_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ _ PÄDAGOGISCHE _ _ MATERIALIEN _ _ Nr. 03 _

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ _ Novemberpogrome 1938 _ _ „Was unfassbar schien, _ _ ist Wirklichkeit“ _

_

_

_ Dagi Knellessen

_ Mit einem Vorwort von Raphael Gross _

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Dagi Knellessen

_ Novemberprogrome 1938

_ „Was unfassbar schien, ist Wirklichkeit“

_ Lektorat: Britta Grell

_ Redaktion: Gottfried Kößler

_ Gestaltung: mind the gap! design

_

_ Pädagogische Materialien Nr. 03

_

_ Pädagogisches Zentrum des Fritz Bauer Instituts

_ und des Jüdischen Museums, Frankfurt am Main 2015

_

_ ISBN 978-3-932883-36-1

_

_ Verkaufspreis 10 €

_

_

_

_

_

_

_ Die Erarbeitung des Heftes wurde von der Stiftung CITOYEN gefördert.

_

_

_

_

_

_

_ Inhalt

_ /

_ Vorwort 3

_ Zum Heft 5

_ Arbeitsvorschläge 7

_

_ 1.

_ 1933 bis 1937 – Die deutschen Juden zwischen

_ Abwehr und Konzentration der Kräfte 8

_ / Antisemitischer Straßenterror und antijüdische Politik

_ im NS-Staat 8

_ / Facetten des deutschen Judentums 9

_ / „Unser Kampf für Deutschland“ – Reaktionen auf

_ die Machtübernahme der NSDAP 1933 11

_ / Die Folgen von ,Judenboykott‘ und ,Arierparagraph‘ 12

_ / Zusammenschluss – Gründung der Reichsvertretung

_ der deutschen Juden im September 1933 14

_ / Illusionäre Hoffnung trotz Entrechtung –

_ Nürnberger Gesetze 1935 16

_ / Existenzbedingungen unter den Vorzeichen von

_ Ausschluss und Entrechtung bis 1937 17

_ / Konzentration der Kräfte 18

_ / Jüdische Jugend 18

_ / Gehen oder bleiben? 21

_ Arbeitsvorschläge 23

_ Quellen 24

_

_ 2.

_ 1938 – Expansion des NS-Regimes.

_ Die Bedrohung für Juden im deutschen Machtbereich wächst 30

_ / Antijüdische Politik im Kontext der NS-Expansion 30

_ / Die Lage der deutschen Juden Anfang 1938 31

_ / Der ,Anschluss‘ Österreichs im März 1938 32

_ / Die Juni-Aktion – Erste Massenverhaftungen

_ von Juden im ,Altreich‘ 34

_ / Auswanderungszwang ohne Einwanderungsmöglichkeiten. Das

_ Scheitern der internationalen Flüchtlingskonferenz von Évian

_ im Juli 1938 37

_ / Pogromstimmung gegen Juden während der sogenannten

_ Sudetenkrise im Herbst 1938 38

_ / Deportation polnisch-jüdischer Arbeitsmigranten

_ im Oktober 1938 39

_ Arbeitsvorschläge 41

_ Quellen 42

1 Inhalt

_ 3.

_ Herschel Grynszpan – Die Geschichte eines

_ polnisch-deutsch-jüdischen staatenlosen Jugendlichen 49

_ / Das Attentat in Paris 49

_ / Reaktionen auf das Attentat 51

_ / Die Motive von Herschel Grynszpan 51

_ / Herschel Grynszpan in der Geschichtsschreibung nach 1945 52

_ / Biografie von Herschel Grynszpan 54

_ Arbeitsvorschläge 58

_ Quellen 59

_

_ 4.

_ Die Novemberpogrome 1938 64

_ / Entscheidung zum reichsweiten Pogrom am 9. November 1938 64

_ / Erste regional begrenzte Pogrome am 7. und 8. November 1938 66

_ / Der Schock des landesweiten Pogroms vom

_ 9. und 10. November 1938 68

_ / Gesamtverlauf der ‚Reichskristallnacht‘ 69

_ / Ablauf der Angriffe und Merkmale der Zerstörung 70

_ / Verhalten der nichtjüdischen Bevölkerung während der

_ Novemberpogrome 73

_ / Die Massenverhaftungen vom 10. bis zum 16. November 1938 76

_ / Bilanz von Zerstörung und Gewalt 79

_ Arbeitsvorschläge 80

_ Quellen 82

_

_ 5.

_ Die Fluchtwelle nach der Katastrophe 96

_ / Reaktionen der jüdischen Bevölkerung auf

_ die Novemberpogrome 98

_ / „[...] mehr und mehr Juden, wenn auch nicht alle,

_ suchten das rettende Ufer, gleichgültig wo es sich bot“ 100

_ / Die jüdischen Auswanderungsorganisationen 101

_ / Exilländer 101

_ / Die Kindertransporte nach Großbritannien 1938/39 103

_ / Die Fluchtwellen seit 1933 105

_ Arbeitsvorschläge 106

_ Quellen 107

_

_ Literatur 114

_

_

_

2 / Vorwort

_ Die Novemberpogrome im Jahr 1938 stehen für die ersten gezielten Ge-

_ waltexzesse gegen das deutsche Judentum im gesamten Deutschen

_ Reich. In aller Öffentlichkeit wurden Juden angegriffen, gejagt, gedemü-

_ tigt, verhaftet; alles, was jüdisch war, wurde zerstört. Die hasserfüllten

05 Attacken, an denen Teile der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung ak-

_ tiv beteiligt waren, erreichten ein bis dahin ungekanntes Ausmaß, sie

_ markieren somit eine Zäsur. Danach setzte unter den deutschen Juden

_ eine panikartige Fluchtwelle ein. Von nun an war in Deutschland nicht

_ nur ihre politische, wirtschaftliche und soziale Situation, sondern auch

10 ihr Leben bedroht. Für den NS-Staat war angesichts dessen, was wäh-

_ rend der Novemberpogrome möglich gewesen war, eine Schranke ge-

_ fallen. Jetzt wurden die Juden mit „beispielloser Rücksichtslosigkeit“,

_ wie Himmler es formulierte, enteignet und aus dem deutschen Macht-

_ bereich vertrieben. Antisemitische Visionen wurden direkt nach dem

15 Pogrom offen und in großem Einvernehmen in der NS-Führungsriege

_ diskutiert. Sie sollten sich als Vorboten eines Vernichtungsprogramms

_ erweisen, das nur drei Jahre später Realität wurde. Die Novemberpogro-

_ me bilden ein eigenes Kapitel nationalsozialistischer Judenpolitik. Für

_ die deutschen Juden stellen sie im Rückblick eine erste Katastrophe vor

20 der Katastrophe dar.

_ Der 9. November 1938 nimmt heute ganz zu Recht in der Geschichts-

_ schreibung, in den Schulbüchern und in der öffentlichen Auseinander-

_ setzung mit dem Nationalsozialismus einen historisch eigenständigen

_ und wichtigen Stellenwert ein. Weitaus weniger ist im öffentlichen Be-

25 wusstsein verankert, dass die deutschen Juden bereits ab 1933 in vie-

_ len Regionen des Deutschen Reiches oftmals gewalttätig angegriffen

_ wurden und Boykottaktionen ausgesetzt waren und dass dieser noch

_ unkoordinierte Straßenterror auch ein Motor war, der die gesetzlichen

_ Ausgrenzungsmaßnahmen des NS-Staates antrieb. Gewalt, Ausgren-

30 zungsterror und Boykott gehörten für die überwiegende Mehrheit der

_ deutschen Juden seit 1933 zur bitteren Alltagsrealität, die sich mit je-

_ dem Jahr verschärfte.

_ Eine neue Eskalationsstufe war 1938 erreicht. Mit der einsetzenden Ex-

_ pansion steigerten die nationalsozialistischen Machthaber den Terror

35 gegen den aus ihrer Sicht „jüdischen Feind im Innern“. Die antisemiti-

_ schen Ausschreitungen wurden gewalttätiger. Die politische Strategie

_ schlug um von der Ausgrenzung und Entrechtung hin zur systemati-

_ schen Beraubung, Verfolgung und Vertreibung von Juden. In der aufge-

_ heizten Gewaltatmosphäre des Jahres 1938 bot das Pariser Attentat

40 des jugendlichen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Bot-

_ schaftsangehörigen Ernst Eduard vom Rath vom 7. November einen

_ willkommenen Anlass, um gegen die „jüdische Verschwörung“ loszu-

_ schlagen. Die Angriffe begannen regional begrenzt noch am selben Tag,

3 Vorwort

_ gipfelten in der Nacht vom 9. auf den 10. November in einer reichsweiten

_ Gewaltorgie, der sogenannten Reichskristallnacht, und endeten verein-

_ zelt erst am 13. November. Zehntausende jüdische Männer wurden in

_ Konzentrationslagern in Haft genommen, gequält, gedemütigt und zur

05 Ausreise gepresst. Die Wucht der Zerstörung, das öffentliche Zelebrie-

_ ren der Gewalt und die Gleichgültigkeit, mit der die nichtjüdische deut-

_ sche Bevölkerung die brutalen Attacken hinnahm beziehungsweise an

_ ihnen beteiligt war, markieren auch das gewaltsame Ende der deutsch-

_ jüdischen Epoche, die mit der Aufklärung eingesetzt hatte. Das vorlie-

10 gende Heft stellt die Entwicklungen zwischen 1933 und 1938 aus der

_ Perspektive der deutschen Juden dar. Im Zentrum stehen ihre Reakti-

_ onen auf die nationalsozialistische antijüdische Gewaltpolitik, die mit

_ den Pogromen im November 1938 einen Höhepunkt erreichte, der trotz

_ der existenzbedrohenden Erfahrungen der vorangegangenen fünf Jahre

15 für die meisten nicht vorstellbar gewesen war.

_

_ Danken möchte ich an dieser Stelle vor allem Dagi Knellessen, der Auto-

_ rin dieses Heftes. Es ist ihr gelungen, das vielschichtige Thema in präzi-

_ ser und überzeugender Weise für ein junges Lesepublikum darzustellen

20 und dabei alle bisher bekannten Funde der historischen Forschung zu

_ berücksichtigen. Danken möchte ich auch Gottfried Kößler vom Pädago-

_ gischen Zentrum des Jüdischen Museums und des Fritz Bauer Instituts,

_ der die Publikation betreute. Der Stiftung Citoyen danke ich für die Un-

_ terstützung der Veröffentlichung.

25

_ Raphael Gross

_ (Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt

_ und des Fritz Bauer Instituts )

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

4 / Zum Heft

_ Das Heft nimmt aufgrund der ausdrücklich jüdischen Perspektive der

_ Darstellung eine eher ungewöhnliche zeitliche Periodisierung vor. Die

_ Phase zwischen der ‚Machtübernahme‘ der Nationalsozialisten 1933

_ und den Pogromen Ende des Jahres 1938 wird in fünf chronologische

05 Etappen eingeteilt. Kapitel 1 umfasst die Jahre 1933 bis 1937 und be-

_ schreibt im Schwerpunkt die Reaktion der deutschen Juden auf die zu-

_ nehmende Entrechtung durch den NS-Staat, die in direkter Verbindung

_ mit dem Straßenterror der SA stand. Kapitel 2 thematisiert die eskalie-

_ renden Angriffe auf Juden und die Radikalisierung der antijüdischen Po-

10 litik im Zuge der Expansionen im Jahr 1938. Kapitel 3 geht auf die Ereig-

_ nisse am 7. November 1938 in Paris ein, die das NS-Regime zum Anlass

_ für die Novemberpogrome nahm. Im Mittelpunkt steht die Geschichte

_ von Herschel Grynszpan, einem jungen deutsch-polnischen Juden, der

_ an diesem Tag in der Deutschen Botschaft in Paris ein Attentat verübte.

15 Die Novemberpogrome, die sich vom 7. bis zum 10. November im gesam-

_ ten Deutschen Reich ausbreiteten und sich gegen jeden Juden und jede

_ Jüdin jedweden Alters richteten, und der Schock, der damit verbunden

_ war, sind Gegenstand von Kapitel 4. Das letzte Kapitel des Heftes be-

_ schäftigt sich mit der Emigrationswelle, die nach dem Pogrom einsetzte

20 und die nur als eine panikartige Flucht zu beschreiben ist.

_ Eine auch in der historischen Forschung nach wie vor umstrittene Fra-

_ ge ist, mit welchem Begriff die Ereignisse Anfang November 1938 auch

_ nur annähernd erfasst werden können. Verwendet wird in diesem Heft

_ überwiegend der Begriff Novemberpogrome im Plural, der die Dauer

25 der Ausschreitungen, die sich über mehrere Tage hinzogen, betont und

_ deutlich macht. Die Begriffe ‚Reichskristallnacht‘ oder ‚‘,

_ deren Ursprung nur insoweit geklärt ist, dass sie nicht als euphemis-

_ tische Bezeichnung von den Tätern stammen, beziehen sich hingegen

_ ausschließlich auf den landesweiten Pogrom am 9. und 10. November

30 1938.

_ Wesentlicher Bestandteil dieses Heftes sind die Quellen, die fast aus-

_ schließlich die jüdische Perspektive auf die Verhältnisse und Entwick-

_ lungen vor, während und nach den Pogromen in Nazi-Deutschland wi-

_ derspiegeln. Zwei Quelleneditionen, aus denen überwiegend Berichte

35 ausgewählt wurden, sollen hier benannt werden, da sie aufgrund ihrer

_ zeitlichen Nähe zum Geschehen für die Annäherung an die geschichtli-

_ chen Ereignisse und ihre Rekonstruktion bedeutsam sind. Einen wich-

_ tigen Quellenbestand stellen die Augenzeugenberichte zu den Novem-

_ berpogromen dar, die von Alfred Wiener in dem von ihm gegründeten

40 Jewish Central Information Office in Amsterdam gesammelt und archi-

_ viert wurden. Der deutsch-jüdische Historiker und Publizist war ab 1919

_ als Jurist im Leitungsgremium des Centralvereins deutscher Staatsbür-

_ ger jüdischen Glaubens tätig. 1933 emigrierte er in die Niederlande, wo

5 Zum Heft

_ er in Amsterdam besagtes Informations- und Dokumentationszentrum

_ aufbaute. Eine Auswahl dieser frühen Augenzeugenberichte wurde 2008

_ von Ben Barkow, Raphael Gross und Michael Lenarz veröffentlicht. Zahl-

_ reiche weitere Quellen wurden aus den ersten beiden Bänden der um-

05 fassenden Quellenedition „Die Verfolgung und Ermordung der europäi-

_ schen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“

_ ausgewählt.

_ Zu den Novemberpogromen 1938 liegen einige didaktische Arbeitshef-

_ te mit einem allgemeingeschichtlichen und regionalspezifischen Bezug

10 vor. Die Ereignisse werden in diesen Materialsammlungen überwiegend

_ aus der Perspektive der Täter und anhand von Täterquellen dargestellt.

_ Ebenso wird in vielen der Lernhefte die Frage nach der Beteiligung der

_ nichtjüdischen deutschen Mehrheitsbevölkerung mit Quellenmaterial

_ und Aufgabenstellungen kritisch thematisiert. In diesem Materialheft

15 stehen dagegen die Einschätzungen, die Eindrücke, das Handeln und

_ die Reaktionen der großen jüdischen Organisationen, der jüdischen

_ Gemeinden und die Erfahrungen einzelner deutsch-jüdischer Protago-

_ nisten im Zentrum der Erzählung und der Dokumentation. Dabei war

_ ein wesentlicher Orientierungspunkt der Darstellung die Publikation

20 „November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe“ von Raphael

_ Gross.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

6 Zum Heft

Arbeitsvorschläge _ Die fünf Kapitel enthalten Basistexte und Quellen. Die Basistexte stel-

_ len grundlegende Informationen zum jeweiligen Zeitabschnitt vor. Sie

_ können direkt als Arbeitstexte an Schülerinnen und Schüler ausgege-

_ ben werden. Die zahlreichen Quellen, die für jedes Kapitel ausgewählt

05 wurden, sind zentraler Bezugspunkt der Basistexte und zugleich Ar-

_ beitsmaterialien, die geeignet sind, um sie auch ohne Verwendung des

_ gesamten Heftes quellenkritisch zu analysieren, historisch einzuordnen

_ und zu interpretieren. Am Ende jedes Kapitels werden unter der Über-

_ schrift „Arbeitsvorschläge“ die aus didaktischer Sicht zentralen The-

10 men zusammengefasst. Dort finden sich auch methodische Anregun-

_ gen. Diese sind allerdings nicht so formuliert, dass sie sich direkt als

_ Arbeitsaufträge für Schülerinnen und Schüler eignen.

_ Eine Unterrichtseinheit auf der Grundlage dieses Materialheftes könn-

_ te etwa so aussehen: Die fünf Kapitel können arbeitsteilig in Gruppen

15 bearbeitet werden. Das heißt, die darstellenden Texte der einzelnen Ka-

_ pitel sind jeweils separat verwendbar. Einzelne Abschnitte wiederholen

_ sich daher teilweise. Die Lernenden entwickeln anhand der Basistexte

_ und der Quellen ein eigenes Narrativ über ein Teilthema, dessen Linie sie

_ anhand der zentralen Eckpunkte auf Flipcharts visualisieren. Alle fünf

20 Arbeitsgruppen stellen im abschließenden gemeinsamen Plenum ihre

_ Ergebnisse, also ihre Narrative, vor und diskutieren das entstandene

_ Gesamtbild der Entwicklungen von 1933 bis zum Jahresende 1938.

_ Das Heft eignet sich auch als Grundlage für Präsentationsprüfungen;

_ ein weiterführendes Literaturverzeichnis am Ende des Heftes soll bei

25 weitergehenden Recherchen und Studienvorhaben behilflich sein.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

7 1. 1933 bis 1937 Die deutschen Juden zwischen Abwehr und Konzentration der Kräfte

_

_

_

_

Antisemitischer 05 Gewalt gegen die deutschen Juden setzte während der NS-Zeit nicht

Straßenterror und _ erst 1938 mit den Novemberpogromen ein. Sie hat eine lange und wirk- antijüdische Politik _ mächtige Vorgeschichte, die kurz nach der Machtübernahme der Natio- im NS-Staat _ nalsozialisten im Januar 1933 begann. Bis 1937 lassen sich zwei große

_ antijüdische Gewaltwellen ausmachen, die jeweils verschiedene Regi-

10 onen des Deutschen Reichs durchzogen: Die erste dauerte von Anfang

_ März bis Sommer 1933, das heißt, die Attacken begannen nach dem Er-

_ folg der NSDAP bei den letzten ‚demokratischen‘ Reichstagswahlen am

_ 5. März 1933. Die zweite zog sich von Januar bis August 1935 hin. Zum

_ Repertoire der Gewalttäter gehörten Boykotte, Blockaden und Plünde-

15 rungen jüdischer Geschäfte, Angriffe gegen Juden auf offener Straße,

_ in Kleinstädten die teils flächendeckende Zerstörung der Fenster von

_ Privatwohnungen, vereinzelt auch die Schändung von Synagogen. Die

_ Hauptakteure dieser immer wieder neu und regional aufflammenden

_ Gewaltexzesse kamen aus der militanten Basis der NSDAP, der Sturm-

20 abteilung (SA).

_ Parallel dazu heizte die NS-Führung die antisemitische Propaganda

_ weiter an und initiierte Aktionen gegen Juden wie etwa 1933 den April-

_ Boykott, den ersten landesweiten Boykott von jüdischen Geschäften.

_ Zudem verschärfte der NS-Staat sukzessive seine antijüdische Politik

25 auf gesetzlichem Weg. Die beiden entscheidenden gesetzgeberischen

_ Änderungen, die den deutschen Juden grundlegende Rechte entzogen,

_ sie mehr und mehr aus der ,arischen Volksgemeinschaft‘ ausgrenzten

_ und ihnen die wirtschaftliche Lebensgrundlage raubten, wurden 1933

_ in Kraft gesetzt. Dabei handelt es sich um das Gesetz zur Wiederher-

30 stellung des Berufsbeamtentums und den darin enthaltenen ,Arier­

_ paragraphen‘ (vgl. S. 12), 1935 folgten die sogenannten Nürnberger

_ Gesetze (vgl. S. 16). Das gleichzeitige Auftreten von offener Gewalt und

_ neuen Gesetzen war kein Zufall. Hier zeigt sich vielmehr, dass der soge-

_ nannte Radau-Antisemitismus der SA seit 1933 kein isoliertes Phäno-

35 men war, sondern immer wieder als Motor diente und die antijüdische

_ Politik des NS-Regimes vorantrieb.

_ Diese Entwicklung verlief jedoch aufseiten der nationalsozialistischen

_ Machthaber nicht ganz konfliktfrei. Teile der NS-Führung, vor allem

_ der NS-Sicherheits- und Polizeiapparat, lehnten die unkalkulierbaren

40 Gewaltausbrüche der Parteibasis ab. Die sogenannten Judenexperten

_ der Polizei und Gestapo (Geheime Staatspolizei) sowie des Sicherheits-

_ dienstes der SS (SD) setzten auf einen planmäßigen, gesetzlich veran-

_ kerten und umfassenden Ausschluss der jüdischen Minderheit aus der

8 1. 1933 bis 1937

_ deutschen Gesellschaft, um die ,restlose Auswanderung‘ der deutschen

_ Juden zu erzwingen. Zudem lösten die Übergriffe im internationalen

_ Ausland antideutsche Reaktionen aus. Sogar Boykottaufrufe gegen-

_ über dem Deutschen Reich wurden laut, wodurch der sensible Bereich

05 der deutschen Wirtschaft gefährdet war. In ihrer Zielsetzung lagen die

_ verschiedenen Fraktionen innerhalb der Partei und des NS-Machtap-

_ parates allerdings denkbar nah beieinander. Alle wollten ‚den jüdischen

_ Feind im Innern‘ durch Entrechtung, Ausschluss und Enteignung be-

_ kämpfen, bis die Juden das Land verlassen hatten. Nur was die Frage

10 der Umsetzung betraf, existierten bis 1937 noch erhebliche Differenzen.

_

Facetten des _ Wie groß war nun die jüdische Minderheit in Deutschland, von der die deutschen _ NS-Progaganda behauptete, sie würde die ,arische Volksgemeinschaft‘

Judentums _ bedrohen? Im Jahr 1933 lebten um die 500 000 Menschen jüdischen

15 Glaubens im Deutschen Reich, dies entspricht bei einer Gesamtein-

_ wohnerzahl von circa 65 Millionen einem Bevölkerungsanteil von knapp

_ 0,8 Prozent. Die Mehrzahl der Juden lebte in Großstädten, vor allem in

_ den jüdischen Metropolen Berlin und Frankfurt am Main; in Berlin hat-

_ ten sich allein fast 29 Prozent der jüdischen Bevölkerung niedergelas-

20 sen. 20 Prozent der im Deutschen Reich lebenden Juden hatten keine

_ deutsche Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen waren vor Pogromen aus

_ Osteuropa geflüchtet, oder sie waren Arbeitsmigranten, darunter polni-

_ sche, russische, österreichische und tschechoslowakische Staatsange-

_ hörige.

25 Im deutschen Judentum überwogen assimilierte Juden, die sich mit

_ den Grundsätzen der jüdischen Emanzipation identifizierten, also

_ der rechtlichen, politischen, religiösen und sozialen Integration und

_ Gleichstellung der jüdischen Minderheit in der christlichen Mehrheits-

_ gesellschaft. Diese Gleichstellung war seit 1871 im Deutschen Reich

30 verfassungsrechtlich verankert. Sie verstanden sich in erster Linie als

_ deutsche Staatsbürger, deren Glauben nicht evangelisch oder katho-

_ lisch, sondern jüdisch war. Dementsprechend stellten sich auch die Bio-

_ grafien der Jahrgänge kurz vor 1900 dar. Diese Generation war in assimi-

_ lierten Elternhäusern aufgewachsen, sie hatten als Deutsche im Ersten

35 Weltkrieg gekämpft und die Weimarer Republik politisch, kulturell oder

_ intellektuell mitgeprägt.

_ Dem immer wieder aufflammenden Antisemitismus trat die deutsch-jü-

_ dische Minderheit souverän entgegen. 1893 entstand der Centralverein

_ deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV). Allein die Namensge-

40 bung zeigt das Selbstverständnis der Gründer und Mitglieder als Deut-

_ sche und als Juden. Ziel der Organisation war es, die Rechte für Juden

_ selbstbewusst und kämpferisch in der Öffentlichkeit und gegenüber

_ Staats- und Regierungsstellen zu vertreten und antisemitischen Strö-

9 1. 1933 bis 1937

_ mungen mit konsequenter Aufklärung entgegenzutreten. Führende Per-

_ sönlichkeiten des CV waren der Jurist Hans Reichmann, dem 1927 der

_ Posten als ständiger Rechtsbeistand übertragen worden war, und Alfred

_ Wiener, der als Generalsekretär die CV-Zentrale in Berlin aufgebaut hat-

05 te. Der CV entwickelte sich neben den jüdischen Gemeinden zur größten

_ deutsch-jüdischen Organisation, am Ende der Weimarer Republik zähl-

_ te er 60 000 Mitglieder.

_ Auch wenn die assimilierten Juden – die sich nahezu vollständig vom

_ religiösen Judentum abgewendet hatten – die überwiegende Mehrheit

10 bildeten, stellten die deutschen Juden keine homogene Gemeinschaft

_ dar. Verschiedene Strömungen existierten, die jeweils sehr unterschied-

_ liche politische und religiöse Positionen vertraten. Es gab liberale Ge-

_ meinden, die zahlenmäßig am stärksten waren, aber auch konservative

_ bis hin zu orthodoxen Gemeinden. Letztere setzten sich vor allem aus

15 Ostjuden zusammen. Als politische Organisation war 1897 die Zionis-

_ tische Vereinigung für Deutschland entstanden, die nicht zuletzt auf-

_ grund der Erfahrung mit antisemitischer Verfolgung und Diskriminie-

_ rung die Gründung eines jüdischen Staates anstrebte; eine Position, die

_ bis 1933 wenig bedeutsam war. Die jüdische Minderheit in Deutschland

20 zeichnete sich also durch Vielfalt und Gegensätzlichkeiten aus. Das

_ anti­semitische Bild ,des Juden‘, das eine Grundlage der rassistisch-

_ nationalsozialistischen Ideologie war, stimmte noch nicht einmal im

_ Ansatz mit der Realität überein.

_

Alfred Wiener (geb. 1885 _ in Potsdam, gest. 1964 in _ London) in seinem Büro in London 1953. _

Der führende Repräsen- _ tant des Centralvereins _ deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens _ begründete 1933 im Exil in Amsterdam die erste _ Institution zur Dokumen- _ tation der Verbrechen des Nazi-Regimes, das _

Jewish Central Informa- _ tion Office. 1939 wurde das Archiv nach London _ verlegt und in Wiener _ Library umbenannt. _ © Wiener Libary _ © Wiener Library

_

_

_

_

_

10 1. 1933 bis 1937

„Unser Kampf für _ Der rasante politische Aufstieg Hitlers und der nationalsozialistischen

Deutschland“ – _ Bewegung Ende der 1920er Jahre wurde von den deutschen Juden mit

Reaktionen auf die _ Sorge registriert. Das aggressiv judenfeindliche Programm der NSDAP

Machtübernahme _ ebenso wie die frühen Angriffe auf Juden wurden jedoch vor dem Hin- der NSDAP 1933 05 tergrund antisemitischer Strömungen und Attacken gesehen, die in

_ vielen Ländern Europas, vor allem in Osteuropa, phasenweise erstarkt

_ und wieder abgeflaut waren. Zudem überwog die Erwartung, dass sich

_ die ,braunen Horden‘ in der ,Kulturnation‘ Deutschland nicht würden

_ durchsetzen können. So ordneten viele deutsche Juden die Wahler-

10 folge der NSDAP und auch die Machtübernahme 1933 als kurzlebigen

_ Aufschwung der rechten Bewegung ein. Eine rassistische Spaltung der

_ über 60 Jahre gefestigten deutsch-jüdischen Symbiose, das heißt, eine

_ Entwicklung, die Juden aus der Gemeinschaft der deutschen Bürger hi-

_ nausdefinieren und fundamental entrechten würde, war für die meisten

15 nicht vorstellbar.

_ Diese Haltung spiegelt sich in den Statements des Centralvereins im

_ März 1933 zur ersten antisemitischen Gewaltwelle, die direkt nach den

_ letzten ,freien‘ Reichstagswahlen am 5. März 1933 eingesetzt hatte. Auf

_ die Übergriffe hatte das internationale Ausland alarmiert reagiert, große

20 Zeitungen aus Europa und Übersee veröffentlichten äußerst kritische

_ Berichte. In den USA und Großbritannien formulierten vor allem auch

_ jüdische Organisationen öffentlich ihre Entrüstung. So organisierte der

_ American Jewish Congress Mitte März eine Protestkundgebung in New

_ York. Gewerkschaften in Großbritannien riefen zum Boykott deutscher

25 Waren auf, woraus eine Boykottbewegung entstand, an der vereinzelt

_ auch jüdische Organisationen beteiligt waren. Die NS-Presse griff die

_ internationalen Reaktionen sofort auf und kehrte die Verantwortung für

_ die Ereignisse um: Deutsche und ausländische Juden hätten eine an-

_ tideutsche Gräuelpropaganda initiiert, um die Staaten gegen das Deut-

30 sche Reich aufzuhetzen. Sie, die Juden, seien die Feinde im Innern, und

_ ebenso bedrohlich für Deutschland sei das internationale Judentum.

_ Unter Androhung von Pogromen forderten die Presseorgane der NSDAP

_ eine Stellungnahme der jüdischen Organisationen ein.

