Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark

. Herausgegeben von Günther Högl und Thomas Schilp im Auftrage des Historischen Vereins fur und die Grafschaft Mark e.Y.

Band 100/101

Dortmund 2009/2010

Wilfried G. Vogt

Annonisches Wunderwirken in und

Hagiographische Quellen in der lokalhistorischen Rezeption

41 Zu einer nur minder beachteten Quellengattung gehören die Mirakelerzählungen, gleichwohl beziehen nicht wenige Städte, Dörfer oder Wohnplätze daraus ihre frühesten schriftlichen Fixierungen. So z. B. auch die zum Ennepe--Kreis gehörenden Kleinstädte Herdecke und Breckerfeld, über die göttlichen Wun- dertaten, die sich dort vor rund 825 Jahren ereigneten, berichten die miracula sancti Annonis; diese wurden zwischen 1183 und 1187 niedergeschrieben. Sie schildern Invokations- oder Distanzwunder nach einem Besuchs- bzw. Fasten- gelübde, will sagen, die Wiedererlangungen der körperlichen Unversehrtheiten geschahen nicht am locus sanctus auf dem femen Michaelsberg im Rheinischen Siegburg, sondern am Wohnsitz der Petenten.' Von der Lokalforschung wurden die Wundergeschichten, die sowohl für Herdecke als auch für Breckerfeld die früheste Erwähnung bedeuten, mit unter- schiedlicher Wahrnehmung adaptiert. Während ihr Eintritt in die Geschichte noch von einem kollektiven Erlebnis göttlicher Segens- und Wunderkraft getragen wurde, trennt diese Erfahrung heute beide Lokalplätze. In Breckerfeld gehören die hochmittelalterlichen Mirakelberichte seit Jahrzehnten zum will- kommenen Bestand der ortshistorischen Darstellung- - in Herdecke, wo man im Stadtbild durch Bau-, Kunst- und Grabdenkmäler wie auch durch Straßennamen an den Ursprung als Kloster-/Stiftsort erinnert wird, blieben die Wundertaten nur Marginalien.'

Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Sondersammlungen, Handschriften GS (Mira- culorum Annonis libri IV); Hans Rudolf Fehlmann, Das Mirakelbuch Anno 11. Erzbischofvon Köln (ea. 1010--1075) als Quelle heilkundlicher Kasuistik, Diss. phil. Marburg 1963 (unge- druckt); Libellus de translatione sancti Annonis archiepiscopi et miracula sancti Annonis. über die Translation des heiligen Erzbischofs Anno und Annonische Mirakelberichte (Siegbur- ger Mirakelbuch). Lateinisch - Deutsch, hg. von P. Mauritius Mittler, Siegburg 1966-1968; Monumenta Annonis. Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter. Köln 1975; dazu unverzichtbar Uta Kleine, Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis, hg. von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein, Stuttgart 2007, S. 231 f. HeiIigenverehrung und Herrschaftsintensivierung. Die Wunder Erzbischof Annos von Köln nach dem Zeugnis der Siegburger Libelli Miraculorumi 1183-1186/87). Wenn Ulrich Heimann neuerdings für die Erst- erwähnung Herdeckes das Jahr ,,1128" ansetzt, dann liegt nur ein Tippfehler und kein neuent- decktes QueIlenmaterial vor. Ulrich Heimann, Ist die Stiftskirche in Herdecke ein karolingisches Bauwerk? Eine Skizze des aktueIlen Forschungsstands sowie eine neue Datierungshypothese, in: DerMärker44,Jg. 1995, Heft I, S. 8-16,S. IS. 2 Arrnin Voss, Die Wunderheilungen in Lausberg und Epscheid. Von der ältesten Nachricht über das DorfBreckerfeld, in: Breckerfelder Telegraph 2/1978, künftig zitiert als: BT; LudolfKuchen- buch, MüIler Eppechinus und seine Welt, in: BT 1994, S. 5-13; Wilfried G. Vogt, 1184-2009. 825 Jahre uicus Brecheruuelde, in: BT 2009/10, S. 25-31. 3 Otto Schnettler, Herdecke an der Ruhr im Wandel der Zeiten. Stift, Dorf, Stadt, hg. von der Stadt Herdecke, Dortmund 1939; Paul Petermeise, Die Stiftskirche zu Herdecke und die Verwand- ten der Steinbacher Baugruppe, in: Westfalen 1942 (10. Sonderheft). Gerhard E. SoIlbach, Die Gründung des Kanonissenstifts Herdecke a. d. Ruhr. Ein Beitrag zur Vermischung von frommen

42 1. Die Gnadenorte und ihre frühesten Bezeugungen

1.1 cenoblum Herreke

Zwischen Rhein und Weser kam es vom 9. bis 11. Jahrhundert zu drei großen Gründungswellen, aus denen nach der Zusammenstellung von Caspar Ehlers nicht weniger als 64 Frauenstifte (ohne Herdecke) hervorgingen. An welcher Stelle dieses "Spinnennetzes" (so Katrinette Bodarwe) die Gründung Herdeckes einzureihen ist, ließ sich bis heute nicht bestimmen, denn die Gründungsvor- gänge liegen im Dunkeln.' Um zu einem ersten Ansatz zu gelangen, folgt man Thomas Schilp, der in seiner Diskussion zur Erbauung des Damenstifts Essen daran erinnerte, dass in Sachsen, wie ,,[... ] bei eigentlich allen Frauengemein- schaften des 9. und 10. Jahrhunderts nicht ein vereinzeltes Individuum, sondern eine soziale Gruppe der Führungsschicht, sei es eine Adelsfamilie oder -sippe als gründendes Subjekt auftritt".' Frauengemeinschaften waren in der Frühzeit, egal, ob in Klöstern oder Stif- ten lebend, ein Rad im Getriebe der Christianisierung. Schilp spricht von einem "Mittel der .Jdentitätsfindung des sächsischen Adels in christlich geprägtem Lebensbereich", [... ] sie wurden zum Symbol der Anerkennung des siegreichen Gottes der Christen und Franken [... ]". Mit dem Wegfall heidnischer Götter- verehrung bot die Ergebenheit in die Allmacht Gottes und die Hoffnung an die Auferstehung in Jesus Christus ein neues Glaubensfundament. In Gebeten sollte eine Verbundenheit zu den Verstorbenen hergestellt werden, um deren Schicksal im Jenseits positiv zu beeinflussen. Am Beispiel des Stifts Essen zeigt Schilp

Motiven und praktischem Nutzen im Mittelalter, in: Am Gespräch des menschlichen Geistes über die Jahrhunderte teilzuhaben [... ]. Festschrift für Hans Georg KirchhotTzum 60. Geburts- tag, Bochum 1990, S. 163-171; Gerhard E. Sollbach, Zum Nutzen des ewigen und irdischen Lebens. Die Geschichte des Damenstifts in Herdecke an der Ruhr (um 810? bis 1811/12), in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 85, 1991, S. 13-90; Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zur Aufhebung, hg. von K. Hengst. Münster 1992, Teill, Ahlen - Mülheim; s. v. Herdecke, künftig zitiert als: WKb; Gerhard E. Sollbach, Stift und Dorfgemeinde Herdecke in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Der Märker48, Jg. 1999, S. 63-71. 4 Caspar Ehlers, Der helfende Herrscher. Immunität, Wahlrecht und Königsschutz für sächsische Frauenstifte bis 1024, in: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Frühmittelalter, hg. von Jan Gerchow und Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift 2), Essen 2003, S. 45-58, Tabelle S. 55 f.; derselbe, Könige, Klöster und der Raum. Die Entwicklung der kirchlichen Topo- graphie Westfalens und Ostsachsens in karolingischer und ottonischer Zeit, in: Westfälische Zeit- schrift 153 (2003), S. 189-216. 5 Thomas Schilp, Altfrid oder Gerswid? Zur Gründung und den Anfängen des Frauenstiftes Essen, in: Herrschaft, Bildung und Gebet. Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen. Essen 2000, S. 29-42, S. 31 tT.; Thomas Schilp, Religiöse Frauengemeinschaften des Früh- und Hochmittel- alters im SpannungsfeJd von Glauben und Welt, in: Herrschaft (wie Anm. 5) S. 9-17.

43 auf, dass "das Gebetsgedenken für die Toten der Gründerfamilie und deren Umfeld sowie der durch Wohltaten mit der Gemeinschaft verbundene Perso- nenkreis im Zentrum des gemeinschaftlichen Lebens" stand. Gisela Muschiol betont, "Frauenklöster und Kanonikerinnenstifte, wie übrigens auch Männer- klöster und Kanonikerstifte, verdanken im gesamten Mittelalter ihre Gründung und Förderung in der Regel einem frommen Anliegen: Bischöfe, adelige Sippen oder adelige Einzelpersonen wünschen sich einen Ort, an dem ihrer Familie und ihrem Anliegen im Gebet gedacht wird, auch über den Tod der Gründerin oder des Gründers hinaus". Frauengemeinschaften waren aber auch ein Hort der Gelehrsamkeit. Die von ihnen ausgehende Bildung ist daher auch nicht so zu interpretieren, als ginge es allein um die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens. Die Erziehung zum christlichen Denken und Leben und die Eroberung der Seelen der Sachsen, war eine mindestens ebenso dringliche wie langwierige Aufgabe. Wie indifferent der Glaube an Jesus Christus selbst noch zwei Jahrhunderte nach Karl dem Großen war, offenbart sich in einer vielsagenden Aussage des Merseburger Bischofs Thietmar (t 1018). Dieser hatte den Synkretismus zwischen Heidentum und Christentum beklagt, denn im benachbarten Silivellum (wo?, nicht identifizier- bar) würde man immer noch Hausgöttern opfern. Nicht anders in der Gegend Hamburgs. Hier ließ BischofUnwan (1013-1029) die Haine abholzen, die von den umliegenden Bewohnern zur Verehrung ihrer Götter aufgesucht wurden." Etwa vier bis fiinfWegestunden südlich eines zufrühest um a. 890 bezeugten Ortes "Throtmanni", der heute Dortmund heißt und der vom Königshof zur Reichsstadt aufstieg, gründeten unbekannte Kräfte zwischen dem 9. und 11. Jahr- hundert auf einer Hochterrasse am Nordufer der Ruhr (Stiftshügel) entweder eine Kommunität benediktinischer Observanz oder eine kanonikale Institution,

6 G. E. Sollbach, Zum Nutzen (wie Anm. 3) S. 63; T. Schilp, Frauengemeinschaften, in: Herr- schaft (wie Anm. 5) S. IS f.; Thomas Schilp, Tod und Jenseitsvorsorge im spätmittelalterlichen Dortmund. Eine Einführung, in: Thomas Schilp (Hg.), Himmel, Hölle, Fegefeuer. Jenseitsvor- stellungen und Sozialgeschichte im spätmittelalterlichen Dortmund (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Dortmund 12), 1996, S. 9-25; Thomas Schilp, Stiftungen zum Totengedenken - Schenkungen für den Schatz. Überlegungen zur urkundlichen Überlieferung des Stifts im Mit- telalter, in: ... wie das Gold den Augen leuchtet. Schätze aus dem Essener Frauenstift, hg. von Birgitta Falk, Thomas Schilp und Michael Schlagheck (Essener Forschungen zum Frauenstift 5), Essen 2007, S. 39-51; Gisela Muschiol, Das "gebrechlichere Geschlecht" und der Gottesdienst. Zum religiösen Alltag in Frauengemeinschaften des Mittelalter, in: Herrschaft (wie Anm. 5) S. 19-27; Charlotte Warnke, Das Kanonissenstift St. Cyriacus zu Gernrode im Spannungsfeld zwischen Hochadel, Kaiser, Bischof und Papst von der Gründung 961 bis zum Ende des Inve- stiturstreits 1122, in: Studien zum Kanonissenstift, hg. von Irene Crus ius (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 167); Studien zur Germania sacra 24, Göttingen 200 I, S. 201-273,223 A. 96; Gesta Hammaburgensis eccJesiae pontificum, Magistri Adam Bremensis, ed. Bernhard Schrneidler, MGH SS. rer. germ. 2, Hannover, Leipzig 31917, S. 108.

44 Abb. 1:Rekonstruktionsstudie der Herdecker Stiftsanlage, betrachtet aus östlicher Richtung (P. Petermeise, 1942). Der Entwurfverdeutlicht insbesondere die heute so nicht mehr wahrnehmbare Dominanz der Sakralanlage, die als christlicher ..Sende- mast" in einer fast siedlungsleeren Landschaft' stand. Nach der Säkularisation und der Aufhebung des Stifts im Jahre 1811/12 geriet die (Rest-)Anlage peu a peu in eine städtebauliche Insellage, die heute eingeschnürt wird von der Haupt-. Alte Stifts- und Stiftsstraße. Seit 1901/02 ragt ein unhistorischer Turm in den Himmel. Die Skizze illustriert ferner unten links den Ruhrübergang, dahinter erhebt sich aus der Ruhraue der Kaisberg (Stadt ). Fundort von drei Griffzungenschwertern der Jüngeren Bronzezeit. Rechts der Ardey-Hohenzug. der sich bis erstreckt. Die Barriere im Hintergrund (Westen) kennzeichnet die Umgebung der um 1100 erbauten Burg Volmerstein. Mithin ermöglichte der (Stifts-)Standort einen weiten Blick in das Hagener Becken und in das Ruhrtal. zu der "man mit Treppen aus der Stadt hinaufsteigt"," 1183 trug die Einrichtung den Namen .Herreke" ,Herdecke', später (1275) auch "Nunherrike" 'Nonnen- herdecke' oder (1488) "Marienherdecke".9 Aber geschah diese Gründung auf "grüner Wiese", ging dem Projekt etwas voraus? Unter strategischen Kriterien

7 A. K. Hömberg glaubte, dass der karlingische Siedlungsbestand für "den ganzen Raum zwischen Ardey und Ruhr von bis Schwerte [... ] schwerlich mehr als 30-40 Gehöfte" betragen haben dürfte. Albert K. Hömberg, Kirchliche und weltliche Landesorganisation (Pfarrsystem und Gerichtsverfassung) in den Urpfarrgebieten des südlichen Westfalen, Münster 1965, S. 57. 8 In der Datierungfrage folge ich Klaus Lange, Die ehemalige Stiftskirche in Herdecke. Bauge- schichte - Bauschichten, hg. von der Evangelischen Kirchengemeinde Herdecke, Essen 1997; Levin Schücking und F. Freiligrath, Das malerische und romantische Westphalen, Paderbom 21872, S. 319. 9 Zum Ortsnamen jetzt Paul Derks, "Cenobium Herreke" und die .Hertha Eiche". Eine Nachlese zum Herdecker Stadtjubiläum, in: Der Märker 41, Jg. 1992, S. 207-223.

