vereine und israelische Mann- in Einzelfällen als Antisemitismus gelten kann. schaften, die in jngster Zeit zum Ziel antisemitischer Anfeindungen insbesondere auch von trkisch-mus- Die hasserfllten Auswchse der Beschneidungsdebatte, limischen Vereinen und deren Spielern werden, sowie die vor allem im Internet virulent waren, haben einmal antirassistische Fangruppen, die von rechten Fangruppen mehr gezeigt, dass es nur eines Trigger-Ereignisses bedarf, des eigenen Vereins angefeindet werden. Auf der Verband- um latent vorhandene antisemitische Stimmungen sebene fehlt eine gemeinsame bergreifende Strategie zur emotional aufzuladen und in den sozialen Netzwerken Bekämpfung des Antisemitismus in den Stadien, sodass ungefltert an die Oberfäche zu splen. Es verfestigte auf solche Vorfälle uneinheitlich reagiert wird und die sich zunehmend der Eindruck, dass die Beschneidung Sportgerichte zu milde Urteile fällen. Auch Fanprojekte und die Verschiebung der Argumentationslinien von richten sich oft nur sehr allgemein gegen rassistische und religisen Gebräuchen hin zu Fragen von Kinder- und physische Gewalt und nehmen das Klima der Bedrohung, Menschenrechten eine willkommene Abwechslung boten das von verbalen Attacken ausgeht, nicht ausreichend zur gegenber den inzwischen schon klassisch gewordenen Kenntnis.

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Handlungsempfehlungen

straftaten º … die unabhängige Evaluierung des PMK-Erfassungs- systems mit einer Überprfung der theoretischen Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … Grundlagen. Vor allem die verwendeten Defnitionen und die vier º … in dem vom Bundesministerium des Innern her- Dimensionen (1) Deliktqualität, (2) Phänomenbereiche, ausgegebenen Verfassungsschutzbericht regelmäßig (3) Themenfelder und (4) extremistischen Qualität sollen ein gesondertes Kapitel ber Antisemitismus in die berprft werden ebenso wie deren Anwendung in der Berichtsteile zu allen Extremismus-Bereichen aufzu- Ermittlungspraxis. nehmen und dort zudem die statistischen Angaben zu antisemitischen Straftaten wieder gesondert auszuwei- sen. Hierfr ist auch eine Trennung der Konzepte Vorurteils- antisemitische einstellungen kriminalität und (Rechts-)Extremismus ntig, da die in der Bevlkerung gemeinsame Kategorisierung zu stark auf das her- kmmliche Bild des Rechtsextremismus fxiert bleibt, was zu Lasten der Erfassung von Vorurteilskriminalität Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … fhrt. º … ein regelmäßiges, vom Bund fnanziertes Monitoring º … die Erfassung des gesamten Verfahrensablaufs von antisemitischer Einstellungen in Form einer reprä- vorurteilsbasierten Delikten im Prozess der Strafverfol- sentativen Bevlkerungsbefragung sowie qualitativer gung in einer Datenbank. Studien unter Bercksichtigung besonderer Bevlke- Neben der Item-bezogenen Aufschlsselung der Taten rungsgruppen. sollen hier auch Daten zu den Opfern und Täterinnen Bislang gibt es kein regelmäßiges Monitoring. Durch und Tätern solcher Straftaten und zum Ausgang von private Stiftungen in Auftrag gegebene Studien Strafverfahren (Einstellungen, Anklage- und Verurtei- fokussieren momentan nicht spezifsch auf das Thema lungsquoten, Verfahrensdauer, Strafmaß usw.) erfasst Antisemitismus. Reine repräsentative Bevlkerungs- werden. umfragen ermglichen zudem keine Auskunft ber Antisemitismus bei einzelnen Bevlkerungsgrup- º … Fortbildungen fr Polizeibeamte und Verfassungs- pen (z.B. eingewanderte oder junge Personen). Diese schutzmitarbeiterinnen und -mitarbeiter speziell zur Bevlkerungsgruppen knnten z.B. durch ein gezieltes Erfassung des antisemitischen Gehalts von Aussagen »Oversampling« bzw. durch ergänzende Studien auch in bzw. Aktionen zum Israel-Palästinenser-Konfikt im etwas grßeren, aber regelmäßigen Abständen erreicht Themenfeld Brgerkriege/Krisenherde anzubieten. werden. Ziel ist es auch, mittels qualitativer Untersuchungen, º … die Institutionalisierung der Zusammenarbeit zwi- mehr ber das sich wandelnde Verständnis von antise- schen staatlichen Exekutivorganen (Polizeibehrden, mitischen Facetten und Zugängen zum Thema sowie die Justiz) und NGOs sowie anderen Initiativen bei der sich ändernden individuellen Wissensbeständen und Erfassung antisemitischer Straftaten. (auch generativ unterschiedlichen) Verarbeitungen zu In diesem Rahmen soll auch geprft werden, ob das in erfahren. Von besonderem Interesse sind hier einerseits Großbritannien praktizierte Modell des »third party Studien zu den sich ändernden Sichtweisen junger reporting« in Deutschland bernommen werden kann. Personen und andererseits zu den Sichtweisen von Personen mit »Migrationshintergrund«. Insbesondere º … die Durchfhrung einer Fallstudie zum Dunkelfeld ist hier auch die Frage zu stellen, inwieweit politische antisemitisch motivierter Kriminalität. Prozesse in den Herkunftsländern Einfuss auf die hier lebende migrantische Bevlkerung haben und wie sich dies auf ihre Einstellungen auswirkt (z.B. Russland oder Trkei).

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erfahrungsräume und Perspektiven Erfahrungsräume fr Betroffene zu etablieren, die im der jdischen Bevlkerung im Alltag auf unterschiedliche Art und Weise mit Antisemi- tismus konfrontiert sind. Umgang mit antisemitismus

Auf- bzw. Ausbau von Melde- und Einbeziehung der jdischen Perspektive in Beratungsstrukturen Gremien und bei der Präventionsarbeit

Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt …

º … der einzurichtenden Bund-Länder-Kommission zum º … die stärkere Einbindung von jdischen Wissen- Themenbereich Antisemitismus (→ zentrale Forde- schaftlerinnen und Wissenschaftlern, Fachkräften rungen) sich fr den Ausbau und die Frderung von und Institutionen in staatliche/zivilgesellschaftliche Melde- und Informationsstellen zur Erfassung von Gremien, die sich fr Demokratiefrderung einsetzen, antisemitischen Übergriffen, Vorfällen oder Straftaten Antisemitismus und Rassismus bekämpfen. einzusetzen. Hier kann und sollte an die Erfahrungen bestehender º … die stärkere Einbeziehung jdischer Perspektiven Informationsstellen angeknpft bzw. ihre Expertise und Expertisen in die verschiedenen Frderprogramme eingeholt werden. Namentlich ist hier RIAS in Berlin historisch-politischer Bildung, Antisemitismuspräven- zu nennen. Wnschenswert ist die Ausweitung beste- tion und Intervention. hender Meldestrukturen auf weitere Bundesländer bzw. Fr beide Empfehlungen gilt, das Recht von Jdinnen Regionen, die fr Betroffene zugänglich und mglichst und Juden auf Mitbestimmung bei der Defnition und leicht zu erreichen sind. Die erarbeiteten Qualitätskrite- Erfassung von Antisemitismus anzuerkennen und in die rien, wie auch allgemeinverbindliche Vorgehensweisen politischen Verhandlungen einzubeziehen. bei der Erfassung und Falldokumentation, sind dabei zu Diskrepanzen bei der Defnition von Antisemitismus beachten. Die Dokumentation sollte im besten Fall in werden bisher zumeist – wie auch bei anderen Abwer- einer gemeinsamen Plattform bzw. bei einer Sammel- tungs- und Ausgrenzungsphänomenen – viel eher als stelle zusammengefhrt werden. »abweichende Ansicht« der betroffenen Minderheit betrachtet und viel zu selten als ein relevanter Wahr- º … der einzurichtenden Bund-Länder-Kommission zum nehmungs- und Erfahrungsraum, der bei der Begriffs- Themenbereich Antisemitismus sich fr den Aufau bestimmung mitbercksichtigt sein muss. von spezialisierten Beratungsstrukturen bzw. den Aus- bau der Zusammenarbeit mit bestehenden Beratungs- strukturen fr Betroffene rechter, rassistischer und Forschung antisemitischer Gewalt sowie Antidiskriminierungsbe- ratungsstellen einzusetzen. Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … Hier ist auch die Schulung von Mitarbeitenden in anderen allgemeinen Beratungs- und Antidiskrimi- º … die Initiierung und Frderung von interdisziplinären nierungsstellen wichtig, um die Inanspruchnahme der Studien mit qualitativer und quantitativer Ausrichtung Erst- und Verweisberatung sicherzustellen. Hier gilt es, zu den Perspektiven, Erfahrungen, Wahrnehmungen das Bewusstsein der Beraterinnen und Berater fr den und Expertisen von Jdinnen und Juden im Hinblick Alltagsantisemitismus zu schärfen und das Verständnis auf Antisemitismus. von Antisemitismus als Diskriminierung zu befrdern. Die Erfassung jdischer Perspektiven auf Antisemitis- Bei der Opferberatung geht es sowohl um die Unter- mus soll in regelmäßigen Abständen gewährleistet wer- sttzung von Betroffenen beim Erleben von Alltagsan- den, um die Daten aus den Befragungen der nicht-j- tisemitismus unterhalb einer strafrechtlichen Schwelle dischen Mehrheitsbevlkerung um diese Dimension zu als auch um spezialisierte Beratung nach gewalttätigen erweitern und Hinweise auf Entwicklungen oder neue Übergriffen. Phänomene entdecken und empirisch absichern zu knnen. Empirisch gesehen gibt es hier ein vergleichs- º … die Frderung und Ausweitung von Empower- weise großes Forschungsdesiderat, das zu beheben gilt. ment-Maßnahmen mindestens durch das Bundes- ministerium fr Familie, Senioren, Frauen und Jugend º … die Initiierung und Frderung anwendungsorien- (BMFSFJ) und die Landesprogramme zur Extremis- tierter Grundlagenforschung und praxisbegleitender musprävention. Forschung zu Präventionsmaßnahmen, die nicht nur Hier sollten jdische Träger, Institutionen oder Projekte als gering fnanzierte Begleitforschung oder nachträg- gezielt gefrdert werden, um stärkende Dialog- und liche Evaluation erfolgt, sondern als ein eigenständiges