_ Der Centralverein konterte mit einer Presseerklärung, die am 30. März

35 1933 in seinem auflagenstarken Wochenblatt CV-Zeitung veröffent-

_ licht wurde. Unter dem programmatischen Titel „Unser Kampf für 1 _ Deutschland“ stellt der Verband die Gemeinsamkeit von deutschen Ju-

_ den und Nichtjuden heraus. (Quelle 1/1; Auszug aus der Presserklärung

_ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens vom

40 24. März 1933)

_

_

_ 1 CV-Zeitung, Berlin 12/1933, 13 (30.3.), S. 106 f.

11 1. 1933 bis 1937

Die Folgen von _ Einen Tag nach der Veröffentlichung der Presseerklärung, am 1. April

,Judenboykott‘ und _ 1933, waren Tausende jüdische Geschäfteinhaber, Rechtsanwälte und

,Arierparagraph‘ _ Ärzte mit der ersten staatlich organisierten landesweiten Aktion, dem

_ sogenannten April-Boykott oder Judenboykott, konfrontiert, der mit

05 teils gewalttätigen Angriffen und Plünderungen verbunden war. (Quelle

_ 1/2; Artikel aus The Times, London, vom 3. April 1933: „Juden werden

_ boykottiert. Szenen aus Berlin. Wirtschaft steht still. Lynchmordfall in

_ Kiel“)

_ Kaum eine Woche später, am 7. April 1933, setzte der NS-Staat das Ge-

10 setz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Kraft. Der dritte

_ Paragraph des neuen Gesetzes, der sogenannte Arierparagraph, schuf

_ die rechtliche Grundlage dafür, Juden aus dem Staatsdienst zu entlas-

_ sen. Durch die Einführung des Kriteriums der Rasse wurde ,deutsch‘

_ erstmals per Gesetz dezidiert als ,nichtjüdisch‘ definiert. Die seit 1871,

15 also über 60 Jahre, bestehende Rechtsgleichheit zwischen Juden und

_ Nichtjuden war damit aufgehoben. Jude zu sein war von nun an keine

_ individuelle Entscheidung der Einzelnen mehr, sondern eine Zuschrei-

_ bung, die der NS-Staat vornahm.

_ Die Folgen des Gesetzes waren für die so definierte jüdische Bevöl-

20 kerung gravierend, da nun ein Damm gebrochen war. Tausende ,nicht-

_ arische‘, also als jüdisch definierte Beamte, Angestellte und Arbeiter

_ im öffentlichen Dienst wurden entlassen. So waren beispielsweise die

_ meisten der 5.700 gekündigten Professoren Juden; an den Universitäten

_ wurden ganze Fachbereiche, Institute und damit auch Wissenschafts-

25 und Forschungszweige in die Emigration gezwungen. Eine Flut von wei-

_ teren Rechtsvorschriften, Verordnungen und Erlassen entzog jüdischen

_ Ärzten, Zahntechnikern, Rechtsanwälten, Patentanwälten, Steuerbera-

_ tern und anderen selbstständig Tätigen ihre Lizenzen. Ebenso nahmen

_ Berufs- und Standesorganisationen sowie Vereine wie etwa Sportverei-

30 ne und sonstige Zusammenschlüsse den ,Arierparagraph‘ in ihre Statu-

_ ten auf, das heißt, auch hier schloss man als Juden definierte Mitglieder

_ aus beziehungsweise entzog ihnen Mitwirkungsrechte.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

12 1. 1933 bis 1937

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Jüdische Sportler in Fulda 1935

_ Nach dem Ausschluss von Juden aus Vereinen aufgrund des sogenannten Arierparagraphen, der 1933 erlassen wurde, gründeten sich zahlreiche jüdische Sportvereine beziehungsweise _ die bestehenden Vereine erhielten großen Zulauf. Die Aufnahme ist vermutlich 1935 in Fulda _ entstanden. Die jugendlichen Sportler tragen als Emblem den sechszackigen Davidsstern auf ihren Hemden. Das Foto stammt aus der privaten Sammlung von Martin Löwenberg (unten _ Mitte); abgebildet ist auch seine Schwester (unten rechts im hellen Kleid). _ © Martin Löwenberg

_

_

_ Durch das Reichskulturkammergesetz vom September 1933 verloren

_ Juden ihre Anstellungen oder Engagements in den Bereichen Presse,

_ Rundfunk, Literatur, Theater, Musik, Film und Bildende Kunst, da sie in

_ den für diese Berufsgruppen neu gebildeten Kammern nicht zugelas-

05 sen waren. Auch der April-Boykott von 1933 wirkte sich langfristig aus.

_ Seitdem wurden immer wieder willkürlich regionale Boykottaktionen

_ durchgeführt, die jüdische Geschäftsbesitzer und Händler in ihrer wirt-

_ schaftlichen Existenz massiv gefährdeten und viele in den Ruin trieben.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

13 1. 1933 bis 1937

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Boykott von Geschäften jüdischer Inhaber am 1. April 1933 in Weilburg/Hessen, fotografiert von Mitgliedern der NSDAP. _ © Bergbau- und Stadtmuseum Weilburg _

_

_

Zusammenschluss: _ Die fundamentalen Angriffe auf nahezu sämtliche Lebensbereiche jü-

Gründung der _ discher Existenz machten bereits 1933 deutlich, dass ein Zusammen-

Reichsvertretung _ schluss aller jüdischen Gemeinden und Organisationen notwendig der deutschen _ war, um gemeinsame Interessen geschlossen nach außen zu vertreten

Juden im 05 und innerhalb der jüdischen Gemeinschaft die Kräfte zu bündeln. Am

September 1933 _ 17. September 1933 gründete sich die Reichsvertretung der deutschen

_ Juden. Das Führungsgremium setzte sich aus Vertretern des CV, der

_ orthodoxen und der liberalen Gemeinde Berlins und der zionistischen

_ Vereinigung zusammen; das heißt, alle Strömungen waren vertreten.

10 Präsident wurde der charismatische Rabbiner und Philosoph .

_ Der neue Dachverband formulierte drei zentrale Aufgabenbereiche, die

_ es zu unterstützen und zu fördern gelte: die jüdische Erziehung, den

_ wirtschaftlichen und sozialen Zusammenschluss der deutschen Juden

_ und die Auswanderung – und zwar ausdrücklich nicht ausschließlich

15 nach Palästina. Zudem forderte Leo Baeck auf einer Kundgebung kurz

_ nach der Konstituierung der Reichsvertretung die deutschen Juden auf,

_ die Augen vor den veränderten Lebensbedingungen nicht zu verschlie-

_ ßen. Von nun an müsse „um jedes Recht, um jeden Platz, um jeden 2 _ Lebensraum“ gerungen werden.

20 2 Günter Plum, Die „Reichsvertretung der deutschen Juden“: Gründung des Dachverbands in später Stun- _ de, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933–1945, München 1988, S. 65.

14 1. 1933 bis 1937

_ Die konkrete Arbeit der Reichsvertretung konzentrierte sich darauf, Dis-

_ kriminierung und Ausgrenzung zu dokumentieren, bei entsprechenden

_ staatlichen Stellen und Behörden Petitionen einzureichen, die verblie-

_ benen Rechte für Juden einzufordern und soweit als möglich bei gewalt-

05 tätigen Übergriffen und Boykotten zu intervenieren beziehungsweise

_ die Polizei zum Einsatz zu bewegen. Ein weiteres Gremium, das pers-

_ pektivisch an Bedeutung gewann, war der Zentralausschuss der deut-

_ schen Juden für Hilfe und Aufbau, der bereits im April 1933 gegründet

_ worden war und nun in die Reichsvertretung integriert wurde. Er orga-

10 nisierte Hilfeleistungen aller Art, wie beispielsweise Wirtschafts- oder

_ Winterhilfe, und baute Anlaufstellen auf. Auch und gerade in diesem Be-

_ reich sollten die Kräfte gebündelt und eine starke jüdische Selbsthilfe

_ geschaffen werden, da eine staatliche Unterstützung nicht mehr sicher

_ war.

15 Die Zusammensetzung des Leitungsgremiums der Reichsvertretung

_ verweist auf eine Veränderung innerhalb der verschiedenen jüdischen

_ Strömungen. Denn obgleich die Bedeutung der zionistischen Bewegung

_ in Deutschland bisher marginal war, wurden ihre Vertreter in den lei-

_ tenden Ausschuss gewählt. Neun Monate nach der ,Machtergreifung‘

20 hatte sich bereits abgezeichnet, dass die Kenntnisse und Erfahrungen

_ der Zionisten in allen praktischen Fragen der Auswanderung und ihre

_ internationalen Kontakte überaus gefragt waren. Denn die sich rapide

_ verschlechternden Lebensbedingungen und die Zunahme der gewalt-

_ tätigen Angriffe seit der ‚Machtergreifung‘ im Januar 1933 spiegelten

25 sich deutlich in den Auswanderungszahlen wider, die nach dem April-

_ Boykott sprunghaft angestiegen waren: Bis zum Jahresende hatten

_ 37 000 deutsche Juden ihr Land verlassen. Für diejenigen, die geblieben

_ waren, verschlechterten sich die Lebens- und Alltagsbedingungen von

_ Jahr zu Jahr.

_

_

_

_

_ Leo Baeck (geb. 1873 in Lissa/Preußen, heute Leszno/Polen, gest. 1956 in London).

_ Der Rabbiner, Humanist und moderne Theologe war einer der wichtigsten Vertreter der jüdi- schen Geistesgeschichte. Baeck prägte und symbolisierte die deutsch-jüdische Symbiose _ innerhalb des deutschen Judentums. Seit 1912 war er als Rabbiner in Berlin tätig, ab 1933 _ stand er als Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden vor. Der bedeutende jüdi- sche Repräsentant wurde 1943 mit seiner Familie nach Theresienstadt deportiert, wo er 1945 _ schwer krank und misshandelt befreit wurde. Danach ließ er sich in London nieder. Bis zu _ seinem Tod 1956 widmete er sich der Erforschung der Geschichte des deutschen Judentums und setzte sich für den christlich-jüdischen Dialog ein. _ © Leo Baeck Institute New York _

_

_

15 1. 1933 bis 1937

Illusionäre _ 1935 steigerten sich von Januar bis August erneut die öffentlichen An-

Hoffnung trotz _ griffe gegen Juden in verschiedenen Regionen des Reichs, sodass von

Entrechtung – _ einer zweiten Welle antisemitischer Gewaltakte gesprochen werden

Nürnberger _ kann. Jetzt waren vor allem Juden in Hessen, Unter- und Mittelfran-

Gesetze 1935 05 ken, im Rheinland, in Westfalen, Pommern, Ostpreußen und in Berlin

_ betroffen. In der Reichshauptstadt kam es zwischen Mai und Juli 1935

_ im Stadtzentrum, vor allem auf dem Kurfürstendamm, immer wieder zu

_ Übergriffen. Die Angriffe reihten sich in die sogenannten Kurfürsten-

_ dammkrawalle ein, die seit 1930 von radikalen Teilen der NS-Bewegung

10 immer wieder losgetreten worden waren. (Quelle 1/3; Artikel aus der

_ Neuen Zürcher Zeitung vom 16. Juli 1935: „Antisemitische Ausschrei-

_ tungen im Berliner Westen“)

_ Auf den Antisemitismus ,von unten‘ folgte mit dem Erlass der Nürnber-

_ ger Gesetze im September 1935 eine weiter verschärfte antijüdische Po-

15 litik ,von oben‘. Der Begriff der Staatsbürgerschaft war für die deutschen

_ Juden damit zur Farce geworden, denn sie waren von nun an jeglicher

_ politischer Rechte beraubt. Das sogenannte Blutschutzgesetz schrieb

_ das Kernstück der NS-Ideologie, die rassisch begründete Minderwer-

_ tigkeit von Juden, fest. ,Rassenschande‘ wurde als Straftatbestand

20 eingeführt. Die Entrechtung und der Ausschluss aus der ,arischen‘ Ge-

_ sellschaft drückten sich auch in der Zwangsumbenennung jüdischer

_ Organisationen aus. Die Bezeichnung Reichsvertretung der deutschen

_ Juden musste in Reichsvertretung der Juden in Deutschland geändert

_ werden, der CV hieß von nun an Centralverein der Juden in Deutschland;

25 deutsche Juden beziehungsweise ,deutsche Staatsbürger jüdischen

_ Glaubens‘ existierten nicht mehr.

_ Trotz dieser verschärften Ausgrenzung deuteten viele deutsche Juden

_ sowie die großen jüdischen Organisationen die Nürnberger Gesetze als

_ eine Art Kompromiss: Das NS-Regime habe seine antijüdischen Prokla-

30 mationen in einem ideologisch zentralen Kernbereich, der Entrechtung

_ deutsch-jüdischer Staatsbürger aufgrund ihrer ,Rassezugehörigkeit‘,

_ umgesetzt. Innerhalb dieses zwar stark eingeschränkten rechtlichen

_ Rahmens werde jedoch nun ein halbwegs sicheres kulturelles und wirt-

_ schaftliches Leben in Deutschland möglich sein. Die Hoffnung, dass

35 die Nürnberger Gesetze den deutschen Juden einen Minderheitensta-

_ tus garantieren würden, stellte sich jedoch als Illusion heraus. Deutlich

_ spürbar war vielmehr die Isolation innerhalb der ,arischen Gesellschaft‘,

_ die immer drastischer zunahm. (Quelle 1/4; Auszug aus einer Rede des

_ liberalen Berliner Rabbiners Joachim Prinz von 1935: „Das Leben ohne

40 Nachbarn“)

_

_

_

16 1. 1933 bis 1937

Existenzbedin- _ Die Folgen des ,Arierparagraphen‘ wurden für jüdische Erwerbstätige in gungen unter den _ den Jahren bis 1937 immer spürbarer. Von den Ärzten und Rechtsanwäl-

Vorzeichen von _ ten, die als Selbstständige auf staatliche Zulassungen angewiesen wa-

Ausschluss _ ren, konnte mehr als die Hälfte ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben. Das und Entrechtung 05 heißt, von 8 000 jüdischen Ärzten, die 1933 praktiziert hatten, arbeite- bis 1937 _ ten 1937 nur noch 3 300 in ihrem Beruf, von 4 000 Rechtsanwälten nur

_ noch knapp 2 200. Die Anzahl der arbeitslosen jüdischen Arbeiter und

_ Angestellten betrug Ende 1937 zwischen 30 000 und 40 000. Die größte

_ Gruppe der jüdischen Berufstätigen, nämlich 61 Prozent im Jahr 1933,

10 war im Handel und Gewerbe tätig, das heißt, jeder Zweite verdiente da-

_ mit seinen Lebensunterhalt. Insbesondere für diese Gruppe verschärfte

_ sich 1936/37 die ökonomische Situation durch den Erlass einiger dis-

_ kriminierender Wirtschaftgesetze wie Sondersteuern und -abgaben für

_ Juden. Auch nahmen in diesen Jahren in verschiedenen Regionen die

15 Boykotte wieder zu. Vor den Geschäften jüdischer Einzelhändler zogen

_ erneut bedrohlich SA-Posten auf. Auf dem Land wurden jüdische Vieh-

_ händler von den Märkten vertrieben. Jüdische Produzenten erhielten

_ keine Lieferungen von Zwischenhändlern mehr. Rohstofflieferungen an

_ jüdische Unternehmen wurden von den NS-Behörden begrenzt. Immer

20 mehr jüdische Einzelhändler und Unternehmer gerieten in eine existen-

_ zielle ökonomische Krise, sodass sie zum Verkauf oder zur Geschäfts-

_ aufgabe gezwungen waren. (Quelle 1/5; Augenzeugenbericht eines

_ deutsch-jüdischen Geschäftsinhabers, vermutlich aus Treuchtlingen/

_ Franken, Teil 1)

25 Diese Entwicklungen führten zu einem Prozess der schleichenden

_ ,Arisierung‘. Arische Konkurrenten nutzten den Druck der finanziellen

_ Notsituation und erlangten die Überschreibung der angeschlagenen

_ Geschäfte und Betriebe zu einem Spottpreis. Von 100 000 jüdischen

_ Unternehmen, Betrieben und Einzelhandelsgeschäften, die 1933 in

30 Deutschland existiert hatten, mussten 1935 etwa 25.000 schließen und

_ ihre Angestellten entlassen. Für immer mehr Berufstätige stand also

_ eine berufliche Umorientierung an. Eine Neuanstellung war Ende 1937/

_ Anfang 1938 jedoch fast nur noch bei jüdischen Arbeitgebern möglich,

_ die aber finanziell nicht mehr dazu in der Lage waren, mehr Menschen

35 in Arbeit zu bringen. Ersparnisse konnten die krisenhafte Situation eine

_ Zeit lang überbrücken, ebenso der Umzug in kleinere Wohnungen. Doch

_ bald waren immer mehr deutsche Juden auf Unterstützung angewiesen.

_ Zeitgleich mit der steigenden Arbeitslosigkeit und dem wirtschaftlichen

_ Abstieg wurden 1935 die staatlichen Sozialleistungen für Juden ge-

40 kürzt. Die Organisationen der jüdischen Selbsthilfe waren nun dringend

_ notwendig.

_

_

17 1. 1933 bis 1937

Konzentration _ Die Reaktionen der jüdischen Organisationen auf den ansteigenden der Kräfte _ Druck seit 1933 lassen sich folgendermaßen skizzieren. Die jüdische

_ Selbstorganisation wurde massiv vorangetrieben, das heißt, Wohl-

_ fahrtspflege, Wirtschaftshilfe, Rechtsberatungen und das gesamte

05 Sozialwesen wurden ausgebaut. Der innere Zusammenhalt wurde ge-

_ stärkt, was sich vor allem im Bereich des jüdischen kulturellen Lebens

_ zeigte. Zahlreiche jüdische Kulturbünde entstanden, jüdische Verbän-

_ de wie Sport- und Jugendvereine wurden neu gegründet und erlebten

_ großen Zustrom. Ein weiteres Phänomen war die Landflucht der jüdi-

10 schen Bevölkerung, da der soziale und ökonomische Druck in kleinen

_ Dörfern größer war, was zur Auflösung zahlreicher jüdischer Landge-

_ meinden führte. Lebten Mitte 1933 noch 130 000 Juden in kleinen Ge-

_ meinden mit weniger als 500 Einwohnern, so waren es Ende 1937 nur

_ noch 50 000; ein Rückgang also von mehr als 60 Prozent. Das Leben

15 in den großen Städten war zum einen anonymer, zum anderen exis-

_ tierte hier ein umfassendes soziales und kulturelles jüdisches Leben,

_ und jüdische Hilfsorganisationen waren erreichbar. Hier konnte man

_ zusammenrücken.

_ Zudem zeichnete sich in den ersten Jahren nach 1933 immer deutlicher

20 eine Verschiebung innerhalb der jüdischen Strömungen ab. Die zionis-

_ tische Option der Auswanderung nach Palästina rückte für viele, vor al-

_ lem für junge Juden, immer näher. Die Mitgliedszahlen der zionistischen

_ Organisationen stiegen von 7 000 im Jahr 1932 auf 22 000 im Jahr 1935.

_ Ebenso wuchs die zionistische Jugendorganisation Hechaluz (der Pio-

25 nier): von 5 000 Mitgliedern 1933 auf 16 000 im Jahr 1935. Einen ganz

_ besonderen Stellenwert in allen jüdischen Organisationen nahm die

_ geistige und körperliche Erziehung, Ausbildung und Stärkung jüdischer

_ Jugendlicher ein. Sie waren die Hoffnungsträger.

_

30

Jüdische Jugend _ Jüdische Kinder und Jugendliche waren seit Januar 1933 der zuneh-

_ mend feindlicher werdenden antisemitischen Stimmung nicht nur auf

_ den Straßen, sondern vor allem auch in den Schulen ausgesetzt: Mit-

_ schüler wendeten sich ab, Freundschaften wurden aufgekündigt. Jüdi-

35 sche Schüler wurden vom Schwimmunterricht, von Klassenausflügen

_ und -fahrten ausgeschlossen. Sie wurden alltäglich durch die Sitzord-

_ nung isoliert, von Lehrern diskriminiert und verhöhnt. Schlägereien

_ waren sie schutzlos ausgesetzt. Und schließlich waren sie mit einem

_ zusehends rassenideologisch eingefärbten Lernstoff konfrontiert. Für

40 viele entwickelte sich der Schulalltag zum schier unerträglichen Spieß-

_ rutenlauf. Durch das Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen

_ und Hochschulen vom April 1933 reduzierte sich die Anzahl der jüdi-

_ schen Schüler an öffentlichen Schulen immer mehr. Die Reichsver-

18 1. 1933 bis 1937

Jüdische Jugendliche in der Hachschara in Grüsen/Hessen. Die 20 bis 30 Teilnehmer eines Lehrgangs bewirtschafteten die Felder der ansässigen jüdischen Landwirte; untergebracht waren sie in der Gastwirtschaft von Jakob Marx. Das Foto vor dem Wohnhaus der Familie Marx entstand während eines Besuches des „Shaliach“ Boris Eisenstaedt (vorne, Mitte), einem Gesandten aus Palästina. © Rudi Barta

_ tretung und die jüdischen Gemeinden trieben daraufhin die Gründung

_ jüdischer Schulen voran, die zwar den Schulbehörden unterstanden,

_ jedoch zunächst relativ frei agieren konnten. In den meisten der assi-

_ milierten Elternhäuser war der Besuch von jüdischen Schulen vor 1933

05 gar nicht in Erwägung gezogen worden, nun wurden sie zur einzigen und

_ letzten Option. So besuchten Ende 1933 von 60 000 schulpflichtigen

_ jüdischen Jugendlichen nur 15 000 jüdische Schulen. Ende 1937 hat-

_ te sich die gesamte Schülerzahl durch die Emigration auf 39 000 redu-

_ ziert, davon waren jetzt über 60 Prozent, nämlich 23 670 Jugendliche,

10 an jüdischen Schulen.

_ Drastischer noch sah der Ausschluss an den Universitäten aus. Gab es

_ im Jahr 1932 noch 4 000 jüdische Studenten, waren zwei Jahre später

_ nur noch 656 an Universitäten eingeschrieben. Der Weg zum Studium

19 1. 1933 bis 1937

_ war jüdischen Jugendlichen nach dem Schulabschluss also faktisch

_ versperrt. Ebenso sanken die Chancen, eine Berufsausbildung begin-

_ nen zu können, von Jahr zu Jahr. ,Arische‘ Betriebe kamen nicht infra-

_ ge, da keine Ausbildungsplätze an Juden vergeben wurden. Die durch

05 die schleichende ,Arisierung‘ und die Liquidierungen verursachte Krise

_ der jüdischen Wirtschaftsunternehmen schränkte auch hier die Ausbil-

_ dungsmöglichkeiten erheblich ein. Die schwer zu ertragende Perspektiv-

_ losigkeit verschärfte sich erheblich, als nach dem Erlass der Nürnberger

_ Gesetze 1935 der Druck zur Auswanderung stieg: Eine Berufsausbildung

10 war für jüdische Jugendliche unabdingbar, um überhaupt auswandern

_ zu können. Und ein handwerklicher Beruf war die wichtigste Vorausset-

_ zung, um ein Visum für ein Land in Übersee oder in Palästina zu ergat-

_ tern. Eines der vorrangigen Ziele der Reichsvertretung war von nun an die

_ Einrichtung von kollektiven Auswanderungslehrgütern und Werkstätten

15 (Hachschara), wo Jugendliche eine handwerkliche, landwirtschaftliche

_ oder hauswirtschaftliche Ausbildung erhielten.

_ Ganz erhebliche Unterstützung erhielt die Reichsvertretung hierbei

_ von den in Auswanderungsbelangen erfahrenen zionistischen Organi-

_ sationen in Deutschland und ihren Jugendverbänden Schomer Hazair

20 und Makkabi Hazair sowie dem Palästina-Amt der Jewish Agency, der

_ Vertretung der jüdischen Einwanderer in Palästina, und der internatio-

_ nalen zionistischen Organisation Hechaluz. Bis 1937 waren 35 Ausbil-

_ dungsbetriebe aufgebaut worden, die – von einigen wenigen Ausnah-

_ men abgesehen – unter zionistischer Leitung standen. Im September

25 1938 gab es bereits 94 sogenannte Hachschara-Stätten. 5 520 jüdische

_ Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren bereiteten sich hier auf die Ali-

_ ya vor, also auf die Auswanderung und das künftige Leben in Palästina.

_ Zudem war es ein ganz wesentlicher Aspekt, das jüdische Selbstbe-

_ wusstsein der jungen Leute, die sich als Pioniere verstanden, zu stär-

30 ken. Ähnlich wie in den Großstädten, vor allem im jüdischen Zentrum

_ Berlin, waren mit den Lehrgütern so etwas wie Inseln entstanden, wo

_ jüdisches Leben möglich war und gesellschaftliche Ausgrenzung und

_ Isolation in den Hintergrund traten.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

20 1. 1933 bis 1937

Gehen oder _ bleiben? _

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Der Rechtsanwalt Hans Reichmann (geb. 1900 in Salza, gest. 1964 in Wiesbaden) mit einem Besucher im Büro der CV-Zeitung in der Emser Straße in Berlin Neukölln am 22. Oktober 1936. _

_ Reichmann war seit 1927 in diversen Leitungsfunktionen für den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens tätig, der ab 1935 Centralverein der Juden in Deutschland _ hieß. _

_

_

_ Im Zeitraum von 1934 bis 1937 wanderten jährlich zwischen 20 000 und

_ 24 000 Juden aus. Das Leben unter dem NS-Regime war für sie nicht

_ länger zu ertragen. Zudem bot der Zionismus für viele eine optimisti-

_ sche Zukunft an, nämlich die Option, eine neue jüdische Gemeinschaft

05 und einen jüdischen Staat in Palästina aufzubauen. 1937 waren jedoch

_ für diejenigen, die sich für eine Auswanderung entschieden hatten, die

_ Einwanderungsmöglichkeiten bereits eingeschränkt. Wichtige Einwan-

_ derungsländer in Übersee wie Brasilien und Südafrika reduzierten ihre

_ Einreisekontingente für Juden. Ebenso begrenzte die britische Man-

10 datsmacht die Einreise nach Palästina aufgrund des Widerstands der

_ arabischen Bevölkerung. Die Anzahl derjenigen, die ausreisen wollten

_ und bis 1937 kein Aufnahmeland fanden beziehungsweise die finanziel-

_ len Mittel hierfür nicht mehr aufbringen konnten, ist nicht zu ermitteln,

_ daher bis heute unbekannt.

15 Die überwiegende Mehrheit der deutschen Juden konnte und wollte

_ sich jedoch auch im Jahr 1937 nicht für die Auswanderung entscheiden.

_ Zu groß war immer noch die Hoffnung, dass die Zeit des auch außenpo-

_ litisch aggressiv auftretenden NS-Regimes bald vorbei sein würde, die

_ Westmächte auf dem Wege politischer Verhandlungen oder militärisch

20 intervenieren würden. Zu eng war die Verbundenheit mit Deutschland,

_ mit der deutschen Kultur, der eigenen Familiengeschichte und den Le-

21 1. 1933 bis 1937

_ benserfahrungen in diesem Land, trotz aller Erniedrigung und Gefahr.

_ Den jüdischen Repräsentanten aller Strömungen der Reichsvertretung

_ war unabhängig von ihrer persönlichen Haltung bewusst, dass eine

_ Massenauswanderung der jüdischen Bevölkerung innerhalb kurzer Zeit

05 vollkommen unrealistisch war. Sie mussten folglich in zwei Richtungen

_ denken und entsprechend handeln: die Auswanderungschancen erhö-

_ hen und die bestmöglichen Bedingungen für die im Deutschen Reich

_ verbliebenen Juden schaffen, die sich möglicherweise noch auf Jahre

_ hin im Zustand der permanenten Diskriminierung und Bedrohung wür-

10 den einrichten müssen. (Quelle 1/6; Auszug aus einem im Juli 1939 ver-

_ fassten Bericht des deutsch-jüdischen Juristen Dr. Hans Reichmann)

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

22 1. 1933 bis 1937

_ / Arbeitsvorschläge

_

_ Die darstellenden Basistexte beschreiben die historischen Entwicklun-

_ gen. Die Augenzeugenberichte und die weiteren Quellen eignen sich, um

05 einige Ereignisse, Entwicklungen und Zusammenhänge herauszuarbei-

_ ten. Eine Arbeitsgruppe kann über die Entwicklung zwischen 1933 und

_ 1938 eine Erzählung aus jüdischer Sicht erarbeiten. Zur Orientierung

_ können dabei folgende Schwerpunkte hilfreich sein:

_

10 / Das mehrheitliche Selbstverständnis der deutschen Juden kann vor-

_ gestellt werden. Dazu gehört die Darstellung der großen jüdischen

_ Organisationen, der wesentlichen Strömungen und der heterogenen

_ Zusammensetzung des deutschen Judentums.

_ / Reaktionen der deutschen Juden auf Angriffe, staatliche Ausgrenzung

15 und Entrechtung können zusammengestellt werden.

_ / Die Entwicklung der Perspektive jüdischer Jugendlicher und ihre Zu-

_ kunftserwartungen lassen sich nachzeichnen.

_ / Steigerung und Ablauf der antisemitischen Angriffe von 1933 bis 1938

_ können unter verschiedenen Fragestellungen behandelt werden. Von

20 wem gingen die Attacken aus? Wie verhielten sich die Angegriffenen?

_ Was erfahren wir über das Verhalten der ,arischen Mehrheitsbevölke-

_ rung‘? Wie berichtete die ausländische Presse über die antijüdischen

_ Ausschreitungen?

_ / Die sukzessive Verschärfung und Ausweitung der antijüdischen Politik

25 auf immer weitere Lebensbereiche können an Beispielen anschaulich

_ gemacht werden.

_ / Das Zusammenwirken von Ausgrenzungs- und Entrechtungsmaßnah-

_ men des NS-Regimes einerseits und öffentlichem Radau-Antisemitis-

_ mus ,von unten‘ durch Parteigenossen, alte SA-Kämpfer und Teile der

30 antisemitischen Bevölkerung andererseits kann analysiert werden.