45 hätte dieser günstig positionierte Standort unweit eines Ruhrübergangs durchaus auch mit einem Adelssitz und/oder einer Wehranlage (Wallburg) bebaut sein können, wie dies z. B. im nahen Altenhagen'? an einer Furt durch die Volme der Fall war. Dazu später mehr. Ob zur Sicherung der ökonomischen Bedürfnisse der Herdecker Sanctimonialen ein Herrenhof oder eine bäuerliche Höfegruppe gleichen Namens existierte, oder solche erst später der Sakralgründung folgten, bleibt Spekulation.'! Aus den Ersterwähnungen Herdeckes in den Jahren 11 83 und 11 84, auf die ich weiter unten ausführlich zu sprechen komme, tritt eine Frauenge- meinschaft hervor, deren Ausgangspunkt trotz unterschiedlichster Gründungs- versionen ungelöst ist. Für die immer wieder vorgeschobene angebliche Ver- wandte Karls des Großen, Vrederun oder Frederuna, die Herdecke um 81012 gegründet haben soll, fanden sich bis heute keine bestätigenden Quellen. Auch Alswedis, die angeblich die Ahnengalerie der Herdecker Äbtissinnen anfuhren soll, blieb ohne Zeugnis. Für das Kölner Stift Maria im Kapitol, von dem die Erbauung ausgegangen sein soll, fanden sich statt stichhaltiger Beweise immer- hin Indizien. Johann Diederich von Steinen glaubte, Frederuna entstamme dem Hause Volmerstein. Die Mutmaßung Paul Petermeises, Herdecke sei eine Gründung der Grafen von Altena-Mark geht ins Leere. Der Versuch Otto Schnettlers, Frederuna als Angehörige aus dem Verwandtschaftskreis der Grafen von Cap- penberg zu etablieren, konnte ebenfalls nicht überzeugen." Edeltraud Klueting brachte ohne nähere Angaben das sächsische Fürstengeschlecht der Billunger ins Spiel (1106 ausgestorben), da bei ihnen der Name .Frideruna" vorkäme.t+

10 Johann Diederich von Steinen, Westphälische Geschichte. Teil I-IV, Lemgo 1755-1760, IV, XXIII. Stück, hier S. 89, (Güterverzeichnis der Äbtissin Hadwig von 1229?). 1296 überträgt Diderik von Volmerstein Güter u. a. in Altenhagen an die Burgmänner Henrik, Menrik und Diderik "dictus Vrydagh". Urkundenbuch der Familien von Volmerstein und von der Recke bis zum Jahre 1437, bearb. von R[obert] Krumbholtz, Münster 1917, Nr. 251. (künftig zitiert als: UB Volmerstein) 11 Während für Otto Schnettler nur die Wahrscheinlichkeit dafür sprach, "daß ein großer Einzelhof die Grundlage für Stift und Dorf' bildete, muss nach G. E. Sollbach bereits "zur Zeit der Grün- dung [... ] eine kleinere Ansiedlung oder zumindest ein großer Einzelhof bestanden haben". Otto Schnettler, Herdecke (wie Anm. 3), S. 10; Gerhard E. Sollbach, Leben in Märkischen Frauenklöstern und adligen Damenstiften in Mittelalter und Neuzeit. Herdecke, Clarenberg und , (Dortmunder historische Studien 8), Dortmund 1995, S. 18. 12 J.D. von Steinen, Westphälische Geschichte (wie Anm. 10), IV, §3. In Herdecker Schriften kursiert dagegen auch das Jahr 819, offenbar in Anlehnung an Hermann Fley gen. Stangefol. 13 Zusammenfassung der Quellenlage bei K. Lange, Stiftskirche (wie Anm. 8), S. 18-21; 47-50, 82-89; ferner P. Petermeise, Die Stiftskirche (wie Anm. 3), S. 13. 14 WKb (wie Anrn, 3), s. v. Herdecke, 1.3. Vermutlich dachte E. Klueting anjene Frederuna, die gemeinsam mit ihrer Schwester Imma und unter Beteiligung des Markgrafen Gero zwischen

46 Mit architekturhistorischen Modellen trug Ulrich Heimann schließlich vor, Herdecke könne ein Werk des Hildesheimer Bischofs Altfrid (t 874) sein, der sowohl den Hildesheimer Dom errichtete, als auch an der Gründung des Stifts Essen beteiligt war; Altfrids Herkunft ist ungeklärt."

1.2 Konturen und Ansatzpunkte

Eine altenaiseh-märkische Gründung wird man angesichts des unterstellten Gründungszeitraumes ausschließen, zudem wäre dem Chronisten Levold von Northof (* 1279, t 1359) eine solche Stiftung kaum entgangen, und die Grafen von Cappenberg gab es im 9. Jahrhundert auch noch nicht. Maria im Kapitol als Gründungsbeteiligte zu sehen, lässt sich bei näherem Hinsehen nicht so ein- fach ignorieren, dazu später mehr. Aber wie steht es um die Mitwirkung der Herren von Volmerstein, lässt sich dafür eine Anbindung finden? Daraufwill ich genauer eingehen, denn für Gerhard E. Sollbach kommt "vor allem eine Ange- hörige der Familie der in unmittelbarer Nähe von Herdecke beheimateten Herren von Volmerstein" als "Stifterin" in Frage. Im Gegenzug trägt Sollbach aber vor, dass es sich bei der Stiftskirche "im Kern um einen typisch [!] karolingischen Bau des 9. Jahrhunderts handelt"." Die Herren von Volmerstein und karolingische Sakralarchitektur? - eine solche Konstruktion geht schon auf den ersten Blick nicht zusammen, denn die Volmersteiner, deren Vorfahren aus der Gegend um Soest stammen sollen, gehen nach Sollbachs Aussagen auf einen .Henricus des Sotatio"! 17 (recte: Heinricus de Sosatio") zurück, der erstmals 1072 belegt ist. Mit einem "Henricus [I.] de Volmudisteine" ist die Familie seit ihrer ersten Bezeugung a. 1134 bereits fest in die Ministerialität der Kölner Kirche eingebunden.'? Zwar wird ein Ort

959 und 967 den Frauenkonvent Kemnade gtiindete. Die Schwestern sollen Töchter Wich- manns d. Ä. gewesen sein. 15 Ulrich Heimann, Ist die Stiftskirche (wie Anm. I), S. 14ff. Zur Diskussion um Altfrid als Gtiinder des Stifts Essen siehe jetzt Paul Derks, Gerswid und Altfrid. Zur Überlieferung der Gründung des Stiftes Essen, in: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 107, 1995, S. 7-190; Thomas Schilp, Altfrid oder Gerswid (wie Anm. 5). 16 Gerhard E. Sollbach, Die Gtiindung (wie Anm. 3), S. 164f. 17 Die entstellte Herkunftsbezeichnung "des Sotatio" findet sich auch auf einer Internetseite des Historischen Centrums Hagen (Stand: September 2009). 18 Regesten der Erzbischöfe von Köln, Bd. I, Nr. 1014: Erzbischof Anno 11. bekundet, von einem Heinrich von Soest 10 Hufen erworben zu haben. 19 Gerhard E. Sollbach, Hagen im Mittelalter, in: RalfBlank, Stephanie Marra, Gerhard E. Soll- bach, Hagen. Geschichte einer Großstadt und ihrer Region, Essen 2008, S. 73-126, S. 82; Traditiones Werdinenses. T.I. 11. [hg. von] W[ilhelm] Crecelius, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 6, 1869, I, Nr. 90, zu 1047; Volmerstein (wie Anm. 10), Nr. 2 zu 1134; Nr. 3 zu 1134.

47 "Folmudestede" zufrühest 1047 in einer Verfügung des Werdener Abts Gerold erwähnt, der sein Jahr-Gedächtnis stiftet, doch dient die Nennung Volmersteins hier lediglich als Orientierungshilfe bei der Lagebeschreibung Sprockhövels; von einem Geschlecht gleichen Namens ist weit und breit keine Rede. Ob a. 1047 in Folmudestede bereits eine (kölnische?) Burg stand, ist unbekannt. Folgt man der Kölner Königschronik, dann wurde das gloriosum castrum Volmerstein erst um 1100 durch den Kölner ErzbischofFriederich I. erbaut. Aufgrund dieser Sachlage kann ein, für das 9. Jahrhundert nicht nachgewiesenes Geschlecht von Volmerstein, nicht zu einer honorigen Herdecke Stifterfamilie werden.

Die Herren von Volmerstein lassen sich nur dann in den Kreis denkbarer Erbauer stellen, wenn man, von den Forschungen des Architekturhistorikers Klaus Lange ausgehend, nach neuen Ansätzen sucht. Da architekturgeschichtlich keine Gewissheit über den Baubeginn Herdeckes zu erlangen ist, stellt Lange aufgrund von Einzelbefunden die Erbauung der Stiftskirche mit Gründen nicht starr in das 9., sondern mit Unterbrechungen in das 9. bis 11. Jahrhundert.P Aber selbst mit diesem Hebel ist die Frage nicht zu beantworten, ob die finanzielle Potenz der Kölner Ministerialen auch ausgereicht hätte, um die gewaltigen Investitionen zum Bau und zur materiellen Ausstattung der Sakralanlage schultern zu können. Und doch könnte man die Herren von Volmerstein als Baubeteiligte in Anspruch nehmen - als "Zweitverwerter" nämlich. Dies setzt voraus, dass die erste, von unbekannten Kräften ins Werk gesetzte Herdecker Sakralgrün- dung (9. Jh.) unvollendet aufgegeben wurde. Die Volmersteiner könnten sich dann nach Konsolidierung ihrer Machtposition im Gefüge der Kölner Kirche sowie als potente Kraft an Ruhr Volme, Lenne und Ennepe mit der baulichen Wiederaufnahme dieses Projektes einen memorialen Rahmen geschaffen haben, wie ihn alle aufstrebenden und herausragenden Geschlechter anstrebten. Mit diesem (Gründungs- )Umweg würde auch die ausgeprägte Herdecker Quellen- losigkeit verständlicher und auch die unterschiedlichen Gründungsdarstellungen fügten sich hier und da zusammen. Überdies würde jene Überlieferung griffiger, wonach das Kölner Stift Maria im Kapitol (gegr. um die Mitte des 10. Jahrhun- derts!) daran beteiligt war. Immerhin übernahm man in Herdecke noch um die Mitte des 15. Jahrhunderts deren dort neu eingeführten Chorhabit sowie ihre Statuten. Schließlich lebte dort um 1230 Gisela von Volmerstein, eine Schwester der ersten glaubhaft bezeugten Herdecker Äbtissin Hadwig: Gisela und Hadwig sind Schwestern Heinrichs Ill. von Volmerstein. Dieser geriet dadurch in die Geschichtsbücher, dass er zumindest als Mitwisser beim tödlich verlaufenden Attentat auf Erzbischof Engelbert I. am 7.11.1225 galt und dafür in Köln zeit-

20 K. Lange, Stiftskirche (wieAnm. 8), S. 47.

48 weise in Ungnade fiel. Heinrich Ill. ehelichte vor 1244 Sophie von Isenberg, die Tochter eben jenes Rädelsführers beim Anschlag auf Engelbert, Friedrich von Isenberg. Wenn das Kölner Stift Maria im Kapitol an der "Wiederbelebung" Herdeckes beteiligt war, dann kam von dort die "Logistik" und von den Volmersteinern das Kapital. Damit fanden genau jene Überlegungen K. Langes neue Nahrung, der, wie erwähnt, Bauperioden des 9. bis 11. Jahrhundert konstatiert. Ein Hindernis stellt sich bei dieser Sicht allerdings in den Weg: wenn denn die Volmersteiner an der (Nach- )Gründung mitwirkten, hätten sie sich doch auch in Herdecke bestatten lassen. Aber wo blieben ihre Grabmäler? Vielleicht muss man damit rechnen, dass sie trotz Herdecke an ganz anderen Orten ihre Gräber fanden (Kirche Volmarstein, Köln oder Soest), denkbar wäre aber auch, dass etwaige Grabmäler z. B. bei allen nachfolgenden Baurnaßnahmen abgetragen wurden. K. Lange erkennt immerhin in Bauschicht 11 (nach 1115) eine vollstän- dige Erneuerung der Seitenschiffe. Auch der Umbau des Chores (Bauschicht Ill, begonnen um 1230) könnte zur Spurentilgung beigetragen haben und schließlich hätte auch die endgültige Zurückdrängung der Volmersteiner durch die Grafen von der Mark (l324) Auswirkungen haben können.

1.3 Die Wahl des Standortes

Der spirituelle Mittelpunkt Herdeckes, die Stifts- und Pfarrkirche, wurde zwi- schen dem 9. und 11. Jahrhundert als .rlreischifflge flachgedeckte Pfeilerbasilika mit Westbau und dreiapsidialem Chorschluß" errichtet." Die ökonomische Basis der dort lebenden Sanctimonialen, die sich dem Schutz der Heiligen Gottesgebä- rerin anvertraut hatten, sicherte ein breitgefächerter Grund- und Güterbesitz. Ein um 1229? angelegtes urbarartiges Verzeichnis, welches die Äbtissin Hadwig von Volmerstein wenige Jahre nach Antritt ihres Abbatiates (vor/um 1225) anlegen ließ, bietet aufschlußreiche Einblicke in die Besitz- und Wirtschaftsgeschich- te.22 Daraus geht hervor, dass es sich um Güterbesitz und Ansprüche bereits älteren Ursprunges handelte; einiges davon war dem Stift inzwischen entfremdet worden. Vorsorglich betonte die Äbtissin, dass sie daran keine Schuld trüge;

21 K. Lange, Stiftskirche (wie Anm. 8), S. 17. 22 StA Münster, Stift Herdecke, Urk. 2; Johann Diederich von Steinen, Westphälische Geschichte (wie Anm. 10), IV, XXIII. Stück. Eine textkritische Untersuchung dazu fehlt bisher. Jüngst scheint sich Gerhard E. Sollbach in der Frage, ob Herdecke ein Kloster oder Stift war, umorien- tiert zu haben. Er bezeichnet die urbarialen Aufzeichnungen von 1229 als "das älteste Grundbe- sitz- und Einkünfteverzeichnis [... ] des Frauenklosters [!] in Herdecke" und spricht an gleicher Stelle bezüglich einer Urkunde von 1204 von einem .Fraucnklostcr" Gerhard E. Sollbach, Boele im Mittelalter, in: Märkisches Jahrbuch für Geschichte 109, 2009, S. 401-407, 403.

49 tatsächlich war es denn auch so, dass erst durch sie die innere Verwaltung der Grundherrschaft neu geordnet wurde." Besagtes Verzeichnis von 1229? läßt allerdings nicht erkennen, wann und durch wen die Hufen an den Frauenkonvent gelangten. Auffällig ist indes, dass ein nicht geringer Teil der bäuerlichen Stät- ten südlich der Ruhr lagen, in einem Raum, der aus klimatischen und topogra- phischen Gründen wohl erst im ausgehenden 9. Jahrhundert erschlossen wurde. Die Stiftskirche, in der sich die Sanctimonialen zu Stundengebet und Messe versammelten, wie auch die umstehenden Konvents- und Wirtschaftsgebäude, hatte man durchaus nicht weltabgeschieden errichtet. Für Gerhard E. Sollbach bietet dies auch Grund zur Annahme, das Stift sei "deshalb an dieser Stelle ange- legt worden, weil es sich hier um einen verkehrsgünstig gelegenen und verkehrs- reichen Platz handelte", den "Wallfahrer und Pilger" aufsuchten. Aufgrund der vorausgegangenen Ausführungen habe ich jedoch beträchtliche Bedenken, denn für eine Gründung auf "grüner Wiese", so die derzeitige Sicht, reicht dies allein nicht aus.