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Feld gewertet und fnanziell gesichert wird. Gezielte antisemitismus und Parteien Ausschreibungen im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie leben!« und/oder des Bundesministeriums Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … fr Forschung und Wissenschaft wären erforderlich. º … allen Parteien regelmäßige Selbst- und Fremdevalua- tionen zu Aktivitäten der Parteien gegen Antisemitis- Medialer Diskurs mus sowie zu Antisemitismus in den eigenen Reihen Die demokratischen Parteien sollten sich (1) regelmäßig Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … mit der Frage beschäftigen, welche Aktivitäten sie gegen aktuellen Antisemitismus unternehmen und inwieweit º … ein Monitoring der sozialen Netzwerke durch hier u.a. die Empfehlungen des Unabhängigen Experten- staatliche Stellen und NGOs, deren Ergebnisse von den kreises Antisemitismus Bercksichtigung fnden und (2) Landeskriminalämtern und dem BKA genutzt werden. von sich aus und selbstkritisch mit mglichen antisemi- Ein systematisches Monitoring inklusive einer entspre- tischen Tendenzen in den eigenen Reihen beschäftigen chenden Analyse der Sozialen Medien ist technisch und derartige Vorkommnisse nicht nur offensiv bei mglich, bedarf aber fnanzieller Untersttzung, um anderen konkurrierenden Parteien strategisch instru- das entsprechende Personal zur Verfgung stellen zu mentalisieren. knnen. º … die Grndung einer fraktionsbergreifenden Parla- º … die Erhhung des Drucks auf die Plattformbetreiber mentariergruppe im Bundestag und den Landtagen, durch das Bundesministerium fr Justiz und Verbrau- die sich mit Fragen zum Antisemitismus beschäftigt cherschutz sowie die Durchsetzung des Maßnahmenka- und dazu in regelmäßigen Abständen einen Bericht talogs, der im Dezember 2015 zusammengestellt wurde. verffentlicht. Dies sollte durch eine interministerielle Initiative gesttzt werden, die Mechanismen schafft, um antise- º … der Partei Die Linke, die bei einigen Mitgliedern mitische und diskriminierende Inhalte besser melden bestehenden israelfeindlichen Tendenzen parteiintern und anschließend lschen zu knnen. kritisch zu beobachten und auf antisemitischen Ten- denzen hin zu berprfen. º … die Nutzung bereits vorhandener und neuer Instru- mente, um Social Bots und Fake Accounts, die zur Ver- º … der Partei Alternative fr Deutschland einen klaren breitung von antisemitischer »Hate Speech« genutzt Trennungsstrich zu sich antisemitisch äußernden werden, lschen zu knnen. Abgeordneten und Tendenzen in der Partei zu ziehen, sofern sie sich als anti-antisemitisch und demokratisch º … die Schulung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verstehen will. der großen Kommunikations-Plattformen, um auch neuere Formen des Antisemitismus sowie antisemiti- sche Chiffren erkennen und lschen zu knnen. antisemitismus in politischen Bewegungen und Organisationen º … die Stärkung von Akteuren der Zivilgesellschaft, um »Hate Speech« im Internet entgegentreten zu kn- nen, z.B. durch entsprechende Frderprogramme des Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … Bundesministeriums fr Familie, Senioren, Frauen und Jugend. º … in dem vom Bundesministerium des Inneren heraus- gegebenen Verfassungsschutzjahresbericht wieder ein º … die gezielte Frderung von Counter Speech z.B. gesondertes Kapitel »Antisemitismus im Rechtsextre- in Form von Journalisten als »Faktencheckern«, um mismus« aufzunehmen (→ Handlungsempfehlungen Lgen direkt entlarven zu knnen und eine weitere Straftaten). Verbreitung zu verhindern. º … in die von den Landensinnenministerien bzw. -senaten º … die Untersttzung und Aufrechterhaltung einer herausgegebenen Verfassungsschutzjahresberichte im kritischen fremdsprachlichen Medienberichterstattung Bereich Extremismus ein Kapitel zum Antisemitismus in durch den Rundfunk- und Fernsehrat, um den verschie- den jeweiligen Phänomenbereichen aufzunehmen. denen migrantischen Communities in Deutschland ein kritisches Gegengewicht zu einer propagandistischen º … der Bundesprfstelle fr jugendgefährdende Medien Medienberichterstattung der Herkunftsländer anbieten darauf zu achten, dass antisemitische Aussagen nicht zu knnen. nur in der bekannten »Rechts-Rock«-Musik, sondern

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auch in rechtsextremistischer Rap-Musik und anderen º … die Wrdigung der Dialogarbeit vieler Imame im Stilrichtungen der Musik vorkommen. Kampf gegen Antisemitismus und die Einbeziehung Hier sind auch Medienanstalten aufgefordert kritisch zu ihrer Erfahrungen fr die weitere antisemitismuskriti- berprfen, welche Interpreten sie spielen und bei sich sche Arbeit auch in anderen muslimischen Gemeinden. auftreten lassen. º … die Fokussierung auf Themen zur Sensibilisierung º … den politischen Stiftungen bei ihren Bildungsan- gegen Antisemitismus in muslimischen Gemeinden, geboten nicht nur Antisemitismus im Kontext des die Gemeinsamkeiten von Islam und Judentum hervor- Holocaust oder des Rechtsextremismus, sondern auch heben. bezogen auf seine aktuellen Erscheinungsformen (z.B. Israelfeindlichkeit) zu behandeln. Hier gilt es auch Erscheinungsformen im Blick zu antisemitismus bei Gefchteten haben, die rechtsextreme Inhalte ber modernisierte Begriffichkeiten vermitteln. Forschung

º … die fnanzielle Untersttzung einer Bewegungsfor- Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … schung, die sich auch mit antisemitischen Strmungen innerhalb alter und neuer politischer Bewegungen º … die Initiierung, Durchfhrung und Frderung von auseinandersetzt. Forschung zu Antisemitismus unter Gefchteten, die mindestens durch das Bundesamt fr Migration und Gefchtete geleistet werden sollte. antisemitismus und religion Bislang fehlt es an empirisch gesttzten Erkenntnissen ber die Verbreitung und Ausformung von Antisemi- Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … tismus bei Gefchteten. Gefragt sind sowohl quali- tative als auch quantitative Studien, im besten Fall º … zum Ende des 2017 anstehenden »Lutherjahres« eine Verbindung aus beiden, ggf. kann Fragestellung retrospektiv die zu erwartenden Diskussionen ber zunächst auch in eine bereits angelaufene Langzeit- das Verhältnis der Evangelischen Kirche zu Juden und studie integriert werden. Im Forschungsdesign sowie Judentum zu analysieren und in einem gesonderten der Auswertung ist es erforderlich, die sehr große Bericht zu evaluieren. Heterogenität dieser Zielgruppe zu bercksichtigen. Ferner sollten dabei Einfussfaktoren auf antisemitische º … die Durchfhrung von qualitativen und quantita- Einstellungen systematisch untersucht werden. Dazu tiven Studien zu frdern, um bislang fehlende empi- gehren u.a. religise, nationale und ethnische Identi- risch gesttzte Erkenntnisse ber die Verbreitung und täten und Sozialisationserfahrungen, aber insbesondere Ausformung von Antisemitismus auf Gemeindeebene auch Besonderheiten der Erfahrungen und Lebens- der evangelischen und katholischen Kirche sowie den situation als Gefchtete, ebenso zu bercksichtigen Freikirchen zu erlangen. sind Marginalisierungs- und Diskriminierungserfah- rungen in Deutschland. Außerdem sollten hier auch º … der einzurichtenden Bund-Länder-Kommission die vermittelten Wissensbestände und Informationen staatsvertragliche Regelungen zur Auseinandersetzung mit antisemitischen Inhalten, die Gefchtete aus ihren mit Antisemitismus im Bereich Religion (unter Berck- Herkunftsländern mitbringen bzw. durch Medien, die sichtigung der hier vertretenen großen Religionsge- sie hier nutzen, erreichen, analysiert werden. meinschaften) zu schaffen. º … die Untersuchung des Wissens und der Einstellung º … die Erkenntnisse der deutsch-israelischen Schul- unter Ehrenamtlichen und Untersttzerinnen von buchkommission ernst zu nehmen. Gefchteten im Rahmen der Forschung zum Ehren- amt. º … eine gezielte Frderung von Moscheegemeinden, Ehrenamtlichen und Untersttzerinnen sind häufg die muslimischen Trägern, Institutionen und Projekten, wichtigsten Kontaktpersonen fr Gefchtete, daher ist die konkrete Maßnahmen im Bereich der interkultu- es von zentralem Interesse mehr darber zu erfahren, rellen und interreligisen Begegnungs- und Dialogar- was sie in Zusammenhang mit dem Thema Antisemitis- beit mit jdischen Partnern sowie Trägern der politi- mus weitergeben. Die Erkenntnisse sollten auch bei der schen Bildung gegen Antisemitismus durchfhren. Schulung von Ehrenamtlichen Verwendung fnden. Das Zusammendenken von Antisemitismus und anti- muslimischem Rassismus schafft neue Mglichkeiten fr die Bekämpfung des Antisemitismus.

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Politische Bildung Aufau neuer Formate und Plattformen genutzt werden knnten. Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt …

º … die Vernetzung und den professionellen Erfahrungs- austausch von Wissenschaft, Praxis und insbesondere Prävention und Intervention Trägern der historisch-politischen Bildung zum Thema Flucht und Antisemitismus; gefragt sind hier insbeson- Empfehlungen zur Schaffung besserer dere die Frder- und Bildungsprogramme von Bund Rahmenbedingungen fr die Prävention und Ländern. Hier gilt es, in neu entwickelte oder bestehende Vernet- Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … zungen Erkenntnisse zu Antisemitismus bei Gefchte- ten und ggf. auch unter Ehrenamtlichen einzubringen º … die Arbeit der interministeriellen Arbeitsgruppe zur und einen interdisziplinären Fachaustausch ber den Schaffung einer ressortbergreifenden Gesamtstrategie Zuschnitt von Bildungsangeboten zu initiieren. zur Extremismusbekämpfung und Demokratiefr- derung ber die Legislaturperiode hinaus weiter zu º … die Anerkennung von Gefchtete als politisch Den- fhren unter Einbezug aller fr den gegenwärtigen kende und Handelnde mindestens in den Bildungspro- Antisemitismus relevanten Ressorts, insbesondere auch grammen von Bund und Ländern. dem BMJV, dem BMBF und dem Auswärtigen Amt. Hier gilt es, Gefchtete als politisch Denkende und Der gegenwärtige Antisemitismus muss im Nationalen Handelnde mit ihren eigenen Erfahrungen und Per- Aktionsplan eine eigenständige Erwähnung fnden. Das spektiven ernst zu nehmen, ihre Bildungsinteressen Bundesprogramm »Demokratie leben!« allein reicht zu bercksichtigen, an herkunftsspezifsches Wissen nicht aus, um Antisemitismus auf allen Ebenen zu und antisemitische Narrative anzuknpfen und die begegnen. politischen Diskussionen zu befrdern. Dies sollte stets unter Einbeziehung ihrer Lebenssituation (unsicherer º … den Ausbau und die Frderung der Zusammenarbeit Aufenthaltsstatus, traumatische Fluchterfahrungen, zwischen staatlichen Stellen und nicht-staatlichen Herkunftskontexte und Motivationslagen) gesche- Organisationen, um das koordinierte Zusammenwir- hen. Mgliche Ansatzpunkte sind die Befrwortung ken der unterschiedlichen Akteure in Bund, Ländern, demokratischer und menschenrechtlicher Werte, die Kommunen und Zivilgesellschaft nachhaltig zu unter- Stärkung der sich aus den Biografen ergebenden Empa- sttzen. thie und bei Jugendlichen das große Interessen an der Die durch das Bundesprogramm »Demokratie leben!« eigenen Identität und die hohe Motivation, Neues zu initiierten Strukturen (Landes-Demokratiezentren, lernen, das Land zu verstehen und sich zu integrieren. Partnerschaften fr Demokratie u. a.) sollten Antisemi- tismus unter Bercksichtigung seiner unterschiedlichen Erscheinungsformen stärker in ihrer Arbeit bercksich- Medien tigen.

Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … º … die nachhaltige Frderung fester, langfristiger Koope- rationen zwischen Regelinstitutionen – Schulen, Träger º … eine noch grßere Bereitstellung, Verbreitung und der Kinder- und Jugendhilfe, konfessionelle Träger, Zugänglichkeit von Information und Angeboten fr Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspfege, Jugend- Gefchtete auch in den jeweiligen Landessprachen; und Sozialämter –, und spezialisierten Bildungsträgern. gefragt sind hier mindestens die ffentlich-rechtli- Die im Rahmen der Bundesprogramme entstande- chen Medien und die Bundes- und Landeszentralen fr nen Strukturen knnen hier wichtige Bedingungen politische Bildung. fr das Gelingen der Präventionsarbeit schaffen. Die Ziel sollte es sein, mglichst viele Menschen mit Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ist dabei Fluchterfahrungen zu erreichen. Das gilt ebenso fr unerlässlich. Information und Angebote der politischen Bildung im Zusammenhang mit Antisemitismus. V.a. das Fernse- º … den vielfältigen Bestand an pädagogischen Hand- hen, das viele Gefchtete erreicht, sollte muttersprach- lungsmglichkeiten inklusive praktisch-methodischer liche Artikel und Sendungen anbieten – das gilt v.a. fr Vorschläge weiter auszubauen und kostenfrei zugäng- politische Formate. Gefchtete sollten dabei auch aktiv lich zu machen. in die Medienproduktion einbezogen werden. Viele von Basis knnte die Vielfalt-Mediathek »Bildungsmedien ihnen bringen Medienkompetenzen mit, die fr den gegen Rechtsextremismus, Menschenfeindlichkeit und Gewalt« des IDA e.V. und DGB Bildungswerkes bilden.