_ / Die Erzählung auf der Grundlage dieses Kapitels soll insgesamt be-

_ schreiben, wie sich die Lage der deutschen Juden zwischen 1933 und

_ Mitte 1938 entwickelte.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

23 Quellen / Kapitel 1

Quelle 1/1

_ Auszug aus der Presserklärung des _ unlösbar verbunden mit dem deutschen Va-

_ Centralvereins deutscher Staatsbürger 45 terlande, mit allen anderen Deutschen guten

_ jüdischen Glaubens vom 24. März 1933 _ Willens am Aufstieg des Vaterlandes werden

_ Unser Kampf für Deutschland. _ mitarbeiten können.

05 Gegen die Gräuelpropaganda im Ausland _

_ _ Quelle: CV-Zeitung, Berlin, 12 (1933), 13 (30.3.), S. [106]–107

_ [...] Nach Mitteilungen deutscher Blätter _

_ werden von verschiedenen ausländischen _

_ Zeitungen Meldungen verbreitet, etwa, daß _

10 regelmäßig verstümmelte Judenleichen vor _

_ dem Eingang des jüdischen Friedhofes Ber- _

_ lin-Weißensee lägen, daß jüdische Mädchen _

_ auf öffentlichen Plätzen gewaltsam zusam- _

_ mengetrieben worden seien, daß Hunderte _

15 deutscher Juden in Genf einträfen, von de- _

_ nen neun Zehntel, darunter zahlreiche Kinder, _

_ schwer misshandelt seien. Der Centralverein _

_ stellt mit allem Nachdruck fest, daß das deut- _

_ sche Judentum für solche unverantwortlichen _

20 Entstellungen, die aufs schwerste zu verurtei- _

_ len sind, nicht verantwortlich gemacht wer- _

_ den kann. _

_ Das deutsche Volk befindet sich seit Wochen _

_ in einem politischen Umschwung gewaltigen _

25 Ausmaßes. Hierbei ist es zu politischen Ra- _

_ cheakten und Ausschreitungen auch gegen _

_ Juden gekommen. Die Reichsregierung wie _

_ die Länderregierungen haben sich mit Erfolg _

_ bemüht, möglichst schnell Ruhe und Ordnung _

30 wieder herzustellen. Der Befehl des Reichs- _

_ kanzlers, Einzelaktionen zu unterlassen, hat _

_ seine Wirkung getan. _

_ Gewiß erfüllen uns gerade in letzter Zeit deut- _

_ lich erkennbare antisemitische Zielsetzungen _

35 auf den verschiedensten Wirtschafts- und _

_ Lebensgebieten mit schwerer Sorge. Ihre Be- _

_ kämpfung sieht der Centralverein nach wie _

_ vor als eine innerdeutsche Angelegenheit _

_ an. Wir sind aber überzeugt, daß die Gleich- _

40 berechtigung der deutschen Juden, die sie in _

_ Krieg und Frieden durch Hergabe von Blut und _

_ Gut auch innerlich verdient haben, nicht wie- _

_ der aufgehoben wird, und daß sie wie bisher, _

24 Quellen / Kapitel 1

Quelle 1/2

_ Artikel aus The Times, London, _ che, jüdische Geschäfte geöffnet zu halten,

_ vom 3. April 1933: 45 und in manchen Fällen nahmen die Posten die

_ Juden werden boykottiert. _ ›Keine-Gewalt‹-Weisung ernst und hielten die

_ Szenen aus Berlin. _ Kunden nicht vom Besuch ab. Fest entschlos-

05 Wirtschaft steht still. _ sene Menschen gelangten so in die gedämpf-

_ Lynchmordfall in Kiel _ te Stille solcher riesiger Läden wie Wertheim

_ 50 in der Leipzigerstraße, wo die Verkäufer hinter

_ Berlin, 2. April. Gestern zwischen 10 Uhr mor- _ den ungenutzten Kassen aufgereiht standen,

_ gens und Mitternacht wurde rücksichtslos _ oder sogar in die großen jüdischen Cafés Un-

10 eine Aktion durchgeführt, die die Nazi-Zei- _ ter den Linden und am Kurfürstendamm, wo

_ tung Völkischer Beobachter als ›Generalpro- _ verängstigte Bedienungen die wenigen Gäste

_ be für den permanenten Boykott der Juden‹ 55 empfingen, die sich nicht von bösen Blicken

_ bezeichnete. Der Boykott war äußerst wirk- _ hatten abschrecken lassen. Gegen Mittag

_ sam, davon ausgenommen waren nur jüdi- _ wurde es schwierig, noch ein geöffnetes jü-

15 sche Zeitungen, Banken und nicht wenige _ disches Geschäft zu finden, und vom frühen

_ nicht eindeutig zuzuordnende Unternehmen. _ Nachmittag an war dies unmöglich. Der große

_ Er basierte auf Furcht und Gewalt und lief 60 Kurfürstendamm, eine der Haupteinkaufs-

_ insgesamt ruhig ab, wenngleich es in Kiel zu _ und Verkehrsstraßen Berlins, war zu drei Vier-

_ einem ersten Fall von Lynchjustiz durch den _ tel ausgestorben; [...]

20 Mob kam. Das Opfer war ein jüdischer Anwalt _ Polizisten waren kaum zu sehen. Am Nach-

_ namens Schumm, der von einer aufgebrach- _ mittag patrouillierten Nazis mit schweren

_ ten Menge in der Polizeizelle getötet wurde, in 65 Reitpeitschen über den Kurfürstendamm. [...]

_ der man ihn festhielt. [...] _ In Kassel wurde ein Teil eines öffentlichen

_ Der Boykott lähmte das jüdische Wirtschafts- _ Platzes vor einem jüdischen Geschäft mit Sta-

25 leben vollständig. Schlag 10 Uhr bezogen _ cheldraht abgezäunt, an dem ein Schild mit

_ uniformierte Nazis Stellung vor jedem jüdi- _ den Worten ›Konzentrationslager für wider-

_ schen Geschäft, Kaufhaus, Café und anderen 70 ständige Bürger, die ihre Einkäufe bei Juden

_ Unternehmen. Die Weisungen des Anführers _ machen‹ befestigt war. [...] Die Haltung der

_ des Nazi-Boykotts, Herrn Streicher, dass we- _ Öffentlichkeit gegenüber den außergewöhn-

30 der Gewalt noch Zwang angewandt werden _ lichen Szenen des gestrigen Tages schien

_ sollte, wurde nicht beachtet. In den kleinen _ überwiegend passiver Natur. [...]

_ Geschäften stand meist der Nazi-Posten – 75

_ oft einen Revolver tragend – mit gespreiz- _ Quelle abgedruckt in: Wolf Gruner (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das national­ _ _ ten Beinen im Türeingang. Ihr Korrespondent sozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 1: Deutsches 35 sah, wie die Posten mehreren Menschen ge- _ Reich 1933–1937, hrsg. von Götz Aly u.a., München 2008, Dokument 22, S. 110 ff. _ waltsam den Eintritt verwehrten bzw. diese _

_ brutal wegstießen. [...] Dann tauchten Nazis _

_ mit Farbtöpfen auf, und bald trugen die jüdi- _

_ schen Schaufenster in triefenden roten oder _

40 weißen Buchstaben das Wort ›Jude!‹ oder _

_ Aufschriften wie ›Einkäufe hier sind lebens- _

_ gefährlich‹, ›Jerusalem‹ und ähnliches mehr. _

_ [...] Zunächst gab es noch vereinzelt Versu- _

25 Quellen / Kapitel 1

Quelle 1/3

_ Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung _ an, riegelte die Straße ab und überredete die

_ vom 16. Juli 1935: 45 Demonstranten zum Abzug.

_ Antisemitische Ausschreitungen _ Später wiederholten sich die Szenen vor dem

_ im Berliner Westen _ gleichfalls am Kurfürstendamm gelegenen

05 _ Café Dobrin, das nach Entfernung sämtlicher

_ Am 15. Juli 1935 wurde im Ufa-Theater in _ Gäste geschlossen wurde. Auf der Straße er-

_ Berlin der antisemitische schwedische Film 50 tönte mit zahllosen Wiederholungen der Ruf:

_ „Petterson & Bendel“ gezeigt, der in NS- _ ‚Die Juden sind unser Unglück‘. Mehrere jü-

_ Deutschland das Prädikat „staatspolitisch _ dische Kaufläden wurden demoliert. In pa-

10 wertvoll“ erhalten hatte. Im Anschluss an die _ nischem Schrecken flohen einige im Schein

_ Vorstellung kam es auf dem Kurfürstendamm _ der Straßenlaternen nur undeutlich zu erken-

_ zu antijüdischen Ausschreitungen. Die Poli- 55 nende Gestalten über den Fahrdamm. […] Die

_ zei erhielt den Befehl, gegen randalierende _ Verkäufer des ‚Stürmer‘ erschienen mit di-

_ SA-Aktivisten einzuschreiten, um eine Aus- _ cken Bündeln des Pogromblattes im Getüm-

15 weitung der Krawalle zu verhindern, wodurch _ mel und machten gute Geschäfte. Die Polizei

_ sich Parteiaktivisten und Polizei gegenüber- _ sorgte nach und nach für die Zerstreuung der

_ standen. 60 Massen und die Wiederherstellung des nor-

_ _ malen Verkehrs. Um halb ein Uhr nachts hatte

_ _ sich der Tumult gelegt.

20 Auf dem Kurfürstendamm bemerkte man _

_ kleinere Verkehrsstockungen und Menschen- _ Quelle abgedruckt in: Wolf Gruner (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das national­ _ 65 ansammlungen, die eine drohende Haltung sozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 1: Deutsches _ gegen jüdische Passanten und Kaffeehaus- _ Reich 1933–1937, hrsg. von Götz Aly u.a., München 2008, Dokument 176, S. 452. Kursivierung im Original. _ besucher annahmen. Vor dem Kino gruppier- _

25 ten sich 50 junge Leute in weißen Hemden. _

_ Zusammen mit den aus der Vorstellung he- _

_ rausströmenden SA-Männern zogen sie vor _

_ das elegante Café Bristol, das von ‚arischen‘ _

_ und jüdischen Gästen gleich gern besucht _

30 wird. Die Demonstranten zertrümmerten eine _

_ Fensterscheibe und begannen mit der gewalt- _

_ samen Entfernung des jüdischen Publikums. _

_ Die meisten Juden zogen sich fluchtartig zu- _

_ rück. Andere, die sich die Razzia nicht ohne _

35 weiteres gefallen ließen oder sich sogar zur _

_ Wehr setzten, wurden unsanft angefaßt. Es _

_ gab Ohrfeigen und Rippenstöße und die Trüm- _

_ mer von zerschmetterten Stühlen flogen über _

_ die Marmortische. Auf der Straße staute sich _

40 die Menschenmenge, zum großen Teil Gaffer, _

_ die sich mit einer passiven Rolle begnügten, _

_ immer mehr an. Schließlich rückte ein Ueber- _

_ fallkommando der Polizei auf zwei Lastwagen _

26 Quellen / Kapitel 1

Quelle 1/4

_ Auszug aus einer Rede des liberalen _ alles nicht so schmerzlich empfinden, hätten

_ Rabbiners Joachim Prinz von 1935: 45 wir nicht das Gefühl, daß wir einmal Nachbarn

_ Das Leben ohne Nachbarn _ besessen haben. […]

_ _ Dies alles wird hier ohne jeden Groll und ohne

05 Der Rabbiner Joachim Prinz (1902–1988) war _ den Ton der Anklage gesagt. Wir sind uns viel

_ seit 1927 religiöses Oberhaupt einer libera- _ zu sehr der Größe des geschichtlichen Um-

_ len Berliner Gemeinde. Während der NS-Zeit 50 bruchs bewußt, als daß wir auf dieses Schick-

_ gehörte er zu den bedeutendsten Stimmen _ sal mit unfruchtbaren Klagen reagieren soll-

_ des Zionismus und war als Prediger in ganz _ ten. Wir wissen nur das eine: die geschilderte

10 Deutschland bekannt. Seit 1933 wurde Prinz _ Existenzform kann nicht die repräsentative

_ wegen seiner Reden gegen das NS-Regime _ jüdische Lebensform sein. Und wir wissen,

_ mehrmals verhaftet. 1937 emigrierte er in die 55 daß im gleichen Zeitalter, das uns diese un-

_ USA, wo er nach dem Krieg erst als Vizeprä- _ erwartete Veränderung unseres Lebens ge-

_ sident, dann als Präsident dem American Je- _ bracht hat, eine neue Form des jüdischen

15 wish Congress vorstand. In den 1960er Jahren _ Lebens und eine Umformung des jüdischen

_ unterstützte Prinz, der ein langjähriger Weg- _ Menschen im Lande der jüdischen Geburt und

_ begleiter Martin Luther Kings war, die schwar- 60 der jüdischen Wiedergeburt vor sich geht.

_ ze Bürgerrechtsbewegung in den USA. Der _

_ folgende Auszug stammt aus einer Rede aus _ Quelle abgedruckt in: Wolf Gruner (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das national­ 20 _ dem Jahr 1935. Sie wurde am 17. April 1935 in sozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 1: Deutsches _ der Jüdischen Rundschau abgedruckt. _ Reich 1933–1937, hrsg. von Götz Aly u.a., München 2008, Dokument 162, S. 426 ff. Kursivierung im Original. _ 65

_ _

_ Das Leben ohne Nachbarn _

25 Versuch einer ersten Analyse. Ghetto 1935 _

_ […] Des Juden Los ist: nachbarlos zu sein. Viel- _

_ leicht gibt es das nur einmal auf der Welt, und _

_ wer weiß, wie lange man es ertragen kann: _

_ das Leben ohne Nachbarn. Ueberall kennt _

30 das Leben den nachbarlichen Menschen. Das _

_ ist nicht der Freund, aber einer, der gewillt _

_ ist, mit dem anderen das Leben zu tragen, es _

_ ihm nicht zu erschweren, sein Mühen und sein _

_ Hasten mit freundlichen Augen zu betrachten. _

35 Das fehlt. Die Juden der großen Stadt spüren _

_ das nicht so, aber die Juden der kleinen Städ- _

_ te, die am Marktplatz wohnen ohne Nachbarn, _

_ deren Kinder in die Schule gehen ohne Nach- _

_ barkinder, spüren die Isolierung, welche die _

40 Nachbarlosigkeit bedeutet, die grausamer ist _

_ als alles andere, und es ist vielleicht für das _

_ Zusammenleben von Menschen das härteste _

_ Los, das einen treffen kann. Wir würden das _

27 Quellen / Kapitel 1

Quelle 1/5

_ Augenzeugenbericht eines deutsch- _

_ jüdischen Geschäftsinhabers, vermutlich _

_ aus Treuchtlingen/Franken, Teil 1 _

_ _

05 Der Bericht über die Erfahrungen des Verfas- _

_ sers in den Jahren 1933 bis 1938 stammt von _

_ Ende November 1938. Der Name des Autors _

_ und seine Fluchtgeschichte sind nicht über- _

_ liefert. _

10 _

_ Der Boykott seitens der Kundschaft setzte so- _

_ fort mit der Machtübernahme ein, verschärfte _

_ sich immer mehr, weniger freiwillig als durch _

_ Zwangsmittel des Staates und der Partei. _

15 (Entzug der Winterhilfe, der Fürsorge, der _

_ Kinderreichen-Unterstützung, Ausschluss _

_ der Kinder von einzelnen Schulen, Drohung _

_ der Nichtbeförderung der nahen Verwandten, _

_ Ausschluss [aus] Parteiorganisationen etc.) _

20 Da dies der Partei aber nicht schnell genug zur _

_ Vernichtung der jüdischen Geschäfte führte, _

_ setzte später der Boykott seitens der Liefe- _

_ ranten ein. Zuerst ließ der Reichsnährstand _

_ die Lieferung von Mehl und Grieß sperren, _

25 dann kamen die Sperrungen der Kontingen- _

_ te der Auslandsartikel (Öl, Südfrüchte, spä- _

_ ter teilweise Kakao, Schokolade, Reis). Ende _

_ 1937 teilten uns die staatlichen Salinen Mün- _

_ chen mit, dass sie nicht mehr Salz liefern [...]. _

30 _

_ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael _ Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ 2008, S. 454. _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

28 Quellen / Kapitel 1

Quelle 1/6

_ Auszug aus einem im Juli 1939 verfassten _ den Krieg entscheiden, so hätte ich ihn – wie

_ Bericht des deutsch-jüdischen Juristen 45 ich damals noch glaubte – in irgendeiner mi-

_ Dr. Hans Reichmann _ litärischen Position schlecht und recht mit-

_ _ gemacht und gehofft, ihn zu überleben. Das

05 Der deutsch-jüdische Jurist Hans Reichmann _ schien mir auch das Schicksal der deutschen

_ (geb. 1900 in Salza, gest. 1964 in Wiesbaden) _ Juden im Kriegsfall zu sein. […] Ein Verbleiben

_ war seit 1927 als anwaltlicher Vertreter des 50 der Juden in ihrem warmen Bett schien mir

_ Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdi- _ für den Kriegsfall weder wünschenswert noch

_ schen Glaubens in dessen Hauptsitz Berlin _ psychologisch möglich.

10 tätig. Er wurde in der Verhaftungswelle, die _ Würde, wie ich hoffte, der Frieden erhalten

_ kurz nach dem Novemberpogrom einsetzte, _ bleiben und die Verständigung des Jahres

_ festgenommen und im Konzentrationslager 55 1938 kommen, so hätte sich wenigstens der

_ Sachsenhausen interniert. Wie viele andere _ Austreibungsprozeß verlangsamt. Die wirt-

_ wurde er unter der Bedingung, Deutschland _ schaftliche Substanz würde auch dann all-

15 sofort zu verlassen, Ende Dezember entlas- _ mählich weiter abbröckeln, ein Unternehmen

_ sen. Im April 1939 reiste er mit seiner Frau, _ nach dem anderen verkauft werden. Inzwi-

_ der Soziologin Eva Gabriele Reichmann, nach 60 schen hätten wir jede der wenigen Auswan-

_ Großbritannien.­ Noch im Sommer 1939 ver- _ derungsmöglichkeiten zu nutzen, und im Lauf

_ fasste er einen ausführlichen Bericht über _ von sechs bis acht Jahren würde die auswan-

20 seine Erfahrungen in den Jahren 1937 bis _ derungsfähige Generation Deutschland ver-

_ 1939, den er einem befreundeten Ehepaar in _ lassen haben. Der Rest wäre später einmal

_ den USA sandte. Diese Aufzeichnungen wur- 65 seinen Kindern nachgewandert oder würde

_ den 1998 erstmals veröffentlicht. _ dumpf verdämmern.

_ _ Wir, Eva und ich, wollten so lange wie es nur

25 Liebe Trude, lieber Paul! _ irgend ging, bei den Juden in Deutschland

_ […] Wir haben uns am 10. August 1937 ge- _ bleiben. Unausgesprochen hatte jeder von

_ trennt. Damals sah ich die kommende poli- 70 uns in der letzten Kammer seines Herzens die

_ tische Entwicklung und den Weg der deut- _ Wunschvorstellung, daß vielleicht doch ein-

_ schen Juden so: die Westmächte würden ihre _ mal ein Wunder geschehen und der logische

30 Rüstungen so steigern, daß Hitler mit diesem _ Prozeß anders, ganz anders, sein Ende finden

_ Tempo nicht mehr mitkommen würde. Sein _ würde. Aber das war ein Reservat für stille

_ Versuch, die Rüstungen der anderen einzuho- 75 Träume, und diese Fata Morgana, die übrigens

_ len, würde die deutsche Lebenshaltung und _ vielen Menschen ihre Lebenskraft gab, durfte

_ Friedensproduktion bedenklich einengen, _ sich nie in den politischen Kalkül übertragen.

35 1938 eine wirtschaftliche Krise heraufführen _ Grundsätzlich stand für mich seit Ende 1934

_ und ihn vor die Wahl zwischen Krieg und Frie- _ fest: ‚Entweder bleibt Hitler, dann werden die

_ den stellen. So unglaubhaft mir auch Verstän- 80 Juden gehen, oder er geht, dann werden sie

_ digung als nationalsozialistisches politisches _ bleiben.‘

_ Ziel schien, ich glaubte doch an den Zwang der _

40 Tatsachen und an die Einsicht der Militärs, die _ Quelle: Hans Reichmann, Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937 bis _ _ Deutschland nicht in einem Krieg mit überle- 1939, Bearb. von Michael Wildt, München 1998, S. 45 f. _ genen Gegnern zerstören lassen würden. _

_ Sollte sich der manische Mann aber doch für _

29 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes. Die Bedrohung für Juden im deutschen Machtbereicht wächst

_

_

_

_

Antijüdische 05 Die Expansion Nazi-Deutschlands zur Schaffung eines ,Großdeutschen

Politik im Kontext _ Reiches‘ war zentraler Bestandteil nationalsozialistischer Ideologie und der NS-Expansion _ Politik. Die konkreten Kriegsvorbereitungen hatten 1936 eingesetzt, die

_ deutsche Wirtschaft wurde strikt auf die militärische Aufrüstung ausge-

_ richtet. Anfang November 1937 debattierte Hitler im engsten Kreis der

10 NS-Führung und der Wehrmachtsspitze über eine langfristige Kriegs-

_ planung zur ‚Lösung der Raumnot‘. Vier Monate später, im März 1938,

_ marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein, womit der soge-

_ nannte Anschluss besiegelt war. Mitte September 1938 führten die an-

_ haltenden aggressiven Gebietsforderungen des NS-Regimes gegenüber

15 der Tschechoslowakei zu einer schweren europäischen Krise, die mit

_ dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938 zunächst friedlich

_ beigelegt werden konnte. Seine Machtposition innerhalb Europas bau-

_ te Nazi-Deutschland dennoch aus: Die an das Deutsche Reich angren-

_ zenden tschechoslowakischen Gebiete wurden von ihm einverleibt und

20 zum ,Sudetengau‘ erklärt, der tschechoslowakische Staat wurde durch

_ die Abtrennung weiterer großer Gebiete an Polen und Ungarn faktisch

_ zerschlagen.

_ Jeder der Expansionsschritte war von massiven Gewaltausbrüchen

_ gegen Juden begleitet. Kaum hatten sich die nationalsozialistischen

25 Machthaber in den neu eroberten Gebieten eingerichtet, führten die

_ Judenexperten des Nachrichtendienstes der SS, dem sogenannten Si-

_ cherheitsdienst (SD), verschärfte antijüdische Gesetze und Maßnahmen

_ ein. Diese Verschärfungen wiederum wirkten auf das sogenannte Alt-

_ reich zurück. Im Zuge dieser Dynamik wurde im Deutschen Reich 1938

30 die ,Arisierung‘, das heißt die Enteignung des Vermögens von deutschen

_ Juden durch den NS-Staat oder durch Verkauf von Eigentum weit unter

_ Wert an nichtjüdische Deutsche, massiv vorangetrieben und der Druck

_ zur Auswanderung erhöht. Dies führte jedoch schon bald zu einem un-

_ auflösbaren Widerspruch, der in der Umsetzung dieser beiden zentralen

35 Zielvorgaben der antijüdischen Politik des NS-Regimes angelegt war:

_ Durch die ,Arisierung‘ verarmten große Teile der jüdischen Bevölkerung.

_ Kaum ein Land in der Welt wollte jedoch vollkommen mittellose Juden

_ aufnehmen. Gleichzeitig vergrößerte sich mit jedem Expansionsschritt

_ die Anzahl der Juden, die zur Emigration gezwungen wurden. An einer

40 Lösung dieses Konflikts waren die NS-Machthaber nicht interessiert.

_ Sie setzten den gesteigerten Staatsterror gegen Juden im ,Altreich‘ und

_ in den eroberten Gebieten fort.

_

30 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

Die Lage der _ „Das Jahr 1938 bedeutet im Schicksal der Juden einen historischen 3 deutschen Juden _ Wendepunkt.“ Mit diesem Satz beginnt der abschließende Arbeitsbe-

Anfang 1938 _ richt des jüdischen Dachverbandes, der Reichsvertretung der Juden in

_ Deutschland, zu diesem Jahr. Der Begriff des Schicksalsjahres findet

05 sich auch heute in vielen Darstellungen, um die Auswirkungen der Ereig-

_ nisse von 1938 für die jüdische Bevölkerung zu fassen. Aus historischer

_ Sicht ein schwieriger Begriff, da die hasserfüllte Judenfeindschaft des

_ NS-Regimes wie die Planung und Umsetzung der antijüdischen Politik

_ alles andere als schicksalhaft waren. Dennoch hilft uns der Begriff, bes-

10 ser zu verstehen, wie die deutschen Juden die Entwicklungen in Nazi-

_ Deutschland seit der ,Machtergreifung‘ wahrgenommen haben: Bis

_ 1937 erschienen die degradierende Politik und der antisemitische Stra-

_ ßenterror, so existenzgefährdend und bedrohlich sie auch waren, eini-

_ germaßen berechenbar, da man Ähnliches in der jüdischen Geschichte

15 bereits erlebt hatte. Doch schon die mit der Expansion des NS-Regimes

_ 1938 einsetzenden Radikalisierungsschübe und die massiv ansteigen-

_ den Gewaltattacken auf den Straßen, die im November in die landeswei-

_ ten Pogrome gipfelten, entzogen sich jeglichem Erfahrungszusammen-

_ hang, sie brachen schicksalsgleich über die deutschen Juden herein.

20 Ende 1937 lebten noch circa 400 000 Juden im Deutschen Reich. Durch

_ die Landflucht war die Konzentration in den Großstädten weiter ange-

_ stiegen, hier lebten jetzt fast 65 Prozent der jüdischen Bevölkerung.

_ Die Emigration vor allem von jungen Leuten wirkte sich auf die Al-

_ tersstruktur aus, das heißt, die Hälfte der deutschen Juden war über

25 50 Jahre alt. Ebenso drastisch zeichnete sich der Prozess der Verar-

_ mung ab. Durch den wirtschaftlichen Einbruch im Zuge der Boykotte, der

_ Zwangsabgaben, der schleichenden ‚Arisierung‘ und der Berufsverbote

_ waren mittlerweile 25 Prozent der jüdischen Bevölkerung auf finanzielle

_ Unterstützung der Wohlfahrt angewiesen. Bereits am 1. März 1938 er-

30 ging dann ein folgenreiches Gesetz für alle jüdischen Gemeinden. Ihnen

_ wurde der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts entzogen.

_ Dies bedeutete, dass auf Gemeindegebäude, sämtliche jüdischen Ein-

_ richtungen – auch Sozialeinrichtungen – Steuern erhoben wurden, die

_ Gemeinden selbst jedoch keine Steuern mehr einnehmen durften. Da

35 gleichzeitig die finanziellen Ausgaben für Unterstützungsleistungen

_ aufgrund der Verarmung der Gemeindemitglieder stark angestiegen wa-

_ ren, bedeutete das neue Gesetz für viele, vor allem für kleinere jüdische

_ Landgemeinden, das Aus. Die jüdische Selbstorganisation, das heißt

_ Strukturen karitativer Unterstützung und Beratung, brach in ganzen Re-

40 gionen weg. Auch gab es keinen gemeinsamen kulturellen und religiö-

_ sen Ort mehr, der durch die mittlerweile fast vollständig durchgesetzte

_ 3 Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten _ Reich 1933–1943, Frankfurt am Main 1988, S. 122.

31 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

_ Isolation umso dringlicher gebraucht worden wäre. Zur gleichen Zeit,

_ also im März 1938, nahmen die außenpolitischen Drohgebärden Nazi-

_ Deutschlands gegenüber Österreich zu. Diese Entwicklungen nahmen

_ die deutschen Juden mit großer Sorge wahr.

05

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Wien, Stadtteil Erdberg, im März 1938. Jüdische Männer werden zum sogenannten Gehsteig- reiben gezwungen. _ © Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands _

_

Der ,Anschluss‘ _ Noch bevor die Wehrmacht in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 un-

Österreichs im _ ter dem Jubel weiter Teile der Bevölkerung in Österreich einmarschierte,

März 1938 _ hatten in Wien heftige Ausschreitungen gegen Juden begonnen. Anfang

_ 1938 lebten zwischen 185 000 und 200 000 Juden in Österreich, davon

10 165 000 in Wien. Am 11. März „brach die Hölle los“, schrieb der nichtjü-

_ dische deutsche Schriftsteller Carl Zuckmayer, dessen Werke seit 1933

_ in Deutschland verboten waren, in seiner Autobiografie. „Hier war nichts

_ losgelassen als die dumpfe Masse, die blinde Zerstörungswut [...]. Es

_ war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlichen 4 15 Würde.“ Die Pogromstimmung hielt über Wochen an. Brutale Übergrif-

_ fe und öffentliche Demütigungen von Juden bestimmten die Bilder und

_ Berichte: Dies war eine neue Dimension der Gewalt. (Quelle 2/1; Auszug

_ aus dem Augenzeugenbericht eines jüdischen Jugendlichen aus Wien)

_

_

_ 4 Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, Hamburg 1977, S. 89.

32 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

_ Die Ausschreitungen wurden in den ersten Tagen durch die Anordnung,

_ jüdisches Vermögen zu beschlagnahmen, zusätzlich angeheizt. Eine

_ weitere Grenze wurde überschritten: Jetzt drang der antisemitische

_ Mob ebenso wie SA, SS und Polizei in Privatwohnungen von Juden ein,

05 um Wertgegenstände aller Art ,sicherzustellen‘. Selbsternannte ,Kom-

_ missare‘ eigneten sich in den folgenden Wochen bis zu 25 000 Geschäfte

_ und Fabriken jüdischer Eigentümer an. Tausende jüdische Mieter wur-

_ den gezwungen, ihre Wohnungen zu räumen. Als diese ,wilden Arisierun-

_ gen‘ überhandnahmen, wurde die staatliche Vermögensverkehrsstelle

10 eingerichtet, die letztendlich nichts anderes tat, als den Raub jüdischen

_ Vermögens von Staats wegen zu legalisieren. Noch im selben Jahr ge-

_ langten zwei Drittel des jüdischen Vermögens, das entsprach zwei

_ Milliarden Reichsmark, unter staatliche Kontrolle, sprich in staatlichen

_ Besitz.