Spektakuläre Translationen von Heiligenleibern nach Sachsen und ein damit verbundener Reliquienkult an Pilgerpfaden waren zweifelsohne unverziehtbare Bindemittel bei der Missionierung, entstanden doch auch dadurch neue religi- öse Orientierungszentren. Ob aber der zitierte "Verkehrsknotenpunkt" Herdecke, den Petermeise gar als "westliche "Porta Westfalica" wahrnahm und den ich nur als nachrangigen Flaschenhals von Nord nach Süd sehe, bauentscheidend für ein Kloster/Stift war, ist zu bezweifeln. Niemand kann sagen, wann dieses angeb- liche Verkehrskreuz in den steinigen Herdecker Boden getreten wurde. Aber gesetzt den Fall, es gab einen solchen "Knotenpunkt" bereits vor der Gründung eines Klosters/Stifts, dann ist selbst damit auch nicht ansatzweise beantwortet, warum der Bau der Institution auf dem Nordufer der Ruhr erfolgte. Er hätte doch auch auf dem nicht weniger verkehrsgünstig liegenden, zudem agrarisch

23 Dem Verzeichnis ist auch zu entnehmen, dass zur Zeit der Abfassung (um 1229?) Anniversarien für Frederuna wie für eine Äbtissin Alswedis gefeiert wurden, gleichzeitig handelte es sich um Abgabetermine für Natural- und Geldleistungen. J. D. von Steinen, Westphälische Geschichte (wie Anm. 10), S. 89 f. Angesichts der Anstrengungen, Ordnung in eine bereits vorgefundene desolate innere Verwaltung zu bringen, wird man der Äbtissin Hadwig kaum unterstellen kön- nen, sie habe die Totengedenktage als Zahltermine frei erfunden. Damit rückt auch wieder der sogenannte Frederuna-Stein in den Fokus, der ohne jede Umschrift blieb und als Ritzzeichnung die Griinderin zeigen soll. Die Grabplatte steht heute im nördlichen Seitenschiff der Stiftskir- che. Ausführlich dazu K. Lange, Stiftskirche (wie Anm. 8), S. 82 ff. Die Schriftleere der Platte ließe sich aber auch damit erklären, dass die Person, für die die Platte gedacht war, nicht in Herdecke, sondern an einem unbekannten Ort ihr Grab fand. Hierzu Christine Sauer, Fundatio und Memoria. Stifter und Klostergriinder im Bild. 1100 bis 1350 (Veröffentlichungen des Max- Planck-Instituts für Geschichte 109), Göttingen 1993, S. 91.

50 vorteilhafteren Südufer, mithin auf Hagener Gebiet, erfolgen können. Hoch- wasserfreie Zonen gibt es hier wie dort. Zweitens wurde, trotz des unsicheren Herdecker Gründungszeitpunktes, überhaupt nicht hinterfragt, wie groß denn die Frequentierung dieses Pfades am Ruhrübergang überhaupt war. Hinzu kommt, dass es, trotz anderslautender Darstellungen, keine zweite überregionale Straße gab, die sich hier kreuzte. Denn einen angeblichen Fernweg aus dem Maasgebiet kommend, der über Wetter (!) durch das Ruhrtal (!) nach Herdecke (!) führte, wie Petermeise u. a. meinen, existierte nicht. Es mag in der Trockenzeit einen Lokalweg durch das Ruhrtal gegeben haben, nie und nimmer aber eine Altstraße überregionaler Führung. Damit komme ich zum Kern: Herdecke lag durchaus n ich t so konkur- renzlos günstig, um über Köln ins Hagener Becken und weiter zur via regis zu gelangen! Es gab ganz in der Nähe eine zweite Streckenführung, die ni c h t durch besagten Flaschenhals führte und damit tritt der bisher unterstellte Bedeu- tungsgrad Herdeckes als "Verkehrsknotenpunkt" erheblich in den Hintergrund.

Um den Standort Herdecke näher zu analysieren, ist zuvor auf das mittelalter- liche Straßennetz vom Rheinland nach Westfalen einzugehen. Vor den Mauem des Stifts verlief eine Altstraße, die vom Rhein kommend zur via regis strebte. Sie verband u. a. das Glaubens- und Handelszentrum Köln mit den Missions- schwerpunkten (Dortmund) Soest und Paderborn. Auf dem Weg durch das Ber- gische Land bildeten sich aus topographischen Erfordernissen schon früh ganze Streckenbündel mit zwei Hauptzügen heraus. Eine Strecke führte über Lennep - Beyenburg (Wupperübergang) - Möllenkotten () - Mylinghausen = Gevelsberg (!) - Tal der Ennepe in das Hagener Becken. Dieser Abschnitt erlangte im November 1225 seine unheilvolle, aber historische Beglaubigung, als auf ihr Erzbischof Engelbert I. auf dem Weg von Soest nach Schwelm rei- send, in Mylinghausen, dem späteren Gevelsberg, bei einem Attentat zu Tode kam."

24 Zum Ortsnamen Gevelsberg jetzt Paul Derks, Gevelsberg - ein Sakralname, in: Beiträge zur Heimatkunde der Stadt Schwelm und ihrer Umgebung 46, 1997, künftig zitiert als: BHS, S. 56-102. Dazu jetzt Ingrid BischofT, Der Weg in den Untergang. Die letzte Reise des Kölner Erzbischofs Engelbert l. (t 1225), in: HagenBuch 2009, S. 139-148. Zur jüngsten Forschung um die Geschehnisse von 1225 siehe die Einzelbeiträge in: Aufruhr 1225! Ritter, Burgen und Intrigen. Das Mittelalter an Rhein und Ruhr. Hg. vom LWL-Museum für Archäologie - West- fälisches Landesmuseum Heme. Mainz 2010. Bei der Identifizierung des Stift Gevelsberger Güterbesitzes unterliefen Gerhard E. Sollbach, Zum Nutzen (wie Anrn. 9), S. 18, einige Irrtümer, die z. T. bereits Derks bereinigte. P. Derks, Cenobium Herreke (wie Anm. 9), S. 214, A 68. Weiterhin ist Sollbachs Sicht zu korrigieren, ,.prope Milinchuyssen iuxtaflumen, quod Ennepe dicitur" bezöge sich auf "Mühlinghausen", tatsächlich ist hier auf M y I i n g hausen zu erkennen. Der Wohnplatz Mühlinghausen liegt

51 Eine andere Route ftihrte von Köln über Wipperfürth - RadevormwaldlHal- ver - Breckerfeld nach Hagen. Schnittpunkt beider Verkehrsachsen war zunächst eine Furt durch die Volme in Altenhagen. Nach Durchquerung der Volme boten sich erneut z we i Streckenabschnitte, um zur eigentlichen Transitstrecke, dem Hellweg, zu gelangen. Entweder nahm man den Weg über Herdecke nach Dort- mund; in Herdecke überquerte die Altstraße die Ruhr, bereits um 1229 ist von der dortigen Brückengerechtigkeit die Rede, die Verfügungsgewalt darüber lag in den Händen der Äbtissin." Im weiteren Verlauf öffnete dort eine Passstelle den Sperrriegel des Ardeygebirges, 1253 in si/va Ardeye, der westlichsten Berg- kette der Haar: 1169/79 in pago qui dicitur Hare.

Alternativ gab es eine z w e i t e Route, die jedoch von der Herdecke-Forschung unbeachtet blieb. Sie führte von (Alten- )Hagen durch das südliche Dortmun- der Reichsgut- Territorium Garenfeld - Westhofen - Wandhofen - Schwerte - nach Dortmund." Welche Strecke bevorzugt wurde, lässt sich zwar nicht mehr bestimmen, vermutlich war aber der Verlauf über Westhofen - Schwerte sicherer und zudem vorteilhafter. Man näherte sich insbesondere dem Ardeygebirge mit seinem Steilabfall, wie bei Herdecke, nicht so abrupt. Obendrein war dieser Abschnitt vielseitiger, denn es eröffneten sich Abzweige nach Unna und Iser- lohn. Auffällig ist zudem, dass dieses Straßenstück sowohl im Hagener als auch im Westhofener-Schwerter Raum als Hel(l)weg, Hilweg, bezeichnet wurde, woraus in Hagen durch Kontraktion "Helwe, Helve" usw. wurde. Diese neue Namengebung war dort schließlich so dominant, dass sie auf den am .Helwe" liegenden alten Siedlungsnamen .Dorpbole" übersprang, diesen ablöste und

auf der Rüggeberger Hochfläche und befand sich nie in Händen des Stifts, wie sich auch aus der Geschichte der heutigen Stadt Gevelsberg ergibt, die zweifelsfrei aus der Bauerschaft Mylinghausen hervorging. UB Volmerstein (wie Anm. 10), Nr. 150, zu a. 1235; zur Identi- fizierung auch: Das Archiv des vorm. Zisterzienserinnenklosters und späteren Damenstiftes Gevelsberg, bearb. von Günter Aders, in: JbVtDHM, 66, 1968, S. 1-179; vgl. J. D. von Stei- nen (wie Anm. 10), Güterverzeichnis, S. 93: Milinchusen; Friedrich Schloemann, Geschichte von Gevelsberg bis in die Neuzeit. Nach Urkunden, Berichten von Zeitgenossen und neueren Forschungen dargestellt, Gevelsberg 1907; Friedrich Schloemann, Die Kirche zu Gevelsberg, Gevelsberg 1930; Franz Overkott, Gevelsberg. Die Kleineisen-Industriestadt an der Ennepe. Ein Heimatbuch, Gevelsberg 1956; Gerd Helbeck, Schwelm. Geschichte einer Stadt und ihres Umlandes, Schwelm 1995. 25 Die Brückengerechtigkeit wird bereits in einer urbarartigen Verfügung (1229?) des Stifts her- vorgehoben. Druck bei J. D. von Steinen, Westphälische Geschichte (wie Anm. 10). 26 Hierzu Lieselotte Nieland, Der ReichshofWesthofen im Mittelalter, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 50 (1953), S. 173-351, künftig zitiert als: BeitrDO; Renate Loftus, Forschungsgeschichte, in: Schwerte 1397-1997. Eine Stadt im mittleren Ruhrtal und ihr Umland, Essen 1997, S. 23-87; Wilfried Reininghaus, Schwerte in Mittelalter und früher Neuzeit, in: ebenda, S. 89-189; Leopold Schütte, Die Umlandgemeinden im Mittelalter, in: ebenda,S.191-335.

52 damit den heutigen Hagener Ortsnamen Helfe schuf. Um ein unbedeutendes Straßenstück kann es sich bei der Variante durch die Westhofener Reichsmark hin zur späteren Hansestadt Schwerte, 963/973 erstmals erwähnt, also nicht gehandelt haben. Die hier geschilderten Femwege von Köln nach Westfalen mögen als Auf- marschstraßen wohl schon seit den Tagen der militärischen Erschließung und nachfolgenden Missionierung Sachsens existiert haben und sich zu "Straßen des Glaubens" entwickelt haben." Auf diesen Routen kam es denn auch zu mehrfach bekundeten Wunderheilungen. Offenbar trugen Händler und andere Reisende über dieses Streckennetz die Verbreitung des Siegburger Wundergeschehens nach Westfalen, wie die Gnadenorte (Aufzählung der Stationen aus Richtung Köln) Wipperfürth - Lennep - Lausberg () - Breckerfeld - Herdecke - Dortmund - (Soest - Geseke) vermuten lassen."

Wenn nach diesem Befund allein der Straßenverlauf für Herdecke nicht grün- dungsrelevant gewesen sein kann, muss nach neuen Motiven gesucht werden, die zum Bau einer geistlichen Institution am Ruhrübergang führten. Warum errichtete man ausgerechnet an dieser Stelle des Nordufers einen Frauenkon- vent? Die Antwort sehe ich zunächst darin, dass Herdecke k ein e zielgerich- tete Sakralgründung war. Wer immer diesen Platz bebaute, er tat dies nicht unter dem Aspekt der inneren Missionierung Sachsens; der Bauherr bezog zufrühest militärstrategische Vorteile daraus. Denn wer im Besitz des Ruhrüberganges am Ardey-Steilpass war, kontrollierte erstens einen wichtigen Zugang in das west- fälische Tiefland und schuf zudem auch Sicherheit für die nahe Sigiburg. Über diesen Durchgang ließ sich die nahe Wallburg erreichen, von der wiederum eine exzellente Femaufklärung über das Hagener Becken hinaus betrieben werden konnte. Herdecke als zentraler "Horchposten" (siehe oben, Rekonstruktions- studie Petermeise, Abb. 1) kann (in unsicheren Zeiten) nicht ohne militärische Vorsorge geblieben sein. Denn wo waren Reisende, egal ob Reiter, Händler oder Wanderer, ob mit oder ohne Fuhrwerke, Angriffen schutzloser ausgeliefert, als bei der Durchquerung eines Flusses, hier der Ruhr, mit nachfolgender Erklim-

27 Paul Leidinger glaubt, dass die Hagener Kirche (SS. Gervasius und Protasius) als Missions- Pfarrkirche von Missionaren aus Soissons gegründet wurde. Er sieht das Gebiet südlich der Lippe seit 776 als befriedet an und er glaubt an eine ungestörte Missionierung. Paul Leidin- ger, Zur Christianisierung des kölnischen Westfalen südlich der Lippe, in: Das Herzogtum Westfalen. Bd. I, Das kurkölnische Herzogtum Westfalen von den Anfängen der kölnischen Herrschaft im südlichen Westfalen bis zur Säkularisation 1803, hg. von Harm Klueting unter Mitarbeit von Jens Foken, Münster 2009, S. 37-53. 28 Hierzu auch U. Kleine, Gesta (wie Anm. I), S. 252 f. Ein von Petermeise 1942 beschriebener Abzweig einer Straße vom Maasgebiet zur Weser, die ebenfalls durch das Nadelöhr Herdecke gezogen sein soll, bleibt trotz fortwährender Nachzitierungen nichts als ein Holzweg.