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Jedoch msste hier der Themenbereich Antisemitismus mgliche Stigmatisierungsängste und Abwehrreakti- deutlich erweitert werden. onen verringern und damit die Bereitschaft erzeugen, sich kritisch mit Antisemitismus auseinanderzusetzen. º … die institutionelle Frderung von Trägern/Zentren, Die Bercksichtigung von Wechselwirkungen zwischen die bestehende Ansätze evaluieren, im Hinblick auf ihre den verschiedenen Phänomenbereichen darf dabei Wirksamkeit bewerten, zugänglich machen und aktiv nicht zur Relativierung der spezifschen Beschaffenheit (und immer wieder neu) bewerben. von Antisemitismus fhren. Vielmehr sollte die Verzah- Als »Vernetzungsknoten« knnten diese Träger/Zent- nung das Handlungsfeld bereichern, neue Impulse fr ren aktuelle Forschungen und Evaluationen auswerten die fachliche und methodische Weiterentwicklung set- und die Ergebnisse in die Praxis einspeisen. Sie knnten zen sowie die Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren ferner eigene Evaluationen ber längere Zeiträume, der politischen Bildung – beispielsweise mit muslimi- durchfhren, eine Übersicht ber Träger und Instituti- schen Bildungsprojekten ausbauen und verstärken. onen des Arbeitsfeldes aktuell halten und neue träger- bergreifende Fortbildungen initiieren. Das Bundespro- º … die Bearbeitung des gegenwärtigen Antisemitismus gramm »Demokratie leben!« (BMFSFJ) knnte hierfr unter Bercksichtigung historischer Entwicklungsli- entsprechende Mittel zur Verfgung stellen. nien und Hintergrnde zu verfolgen. Der Einbezug historischer Perspektiven sollte dabei ber eine Auseinandersetzung mit Nationalsozialis- Empfehlungen fr die Bildungsarbeit mus und Holocaust hinausgehen und auch die Folgen mit einbeziehen. Der Expertenkreis empfehlt daher Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt … Projekte zu frdern, die sich speziell dieser Fragestel- lung widmen und darauf bezogene Ansätze erproben. º … den Bereich Prävention durch Bildung breiter zu Modellvorhaben dieser Art mssten nicht nur ein verstehen und mit Intervention zusammen zu den- Frderschwerpunkt des Bundesprogramms »Demo- ken. Prävention sollte eine Kombination aus Bildung kratie leben!« sein, sondern auch im Rahmen anderer und Beratung sein. Dazu sind spezifsche Kompeten- Programme – beispielsweise in der Gedenkstättenkon- zen, interdisziplinäre Bndnisse und Kooperationen zeption der Bundesregierung (Beauftragte der Bundes- (bspw. mit Opferberatungsstellen) sowie eine engere regierung fr Kultur und Medien) – gefrdert werden. Zusammenarbeit zwischen Schule, Jugendsozialarbeit, Jugendhilfe, Polizei und Justiz ntig. º … Dialog- und Begegnungsarbeit im jdisch-muslimi- Hier sind qualifzierte Fort- und Weiterbildungsange- schen Kontext auszubauen und generell Kooperationen bote fr Erwachsene und Fachkräfte von besonderer zwischen jdischen und nichtjdischen Bildungsträ- Bedeutung. Der Bereich Intervention sollte zudem gern zu frdern. stärker in den Fokus gerckt werden. Zusätzlich zur Begegnungs- und Dialogprojekte zwischen jdischen Vorbeugung antisemitischer Einstellungen sollten und muslimischen Partnern sollten nicht allein auf Alltagserfahrungen mit Antisemitismus bercksichtigt, den palästinensisch-israelischen Konfikt reduziert Opferschutz gewährleistet und antisemitische Vorfälle werden. Stattdessen sollten sie um weitere Aspekte, wie konsequent bearbeitet werden. z.B. Identitätsfragen oder Diskriminierungserfahrun- gen erweitert werden. Fr die Bearbeitung des Themas º … die Antisemitismusprävention als ein eigenständi- braucht es gegenseitiges Vertrauen und professionelle ges (pädagogisches) Handlungsfeld aus zu bauen und pädagogische Begleitung (→ Handlungsempfehlungen stärker zu frdern. Religion). Es ist wichtig, dass sich die Partner sich auf Dies betrifft sowohl die Forschung als auch die Praxis Augenhhe begegnen, die Beteiligten die Geschichte, der schulischen wie auch außerschulischen Bildung Kultur, Religion des Partners kennenlernen. und Sozialarbeit und gilt v.a. fr die Weiterentwicklung theoretischer und methodischer Grundlagen. º … insbesondere Fort-, Weiter- und Ausbildungsange- bote auszubauen und zu frdern, die sich der Fähigkeit º … eine stärkere Verzahnung von post-kolonialen, rassis- zur (Selbst-)Refexion der pädagogischen Fachkräfte muskritischen und antisemitismuskritischen Ansätzen widmen. mit dem Ziel der Weiterentwicklung einer interdiszip- Diese hat eine hohe Bedeutung fr das Gelingen von linären und differenzsensiblen Bildungsarbeit, die ber Antisemitismusprävention durch schulische und die konstruierten »Gruppen« der GMF hinaus geht außerschulische Bildung. Organisierte Selbstrefexion (Intersektionalität). und Refexion pädagogisch schwieriger Situationen Das Zusammendenken von Antisemitismus und sollte Teil der Qualitätssicherung sein und stärker antimuslimischem Rassismus kann insbesondere in gefrdert werden, etwa durch trägerinterne oder der Arbeit mit muslimische sozialisierten Zielgruppen

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trägerbergreifende Coachings oder Supervisionsange- Trägern politischer Bildung gegen Antisemitismus bote fr die pädagogisch Verantwortlichen. durchfhren. Dabei kann die Einbeziehung muslimisch-sozialisierter Bildungsreferentinnen und -referenten von Vorteil sein, Empfehlungen fr pädagogische da sie durch ihre Biographie gewisse Identifkations- Angebote und Handlungsfelder mglichkeiten mit den Adressaten bieten sowie durch ihre kulturelle Nähe Fachkompetenzen zu Fragen des Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus empfehlt: Islam mitbringen knnen.

º … die Kombination aus niedrigschwelligen Ansätzen º … Präventionsmaßnahmen gegen religisen Extremis- und langfristigen pädagogischen Formaten. mus, insbesondere gegen salafstische Radikalisierung Um bei Lehrkräften, Multiplikatorinnen und Multipli- in Schulen, Moscheegemeinden und Jugendhilfe, katoren ein Bewusstsein fr verschiedene (insbesondere weiter zu entwickeln. auch israelbezogene) Facetten von Antisemitismus zu Erfolgsversprechende Konzepte sollten in der Breite stärken, Berhrungsängste abzubauen und die Relevanz implementiert werden. Dabei geht es v.a. darum, des Antisemitismus zu verdeutlichen, knnen kurzfris- gefährdete Jugendliche in der Auseinandersetzung mit tig einsetzbare Interventionen gefrdert werden, die z.B. Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus zu nur einen geringen Zeitbedarf umfassen. Damit verbun- stärken und Ihnen Wege der gesellschaftlichen Partizi- den knnen weiterfhrende langfristige pädagogische pation aufzuzeigen. Angebote, die eine vertiefende Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus ermglichen, beworben werden. º …Bildungsangebote fr den schulischen und außer- schulischen Bereich zu entwickeln, die eine kritische º … bliche Fortbildungsformate um weitere For- Auseinandersetzung mit nationalistischer und islamis- mate – Fachberatung, kollegiale Fallanalysen oder tischer Propaganda, insbesondere aus der Trkei, aber Coaching-Angebote – zu ergänzen, um mglichst breite auch aus anderen Herkunftsländern, ermglichen. Zielgruppen zu erreichen. º … der Kultusministerkonferenz eine dringend erforder- º … Angebote zur Fort- und Weiterbildung von Lehr- liche, fachbergreifende Überarbeitung der Schulb- und Fachkräften – hier auch der Polizei, Jugend(sozial) cher zu initiieren. Arbeit, Verwaltung, Wissenschaft, Medien – stärker Trotz wiederholter Empfehlungen u.a. der deutsch-is- auszubauen und zu frdern. raelischen Schulbuchkommission, wird Antisemitismus Die themenbezogenen Schulungen drfen nicht nach wie vor mehrheitlich und v.a. beschreibend im ausschließlich projektbezogen, sondern als Teil der Aus- Kontext des Mittelalters und des Nationalsozialismus bildung in den regelgefrderten Strukturen umgesetzt behandelt. Damit ein verstärktes Bewusstsein fr die werden. Auch hier gilt es die verschiedenen Facetten Aktualität von antisemitischen Bildern und Haltun- von Antisemitismus einzubeziehen. gen geschaffen werden kann, sollten im Rahmen der Bund-Länder-Kommission Richtlinien erarbeitet º … pädagogisch-präventive Ansätze mit Lebenswelt- und werden, die auf Länderebene Verbindlichkeit bei der Sozialraumbezug als besonders wirksam zu frdern. Auseinandersetzung mit Antisemitismus im schuli- Verbindende Elemente knnen zum Beispiel Sport schen Kontext schaffen. (insbesondere Fußball), Musik oder andere Formen der Freizeitgestaltung sein. Bundesprogramme wie »Zusam- º … fr den Bereich der Hochschulen und Universitäten menhalt durch Teilhabe« (BMI) gehen bereits in diese die stärkere Einbeziehung des aktuellen Antisemitis- Lebensbereiche hinein, indem sie die Zusammenarbeit mus in die entsprechenden Rahmenpläne und Curri- mit großen zivilgesellschaftlichen Trägern wie der cula. Sportjugend, Feuerwehr oder Hilfsorganisationen wie Die Angebote sollten sich insbesondere an angehende dem DRK frdern. Inhaltlich sollten die Programme Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädago- allerdings noch stärker um das Thema Antisemitismus ginnen und Sozialpädagogen und Erwachsenenbildne- erweitert werden. rinnen und -bildner richten. Beispielhaft hierfr sind Seminarreihen, die auch andere gesellschaftsrelevante º … Moscheegemeinden und muslimische Träger fr die Themen ansprechen und Antisemitismus explizit Arbeit gegen Antisemitismus zu gewinnen und gezielt miteinbeziehen. Der Bezug zum jeweiligen Lern- und Projekte zu frdern, die konkrete Maßnahmen im Berufsfeld kann durch Selbstrefexion und Praxisana- Bereich der interkulturellen, interreligisen Begeg- lysen hergestellt werden. Das Bundesministerium fr nung- und Dialogarbeit mit jdischen Partnern sowie Bildung und Forschung sollte entsprechende Formate mit einem Frderprogramm initiieren.

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Conclusion, Key Demands and Recommendations

Key demands of the Independent antisemitism into account more forcefully when prose- expert Group on antisemitism cuting crimes. In addition, the Expert Group calls for the creation of permanent counseling and empowerment structures for people affected by antisemitism.