15 Die Judenexperten des SD waren kurz nach dem ,Anschluss‘ in Wien ein-

_ getroffen, unter ihnen Adolf Eichmann, der zu diesem Zeitpunkt in der

_ Abteilung ,Juden‘ für die Entwicklung von Vertreibungsstrategien zu-

_ ständig war und in der sogenannten Ostmark eine federführende Rolle

_ spielen sollte. Erstes Ziel der SD-Angehörigen war, die Auswanderung

20 der österreichischen Juden massiv voranzutreiben. Am 18. März ließen

_ sie landesweit sämtliche 625 jüdischen Einrichtungen und Organisa-

_ tionen schließen, 444 davon allein in Wien. Führende jüdische Funkti-

_ onäre wurden inhaftiert. Auch die Israelitische Kultusgemeinde (IKG),

_ der zentrale Dachverband der österreichischen Juden, wurde nach ta-

25 gelangen Durchsuchungen geschlossen. Jüdische Gemeindebeamte

_ wie der Amtsdirektor Dr. Josef Löwenherz wurden vorübergehend fest-

_ genommen. Zeitgleich wurden über 100 prominente und wohlhabende

_ Juden verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. In

_ den nächsten Monaten folgten weitere Verhaftungswellen. Damit hatte

30 das NS-Regime ein neues Mittel staatlichen Terrors eingesetzt, um den

_ Auswanderungsdruck zu erhöhen: Die österreichischen Juden waren in

_ Konzentrationslagern in erpresserische Haft genommen worden.

_ Im August 1938 eröffnete in Wien eine neue zentralisierte Behörde, die

_ von Eichmann konzipierte und auch faktisch geleitete Zentralstelle für

35 jüdische Auswanderung. Hier wurden sämtliche für die Auswanderung

_ benötigten Papiere ausgestellt, bei gleichzeitiger nahezu vollständiger

_ Enteignung der Juden. Die Zentralstelle entwickelte sich zu einem ,Er-

_ folgsmodell‘, mit dem die Vertreibung der Juden forciert werden konnte.

_ Wenige Monate später, im Februar 1939, nahm die Reichszentrale für jü-

40 dische Auswanderung in Berlin ihren Betrieb auf. Ende 1938, also neun

_ Monate nach dem ,Anschluss‘, hatten bereits 60 000 Juden die ‚Ostmark‘

_ verlassen. Die Enteignung jüdischer Eigentümer in allen Bereichen des

_ Wirtschaftslebens zugunsten der Staatskasse war durch die Finanz-

33 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

_ verwaltung fast vollständig umgesetzt, die wichtigsten antijüdischen

_ Reichsgesetze waren wirksam. Bernhard Kahn, der europäische Abge-

_ sandte der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation Joint Distribution

_ Committee, telegrafierte in die USA, den österreichischen Juden werde

05 „innerhalb von fünf Tagen aufgezwungen, was in Deutschland in fünf 5 _ Jahren an antijüdischen Unterdrückungsmaßnahmen durchgesetzt“

_ worden war.

_

Die Juni-Aktion – _ In Berlin hatten die Repräsentanten der Reichsvertretung und des Cen-

Erste Massen- 10 tralvereins (CV) die Ereignisse in Österreich genauestens verfolgt. Der verhaftungen von _ Rechtsanwalt Hans Reichmann, der seit vielen Jahren im Leitungsgre-

Juden im ‚Altreich‘ _ mium des CV tätig war, schrieb: „Es vergehen wohl zwei bis drei Wochen,

_ bis die ersten inoffiziellen Abgesandten der Wiener Kultusgemeinde in

_ Berlin erscheinen. Was wir da hören, ist grauenvoll. Es übertrifft alle Er- 6 15 fahrungen des März und April 1933.“ Schon wenige Wochen später kam

_ es in Berlin erneut zu teils heftigen Attacken gegen die jüdische Bevöl-

_ kerung. Hauptangriffsziel waren wieder jüdische Einzelhändler: Ihre Ge-

_ schäfte wurden beschmiert, ihre Schaufenster zertrümmert, Boykott-

_ posten bauten sich vor den Eingängen auf. In einigen Stadtteilen zogen

20 die Aktionen bis zu 1 000 Menschen an. Auch in anderen Großstädten,

_ unter anderem in Frankfurt am Main, spielten sich Ende Mai/Anfang

_ Juni ähnliche pogromartige Szenen ab.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ 5 Zitat nach Susanne Heim (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das _ nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Bd. 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939, hrsg. von _ Götz Aly u.a., München 2009, S. 35 f. 6 Hans Reichmann, Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937 _ bis 1939, Bearb. von Michael Wildt, München 1998, S. 60.

34 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Aktion gegen Juden in Gelnhausen im Juni 1938

_ In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1938 initiierten der Bürgermeister und der Landrat von Gelnhausen eine antijüdische Aktion mit dem Ziel, die Gelnhäuser Juden zu vertreiben. Die _ Eingänge der Synagoge und des Manufakturgeschäfts Scheuer in der Schmidtgasse 22 wur- _ den zugemauert. Das Foto zeigt drei jüdische Männer am 5. Juni 1938 beim Öffnen des zuge- mauerten Geschäftseingangs. _ © Zentrum für Regionalgeschichte, Main-Kinzig-Kreis _

_

_ Am Morgen des 13. Juni 1938 setzte dann eine konzertierte reichsweite

_ Verhaftungswelle ein, die sogenannte Juni-Aktion, die sich bis zum

_ 18. Juni hinzog. Verhaftet wurden circa 12 000 Männer, die das NS-

05 Regime als ,Asoziale‘ oder ,Gemeinschaftsfremde‘ gebrandmarkt hat-

_ te. Darunter fielen Bettler, Obdachlose, sogenannte Zigeuner, der Zu-

_ hälterei Verdächtigte sowie ,kriminelle Juden‘. Unter den Inhaftierten

35 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

_ befanden sich über 1 500 jüdische Männer, die nach Angaben der NS-

_ Behörden als vorbestraft galten. Geringste Ordnungswidrigkeiten, die

_ durch die Flut antijüdischer Gesetze praktisch unvermeidbar geworden

_ waren, reichten als Grund für eine Verhaftung aus. Die 12 000 Männer

05 wurden in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und

_ Dachau eingeliefert. Die Verhältnisse in den völlig überfüllten Lagern

_ waren katastrophal. Der Lageralltag mit stundenlangem Appellstehen,

_ Schwerstarbeit und Quälereien durch die SS-Leute war für die meisten

_ ein Schock. Die jüdischen Männer waren den drastischen Haftbedingun-

10 gen in besonderem Maße ausgesetzt, da sie gesondert untergebracht

_ und in jeder Hinsicht zusätzlich malträtiert wurden. Juden kamen nur

_ dann in Freiheit, wenn sie einen Nachweis über ,ernsthafte Auswande-

_ rungsabsichten‘ erbrachten. (Quelle 2/2; Auszug aus dem Bericht „Die

_ Lage der Juden in Deutschland“ des Jewish Central Information Office,

15 Amsterdam vom 11. Juli 1938)

_ Die Juni-Aktion traf die deutschen Juden vollkommen unvorbereitet. In

_ den ersten Tagen waren weder die Hintergründe noch das Ausmaß der

_ Verhaftungswelle klar, sodass teils panische Angst ausbrach. Die Fa-

_ milien blieben oft über Wochen im Unklaren über den Aufenthalt ihrer

20 Angehörigen, ja sie wussten nicht einmal, ob sie noch am Leben waren.

_ Die Juni-Aktion markierte einen gravierenden Einschnitt: Von nun an

_ war auch die Freiheit der deutschen Juden von Staats wegen bedroht.

_ Zudem lösten die Verhaftungen in vielen Teilen des Deutschen Reichs

_ erneut Angriffe auf die jüdische Bevölkerung aus.

25 Ab Sommer 1938 konzentrierte sich die Arbeit der Reichsvertretung der

_ Juden in Deutschland daher vollständig auf die Emigration. Zugleich

_ wurde den Repräsentanten klar, dass eine langfristige Auswanderungs-

_ planung kaum zu realisieren war, da Massenverhaftungen wie die Juni-

_ Aktion neue Flüchtlingsschübe auslösen würden, die nicht zu kalkulie-

30 ren waren. So hofften die deutschen und österreichischen Juden auf

_ eine Liberalisierung der Einwanderungspolitik der internationalen Staa-

_ ten.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

36 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

Auswanderungs- _ Im Sommer 1938 reagierte die internationale Staatengemeinschaft zwang ohne _ endlich auf die deutlich angestiegene Zahl jüdischer Flüchtlinge aus

Einwanderungs- _ Europa. Vom 6. bis zum 15. Juli 1938 tagte eine internationale Flücht- möglichkeiten. _ lingskonferenz in Évian, einem mondänen Kurort auf der französischen

Das Scheitern der 05 Seite des Genfer Sees. Vertreter aus 32 Staaten, Repräsentanten diver- internationalen _ ser jüdischer Organisationen sowie Vertreter von 39 Nichtregierungsor-

Flüchtlings- _ ganisationen, die als Beobachter teilnahmen, waren der Einladung des konferenz von _ US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt gefolgt, der die

Évian im Juli 1938 _ Zusammenkunft initiiert hatte. Nicht eingeladen waren Delegierte aus

10 Nazi-Deutschland, da Hitler der Einberufung einer solchen Konferenz

_ nur mit Spott und Ablehnung begegnet war. Die Regierungen Polens und

_ Rumäniens entsandten ausschließlich Beobachter, die Sowjetunion

_ hatte ihre Beteiligung abgesagt.

_ Die damalige Flüchtlingssituation stellte sich folgendermaßen dar: Die

15 Zahlen der aus Deutschland ausgewanderten Juden hatte sich seit 1933

_ zwar drastisch erhöht, dennoch waren sie noch abschätzbar geblieben.

_ Bis Ende 1937 hatten circa 150 000 deutsche Juden Nazi-Deutschland

_ verlassen; jeweils ein Drittel war nach Palästina, in die USA und in die

_ europäischen Nachbarstaaten geflüchtet. Nach dem ,Anschluss‘ waren

20 aber allein in den ersten Wochen Tausende österreichische Juden in

_ die angrenzenden Länder geflohen. Bereits im Mai 1938 lagen der Is-

_ raelitischen Kultusgemeinde in Wien 40 000 Ausreiseanträge vor, und

_ es war absehbar, dass ein Großteil der 200 000 österreichischen Juden

_ in nächster Zeit ihr Land verlassen musste. Zudem gab es die begrün-

25 dete Befürchtung, dass die ,erfolgreiche‘ nationalsozialistische Vertrei-

_ bungspolitik gegenüber den Juden in vielen osteuropäischen Staaten

_ Nachahmung finden würde, vor allem bei antisemitisch eingestellten

_ Regierungen wie denen in Polen und Rumänien. Traditionelle Einwan-

_ derungsländer, allen voran die USA, rechneten mit Flüchtlingsströmen,

30 die ihre bisherigen Aufnahmekontingente sprengen würden. Daher ver-

_ schärften sie präventiv ihre Einreisebestimmungen für Juden bis hin zu

_ Einreiseverboten. Mit der Initiative für die Konferenz hoffte Roosevelt,

_ eine internationale politische Lösung herbeiführen zu können.

_ Die Konferenz wurde in Europa und den USA als außergewöhnliche hu-

35 manitäre Initiative gelobt. Das Ergebnis fiel jedoch hinter jede noch so

_ geringe Erwartung zurück: Bis auf ein einziges Land, nämlich die Domi-

_ nikanische Republik, lehnten alle Staaten konkrete Zusagen zur Aufnah-

_ me weiterer jüdischer Flüchtlinge ab. (Quelle 2/3; Leopold Schwarzschild

_ zur Konferenz von Évian, 6.–15. Juli 1938) Die jeweiligen nationalen Öko-

40 nomien, hieß es, würden keine derartigen Flüchtlingsströme verkraften,

_ und die verstärkte Einwanderung jüdischer Flüchtlinge würde den An-

_ tisemitismus in der eigenen Bevölkerung verstärken. Schlussendlich,

_ so eine weitere vorgebrachte Befürchtung, würde die Bereitschaft, die

37 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

_ Grenzen zu öffnen, Nazi-Deutschland nur einen Vorwand bieten, um sei-

_ ne Vertreibungspolitik noch zu intensivieren.

_ Die Konferenz offenbarte, dass es international keinen politischen Wil-

_ len zur Aufnahme jüdischer Flüchtlinge gab. Vielmehr hatten viele der

05 Regierungsvertreter offensichtlich gehofft, dass allein das Zustande-

_ kommen einer internationalen Konferenz ein Zeichen setzen und Nazi-

_ Deutschland zu einer diplomatischen Lösung des Flüchtlingsproblems

_ zwingen würde. Diese Hoffung stellte sich jedoch als vollkommen un-

_ begründet heraus. Die NS-Führung sah sich durch das Scheitern der in-

10 ternationalen Zusammenkunft bestätigt: Die so vehement formulierte

_ Kritik an der nationalsozialistischen Judenpolitik schien geheuchelt,

_ in Wahrheit waren Juden weltweit nicht erwünscht. Die Nationalsozia-

_ listen konnten sich sogar als Teil einer internationalen antisemitischen

_ Strömung verstehen.

15

Pogromstimmung _ Seit dem ,Anschluss‘ Österreichs war im gesamten Deutschen Reich gegen Juden wäh- _ eine emotional aufgeladene Propagandakampagne angelaufen. Ziel war rend der sogenann- _ es, die deutsche Bevölkerung auf einen ,unvermeidbaren‘ Krieg einzu- ten Sudetenkrise _ schwören, um die überwiegend von einer deutschen Minderheit besie- im Herbst 1938 20 delten Sudetengebiete „Heim ins Reich“ zu holen. Während der Attacken

_ im Zuge der Juni-Aktion waren Parolen aufgetaucht, die ,den Juden‘ Ver-

_ geltung androhten für die Vorgänge in der Tschechoslowakei: „Juda ver-

_ recke! Denk an Prag!“, hieß es oder: „Die C.S.R. uns provoziert, an Juden

_ wird es revanchiert.“ Die antijüdische Stimmung heizte sich nach dem

25 Abschluss des Münchner Abkommens am 29. September 1938 weiter

_ auf. Der von der NS-Regierung vorbereitete Krieg gegen die Tschecho-

_ slowakei war abgewendet worden. Für die radikalen Parteiaktivisten der

_ NSDAP kam dies allerdings einem Versagen gleich. Jetzt richtete sich

_ ihre geballte Aggression gegen die Juden, ‚den Feind im Innern des deut-

30 schen Machtbereichs‘.

_ Als am 1. Oktober deutsche Truppen im Sudetenland einmarschierten,

_ wurden jüdische Geschäfte in Karlsbad, Eger, Franzensbad und in wei-

_ teren sudetendeutschen Städten zerstört. Im ,Altreich‘ setzten in vielen

_ Regionen schwere Übergriffe gegen Juden ein. Vor allem Franken – wo

35 der antisemitische Agitator Julius Streicher Gauleiter war – zeichne-

_ te sich durch heftige antijüdische Gewalttätigkeiten aus. In Nürnberg,

_ München und Dortmund wurden Synagogen eingerissen, in Wien jü-

_ dische Institutionen und Synagogen tagelang attackiert. (Quelle 2/4;

_ Augenzeugenbericht eines deutsch-jüdischen Geschäftsinhabers, ver-

40 mutlich aus Treuchtlingen/Franken, Teil 2)

_ Die politische Anspannung in Europa und Ängste vor einem Krieg blie-

_ ben auch nach der Sudetenkrise bestehen. Die Juden innerhalb des

_ deutschen Machtbereichs erlebten täglich, wie die Stimmung auf den

38 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

_ Straßen aggressiver und Angriffe auf sie gewalttätiger wurden. Auch in-

_ ternationale jüdische Organisationen, wie der Jüdische Weltkongress,

_ nahmen die Bedrohungslage wahr. In einem Mitte Oktober 1938 ver-

_ fassten vertraulichen Bericht zur Situation der Juden in Europa heißt es:

05 „Was aus den noch in Grossdeutschland lebenden 300 000 Juden wer-

_ den soll, ist völlig unausdenkbar, die Phantasie eines Dante kann nicht

_ die Leiden ausmalen, die diesen unglücklichsten Teilen des jüdischen 7 _ Volkes in der allernächsten Zeit bevorstehen.“

_

Deportation 10 Im Oktober 1938 wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht. Betroffen polnisch-jüdischer _ waren Tausende polnisch-jüdischer Arbeitsmigranten, die zum großen

Arbeitsmigranten _ Teil seit Jahrzehnten in Deutschland lebten. Sie gerieten zwischen die im Oktober 1938 _ Mühlsteine der antijüdischen Politik der polnischen Regierung und der

_ antijüdischen Vertreibungspolitik des NS-Staates. Ende März 1938 ver-

15 abschiedete die polnische Regierung ein Gesetz, das darauf ausgerich-

_ tet war, sich der polnisch-jüdischen Arbeitsmigranten zu entledigen.

_ Laut Gesetz sollte polnischen Bürgern, die seit mehr als fünf Jahren im

_ Ausland gelebt hatten, die Staatsangehörigkeit entzogen werden. Wer

_ bis zum Stichtag 29. Oktober 1938 seinen Pass nicht zur Kontrolle bei

20 den polnischen Konsulaten vorgelegt hatte, wurde automatisch staa-

_ tenlos. Eine Rückkehr nach Polen war damit ausgeschlossen. Ebenso

_ klar war, dass das NS-Regime auf lange Sicht keine staatenlosen Juden

_ dulden würde. Verhandlungen fanden nicht statt, da seit dem Münchner

_ Abkommen die deutsch-polnischen Beziehungen deutlich abgekühlt

25 waren. In einem Punkt stimmten die politischen Ziele jedoch überein:

_ Beide Regierungen wollten die Juden loswerden.

_ Am 27./28. Oktober, 48 Stunden vor Ablauf der Frist, wurden in mehreren

_ deutschen Städten zwischen 15 000 und 17 000 polnische Juden verhaf-

_ tet, zu Sammelstellen gebracht und in Zügen an die deutsch-polnische

30 Grenze deportiert. Über Tage blieb die Grenze in beide Richtungen ge-

_ sperrt. Tausende der Verschleppten irrten im Niemandsland umher, bis

_ sie im polnischen Grenzgebiet in improvisierten Lagern, unter anderem

_ in Zba˛szyn´ (Neu-Bentschen), interniert wurden. Die Einreise nach Polen

_ wurde ihnen weiterhin verweigert, zurück nach Deutschland konnten

35 sie nicht. Sie waren aus Deutschland vertriebene polnische Juden im

_ Niemandsland. Unter den Deportierten befanden sich die Familienan-

_ gehörigen eines jungen polnisch-deutsch-jüdischen Flüchtlings na-

_ mens Herschel Feibel Grynszpan, der sich zu dieser Zeit illegal in Paris

_ aufhielt. Knapp eine Woche später, in den Tagen nach dem 7. November

40 1938, war das Foto dieses Jugendlichen auf sämtlichen Titelblättern

_

_ 7 Susanne Heim (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozi- alistische Deutschland 1933-1945, Bd. 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939, hrsg. von Götz Aly u.a., _ München 2009, S. 309.

39 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

_ der europäischen und internationalen Tagespresse zu sehen. Herschel

_ Grynszpan stand von einem Tag auf den andern im Zentrum des poli-

_ tischen Weltgeschehens. (Quelle 2/5; Aussage von Sendel Grynszpan,

_ dem Vater von Herschel Grynszpan, im Eichmann-Prozess 1961 über die

05 Deportationen)

_

_

_

_

_ OSTSEE OST _ NORDSEE Danzig PREUSSEN _

_ Hamburg

_

Bremen_ Berlin Warszawa _ Hannover NIEDERLANDE Bochum POLEN _ Neu- Dortmund Essen _ Bentschen

_ Duisburg RHEINLAND Düsseldorf Leipzig Köln _ Chojnice BELGIEN DEUTSCHES_ Konitz _ REICH Kraków _

SAAR _ LUXEMBURG TSCHECHOSLOWAKEI _

_ Wien FRANKREICH Stuttgart _

_ BAYERN

_ ÖSTERREICH UNGARN _ SCHWEIZ _

_ ITALIEN JUGOSLAWIEN _

_ Die im Deutschen Reich lebenden polnischen Juden wurden am 27./28. Oktober 1938 auf den eingezeichneten Reichsbahnstrecken an die polnische Grenze deportiert. _

_ Karte in Anlehnung an: Martin Gilbert, Atlas of , London: Pergamon Press 1988, S.26

_

_

_

_

_

_

40 2. 1938 – Expansion des NS-Regimes

_ / Arbeitsvorschläge

_ Die darstellenden Basistexte beschreiben die historischen Entwicklun-

_ gen. Die Augenzeugenberichte und die weiteren Quellen eignen sich, um

_ einige Ereignisse, Entwicklungen und Zusammenhänge herauszuarbei-

05 ten. Eine Arbeitsgruppe kann zu dem Schwerpunkt der Expansion des

_ NS-Regimes im Jahr 1938 eine Erzählung aus jüdischer Sicht erarbei-

_ ten. Zur Orientierung können dabei folgende Schwerpunkte hilfreich

_ sein:

_ / Der Zusammenhang zwischen nationalsozialistischer Expansion, Ra-

10 dikalisierung der antijüdischen Politik und gewalttätigen Ausschrei-

_ tungen gegen Juden kann erläutert werden.

_ / Anhand der konkreten Maßnahmen gegenüber Juden kann das An-

_ wachsen staatlicher Gewalt dargestellt werden.

_ / Der innere Widerspruch der nationalsozialistischen Zielsetzungen,

15 zugleich die Entrechtung und ‚Arisierung‘ sowie die Auswanderung

_ der Juden zu befördern, kann am Beispiel der Folgen dieser wider-

_ sprüchlichen Politik für einzelne Verfolgte deutlich gemacht werden.

_ / Die internationalen Reaktionen auf die ansteigende Auswanderung

_ von Juden aus dem deutschen Machtbereich können als Hintergrund

20 für die Fluchtvorbereitungen und die Entscheidungen deutscher Ju-

_ den im Jahr 1938 dargestellt werden.

_ / Die Erzählung auf Grundlage dieses Kapitels soll insgesamt beschrei-

_ ben, wie sich die Lage der deutschen Juden von Ende 1937 bis Oktober

_ 1938 entwickelte.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

41 Quellen / Kapitel 2

Quelle 2/1 //1 von 2 Seiten

_ Auszug aus dem Augenzeugenbericht eines _ den unter die Leitung eines arischen Kommis-

_ jüdischen Jugendlichen aus Wien 45 sars gestellt, falls sie nicht sofort ,arisiert‘,

_ _ das heißt von Nazis geraubt wurden. [...]

_ Der sogenannte Anschluss Österreichs im _ Von den braunen Horden wurden Damen und

05 März 1938 war der Auftakt der Expansions- _ Herren willkürlich auf der Straße zusam-

_ offensive des NS-Regimes. Am 12. März mar- _ mengefangen oder von den Wohnungen zum

_ schierten unter dem Jubel weiter Teile der 50 ,Reiben‘ (waschen) geholt. Sie mussten die

_ Bevölkerung deutsche Truppen in Österreich _ Aufschriften des alten Regimes abwaschen,

_ und der Landeshauptstadt Wien ein. Schon _ wobei sie von den Nazis verlacht und miss-

10 am Tag davor war die jüdische Bevölkerung in _ handelt wurden. Die SA besetzte manchmal

_ Wien brutal angegriffen worden. Die Pogrom- _ jüdische Wohnungen, um im Radio Hitlerre-

_ stimmung hielt über Wochen an. Der jugendli- 55 den zu hören. Auf der Straße mussten alte

_ che Verfasser des folgenden Berichts schreibt _ Juden nicht selten militärische Übungen ma-

_ über seine Erfahrungen zwischen März und _ chen oder Gymnastik treiben.

15 August 1938. Er muss Wien Anfang August _

_ 1938 verlassen haben. Seine Aufzeichnungen _ Verhaftungen beginnen:

_ wurden an das Jewish Central Information 60 Hat sich ein Jude um eine Ausreise ins Aus-

_ Office in Amsterdam übersandt; sie befinden _ land bemüht, so wurde er verhaftet, weil

_ sich heute im Archiv der Wiener Library in _ ‚Fluchtgefahr‘ bei ihm vermutet wurde.

20 London. _ Hat sich andererseits ein Jude nicht um die

_ _ Ausreise bemüht, so ‚wollte‘ er ja in Deutsch-

_ Ich bin ein erst 16-jähriger österreichischer 65 land bleiben und wurde ebenfalls verhaftet!

_ Flüchtling, der vor einigen Monaten mit dem _ Die prominenten Wiener Juden kamen jetzt

_ nackten Leben glücklich der Hölle entronnen _ größtenteils in ‚Schutzhaft‘.

25 ist. – Unter Hölle meine ich das von 15- bis _ Das Leben wurde unerträglich, und zahlreiche

_ 25-jährigen Verbrechern besetzte Wien. _ Wiener machten im Moment ihrer Verhaftung

_ Ich kann hier in wenigen Zeilen nicht all das 70 ihrem Leben freiwillig ein Ende, doch schei-

_ Schreckliche und Grausame, was ich in knapp _ nen sie auch oft von den in die Wohnungen

_ fünf Monaten erlebt habe, schildern. Selbst _ eingedrungenen Nazis erschossen worden zu

30 wenn ich viele Jahre darüber sprechen würde, _ sein.

_ wäre es mir unmöglich, das zu erzählen, was _ Durch die Straßen Wiens fuhren Tausende

_ ich persönlich gelitten habe. […] 75 große Kraftwagen, in denen junge Nazis fuh-

_ Die Tage nach dem 13. März 1938: _ ren und ‚Juda verrecke‘ riefen. Nirgends war

_ Zu dieser Zeit drangen häufig mit Revolvern _ man als Jude seines Lebens mehr sicher,

35 und aufgepflanzten Bajonetten bewaffnete _ denn schon ein 5-jähriger Junge hatte ein

_ Nazis in jüdische Wohnungen und Geschäfte _ 20 cm langes Messer, mit dem er ‚Sau-Juden‘

_ ein, um diese auszuplündern. Die jüdischen 80 bedrohen und verletzen durfte oder sollte.

_ Geschäfte wurden mit weißer oder schwarzer _ Ich selbst besuchte ein Realgymnasium, wo

_ Farbe beschmiert und neben Zeichnungen, die _ hauptsächlich arische Schüler waren. Nach

40 Juden darstellen sollten, fand man auf jedem _ dem Einmarsch Hitlers schlugen die arischen

_ jüdischen Geschäft folgende Inschrift: ,JUD _ Jungen die jüdischen so arg, dass der Nazi-

_ oder SAUJUD‘, einige Zeit später ,BIN SCHON 85 Direktor unserer Anstalt sich gezwungen sah,

_ IN DACHAU‘ etc. Die jüdischen Geschäfte wur- _ folgende Weisung zu erteilen: ‚Arische Schü-

42 Quellen / Kapitel 2

Quelle 2/1 //2 von 2 Seiten

_ ler sollen in Zukunft gegen jüdische Schüler _

_ im Schulhaus nicht aggressiv werden, da das _

_ Schicksal dieser Menschen außerhalb der _

_ Schule bestimmt wird.‘ _

05 Ich möchte erwähnen, dass diese Anordnung _

_ auf die mit Revolvern, Messern, Stiefeln, _

_ braunen und weißen Hemden ausgerüsteten _

_ ‚deutsch-arischen‘ Schüler natürlich nicht die _

_ geringste Wirkung hatte; sie kamen in dersel- _

10 ben Tracht weiter zum Unterricht und zeigten _

_ deutlich, dass die Nazis jetzt da seien. […] _

_ Mehr als einen unglücklichen Tag, mehr als _

_ eine schlaflose Nacht habe ich in diesen Mo- _

_ naten verbracht. […]“ _

15 _

_ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael _ Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ 2008, S. 736 ff. _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

43 Quellen / Kapitel 2

Quelle 2/2 //1 von 2 Seiten

_ Auszug aus dem Bericht „Die Lage der Juden _ sie aus jeder Gemeinde die männlichen Mit-

_ in Deutschland“ des Jewish Central Informa- 45 glieder nach einer festgelegten Quote verhaf-

_ tion Office, Amsterdam vom 11. Juli 1938 _ tete. Dieses Vorgehen, dem meist zahlreiche

_ _ völlig unbescholtene Menschen zum Opfer

05 Das Jewish Central Information Office wur- _ gefallen sind, hat in den Junitagen zur gröss-

_ de 1933 von dem deutschen Juden Alfred _ ten Bestürzung unter den Juden und zu tiefer

_ Wiener in Amsterdam gegründet. Wiener war 50 Depression geführt. Sie wagten ihre eigenen

_ Generalsekretär des Centralvereins deut- _ Wohnungen nicht mehr zu betreten. Sie irr-

_ scher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Er _ ten in den Parks und Wäldern umher oder sie

10 hatte Deutschland wenige Monate nach der _ sassen verängstigt beieinander, stets darauf

_ ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten im _ gefasst, dass das nächtliche Klingelzeichen

_ Januar 1933 verlassen und war in die Nieder- 55 vielleicht über ihr Leben entscheiden könne.