53 mung der Steilstrecke? Trotz oder gerade wegen der nahen Sigiburg ist daher die Frage relevant, ob Herdecke zufrühest ein vom nahen ReichshofWesthofen abhängiger Militärposten oder befestigter Herrenhof war, aus dem erst im zwei- ten oder dritten Gang ein Konvent gegründet wurde. Daher sollte man bei den Überlegungen zu den Herdecker Gründungsvorgängen in Erwägung ziehen, ob sich auf dem Stiftshügel, damit meine ich, nach dem endgültigen Fall der nahen Sigiburg'? (776), zufrühest eine Wehranlage befand. Nach der Befriedung und Konsolidierung der Macht könnte daraus eine Pftanzstätte neuen christlichen Glaubens erwachsen sein. Nun ist ein solcher Entwicklungsgang an sich nicht neu: zahlreiche Beispiele für Klöster/Stifte, die aus Burgen ihres nahen Umfeldes hervorgingen, sind bekannt; wer hat hier nicht spontan die Gründung des Stifts Cappenberg (1122) im Auge? Ich denke aber auch an die rheinischen und niederrheinischen Grün- dungen Altenberg, Deutz, Ehen, Kaiserswerth, besonders aber an die hier im Vordergrund stehende Anno-Gründung Siegburg. Auch K. Lange war im Prinzip schon sehr dicht am Kern meiner Überlegungen, nur sah er hier mit Wilhelm Kohl eher die "räumliche Nähe" der Syburg als Impulsgeber,'?

Sollte die von mir formulierte Wehranlagen-Hypothese greifen, könnte Herdecke durchaus noch aus karlingischer Wurzel stammen und damit als "Sendemast" christlicher Spiritualität gedacht gewesen sein, der aber, aus welchen Gründen auch immer, unvollendet aufgegeben wurde. Wenn ich von karlingisch spreche, meine ich nicht die begrenzte Zeit Karls des Großen rt 814). Erst mit Ludwig dem Kind, der 911 in Regensburg beigesetzt wurde, endete die Herrschaft der Karlinger im Ostfrankenreich. Ich aktiviere damit erneut Klaus Langes Zeitrah- men für die Stiftskirche: 9. bis 11. Jahrhundert. Gesetzt den Fall, Kirche, Konvents- und Wirtschaftsgebäude gingen aus einer strategischen Befestigung hervor, dann stellt sich erneut die Frage nach der Bedeutung des Ortsnamens Herreke. Denn das Bestimmungswort Her- könnte unter dem hier vorgestellten Aspekt einer militärischen Station etc. durchaus das as. Wort her; 'Heer' eingebunden haben. Mit Gründen lehnte Paul Derks einen Erklärungs-Versuch Wolfram Mellinghaus ab, der daran dachte, dass Her- reke auf Menschen verweise, die in Reih und Ordnung das Ardeygebirge und

29 Einen Überblick über die Sachsenkriege bietet Angelika Lampen, Sachsenkriege, sächsischer Widerstand und Kooperation, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo Ill. in Paderbom, hg. von Christoph Stiegemann, Matthias Wemhof(Katalog der Ausstellung Paderbom 1999,3 Bde.), Mainz 1999, Bd. 1, S. 264-272. 30 Wilhelm Kohl, Bemerkungen zur Typologie sächsischer Frauenklöster in karolingischer Zeit, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift, hg. vom Max-Planck-Institut fur Geschichte, Göttin- gen 1980, S. 112-139; K. Lange, Stiftskirche (wie Anm. 8) S. 48.

54 die Ruhr überquerten. Die Idee mag aus Petermeises Überlegungen geboren sein, der nachdachte, ob Herdecke nicht "als Sam- melpunkt der fränkischen Streitmacht" eine Rolle gespielt haben könnte. Für Derks war indes nicht eindeutig, was das erste Wortglied im Namen Her- deckes bedeutet. Doch für das Grundwort reke- ver- weist er auf ein Appelativ aus der indogermanischen Zaun- und Hegesippe; mit- hin wären hier durchaus praxisgerechte Bauele- mente im Spiel, die (auch) zur Befestigung einer wie immer gearteten Schutz- oder Wehranlage genutzt Abb. 2: Chorhaupt der Herdecker Stiftskirche, wurden." Bauschicht III um 1230, mit Kleeblatt-Blendbogen und rundbogigen Fenstern, Mittelfenster überhöht. 1.4 uieus Brecheruuelde Im Giebel dreiflache Rundbogennischen mit Wieder- holung der Fenster-Anordnung; geöffnete Giebel- Ohne Legende und nicht spitze, darin Kreuz mit gleichlangen Armen. aus sakraler sondern aus Folo, W.G. Vogt,2008. bäuerlich-handwerklicher Wurzel gestaltete sich der Entwicklungsgang in Breckerfeld; auch lag die Keim- zelle nicht dort, wo sich heute als stadtbildprägender Mittelpunkt die gotische Basilika" erhebt. Vielmehr liegen die Anfänge in einer Quellmulde etwa 1000 m weiter südwestlich, wie der Siedlungsname Altenbreckerfeld signalisiert. Nach einem 1184 geschehenen Invokationswunder wird 1252 erstmals urkundlich eine Pfarre erwähnt; der Inhalt der Urkunde lässt ahnen, dass die Kirche schon etliche

31 P. Derks, Cenobium (wie Anm. 9), S. 208 ff. 32 Roland Pieper, Die Alte Pfarrkirche zu Breckerfeld. Eine architekturgeschichtliche Bestands- aufnahme, in: 1252-2002.750 Jahre Kirche in Breckerfeld, hg. vom Presbyterium der Evan- gelischen Kirchengemeinde Breckerfcld, Essen 200 I, S. 44-74, künftig zitiert als: Pfarrkirche Breckerfeld.

55 Jahre vorher existierte." Sie stand unter dem Schutz des HI. Jakobus, der Beginn des Kults ist unsicher," Die Identifikation mit diesem Heiligen, der im Schluss- stein der Vierung seinen Platz hat, sprang über auf die Stadt und das dortige Handwerk (1463 Patron der Schmiedegilde, 1464 Patron der Bäckergilde)." Graf Diderik von der Mark" tt 1398) verlieh Breckerfeld 1396 Stadtrecht;" Dideriks Bruder Gerhard (t 1461), der Teile der Grafschaft Mark an sich gerissen hatte, ließ hier auch unter machtpolitischen Perspektiven nach 1413 und vor 1418 Mün- zen schlagen." Kleriker, Juristen, Kaufleute und Handwerker aus Breckerfeld zog es immer wieder in die freie Reichsstadt Dortmund;'? zudem bekleideten sie seit dem 14. Jahrhundert hohe Funktionen in Köln, Soest, Lübeck, Dorpat, Riga oder . Ende des 14. Jahrhunderts etablierte sich in der Hansestadt Bre- ckerfeld eine florierende Stahlindustrie, deren Erzeugnisse, insbesondere Messer und Dolche, ihrer Qualität wegen weithin geschätzt waren.'?

33 Wilfried G. Vogt, Die urkundliche Ersterwähnung der Pfarre Breckerfeld im Jahre 1252, in: Pfarrkirche Breckerfeld (wie Anm. 32), S. 15-41. 34 Jakobus: Erster Apostel-Märtyrer, Festtag 25. Juli. Nach dem Neuen Testament ist Jakobus der Sohn des Zebedäus und der Maria Salome (Matthäus 27, 56). Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Johannes wurde er von Jesus zum Jünger berufen (Matthäus 4, 21). Als Attribut trägt er das Pilgerabzeichen am Hut sowie Wanderstab, Beutel und Flasche. 35 Dieter Scheler, Die Stadt Breckerfeld im Spätmittelalter, in: Märkisches Jahrbuch für Geschichte 104, 2004, S. 28-46, Anhang 2, künftig zitiert als: MJbG; Anton Meier, Geschichte und Urkundenbuch des Amtes Breckerfeld im Landkreise Hagen (Westfalen). Teil I, Brecker- feld 1900; TeilII, Hagen 1908,11, S. 179, Nr. 21. 36 Wilfried G. Vogt, Graf Diderik von der Mark - 1398 vor Elberfeld gefallen? Eine kritische Untersuchung seiner Grabplatte und ein Einwand zum angeblichen Sterbeort, in: BeitrDO 89 1998, S. 67-99. 37 A. Meier, Geschichte und Urkundenbuch (wie Anm.) 35, II; D. Scheler, Die Stadt Breckerfeld (wieAnm. 35),Anhang I. 38 Wilfried G. Vogt, Nije Brekerveldeschen penninge. Teil 1: Eckdaten und Werdegang der Stadt Breckerfeld auf dem Weg zur Münzstätte des "Grafen" Gerhard von der Mark, in: BT 2008/09, S. 5-22; Teil 2: MONETA BREKERVELT. Die Pfennigschläge aus der spätmittelalterlichen Münzstätte Breckerfeld, in: BT 2009/10, S. 9-23; Teil 3: Vierlinge und Hellinge, in: BT 2010/11 (im Druck). 39 1320 wird ein Richter Andreas de Brekelvelde erwähnt, der auch noch 1324 amtiert. Heinemann von Oldenbrekelvelde und seine Enkeltochter Cristine erwarben 1345 am Ostenhellweg ein Haus. Dortmunder Urkundenbuch, bearb. von Karl Rübel [11:und Eduard Roese J. Bd. I 1. 2. II I.2. Ergänzungsband I. Dortmund 1881-1910; Ergänzungsband, Nr. 549, 582; Nr. 803. 40 Dieter Scheler, Zunftkauf und Gewerbeentwicklung. Das Breckerfelder Stahlschmiedehand- werk im 15. und 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 88,1977179, S. 100-152; Wilfried G. Vogt, Ergänzende Quellen zur Geschichte der Stadt Breckerfeld. Teil I: Metallverarbeitung, in: BT 1997, S. 7-31; Wilfried G. Vogt, ... metten teckenen geteekent van dese vier marken. Breckerfelder Meisterrnarken in einem Stahl-Liefervertrag von 1546. Mit einem Blick in das Rechenbuch des Dortmunder Schreib- und Rechenmeisters Detmar Beckmann von 1622, in: MJbG 106, 2006, S. 114-126.

56 Zur bedeutendsten Persön- lichkeit des späten Mittelalters mit Wurzeln in Breckerfeld wurde der in Köln lebende und von dort handelnde Großkauf- mann und Bankier Gerwin von Altenbreckerfeld. Sein Reichtum war immens und - Dortmund war bei ihm hochverschuldet. Bei Ausbruch der Dortmun- der Finanzkrise in den Jahren 1398-1407 führte Gerwin vor dem Hofgericht König Rup- rechts einen Prozess gegen die Reichsstadt Dortmund wegen noch ausstehender Rentenforde- rungen in mittlerweile unbezahl- Abb. 3: Jakobus-Schlussstein in Breckerfeld. barer Größenordnung." 1407 Foto, W. G. Vogt, 2001. sorgte Gerwin mit der Dotierung eines Marien-Altars an der Breckerfelder Pfarrkirche für sein und seiner Fami- lie Seelenheil." Mit hoher Wahrscheinlichkeit befand sich sein Familienwappen am Schlussstein in der Vierung, womit seine persönliche Anwesenheit suggeriert wurde. Denn zwei heute stumme Wappenschilde flankieren dort den Kirchen- patron Jakobus; sie trugen nach meiner Überzeugung einst die Wappenbilder der finanzstarken und untereinander versippten Kölner (Breckerfelder) Familien Altenbreckerfeld und Epscheid. Ihre Wappen verstehen sich gleichsam als Stif- terinschrift: wem es erlaubt war, sein Wappen neben einen Apostel, Stadt- und Kirchenpatron anzubringen, der durfte auch darauf hoffen, dass sein Name und sein gottgefälliges Werk Aufnahme im himmlischen liber vitae fand.

2. Ferne fremde Zeit

Um die zeitliche Feme der hier zu behandelnden wunderbaren Genesungen von Herdecke und Breckerfeld besser fassen zu können, stelle ich zunächst einige ausgewählte historische Bauwerke voran, die uns heute als touristische Sehens-

41 Bemhard Diestelkamp, Dortmunds spätmittelalterliche Krise im Spiegel zweier Prozesse vor dem Königlichen Hofgericht (1403-1406), in: BeitrDO 80, 1989, S. 7-31. 42 A. Meier, Geschichte (wieAnm. 35), 11.S. 154, Nr. 5 zu 1407.

57 würdigkeiten wohl vertraut sind und "uralt" scheinen. Doch im Gegensatz zu uns schauten die Menschen a. 1183 und a. 1184 keinen Kölner Dom, wie wir ihn heute kennen, denn dieser wurde erst 1248 begonnen. Auch der Bau des Doms zu Münster geschah erst 1225 und in Paderbom ging man zwischen 1215 und 1230 ans Werk. Mit dem Bau des Altenberger Doms begann man 1259 und die Essener Stiftskirche, der heutige Dom, wurde als gotische Hallenkirche erst 1316 geweiht. Auch die Dortmunder Kirchen St. Reinoldi und St. Marien waren in ihrer heutigen Architektur so nicht präsent und mit dem Bau von St. Petri begann man sogar erst 1319. Von den frühen Sakralbauten der näheren Brecker- felder Umgebung sehen wir heute nur noch den Turm der Lüdenscheider St. Medardus Kirche und mit Überarbeitungen die Herdecker Stiftskirche; vielleicht baute man schon an der Kirche SS. Fabian und Sebastian in Elsey (Hohenlim- burg, Stadt Hagen), die überformt erhalten blieb. Von den I 183 und 1184 bereits vorhandenen Wehrbauten gelangten in unsere Zeit die kölnischen Lehn-Burgen Altena, Syburg? und Volmerstein sowie das novum cas/rum Burg a. d. Wupper; Altena und Burg kamen dabei als Rekon- struktionen des 19. Jahrhunderts auf uns, Syburg und Volmerstein als von den Märkern geschleifte Ruinen. Die Annonischen Wunder vollzogen sich in einer Zeit des territorial-poli- tischen Umbruchs. Es war der Beginn einer Epoche, in der sich völlig neue Dynastien auf den Weg machten. Denn die Teilung der Hauses Berg um 1160, aus der die Grafschaft Altena und aus dieser wiederum um 1175 die Grafschaft Isenberg hervorging, stellte die Weichen, die zur späteren Bildung einer Graf- schaft Mark und als Folge der Bluttat von 1225 am Gevelsberg'! auch zu einer Grafschaft Limburg führte, Was erfuhren die Bewohner Herdeckes und Breckerfelds von den Vorgän- gen "draußen in der Welt"? Ein Kommunikationsweg muss jedenfalls zwischen Siegburg/Köln und HerdeckelBreckerfeld bestanden haben, siehe oben, wie sonst hätte man von dem Wunderwirken Annos erfahren. Bestimmt wußten die Menschen auch, dass sich seit 1164 die in Mailand eroberten Gebeine der Heiligen Drei Könige in Köln befanden. Vielleicht sorgte Kar! der Große für Gesprächsstoff, der erst 1165 in Aachen heiliggesprochen worden war. Oder sprach man ehrfurchtsvoll von der populärsten und bedeutendsten Frau des Mit- telalters, der Äbtissin und Mystikerin Hildegard von Bingen, sie starb 1179? Mit ziemlicher Sicherheit war auch der Bruch zwischen Kaiser Friedrich I. Barbarossa und Heinrich dem Löwen ein Thema. Denn mit der Absetzung und Verbannung des Welfen (1 180) war der Kölner Erzbischof (hier erstmals PhiIipp

43 I. Bischoff, Der Weg (wie Anm. 24), S. 139-148; Wilfried G. Vogt, Das Wunderwirken Erzbi- schofEngelbert I. "in villa que Hagen vocatur", in: HagenBuch 2009, S. 149-160.