Appoint an ombudsperson for antisemitism and make an independent expert group permanent Provide permanent fnancial support for bodies working to prevent antisemitism The present report by the second Independent Expert Group on Antisemitism shows that fghting antisemitism is The second Independent Expert Group on Antisemitism and will remain an ongoing task for the political commu- repeats the demand from the frst report for provision nity and society. That is why the Expert Group calls for of a long-term basis for the work of civil-society bodies the appointment of an ombudsperson for antisemitism. toward preventing antisemitism. In so doing, the Expert The position should be established in the Federal Chan- Group takes up a demand from the German Bundestag cellery and, as part of the executive branch, coordinate Committee of Inquiry on the NSU (National Socialist the measures for fghting and preventing antisemitism Underground) of August 2013, which »emphatically« across agencies. The Expert Group recommends four-year spoke out in favor of a »reorganization of the support for appointments from alternating ministries that overlap civil-society work against racism, antisemitism and right- legislative periods. wing extremism.« The Expert Group calls on the political community to guarantee reliability and predictability for The ombudsperson for antisemitism is to be advised by an civil-society actors. This involves creating mechanisms in independent group appointed by the federal government order to transfer knowledge and experiences gathered in in consultation with the ombudsperson and including model projects into the regular structures (esp. schools). Jewish and non-Jewish experts from the scientifc com- munity, educational practitioners and civil society. The ombudsperson shall present (progress) reports at regular Establish a standing Federal-Länder Commission intervals that encompass a description of the situation as well as the state of implementation of the Expert Group‘s Many of the measures for preventing and fghting anti- demands and recommendations. Parliamentary hearings semitism described in this report lie within the respon- on the reports shall take place regularly. sibility of the German states, or Länder. The function of the federal government is usually limited to »making sug- gestions« in this context (see Child and Youth Welfare Act Record, publish and punish antisemitic SGB VIII). The Expert Group calls for the establishment of crimes systematically a standing Federal-Länder Commission to improve coor- dination of measures specifc to the Länder – esp. in the The Expert Group calls for improvement of the collabora- areas of schools, youth welfare services, the judiciary and tion between civil society, Jewish organizations and secu- the police – with representatives of the agencies responsi- rity authorities in recording antisemitic crimes. Creation ble for these areas. In addition, the Expert Group calls on of the relevant structures is intended to make it easier for the Länder to enshrine their own measures for fghting those affected to report antisemitic crimes to the police antisemitism in their programs for preventing extremism and thus to reduce the numbers of crimes that go unre- and to enter into exchange about them. ported. The basis for assessing antisemitic acts is to be a uniform set of criteria that follows the working defnition of antisemitism and critically develops it further. Antise- Provide long-term funding for mitic crimes should again be explicitly reported as such in research on antisemitism the Report on the Protection of the Constitution. The data gathered are to be published at regular intervals in a uni- The Expert Group calls for more research projects that form nationwide database. The expert group calls for the examine both the historical developments and the judicial authorities to take statutory offenses motivated by current-day forms of antisemitism in a targeted fashion

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and that take the perspectives of both the non-Jewish and º … the institutionalization of cooperation between Jewish populations into account. The research projects are governmental executive bodies (police, judiciary) and to be interdisciplinary, and both quantitative and qualita- NGOs, as well as other initiatives in the recording of tive. In addition, resources are to be provided for research antisemitic offenses. on antisemitism with a more practical focus, beyond the Within this framework, the »third party reporting« evaluation of federal programs. This goes hand in hand model practiced in Great Britain should be evaluated to with the demand for the establishment of an institution- see if it could be adopted in Germany. alized dialogue between the scientifc community and practitioners. º … a case study on the darkfeld of crime motivated by antisemitism. The Independent Expert Group on Antisemitism also rec- ommends having further expert groups prepare reports º … an independent evaluation of the PMK (politically that describe and analyze anti-Muslim and other forms motivated crime) assessment system with a review of of prejudice and marginalization, not only because they its theoretical foundations. are similar phenomena but also because overlaps with Especially the defnitions used and the four dimen- antisemitic attitudes become visible and are of fundamen- sions – (1) grade of crime, (2) phenomenal domain, tal importance for the preventive strategies proposed in (3) thematic areas and (4) extremist quality – are to be the report. examined along with their use in the investigation practice.

recommendations for action Antisemitic attitudes in the general population

The Independent Expert Group on Antisemitism recom- Crimes mends…

The Independent Expert Group on Antisemitism recom- º … regular, federally funded monitoring of antisemitic mends… attitudes in the form of a representative population survey as well as qualitative studies taking into account º … in the constitutional protection report published by particular population groups. the Federal Ministry of the Interior, a separate chapter As yet there has been no regular monitoring. Studies on antisemitism should be included regularly in the commissioned by private foundations do not currently section on all areas of extremism and, in addition, the focus specifcally on antisemitism. Moreover, purely statistical data on antisemitic offenses should be shown representative population surveys do not provide separately. information on antisemitism within specifc population To this end, the concept of hate crime must be separated groups (for example, immigrants or young persons). from (right-wing) extremism; otherwise the categoriza- These population groups could be reached at regular tion is too strongly fxed on the conventional image of (if somewhat longer) intervals, for example through right-wing extremism, which hinders the recognition of targeted »oversampling« or supplementary studies. hate crime. Another goal is to use qualitative investigations to learn º … the entire trial proceedings for hate-based crimes more about the changing understanding of antisemitic should be recorded in a database. manifestations and approaches to the topic, as well In addition to including a breakdown of crimes by type, as the changing individual knowledge bases and (also the database should record statistics on the victims and generatively different) ways of dealing with it.. perpetrators of such offenses as well as on the outcome of criminal proceedings (attitudes, quota of indictments Of particular interest here are, on one hand, studies on and of prosecution, duration of proceedings, punish- the changing viewpoints of younger people and, on the ment, etc.). other hand, on the views of persons with a »migration background.« This includes the question about the º … training for police offcers and constitutional protec- degree to which political processes in their countries of tion workers specifcally for the purpose of recognizing origin (such as Russia or Turkey) infuence populations the antisemitic content of statements or actions related with immigrant background living here, and how this to the Israel-Palestinian confict in the topic area civil affects their attitudes. wars / crisis zones.

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Experiences and perspectives of the Jewish Inclusion of Jewish perspectives in population in dealing with antisemitism committees and preventative work

The Independent Expert Group on Antisemitism recom- establishment and expansion of mends… reporting and advisory structures º … an increased inclusion of Jewish scholars, experts The Independent Expert Group on Antisemitism recom- and institutions in state / civil society committees that mends… are dedicated to promoting democracy, combating antisemitism and racism º … the establishment of a federal-state commission on antisemitism (→ Central demands) for the creation º …an increased inclusion of Jewish perspectives and and promotion of reporting and information centers expertise in various funding programs for historical that record antisemitic assaults, incidents or criminal and political education, antisemitism prevention and offenses. intervention. Here, connections should be made with existing infor- Both these recommendations emphasize the recog- mation centers for the purpose of sharing experiences nition of the right of Jews to participate in defning and expertise. Specifcally in Berlin, this includes RIAS. and recording antisemitism as well as to be included It is desirable to extend existing reporting structures to in related political negotiations. Discrepancies in the more Länder and/or regions, to make them more acces- defnition of antisemitism – as with defnitions of other sible to those affected and as easy as possible to reach. forms of degradation and exclusion – have up to now Established quality criterion, as well as general obliga- mostly been ascribed to a »divergent view« on the part tory procedures for recording and case documentation, of the affected minority and far too seldom seen as a must be observed. In the best case, all documentation relevant space of perception and experience that must should be merged into a shared platform or collection be taken into account in the defnition. point.

º … that the aforementioned federal-state commission research on antisemitism ensure the establishment of special- ized advisory structures and/or cooperation with exist- The Independent Expert Group on Antisemitism recom- ing advisory structures for victims of right-wing, racist mends… and antisemitic violence, as well as anti-discrimination information centers. º … the initiation and promotion of interdisciplinary Also important here is the training of staff in other studies with a qualitative and quantitative orienta- general counseling and anti-discrimination centers in tion on the perspectives, experiences, perceptions and order to ensure utilization of initial and referral coun- expertise of Jews regarding antisemitism. seling. It is necessary to raise counselors’ awareness of Jewish perspectives on antisemitism must be recorded everyday antisemitism and promote the understanding at regular intervals in order to broaden data from of antisemitism as discrimination. Counseling must surveys of the non-Jewish majority population and to be supportive of victims of everyday antisemitism that discover and empirically secure indications of devel- is below a criminal threshold as well as specialized to opments or new phenomena. Seen empirically, there is address the needs of victims of violent attacks. a comparatively large research feld that remains to be addressed. º … that empowerment measures be promoted and expanded by – at the very least – the Federal Ministry º … the initiation and promotion of application-oriented for Family Affairs, Senior Citizens, Women and Youth basic research and practice-oriented research on pre- (BMFSFJ) and state programs on the prevention of ventive measures, not only as low-fnanced follow-up extremism. research or retrospective evaluation but rather evalu- Jewish organizations, institutions or projects should be ated as an independent feld and with fnancial security. specifcally promoted in order to establish /increase the Targeted calls for proposals within the framework of effectiveness of spaces for dialogue and shared experi- the federal program »Demokratie leben!« (Live Democ- ence to empower those confronted by various manifes- racy!) and / or the Federal Ministry for Research and tations of everyday antisemitism. Science would be necessary.

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Media discourse The democratic parties should (1) regularly deal with the question of which activities they are undertaking The Independent Expert Group on Antisemitism recom- against current antisemitism and to what extent, for mends… example, the recommendations of the Independent Expert Group on Antisemitism are taken into account º … monitoring of social networks by both federal agen- and (2) deal self-critically and voluntarily with possible cies and NGOs, with the results provided to the state antisemitic tendencies in their own ranks, not merely and federal Offces of Criminal Investigation. exploit such cases offensively when they occur in other, A systematic monitoring, including a corresponding competing political parties. analysis of social media, is technically possible but requires fnancial support for the necessary personnel. º … founding a cross-party parliamentary group in the Bundestag and state parliaments that deals with the º … increasing the pressure on platform operators by the issue of antisemitism and publishes a related report at Federal Ministry of Justice and Consumer Protection, regular intervals. and enforcement of the list of measures compiled in December 2015. º … that Party critically observe the anti-Israel This should be supported by an inter-ministerial initi- tendencies among some of its members and check for ative that creates mechanisms for better reporting and antisemitic tendencies. subsequent removal of antisemitic and discriminatory content from the Internet. º … that the Alternative for Germany party clearly dis- tance itself from those of its legislators who express º … using existing and new instruments to delete the antisemitic views, and that the party eschew antise- social bots and fake accounts through which antise- mitic tendencies within its ranks, if it considers itself a mitic hate speech is spread. democratic party that is opposed to antisemitism.

º … training employees of major communication plat- forms to recognize and eradicate the newer forms of Antisemitism in political movements antisemitism as well as antisemitic code words. and organizations

º … strengthening civil society players to help them The Independent Expert Group on Antisemitism recom- counter hate speech on the Internet, for example mends… through relevant funding programs of the Federal Ministry for Family Affairs, Senior Citizens, Women and º … that the Federal Ministry of the Interior again include Youth. a separate chapter on »Antisemitism in Right-Wing Extremism« in its annual constitutional protection º … the targeted promotion of counter speech, for report (→ Recommendations on crime). example with the help of journalists as »fact-checkers,« in order to expose lies quickly and block their further º … that a chapter on antisemitism in its various manifes- dissemination. tations be included under the theme of extremism in the annual constitutional protection report published º … support and maintenance of critical foreign-language by the state ministries of the interior or state legisla- reportage by Germany’s Radio and Television Council, tures. aimed at providing the various migrant communities in Germany with a critical counterbalance to the prop- º … that the Federal Department for Media Harmful to agandistic media coverage in their countries of origin. Young Persons be aware that the well-known »right- rock« music genre is not the only one in which anti- semitic texts are found; they also appear in right-wing Antisemitism and political parties extremist rap music and other genres. Here, media organizations are also asked to carefully The Independent Expert Group on Antisemitism recom- check the work of artists whose music they are playing mends… and hosting.