_ lande emigriert. Ziel der neugegründeten Or- _ So ist es erklärlich, dass in dieser Verzweif-

_ ganisation war, „Darstellungen und Auskünfte _ lungsstimmung jüdische Ärzte für Freunde

15 über die Lage der Juden in der ganzen Welt, _ Gift bereitgehalten haben, um sie durch den

_ vor allem aber in Deutschland zu geben [...].“ _ Selbstmord vor dem Konzentrationslager zu

_ Die Vereinigung veröffentlichte regelmäßig 60 bewahren.

_ Berichte zur Lage der Juden in Deutschland. _ Festnahme der Vorbestraften:

_ Der Bericht vom Juli 1938 konzentrierte sich _ […] Offiziell wurde erklärt, dass jeder, der zu

20 auf die sogenannte Juni-Aktion. _ einer Gefängnisstrafe von 30 Tagen oder ei-

_ _ ner dementsprechenden Geldstrafe verurteilt

_ 65 war, festgenommen werden könne. Manchmal

_ Schon Ende Mai begann die Aktion in Frank- _ hat man aber auch Leute verhaftet, die eine

_ furt a. Main. Läden wurden angepinselt, Pos- _ viel kleinere Strafe oder auch nur eine Poli-

25 ten aufgestellt und so die jüdischen Geschäf- _ zeistrafe erhalten hatten. In einigen Fällen

_ te lahmgelegt. Auch Privathäuser wurden _ hat man sie wieder freigelassen, die meis-

_ angestrichen, sogar in einem so ruhigen Vor- 70 ten sitzen noch jetzt im Konzentrationslager.

_ ort Frankfurts wie Ginnheim. Die zwei Syna- _ Irgendeine Norm gibt es nicht. Es sind Men-

_ gogen Frankfurts wurden mit Aufschriften wie _ schen verhaftet worden, deren Vergehen fünf

30 ‚JUDA VERRECKE‘, ‚MAUSCHELBUDE‘ verse- _ Jahre zurücklag, und andere, die entweder gar

_ hen und sämtliche Fensterscheiben wurden _ nicht mehr wussten, dass sie jemals bestraft

_ eingeschlagen. 75 worden waren, oder deren Vergehen schon

_ Auch im Hessischen, das schon immer für die _ mehr als 20 Jahre zurücklag. Man verhaftete

_ Juden eine sehr schlimme Gegend war, haben _ Personen, die einmal eine kleine Steuerstrafe

35 viele Angriffe stattgefunden. In Hanau wurde _ erhalten hatten, andere, die wegen eines Ge-

_ die Synagogentür zugemauert. [...] _ werbevergehens bestraft wurden, und auch

_ III. Die Verhaftungen 80 solche, die in der Kriegszeit wegen ‚Hams-

_ Lieber vergiftet als verhaftet. _ terns‘ bestraft worden waren. Auch das Über-

_ Gemeinsam mit den Boykottmassnahmen _ fahren eines Haltesignals, das einem Auto-

40 fanden in ganz Deutschland Verhaftungen von _ lenker leicht passieren kann, konnte zu seiner

_ tausenden von Juden statt. Es scheint so, dass _ Festnahme führen. […]

_ die Gestapo bei den Festnahmen nach einem 85 Ähnliche Verhaftungen spielten sich im gan-

_ bestimmten System vorgegangen ist, indem _ zen Reich ab. So hat man in Frankfurt am

44 Quellen / Kapitel 2

Quelle 2/2 //2 von 2 Seiten

_ Main ca. 400 jüdische Männer verschiede- _

_ nen Alters und Berufs festgenommen. Bei all _

_ diesen Razzien ist vielfach Geld gestohlen _

_ worden. – Die Verhafteten kommen zunächst _

05 in das Gefängnis, dann in die Konzentrati- _

_ onslager. Die Angehörigen verbleiben oft wo- _

_ chenlang in furchtbarer Ungewissheit ehe sie _

_ Nachrichten über das Schicksal des Mannes _

_ oder Sohnes erhalten. _

10 _

_ Quelle abgedruckt in: Christian Faludi (Hrsg.), Die „Juni- _ Aktion“ 1938. Eine Dokumentation zur Radikalisierung der _ _ Judenverfolgung, Frankfurt am Main/New York 2013, S. 307 ff. _ Unterstreichungen im Original. _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

45 Quellen / Kapitel 2

Quelle 2/3

_ Leopold Schwarzschild zur Konferenz von _ Die Einladung zur Konferenz von Evian ist von

_ Évian, 6.–15. Juli 1938 45 der zivilisierten Welt mit bemerkenswerter

_ _ Wärme begrüßt worden. Das war verständ-

_ Der deutsch-jüdische Publizist, Schriftstel- _ lich. In Sachen der politisch Vertriebenen

05 ler und Literaturwissenschaftler Leopold _ leidet diese Welt peinlich an ihrem schlech-

_ Schwarzschild (1899–1979) war Kommunist _ ten Gewissen. Sie weiß durchaus, – weiß es

_ und gehörte zu den ersten deutschen Ju- _ in ihrem Bewußtsein oder mindestens in ih-

_ den, die 1933 aus Deutschland ausgewiesen _ rem Unterbewußtsein –, daß die Aufnahme

_ wurden. Er kommentierte die internationale _ einiger Hunderttausend Auswanderer durch

10 Flüchtlingskonferenz, die vom 6. bis 15. Juli _ eine Menschheit von mindestens ebensoviel

_ 1938 unter der Beteiligung von 31 Nationen _ hundert Millionen tatsächlich kein ‚Problem‘

_ im französischen Kurort Évian-les-Bains am _ ist, sondern eine Miniatur-Angelegenheit.

_ Genfer See stattfand. _ […] Sie hat ein schlechtes Gewissen, – ganz

_ _ akut wieder seit Österreich. Aber trotz allen

15 _ schlechten Gewissens hat keiner den Willen,

_ _ es selbst von nun ab anders zu halten. […]

_ _ Einunddreißig Regierungen entsandten an-

_ _ genehm berührt ihre Delegation –, jede von

_ _ ihnen ganz klar darüber, daß die Situation

20 _ eine wahre Schande ist, – und jede von der

_ _ Hoffnung beseelt, daß die dreißig anderen so-

_ _ wohl die Situation wie die Schande beseitigen

_ _ würden. […] Man kann nicht behaupten, daran

_ _ habe sich nun, da die Konferenz getagt hat,

25 _ schon das geringste geändert. […]

_ _

_ _ Quelle abgedruckt in: Leopold Schwarzschild, „Bemerkun- gen nach Evian“, in: Das Neue Tage-Buch, Paris, 6 (1938), _ _ 30 (23.7.), S. 705 f., zit. nach Günther Pflug (Hrsg.), Die jü- _ _ dische Emigration aus Deutschland 1933–1941. Die Ge- schichte einer Austreibung, Katalog zu einer Ausstellung der 30 _ Deutschen Bibliothek unter Mitwirkung des Leo Baeck Insti- _ _ tuts, New York/Frankfurt am Main 1985, S. 207.

_ _

_ _

_ _

35 _

_ _

_ _

_ _

_ _

40 _

_ _

_ _

_ _

46 Quellen / Kapitel 2

Quelle 2/4

_ Augenzeugenbericht eines deutsch-jüdi- _ Tochter bei einem Überfall des Pöbels bei der

_ schen Geschäftsinhabers, vermutlich aus 45 Juni-Aktion dabei war. Es wurde das jüdische

_ Treuchtlingen/Franken, Teil 2 _ Mädchenheim überfallen; auf einen Telefon-

_ _ anruf bei dem Überfallkommando der Haupt-

05 Der Bericht zur antijüdischen Stimmung 1938 _ stadt Berlin kam die Rückfrage, ob es sich um

_ wurde Ende November 1938 verfasst. Der _ Nichtarier handelt, dann sei das Überfallkom-

_ Name des Autors und seine Fluchtgeschichte 50 mando nicht zuständig. [...]

_ sind nicht überliefert. _

_ _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- 10 _ [...] In ... war die Lage so, dass es schon seit berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ Jahren fast unmöglich war, die Kinder allein _ 2008, S. 455 f.

_ durch die Straße gehen zu lassen. Die Anpö- _

_ belungen seitens der Schuljugend [machte] _

_ auch vor Erwachsenen nicht halt; bis Anfang _

15 1938 hatten Beschwerden bei der Gendar- _

_ merie für kurze Zeit Ruhe ergeben, später _

_ waren auch Beschwerden zwecklos. Das Ein- _

_ schlagen der Fenster wurde teilweise durch _

_ die Glasversicherungs-Gesellschaften un- _

20 terbunden. Jedes Kaufen in jüdischen Ge- _

_ schäften, jedes Sprechen oder Grüßen eines _

_ Juden durch einen Nichtjuden wurde sofort _

_ dem Bürgermeister gemeldet, welcher sofort _

_ die ,Frevler‘ zu sich kommen ließ. Sie wurden _

25 von städtischen Lieferungen, Unterstützun- _

_ gen etc. ausgeschlossen. Im Mai 1938 haben _

_ die Friseure in ihrer Gesamtheit beschlos- _

_ sen, Juden nicht mehr zu bedienen. Einzelne _

_ Handwerker hatten dies schon früher getan. _

30 Anfang Herbst 1938 bei der tschechischen _

_ Kriegskrise nahm die Feindseligkeit der Be- _

_ völkerung sichtlich zu. Anrempelungen von _

_ Groß und Klein, Steinwerfen, Fenster-Ein- _

_ werfen, Aushängen der Fensterläden bei Tag _

35 waren nichts Seltenes. Die Unruhe und die _

_ Nervosität nahmen noch zu, als von verschie- _

_ denen jüdischen Gemeinden gehört wurde _

_ (Leutershausen, Ellingen etc.), dass die Juden _

_ an hohen Feiertagen gezwungen wurden, ihre _

40 Häuser zu verlassen, ihr Hab und Gut stehen- _

_ zulassen und die Synagogen zu Spottpreisen _

_ (teilweise um wenige Mark) zu verkaufen. Ein- _

_ schalten will ich noch, dass meine 17-jährige _

47 Quellen / Kapitel 2

Quelle 2/5

_ Aussage von Sendel Grynszpan, dem Vater _ half mir auf und sagte zu mir: ‚Lauf schnell,

_ von Herschel Grynszpan, im Eichmann- 45 Vater, sonst mußt du sterben!‘ Als wir an die

_ Prozess 1961 über die Deportationen _ polnische Grenze kamen, zur sogenannten

_ _ grünen Grenze (…), gingen die Frauen zuerst

05 Am 27. und 28. Oktober wurden in mehreren _ ’rüber. Die Polen wußten nichts. Sie holten ei-

_ deutschen Städten circa 17.000 polnische _ nen polnischen General und einige Offiziere,

_ Juden verhaftet, zu Sammelstellen gebracht 50 die untersuchten unsere Papiere und sahen,

_ und in Zügen an die deutsch-polnische Gren- _ daß wir polnische Staatsbürger waren, daß

_ ze deportiert. Unter den Deportierten befan- _ wir Sonderausweise hatten. Sie beschlos-

10 den sich Sendel und Ryfka Grynszpan mit _ sen dann, uns hereinzulassen. Wir wurden in

_ ihren beiden Kindern Beile (Berta) und Mar- _ ein Dorf von 6 000 Einwohnern gebracht, und

_ cus. Den Ablauf dieser ersten Deportation 55 dabei waren wir selber 12 000 Menschen. Es

_ von Juden schilderte Sendel Grynszpan 1961 _ regnete stark, viele Leute wurden ohnmäch-

_ im Eichmann-Prozess in Jerusalem, wo er als _ tig – überall sah man alte Männer und Frau-

15 Zeuge aufgerufen war. Sendel Grynszpan war _ en. Wir haben sehr gelitten, es gab nichts zu

_ der Vater des jugendlichen Attentäters Her- _ essen, und wir hatten seit Donnerstag nichts

_ schel Grynszpan, der am 7. November 1938 in 60 mehr zu essen gehabt […].

_ der Deutschen Botschaft in Paris den Diplo- _

_ maten Ernst vom Rath niedergeschossen hat. _ Zit. nach , Eichmann in Jerusalem. Ein Be­ richt von der Banalität des Bösen, München/Zürich 1986 20 _ (zuerst München 1964), S. 273 f. _ _

_ […] Und dann lud man uns [in Hannover] auf _

_ Polizeiautos, auf Gefängniswagen, ungefähr _

_ zwanzig auf jeden Wagen, und transportierte _

25 uns zum Bahnhof. Die Straßen waren schwarz _

_ von Menschen, und sie schrien: ‚Juden raus _

_ nach Palästina!‘ (…) Wir wurden mit der Ei- _

_ senbahn nach Neu-Bentschen transportiert, _

_ nach der polnischen Grenze. Als wir dort anka- _

30 men, war es sechs Uhr morgens am Sabbath. _

_ Da kamen Züge aus allen möglichen Orten, _

_ aus Leipzig, Köln, Düsseldorf, Essen, Biele- _

_ feld, Bremen. Zusammen waren wir ungefähr _

_ 12 000 Menschen (…) Das war am Sabbath, _

35 am 29. Oktober (…) Die SS-Leute trieben uns _

_ mit Peitschen an, und denen, die nicht mitka- _

_ men, versetzten sie Peitschenhiebe, und Blut _

_ floß auf die Straße. Sie rissen uns unsere Kof- _

_ fer weg, sie behandelten uns auf die brutals- _

40 te Weise, damals sah ich zum erstenmal die _

_ wilde Brutalität der Deutschen. Sie schrien _

_ uns an: ‚Lauft!, lauft!‘, ich wurde auch ge- _

_ schlagen und fiel in einen Graben. Mein Sohn _

48 3. Herschel Grynszpan Die Geschichte eines polnisch-deutsch- jüdischen staatenlosen Jugendlichen

_

_ Herschel Feibel Grynszpan wurde 1921 als sechstes Kind polnisch-jü-

_ discher Arbeitsmigranten in Hannover geboren und wuchs dort auf. Im

_ Sommer 1936 verließ er Nazi-Deutschland. Für den 15-jährigen Juden

05 mit polnischer Staatsangehörigkeit gab es dort keine Perspektive, we-

_ der auf einen Ausbildungs- noch auf einen Arbeitsplatz. Zwei Jahre leb-

_ te er als illegaler Flüchtling bei Verwandten in Paris. Dann spitzte sich

_ im Herbst 1938 seine prekäre Situation weiter zu. Alle seine Versuche,

_ seinen Status in Frankreich zu legalisieren, scheiterten. Ein Einreisevi-

10 sum nach Übersee war nicht in Sicht. Ende Oktober entzog die polnische

_ Regierung polnischen Bürgern, die seit mehr als fünf Jahren im Ausland

_ lebten, die Staatsangehörigkeit. Damit war Herschel Grynszpan staa-

_ tenlos. In dieser Situation erhielt er am 3. November 1938 eine Post-

_ karte von seiner Schwester Beile (Berta). Sie schrieb ihm, dass seine

15 gesamte Familie aus Hannover ins polnische Grenzgebiet abgeschoben

_ worden war. (Quelle 3/1; Postkarte von Beile (Berta) Grynszpan an ihren

_ Bruder Herschel (Hermann) in Paris)

_

Das Attentat _ Am Morgen des 7. November 1938 verließ Herschel Grynszpan um in Paris 20 8.30 Uhr das Hotel Suez in Paris, wo er sich für eine Nacht eingemietet

_ hatte. Zielstrebig führte ihn sein Weg in einen kleinen Laden namens

_ A la Fine Lame (Zur feinen Klinge), der neben Haushaltsgeräten auch

_ Waffen führte. Ohne größere Schwierigkeiten wurde dem jungen Mann

_ nach der Vorlage seines Passes für 245 Francs ein Trommelrevolver mit

25 25 Patronen verkauft. Den Revolver lud Grynszpan in einem Lokal um

_ die Ecke und verstaute ihn in der Innentasche seiner Jacke. Anschlie-

_ ßend fuhr er mit der Metro zur Deutschen Botschaft in der Rue de Lille,

_ die er um 9.30 Uhr erreichte. Vor dem großen Gebäude fragte er einen

_ salopp gekleideten Herrn nach den Räumen der Botschaft. Dieser ver-

30 wies ihn an die Pförtnerfrau, die ihn weiterschickte zum Empfang in der

_ ersten Etage. Dem dort postierten Amtsgehilfen namens Nagorka gab

_ Grynszpan seinen richtigen Namen an und erklärte, er wünsche einen

_ Botschaftsangehörigen zu sprechen, da er ein wichtiges und dringendes

_ Dokument zu überreichen habe. Nagorka wollte das Dokument entge-

35 gennehmen, doch Grynszpan beharrte auf einer persönlichen Übergabe.

_ Nach kurzer Wartezeit wurde er, ohne sich weiter ausweisen zu müssen,

_ zum Zimmer des Legationsrates Ernst vom Rath geführt. Nagorka hatte

_ vom Rath als Ansprechpartner ausgewählt, da sich der für den Besu-

_ cherempfang zuständige Kollege an diesem Tag noch nicht an seinem

40 Platz befand. Nachdem sich die Tür hinter Grynszpan geschlossen hat-

_ te, bat ihn vom Rath, Platz zu nehmen und fragte nach seinem Anlie-

_ gen. In diesem Moment zog Herschel Grynszpan den Revolver (an dem

_ noch das Preisschild hing), schoss fünfmal hintereinander auf den vor

49 3. Herschel Grynszpan

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Jeschiwa-Studenten nach einem Fußballspiel, 1936 in Frankfurt am Main.

_ Der 2. von links in der 2. Reihe ist Herschel Grynszpan. Er studierte 1935 und 1936 an der Rab- binischen Lehranstalt in der Theobald-Christ-Straße 6 im Frankfurter Ostend _ © Jüdisches Museum Frankfurt _

_

_ Schreck aufgesprungenen vom Rath und rief: „Sie sind ein schmutzi-

_ ger Deutscher [sale boche], und nun übergebe ich Ihnen im Namen von

_ 12 000 schikanierten Juden das Dokument.“ Der schwer verletzte vom

_ Rath, den zwei Schüsse des ungeübten Schützen getroffen hatten, ging

05 auf Grynszpan zu, versetzte ihm einen Faustschlag, torkelte dann laut

_ um Hilfe schreiend zur Tür und weiter auf den Gang. Nagorka und ein

_ zweiter Amtsgehilfe waren sofort zur Stelle und stürzten in das Zimmer,

_ wo Herschel Grynszpan anscheinend darauf gewartet hatte, abgeholt

_ zu werden. Die Waffe hatte er auf den Boden geworfen. Ohne jede Ge-

10 genwehr ließ sich der Attentäter ruhig und gefasst zum Haupteingang

_ des Botschaftsgebäudes führen, wo er um 9.50 Uhr dem dort patrouil-

_ lierenden französischen Schutzmann übergeben wurde. Ernst vom Rath

_ wurde noch vor Ort vom Vertrauensarzt der Botschaft versorgt und kurz

_ darauf in eine Pariser Klinik gebracht.

15 Herschel Grynszpan wurde noch am selben Tag auf dem naheliegenden

_ Polizeirevier zweimal verhört, seine persönliche Habe, die er bei sich

_ trug, wurde beschlagnahmt. Am Tag darauf führte man ihn einem franzö-

_ sischen Untersuchungsrichter vor, der ihn erneut vernahm und anschlie-

_ ßend in die Jugendhaftvollzugsanstalt Fresnes einwies. Am 9. November

20 erlag Ernst vom Rath seinen Verletzungen. Gegen Herschel Grynszpan

_ wurden Ermittlungen eingeleitet; der Tatverdacht lautete Mord.

50 3. Herschel Grynszpan

Reaktionen auf _ Für die jüdischen Repräsentanten in Deutschland war die Bedrohung, das Attentat _ die durch das Attentat entstanden war, sofort klar. Hans Reichmann,

_ der im Leitungsgremium des Centralvereins war, der größten deutsch-

_ jüdischen Organisation, schrieb über diesen Tag: „In der Mittagsstunde

05 hörten Eva und ich die gleichgültigen Radiomeldungen. Plötzlich horch-

_ ten wir auf: ein polnischer 17-jähriger Jude Grynszpan hat in der Pariser

_ Deutschen Botschaft auf den Legationssekretär vom Rath geschossen.

_ Wir schrecken zusammen. Ein schauriger Zufall – das Signal für unse-

_ ren Todfeind. In dieser Stimmung und bei diesem Stand der Kampagne

10 wird der Zwischenfall gierig ausgebeutet werden. Die innenpolitische 8 _ Situation scheint auf diese Parole gewartet zu haben.“

_ Die Reichsvertretung, der Dachverband aller jüdischen Gemeinden und

_ Organisationen im Deutschen Reich, reagierte noch am selben Tag auf

_ die Pariser Ereignisse. Ihr Präsident Leo Baeck sandte ein Telegramm

15 an die NS-Führung, um sich von dem Anschlag klar zu distanzieren: „Mit

_ tiefer Entrüstung haben wir von dem Attentat erfahren, das gegen ein

_ Mitglied der Deutschen Botschaft in Paris verübt worden ist. Wir verab-

_ scheuen dieses Verbrechen. Es ist ein Verbrechen auch gegen den Geist

_ des Judentums. Wir haben die jüdische Presse in Deutschland ersucht, 9 20 diesem unserem Empfinden Ausdruck zu geben.“ Die düsteren Vorah-

_ nungen wurden weit übertroffen. Am Abend des 7. November setzten

_ die ersten noch regional begrenzten Ausschreitungen gegen Juden ein.

_ Dann folgte in der Nacht vom 9. auf den 10. November die sogenann-

_ te Reichskristallnacht. Zum ersten Mal richtete sich die hasserfüllte

25 Gewalt in aller Öffentlichkeit gegen Juden, und das im gesamten Deut-

_ schen Reich.

_

Die Motive _ Das Entsetzen Herschel Grynszpans angesichts der Novemberpogrome von Herschel _ ist in einigen seiner Briefe aus der Haft dokumentiert. Ob und inwieweit

Grynszpan 30 er vor der Tat überhaupt in Erwägung gezogen hatte, dass sein Attentat

_ antisemitische Reaktionen auslösen würde, lässt sich nicht rekonstru-

_ ieren. Zu seinen Motiven für das Attentat hat er sich jedoch mehrfach

_ in Vernehmungen und Briefen geäußert. (Quellen 3/2; Vernehmungen

_ Herschel Grynszpans nach der Tat und Quelle 3/3; Brief Herschel Gryns-

35 zpans aus der Untersuchungshaft an seine Eltern) Dennoch wurde die

_ Persönlichkeit des jungen Attentäters damals wie in der Geschichts-

_ schreibung nach 1945 sehr unterschiedlich beurteilt und eingeschätzt.

_ Von zentraler Bedeutung war die Frage: Aus welchem Motiv heraus

_ hatte dieser junge Mann seinen offensichtlich in klarem Bewusstsein

40 gefassten Plan, einen Angehörigen der Deutschen Botschaft nieder-

_ 8 Hans Reichmann, Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937 _ bis 1939, Bearb. von Michael Wildt, München 1998, S. 110. 9 Armin Fuhrer, Herschel. Das Attentat des Herschel Grynszpan am 7. November 1938 und der Beginn des _ Holocaust, Berlin 2013, S. 110.

51 3. Herschel Grynszpan

_ zuschießen, so entschlossen und ohne äußerlich sichtbare Aufregung

_ durchgeführt?

_ Unter den zeitgenössischen Reaktionen ragt das Engagement der da-

_ mals berühmten liberalen US-amerikanischen Journalistin Dorothy

05 Thompson heraus, die keine Jüdin war. Sie rief in einer Radioansprache

_ und in diversen Zeitungsartikeln zur Solidarität mit Herschel Gryn­szpan

_ auf. (Quelle 3/4; Radiobeitrag der US-amerikanischen Journalistin

_ Dorothy Thompson über Herschel Grynszpan vom 14. November 1938)

_ Eine weitere prominente politisch linke Stimme, die den Attentäter ge-

10 wissermaßen verteidigte, war der im Exil in Mexiko lebende russische

_ Revolutionär Leo Trotzki. Er schrieb im Februar 1939 in der US-amerika-

_ nischen Zeitung Socialist Appeal: „Vom moralischen Standpunkt – und

_ nicht hinsichtlich seiner Aktionsmethoden – kann Grynszpan jedem 10 _ jungen Revolutionär als Vorbild dienen.“ Ein Prozess gegen Herschel

15 Grynszpan kam nie zustande, weder in Frankreich noch nach seiner

_ Auslieferung 1940 im Deutschen Reich (siehe die Biografie von Herschel

_ Grynszpan in diesem Heft, S. 54). Im August 1942 wurde Herschel Gryn­

_ szpan im Konzentrationslager Sachsenhausen von Häftlingen zum letz-

_ ten Mal lebend gesehen; seitdem gilt er als verschollen.

20

Herschel _ In der bundesdeutschen Geschichtsschreibung nach 1945 fand Her-

Grynszpan in _ schel Grynszpan zunächst ausschließlich am Rande Erwähnung, als der Geschichts- _ Attentäter, dessen Tat die Novemberpogrome 1938 ausgelöst hat- schreibung _ te. 1957 veröffentlichte der Historiker Helmut Heiber erstmals For- 11 nach 1945 25 schungsergebnisse zum „Fall Grünspan“. Heiber hielt die persönliche

_ Betroffenheit Grynszpans in Anbetracht der Deportation seiner Familie

_ und die daraus entstandene Affekthandlung für das plausibelste Motiv.

_ Eine grundsätzlichere Motivation, nämlich ein Aufbegehren gegen die

_ nationalsozialistischen Gewaltakte gegen Juden und die Deportationen

30 der polnischen Juden, traute er ihm nicht zu. Denn Heibers Einschät-

_ zung der Persönlichkeit Herschel Grynszpans basierte ausschließlich

_ auf nationalsozialistischen Quellen, die von antisemitischen Stereoty-

_ pen durchzogen waren. So beschrieb er Grynszpan als „dunkle Figur“,

_ aufgewachsen in einer verarmten Familie, die in einem „verrufenen

35 Viertel“ lebte, wo sich „lichtscheues Gesindel“ tummelte. Der „reichlich

_ arbeitsscheue“ Grünspan habe sich dann ab 1936 als „junger Bumme-

_ lant“ in Brüssel und Paris „herumgetrieben“, bis er die Postkarte seiner

_ Schwester erhalten habe, die ihn zur Tat animierte habe.

_

40 10 Socialist Appeal, Vol. III, Nr. 7, 14. Februar 1939, _ unter: http://www.marxists.org/archive/trotsky/19397xx7grnszan.htm _ Deutsche Übersetzung: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/02/grynspan.htm. 11 Helmut Heiber, Der Fall Grünspan, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 2/1957, 5. Jg., S.134– _ 172.

52 3. Herschel Grynszpan

_ Auch die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt, die 1933 emi-

_ grieren musste und ab 1937 ebenfalls staatenlos war, behielt diese

_ negative Sicht in ihrer Beschreibung Herschel Grynszpans bei. In ihrer

_ 1964 veröffentlichten Publikation über den Eichmann-Prozess in Jeru-

05 salem schrieb sie, dass es „höchst unwahrscheinlich“ sei, dass Gryn­

_ szpan aus Rache für die Deportation seiner Familie gehandelt habe. Sie

_ hielt den jungen Mann schlicht für einen „Psychopathen“, der „unfähig

_ [war], die Schule abzuschließen [...], sich seit Jahren in Paris und Brüs- 12 _ sel herumgetrieben“ habe. Erst 1980 stellte der Schweizer Historiker 13 10 Klaus Urner diese Darstellungen grundsätzlich infrage. Er rückte Her-

_ schel Grynszpan in eine Reihe von Einzeltätern, die mit ihrer Tat gegen

_ die mörderische Verfolgung der Nationalsozialisten aufbegehrt und da-

_ bei ihr Leben riskiert hätten. Der Historiker Raphael Gross hielt 2013

_ fest: „Auf jeden Fall gehört er [Herschel Grynszpan] zu den vielen staa-

15 tenlos gemachten Menschen, die, wie Hannah Arendt es ausdrückte,

_ zum ,Abschaum der Menschheit‘ erklärt wurden, und deren Schicksal

_ uns angesichts der vielen bis heute stattfindenden Vertreibungen wei- 14 _ terhin beschäftigt.“

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ 12 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München/Zürich 1986 (zuerst München 1964), S. 272. _ 13 Klaus Urner, Der Schweizer Hitler-Attentäter. Drei Studien zum Widerstand und seinen Grenzbereichen. _ Systemgebundener Widerstand, Einzeltäter und ihr Umfeld, Maurice Bavaud und Marcel Gerbohay, Frauenfeld 1980. _ 14 Raphael Gross, November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe, München 2013, S. 31.

53 3. Herschel Grynszpan

Biografie Herschel Grynszpan

1921 _ 28. März

_ geb. in Hannover als sechstes Kind des polnisch-jüdischen Ehepaars

_ Sendel Grynszpan (geb. 1886 Radomsk/Russland, gest. 1976 Tel Aviv/

_ Israel) und Ryfka Silberberg (geb. 1885 Radomsk/Russland, gest. 1963

05 Haifa/Israel), die 1911 als Arbeitsmigranten nach Deutschland ge-

_ kommen waren. Fünf Geschwister sterben im Kindesalter. Herschel

_ Grynszpan wächst mit Schwester Beile (geb. 1918 Hannover, gest. 1941

_ Sowjetunion) und Bruder Marcus (geb. 1919 Hannover, gest. 1981 Tel

_ Aviv/Israel) in einfachen Verhältnissen auf. Der Vater war Schneider,

10 dann Altwarenhändler, teils war die Familie auf die Unterstützung

_ der Wohlfahrt angewiesen. Alle Familienmitglieder waren polnische

_ Staatsangehörige.

_

1927 _ Einschulung.

15

1935 _ Ausbildung an einer Jeschiwa (Rabbinische Lehranstalt) in Frankfurt

_ am Main; Eintritt in die zionistische Organisation Misrachi.