58 von Heinsberg 1167-1191) auch zum Herzog von Westfalen ernannt worden. Sicher blieb dies nicht ohne Folgen auch für die Menschen in Breckerfeld und Herdecke. Die wunderbaren Genesungen vollzogen sich somit wahrhaftig in einer femen und fremden Zeit.

3. Die Protagonisten göttlichen Wirkens

Von den rund 300 Wundertaten, die Gott durch Anno wirkte, greife ich hier auf die jüngeren Protokolle einer Siegburger Sammelhandschrift zurück, die, wie mein Arbeitstitel zeigt, auch von Genesungen in Herdecke und Breckerfeld berichtet;" betroffen davon waren mehrere Protagonisten. In vorderster Reihe steht der 33. Nachfolger auf dem Stuhl des HI. Matern, der siebte kanonisierte Bischof Kölns: Anno IL (1056-1075). Der um 1010 geborene Schwabe Anno entstammte der nichtadeligen Familie der Streußlin- gen, die es trotz ihres Standes vermocht hatte, binnen 80 Jahren drei Erzbischöfe und drei Bischöfe zu stellen. Zufrühest leistete der Emporkömmling wohl Ritter- dienste, 1046 war er Lehrer an der Bamberger Domschule, 1049 finden wir ihn am Domstift SS. Simon und Juda in . Von hier gelangte er in die Kanzlei Heinrichs IlL, der ihn 1056 zum Erzbischof von Köln ernannte. Auf dem Köl- ner Erzstuhl saß er bis zu seinem Tode 1075; zu seinen Gründungen gehören St. Georg und St. Mariengraden in Köln, die Michaelsabtei in Siegburg, Klo- ster Saalfeld in Thüringen und Kloster Grafschaft im . Anno war aber nicht nur Kirchenmann, als Reichspolitiker war er auch ein potenter politischer Faktor. Zu seinen spektakulärsten Aktionen zählt u. a. der von ihm angezettelte "Staatsstreich" von St. Suitberts Werth (1062) mit der Entführung des gerade sechsjährigen nominellen Königs Heinrich IV. nach Köln, des vorletzten Saliers, der mit seinem Gang nach Canossa (1077) in die Geschichtsbücher einging. Den Kölner Bürgern blieb Anno insbesondere dadurch in (un- )guter Erinnerung, dass er Ostern 1074 vor der rebellierenden Bürgerschaft nach Neuß floh;" als seine Gefolgsleute den Aufstand wenige Tage später niederschlugen, ließ er die Anführer züchtigen, scheren und blenden.

44 H.R. Fehlmann, Das Mirakelbuch (wie Anm. I). Herdecke: Nr. 65, Nr. 117; Breckerfeld: Nr. 230; M. Mittler, Libellus (wie Anm. I), Herdecke: I, c. 65, II c. 31; Breckerfeld: Ill, 59. 45 Im Annolied heißt es dazu verklärend: .Her niwurde mit gewefinin uze dir burg vinribin// Als Absalon willin/ivirtreib va/er sinin//Den vili gütin David', [... ]. 'Dass er wurde von einer bewaffneten ScharIlAus der Stadt verjagt, wie AbsalonllEinst David vertrieb, der schlechte Sohn/IDen guten Vater [... ]'. Johannes Rathofer, Das Annolied und Denkmäler der Dichtkunst, in: MonumentaAnnonis (wie Anm. I), S. 75-87, S. 83, XXXIX, v. 664-667.

59 Als Anno 1075 starb, wurde sein Leichnam nach einem unüblichen achttägigen Trauerspektakel seinem Wunsch entsprechend im Laienschiff der Abteikirche Siegburg vor dem Kreuzaltar bestattet. Der Platz sollte sicherstellen, dass alle Besucher jeder- zeit Zutritt zu seinem Grab erhielten. Erst im zweiten Anlauf wurde Anno zum Heiligen; bereits zu Anfang des 12. Jahrhunderts war ein eingeleiteter Kanonisations-Prozess aus unbe- kannten Gründen wieder aufgegeben worden. Treibende Kraft im neuen Abb. 4: Kölner Pfennig: Brustbild des Verfahren war der Siegburger Abt Kölner Erzbischofs Anno If. mit Stab und Gerhard, der 1181 zunächst den Kaiser liturgischen Gewändern. Umschrift zwi- aufsuchte und im Anschluss nach Rom schen Perlreihen: ANNO ARCHIE EP[i} reiste, um die Heiligsprechung erneut S[copus}: Grösse 20mm, Gewicht I,49g. in Bewegung zu bringen. Mit Erfolg: Privatbesitz. Foto, W. G. Vogt. zwei Legaten des Heiligen Stuhls erho- ben Anno am 29. April 1183 zur Ehre der Altäre. Doch erneut kam es zu Problemen mit Rom, denn diese nicht päpstlich autorisierte Kano- nisation wurde aufWeisung des greisen Urban Ill. (1185-1187) vor Ende November 1186 durch den Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg (1167- 1191) wiederholt. Annos Gebeineruhen seitdem in der Abteikirche Siegburg in einem hausförmigen Reliquienschrein, der wohl um 1175-1183 in der Werkstatt des Nikolaus von Verdun entstand und im Laufe der Jahrhunderte arg gefleddert wurde. Ein um 1105 entstandenes Annolied, ein frühmit- telhochdeutsches Epos, verherrlicht ihn in 876 Versen, sie feiern ihn als neuen Moses, der ins Paradies leiten soll.

Abb. 5: Die Miniatur zeigt den HI. Anno II. als figürliche I-Initiale zum Incipit des Trans- lationsberichtes. Seine zum Redegestus erhobene Hand und das Buch unterstreichen seine geistliche Autorität. Stadt- und Landesbibliothek Düsseldorf, Handschrift G 5fol. I Or.

60 Zu den lokalen Wunderprotagonisten, die in den Sog göttlicher Gnade gerieten, gehören in den hier zu schildernden Fällen auch eine Frau aus der Gegend u m Herdecke und einjunges Mädchen aus Herdecke, beide bleiben anonym. Anders gestaltet sich die Situation im uicus Brecheruuelde, hier kennen wir den Namen und den Beruf des Geheilten - es ist der Molinarius Eppechinus.

4. Die Anno-Mirakel in der (Lokal-)Forschung

4.1 Herdecke

Die rund 300 erfassten posthumen Wundertaten Annos künden vom aufblü- henden rheinischen Heiligenkult, von körperlichen Gebrechen, menschlichem Leid und himmlischen Geschehnissen; sie gehören zu den bekanntesten Wun- dererzählungen, die das Rheinland hervorbrachte. Die scripturale Aufbereitung des am locus sanctus Gehörten lag in den Händen eines anonymen Mönchs des Klosters Siegburg, der, vermutlich auf Betreiben seines Abtes Gerhard I. (1173-1185?), ab 1183 die miracula niederschrieb, die Gott zum Ruhme des 1075 verstorbenen Kölner Erzbischofs Anno n., des Gründers des Klosters auf dem Michaelsberg, wirkte." Dabei versichert der Schreiber auch mehrfach, dass sich weit mehr Wunder ereigneten, als er niederschreiben könne, ansonsten hätte man "damit eine großbändige Handschrift angefüllt". Schließlich verweist der Anonymus am Ende des dritten Buches ausdrücklich darauf, dass in der Gegend Westfalens "die Wunder Annos sehr berühmt geworden"; tatsächlich protokollierte er auch mehr als 30 Mirakel allein aus dieser Region. Dabei wer- den nicht alle Orte mit ihrem vollen Namen genannt, vielfach kommt es nur zur vagen topographischen Lageangabe "ex regione uuestfalium". Für das Gebiet der nachmaligen Grafschaft Mark liegen Wunderberichte aus Aitena, Brecker- feld, Halver, Herdecke und Valbert vor; an der via regis kam es zu wunderbaren Genesungen in Dortmund, Soest und Geseke.

Der Siegburger Codex besteht aus insgesamt vier libelli. Der erste libel/us ent- hält 92 Heilungsberichte, das für Herdecke relevante 65. Mirakel (fol. 31 v) ließ sich von der Forschung relativengmaschig ordnen, demnach wurde es zwischen dem 29. Juni und 1. August 1183 protokolliert. Damit verbunden ist die Er s t -

46 ZuAnno 11.von Köln siehejetzt Georg Jenal, Erzbischof Anno 11.von Köln (1056-75) und sein politisches Wirken. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichs- und Territorialpolitik im 11. Jahr- hundert. 2. Bde. Stuttgart 1974/75; Lexikon des Mittelalters. Bd. I, Sp. 666-668. München! Zürich 1980; MonumentaAnnonis (wieAnm. I).

61 er w ä h nun g einer geistlichen Institution in Herdecke "in regione Vestfalium iuxta cenobium Herreke"." Der Wunder nicht genug, schildern die Mirakel eine zweite Gesundung, die sich im cenobium ereignete, dabei wird auch zufrühest gesagt, dass es sich um einen Frauenkonvent (sanctimonialium) handelt," in dem bis zur Aufhebung (1811/12) mindestens 29 bezeugte Äbtissinnen den Ton angaben. Das zweite himmlische Wunderzeichen steht im zweiten Buch, es enthält 89 Einzelberichte, c. 31 (fo1. 55, 55v) und wurde zwischen dem 21. September 1183 und dem 14. Februar bis 31. März 1184 niedergeschrieben." Doch aus dem Kontext ergeben sich Schlussfolgerungen, wonach die Frauengemeinschaft schon mindestens 1181/82 existierte. Alle vor diesem Zeitpunkt gehandelten Herdecker Daten und Begebenheiten halten einer näheren Prüfung nicht stand."

Die Anno-Mirakel, die heute in der hier benutzten Fassung in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf" verwahrt werden, liegen ungedruckt seit 1963 (H.R. Fehlmann, Dissertation) sowie im Druck seit 1966-1968 (P.M. Mitt- ler) vor. Ungeachtet dessen übte sich die Herdecker Lokalforschung bei der Nut- zung dieser bedeutenden hagiographischen Quelle in schwankender Zurückhal- tung und dies, obwohl doch aus den Mirakeln die frühesten historiographischen Nachweise hervorgehen. Andererseits suchten Forscher-Generationen zäh aber vergeblich zu belegen, dass eine sagenumwobene Vrederun oder Frederuna als angebliche Verwandte Karls des Großen daselbst um 810 ein Kloster gegründet habe." Wie bereits erwähnt, wurden die Siegburger Wunderberichte von der Herde- cker Lokalforschung distanziert wahrgenommen. Die Auswirkungen sind nicht nur in heimatkundliehen Beiträgen ablesbar, sie hielten auch Einzug in die For- schungsliteratur. Fast scheint es, als läge die historische Messlatte für Herdecke festgenagelt bei a. 1214, wo doch aus Text und Kontext der Mirakel das Rad der

47 M. Mittler, (wieAnm. 1), I, c. 65. 48 Da für die Frühzeit Herdeckes keine Ordensgemeinschaft benediktinischer Observanz bezeugt ist, lässt sich für cenobium nicht automatisch ,Kloster' ansetzen, sondern auch ,Stift'; analog dazu kann sanctimonialis sowohl Nonne als auch Stiftsdame meinen. Dazu später mehr. 49 M. Mittler, (wie Anm. 1),11, c. 31. 50 OlafRose, Herdecker Chronik. ca. 450 Daten zur Geschichte der Stadt (Herdecker Hefte 4), Herdecke 1988, S. 3 f. 51 Universitäts- und Landesbibliothek (wie Anm. 1). 52 T. Schilp bemängelte zuletzt die kritische Distanz zum vermeintlichen Gründungszeitraum 810 auch in den Arbeiten Gerhard E. Sollbachs. Thomas Schilp, Norm und Wirklichkeit religi- öser Frauengemeinschaften im Frühmittealter. Die Institutio sanctimonialium Aquisgranensis Jahres 816 und die Problematik der Verfassung von Frauenkommunitäten (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 137, Studien zur Germania sacra 21, Göttingen 1998, S. 111.

62 Geschichte mühelos um gut drei Jahrzehnte auf immerhin 1181/82 zurückzu- drehen ist. Selbst in kleineren ortsgeschichtlichen Artikeln (seit 1969) kommt es nur zu einer aIlgemeinen Datierungsangabe "zwischen 1183 und 1187", ohne zu vermerken, dass es sich dabei n ich t um den individuellen, sondern lediglich um den durchgängigen Erfassungszeitraum aller Anno-Wunder handelt.

Vor nunmehr 40 Jahren wurde erstmals in der Herdecker Lokalpresse aufbeide Herdecker Mirakel aufmerksam gemacht, wobei das Geschehen (Edition M. Mittler) aus II c. 31 immerhin ungekürzt zitiert wurde." Der Artikel ist mit "P. H." signiert, mit hoher Wahrscheinlichkeit verbirgt sich dahinter die rüh- rige Herdecker Heimatforscherin Paula Habig. Ihre "Entdeckung" wertete sie allerdings auf bemerkenswerte Weise wieder ab: P.H. war nach eigenen Wor- ten enttäuscht darüber, dass diese Quellen "auch nichts Bedeutendes [sic!] über unseren Ort aussagen". Nichts Bedeutendes? Hier handelt es sich um die frü- hesten Herdecker Nachweise überhaupt, sieht man einmal von der Stiftskirche als baugeschichtliches Zeugnis ab. Von dieser Vorlage beflügelt stutzte 1977 Wolfram Mellinghaus beide Mira- kel gehörig und 1988 minimierte der Stadtarchivar Olaf Rose das barmherzige Geschehen auf nur noch eine Genesung (c. 65); dabei schrumpfte die Handlung erneut." Außerhalb dieses Umgangs gab es in der ferneren Forschungslitera- tur in Abständen immer wieder Hinweise auf diese erzählende Quellengattung; umfassend aufgegriffen und ausgewertet wurden sie für Herdecke dennoch nicht."

Doch auch die akademische Forschung vor Ort bemächtigte sich nicht entschlos- sen der Klosterhandschrift, es kam hier sogar zu einem zeitweiligen Rückschritt. Als Gerhard E. Sollbach 1990 einen kleineren Beitrag zur Gründung des Herde- cker Kanonikerinnenstifts veröffentlichte, sprach er die Mirakel in aller Kürze zunächst als früheste "urkundliche" Belege an. Allerdings erledigte er dies nicht, der herausragenden Bedeutung entsprechend, im Haupttext, sondern abgerückt inmitten einer vielzeiligen Fußnote. Zum erzählenden Wert der Mirakel erfährt der Leser dort kein Wort, ebenso unscharf bleibt seine Zeitstellung für diese

53 P.H. in der Hagener Westfalenpost vom 31. Oktober//I. November 1969 mit der irreführenden Überschrift: "Stiftskirche: Zeugnis aus karolingischer Zeit". 54 Wolfram Mellinghaus, Vom Siedlungsplatz zur Stadt (Herdecker Hefte I), Herdecke 1977, S. 11, 14; O. Rose, Herdecker Chronik (wie Anm. 50), S. 4, Nr. 17. 55 Paul Derks, Das Alter der Kirche S. Johannes in Kirchhellen. Ein überlieferungskritischer Versuch im Vergleich mit den frühen kirchlichen Verhältnissen in Gladbeck, in: Vestische Zeit- schrift 86/87, 1987/88, S. 29-53; P. Derks, "Cenobium Herreke" (wie Anm. 9), S. 207-223; P. Derks, Gerswid und Altfrid (wie Anm. 15), S. 107; K. Lange, Stiftskirche (wie Anm. 8), S. 18.