º … that all parties regularly evaluate their own programs º … that the educational offerings of political founda- against antisemitism as well as questions about anti- tions deal not only with antisemitism in the context semitism in their own ranks, and have outside evalua- of the Holocaust or right-wing extremism but also tions as well.

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with regard to its current manifestations (for example, Antisemitism among refugees hostility towards Israel). Here it is important to keep an eye on manifestations that transmit right-wing extremist content using mod- research ernized concepts. The Independent Expert Group on Antisemitism recom- º … fnancial support be provided for research that also mends… confronts antisemitic tendencies within old and new political movements. º … the initiation, implementation and promotion of research on antisemitism among refugees, which should be carried out frst and foremost by the Federal Recommendations for action – Offce for Migration and Refugees. antisemitism and religion As yet there is no empirical evidence on the distribution and formation of antisemitism among refugees. Both The Independent Expert Group on Antisemitism recom- qualitative and quantitative studies are needed; ideally, mends… elements of both should be incorporated. If necessary a questionnaire can be integrated into a long-term º … a retrospective analysis at the end of 2017 – the study already under way. In both research design and conclusion of the »Year of Luther« – of the expected evaluation it is necessary to consider the great hetero- discussions on the relationship between the Protestant geneity of this target group. Furthermore, a systematic Church and Jews and Judaism, and an evaluation of investigation is needed of factors that infuence anti- these discussions in a separate report. semitic attitudes. This includes religious, national and ethnic identities as well as socialization experience and º … promoting the completion of qualitative and quanti- especially the unique experiences and circumstances tative studies, to fll a gap in empirical evidence about of refugees, not to mention the marginalization and the dissemination and formation of antisemitism on discrimination they endure in Germany. In addition, the communal level of the Protestant and Catholic there should be an analysis of the antisemitically loaded churches as well as the independent churches. knowledge and information that refugees bring with them from their countries of origin, and/or through the º … establishing the regulations on confronting antisem- media they use here. itism in the sphere of religion that are to be laid down by the Federal-State Commission (taking into account º … examining the knowledge and attitudes among the major denominations represented here). volunteers and supporters of refugees in the context of research on volunteerism. º … taking the fndings of the German-Israeli schoolbook Volunteers and supporters are often the most impor- commission seriously. tant contacts for refugees, thus it is of central interest to learn more about what they transmit regarding º … a targeted promotion of mosque communities, Mus- antisemitism. The fndings should also be used in the lim organizations, institutions and projects that carry training of volunteers. out concrete measures in the area of intercultural and interreligious encounters and dialogues with Jewish partners as well as those that support political educa- Political education tion against antisemitism. The integrated consideration of antisemitism and The Independent Expert Group on Antisemitism recom- anti-Muslim racism creates new opportunities for com- mends… bating antisemitism. º … the networking and exchange of professional º … appreciating the dialogue work of many imams in the experience between academia, practice and above all fght against antisemitism and including their experi- providers of historical and political education on the ences in ongoing work against antisemitism in other subject of refugees and antisemitism; this requires the Muslim communities. involvement particularly of federal and state funding and education programs. º … emphasizing commonalities between Islam and Juda- It is necessary to introduce information about anti- ism when focusing on themes related to sensitization semitism to refugees and – if necessary – to volunteers towards antisemitism in Muslim communities. working within new or existing networks and to initiate

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an interdisciplinary exchange of experts on the design strategy that goes beyond the legislative period, for the of educational programs. fght against extremism and the promotion of democ- racy. It should include all ministries for which the topic º … the recognition of refugees as thinking and acting of current antisemitism is relevant, in particular the politically, at least in the educational programs of the BMJV, the BMBF and the Foreign Offce Federal Government and the Länder. Current antisemitism must be mentioned specifcally Refugees should be taken seriously as political thinkers in the National Action Plan. The federal program »Live and agents with their own experiences and perspec- Democracy!« in and of itself does not suffce to counter tives; their educational interests should be considered antisemitism at all levels. and linked to knowledge and antisemitic narratives specifc to their country of origin and political discus- º … the expansion and promotion of cooperation sions should be promoted. This should always take into between government agencies and non-governmental account their life situation (insecure residency status, organizations to sustainably support the coordinated traumatic experiences of fight, the contexts of their cooperation of various actors at the federal, state and country of origin and their various motivations). Possi- municipal levels and in civil society. ble starting points include advocacy of democratic and The structures initiated by the federal program »Live human values; increased empathy resulting from their Democracy!« (State Democracy Centers, Partnerships own experiences; and among youth, a great interest in for Democracy, etc.) should pay greater attention to personal identity and the high motivation to learn, to antisemitism, taking into account its varied manifesta- understand and to integrate into the country of refuge. tions.

º … the sustained promotion of long-term cooperations Media between statutory institutions – schools, child and youth welfare organizations, religious institutions, The Independent Expert Group on Antisemitism recom- umbrella associations for the voluntary welfare service, mends… youth and social offces – and specialized educational institutions. º … an even greater provision, dissemination and accessi- The structures developed within the framework of the bility of information and offers for refugees, including federal programs can create conditions important to the material in their own native language; this requires the success of prevention work. Cooperation between the involvement at the very least of public service media federal government and the Länder is essential here. and the federal and state centers for political education. The goal should be to reach the largest possible number º … expanding the diverse range of pedagogical options, of people with refugee background. That also applies including practical and methodological proposals and to information and political education programs making them available free of charge. connected with antisemitism. In particular television, This could be based on the diversity media library »Bil- which reaches many refugees, should offer programs dungsmedien gegen Rechtsextremismus, Menschen- in the native languages of refugees – that applies above feindlichkeit und Gewalt« (educational media against all to political formats. Refugees should be actively right-wing extremism, inhumanity and violence) of the involved in the media production. Many of them pos- IDA e.V. and DGB Bildungswerk. However, the issue of sess media skills that could be applied to building new antisemitism would have to be expanded considerably. formats and platforms. º … actively (and repeatedly) promoting the institu- tional support of organizations / centers that evaluate Recommendations for action – existing approaches; assessing their effectiveness; and Prevention and intervention making them accessible. As »networking nodes« these organizations / centers could appraise current research and evaluations and recommendations for the creation of a feed the results into practice. They could also carry better framework for prevention out their own evaluations over longer periods, keep an up-to-date overview of sponsors and institutions The Independent Expert Group on Antisemitism recom- working in this area and initiate new cross-institutional mends… trainings. The federal program »Live Democracy!« (BMFSFJ) could provide appropriate resources for this. º … continuing the work of the inter-ministerial working group aimed at creating an overall, inter-departmental

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recommendations for education government’s memorial sites concept (Federal Commis- sioner for Culture and Media). The Independent Expert Group on Antisemitism recom- mends… º … developing dialogue and encounters in a Jew- ish-Muslim context and promoting cooperation º … broadening the area of prevention through educa- between Jewish and non-Jewish educational institu- tion, including intervention in that understanding. tions in general. Prevention should involve a combination of education Encounters and dialog projects between Jewish and and counseling. To that end, specifc skills, interdisci- Muslim partners should not be reduced to the Palestin- plinary alliances and cooperations (for example with ian-Israeli confict. Instead, they should be broadened counseling centers) are necessary, as are closer coopera- to address other topics, including identity issues or tions between school, youth social work, youth welfare, discrimination experiences. Mutual trust and profes- police and justice. sional pedagogical guidance are needed in the treatment There should be a stronger focus on intervention. In of this topic (→ Recommendations for religion). It is addition to the prevention of antisemitic attitudes, important that the partners in dialog meet at eye level, everyday experiences with antisemitism should be and each become acquainted with the history, culture taken into account, protection of victims ensured and and religion of the other. antisemitic incidents dealt with rigorously. º … developing continuing education and training pro- º … developing and better promoting the prevention of grams and supporting those that are dedicated to the antisemitism as an independent (educational) area of development of (self) refection in pedagogical profes- action. sionals. This applies both to research and the practice of This is of great importance for the success of anti- in-school as well extra-curricular education and social semitism prevention work through school-based and work and applies frst and foremost to the further devel- extra-curricular education. Organized self-refection, opment of theoretical and methodological foundations. and refection on diffcult pedagogical situations, should be part of quality assurance and be promoted more º … a stronger interlinking of post-colonial, racism-crit- strongly, for example through inner-organizational ical and antisemitism-critical approaches with the or intercultural coachings or supervision offerings for aim of developing interdisciplinary education that is educators. sensitive to differences, going beyond the constructed »groups« of the GMF (intersectionality). A combined approach to antisemitism and anti-Muslim recommendations for pedagogical racism can reduce the potential for stigmatization and offerings and areas of activity defensive reactions and therefore increase the readiness of Muslim-socialized target groups to deal critically The Independent Expert Group on Antisemitism recom- with antisemitism. The consideration of interactions mends… between the different phenomena must not lead to the relativization of the specifc character of antisemitism. º … combining low-threshold approaches and long-term Rather, the interlinking should enrich the feld of action, educational formats. provide fresh momentum for further professional and Short-term, limited interventions can be promoted in methodological development and strengthen and inten- order to raise awareness among educators and infu- sify cooperation with other actors in political education, ential individuals about various facets of antisemitism including with Muslim-run educational projects. (especially Israel-related); to reduce the fear of contact with others; and to illustrate the relevance of antisemi- º … taking historical developments and backgrounds into tism. Such interventions can be combined with longer- account when grappling with current antisemitism term pedagogical offerings that promote a deepener The inclusion of historical perspectives should go involvement with the topic of antisemitism. beyond a discussion of National Socialism and the Hol- ocaust and should also include the consequences. Thus º … adding supplementary formats to the usual contin- the Expert Group recommends supporting projects that uing education opportunities – expert advice, coop- are specifcally dedicated to this issue and that try out erative case analyses or coaching – so as to reach the approaches to this topic. Model projects of this kind widest possible target group. should not only be a focal point of the federal program »Live Democracy!“; they also should be promoted º … expanding and promoting programs in continuing in the context of other programs, such as the federal education and training for teachers and specialists,

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including police, youth (social) work, administration, Promising concepts should be implemented broadly. academia and the media. The main goal is to support vulnerable youth in the Thematic training must not be exclusively project-re- fght against discrimination, racism and antisemitism lated but rather implemented as part of the training in and to help them become active participants in society. regulatory structures. Here, too, the various manifesta- tions of antisemitism must be considered. º … developing in-school and external educational opportunities that enable a critical examination of º … promoting educational-preventive approaches with a nationalist and Islamist propaganda, especially coming special focus on home environment and social spheres, from Turkey but also from other countries of origin. as particularly effective. Unifying factors can include sports (especially soccer), º … that the Conference of Ministers of Education and music or other forms of entertainment. Federal pro- Cultural Affairs initiate an urgently needed, multi-dis- grams such as the BMI’s »Zusammenhalt durch Teilhabe« ciplinary textbook revision. (cohesion through participation) already are entering Despite repeated recommendations from the Ger- these spheres by promoting cooperation with major man-Israeli Schoolbook Commission among oth- civil society organizations such as Sportjugend (sporting ers, antisemitism continues to be frst and foremost youth), fre departments or aid organizations such as approached in the context of the Middle Ages and of the German Red Cross. In terms of content, however, National Socialism. In order to raise awareness about the programs should be broadened even further when it current antisemitic images and attitudes, guidelines comes to the topic of antisemitism. should be drawn up within the framework of the feder- al-state commission that will create binding responses º … encouraging mosque communities and Muslim insti- to antisemitism in the school context. tutions to join in the fght against antisemitism and specifcally promote projects that carry out concrete º … the increased inclusion of current manifestations of measures in the areas of intercultural, interreligious antisemitism in relevant outline plans and curricula in encounters and dialogue with Jewish partners and with institutes of higher education and universities. political education organizations. Proposals should address, in particular, teachers, The involvement of Muslim-socialized educational educators, social workers and adult educators. Posi- experts can be an advantage here, as their personal tive examples include seminar series that also address background enables them to identify with the target other topics relevant to society and explicitly include group and their cultural proximity enables them to antisemitism. The reference to a respective profession or bring special skills to questions about Islam. feld of study can be established through self-refection and practice analysis. The Federal Ministry of Education º … further developing preventive measures against and Research should initiate appropriate formats with a religious extremism, particularly against Salafst radi- funding program. calization in schools, mosque communities and youth welfare programs.