_

1936 _ April

20 Abbruch der Ausbildung an der Jeschiwa; Rückkehr nach Hannover;

_ erfolglose Bemühungen um ein Visum für Palästina; Vorbereitung der

_ Ausreise nach Frankreich

_

_ Juli

25 Ausreise mit einem belgischen Visum nach Brüssel zu seinem Onkel

_ Wolff Grynszpan; kurz darauf illegale Einreise nach Frankreich; in Paris

_ nehmen ihn sein Onkel, der Schneider Abraham Grynszpan, und dessen

_ Frau Chawa auf.

_

1937 30 1. April

_ Die Frist zur Rückkehr nach Deutschland läuft ab; für Frankreich erhält

_ er auf seinen Antrag hin eine befristete Aufenthaltsgenehmigung.

_

1938 _ 7. Februar

35 Sein polnischer Pass wird ungültig.

_

_ März

_ Sein Antrag beim deutschen Konsulat auf Wiedereinreise nach

_ Deutschland wird abgelehnt.

40

_ 8. Juli

_ Die befristete Aufenthaltsgenehmigung für Frankreich läuft ab, er muss

_ das Land bis zum 15. August 1938 verlassen.

54 3. Herschel Grynszpan

Biografie Herschel Grynszpan

1938 _ 27. Oktober

_ Verhaftung der Eltern Grynszpan sowie von Schwester Beile und Bru-

_ der Marcus in Hannover; sie werden wie insgesamt etwa 17 000 polni-

_ sche Juden aus Deutschland nach Polen deportiert.

05

_ 29. Oktober

_ Die polnische Regierung entzieht polnischen Bürgern die Staatsange-

_ hörigkeit, wenn sie mehr als fünf Jahre im Ausland gelebt haben und

_ sich bis zu diesem Tag nicht haben registrieren lassen. Dies trifft auf

10 Herschel Grynszpan zu, der polnischer Staatsbürger war, aber nie in

_ Polen gelebt hatte; er ist von nun an staatenlos: Er kann nicht legal in

_ Frankreich bleiben und nicht nach Deutschland oder Polen zurückkeh-

_ ren.

_

15 3. November

_ Er erhält eine Postkarte von seiner Schwester Beile, die über die

_ Deportation der Familie nach Polen und die Internierung im polnischen

_ Grenzgebiet berichtet.

_

20 7. November

_ Herschel Grynszpan schießt in der Deutschen Botschaft in Paris auf

_ den Botschaftssekretär Ernst vom Rath; anschließend Verhaftung.

_ Erste schwere Ausschreitungen gegen Juden in den sogenannten

_ Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt.

25

_ 8. November

_ Einlieferung in das Jugendgefängnis Fresnes.

_

_ 9. November

30 Vom Rath erliegt in Paris seinen Verletzungen.

_

_ 9./10. November

_ ‚Reichskristallnacht‘. Pogrome gegen Juden und jüdische Einrichtun-

_ gen wüten im gesamten Deutschen Reich.

35

_ 14. November

_ Die berühmte US-amerikanische Journalistin Dorothy Thompson ruft in

_ einem Radiobeitrag dazu auf, sich mit Herschel Grynszpan zu solidari-

_ sieren.

40

_ 19. November

_ Maitre Vincent de Moro-Giafferi, bekannter Anwalt und Antifaschist,

_ übernimmt die Verteidigung Herschel Grynszpans.

55 3. Herschel Grynszpan

1938 _ 29. November: Abraham und Chawa Grynszpan werden wegen Unter-

_ stützung des illegalen Aufenthalts ihres Neffen Herschel zu vier Mona-

_ ten Haft und einer Geldstrafe verurteilt.

_

1939 05 Juni

_ Die französischen Voruntersuchungen im Fall Grynszpan sind abge-

_ schlossen. Der Prozess soll bald eröffnet werden.

_

_ 1. September

10 Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen; Beginn des Zweiten

_ Weltkrieges. Frankreich und das Deutsche Reich sind von nun an

_ Kriegsgegner. Der Beginn des Prozesses gegen Herschel Grynszpan

_ wird verschoben.

_

1940 15 8. Juni

_ Die Staatsanwaltschaft in Paris erhebt Anklage wegen Mordes gegen

_ Herschel Grynszpan.

_

_ 14. Juni

20 Deutsche Truppen marschieren in Paris ein. Die Insassen des Jugend-

_ gefängnisses Fresnes werden in den noch unbesetzten südlichen Teil

_ Frankreichs nach Orléans verlegt. Der Zug mit den Gefangenen wird

_ bombardiert, Herschel Grynszpan ist kurzfristig in Freiheit. Aus Angst,

_ in die Hände der Deutschen zu fallen, meldet er sich freiwillig im Ge-

25 fängnis Toulouse.

_

_ 14. Juli

_ Er wird an das Deutsche Reich ausgeliefert. Inhaftierung und Verhöre

_ im Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. Die NS-

30 Führung plant einen großen politischen Schauprozess wegen Hochver-

_ rats und Mordes vor dem Volksgerichtshof, was sein sicheres Todesur-

_ teil bedeutet hätte. Laut antisemitischer NS-Propaganda ist Herschel

_ Grynszpan ein Werkzeug des Weltjudentums, in dessen Auftrag er das

_ Attentat begangen habe. Grynszpan droht daraufhin, vor Gericht aus-

35 zusagen, er habe mit Ernst vom Rath im Pariser Homosexuellenmilieu

_ verkehrt. Mit diesem offensichtlich verteidigungstaktisch begründeten

_ Zug bricht die Prozessstrategie der Nazis zusammen. Aus dem ,Märty-

_ rer‘ Ernst vom Rath wird das Opfer eines homosexuellen Einzeltäters.

_

_

_

_

_

56 3. Herschel Grynszpan

1941 _ 18. Januar

_ Einlieferung Herschel Grynszpans in das KZ Sachsenhausen, wo er als

_ ‚prominenter Häftling‘ eingestuft wird. Der Prozessbeginn wird auf-

_ grund der zusammengebrochenen propagandistischen Anklagestrate-

05 gie erneut verschoben.

_

1942 _ Sommer

_ Die Prozessvorbereitungen werden eingestellt. Herschel Grynszpan

_ wird im August 1942 von Mithäftlingen in Sachsenhausen zum letzten

10 Mal gesehen, dann verläuft sich seine Spur.

_

1945 _ Die Eltern von Herschel Grynszpan und Bruder Marcus haben den Krieg

_ überlebt, da sie in Polen untertauchten und nach dem Überfall Nazi-

_ Deutschlands auf Polen 1939 in die Sowjetunion flüchteten. Schwes-

15 ter Beile war 1941 infolge von Krankheit und Entkräftung gestorben.

_ Bruder Marcus hatte auf der Seite der Roten Armee gegen die deutsche

_ Wehrmacht gekämpft. Nach Kriegsende lebt die Familie in der Tsche-

_ choslowakei, für kurze Zeit auch in Deutschland, bis sie 1949 nach

_ Israel übersiedelt. Nach dem Krieg suchen sie etliche Jahre erfolglos

20 nach Herschel Grynszpan.

_

1953 _ Vater Sendel Grynszpan leitet für seinen Sohn Herschel, der zum Opfer

_ der nationalsozialistischen Verfolgung wurde, ein Entschädigungsver-

_ fahren ein.

25

1957 _ Helmut Heiber, Historiker des renommierten Münchner Instituts für

_ Zeitgeschichte, behauptet in seinem Artikel „Der Fall Grünspan“, dass

_ Herschel Grynszpan den Krieg überlebt habe und unter falschem Na-

_ men in Paris lebe. Diese Behauptung wird nie belegt.

30

1960 _ Das Amtsgericht Hannover bescheinigt den Tod Herschel Grynszpans;

_ als Todesdatum wird der 8. Mai 1945 festgelegt.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

57 3. Herschel Grynszpan

_ / Arbeitsvorschläge

_ Die darstellenden Basistexte beschreiben die historischen Entwicklun-

_ gen. Die Augenzeugenberichte und die weiteren Quellen eignen sich, um

_ einige Ereignisse, Entwicklungen und Zusammenhänge herauszuarbei-

05 ten. Eine Arbeitsgruppe kann zu dem Schwerpunkt der Geschichte des

_ Herschel Grynszpan – eines polnisch-deutsch-jüdischen staatenlosen

_ Jugendlichen – eine Erzählung aus jüdischer Sicht erarbeiten. Zur Ori-

_ entierung können dabei folgende Schwerpunkte hilfreich sein:

_ / Die Auseinandersetzung mit den Motiven Herschel Grynszpans für

10 sein Attentat ermöglicht es, am konkreten Beispiel die Erfahrung

_ des Ausschlusses durch die rassistische antijüdische Politik des NS-

_ Staates nachzuvollziehen.

_ / Die Arbeit mit den Quellen ermöglicht eine Auseinandersetzung mit

_ den Maßstäben und Kriterien, auf die sich die meisten Nachkriegsdar-

15 stellungen der Persönlichkeit Herschel Grynszpans und seiner Motive

_ für das Attentat stützen.

_ / Eine eigene Einschätzung und Beurteilung des Attentats kann vor dem

_ Hintergrund der unterschiedlichen Quellen entwickelt und im Plenum

_ diskutiert werden: War es eine Verzweiflungstat, ein Racheakt, die Tat

20 eines Psychopathen oder eine emotionale Überreaktion eines verant-

_ wortungslosen Jugendlichen? Oder handelt es sich um eine der weni-

_ gen öffentlichkeitswirksamen jüdischen Widerstandsaktionen dieser

_ Zeit?

_ / Insgesamt können auf Grundlage dieses Kapitels die polnisch-

25 deutsch-jüdische Migrantenbiografie von Herschel Grynszpan und

_ seine Fluchtgeschichte erzählt werden.

_ / Eine Reflexion über die Konsequenzen von Staatenlosigkeit ermög-

_ licht Vergleiche mit heutigen Flüchtlings- und Verfolgungsschicksalen

_ (Beispiele, wie Jugendliche eine Verbindung zwischen Erfahrungen

30 von Flüchtlingen im Zweiten Weltkrieg und von gegenwärtigen Flücht-

_ lingen herstellen können, finden sich hier: www.its-arolsen.org/de/

_ forschung-und-bildung/bildung/videoprojekte/index.html).

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

58 Quellen / Kapitel 3

Quelle 3/1

_ Postkarte von Beile (Berta) Grynszpan an _ Lieber Hermann!

_ ihren Bruder Herschel (Hermann) in Paris _ Du hast gewiß von unserem großen Unglück

_ _ gehört. Ich beschreibe Dir, was passiert ist.

_ Die Postkarte erreichte den aus Deutschland 15 Donnerstag abend waren Gerüchte im Umlauf,

05 geflüchteten und mittlerweile staatenlosen _ daß alle polnischen Juden einer Stadt ausge-

_ Herschel Grynszpan am 3. November 1938 in _ wiesen worden waren. Dennoch sträubten wir

_ Paris. Vier Tage später schoss der 17-Jährige _ uns, das zu glauben. Am Donnerstag abend

_ einen Angehörigen der Deutschen Botschaft _ um 9 Uhr ist ein Schupo zu uns gekommen und

_ nieder. Noch am selben Tag begannen mas- 20 hat uns erklärt, daß wir uns unter Mitnahme

10 sive Ausschreitungen gegen Juden im Deut- _ der Pässe zum Polizeirevier begeben sollten.

_ schen Reich. _ So wie wir waren, sind wir alle zusammen in

_ _ Begleitung des Schupos zum Polizeirevier ge-

_ _ gangen. Dort fand sich schon fast unser gan-

_ 25 zes Stadtviertel zusammen. Ein Polizeiauto

_ _ hat uns sofort zum Rathaus gebracht. Alle sind

_ _ dort hingebracht worden. Man hatte uns noch

_ _ nicht gesagt, um was es sich handle. Aber wir

_ _ haben gesehen, daß es mit uns aus war.

_ 30 Man hat jedem von uns einen Ausweisungs-

_ _ befehl in die Hand gesteckt. Man sollte

_ _ Deutschland vor dem 29. verlassen. Man hat

_ _ uns nicht mehr erlaubt, wieder nach Hause zu

_ _ gehen. Ich habe gebettelt, daß man mich nach

_ 35 Hause gehen ließe, um wenigstens einige Sa-

_ _ chen zu holen. Ich bin dann in Begleitung ei-

_ _ nes Schupos fortgegangen und habe die not-

_ _ wendigsten Kleidungsstücke in einen Koffer

_ _ gepackt. Das ist alles, was ich gerettet habe.

_ 40 Wir haben keinen Pfenning. [...] Fortsetzung

_ _ nächstes Mal.

_ _ Herzliche Grüße und Küsse von uns allen

_ _ Berta

_ _ Zba˛szyn´ 2. Baracke Grynszpan

_ 45

_ _ Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 55/20991, Briefe an und von Herschel Grynszpan _ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

59 Quellen / Kapitel 3

Quelle 3/2

_ Vernehmungen Herschel Grynszpans _ ausserordentliche[n] Massnahmen andeu-

_ nach der Tat 45 tete, denen meine Glaubensgenossen in

_ _ Deutschland ausgesetzt wurden. Diese Lek-

_ Herschel Grynszpan wurde direkt nach dem _ türe regte mich sehr auf, genauso wie meinen

05 Attentat auf Ernst vom Rath am 7. Novem- _ Onkel und meine Tante, die meinten, daß mei-

_ ber 1938 in der deutschen Botschaft in Pa- _ ne Eltern, Vater und Mutter, ebenfalls unter

_ ris von der französischen Polizei festgenom- 50 diesem strengen Regime leiden konnten. [...]

_ men. Er machte seine Aussagen in deutscher, _ Ich hatte bereits gegenüber die [sic] deut-

_ jiddischer und französischer Sprache. Zur _ schen Behörden einen gewissen Hass, und

10 besseren Verständigung wurde ein deutsch- _ die Postkarte meiner Eltern hat mir gezeigt,

_ französischer Übersetzer bestellt. Nach den _ welchen Gefahren sie ausgesetzt waren. Ich

_ Schilderungen zu den Umständen und zum 55 dachte dann an einen Rache- und Protest-

_ Ablauf der Tat wurde Herschel Grynszpan zu _ akt gegenüber einem Vertreter Deutschlands,

_ seinen Motiven befragt. Die folgenden Aus- _ ohne die Absicht zu haben, jemanden zu tö-

15 züge aus Vernehmungsprotokolen der Polizei _ ten. Ich wollte jedoch einen aufsehenerregen-

_ und des Untersuchungsrichters stammen aus _ den Schritt machen, damit er in der Welt nicht

_ den französischen Untersuchungsakten zum 60 ignoriert wird, weil die deutschen Methoden

_ Fall Herschel Grynszpan. _ mich erbitterten. Ueber diesen Plan habe ich

_ _ meinem Onkel und meiner Tante nichts er-

20 _ zählt. […]

_ Erste Aussage Herschel Grynszpans vor der _ Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 55/20980, Abschriften aus den französischen Untersuchungsakten _ französischen Polizei vom 7. November 1938 65

_ [...] _

_ Frage: Wann haben Sie beschlossen, jemand _ Dritte Aussage Herschel Grynszpans vor

25 von der Botschaft zu töten, und wer hat Sie _ dem französischen Untersuchungsrichter

_ dazu veranlasst? _ am 8. November 1938

_ Antwort: Ich habe die Postkarte, die in meiner 70 Die zahlreichen Verhöre haben mich sehr er-

_ Brieftasche gefunden wurde, Donnerstag be- _ müdet. Ich möchte mich ausruhen, um Ihnen

_ kommen, und von diesem Augenblick an habe _ dann die Gründe zu erklären, die mich zu der

30 ich beschlossen, aus Protest ein Mitglied der _ Tat veranlassten, deren ich beschuldigt bin.

_ Botschaft zu töten. Aus den Zeitungen wusste _ Ich lege jedoch darauf Wert, Ihnen zu erklä-

_ ich von der Unterdrückung meiner Glaubens- 75 ren, dass ich weder aus Hass noch aus Rache,

_ genossen. Das ist der einzige Grund, der mei- _ sondern aus Liebe zu meinem Vater und mei-

_ nen Schritt veranlasst hat. _ nem Volk handelte, die unerhörte Leiden aus-

35 Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 55/20980, Abschriften aus _ stehen. den französischen Untersuchungsakten _ _ Ich bedaure sehr, einen Menschen verletzt zu

_ 80 haben, aber ich hatte keine anderen Mittel,

_ Zweite Aussage Herschel Grynszpans _ meinen Willen auszudrücken.

_ vor der französischen Polizei, ebenfalls _ Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 55/20980, Abschriften aus den französischen Untersuchungsakten 40 vom 7. November 1938 _

_ [...] Vor kurzem habe ich einige Artikel in _

_ der jüdischen Tageszeitung ,La journee _

_ Parisienne‘ gelesen, wo man auf [sic] die _

60 Quellen / Kapitel 3

Quelle 3/3

_ Brief Herschel Grynszpans aus der Untersu- _ Meine Lieben Eltern u. Geschw.!

_ chungshaft an seine Eltern _ Ich weiß nicht ob dieser Brief euch antreffen

_ _ wird. Es kann sein das Ihr schon woanders

_ Der Brief ist nicht datiert, Grynszpan schrieb 10 wohnt. Habt Ihr euch schon ein bischen er-

05 ihn vermutlich wenige Tage nach dem Atten- _ holt in eurer Lage, in der euch das ungerech-

_ tat im November 1938. _ te Regime Hitlers euch geschickt. Ich hoffe

_ _ das Ihr schon Irgenwo unterkunft haben

_ _ wird. Es schneidet und Blutet mir das Herz

_ 15 wenn ich höre die eure und die Lage anderer

_ _ Brüder unseres jüdischen Glaubens. Es gibt

_ _ noch einen G“tt [Schreibweise für Gott nach

_ _ streng religiösen jüdischen Regeln], der die

_ _ Ungerechtigkeiten richten wird die man uns

_ 20 Juden zugefügt hat. Ihr wird wohl schon in-

_ _ zwischen gehört haben von mir. Ihr müßt mir

_ _ Entschuldigen. Ich wollte keinen Menschen

_ _ töten. Ich wollte nur protestieren gegen

_ _ dem, wie ungerecht man uns behandelt. Es

_ 25 wäre mir lieber gewesen wenn dieser arme

_ _ Mensch nicht gestorben wäre. Aber leider

_ _ ist er gestorben. Soll mir G“tt verzeihen was

_ _ ich getan habe. Es war keine Rache. Es war

_ _ nur die Liebe für Euch und unseren Leiden-

_ 30 den Brüdern und Geschwister die ungerecht

_ _ leiden müssen, nur weil sie Juden sind. Ich

_ _ will G“tt beten das er mir verzeihen soll, und

_ _ werde jeden Montag fasten. Soll mir G“tt

_ _ helfen. Ich wollte nicht töten. Ich schließe

_ 35 hiermit mein Brief. Soll der L. G“tt euch und

_ _ unseren Leidenden Brüdern und Schwestern

_ _ Baldig hilfe schicken, und uns auslösen von

_ _ unseren Schmach und Pein.

_ _

_ 40 Viele Grüße und

_ _ herzliche Küsse

_ _ von eurem

_ __ heissgeliebten Kind

_ 45 und Bruder

_ _ Hermann

_ _

_ _ Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 55/20991, Briefe von und an Grynszpan _ _

_ _

61 Quellen / Kapitel 3

Quelle 3/4 //1 von 2 Seiten

_ Radiobeitrag der US-amerikanischen Jour- _ zweiflung. […] Er las, dass man Männer und

_ nalistin Dorothy Thompson über Herschel 45 Frauen seines Volkes, darunter Akademiker

_ Grynszpan vom 14. November 1938 _ und einen für seine Heldentaten ausgezeich-

_ _ neten General, dazu genötigt hatte, unter dem

05 Der Radiobeitrag der berühmten US-amerika- _ Gelächter des Mobs die Straßen zu fegen.

_ nischen Journalistin Dorothy Thompson (geb. _ Dabei handelte es sich um Männer seines

_ 1894 in Lancaster/USA, gest. 1961 in Lissa- 50 Volkes, die zu achten man ihn gelehrt hatte

_ bon/Portugal) erreichte circa fünf Millionen _ – Wissenschaftler, Erzieher und Gelehrte, die

_ Hörer in den USA. Zudem veröffentlichte sie _ von ihrem Land vielfach geehrt worden waren.

10 zwei Kolumnen zu Herschel Grynszpan in der _ Er las, dass man sie inzwischen aus ihren be-

_ New York Herald Tribune. Die Resonanz auf _ ruflichen Positionen verjagt hatte. Er hörte,

_ ihre Berichterstattung war erstaunlich, ne- 55 die Nazi-Regierung habe mit all dem begon-

_ ben viel Zustimmung gingen zahlreiche Geld- _ nen, weil sie die Juden dafür verantwortlich

_ spenden ein. Thompson gründete daraufhin _ machte, dass die Deutschen den Weltkrieg

15 ein amerikanisches Komitee, in dem explizit _ verloren hatten. Aber Herschel war noch gar

_ nichtjüdische Unterstützer vertreten sein _ nicht geboren, als der Weltkrieg zu Ende ging.

_ sollten, und richtete einen Fonds ein. Insge- 60 Er war gerade einmal siebzehn Jahre alt.

_ samt gingen hier über 35.000 US-Dollar ein, _ Herschel hatte eine Pistole. Ich weiß nicht,

_ die zur Finanzierung der juristischen Vertei- _ wieso. [...] Dann, vor einigen Tagen, erhielt er

20 digung von Herschel Grynszpan zur Verfügung _ erneut einen Brief von seinem Vater. Der Va-

_ gestellt wurden. _ ter berichtete, dass er aus seinem Bett ge-

_ 65 holt und zusammen mit Tausenden anderer

_ _ Menschen in einen Zug mit Güterwaggons

_ Vor einer Woche betrat ein blass aussehender _ gepfercht worden war, der sie über die Grenze

25 Junge mit nachdenklichen schwarzen Augen _ nach Polen brachte. Es war ihm nicht erlaubt

_ in aller Ruhe die Deutsche Botschaft in der _ worden, etwas von seinen dürftigen Erspar-

_ Rue de Lille in Paris. Er bat, den Botschafter 70 nissen mitzunehmen. Lediglich 50 Cents. ‚Ich

_ zu sprechen, wurde in das Büro des dritten _ bin völlig mittellos‘, schrieb er seinem Sohn.

_ Sekretärs, Herrn vom Rath, geführt und er- _ Das war das Ende. Herschel griff sich seine

30 schoss ihn. Am Mittwoch ist Herr vom Rath _ Pistole und dachte: ‚Warum unternimmt nie-

_ gestorben. _ mand etwas? Warum müssen wir es uns gefal-

_ Ich möchte heute über diesen Jungen spre- 75 len lassen, wie Tiere von Land zu Land gejagt

_ chen. Da ich in den vergangenen fünf Jah- _ zu werden?‘ […] Herschel dachte an diejeni-

_ ren so viele Menschen getroffen habe, deren _ gen, die diesen Terror zu verantworten hat-

35 Geschichten sich – abgesehen von diesem _ ten. Gleich hier in Paris gab es welche, die die

_ besonderen Akt der Verzweiflung – gleichen, _ offiziellen Vertreter dieser verantwortlichen

_ kommt es mir so vor, als hätte ich ihn gekannt. 80 Leute waren. […] Und so betrat Herschel die

_ Herschel Grynszpan war einer von den hun- _ Deutsche Botschaft und erschoss Herrn vom

_ derttausend Flüchtlingen, die der Terror öst- _ Rath. Herschel versuchte nicht zu fliehen. An

40 lich des Rheins schutzlos in die Welt geworfen _ Flucht war sowieso nicht mehr zu denken.

_ hat. […] Herschel las regelmäßig die Zeitun- _ Herr vom Rath verstarb am Mittwoch. Und

_ gen, und alles, was er dort erfuhr, erfüllte ihn 85 am Donnerstag wurde jeder Jude in Deutsch-

_ mit lähmender Angst und abgrundtiefer Ver- _ land für die Tat des Jungen haftbar gemacht.

62 Quellen / Kapitel 3

Quelle 3/4 //2 von 2 Seiten

_ In jeder Stadt wurde der Mob planmäßig und _

_ organisiert auf die jüdische Bevölkerung los- _

_ gelassen. [...] _

_ In Paris aber brach ein Junge, der gehofft hat- _

05 te, mit seiner besonderen Geste des Protests _

_ die Aufmerksamkeit auf all das Unrecht zu _

_ lenken, das seinem Volk angetan wird, in hys- _

_ terisches Schluchzen aus. Bis dahin war er _

_ apathisch gewesen. Er war darauf vorbereitet _

10 gewesen, seine Tat mit dem eigenen Leben zu _

_ bezahlen. Nun erkannte er, dass seine Tat zum _

_ Vorwand genommen wurde für die Vernich- _

_ tung einer halben Million Juden. _

_ Ich spreche über diesen Jungen. Bald wird _

15 man ihm den Prozess machen. Es heißt, dass _

_ zusätzlich zu all dem Schrecken und Grau- _

_ en noch einer mit seinem Leben wird zahlen _

_ müssen. Sie sagen, dass die Guillotine auf ihn _

_ wartet. Anders als bei jedem gewöhnlichen _

20 Mörder gesteht man ihm kein faires Gerichts- _

_ verfahren und auch sonst keinerlei Rechte _

_ zu. […] Die Nazi-Regierung hat angekündigt, _

_ weitere repressive Maßnahmen zu ergreifen, _

_ sollten irgendwelche Juden irgendwo auf der _

25 Welt gegen irgendetwas protestieren, was in _

_ Deutschland passiert. Sie halten jeden ein- _

_ zelnen Juden in Deutschland als Geisel. Daher _

_ müssen wir, die wir keine Juden sind, unsere _

_ Stimme erheben und unsere Trauer, unsere _

30 Empörung und unseren Abscheu so vielstim- _

_ mig zum Ausdruck bringen, dass wir nicht län- _

_ ger überhört werden können. Dieser Junge ist _

_ zu einem Symbol geworden. _

_ _

35 Quelle abgedruckt in: Gerald Schwab, The Day the Holocaust _ Began. The Odyssey of Herschel Grynszpan, New York u.a. _ _ 1990, S. 35 ff., Übersetzung: Britta Grell, Berlin _ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

63 4. Die Novemberpogrome 1938

Entscheidung _ Nach dem Attentat von Herschel Grynszpan auf den Diplomaten Ernst zum reichsweiten _ vom Rath am 7. November 1938 in Paris überschlugen sich die Ereig-

Pogrom am _ nisse im Deutschen Reich. Noch am selben Tag lancierte die NS-Füh-

9. November 1938 _ rungsspitze unter Federführung von Joseph Goebbels, Minister für

05 Volksaufklärung und Propaganda, eine landesweite antisemitische Pro-

_ pagandakampagne. Zentrale Aussage war: Das Attentat in Paris sei ein

_ Anschlag des Weltjudentums gegen das Deutsche Reich, „die Juden“ 15 _ seien die eigentlichen „Verbrecher am Frieden Europas“. Am Abend

_ des 7. November kam es in mehreren Städten und Ortschaften in den

10 sogenannten Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt zu ersten anti-

_ semitischen Krawallen, die sich am 8. November fortsetzten.

_ Am 9. November um 16.30 Uhr starb Ernst vom Rath an seinen Verlet-

_ zungen. Zu diesem Zeitpunkt war in München fast die gesamte NS-Füh-

_ rungsspitze versammelt sowie zahlreiche Reichsleiter, Gauleiter, SA-

15 und SS-Führer aus dem Deutschen Reich. Traditionell beging die NSDAP

_ hier am 9. November mit groß inszenierten Zeremonien den Jahrestag

_ des Hitler-Putsches von 1923. Um 18 Uhr sollte eine große Parteiver-

_ sammlung im Festsaal des Alten Rathauses in München mit circa 500

_ Teilnehmern beginnen.

20 Anhand von Quellen lassen sich die Ereignisse an diesem Abend weit-

_ gehend nachvollziehen. Joseph Goebbels berichtete Hitler unter vier

_ Augen über den Tod vom Raths in Paris und von den Pogromen in Kur-

_ hessen und Magdeburg-Anhalt. Hitler gab daraufhin dem Propaganda-

_ minister die Anweisung, die Ausschreitungen weiterlaufen zu lassen

25 und die Polizei zurückzuziehen. Anschließend verließ er die Versamm-

_ lung. Goebbels leitete den Befehl des ‚Führers‘ zunächst intern an Poli-

_ zei- und Parteiführer weiter, hob dann zu einer flammenden antisemiti-

_ schen Hetzrede vor der Parteiversammelung an und gab öffentlich die

_ Anordnungen weiter. Sämtliche Parteifunktionäre drängten daraufhin

30 zu den Telefonen und Telegrafen. Innerhalb weniger Stunden hatte der

_ mündlich erteilte Befehl alle regionalen Parteiverbände im gesamten

_ Land erreicht.

_ Die Entscheidung für den Pogrom fiel also am 9. November. Hitler selbst

_ hatte die Anordnung dazu erteilt. Dabei war er sehr darauf bedacht

35 gewesen, öffentlich nicht in Erscheinung zu treten. In der Nacht vom

_ 9. auf den 10. November und am folgenden Tag tobte im gesamten Deut-

_ schen Reich, in der ‚Ostmark‘ und im Sudetenland eine Orgie der Gewalt.

_ In den Morgenstunden des 10. November setzten überall systematische

_ Massenverhaftungen von jüdischen Männern ein. Wenig später erreich-

40 te sämtliche Gauleitungen der NSDAP die Weisung von Hitlers Stellver-

_ treter Rudolf Heß, den Pogrom abzubrechen. Die Angriffe ebbten in den

_

_ 15 Aufmachertitel des Völkischen Beobachters vom 8. November 1938.

64 4. Die Novemberprogrome 1938

_ meisten Regionen im Laufe des 10. November ab. Die Verhaftungswelle

_ hielt bis zum 16. November an.