63 Abb. 6: Herdecke im Jahre 1765. Als Orientierungsmarke der Vergangenheit ;].. und Gegenwart wird die Stiftskirche , inmitten urbaner Bebauung situiert (siehe hierzujetzt Abb. 7, Gebäude A); markant sindferner Brücke, Straße, und Furt. Rechts neben der Stiftskirche ist die kath. Kirche angedeutet (siehe hierzu Abb. 7, Gebäude C), mit deren Bau man J 689 begann, 187/ niedergelegt. Bei dem Gebäude dazwischen (siehe hierzu Abb. 7, Gebäude B) dürfte es sich um die St. Annen-Kapelle und späteren refor- mierten Kirche handeln, 1875 niederge- legt. Wie dicht die Straße an der Kirche vorbeiführte, zeigt sich daran, dass 1695 wegen baulicher Mängel Strebepfeiler verbaut werden mussten, die aber den Straßenverkehr behinderten. Sie wurden von den Lutherischen niedergerissen. Bei dem Gebäude am Ende der Brücke könnte es sich um das bei von Steinen (S. 59) erwähnte Brückenthor handeln. Ausschnitt aus einem Plan der Herdecker und Ender Mark. Zeichnung von Arnold Dietrich und Henrich Wilhelm Nordhaus. Kopie, Heimatstube Herdecke; Original StA Münster.

"Urkunden" "Ende des 12. Jahrhunderts"." Dies ist so sicherlich nicht falsch, angesichts einer durch Mauritius Mittler herauspräparierten Feindatierung aller- dings bemerkenswert bieder, denn es ging doch, so jedenfalls Sollbachs Arbeits- titel, um die Gründung des Kanonikerinnenstifts und da hätten die frühesten "Urkunden" sicher mehr Anteilnahme verdient. Bereits ein Jahr später legte Sollbach eine ausgedehntere Untersuchung zum Frauenkonvent Herdecke vor. Verblüffend daran ist, dass die "urkundlichen" Belege nun überhaupt nicht mehr erwähnt werden! Ebenso fehlt jeder weiter- führende Hinweis auf die Mirakel-Bearbeitung durch Hans Rudolf Fehlmann bzw. Mauritius Mittler.>? Damit wurden die bislang frühesten Quellen zur "Geschichte des Damenstifts in Herdecke" mit Folgen verwischt, denn auch im 1992 erschienenen Westfälischen Klosterbuch sucht man sie (aus diesem Grund?) vergeblich. Wie nachhaltig die .Löschung" war, zeigt sich wohl daran,

56 G.E. Sollbach. Die Gründung (wie Anm. 3), S. 163-171, S. 165 A 6. Den Zeitansatz "Ende des 12. Jahrhunderts" wiederholte er 1999 in einer Fußnote. G. E. Sollbach, Stift und Dorfgemeinde (wie Anm. 3), S. 63-71, A 3. 57 G. E. Sollbach, Zum Nutzen (wie Anm. 3), S. 13-90.

64 dass Edeltraud Klueting sogar vom "Fehlen jegli- cher Nachrichten über das Stift Herdecke bis zum 13.Jh." spricht. Die Absage hat denn wohl auch tiefere Spuren hinterlassen, denn in der von Caspar Ehlers erarbeiteten Zusammenstel- lung von Stiften und Klö- stern, die immerhin einen Zeitraum bis 1024 erfasst, taucht Herdecke nicht auf." In einer 1995 erschie- nenen Publikation zum Leben in Märkischen Frau- enklöstern zieht Sollbach die Mirakel zwar wieder Abb. 7: Plan des Stifts Herdecke (1842), aus: hervor, allerdings fehlt P. Petermeise. Die Signaturen A, B, C wurden von weiterhin die längst be- mir eingebracht. A: Stiftskirche - B: kath. Kirche, 1689 begonnen, 1871 niedergelegt- C: romanische? kannte Feindatierung, auch Annen-Kapelle, später re! Kirche, 1875 abgetragen. ein vermittelnder Sachtext Siehe dazu auch Abb. 6. fehlt." Angesichts dieser schaukelnden Behandlung wird man den Herdecker Stadtvorderen wohl kaum einen Vorwurf machen kön- nen, dass "ihre" Anno-Mirakel selbst auf der offiziellen Internetseite der Stadt (Stand: September 2009) keinerlei Wertschätzung erfahren/"

58 WKb (wie Anm. 3), s. v, Herdecke, S. 401; C. Ehlers, Der helfende Herrscher (wie Anm. 4). Doch Ehlers Zeitrahmen bis 1024 hätte trotz aller Unsicherheiten dennoch erörtern können, ob Herdecke nicht doch karlingischer Gründung entsprach. Denn immerhin erwägt er ja auch für die Erfurter Gründung S. Petrus die Zeit um 1060. 59 G. E. Sollbach, Leben in Märkischen Frauenklöstern (wie Anm. 11), S. 14. 60 Die Wahrnehmung und Auswertung hagiographischer Quellen ist aber nicht nur in Herdecke getrübt. Auch in der Nachbarstadt Hagen, wo es an mittelalterlichen Sachzeugnissen mangelt und die Lokalforschung vor einer äußerst dünnen urkundlichen Überlieferung steht, ging man achtlos an zwei Wunderheilungen vorbei. Nach dem Zeugnis des Caesarius von Heisterbach hatte der HI. Erzbischof Engelbert I. (t 1225) als Fürsprecher bei Gott vor a. 1228 und vor a. 1237 Wunder gewirkt. Diesem Wunderwirken wurde auch von Gerhard E. Sollbach in einem jüngst erschienenen Aufsatz zur Hagener Stadtgeschichte nicht nachgegangen. G. E. Sollbach, Hagen im Mittelalter (wie Anm. 19), S. 73-126. Zum Überfall auf den Kölner Erzbischof Engelbert I. (t 1225) zuletzt I. Bisehoff. Der Weg in den Untergang (wie Anm. 24); zum Hagener Wundergeschehen W.G. Vogt, Das Wunderwirken (wie Anm. 43).

65 Abgesehen davon wird man sich nach Lage der Dinge in Herdecke von einigen lieb gewordenen aber längst überholten Geschichtsbildern zu trennen haben. Uta Kroischke sprach z. B. davon, dass in das Stift "nur adelige Frauen, die dazu noch unverheiratet waren, eintreten durften. Sie mussten ihren Adel bis in die Sechzehnerreihe nachweisen können."?' Doch dies ist eine müde Floskel, denn erstens weiß Kroischke nichts über die ständische Zusammensetzung Her- deckes in der Frühzeit zu sagen, immerhin geht sie von einem Gründungsjahr 819 aus ohne die wirtschaftliche Grundausstattung zu hinterfragen und zweitens übersah sie, dass schon Otto Schnettler die gesellschaftliche Zusammensetzung mit Hinweis auf von Steinen nur für eine nachmittelalterliche Selektion hielt.v Und die Zerbrechlichkeit der Herdecker Sechzehnerreihe zeigt sich, wenn man danach fragt, wie adlig z. B. ,,Anna Margareta Schade" oder .Janna Lucretia Wolf' (1609) waren. Auch bei näherer Durchmusterung eines Registers bei von Steinen dürften noch etliche weitere Kanonissen durch das Adels-Raster fallen. Provokant gefragt: wer hätte denn 819 16 adlige Vorfahren vorweisen können? Jedenfalls wird Edeltraud Klueting auch an jene nichtadeligen Stiftsdamen gedacht haben, als sie festhielt: "Vereinzelt sind auch Bürgerliche aufgenommen worden". Obendrein kennt von Steinens Äbtissinnenliste mindestens eine nicht dem 16er-Adel entstammende Äbtissin "Elisabet Schurrnann. Vrowe daselbst", Klueting ergänzt ,,(1422/1446)".63 An dieser Stelle ist noch bemerkenswert, dass die angeblich zweite bekannte Herdecker Äbtissin .Luitgardis" (126511272?) von Klueting als aus dem Hause Volmerstein stammend bezeichnet wird, wo doch bezüglich ihrer Identität bereits 1917 Robert Krumbholtz warnend bemerkt hatte, dass sie "urkundlich nicht zu belegen" sei und lediglich in Schnettlers Vermutung existiertl= Otto Schnettler rückte denn auch 1939 wieder davon ab.

Zuletzt sah Sollbach Herdecke nur als eine "Versorgungsanstalt" des umwoh- nenden Adels, der das Stift für seine ,,nicht standesgemäß verheiratbaren Töch- ter" nutzte.65 Die moderne Forschung betrachtet diese Sichtweise als unzulässige

61 Uta Kroischke, Die Herdecker Brücke und das Gasthaus 1410-1815 - Ein Beitrag zur Geschichte der kirchlichen Armenpflege, in: Zwischen Armenhaus und roter Ruhr. Von Gerhard E. Sollbach und anderen. (Herdecker Hefte 3), Herdecke 1980, S. 2-19, 4. 62 O. Schnettler, Herdecke (wie Anm. 3), S. 16, dazu 1.D. von Steinen, Westphälische Geschichte (wie Anm. 10), S. 14, § 1. 63 J.D. von Steinen, Westphälische Geschichte (wie Anm. 10), S. 34; 7; 73; WKb (wie Anm. 3), s.v. Herdecke, Pos. 2.2.2. 64 WKb (wieAnm. 3), s. v. Herdecke, Pos. 5.2; UB Volmerstein (wieAnm. 10), S. 58, Anm. XII. 65 So Sollbach in einem Artikel der WR Hagen, vom 3.7.2008, auch eingestellt im Internet: "Äbtissin Hedwig rettete Stift vor Ruin". Eine solche Darstellung suggeriert Endgültigkeit, die s 0 nicht stimmt. Und was bedeutet ,,nicht verheiratbar" oder ,,nicht standesgemäß"? Bekannt

66 Vermischung von Zeitebenen (Thomas Schilp). Es magja für das Spätmittelalter und danach so gewesen sein, dass der Versorgungs-Gedanke eine übergeordnete Rolle spielte. Daraus lässt sich jedoch keine allgemeinbildende Gültigkeit, ins- besondere für den vorgehenden Zeitraum, gewinnen, der heute kaum einsehbar ist. Dies will ich, unabhängig vom breiten Literaturangebot zu diesem Thema, aufgreifen und für Herdecke an zwei Beispielen demonstrieren. Im bereits erwähnten Anno-Mirakel 11 c. 31 von 1183/84 wird ein junges Mädchen im noch nicht heiratsfähigen Alter erwähnt, das schon seit zwei Jahren im Stift lebte. Aufgrund des Alters kann eine standesgemäße Verheiratung somit noch nicht erledigt gewesen sein. Und wenn man denn schon bei einem Stift von einer "Versorgungsanstalt" sprechen will, dann gewiss ni c h t mit der Warte- saalfonnel, sondern unter dem Aspekt der Versorgungs- und Bildungsanstalt. Gerd AlthofT bringt es auf den Punkt: er spricht davon, dass ,Junge Mädchen auf Zeit in diese Einrichtungen gingen, um dort erzogen und auch gebildet [!] zu werden, dann jedoch in die Adelswelt zurückkehrten, um zu heiraten. [... ] Verstarb der Gatte, zog sich die Witwe, wenn sie nicht wieder heiratete, erneut in eine solche Einrichtung zurück und verblieb hier bis an ihr Lebensende't/" Und dies nehme ich zum Anlass meines zweiten Beispiels. Denn für 1359 glaubt Schnettler eine Inngard von Wickede ausgemacht zu haben, die als Witwe! Stiftsdame in Herdecke war/" Zur oft überbewerteten sozialen Herkunft der Kanonissen später mehr. Wie oben bereits festgestellt, sah sich eine religiös lebende Frauengemein- schaft verpflichtet, im immerwährenden Gebet des Stifters und seiner Fami- lie über den Tod hinaus zu gedenken. Zudem spielte die Mitwirkung bei der Bildung und Festigung der neuen christlichen Lehre in Sachsen eine nicht zu unterschätzende Rolle." Letztlich erfüllten die Sanctimonialen auch caritative Zwecke.

In einem gut gestalteten und mit infonnativen Schilderungen angefüllten Pilger- führer, der 2008 in zweiter überarbeiteter Auflage erschien und in Etappen von Westfalen zum Jakobus-Wallfahrtsort" Santiago de Compostela begleiten soll,

sind Eintritte unter dem Vorbehalt der Rückkehr "ins Leben". Sollbach selbst kennt einen sol- chen Fall. G.E. Sollbach, Zum Nutzen (wie Anm. 3), S. 19. 66 Gerd Althoff Ottonische Frauengemeinschaften im Spannungsfeld von Kloster und Welt, in: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Mittelalter, hg. von Jan Gerchow und Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift 3), Essen 2003, S. 29-44, 31. 67 Otto Schnettier, Die Geschichte des Rittergeschlechts von Wickede in den Grafschaften Mark und Kleve, in: Jahrbuch des Vereins für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark 61, 1961, künftig zitiert als: JbVfOHM, S. 1-115, S. 63. 68 T. Schilp, Religiöse Frauengemeinschaften (wie Anm. 5), S. 9-17, 16. 69 Jakobus: Erster Apostel-Märtyrer, siehe dazu Anm. 34.

67 Abb. 8: Ältestes Herdecker Stifts-Siegel (1244, Replikat): die Gottesmutter als Herrin des Stifts. Umhüllt von einem weitär- meligen Mantel, dessen Schwere man hier und da ahnt, thront die Himmelskönigin in majestätischer Haltung. Das bereits große und mit einem Philosophengewand bekleidete Jesuskind sitzt schräg aufihrem linken Bein. Diese ikonographische Komposition der Stiftspatronin nimmt den byzantinischen Bildtypus der Hodegetria , Wegfiihrerin' auf, mit der Einschränkung, dass Maria hier nicht auf ihren Sohn weist, sondern in ihrer rechten Hand eine Weltkugel? als herrschaftliches Symbol hält. Die Häupter von Mutter und Kind sind von einem Nimbus umgeben. Wachs, 7cm; Umschrift, ohne Begrenzung zum Bildfeld, unten links beginnend: • SIGILLVM S[anJC[tJE MARIE IN HERREKE.7o wurde als zehnte Zwischenstation Herdecke aufgenommen. Bei der Vorstellung der Frühgeschichte dieser Pilgerstation reanimierte man die wunderbaren Gene- sungen so lau, dass man vom göttlichen Eingreifen lediglich den Zeitraum "erst um 1183/87" herausgriff; leider wurde das daran klebende Wundergeschehen komplett ausgeblendet. Nur wer die Herdecker Wunderberichte im Detail kennt, kann die Datierung auch thematisch zuordnen. Dabei hätte doch gerade aus dieser Veröffentlichung ein frommes und/oder wissbegieriges Pilger-Publikum die göttlichen Wundertaten gerne aufgesogen."