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conclusion sentiment as it appears in political and societal settings as well as in current virulent discourse. For the practical In addition to updating the report of the frst Independ- work of the police or judiciary, we fnd the defnition that ent Expert Group on Antisemitism from November 2011 was developed in 2005 by various NGOs and the former as the initial survey on antisemitism in Germany, the European Monitoring Center on Racism and Xenophobia second Independent Expert Group dealt with a variety of (EUMC) – today called the Fundamental Rights Agency themes that had little or no relevance in the time frame (FRA) – to be appropriate in categorizing the complex of the frst report, or themes that the Bundestag as the forms of antisemitic expression. The importance that this commissioning body wished to place in the foreground. defnition has now gained in the international context – New in this report are the perspectives of those affected despite some critical voices in academia – can be seen in by antisemitism as well as the initial fndings on possible the fact that it was adopted in 2016 by the 31 member antisemitism among refugees. Also considered in detail are states in the International Holocaust Remembrance Alli- developments in the Internet and in social media, which ance (IHRA) and introduced by the British parliament as have become central instruments for the spread of hate a working defnition. There is no generally accepted, valid and antisemitic agitation. The second expert group gave defnition of antisemitism; one can only approach the special attention to the theme of prevention; in addition phenomenon, which is extremely fexible and adaptable to projects oriented towards youth, they focused on the over time. For its more subtle expressions that don’t fall long-neglected topic of adult education. In contrast to into the category of possible criminal content, the decisive the frst report, the focus here is more on the theoretical aspect is the context – and what was said to whom at discussion about sustainable pedagogical approaches of which time and with which intention. education for prevention. An important feld that the frst Expert Group touched on was once again dealt with in the Antisemitism is articulated in many different forms, from new report. A study was commissioned to provide insights latent attitudes and verbalized defamation, to political into an area that has been at the center of media attention demands and discriminatory practices, to personal attacks. for years, through qualitative interviews with imams on A more exact analysis of criminal incidents and violent antisemitism among Muslim congregants. Rather often attacks as well as survey data on antisemitic attitudes are the impression is given that »the Muslims« are the main indispensable for the evaluation of the degree and spread bearers of antisemitism in this country. With the arrival of of antisemitism. This does not include more subtle forms, refugees, these ascriptions have become more acute. One such as subliminal defamations that do not constitute result is that right-wing extremism as the central milieu a criminal offense; these can only be evaluated through of antisemitic content in the societal confrontation with interviews with those affected, or through their readiness antisemitism in Germany has slipped into the background. to report such incidents. In particular, Muslim associations and mosque congrega- tions are looked at unrefectively as breeding grounds for antisemitic agitation and imams characterized as »preach- Crimes ers of hate.« As of yet there have been very few investiga- tions into antisemitic attitudes in Muslim religious milieus In Germany, antisemitic crimes fall under the category that could support such assumptions; the study on imams of politically motivated crimes (PMK). Today, the over- is a frst approach to the topic. whelming majority of xenophobic crimes are classifed as extremist, and antisemitic crimes are generally regarded as According to the Independent Expert Group it is important such. Both are summarized under the term »hate crimes.« to study antisemitism among Muslims and undertake to A singular feature of hate crime, which is also referred to strengthen prevention efforts, but also to keep an eye on as prejudice-motivated crime, is the random selection of anti-Muslim discrimination. At the same time, the UEA victims to be intimidated and frightened through verbal warns explicitly against neglecting or even implicitly triv- and physical violence. ializing antisemitism among right-wing extremists and in the societal and political mainstream, while focusing on Criteria for the recording of politically motivated crimes antisemitism among Muslims. and thus also for the subset of cases with antisemitic motivation have long been subject to criticism and have prompted police authorities and the Federal Ministry of Defnition the Interior (BMI) to discuss possibilities for improvement. The introduction in 2001 of a new defnition system – The Expert Group has dealt extensively with the ques- »Politisch motivierte Kriminalität« (PMK, or politically tion of how to appropriately defne the phenomenon of motivated crimes) – already represents an improvement antisemitism and has developed a scientifc defnition over the previous practice. The central criteria for record- that attempts to grasp the various facets of anti-Jewish ing incidents is now the »politically motivated act«; that is,

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the recording of incidents is not based on the concept of modern facets of antisemitism remain as widespread as extremism, but on the motivation behind the act. The new ever in the general population. This includes the demand system of »Guidelines for the Criminal Police Alert Service for a »Schlussstrich« – an end to discussions about the in Cases of Politically Motivated Crime« (KPMD-PMK) Holocaust – in which a certain typical antisemitic vic- now also covers crimes motivated by hate or prejudice in tim-perpetrator reversal resonates. And on the other hand addition to the classic crimes against the state and extrem- it includes Israel-related antisemitism. In addition, we are ist offenses. The police can, however, only record those currently experiencing a mobilization of antisemitism offenses that they have identifed themselves or about in certain well-known spectra – namely in the arenas of which they have been informed by a third party. In other right-wing and left-wing extremism, but also in Islamistic words, as with all forms of criminality, we are dealing here fundamentalism – that has been fueled by several parallel with a brightfeld darkfeld problem – offcially recorded developments in the political world situation since 1989. crimes versus those that are not registered. This can be A relatively stable situation concerning the spread of attributed in part to so-called underreporting: Many antisemitic attitudes in the population is accompanied by victims or witnesses of antisemitic crimes do not report increased activity on the level of expression and propa- the incidents. The actual number of antisemitic incidents ganda, as well as violent attacks. (from BKA, crimes registered in 2014: 1,596 and in 2015: 1,366; violent crimes in 2014: 45 and in 2015: 36) is also All statements used for the documentation of antisemi- systematically underestimated since only the offense with tism in current representative studies are so closely linked the highest penalty is counted in every incident involving that they form a single dimension that clearly can be several offenses (for example libel, robbery, bodily injury). interpreted as antisemitism – and this applies to classi- The classifcation of a crime as antisemitic depends on the cal antisemitism as well as secondary and Israel-related perception and the criteria by which an act is categorized. antisemitism. In some cases, this public approval can be The police still apparently tend to use avoidance strategies. seen in a harsh criticism of Israel without necessarily Even when the motivation for a crime seems obvious, they having any antisemitic connotation. However, empirical frequently point to alternative, non-political explana- evidence confrms a close link to antisemitism when it tions. For example, there is a wide discrepancy between comes to comparisons of Israeli policies to Nazi policies. the number of right-wing extremist motivated murders The phenomenon of social desirability generally leads to reported by the authorities and those reported by jour- a lower degree of acceptance of classical antisemitism and nalists and NGOs. Despite standards stating the contrary, a greater acceptance of the more subtle forms, which can courts seldom consider hate crimes to be an aggravating also be described as communication latencies. Modern circumstance and in the course of criminal prosecutions manifestations of antisemitism, such as secondary anti- of acts of violence judged to be motivated by right-wing semitism communicated via Holocaust references and extremism, there is a gradual decrease in the determina- the Israel-related antisemitism that comes in the guise of tion of »prejudice« as a motivation. The BKA statistic is antisemitically loaded criticism of Israel, are less likely to an input statistic; in other words, all reported cases are threaten social standing and are thus communicated more counted, along with their determined or assumed moti- openly. vations. Until recently, however, there was no overview regarding the numbers of investigations and convictions. The degree of public approval measured in various studies This gap was fnally closed in 2016 with the publication of is comparable only to a limited extent due to varying long-kept statistics from the BFJ, Federal Offce of Justice, survey methods (including a different scaling of answer about proceedings in cases of right-wing extremist / xeno- categories). In addition, any comparison of the extent of phobic crimes (including antisemitic crimes), which listed approval of different facets of antisemitism must be car- the number and ages of suspects, arrest warrants, convic- ried out with caution, since the statements in studies are tions or other decisions bringing the cases to a close. But formulated in different ways – sometimes harsh, some- with antisemitic crimes there is only a list of the prelim- times soft – making it too hard or too easy to determine inary investigations by state, which makes it impossible approval of individual statements. But studies do reveal to draw conclusions about further specifcations for these hints about antisemitism’s prevalence and ways in which crimes. it is expressed. Representative surveys of the German population indicate an ongoing decline in open, classic antisemitic attitudes over the past 15 years, a trend that Approaches continued in 2016. Thus the rate of approval of classical antisemitic views, which (in keeping with conspiracy In historical comparison with the period before 1945, as theory patterns) assumes Jews have »too much infuence« well as with the last 60 years in Germany or with most and accepts classic antisemitic stereotypes, was only about other European countries, open antisemitism has rarely fve percent in 2016, while in 2002 it was still around nine been as marginalized as it is today. At the same time, percent. Approval of secondary antisemitism also has

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dropped signifcantly, though 26 percent of the population are clear differences between Muslims from different still approves. But forms of Israel-based antisemitism were cultures or regions. In particular, migrants from Arabic or found in 40 percent of the population in 2016. Harsh crit- North African countries tend to be antisemitic. Thus, aside icism of Israel is not necessarily associated with antisem- from religion, it appears that the region of origin is key. itism, but often is. In 2004, 80 to 90 percent of the popu- It is necessary to differentiate. While young Muslims are lation that agreed with non-antisemitic criticism of Israel much more likely to be antisemitic than their non-Muslim also expressed approval of at least one aspect of antisem- peers, there is hardly any difference between Muslims and itism. In the follow-up to the so-called »Mitte-Studie« non-Muslims over the age of 60; and younger Muslims of the Friedrich Ebert Foundation in 2014, 55 percent of are antisemitic to a similar degree as older non-Muslims. those who were critical of Israel also approved of at least Education also contributes to the reduction of antisemi- one additional aspect of anti-Jewish hostility that included tism among young Muslims. While their own experience Israel-related antisemitism. Of those surveyed, 53 percent of exclusion can become a motivation and legitimization approved of at least one further dimension of antisemi- for the devaluation of others, as well as for antisemitism, it tism without any direct relation to Israel. is not an excuse.