_ Die Entscheidungen für den landesweiten Pogrom wie für die Massen-

_ verhaftungen fielen innerhalb kürzester Zeit. Die NS-Führungsriege re-

05 agierte hektisch, ja teils chaotisch, zudem war die Zerstörungswut der

_ Parteibasis und des antisemitischen Mobs kaum mehr zu zügeln und

_ in berechenbare Bahnen zu lenken. Ob und inwieweit die gewalttätige

_ Dynamik der ‚Reichskristallnacht‘ vor allem ,von unten‘ ausging oder ob

_ sie vom NS-Regime initiiert oder angeordnet wurde, war in der histori-

10 schen Forschung und den öffentlichen Geschichtsdebatten lange Zeit

_ eine zentrale und auch umstrittene Frage. Heute gilt als gesichert, dass

_ die Initiative zu den ersten regional begrenzten pogromartigen Angrif-

_ fen am 7. und 8. November von den lokalen Gauleitungen der NSDAP

_ ausging, die den antisemitischen Mob anstachelten. Diese frühen Über-

15 griffe, die auch als Pilotpogrome bezeichnet werden, unterscheiden sich

_ von der ‚Reichskristallnacht‘ in einem wesentlichen Punkt: Sie wurden

_ nicht von der NS-Führungsspitze befehligt und koordiniert. So grausam

_ und brutal diese frühen Ausschreitungen waren, sie standen noch in

_ der Tradition des unberechenbaren Radau-Antisemitismus der Partei-

20 basis der frühen 1930er Jahre. Die NS-Führung nutzte diese Dynamik

_ aus und traf überstürzt die Entscheidung, die Pogrome landesweit aus-

_ zudehnen. Ausmaß und zeitliche Abstimmung der Reichskristallnacht

_ verweisen auf eine Initiative und Koordination ,von oben‘. Der größte öf-

_ fentliche Gewaltakt vor dem Holocaust gegen alle Juden im deutschen

25 Machtbereich wurde also erst durch den Schulterschluss zwischen NS-

_ Staat und den antisemitischen Gewalttätern auf der Straße möglich.

_

_ In Deutschland erfuhr man vom Attentat in Paris (siehe Kapitel 3 in die-

_ sem Heft) über die Radionachrichten am Nachmittag des 7. November

30 1938. Viele Juden sahen sofort voraus, dass der Anschlag eine will-

_ kommene Vorlage für das NS-Regime bieten würde, um an ,den Juden‘

_ Vergeltung zu üben. „Ein schauriger Zufall, das Signal für unseren Tod-

_ feind“, schrieb Hans Reichmann, einer der führenden Funktionäre des

_ Centralvereins, der größten deutsch-jüdischen Organisation. „In dieser

35 Stimmung und bei diesem Stand der Kampagne wird der Zwischenfall

_ gierig ausgebeutet werden. Die innenpolitische Situation scheint auf

_ diese Parole gewartet zu haben.“

_

_

_

_

_

_

65 4. Die Novemberprogrome 1938

Erste regional _ Die ersten Angriffe gegen Juden an diesen Tagen sind aus Kassel do- begrenzte Pogrome _ kumentiert. Am 7. November, kurz vor 22 Uhr, brach eine randalieren- am 7. und 8. _ de Menschenmenge in das orthodoxe jüdische Café Heinemann in der

November 1938 _ Kasseler Innenstadt ein, das komplett verwüstet wurde. Beteiligt waren

05 ein Kassler SA-Trupp und eine SS-Einheit aus dem circa 50 Kilometer

_ entfernten Bad Arolsen, alle in Zivil. Die Horde, die zwischenzeitlich

_ auf 1 000 Personen anschwoll, zog weiter zur Synagoge in der Unteren

_ Königsstraße. Deren Inneneinrichtung sowie Ritualgegenstände wie

_ die Thorarolle wurden auf den Vorplatz geschleppt und unter teils joh-

10 lendem Beifall zertrümmert und verbrannt. Die angerückte Feuerwehr

_ löschte den eigentlichen Brand nicht, sie verhinderte ausschließlich die

_ Ausbreitung des Feuers. Ebenfalls eingetroffene Polizeieinheiten beob-

_ achteten die öffentliche Zerstörung und den Brandanschlag aus dem

_ Hintergrund; sie schritten auch in den nächsten Stunden nicht ein. Von

15 der Synagoge ging es weiter zum Gebäude der jüdischen Gemeinde, hier

_ waren unter anderem die Volksschule und das Bethaus der orthodoxen

_ Juden untergebracht.

_ Pogrom in Kassel, 7. und 8. November 1938

_ Das jüdische Gemeindehaus in der Großen Rosenstraße 22 in Kassel wurde in der Nacht vom 7. auf den 8. November 1938 zerstört. Das Foto stammt vermutlich vom Tag darauf, zahlreiche _ Schaulustige haben sich versammelt. _ © Stadtarchiv Kassel

66 4. Die Novemberprogrome 1938

Schändung der Synagoge _ in Witzenhausen/­ Nordhessen. _ _

Das jüdische Gottes- _ haus wurde während der Pogrome am 7. und 8. _ November 1938 ange- _ griffen. Dabei wurde der Innenraum zerstört, die _ Dachziegel wurden teil- _ weise abgedeckt und der Turmaufbau wurde stark _ beschädigt. Die Aufnah- _ me stammt vermutlich vom 10. oder 11. Novem- _ ber 1938. Die Tür des _ Gebäudes steht offen. _ Foto entnommen aus: www.alemannia-judaica.de _

_

_

_

_

_

_

_ In den umliegenden Straßen griffen die Randalierer Geschäfte und Woh-

_ nungen jüdischer Eigentümer an. Circa 20 Läden wurden demoliert und

_ geplündert, Juden wurden aus ihren privaten Räumen getrieben, ge-

_ schlagen und gedemütigt.

05 Während die Attacken in Kassel um ein Uhr nachts endeten, setzten

_ ähnliche Ausschreitungen im Gau Kurhessen ein, unter anderem in Ro-

_ tenburg, Fulda, Sontra, Baumbach und Bebra, ebenso in Dessau im Gau

_ Magdeburg-Anhalt und in Chemnitz im Gau Sachsen. In der zweiten

_ Nacht, vom 8. auf den 9. November, waren in Kurhessen elf Landkreise

10 Schauplatz von Pogromen; in über 20 Ortschaften wurde die jüdische

_ Bevölkerung gejagt und jüdisches Eigentum zerstört.

_ In der Kleinstadt Felsberg setzten die Angriffe am 8. November um

_ 20.30 Uhr ein. Auf die Felsberger Juden ging eine Menschenmenge los,

_ die sich spontan aus SA-Banden – unter anderem aus der nahegelegenen

15 Stadt Melsungen –, NSDAP-Kadern, Trupps der Hitlerjugend und weite-

_ ren Bürgern des Städtchens gebildet hatte. In den Akten der Nachkriegs-

_ prozesse gegen die Pogromtäter finden sich viele Beispiele, wonach die

_ Felsberger Bürger, darunter viele Jugendliche, mit äußerst brutaler Ge-

_ walt gegen ihre jüdischen Nachbarn sowie gegen jüdische Ladenbesitzer

20 und Bauern vorgingen. Der jüdische Kaufmann Robert Weinstein starb

_ infolge der Angriffe. Er war das erste Todesopfer der Novemberpogro-

_ me. (Quelle 4/1; Schilderung Siegmund Weinstein, wie sein Vetter Robert

_ Weinstein am 8. November 1938 in Felsberg/Hessen ums Leben kam)

67 4. Die Novemberprogrome 1938

Der Schock des _ Über die ersten massiven Ausschreitungen in den Gauen Kurhessen und landesweiten _ Magdeburg Anhalt am 7. und 8. November wurde im Radio berichtet, wo-

Pogroms vom _ durch sich Hans Reichmann am Vormittag des 9. November in seinen

9. und 10. Novem- _ Vorahnungen bestätigt sah: „Das ist ein böses Zeichen. Sonst hat man ber 1938 05 Gewaltaktionen nie erwähnt. Diesmal will man offenbar zur Wiederho- 16 _ lung anheizen.“ Als am Nachmittag dann vom Raths Tod gemeldet wur-

_ de, war für ihn klar, dass ab jetzt die jüdischen Repräsentanten in Gefahr

_ waren, verhaftet zu werden. Auch er rechnete in den nächsten Tagen mit

_ seiner Inhaftierung. Dass die Bedrohung am Nachmittag des 9. Novem-

10 ber spürbar anstieg, ist mehrfach in den Augenzeugenberichten doku-

_ mentiert. Trotz aller Vorahnungen, die seit dem 7. November sukzessive

_ schlimmer geworden waren, brachen die Wucht und das Ausmaß des

_ landesweiten Pogroms wie ein Schock über die Juden im deutschen

_ Machtbereich herein: Ihre Häuser und Wohnungen, ihre Einrichtungen,

15 Gebetshäuser und Synagogen wurden geplündert, geschändet und zer-

_ stört, jüdische Frauen, Männer, Alte und Kinder öffentlich gedemütigt,

_ geprügelt, mit Mord bedroht und auch umgebracht. Söhne, Väter und

_ Ehemänner wurden verschleppt und inhaftiert. Die hasserfüllten Ge-

_ waltexzesse, die innerhalb kürzester Zeit eskalierten, die Ungewissheit,

20 was an Steigerung noch kommen würde, lösten Panik aus. Jetzt galt es

_ nur noch, sich irgendwie in Sicherheit zu bringen, soweit das überhaupt

_ noch möglich war. Zeit für Überlegungen oder gar Pläne, wie dieser Ge-

_ walt noch etwas entgegenzusetzen war, gab es nicht.

_ Die landesweite Dimension des Pogroms war für viele nicht absehbar,

25 vor allem in den ländlichen Regionen, wo nur noch wenige Juden lebten:

_ „Telefonische Verbindungen mit jüdischen Familien in den Provinzstäd-

_ ten waren vielfach unmöglich, entweder weil die Betreffenden sich nicht

_ mehr in der Wohnung befanden oder das Amt keine Verbindung mit jüdi- 17 _ schen Teilnehmern durchführte“, berichtet ein Augenzeuge aus Berlin.

30 Zudem waren sämtliche jüdischen Presseorgane seit dem 8. November

_ verboten.

_ In den großen Städten, wo sich die jüdische Bevölkerung in den letz-

_ ten Jahren konzentriert hatte, sickerten viele Nachrichten nur nach und

_ nach mündlich durch. Auch die jüdischen Funktionäre erreichten sich

35 untereinander ab dem Morgen des 10. November kaum mehr. Die regi-

_ onalen Gemeindebüros waren geschlossen, bereits zertrümmert, die

_ Gemeindevertreter verhaftet. Bei Hans Reichmann gingen im Berliner

_ Büro des Centralvereins zunächst noch einige Nachrichten von Kolle-

_ gen aus München, Essen, Stettin und Freiburg ein. Ein Beauftragter der

40 Reichsvertretung erschien und berichtete von der Lage in Berlin. Über-

_ 16 Hans Reichmann, Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937 _ bis 1939, Bearb. von Michael Wildt, München 1998, S. 111. 17 Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugenberichte _ der Wiener Library, London/Frankfurt am Main 2008, S. 226.

68 4. Die Novemberprogrome 1938

_ all das gleiche Szenario: Zerstörungen, Verhaftungen, die ersten Toten,

_ Panik. Reichmann war das landesweite Ausmaß sofort klar. Dann rissen

_ die Verbindungen ab. Man riet ihm, das Büro zu schließen und zu flie-

_ hen, doch er blieb. Gegen 13 Uhr mittags trafen, wie erwartet, Gesta-

05 po-Beamte ein, ordneten die Schließung des Büros des Centralvereins

_ an, ließen Reichmann und seine Mitarbeiter jedoch gehen. Reichmann

_ eilte durch die verwüstete Berliner Innenstadt zum Büro der Reichsver-

_ tretung. Es war ebenfalls geschlossen, die Mitarbeiter waren alle noch

_ auf der Straße versammelt, sie berichteten, dass Leo Baeck und Otto

10 Hirsch, der geschäftsführende Vorsitzende der Reichsvertretung, ins In-

_ nenministerium geeilt waren, wo man sie abgewiesen hatte. Reichmann

_ kehrte in seine Wohnung zurück. Gegen 16 Uhr wurde er von zwei Krimi-

_ nalbeamten verhaftet, wenig später ins Konzentrationslager Sachsen-

_ hausen verschleppt. Im ,Altreich‘ wurden am 10. November die Büros

15 der jüdischen Gemeinden sowie sämtliche jüdischen Einrichtungen von

_ der Gestapo geschlossen, fast alle Repräsentanten verhaftet. Leo Baeck

_ wurde unter Hausarrest gestellt.

_

Gesamtverlauf der _ Nachdem Joseph Goebbels am 9. November vor der Parteiversamm-

‚Reichskristall- 20 lung im Münchener Alten Rathaus Hitlers Anweisung folgend zum Po- nacht‘ _ grom aufgerufen hatte, setzten die Angriffe überall im ,Altreich‘, in der

_ ‚Ostmark‘ und im Sudetenland innerhalb der nächsten 24 Stunden ein,

_ allerdings zeitversetzt. In München etwa zogen Angehörige des „Stoß-

_ trupps Adolf Hitler“ sofort nach der Rede von Goebbels los und griffen

25 Geschäfte jüdischer Inhaber in der Umgebung des Rathauses an. Die

_ Gewalt breitete sich rasch über die gesamte Stadt aus, kurz vor 24 Uhr

_ ging die erste Meldung von einem Brandanschlag ein. Auch in Berlin

_ begannen die Attacken kurz nach 23 Uhr. Insgesamt zeigt der Verlauf,

_ dass die Angriffe in den Großstädten früher begannen als in den meis-

30 ten ländlichen Regionen. Am frühen Morgen des 10. November setzten

_ die vom NS-Polizeiapparat initiierten Massenverhaftungen jüdischer

_ Männer ein. Noch am Vormittag des 10. November wurde von der NS-

_ Führung die Order zum Abbruch des Pogroms ausgegeben, die wenige

_ Stunden später über die Radios verkündet wurde. Zu groß war die Sorge,

35 dass die Krawalle und Brandlegungen auch nichtjüdische Immobilien

_ und Geschäfte gefährden würden und der Mob völlig außer Kontrolle

_ geriet.

_ In den meisten Regionen flaute die Zerstörungswucht im Laufe des Ta-

_ ges ab und endete in den Abendstunden gänzlich. In einigen Gebieten

40 ließen sich die Parteibasis und der judenfeindliche Mob jedoch nicht

_ von der NS-Führung bremsen, so zum Beispiel in Hannover, wo die Aus-

_ schreitungen noch bis in die Nacht des 11. November anhielten. Die

_ Massenverhaftungsaktion endete erst am 16. November. Der hektische,

69 4. Die Novemberprogrome 1938

_ ja fast chaotische Verlauf macht deutlich, dass der Pogrom nicht von

_ langer Hand geplant, sondern eine Reaktion des NS-Regimes auf die Er-

_ eignisse in Paris war.

_

Ablauf der Angriffe 05 Aus den Quellen lässt sich ein fast einheitliches Muster ablesen, nach und Merkmale der _ dem die Pogromattacken in allen Regionen des Deutschen Reichs ab-

Zerstörung _ liefen; dies trifft auch für die frühen Pogrome am 7. und 8. November

_ 1938 zu. Regional organisiert und angeführt wurden die Zerstörungs-

_ trupps überwiegend von NSDAP-Mitgliedern und -Funktionären jeg-

10 licher Rangordnung, auch von Angehörigen der Parteijugendverbände

_ sowie von Stoßtrupps der SA und der SS, die in Zivil erschienen, oft-

_ mals jedoch mit den bezeichnend einheitlichen Schaftstiefeln beklei-

_ det waren. Ihnen schloss sich spontan in unterschiedlichem Umfang die

_ ‚arische‘ Bevölkerung an, die sich aktiv an dem Gewaltrausch beteiligte

15 oder ihn jubelnd anheizte, darunter auch viele Frauen, die vor allem an

_ den Plünderungen teilnahmen und sich bereicherten. Neben diesem ge-

_ walttätigen judenfeindlichen Mob versammelte sich immer auch eine

_ Menschenmenge, die das Geschehen neugierig beobachtete. Inwieweit

_ diese Zuschauer die brutalen Attacken gegen ihre jüdischen Nachbarn

20 und Mitbürger befürworteten oder ablehnten, bleibt ungewiss. Fest

_ steht, dass sie im Großen und Ganzen passiv blieben.

_ In erschreckend großem Ausmaß waren neben den Stoßtrupps der NS-

_ Verbände auch Jugendliche an den Pogromen beteiligt. Sie fielen oft-

_ mals durch ihren ungezügelten Hass und ihre perfide Lust an Erniedri-

25 gungs- und Gewaltexzessen auf. Jugendliche zogen als Angehörige der

_ Hitlerjugend in Trupps los, starteten eigenständige Angriffe oder schlos-

_ sen sich den SA-Banden an. Viele nahmen eigenständig und spontan am

_ Geschehen teil, andere ließen sich von Erwachsenen zu Gewalttaten an-

_ stacheln. Die aufwiegelnde Rolle der Institution Schule und vieler Lehrer

30 ist ebenfalls belegt. Am Vormittag des 10. November gab es in einigen

_ Ortschaften schulfrei, damit sich die Schüler und Schülerinnen an den

_ Übergriffen gegen Juden beteiligen konnten, so auch in der hessischen

_ Kleinstadt Großen-Linden in der Nähe von Gießen. Gemeinsam mit dem

_ Bürgermeister, dem Schuldirektor und den Lehrern zogen 200 Volksschü-

35 ler zu Häusern, in denen Juden wohnten, und schlossen sich dem Pöbel

_ an. Die Jugendlichen warfen Scheiben ein, attackierten und bespuckten

_ jüdische Kinder und waren kaum mehr zu bremsen. Das brutale Vorge-

_ hen gerade von Jugendlichen wird in zahlreichen Augenzeugenberich-

_ ten immer wieder thematisiert, vor allem auch von jüdischen Jugend-

40 lichen, die ihre Altersgenossen genau beobachtet und wahrgenommen

_ haben. (Quelle 4/2; Auszug aus einem Brief des 19-jährigen Bernhard

_ Natt über den Novemberpogrom in Frankfurt am Main vom 20. Novem-

_ ber 1938 und Quellen 4/3; Augenzeugenberichte über die Beteiligung

70 4. Die Novemberprogrome 1938

_ von Jugendlichen an den Pogromen) Eines der ersten und zentralen An-

_ griffsziele waren die Synagogen und jüdischen Gebetshäuser. Nachdem

_ der Innenraum vollständig zertrümmert und die Thorarollen und andere

_ Ritualgegenstände geschändet worden waren, wurden die meisten jüdi-

05 schen Gotteshäuser in Brand gesteckt, in einigen Fällen wurden sogar

_ Handgranaten oder Sprengstoff verwendet. Hier wurde die Zerstörung

_ ,des Jüdischen‘ öffentlich zelebriert. Das Bild der brennenden Synagoge

_ steht daher heute oft symbolhaft für die ‚Reichskristallnacht‘. (Quelle

_ 4/4; Augenzeugenbericht eines Berliner Juden von der Zerstörung einer

10 Synagoge in Berlin-Charlottenburg am 10. November 1938)

_ Auf die Synagogen folgten die Geschäfte jüdischer Eigentümer, die sys-

_ tematisch aufgesucht und verwüstet wurden. In vielen Fällen gingen die

_ Täter nach Listen vor, die seit den zahlreichen Boykottaktionen vorlagen.

_ Insbesondere in den Großstädten kam es zu spektakulär inszenierten

15 Zerstörungen und Plünderungen teurer Geschäfte wie Juwelier-, Anti-

_ quitäten- und Teppichläden oder Kaufhäusern jüdischer Inhaber. Spä-

_ testens nach den Angriffen auf Geschäfte waren Juden in der Stadt und

_ auf dem Land auch in ihren Wohnungen nicht mehr sicher. Jetzt setzten

_ sich Zerstörung und Gewalt in ihrem privaten Bereich fort, es gab kei-

20 nerlei Schutzraum mehr für sie. (Quelle 4/5; Augenzeugenbericht einer

_ Jüdin aus Düsseldorf vom Überfall auf eine Privatwohnung)

_ Nicht zuletzt wegen der Verwendung von Begriffen wie ‚Kristallnacht‘

_ oder ‚Reichskristallnacht‘, die auf das in Bildern so präsente Scher-

_ benmeer der zerstörten Schaufenster in der Pogromnacht verweisen,

25 rückt die brutale körperliche Gewalt, der Juden dabei ausgesetzt waren,

_ oftmals in den Hintergrund. Ziel der Angreifer waren aber nicht allein

_ jüdische Einrichtungen, sie gingen genauso hasserfüllt und brutal ge-

_ gen die jüdische Bevölkerung vor, auch gegen Frauen, Kinder und ältere

_ Menschen. Schläge, schwerwiegende Verletzungen durch körperliche

30 Attacken mit Messern, sonstigen Waffen und Schlaggegenständen, Ver-

_ gewaltigungen, Demütigungen und Erniedrigungen – vor allem auch von

_ Rabbinern – sind in den Augenzeugenberichten und in den Zeugenaus-

_ sagen der Nachkriegsprozesse dokumentiert.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

71 4. Die Novemberprogrome 1938

_ Jüdische Bürger aus Groß-Gerau/Südhessen wurden am 10. November 1938 auf dem Markt- platz vor vielen Zuschauern öffentlich gedemütigt. _ © Sammlung Paul Arnsberg, Jüdisches Museum Frankfurt am Main _

_

_

_ Im ostfriesischen Emden etwa wurden die zwischen 70 und 80 Jahre

_ alten Bewohner des jüdischen Altersheimes an der brennenden Syna-

_ goge vorbei auf einen Platz vor dem Schulgebäude getrieben, wo alle

_ Juden der Stadt hingeschleppt worden waren. Die alten Leute wurden 18 05 dort gezwungen, zu turnen und Kniebeugen zu machen. Aus Vreden,

_ Westfalen, wo noch drei jüdische Familien lebten, berichtet Heinz Nas-

_ sau: „Die Männer – Morgendorf, Heymann und ein dritter – wurden aus

_ den Häusern geholt und vollkommen schwarz gemacht (Teer oder Ruß?).

_ Dann wurde der eine vor eine zweirädrige Karre gespannt, der zweite

10 musste schieben und der dritte musste sich darauf stellen. So mussten

_ sie im Trab durch den Ort. Wenn es nicht schnell genug ging, wurden sie

_ getreten, geschlagen und bespuckt. Die Männer wurden dann barfuss 19 _ über Glasscherben getrieben.“ Henni de Groot-Cossen, die damals in

_ Holland lebte und kurz nach dem Pogrom ihre Familie in Weener, Ost-

_ 18 Augenzeugenberichte, S. 295 _ 19 Augenzeugenberichte, S. 323

72 4. Die Novemberprogrome 1938

_ friesland, besuchte, berichtet, dass alle jüdischen Männer der Klein-

_ stadt, auch ihr 77-jähriger Vater, in den Schlachthof verschleppt wur-

_ den. In dem Raum, wo die Tiere geschlachtet wurden, wurden vor ihren 20 _ Augen die Beile und Messer geschliffen.

05 Die systematische Ermordung war nicht Ziel des Pogroms, dennoch

_ wurde in zahlreichen Fällen der Tod von Juden nicht ausgeschlossen

_ oder sogar billigend in Kauf genommen. Für die Angegriffenen waren

_ die hasserfüllten Aktionen nicht einschätzbar, und die von vielen über

_ Stunden empfundene Todesangst war absolut begründet. Allein nach

10 Polizeiberichten kamen während der Novemberpogrome im Deutschen

_ Reich 91 Juden ums Leben. Die Zahl der Toten beziehungsweise Ermor-

_ deten erhöht sich um ein Vielfaches, wenn die Selbstmorde von Juden

_ und die Zahl derjenigen, die während oder infolge der Haft in den Kon-

_ zentrationslagern gestorben sind, hinzugerechnet werden. Die Quellen

15 zeigen auch, dass die Brutalität der Gewaltakte gegen Juden ganz we-

_ sentlich davon abhing, in welcher Form die Anweisung zum Pogrom an

_ die lokalen Parteidienststellen weitergegeben wurde, denn es existierte

_ kein schriftlich fixierter einheitlicher Befehl.

_ Auffällig ist das besondere Ausmaß der Gewalttätigkeiten und der Zer-

20 störungswut in den ländlichen Regionen. Das langjährige Zusammen-

_ leben in den Dörfern und Kleinstädten, wo man sich zum Teil schon seit

_ Generationen kannte, schützte die Juden nicht. Im Gegenteil schienen

_ engere Verbindungen Hass und Gewalt noch zu beflügeln. (Quelle 4/6;

_ Augenzeugenbericht aus Wölfersheim/Hessen von einem Pogrom in

25 einer ländlichen Gegend)

_ Ein weiterer wichtiger Aspekt des staatlich angeordneten Pogroms be-

_ trifft das Verhalten von Polizei und Feuerwehr, die bei diesen öffentlich

_ begangenen Straftaten hätten eingreifen müssen. Auch hier zeigen die

_ Quellen ein einheitliches Vorgehen: Die Polizei hielt sich während des

30 Pogroms meist beobachtend im Hintergrund. Die Feuerwehr löschte

_ nur dann, wenn der Brand von Synagogen, jüdischen Einrichtungen und

_ auch Privathäusern sich auf Nachbargebäude auszubreiten drohte. Für

_ die angegriffenen Juden war sehr schnell klar, dass vonseiten der Feu-

_ erwehr und der offiziellen Gesetzeshüter kein Schutz zu erwarten war.

35

Verhalten der _ Aus Augenzeugenberichten überliefert ist auch, wie die angegriffenen nichtjüdischen _ Juden das Verhalten der nichtjüdischen Bevölkerung allgemein und

Bevölkerung _ insbesondere von nichtjüdischen Nachbarn, Bekannten und Kolle- während der No- _ gen wahrnahmen. Die Erfahrungen, Beobachtungen und Einschätzun- vemberpogrome 40 gen sind durchaus unterschiedlich. Zustimmung wurde vielfach und in

_ unterschiedlichen Formen erlebt, von getuschelten antisemitischen

_

_ 20 Augenzeugenberichte, S. 298

73 4. Die Novemberprogrome 1938

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Zuschauer in Ober-Ramstadt im Odenwald am 9. November 1938

_ Die Synagoge in Ober-Ramstadt im Odenwald wurde am 9. November 1938 zerstört und in Brand gesetzt. Die Bevölkerung schaute zu. _ © Verein für Heimatgeschichte Ober-Ramstadt _

_

_

_ Äußerungen bis hin zur offenen Anfeuerung der Pogromtäter. Wenn von

_ ablehnenden Haltungen gegenüber den Novemberpogromen berichtet

_ wird, dann fällt auf, dass nichtjüdische Deutsche eher über die hohen

_ Sachschäden entsetzt waren als über die brutale Gewalt gegen Juden.

05 Meistens wird allerdings gar nicht oder nur am Rande, das heißt nur in

_ einigen wenigen Sätzen, auf das Verhalten der ‚arischen‘ Mehrheitsbe-

_ völkerung eingegangen. Naheliegend ist, dass die angegriffenen Juden

_ in ihrer unmittelbaren Umgebung überwiegend Passivität erlebten, die

_ sie für nicht weiter berichtenswert hielten. (Quellen 4/7; Augenzeugen-

10 berichte zum Verhalten der nichtjüdischen Bevölkerung während der

_ Novemberpogrome)

_ Erfahrungen von Unterstützung und Solidarität durch Nichtjuden bezie-

_ hungsweise Christen tauchen in den Berichten vergleichsweise selten

_ auf. Dennoch gibt es aus allen Teilen des Deutschen Reichs Beispiele

74 4. Die Novemberprogrome 1938

_ dafür, dass Nichtjuden geholfen haben, in Großstädten wie auch in länd-

_ lichen Regionen. Dabei ging es vor allem um ganz praktische Dinge: War-

_ nungen weitergeben, ärztliche Versorgung organisieren, Unterschlupf

_ bieten, Essen beschaffen.

05 Angesichts der massiven Gewaltattacken während des Pogroms, die

_ sich innerhalb kürzester Zeit spontan ausbreiteten und zusehends

_ aggressiver und brutaler wurden, konnten Hilfswillige kaum planen.

_ Viele Helfer handelten ganz offensichtlich aus dem Moment heraus.

_ So schrieb der Augenzeuge Josef Bettelheim wenige Tage nach den

10 Ereignissen aus dem Exil in Amsterdam: „Aus den kleinen Orten in

_ der Eifel wird berichtet, dass die christliche Bevölkerung alles tut,

_ um die in den Wäldern umherirrenden Juden zu versorgen, sie sorgen

_ für Essen und bringen diese unglücklichen Menschen unter eigener

_ Lebensgefahr des Nachts in ihren Wohnungen unter. Besonders wur- 21 15 den drei Bergarbeiterfamilien in Dülken erwähnt.“ Andere wiederum

_ hatten schon bei vorherigen antijüdischen Aktionen konkrete Hilfe ge-

_ leistet. So wurde beispielsweise aus dem norddeutschen Emden be-

_ richtet: „Ein junges Mädchen, Lina de Beer, war in ihrer Wohnung, die

_ sie mit ihren Brüdern zusammen bewohnte, eingeschlossen worden.