Die nahe Verwandtschaft zu den Siegeln des Kölner Kanonikerstifts St. Maria ad gradus, des Kölner Kanonissenstifts St. Maria im Kapitol, des Kölner Prae-

70 Dazu auch Die Westfälischen Siegel des Mittelalters. Ill. Heft, Münster 1889: Die Siegel der geistlichen Korporationen und der Stifts-, Kloster- und Pfarrgeistlichkeit, Tafel 115,6. 71 Ulrike Spichai, Horst Gerbaulet, Jakobswege. Wege der Jakobuspilger in Westfalen. Bd. 6, Köln 22008, hg. vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Mit Beiträgen von Volker Hone- mann und Comelia Kneppe, s.v. Herdecke, S. 193-203.

68 monstratenserinnenklosters Weiher und des Kölner Kanonikerstifts St. Aposteln machen wahrscheinlich, dass auch das Herdecker Stiftssiegel aus der Werkstatt eines Kölner Stempelschneiders stammt. Zumal Herdecke nach spätmittelal- terlicher Überlieferung als Tochtergründung des Kanonissenstifts St. Maria im Kapitol bezeichnet wird, dessen Statuten auch in Herdecke in Gebrauch waren."

4.2 Breckerfeld

Folgen wir den weiteren Kapiteln der Siegburger Klosterhandschrift, dann gelangen wir im dritten Buch mit 84 Heilungsberichten zum 59. Mirakel (fol. 87, 87v): zur "Geburtsanzeige" des Ortes Breckerfeld," anders gesagt: das Mirakel berichtet von einem folgenschweren "Arbeitsunfall". Das sich daran anschließende Mysterium wurde nach der hagiographischen Quelle im Jahre 1184 niedergeschrieben, textkritisch gesehen wird sich das Unerwartete bereits Ende 1183 zugetragen haben. Wie oben bereits angedeutet, wurde von den genesenden Protagonisten nur einer namentlich genannt: Eppekin. Als molinarius lebte er im uicus Brecheru- uelde, vielleicht tat er dies in wirtschaftlicher Selbständigkeit. Seine berufliche Tätigkeit mag unter Berücksichtigung der Überlieferung Hinweis darauf geben, dass Eppekin mit einem beträchtlichen technischen Verständnis ausgestattet war. Denn eine so komplexe Maschinerie wie eine Mühle mit Schaufelrad, Achsen, Lagern, Zahnkämmen, Triebstöcken und Mahlsteinen konnte nicht jeder bauen und ein solches Werk bedurfte zudem sorgfältiger Pflege; ausgerechnet bei War- tungsarbeiten kam es dann auch zum Unfall. Vielleicht war Eppekin vermö- gend, denn der Bau einer Mühle war eine kostenträchtige Angelegenheit. Daraus folgt, dass eine Mühle nur dort lukrativ betrieben werden konnte, wo genügend Menschen siedelten. Für die Technikgeschichte der Grafschaft Mark ist dieses Zeugnis eine willkommene frühe Quelle.

Von der Breckerfelder Ortsforschung wurde das Mirakel mit lebhaftem Echo aufgenommen - um es alsbald zu sezieren. Zunächst kam es zu Experimenten mit dem Namen des Müllers Eppechinus. Man meinte, der Personenname spiegele den heimischen Orts- und Bachnamen Epscheid, folglich habe Eppekin

72 Zu den Siegeln jetzt Rainer Kahsnitz, Imagines et signa. Romanische Siegel aus Köln, in: Omamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln. Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museums, Bd. 11.Köln 1985, S. 21...{j0;S. 47 D43; S. 50 D48a; S. 51 Tafel D51; S. 55 D55. 73 M. Mittler, (wie Anm. I), Ill, 59; Wilfried G. Vogt, 1184-2009.825 Jahre uicus Brecheruuelde. Die Erfahrung des Wunderbaren und das Zeugnis der Breckerfelder Ersterwähnung im Nachle- ben des Kölner Erzbischofs Anno II. (1056-1075), in: BT 2009/10, S. 25-31.

69 die Mühle in Epscheid bzw. am Epscheider Bach betrieben und damit hätte sich das Mirakel auch in Epscheid ereignet." Und obwohl Leopold Schütte zur Bedeutung des Wortes uicus ,vicus'längst eine bündige Antwort gegeben hatte, rieb man sich auch daran, denn seine Erklärung passte nicht ins Konzept. Hier ist genauer hinzuschauen. Zuerst zur Frage nach dem Standort der Mühle: Breckerfeld vs. Epscheid. Die Befragung des Quellentextes ergibt zweifelsfrei, dass das Mirakel vom uicus Brecheruuelde, von einem ,Ort Breckerfeld', berichtet - weder ist von Epscheid als Ort noch als Bach die Rede. Epscheid ist seiner Bauform nach ein Siedlungsname auf -scheid: 1314 apud EbscheydeP Der Mannsname Eppe- chinus mit der lateinischen Flexion -us ist dagegen die kölnisch-hochdeutsche Schreibung für altsächsisch Ebbekin mit Inlaut-Schärfung Eppekin; eine durch das i umgelautete Koseform zu dem gut belegten altsächischen Mannsnamen Abba, Abbi, Eppo." Zudem wurde übersehen oder unterdrückt, dass der Name Ebbekin für Breckerfeld schon wesentlich früher im Urbar des Werdener Ober- hofes Schöpplenberg bezeugt ist. Zu Mitte des 12. Jahrhunderts heißt es dort: De Lusberge Ebbekin 6 d. 'in Lausberg zinst uns Ebbekin 6 Pfennige'." Schlus- sendlich ist der Name Ebbekin auch in den Breckerfelder und Schwelmer Sied- lungsplätzen Ebbinghausen sowie im Hagener Ortsnamen Eppenhausen verfugt.

Mit dem Wort uicus jonglierte man so lange, bis man sicher war, daraus eine vorstädtische Marktfunktion getrieben zu haben. Doch im ulcus Brecheruuelde steckt das lateinische vicus ,Ortschaft, Straße und Gasse' unbestimmter Struktur und n ich t das altsächsische wik ,gehegte Siedlung', aus dem man nur zu gerne eine "Kaufmanns-Siedlung" treiben wollte. Zwar sind vicus und wik urverwandt, dennoch besteht kein Entlehnungs- Verhältnis. 78 Allerdings entsprach auch diese "Lösung" alsbald nicht mehr dem gewünschten Profil und die Wunderprotokolle wurden erneut geschüttelt. Jedes darin als uicus bezeichnete Gemeinwesen wurde nun auf die Existenz einer Kir- che befragt. Da offenbar in der Mehrzahl der Fälle in einem uicus auch eine Kirche stand, war abzusehen, dass auch in Breckerfeld um 1184 ein Gotteshaus gestanden haben musste. Doch dieser wenig beweisenden Sondierung bedurfte

74 A. Voss, Die Wunderheilungen (wie Anm. 2); L. Kuchenbuch (wie Anm. 2). 75 UB Volmerstein (wie Anm. 10), Nr. 292 zu a. 1315. 76 So bereits Prof. Dr. Paul Derks einem Vortrag im April 1997 in Breckerfeld; das Manuskript dazu befindet sich in meinen Händen. 77 Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr, hg. von Rudolf Kötzschke. Bd. A. B. Düsseldorf 2, 289. Hier ist wegen der Nachfolge-Überlieferung mit Gründen von Lausberg in Breckerfeld auszugehen. 78 Leopold Schütte, Wik. Eine Siedlungsbezeichnung in historischen und sprachlichen Bezügen, Köln Wien 1976.

70 es gar nicht, denn aus dem Kontext der urkundlichen Ersterwähnung der Pfarre Breckerfeld (1252) ließ sich mühelos eine solche Schlussfolgerung ablesen."

Im oben bereits erwähnten Pilgerführer zum galici- sehen Jakobus- Wallfahrts- ort Santiago de Compostela bleibt Breckerfeld auf der Etappe von Herdecke nach Hagen-Haspe im besten Wortsinn nur als "Abstecher" links liegen, obwohl dieser alte Jako- bus-Kultort seiner gut und fest bezeugten Jakobus- Tradition entsprechend, nachweislich als Zwischen- station auf dem Weg nach Santiago angelaufen wurde. Abb. 9: Nikolaus-Schlussstein im südlichen Wie Johann Diederich von Seitenschiff der Breckerfelder Jakobus-Kirche. 80 Steinen als letzter sicherer (Augen-)Zeuge schilderte, hinterließen die Jakobus-Pilger in der Brecker- felder Jakobus-Kirche ein typisches "Mitbringsel" vom spanischen Kultort, die Jakobsmuschel: "Daß sie [die Breckerfelder Kirche] dem S1. Jacob zu Ehren erbauet worden, weis man (wie denn noch dessen Bildnueß mit vielen Muscheln behangen, am Gewölbe zu sehen ist), nicht aber die Zeit, wenn es geschehen."!' Dieses Bildnueß am Gewölbe wird somit nichts anderes gewesen sein als der Schlussstein (siehe Abb. 3) in der Vierung der Basilika mit dem patronus prin- cipalis, der von den Besuchern bis heute bestaunt wird.

79 W.G. Vogt, Die urkundliche Ersterwähnung. in: Pfarrkirche Breckerfeld (wie Anm, 32), S. 15-41; zuletzt W.G. Vogt, Nije Brekerveldeschen penninge, in: BT (wie Anm. 38), S. 5-22. 80 Wi1fried G. Vogt, Die Konsolplastiken und Schlusssteine der Jakobus-Kirche. Gesichter aus der Vergangenheit - geschaffen für die Ewigkeit, in: Pfarrkirche Breckerfeld (wie Anm. 32), S.75-103. 81 J.D. von Steinen, Westphälische Geschichte (wie Anm. 10), 1II,XX. Stück, S. 1265..

71 Wie schon in Herdecke, so kam es auch für Breckerfeld nur zur unscharfen Datierung der Ersterwähnung im Pilgerführer, die ereignisreichen Umstände göttlichen Eingreifens wurden wiederum verschüttet. 82

5. Gottes rätselhafte Werke

5.1 Das Mirakel in der Nähe Herdeckes (1183)

Proklamiert wurde das Wunderbare im Zeitraum zwischen dem 29. Juni und 1. August 1183.83 Nach der Schilderung des Siegburger Anonymus ist davon auszugehen, dass es am Grab Annos in Siegburg geschah, wobei auch dort die physische Wiederherstellung der Geheilten festgestellt worden sein dürfte. Der für Herdecke entscheidende erste libellus enthält 92 Heilungsberichte, das 65. Mirakel (fol. 31 v) berichtet nach der Übersetzung des Editors: ,Ebenso rief eine Frau aus Westfalen in der Nähe des Klosters Herdecke den Namen und Schutz des gottgeliebten Bekenners Anno an, als sie den Ruf seiner Wundertaten vernahm. Sie war lange Zeit gelähmt und stets bettlägerig. Sie machte ihm folgendes Versprechen: Sie wolle, wenn sie auf seine Verdienste hin geheilt werde, mit einer Opfergabe barfuß zu seinem Grabe gehen. Kaum hatte sie die Worte ihres Gelübdes beendet, als sie sich plötzlich erneuert fühlte und wunderte, frei zu sein von aller Last früherer Schmerzen.' Es sei an dieser Stelle erneut daran erinnert, dass dieses Mirakel das fr ü - h est e historiographische Material zur Existenz einer religiösen Gemeinschaft in Herdecke enthält.

5.2 Das Mirakel von Herdecke (1183/84)

Die zweite Genesung lesen wir im zweiten Buch, es enthält 89 Einzelberichte, hier wurde das Wunderbare zwischen dem 21. September 1183 und dem 14. Februar bis 31. März 1184 niedergeschrieben," c. 31 (fol. 55, 55v) berichtet nach der Übersetzung des Editors: ,In Westfalen liegt ein Kloster namens Herdecke. Dort wurde ein Mädchen, wie es bei Nonnen (sanctimonialis) Sitte ist, aufgezogen; einer Verwandten wurde es anvertraut. Es geschah aber, dass es nach göttlichem Willen des Au- genlichtes beraubt wurde. Dadurch wurde die Nonne, unter deren Obhut es

82 U. Spichal, H. Gerbaulet, Jakobswege (wie Anm. 71), S. 208-210. Eine mögliche 3. Auflage sollte unbedingt auch die Mirakel aufnehmen. 83 M. Mittler, (wie Anm. I), I, c. 65. 84 M. Mittler, (wie Anm. I), 11,c. 31.

72 war, täglich von Angst und ...." ·;·~~:~~~7

Sorge gequält; denn schon ; :,:..,} zwei Jahre hatte es die Last der Blindheit getragen. Zu ihr war der Ruf von den Wunderzeichen des seligen und gottgeliebten Bischofs Anno gedrungen. Von großem Vertrauen erfasst, riet sie dem Mädchen, von nun an jeden Donnerstag zu Ehren des heiligen Anno Abstinenz von Fleisch und Fett zu halten. Es war damit einverstanden und machte ein Gelübde. Als es am ersten Donnerstag ge- fastet hatte und der zweite Donnerstag herankam, be- Abb. la: Westansicht der Stiftskirche mit gotischem kam es auf die Verdienste Maßwerkfenster und hölzernem Dachreiter, Zustand des heiligen Mannes hin um 1865?85 Vergleichejetztaberdas Foto bei K. Lange (um 1900), das im Gegensatz hierzu bereits das Augenlicht zurück. Es eine dreibahnige Fensteranlage mit 24! quadratischen wurde zum Kloster des Feldern zeigt." Nach den Forschungen K. Langes Heiligen gebracht, und in wurde der neuromanische Turm nicht erst 1908 son- Danksagung erfüllte es hier dern bereits 1901/02 vor die Westfront gestellt." andächtig sein Gelübde. '88

Zunächst zu den in den Mirakeln genannten Termini cenobium und sanctimo- nialis, die Fehlmann mit ,Kloster' und ,Nonne' auflöste. Dagegen betont Franz

85 Westfalica Picta, Bd. 11,Ennepe-Ruhr-Kreis, Märkischer Kreis/Stadt Hagen, bearb. von Jochen Luckhardt unter Mitarbeit von Kristin Püttmann, Bielefeld 1987, S. 155 f. 86 K. Lange, Stiftskirche (wie Anm. 8), S. 83. 87 K. Lange, Stiftskirche (wie Anm. 8), S. 128, A 66. Mit verspätetem Baudatum auch Georg Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Nordrhein-Westfalen, Il, Westfalen, bearb. von Dorothea Kluge und Wilfried Hansmann, MünchenlBerlin 1969, S. 217-219; ebenso U. Heimann, Ist die Stiftskirche (wie Anm. I), S. 8. 88 Zu diesem Mirakel gibt es eine nette Parallele: "Eine Nonne aus der Gegend der Westfalen, Felicitas genannt, wurde durch eine göttliche Geißel des Augenlichtes beraubt. Für die Wieder- herstellung ihrer Augen gelobte sie dem seligen Anno Fleischfasten, und bald erhielt sie die Sehkraft wieder. Wir kennen die Person und den Ort, damit ja nicht einer meine, es sei erdich- tet!" Zitiert nach H. R. Fehlmann, Mirakelbuch (wie Anm. I), Nr. 162.