Antisemitism in the sense of prejudice against Jews corre- lates with disregard for other social groups: For example, The perspectives of those affected by antisemitism one who holds xenophobic attitudes is highly likely to also hold antisemitic attitudes. Antisemitism is clearly linked A commissioned study on those affected by antisemi- to right-wing populism, right-wing extremism and new- tism revealed that the great majority of respondents see right positions. antisemitism, including the distorted representation of Israel, as a serious problem. They encounter antisemitism While the degree of antisemitic attitudes among the older particularly in the Internet and other media, but also at generations has declined, among younger generations demonstrations and through verbal and everyday insults. there has been no change. One can see a positive gener- Many have the impression that antisemitism has increased ational effect here that does not seem easy to continue. in recent years and they fear that the future could hold Generally, demographic factors play a minor role in the further escalations. According to the observations of explanation of antisemitism. If anything, better education respondents, openly antisemitic groups are increasingly does correlate with a lower degree of traditional and sec- encountered on social media platforms like Facebook. In ondary antisemitism, but has little effect on Israel-related addition, given the refugees from countries from the Mid- antisemitism. dle East, there is a major fear that they could be bringing with them the antisemitism that is widespread in their Nowadays, antisemitism is most prevalent in the lower home countries. The respondents are confronted with social strata, while approval for antisemitism in the many forms of antisemitism, ranging from subtle forms middle classes – defned by income, education and to openly expressed antisemitic stereotypes. They are profession – is in the middle range. No increase has been particularly concerned about being confronted with anti- found here. But antisemitism is also found among those semitism in situations of power dependency. For many respondents who consider themselves to be in the political respondents, antisemitism is an everyday and frequent center or who prefer center political parties. Those who experience. Most frequently, they identify Muslims as per- consider themselves to be »far left« or prefer left parties petrators, followed by left and right-wing oriented people do not show any greater tendencies toward antisemitism and – particularly when it comes to antisemitic innuen- than do voters for other democratic parties. This applies dos – also people from the »general population«. Almost to Israel-related antisemitism as well. But respondents all respondents fnd the antisemitism with which they who prefer the AfD party also exhibit a remarkably high are confronted to be stressful. At the same time, very few approval rate for all facets of antisemitism. decide to report concrete incidents and even fewer seek counseling. Thus the darkfeld of non-reported incidents, Membership in one of the major Christian denominations including serious ones, is most likely high. and the degree of identifcation with religiosity plays practically no role at all regarding approval of antisemitic views. Christians thus are not antisemitic per se, but they Media discourse are also no less antisemitic than atheists. On the other hand, antisemitism is increasingly taking hold among Antisemitic content disseminated via the Internet refects Christian fundamentalists. The extent of antisemitic existing attitudes in society. The Internet is merely a attitudes among youths and adults from a Muslim social medium for transmission. Antisemitic views are, how- milieu including those with immigrant background is ever, amplifed in the Net through the possibility of rapid higher than among non-Muslims. At the same time there spread and wide coverage. In addition, the Net makes

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it easier for likeminded groups to connect, which then have begun to act more responsibly. This is apparent not results in increasingly radicalized postings. Anyone who least because they repeatedly turn down the opportunity tries to learn about the Middle East confict, for exam- to comment on flms or other contributions that have ple, via social media slips quickly into the propaganda been removed. Either content that incites hate was briefy mills that refer to Israel as a »terror state,« an »apartheid on the Internet until the comments list was deactivated, regime« or a state whose citizens are »child killers.« This or entries with comments were blocked from the outset often combines with Holocaust-related or secondary because the operators were concerned about possibly antisemitism and a reversal of the perpetrator-victim illegal content. role. The same applies to conspiracy theories whose antisemitic content is recognizable, if sometimes only at second glance. Just as antisemitism remains widespread Parties worldwide, it is also found in the social media. Anyone who wants to act out their antisemitism can do so in All political parties represented in the Bundestag have social networks without hesitation and to a great extent developed a much higher sensitivity toward the theme also unregulated. The Net knows no national boundaries of antisemitism than they had in the 1990s and early and the possibilities for societal sanctions are limited. In 2000s, although to some extent they still fall into the old the last two years, the debate has intensifed. It appears notions that antisemitism by defnition is based on racist there is no longer a taboo against spreading antisemitic ideas. This can be seen particularly within the realm of stereotypes and prejudices – at least when it comes to the educational programming, which still focuses on National social networks. Content that only a few years ago would Socialism and the Holocaust in the belief that this is rele- be expressed in letters to the Central Council of Jews in vant for the fght against antisemitism. Germany or to the Israeli Embassy in Berlin – and thus read by only a few – is now posted and shared outright on The extent to which a certain sensitization toward the the Internet. subject is due to deeper insight or to a consideration for popular sentiments cannot be determined. But there also As a digital theme of social interaction, antisemitic con- were no further events such as the »Hohmann affair« tent in social networks gets a lot of attention. But every or »Mllemann affaire«. In the former case, the CDU network deals differently with antisemitic content on reacted at frst with hesitation but then frmly, expelling their platforms. This is due in part to each given socie- Hohmann from the party (in 2016 he joined the AfD). ty’s understanding of freedom of expression; but on the This was carried out against internal resistance within other hand, the assessment of critical content is always the party; this wing has in recent years increasingly lost the responsibility of employees of a given platform. They infuence. For its part, the FDP at the time did not react decide whether content should be removed. Operators of so clearly and quickly to the »Mllemann« phenomenon. social networks, for example, are reluctant to erase con- Nevertheless, the end of the affair was a lesson that for tent that denies Israel‘s right to exist. In fact, the denial of purely strategic reasons would strengthen sensitivity the state‘s right to exist is not a punishable offense. toward the issue.

Holocaust-denying content also has been treated in The SPD sees itself as representing a long tradition of different ways. On platforms originating in Germany, such fghting antisemitism. This also corresponds to the his- content would have to be deleted for legal reasons. On torical situation up to the present, but this does not mean the whole, however, the amount of content that has been there are no antisemitic attitudes among party members, rendered inaccessible is limited. On Facebook such content as is also the case with the CDU / CSU or the FDP. With is usually blocked for Germany and not removed. Users the Greens, their anti-Israel faction has lost relevance themselves often lack the relevant background knowledge in the course of the party’s development. Views on the in order to, for example, recognize and oppose Isra- Middle East confict with antisemitic connotations are not el-related antisemitism. The same applies to conspiracy expressed publicly and the party confronts Israel-related theories. Social media favors emotional communication antisemitism in left-wing circles. The Left Party takes a and speeds it up so that many debates on such sensitive different approach: On one hand, individual legislators topics as antisemitism are carried out on a purely emo- such as Petra Pau are extremely engaged in fghting all tional level. This poses major problems for those engaged forms of antisemitism both on a parliamentary level in fghting antisemitism, since critical debates are almost and in public discourse; on the other hand, there are still impossible against this background. members in one wing of the party who hold pronounced anti-Israel positions. Even though the party leadership A certain sensitization can be recognized among the distances itself from such views, there are no clear conse- operators of Facebook or YouTube, as well as among the quences for such stands among party members. online editorial departments of newspapers. These media

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In all, the parties have a very cautious approach to the aggressive attitude towards refugees, immigrants and scandals: Antisemitic events within their own ranks have Muslims as well as toward efforts to recognize the equal mostly been discussed in media but not by party mem- rights of non-heterosexuals and women, which became bers. Accordingly, there are optimization potentials for clear among speakers and demonstrators, are a serious enhancing internal sensitization; training activities could gateway for antisemitism. In quite a few speeches held serve this purpose, for example. With regard to measures during Pegida demonstrations, antisemitic code words aimed at combating antisemitism, all parties argue for have been detected. In addition, different expressions greater commitment. Their focus concentrates on political of open antisemitism could be observed either as sin- education in which remembrance of the persecution and gle events or cumulatively, at »-gida« demonstrations, murder of the Jews in the Second World War takes center regionally and locally, especially at smaller events, which stage. usually have a higher proportion of right-wing extrem- ists, including organized ones. There are developments None of the parties has a clearly defned approach in the movement in the orientation and composition of regarding how best to counter current antisemitism. The participants, which indicate increasing radicalization. answers to the questions that the UEA posed to all political Over the course of time, the resentments expressed by parties represented in the Bundestag and at least two state invited speakers as well as by demonstration participants legislatures contain a list of general statements that, how- have become more open and aggressive. The infuence ever, are not linked to specifc models. This also applies of Pegida and its offshoots on the political culture and to the question about the where to draw the line under mood in the Federal Republic cannot yet be conclusively criticism of Israel, beyond which human rights concerns assessed and is also diffcult to prove. The relatively close swing towards anti-Jewish resentment. The theme is on connections or even shared actors with other right-popu- the table with the FDP, the Greens and The Left Party. How- list and right-extremist movements play an important role ever, beyond the ongoing discussion process, there are no in the hardening of positions represented by Pegida. This further explanations. includes primarily the networking and/or mixing with the so-called Querfront, with leaders in the so-called Monday Justifed criticism notwithstanding, the basic rejection of demonstrations and relevant media such as Compact and antisemitism among all these parties is established. When the internet platform PI-news, which also reveal con- it comes to the AfD, an unambiguous assessment cannot nections with neo-right movements like the Identitären be carried out even if the party leadership distances itself Bewegung and political parties like the NPD and AfD. from questions about anti-Jewish sentiment. The AfD Among the participants one increasingly fnds members was the only party that did not respond to the catalog of of different right-wing scenes – hooligans, the Identitären, questions submitted by the UEA. But since there has been offshoots of the AfD – which points to a need for special a rather regular procession of related scandals, the AfD attention with regard to antisemitism in their ranks. leadership could have taken a position in the face of so many cases arising since its relatively recent founding. The Monday demonstrations represent a politically heterogeneous protest movement. Most participants understand themselves as rather left-wing politically. Movements But because of their openness and lack of a political and substantive defnition, they offer a scope for topics – with In the frst UEA report the only political/social movement personifying criticism of fnance capitalism; with the that came under scrutiny was the globalization network claim that the Federal Republic is not a sovereign state; Attac and its proximity to antisemitic attitudes. Attac has with criticism of supposedly manipulated media (»Lgen- since lost much of its importance in public discourse, presse,« or lying media); world conspiracy theories, etc. – but other groups that fall under the category of social that exhibit a dangerous proximity to the central topoi of movements have developed, primarily with right-wing antisemitism and to right-wing constructions. populist orientations. As an example, the »Montagsmah- nwachen« report examined both Pegida and the phenom- The third form of social movement that the UEA has enon of »Reichsbrger« (imperial citizens) with regard to examined closely is the Salafst scene. Despite the anti- their possible antisemitic connotations. But antisemitism semitic notions that are part of Salafst ideology and the in right-wing extremist movements as well as in Salafst attacks by Salafsts in Europe, which are often directed groups that operate in Germany was also an issue. against Jews and Jewish institutions, the Islamism experts Olaf Farschid and Rudolph Ekkehard assume Overall, open antisemitism does not play a dominant role that in »mainstream Salafsm« there is no difference in in Pegida, but antisemitism forms the accompanying text the attitude towards Judaism and Christianity and that in a series of statements, or resonates as a subtext in many therefore there is no »specifc anti-Jewish and politically cases. In particular the spread of conspiracy theories and anti-Zionist perception of the Jewish faith.« Both Judaism