73 J. Feiten, dass diese Begriffe, wenn sie denn ohne Spezifizierung bleiben, keine Rückschlüsse auf die Organisation der religiösen Lebensform erlauben. ceno- bium kann sowohl Kloster als auch Stift bedeuten, sanctimonialis Nonne oder Kanonisse." Thomas Schilp erinnert, auch an Mischformen zu denken, was für die Gründung Herdeckes (9.-11. Jahrhundert) durchaus naheliegend wäre." Somit wird man die Mirakel, trotz der darin auftauchenden Begriffe cenobium und sanctimonialis, nicht als Beweis für ein rein monastisches Leben in Her- decke heranziehen können. Nach bisherigem Erklärungsmuster entstammten Stiftsinsassinnen dem Adel, folglich könnte man auch im hier geschilderten Fall sowie im Kontext der angedeuteten verwandtschaftlichen Bindungen zwischen dem erblindeten Mäd- chen und der Sanctimonialen auf eine exklusive Herkunft schließen. Allerdings widerspricht hier Franz 1. Feiten und zeichnet ein völlig anderes Bild sozialer Herkunft. Nach seinen Befunden wurden in den Konventen von Stiften und Klöstern nie h t nur Frauen herausgehobener sozialer Herkunft, sondern auch "bürgerliche, arme, unedle Frauen, ja ehemalige Unfreie [... ] aufgenommen" .91 Schon Schilp hatte unter Bezug auf die Aachener Institutio von 816 darauf auf- merksam gemacht, dass die Äbtissin dafür Sorge zu tragen hatte, "daß allen qua- litativ und quantitativ gleiche Lebensmittel gereicht werden", was daraufhin- deutet, "daß neben den bekannten vornehmen Frauen in einer solchen Gemein- schaft auch durchaus ärmere aufgenommen werden konnten"." Wie ist nun aber die obige Mirakel-Bemerkung zu verstehen, das blinde Mädchen würde, wie es bei Nonnen Sitte ist, aufgezogen? Katrinette Bodarwe äußerte sich zum Verhältnis zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen dieser Gemeinschaften: "Neben den Sanctimonialen vonjungen Jahren bis zum höch-

89 Franz J. FeIten, Wie adelig waren Kanonissenstifte (und andere weibliche Konvente) im (frühen und hohen) Mittelalter?, in: Studien zum Kanonissenstift (wie Anm. 6), S. 39-128, S. 40ff. Dazu jetzt Raimund Kottje, Claustra sine armario? Zum Unterschied von Kloster und Stift im Mittelalter, in: Consuetudines Monasticae. Eine Festgabe für Kassius Hallinger aus Anlass eines 70. Geburtstages, hg. von J. F. Angerer und 1. Lenzenweber, Rom 1982, S. 125-144; Irene Crusius, Sanctimoniales que se canonicas vocant. Das Kanonissenstift als Forschungsproblem, in: Studien zum Kanonissenstift (wie Anm. 6), S. 9-38. 90 Zur Scheidung von Kloster und Stift und möglicher Mischformen Thomas Schilp, Die Grün- dungsurkunde der Frauenkommunität Essen - eine Fälschung aus der Zeit um 1090, in: Studien ZUm Kanonissenstift (wie Anm. 6), S. 149-183, 180. Auch W. Kohl betont, dass es im 9. Jahr- hundert zu keiner reinen Ausprägung, hier Frauenkloster, da Kanonissenstift, kam. W. Kohl, Bemerkungen (wie Anm. 30), S. 135. 91 Franz J. Feiten, Wie adelig (wie Anm. 89), S. 75. Siehe jetzt auch S. 53 mit dem Lob auf Norbert von Xanten, der Tausenden und Abertausenden "von Frauen, bäuerischen und armen, sehr vornehmen und reichen, alten und jungen, ein Leben in seinem Kloster ermöglicht habe". 92 T. Schilp, Religiöse Frauengemeinschaften (wie Anm. 5), S. 14; ders., Norm und Wirklichkeit (wieAnm. 52), S. 90f.

74 sten Alter und den Dienstleuten der Gemeinschaft befanden sich meist auch zahlreiche Kinder und Jugendliche in diesen Einrichtungen. Oft waren sie schon im Kleinkindalter der Äbtissin übergeben worden, entweder um fur immer im Konvent zu verbleiben, oder um dort gemäß dem religiösen Leben unterrichtet und aufgezogen zu werden." Die 816 erlassene Institutio sanctimonialium" sah deshalb vor, dass eine zuverlässige Magistra erwählt werden sollte, die für die Erziehungjunger Mädchen zuständig war. Nach der Beschreibung der Institutio war sie mehr als eine Lehrerin im heutigen Sinne, sie war Beziehungsperson, Erzieherin und sollte vor allem Vorbild mit untadeligem Lebenswandel sein.?" Die Bemerkung des Siegburger Hagiographen zur Dauer der Erblindung des Mädchens gestattet eine weitere Schlussfolgerung. Der Schreiber spricht davon, dass das Mädchen schon zwei Jahre die Last der Blindheit getragen habe; daraus ist zu folgern, dass auch der Frauenkonvent in Herdecke seit mindesten 1181/82 bestand! Bezüglich der dem Mädchen empfohlenen Abstinenz von Fleisch und Fett an einem Donnerstag zu Ehren des heiligen Anno handelte es sich zweifellos um ein zusätzliches Element körperlicher Kasteiung, da ja der Freitag der übliche Fastentag war. Die Entscheidung für den (Grün-)Donnerstag könnte dabei vom Letzten Abendmahl des Herrn (I. Kor. 11,23) beeinflusst worden sein."

5.3 Das Mirakel von Breckerfeld (1184)

Wie zuvor für Herdecke, so birgt auch die wunderbare Genesung des Müllers Eppekin das früheste historiographische Material zur Geschichte Breckerfelds. Proklamiert wurde das Unfassbare im Zeitraum zwischen März und Mai 1184 am locus sanctus - am Grab Annos in Siegburg.?? Mit einer Wallfahrt zum ceno- bium viri Dei erfüllte Eppekin sein Gelübde, dort übertrug ein Mönch seine physische Wiederherstellung in eine Mirakelsammlung. Der hier interessierende dritte libel/us weist 84 Heilungsberichte auf; die lebhafte Schilderung im c. 59 beginnt nach der Übersetzung des Editors mit den Worten: ,Nun, da wir das dritte Buch der Mirakelberichte des gottgeliebten Bischofs Anno beginnen, rufen wir die ungeteilte Dreifaltigkeit an, damit durch deren

93 Katrinette Bodarwe, Sanctimoniales litteratae. Schriftlichkeit und Bildung im ottonischen Essen, in: Herrschaft, Bildung (wie Anm. 5), S. 101-117. Für Herdecke siehe u.a.J, D. von Steinen, Westphälische Geschichte (wie Anm. 10), S. 19 § 10; 119, Nr. 3. 94 T. Schilp, Norm und Wirklichkeit (wie Anm. 52). 95 K. Bodarwe, Sanctimoniales (wie Anm. 93). 96 Am Mendeltag 'Gründonnerstag' hatte die Herdecker Äbtissin twelf aide arme Vrowen und eymejungen knechte hande und vote dwayn. J. D. von Steinen, Westphälische Geschichte (wie Anm. 10), S. 123. Dazujetzt T. Schilp, Norm und Wirklichkeit (wie Anm. 52), S. 97-99. 97 M. Mittler, (wie Anm. 1), III, 59.

75 Hilfe das Folgende den Lesern willkommen, den Hörern nützlich und den Ungläubigen glaubwürdig sei. [... ]. Das 59. Mirakel (fol. 87, 87v) kommt dann auf Breckerfeld zu sprechen: In der gleichen Gegend [gemeint ist Westfalen, denn das vorherige Wunder ereig- nete sich in Geseke] liegt der Ort Breckerfeld. Als dort ein Müller namens Eppe- chinus die Mühle, wie es üblich ist, mit Talg schmieren wollte und unter einem Rad stand, wurde er unglücklicherweise von dem unteren sich drehenden Rad erfasst und ihm Arm und Hand gebrochen. Das Fleisch wurde zerquetscht und der Arm hing nur noch mit einem kleinen Hautfetzen an der Schulter. Das Müh- lenwerk und seine Beschaffenheit kennen wir nicht, und so können wir den Her- gang des Unglücks nicht auf das Genaueste schildern. Die Größe des Unglücks vernahmt ihr, hört nun das Verdienst des Bekenners Christi. Nachdem der Mann sein Unglück bejammert hatte, begann er mit ganzer Anspannung seines Geistes die Hilfe und den Namen Annos anzurufen. Wozu sollen wir diesen Worten noch weitere hinzufügen? Nach der so häufigen Anrufung von Annos Namen began- nen sich die in der Mühle zerbrochenen Knochen auf göttliche Fügung hin durch ein staunenswertes und ungewöhnliches Wunder zusammenzufügen. Der Arm streckte sich und die Hand bekam ihre Gestalt wieder. Endlich war er völlig geheilt und kam zum Kloster des Gottesmannes, um das Gelübde zu erfüllen, wozu er sich verpflichtet hatte. Wir staunten, als er uns sein Unglück und sein Heil schilderte. An Arm und Hand sahen wir die Bruchnarben und lobten den Herrn, der solche Wunderzeichen wirkt. '98

Der technische Vorgang einer Mahlmühle besteht darin, die Kreisbewegung der waagerechten Radwelle über ein Getriebe aus Kammrad und Stockgetriebe auf eine senkrechte Achse zu übersetzen, die dann ihrerseits den Läuferstein zur Drehbewegung brachte. H. R. Fehlmann analysierte die Schilderung des Unfall- herganges und stellte unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Mühlentech- nik Untersuchungen zum Unfallhergang an. Demnach war das Schmieren von Zahnkämmen und Triebstöcken eine Arbeit, die täglich mindestens einmal zu wiederholen war und die Müller führten dies aus Zeitgründen offenbar gerne bei laufendem Betrieb aus: "Man hielt den Talg- oder Wachsklumpen einfach so,

98 Die Siegburger Sammelhandschrift kennt auch zwei Heilungen an Kleinkindern aus Luves- berg ,Lausberg' . Bereits vor Jahren habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hierbei n ich t um Lausberg in Breckerfeld handelt, wie Mittler meint, sondern um Lausberg in H a I- ver, wo Siegburg seit mindestens 1096 durchgängig begütert war. H. R. Fehlmann, Mirakel- buch (wie Anm. 1) ist sich bei der Zuordnung unsicher, im Ortsnamenverzeichnis (S. 77) legt er den Ort nach Altena, in einer Karte (S. 83) verlegt er ihn nach Breckerfeld.

76 dass die Kämme oder Stäbe an ihm vorbeistrichen. Dabei ••. L__ ,.h- i. ~ wuc.m rT.U1Onc; UJC.U$ fre> ; . ~ I1r.I - -".- I ist es leicht möglich, dass ein WI".I-uu:.Ult·d'aus._,¥J'ltJlaIlÜn.&n1lS Iba 'Jql~ Kamm den Rockärrnel erfasste cppcxhllws rwmut.C4dum COl: mDt"Ci nwlaufl und den Arm zwischen die IIwn (d,u u,.aun" Intla. ,VIi ,1At'a'!~,urruu Räder zog"." ltI'UITUfUOmfcnol" fVQ.d.umuolua-robl:t, Auf die Frage nach dem chlllm IJwulq: um .mpur.ui. Standort der Mühle wäre es C4JnfrcxJ~ c.u:- durchaus denkbar, in ihr jene lIoflll"IIpolua;.' UI.tq: J"'nu cumCUD:J p.&nr. zu sehen, die in einer Urkunde hum,," "VJ'ClllUm l7liu:baum rrn~ ISW. von 1407 zum neu eingerich- nun df; "PIlS ''''bill a;qu.&lu;ls rrwlcnduu! ex; teten Marien-Altar der Bre- IdaJ J4t U'~\"Cln cXYI,ma-c; ;; pgfJ"umus .;f' ckerfelder Pfarrkirche genannt 1"1CLmIl1n..w. ~"rxudJIW m.W~! ,.c. wird. Denn sie berichtet auch IIlCnlUJII .:lUdlt:cI .x-pi c.onfa1öns. ~17nW &1ki von Einnahmen in Höhe von I,,,,t; dqJ(.,löIDO"" ~OItO:u1Cm1S(Uf.'WQ. rims 12 Gulden ex molendino silo IItmtuPIlC' .lmUHUS Ju.rWt1 ttonÜf "Va;" prope BreckelueldeF" Diese IIId..",.II'(;' Ill:b "pus df; ucrfJas utrl1.L r~ A wird mit einiger Sicherheit am liaT •• ' U I1fl; ....", ("fW,;un wmuus.uuwruS . Steinbach, einem nach Westen "V pc.U.mo nö.fluJlmdo er; r.ms '~Imr "u

in die Ennepe entwässernden ~_ ••• <.. __ • _' ._ .. __J Bach zu suchen sein, worauf Abb. 11: Siegburger Handschrift. Universitäts- und ich bereits 1999 mit Gründen Landesbibliothek Düsseldorf, G 5. Ausschnitt zum hinwies.!" Der westfälischen Mirakel fol. 87: IN eadem regione est uicus Brell Mühlenforschung dürfte das eheruuelde dietus. Molendinarius ibi quidam// Mirakel von Breckerfeld damit eppechinus nomine [...]. ebenfalls eine willkommenes frühes Zeitdokument sein.

99' H.R. Fehlmann, Mirakelbuch (wieAnm. 1), S. 41-45, S. 44. 100 Der Kölner Erzbischof Friedrich genehmigt 1407 die Dotierung des Marienaltars in der Pfarrkirche zu Breckerfeld durch den Kölner Bürger, Bankier und Grosskaufmann Gerwin von Altenbreckerfeld. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter 11. 1401-1410 (Friedrich von Saarwerden), bearb. von Norbert Andernach. Düsseldorf 1992, zu 1407 Mai 1; Druck bei A. Meier, Breckerfeld 11(wieAnm. 35), S. 154-159, hier S. 155nachAbschrift vom Ende des 15. Jahrhunderts. 101 Wilfried G. Vogt, Standort und Ursprung der Breckerfelder Vikarienmüh1e von 1407, in: JbVfOHM 99,1999, S. 19-47.

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