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and Christianity are regarded as adulterations of the one other areas such as the interpretation of the Koran, dealing divine truth. Anti-Jewish attitudes tend to be subordi- with the Middle East confict and the confrontation with nate. However, Farschid and Ekkehard emphasize the use the Holocaust. of antisemitic stereotypes in Salafst movements in the Middle East, which follow a traditional line of historical Particularly important to the imams who were inter- enmity between Jews and Muslims, ranging from early viewed was their perception of a lesser social attention Islam to the Israeli-Palestinian confict. for anti-Muslim racism, which also refects the opinion of many Muslim community members. For the fght against both antisemitism and anti-Muslim hate, it thus Religion seems necessary for Muslim and Jewish communities to see themselves as partners and to develop joint strategies Although it was a central concern of the second Independ- rather than build up a competition over victimhood. ent Expert Group on Antisemitism to follow the recom- Additional studies on this topic will be needed in order to mendations of the frst group of experts and to present confrm the investigation results. an analysis of possible antisemitic attitudes or incidents on the communal level in the Protestant and Catholic churches, it was not possible to provide the necessary Escape results. In order to illuminate the theme at least to some extent, experts on the church congresses, on Good Friday The fndings of an initial study, commissioned by the UEA, liturgy and on the »Slenczka debate« were collected and that approached the subject of antisemitism in connection evaluated. A qualitative study commissioned in 2014 by with escape and refugees suggest a comparatively high the Synod of the Protestant Church in Germany (EKD) and degree of antisemitic attitudes and major gaps in knowl- carried out by ProVal (Society for Sociological Analy- edge among refugees from Arabic and North African sis - Consultancy - Evaluation) on the question of how countries or countries of the Middle East. At the same time different communal contexts and the manifestations of there is a great interest in learning about the Holocaust. antisemitism, fear of Islam and homophobia are related In particular, the Middle East confict and the thoroughly and what relationships there may be between individual antisemitic interpretation of it plays a major role, but beliefs, religious practices and the manifestations of anti- classic antisemitic stereotypes and conspiracy theories are semitism, anti-Islam and homophobia was unfortunately also encountered. In many countries of origin, knowledge published only after the editorial deadline of this report. about Israel, with a clear assignation of perpetrator-vic- tim roles, is ubiquitous. The Middle East confict is not Therefore an investigation of the discourse on the com- explained in religious terms but rather in terms of unequal munal level, of the content of confrmation classes and distribution of resources. But since the Syrian war involves other educational programs within the church setting identifable and other enemies, the Middle East confict must remain a goal. Mainstream churches distance has shifted to the background. Also thanks to the Arab themselves from all manifestations of antisemitism but Spring, the image of Israel appears to have changed in the that does not mean that all antisemitic connotations are eyes of some interviewees. excluded on the communal level or in the preparation of church-based trips to Israel. The fndings suggest major differences between refugees from different countries, each with different antisemitic The study commissioned by the UEA on »Attitudes of characteristics and socialization. They also underscore the Muslims and Muslim Organizations to Jews« can be seen role of collective religious, national and ethnic identities. as a frst exploratory study in a feld for which there is as It is likely that refugees have a conficted connection to yet virtually no empirical data. In interviews with imams, their country of origin, where (on one hand) they were there were no radical antisemitic stereotypes shown, but socialized and from which (on the other hand) they have comparisons were drawn between the National Socialist fed. Their strong support for the basic values of human persecution and murder of German and European Jews rights, democracy, freedom of religious practice and care and the situation for Palestinians today. Most of those and respect when dealing with others is striking and is asked showed thoroughly refective attitudes towards Jews positively emphasized in contrast to the conditions in as well as to Judaism and referred to their daily endeav- their country of origin. ors to reduce prejudice in their congregations. However, the tension created by conficting expectations of the The conditions that many refugees are forced to endure non-Muslim majority society versus the notions of the may also have a negative infuence regarding the develop- Muslim communities in which these imams move also ment of antisemitism. While the refugees still are primar- became clear. Here, a largely refected attitude could be ily concerned with the everyday problems of building a found among the imams. This attitude was also evident in new life and antisemitism is not a major topic, there is

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concern that disappointments and personal experiences conclusive theoretical concepts, some with more, others of discrimination and marginalization in Germany could with fewer experimental elements. Most of the projects trigger radicalization. deal with current antisemitism in the context of other phenomena of group-focused enmity (GFE), but also This could happen in particular if refugees make connec- emphasize the specifcity of antisemitism as an inde- tions with or are targeted by radicalized migrant milieus. pendent and special phenomenon. They also deal with its The antisemitism that in many refugees is latent could various manifestations, such as secondary or Israel-related then translate into antisemitic actions. antisemitism.

There are overall many indications of widespread Another challenge faced by project sponsors in designing antisemitism among refugees from Arab and Muslim and implementing basic and advanced training measures countries. At the same time, the situation is also complex. is the differing concepts of current-day antisemitism. There is a danger of focusing narrowly on only the Muslim There is no uniform defnition of antisemitism that is populations or, currently, on refugees as bearers of antise- relevant to all situations and projects. mitic attitudes. According to the evaluation report, the educational approaches are just as diverse as the theoretical references. Prevention They originate from historical-political education, democ- racy education, anti-discrimination education, antiracist The UEA commissioned Socius Organisationsberatung and intercultural pedagogy and creative pedagogy. The with evaluating six selected educational projects in the formats include training programs, collegial advice and feld of antisemitism prevention. The goal of the evalua- supervision. The consideration of emotions – including tion was to »Identify concrete ›best practice‹ approaches desires, resistance strategies and defensive reactions – is and methods in the prevention of antisemitism in the important. Of central signifcance is the sustained promo- framework of historical and political education work«. tion of solid, long-term cooperation between regulatory Between spring and fall of 2016, six projects were evalu- bodies, such as between schools or providers of child and ated in the felds of school, sport, religious-based institu- youth welfare assistance and specialized educational insti- tions, youth, specialists in various felds and »other,« all of tutions; and the improvement of cooperation between the which were initiated or supported in large part through federal government and Länder in the context of holistic grants from specifc federal or state programs. prevention and intervention. In addition, there must be a stronger interlinking of post-colonial, anti-racist and Two relevant fndings emerged already during the project anti-antisemitism approaches with the aim of developing research stage: Outside of special public funding pro- an educational approach that is interdisciplinary, sensi- grams, hardly any projects could be researched that were tive towards differences and goes beyond the constructed dealing with current antisemitism and not concentrating »groups« of the GFE (keyword intersectionality). on historical antisemitism. Those running the programs and those supporting them were reluctant to allow an evaluation (with the exception of sport). Examples

The project participants that Socius interviewed agreed In the chapter on the defnition of antisemitism, especially that current antisemitism is of greater relevance, but plays when it comes to the discussion about Israel‘s policies, hardly any role in the social space of the target groups and it was pointed out that it is often diffcult to distinguish thus is very rarely asked about. The educational projects between critical and antisemitic statements. The Expert that Socius evaluated develop various strategies to reach Group tried to grasp this diffculty through the use of the their target groups. They reach out personally to various construct »grey zone.« target groups – from teens to working adults – or they are introduced to these groups via schools and other institu- This is intended to take account of the fact that, while that tions. They also mention social networks like Facebook the boundaries between criticism of Israeli politics on and – in individual cases – decision-makers in institutions. the one hand – even tough or unjustifed criticism – and Many of those interviewed report that it is diffcult or took antisemitism on the other are theoretically defnable, longer than expected to win schools or institutions as when it comes to actual cases it can be much more diff- reliable cooperation partners. cult to decide whether a certain statement about Israel is to be understood as critical or antisemitic. In such cases, The projects attach great importance to the capacity for it comes down to the context of a statement, such as who self-refection as a prerequisite for the success of educa- said what, when it was said and whether the criticism was tional work. The evaluated projects have access to largely accompanied by assumptions about a Jewish collective,

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loaded with stereotypical features or used Israel in place change from the by now classical accusations in the of »the Jews« in the sense of a »detour communication,« Middle East confict, which presumably would not carry almost as a legitimation of antisemitic attitudes and antisemitic connotations. The course of the debate made it positions. It should also be borne in mind that regardless abundantly clear that the dominant society lacks sensitiv- of whether a statement is »motivated« by antisemitism, its ity regarding the impact that such public, infammatory content can be assessed as antisemitic. accusations would have on those affected.

The debate about the statements of journalist and pub- Open expressions of antisemitism have been rare in the lisher Jakob Augstein in late 2012 showed how controver- Bundesliga in recent years, but the lower leagues seem to sial the assessment of his criticism of Israel‘s policy was have more problems. There has not yet been any research among the public, and this is also true of journalists from on any overall change in the number and severity of anti- respected media, representatives of Jewish organizations semitic incidents, especially since here, too, the darkfeld and academics who took a stand. This in turn makes it of unreported incidents could be substantial. Anti- clear that – as evidenced by the challenge of fnding a gen- semitism remains part of the discrimination picture in erally accepted and comprehensive defnition of antisem- soccer, primarily coming from right-wing fan groups and itism – ideas about when criticism of Israel can be defned hooligans and more often than not linked with anti-Israel as antisemitism can differ widely even among those who aspects. might well agree in their evaluation of the antisemitic character of statements in the debates on circumcision Using the vehicle of sport, antisemitism gains a consid- and on antisemitism in soccer (see below). The term »grey erable social impact. Those most directly and severely zones« is intended to make these interpretative ambigu- affected are the Jewish Maccabi clubs and Israeli sports ities transparent and to allow a debate about what can be teams – which recently have become the target of antise- regarded as antisemitism in individual cases. mitic hostility, especially from Turkish-Muslim clubs and their players – and anti-racism fan groups that have been The hate-flled excesses of the circumcision debate, attacked by right-wing factions from within their own which were particularly virulent in the Internet, have clubs. There is no common overarching strategy on the shown once again that a single trigger event can incite association level to combat antisemitism in stadia; reac- latent antisemitic feelings and bring them unfltered to tions to such incidents are inconsistent and sports courts the surface via social networks. The impression became hand down overly mild judgments. Fan projects, too, often increasingly clear that circumcision and the shifting of address racist and physical violence only generally and fail lines of argument from religious customs to questions to take the threatening climate of verbal attacks seriously of children‘s rights and human rights offered a welcome enough.

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Abkrzungen

AAS: Amadeu Antonio Stiftung

ADL: Anti-Defamation League

AfD: Alternative fr Deutschland

AFZ: Anne Frank Zentrum

AJC: American Jewish Committee

APPGAA: All-Party Parliamentary Group Against Antisemitism

BfJ: Bundesamt fr Justiz

BfV: Bundesamt fr Verfassungsschutz

BIM: Berliner Institut fr empirische Integrations- und Migrationsforschung

BKA: Bundeskriminalamt

BMFSFJ: Bundesministerium fr Familie, Senioren, Frauen und Jugend

BMI: Bundesministerium des Innern

BMJV: Bundesministerium fr Justiz und Verbraucherschutz

CIDI: Centrum Informatie en Documentatie Israel

CRIF: Conseil Représentatif des Institutions Juives de France

CST: Community Security Trust

DFG: Deutsche Forschungsgemeinschaft

EAD: Evangelische Akademien Deutschland e. V.

EKD: Evangelische Kirche in Deutschland

EUMC: European Monitoring Center for Racism and Xenophobia

FES: Friedrich Ebert Stiftung

FRA: Federal Agency for the Protection of Human Rights

GFE: Group-Focused Enmity in Europe

GHWK: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz

GMF: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

IALANA: International Association of Lawyers against Nuclear Arms

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ICCA: Inter-parliamentary Coalition for Combating Antisemitism

IHRA: International Holocaust Remembrance Alliance

IKG: Institut fr interdisziplinäre Konfikt- und Gewaltforschung

ISSP: International Social Survey Programme

IVKF: Institut fr Vorurteils- und Konfiktforschung e. V.

JDC: American Jewish Joint Distribution Committee

JFDA: Jdisches Forum fr Demokratie und gegen Antisemitismus

JPR: Institute for Jewish Policy Research

KIgA: Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus

KPMD: Kriminalpolizeilicher Meldedienst

KTA: Kriminaltechnische Anfrage

LKA: Landeskriminalamt

NGO: Nichtregierungsorganisation

NSU: Nationalsozialistischer Untergrund

ODIHR: Offce for Democratic Institutions and Human Rights

OSZE: Organisation fr Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Pegida: Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands

PMAK: Politisch motivierte Ausländerkriminalität

PMK: Politisch motivierte Kriminalität

ProVal: Gesellschaft fr sozialwissenschaftliche Analyse – Beratung – Evaluation

RAXEN: Europäisches Informationsnetz ber Rassismus und Fremdenfeindlichkeit

RIAS: Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus

UEA: Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus

VBRG: Verband der Beratungsstellen fr Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt

VDK: Verein fr Demokratische Kultur e. V.

ZfA: Zentrum fr Antisemitismusforschung

ZJD: Zentralrat der Juden in Deutschland

ZWST: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland

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