20 Sie entkam, indem sie über das Dach kletterte und dann von christli-

_ chen Nachbarn aufgenommen und gepflegt wurde. Dieselben christ-

_ lichen Freunde hatten seinerzeit bei dem Abschub der polnischen 22 _ Juden eine große Anzahl Decken für die Unglücklichen gestiftet.“

_ Zu Widerstandsaktionen auf offener Straße findet sich ein einziger

25 Bericht aus Berlin-Kreuzberg. Die hier beschriebene Szene lässt sich

_ allerdings nicht verifizieren, da sie vermutlich von nur wenigen beob-

_ achtet und daher nicht weiter dokumentiert wurde. In dem Bericht

_ heißt es: „Die Synagoge Kottbusserdamm wurde verschont. Ein Schu-

_ pobeamter verweigerte den Eintritt, Leute von der Straße sammelten

30 sich, um ihn zu unterstützen, es kam zu einer richtigen Schlacht mit 23 _ Biergläsern.“ Ähnlich herausragend war das Verhalten des Berliner

_ Polizisten Wilhelm Krützfeld, Vorsteher des Reviers am Hackeschen

_ Markt in Berlin-Mitte, von dem bekannt ist, dass er sich offen den an-

Wilhelm Krützfeld, _ rückenden SA-Trupps entgegenstellte. (Quelle 4/8; Hans Hirschberg Foto des Reviervorste- 35 hers anlässlich seines über die Begegnung mit dem Reviervorsteher Wilhelm Krützfeld im 40-jährigen Dienst­ _ November 1938) jubiläums, Berlin 1940. _ Foto entnommen aus: www.museum-blinden- _ werkstatt.de _

_

_ 21 Augenzeugenbericht, S. 335 _ 22 Augenzeugenberichte, S. 295 _ 23 Augenzeugenberichte, S. 232

75 4. Die Novemberprogrome 1938

_ Bis heute lässt sich die Frage, in welcher Größenordnung die nicht-

_ jüdische Bevölkerung an den Gewaltakten beteiligt war, nicht in kon-

_ kreten Zahlen beantworten. Für Berlin beispielsweise wird geschätzt,

_ dass der brandschatzende und plündernde antisemitische Pöbel aus

05 circa 10 000 Personen bestand. Neuere Forschungsarbeiten ziehen

_ folgendes Fazit: In Großstädten wie in ländlichen Regionen waren

_ Teile der nichtjüdischen Bevölkerung in unterschiedlichem Ausmaß

_ aktiv an dem Gewalt- und Plünderungsrausch beteiligt. Auch wenn

_ die Mehrheit die Pogrome aus unterschiedlichen Gründen ablehnte

10 beziehungsweise ihnen kritisch gegenüberstand, ist die Anzahl der-

_ jenigen, die mit den öffentlichen Gewaltangriffen gegen Juden ein-

_ verstanden waren oder mindestens mit den Tätern sympathisierten,

_ nicht zu unterschätzen. Das Ausmaß und die gewalttätige Dynamik

_ der Novemberpogrome waren nur aufgrund der überwiegend passi-

15 ven oder die Gewaltakte unterstützenden Haltung der Bevölkerung

_ möglich.

_

Die Massenverhaf- _ In den frühen Morgenstunden des 10. November begannen unter tungen vom 10. bis _ dem Vorwand der sogenannten Schutzhaft landesweite Massenver- zum 16. November 20 haftungen von jüdischen Männern. Rechtliche Grundlage der Schutz-

1938 _ haft war die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, welche die

_ willkürlichen Inhaftierungen von Regimegegnern legitimierte. Die von

_ Heinrich Himmler, Chef der Deutschen Polizei, und Reinhard Heyd-

_ rich, Chef der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes

25 der SS (SD), ausgegebenen Anweisungen lauteten: 20 000 bis 30 000 24 _ gesunde jüdische Männer, „vor allem vermögende Juden“, im ge-

_ samten Reich festzunehmen. Daraufhin setzte eine wahre Hetzjagd

_ ein. Jüdische Männer wurden zu Hause, am Arbeitsplatz und von der

_ Straße weg von regionalen Polizeieinheiten oder der Gestapo verhaf-

30 tet. Vielfach wurden SS- und SA-Trupps zur Unterstützung hinzuge-

_ zogen. Sie zeichneten sich vor allem durch ihr brutales Vorgehen aus.

_ Schläge, Erniedrigungen, Erpressungen gehörten zu ihrem Reper-

_ toire.

_ Auch bei dieser Aktion zeigt sich, dass die Entscheidung und die Anord-

35 nungen zu den Festnahmen überstürzt gefällt worden waren. Vor allem

_ übereifrige SA- und SS-Trupps gingen weit über den festgelegten Perso-

_ nenkreis hinaus und verhafteten Frauen, alte Leute und teils auch Kin-

_ der, die nach einigen Stunden oder wenigen Tagen wieder freigelassen

_ wurden. Insgesamt wurden innerhalb von sechs Tagen 30 756 Juden in

40 die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen ver-

_

_ 24 Susanne Heim (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalso- zialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 2: Deutsches Reich 1938-August 1939, hrsg. von Götz Aly u.a., _ München 2009, S. 366.

76 4. Die Novemberprogrome 1938

_ Die hessische Kleinstadt Langenselbold am 11. November 1938.

_ Die dort verhafteten jüdischen Männer wurden zunächst im Rathaus festgehalten. Das Foto zeigt, wie sie den Lastwagen einer Baufirma besteigen, der sie nach Hanau in das Gefängnis im _ Fronhof brachte. Von dort aus wurden sie mit dem Zug in das Konzentrationslager Buchenwald _ transportiert.

_ © Medienzentrum Hanau

_

_

_ schleppt. Für die jüdische Bevölkerung, die durch die Emigration zah-

_ lenmäßig stark dezimiert war, bedeutete dies, dass sich etwa 20 Prozent

_ der jüdischen Männer in Haft befanden.

_

05 Die jüdischen Organisationen konnten zu Beginn der Aktion wegen der

_ eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten und des Verbots der

_ jüdischen Presse die betroffene Bevölkerung nur bedingt warnen. Den-

_ noch verbreitete sich die Nachricht über die Massenverhaftungen rasch,

_ vor allem in den Großstädten. Wer gewarnt und noch in Freiheit war,

10 versuchte unterzutauchen oder sich zu verstecken. Tagelang streiften

_ jüdische Männer möglichst unscheinbar durch die Großstädte, suchten

_ Unterschlupf bei aufnahmebereiten Nichtjuden oder bei jüdischen Fa-

_ milien, deren männliche Angehörige bereits verhaftet waren. Viele tra-

_ ten panikartig die Flucht ins Ausland an.

77 4. Die Novemberprogrome 1938

_ Verhaftete jüdische Männer beim Appellstehen im KZ Buchenwald.

_ Allein aus Hessen wurden mehrere Tausend Männer im November 1938 nach Buchenwald ver- schleppt. _ © United States Holocaust Memorial Museum _

_

_

_ Ähnlich wie bei der ‚Juni-Aktion‘ einige Monate zuvor war zunächst für die

_ allermeisten der Verhaftungsgrund nicht klar. Viele vermuteten jedoch, so

_ zeigen Augenzeugenberichte, dass nach der Festnahme die gefürchtete

_ KZ-Haft drohte. Was sie in den Konzentrationslagern erwartete und wie

05 lange sie dort eingesperrt bleiben sollten, konnten die Verhafteten nur

_ ahnen. Ihre Familien blieben über Wochen, teils über Monate im Unge-

_ wissen. Die Einlieferung in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald

_ und Sachsenhausen wird in allen Berichten als traumatischer Schock be-

_ schrieben. Juden wurden in den Lagern besonders malträtiert und waren

10 den willkürlichen, oftmals sadistischen, ja folterähnlichen Quälereien und

_ Erniedrigungen der Wachmannschaften vollkommen ausgeliefert. Die drei

_ Konzentrationslager wurden in kürzester Zeit mit mehr als 30 000 neuen

_ Häftlingen belegt, das heißt, sie waren völlig überfüllt. In jedem der Lager

_ waren die Haftbedingungen katastrophal: überbelegte Baracken, kaum

15 vorhandene sanitäre Einrichtungen und extremste Arbeitsbedingungen,

_ die auf den körperlichen Zusammenbruch der Inhaftierten angelegt wa-

_ ren. In Berichten ist immer wieder davon zu lesen, wie viele den Terror

_ auch psychisch nicht verkraften konnten und verrückt wurden.

78 4. Die Novemberprogrome 1938

_ Von Ende November 1938 bis zum Frühjahr 1939 wurden die meisten

_ der während des Pogroms Verhafteten wieder aus den Konzentrations-

_ lagern entlassen. Der Preis für ihre Freilassung war hoch: Sie mussten

_ der Überschreibung ihres noch verbliebenen Besitzes an das Deutsche

05 Reich zustimmen und belegen, dass sie schnellstmöglich das Land ver-

_ lassen würden. Das NS-Regime nahm mit dieser Aktion die Juden in

_ erpresserische Haft. Mehrere Hundert Häftlinge kamen in den Lagern

_ oder infolge der KZ-Haft ums Leben. (Quelle 4/9; Augenzeugenbericht

_ eines jüdischen Mannes aus Nordhausen/Thüringen über Verhaftungen

10 und die Ankunft im Konzentrationslager Buchenwald vom 27. November

_ 1938)

_

Bilanz von _ Nach heutigem Forschungsstand wurden während der Novemberpog-

Zerstörung _ rome 1 406 Synagogen, 7 500 Geschäfte jüdischer Inhaber und mindes- und Gewalt 15 tens 177 private Wohnhäuser zerstört. 1 300 bis 1 500 Juden kamen ums

_ Leben, einschließlich derjenigen, die in den Konzentrationslagern oder

_ infolge der KZ-Haft gestorben sind, und der Selbsttötungen. Allein im

_ November 1938 nahmen sich zwischen 300 und 500 Juden das Leben.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

79 4. Die Novemberprogrome 1938

_ / Arbeitsvorschläge

_ Die darstellenden Basistexte beschreiben die historischen Entwicklun-

_ gen. Die Augenzeugenberichte und die weiteren Quellen eignen sich, um

_ einige Ereignisse, Entwicklungen und Zusammenhänge herauszuarbei-

05 ten. Eine Arbeitsgruppe kann zu dem Schwerpunkt der Ereignisse der

_ Pogrome im November 1938 eine Erzählung aus jüdischer Sicht erar-

_ beiten. Zur Orientierung können dabei folgende Schwerpunkte hilfreich

_ sein:

_ /  Die Zusammenhänge zwischen den ersten regionalen Pogromen am

10 7. und 8. November, der Funktionalisierung des Pariser Attentats

_ durch das NS-Regime und der Entscheidung zum Pogrom durch die

_ NS-Führung beziehungsweise durch Hitler und Goebbels können sys-

_ tematisch dargestellt werden.

_ /  Ein Vergleich zwischen den frühen Pogromen am 7. und 8. November

15 und der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. Novem-

_ ber 1938 ermöglicht es, das Verhältnis von spontanem Handeln und

_ staatlichem Handeln zu beschreiben.

_ /  Auf Grundlage der Quellen können die Lernenden skizzieren, wie wäh-

_ rend der NS-Zeit Befehlsketten von Partei und Staat funktionierten.

20 Die Darstellung der Motive und der anschließenden Dynamik der Po-

_ grome kann zu einer Diskussion des Verhältnisses von Spontaneität,

_ Befehl und Gehorsam genutzt werden.

_ /  Es können wesentliche Merkmale, das Muster des Ablaufs der Novem-

_ berpogrome und das Handeln der Täter, nicht zuletzt auch der jugend-

25 lichen Angreifer, identifiziert und herausgearbeitet werden.

_ /  Die Berichte über solidarisches Handeln der nichtjüdischen Bevölke-

_ rung sowie dessen Stellenwert und Bedeutung für die bedrohten Ju-

_ den können genutzt werden, um zu einer differenzierteren Erzählung

_ der Pogrome zu gelangen.

30 /  Die Erarbeitung der Perspektive der angegriffenen Juden ermöglicht

_ eine genauere Betrachtung des Schocks, in dem sie sich befanden.

_ Ihre Situation nach den Pogromen war von verschiedenen Empfindun-

_ gen und Erinnerungen bestimmt: Überraschung (enttäuschte Eman-

_ zipationssicherheit), Erinnerung an frühere Pogrome – etwa des 19.

35 Jahrhunderts (historische Dimension), Erschrecken vor der Gewalt,

_ Beharren auf ihren Rechten als deutsche Staatsbürger. Vorahnungen

_ und Reaktionen der jüdischen Repräsentanten können am Beispiel

_ von Hans Reichmann einbezogen werden.

_

_

_

_

_

80 4. Die Novemberprogrome 1938

_ /  Augenzeugenberichte liegen als Tondokumente oder als schriftliche

_ Zeugnisse vor. Sie selbst sowie ihre Überlieferung können quellenkri-

_ tisch analysiert werden.

_ /  Ablauf, Dimension und Funktion der Massenverhaftungen können an-

05 hand des darstellenden Textes nachvollzogen werden und in die Er-

_ zählung über die Pogrome einfließen.

_ /  Die in den Quellen enthaltenen Berichte von traumatischen Erfahrun-

_ gen aus den Konzentrationslagern wiederzugeben erfordert von den

_ Lernenden einen Abgleich mit den bislang erworbenen Vorstellungen

10 über das Geschehen in den KZs und mit anderen Wissensbeständen

_ zu Erfahrungen mit Gewalt.

_ /  Die Darstellung sollte in einer Reflexion der historischen Dimension

_ der Novemberpogrome münden. Warum werden sie als Bruch in der

_ deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte wahrgenommen? Diese

15 grundlegende Fragestellung verlässt die Form der Erzählung und ge-

_ hört vor allem in das Plenum der Lerngruppe.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

81 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/1

_ Schilderung Siegmund Weinstein, wie sein _

_ Vetter Robert Weinstein am 8. November _

_ 1938 in Felsberg/Hessen ums Leben kam _

_ _

05 Siegmund Weinstein schildert 1947, wie _

_ sein Vetter Robert Weinstein bei den ersten _

_ Pogromattacken­ am 8. November 1938 in _

_ Felsberg/Hessen ums Leben kam. _

_ _

10 _

_ Um ungefähr 7 Uhr abends versammelte sich _

_ eine große Menge SA, SS, Hitlerjugend und _

_ viele andere bei der Synagoge, zertrümmerte _

_ die Türen und demolierte alle Ritualien. Sie _

15 benahmen sich wie die Barbaren. Dann kam _

_ der rasende Mob zum jüdischen Schulgebäu- _

_ de […]. Sie zwangen meinen schwerkranken _

_ Vetter, Robert Weinstein, das Haus sofort zu _

_ verlassen, einige Minuten später starb er auf _

20 der Straße an einer Herzattacke. _

_ _

_ Quelle abgedruckt in: Kurt Schilde, Grabstein des ersten _ Toten der Novemberpogrome 1938, in: MEDAON – Magazin _ _ für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 7. Jg., 2013, _ Nr. 12, S. 1–4, unter: http://medaon.de/pdf/MEDAON_12_ _ Schilde.pdf 25 _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

82 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/2 //1 von 2 Seiten

_ Auszug aus einem Brief des 19-jährigen _ mer noch nicht recht daran glauben wollte.

_ Bernhard Natt über den Novemberpogrom in 45 […] Der Zeitpunkt war für Pogrome günstig ge-

_ Frankfurt am Main vom 20. November 1938 _ wählt. Durch den Tod vom Raths und die ent-

_ _ sprechende antijüdische Kampagne wurden

05 Bernhard Natt (geb. 1919–2014) wuchs mit _ auch sonst gleichgültige Leute gegen uns auf-

_ seinen älteren Brüdern Ernst und Walter _ gehetzt. […]

_ in einer liberalen jüdischen Arztfamilie in 50 Auf der neuen Zeil sah ich etwas Ekelhaftes.

_ Frankfurt am Main auf. 1935, noch vor dem _ Aus einem Haus wurden drei jüdische Jun-

_ Abitur, musste er das Gymnasium verlas- _ gen in meinem Alter von einem Haufen jun-

10 sen. Er wollte nach Palästina auswandern _ ger Kerle herausgeholt, furchtbar verprügelt

_ und suchte eine Lehrstelle als Handwerker. _ und dann gejagt, d.h., man ließ sie laufen und

_ Ein nichtjüdischer Tischlermeister bildete 55 verfolgte sie. Einer hatte eine große blutende

_ ihn bis 1938 als Lehrling aus, unbeeindruckt _ Wunde an der Schläfe, konnte kaum noch lau-

_ von der Vorladung bei der Gestapo und der _ fen und wurde von seinen beiden Kameraden

15 Verhöhnung als „Juden-Knecht“ in der ört- _ gestützt. Hinterher mit Gejohle und Geschrei

_ lichen Parteizeitung. Wenige Tage nach dem _ der Pöbel. – Schließlich konnten sie in die

_ Novemberpogrom flüchtete Bernhard Natt 60 Seitenstraße entkommen.

_ in die Niederlande, wo ihm ein Platz in einer _ In der Stadt kam ich mit dem Rad kaum durch.

_ Hachschara-Ausbildungsstätte sicher war. _ Überall zogen Trupps herum. Erst wurden die

20 Seine Mutter blieb in Frankfurt am Main zu- _ Türen der jüdischen Geschäfte aufgebrochen,

_ rück. Sein Vater war im KZ Buchenwald inhaf- _ die Läden von innen hochgezogen, wenn man

_ tiert. Den beiden älteren Brüdern war noch 65 sie nicht von außen herunterreißen konnte

_ vor dem Pogrom die Ausreise nach England _ und mit großen Eisenstäben oder Hämmern

_ geglückt. Bernhard Natt schrieb ihnen am _ die Erkerscheiben restlos zertrümmert. Alles

25 20. November 1938, was er am 9. November _ im Schaufenster und im Laden restlos zer-

_ 1938 in Frankfurt am Main erlebt hatte. _ stört und geplündert. Es wurde natürlich ge-

_ 70 plündert, ich sah es mit eigenen Augen. Nur

_ _ in einigen Geschäften – z.B. bei Speyer – ver-

_ Lieber Ernst und lieber Walter. _ hinderten es die arischen Angestellten. Doch

30 Nachdem ich einigermaßen zur Ruhe gekom- _ bei Ehrenfeld und den meisten anderen blieb

_ men bin, will ich Euch beiden berichten, was _ nichts im Schaufenster. – Wie ich später er-

_ ich in den letzten kritischen Tagen in Ffm er- 75 fuhr, waren diese Helden meistens SA und SS

_ lebte. Mittwoch, den 9.11., zeichnete ich wie _ in Zivil, die gleichen, die abends in Uniform die

_ üblich den ganzen Tag bei xxx – nachmittags _ jüdischen Geschäfte ‚bewachten‘. Außerdem

35 kam die Nachricht durch, v. Rath sei gestor- _ machten auch unorganisiertes Gesindel und

_ ben, und kurz darauf erfuhren wir, daß sämt- _ arische Geschäftsleute, die starke jüdische

_ liche jüdische Organisationen und Zeitungen 80 Konkurrenz hatten, mit. […] Systematisch,

_ verboten seien. […] Die jüdischen Schulen _ Straße für Straße wurde heimgesucht und

_ hatten geschlossen, da sie nach den letzten _ auch die kleinsten Läden wurden nicht ver-

40 Ereignissen nicht mehr für die Sicherheit ihrer _ schont. Die Stimmung in der Stadt war natür-

_ Schüler garantieren konnten. _ lich sehr gereizt. Der größte Teil der Bevölke-

_ Ich fuhr mit dem Rad in die Stadt, um mir dort 85 rung beteiligte sich überhaupt nicht, und ich

_ die Zustände näher anzusehen, da man im- _ hörte ablehnende Bemerkungen. Viele Arier

83 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/2 //2 von 2 Seiten

_ wurden von der Straße weg verhaftet. Einmal _

_ sagte eine Frau: ‚Die armen Juden‘, ein ande- _

_ res Mal ein Herr: ‚Das ist unsere Kultur‘. – Sie _

_ wurden gleich mitgenommen. […] _

05 An der Hauptsynagoge war bessere Arbeit _

_ geleistet worden. Die Flammen schlugen aus _

_ dem Fenster und dem Dach heraus. Die Feu- _

_ erwehr löschte nur, soweit umliegende Häu- _

_ ser gefährdet wurden. – Das Beth-Chaluz _

10 [Haus der Pioniere; hier lebten junge Leute der _

_ Hechaluz-Bewegung vor ihrer Ausreise nach _

_ Palästina in Kommunen zusammen] in der _

_ Einhorngasse, beinahe gegenüber, kam gut _

_ davon. Die Jungen und Mädels dort standen _

15 mit ihren arischen Hausmitbewohnern glück- _

_ licherweise sehr gut. Einer von diesen, ein _

_ Parteimitglied, stellte sich während der kriti- _

_ schen Zeit vors Haus. Als man stürmen wollte, _

_ zeigte er seinen Parteiausweis und erklärte, _

20 dies sei ein arisches Haus, und veranlaßte die _

_ Leute weiterzugehen. _

_ Bis jetzt am schlimmsten mitgenommen _

_ war die Börneplatz-Synagoge. Sie war innen _

_ schon ganz ausgebrannt und der Staat ‚be- _

25 schlagnahmte‘ gerade die Wohnungseinrich- _

_ tung des Synagogendieners, d.h. der Besitz _

_ dieser sicher schon verhafteten Leute wurde _

_ gerade durch Polizei und Arbeiter geholt und _

_ in Lastwagen verladen. – Parteimitglieder ka- _

30 men vorbei und grüßten sich freudig. ‚Diesen _

_ Tag habe ich schon lange herbeigewünscht‘, _

_ rief einer dem anderen neben mir zu. […] _

_ _

_ Quelle abgedruckt in: Gottfried Kößler, Angelika Rieber, Feli _ Gürsching (Hrsg.), ... daß wir nicht erwünscht waren. Novem- 35 _ berpogrom 1938 in Frankfurt am Main. Berichte und Doku- _ mente, Frankfurt am Main 1993, S. 151 f. _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

84 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/3 //1 von 2 Seiten

_ Augenzeugenberichte über die Beteiligung _ fürchterlich verprügelten. Auch auf der Straße

_ von Jugendlichen an den Pogromen 45 spielten sich fürchterliche Prügelszenen ab,

_ _ wobei sogar alte Männer und Frauen und Kin-

_ Über die aktive Beteiligung von Jugendlichen _ der nicht verschont blieben.

05 an den Novemberpogromen finden sich zahl- _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ reiche Belege in den Akten der Nachkriegs- _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ prozesse, die vor allem in den Jahren 1946 bis 50 2008, S. 351

_ 1950 stattfanden. Der US-amerikanische His- _

_ toriker Alan Steinweis hat diese Akten gesich- _

10 tet und kommt zu dem Ergebnis: „Deutsche _

_ Jugendliche spielten eine zentrale Rolle bei _ Augenzeugenbericht von der ,Reichskristall- * _ der Gewalt in der Kristallnacht.“ 55 nacht‘ in Duisburg

_ _ Über den Autor und seine weitere Lebensge-

_ _ schichte ist nichts bekannt.

15 _

_ _ In dieser (ca. 440 000 Einwohner zählenden)

_ Augenzeugenbericht von der ,Reichskristall- 60 Stadt ist besonders brutal gewütet worden.

_ nacht‘ in Köln und Aachen _ Die ,spontanen‘ Ereignisse haben sich in spä-

_ Walter Singer dokumentierte die Ereignisse _ ter Nacht abgespielt. Bemerkenswert, dass

20 am 12. November im Exil in Paris. _ das Mordgesindel nicht aus Ortsansässigen

_ _ bestand. Die Täter, größtenteils Jugendliche

_ Die Pogrome in Köln begannen am 10. Novem- 65 anfangs der 20, dürften wahrscheinlich aus

_ ber um 4 Uhr früh. Die Teilnehmer waren nach _ Dortmund stammen, um – in der über 60 km

_ den Aussagen der dort wohnenden Juden SA- _ entfernt liegenden Stadt – die ,spontane

25 Leute, die in Zivil waren. Sehr zahlreich betei- _ Rache‘ zu üben. Diese Taktik scheint in Nord-

_ ligten sich aber auch Jugendliche, auch in Zivil, _ westdeutschland ziemlich allgemein gewesen

_ an den Pogromen. Sie gingen in ganz kleinen 70 zu sein: SA etc. auszutauschen, Dortmunder

_ Trupps von ca. 10 Mann durch die Straßen. [...] _ nach Duisburg, Düsseldorfer nach Wuppertal

_ Die Trupps schlugen systematisch alle jüdi- _ und Essen usw.; einerseits um keine Mitleid-

30 schen Auslagen und Rollbalken [dk: Rollladen] _ gefühle aufkommen zu lassen, falls sich die

_ ein, holten Lastwagen, auf denen der Inhalt _ Aktion zufällig gegen persönliche Bekannte

_ der Geschäfte verladen und weggeschleppt 75 richten sollte, andererseits, um die Identifi-

_ wurde, zerschlugen die Einrichtungen, warfen _ zierung der Täter durch die Opfer zu vermei-

_ die zerschlagenen Stücke auf die Straße und _ den. Nach übereinstimmenden Berichten

35 zündeten diese häufig an und gingen weiter. _ standen die Horden stark unter Einfluss von

_ [...] Andere holten aus den Häusern selbst, _ Alkohol. Entweder also hat man die Bande –

_ sogar manchmal aus der Straßenbahn und 80 jugendliche Burschen reagieren bekanntlich

_ sonstigen Lokalen die Juden, hauptsächlich _ besonders schnell auf den Genuss von alko-

_ Männer, heraus, die sie in Arrestlokale und _ holischen Getränken – vorher besoffen ge-

40 sonstige Sammellager schleppten, wo sie sie _ macht, um sie in Pogromstimmung zu bringen

_

_

_ * Alan E. Steinweis, Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011, S. 87

85 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/3 //2 von 2 Seiten

_ (der ,Jahrestag des Marsches auf München‘ 35 Bericht eines Pfarrers aus Caputh

_ bot z.B. äußeren Anlass dazu), oder man hat _ bei Potsdam

_ während der einstündigen Autofahrt zum Ak- _ Der protestantische Pfarrer Hellmut Traub

_ tionsgebiet unterwegs gerastet und Freibier _ gehörte der Bekennenden Kirche an, einer

05 gespendet. [...] Nur so ist es psychologisch _ oppontionellen Strömung innerhalb der

_ zu erklären, dass unter Hunderten von jungen 40 Deutschen Evangelischen Kirche, die sich

_ Burschen bei keinem Hemmungen auftraten, _ insgesammt dem nationalsozialistischen

_ diese barbarischen Schweinereien mitzuma- _ Staat und der NS-Ideologie unterordnete.

_ chen. _ Traub berichtet über das Verhalten seiner

10 Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael _ Zöglinge im Konfirmandenunterricht kurz Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ 45 berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main nach den Novemberpogromen am 10. No- _ 2008, S. 357 f. _ vember 1938.

_ _

_ _ Auf die Aufforderung, sich zu setzen, erhob

15 _ sich Geschrei, und auf einen Wink ergrif-

_ Augenzeugenbericht über den Pogrom 50 fen sie alle ihre Bibeln, rissen unter wildem

_ in Wien _ Hohngebrüll und brutalen Gesten das Alte

_ Maximilian Loewy konnte kurz nach den _ Testament aus den Bibeln und schmissen es

_ Novemberpogromen in die USA ausreisen. _ an die Wand, in die Luft, zum Fenster heraus

20 Seinen Bericht verfasste er am 24. Novem- _ – unter schrecklichem Gelächter. Obgleich ich

_ ber 1938 während eines Zwischenstopps in 55 sie sofort hatte anfahren wollen, stand ich

_ Amsterdam. _ fassungslos wie gelähmt da – da dabei! Nun

_ _ stürzten sie sich schon auf mich, schlossen

_ Fest steht, dass in Hitzing (Wien XIII) die _ mich in einem Kreis ein. Dann überschrien sie

25 Schuljugend zwischen zwölf und 14 Jahren _ sich mit Schilderungen, wie sie in der vergan-

_ um 10 Uhr morgens aus der Schule entlassen 60 genen Nacht das jüdische Kinderheim über-

_ worden ist mit der Weisung, jüdische Woh- _ fallen, die Fenster eingeworfen, die jüdischen

_ nungen und Geschäfte zu demolieren. Davon _ Waisenkinder durch brennende Papierkugeln

_ ist auch kräftig Gebrauch gemacht worden, _ erschreckt hätten.

30 denn vielfach sind die Wohnungen kurz und _ Quelle abgedruckt in: Hartmut Ludwig, „Als die Zeugen schwiegen.“ Bekennende Kirche und der Pogrom am 9./10. _ 65 klein geschlagen worden.“ November 1938, in: Stiftung Topographie des Terrors: Die _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael _ Novemberpogrome 1938. Versuch einer Bilanz, Berlin 2009, Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- S. 23, Fußnote 15 _ _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ 2008, S. 796 _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

86 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/4

_ Augenzeugenbericht eines Berliner Juden _ sagt: ‚Nachher, wir haben ja noch Zeit, werden

_ von der Zerstörung einer Synagoge in Berlin- 45 wir alle zusammen abknallen.‘

_ Charlottenburg vom 10. November 1938 _ Der Anführer der Bande war zweifellos ein

_ _ Akademiker von 23 bis 24 Jahren. Einer der

05 Zentraler Angriffspunkt während der Novem- _ Leute zeigte, wenn er allein war, ein mensch-

_ berpogrome waren in allen Regionen, auf dem _ liches Rühren: ‚Seid ruhig, dann passiert euch

_ Land wie in den Städten, die Synagogen. Sie 50 nichts, ihr kommt bald heraus.‘

_ wurden zumeist als Erstes attackiert, mit dem _ Nach 2 ½ Stunden mussten sie antreten und

_ Ziel, die Gebetshäuser vollkommen zu zer- _ wurden einzeln gefragt, was sie verdienen.

10 stören. In den Augenzeugenberichten zeich- _ Dann sagte einer von den Leuten: ‚Es ist mir

_ net sich ein fast einheitliches Vorgehen ab. _ ganz egal, wenn ihr auch nicht genug hier

_ Der Verfasser der folgenden Aufzeichnungen 55 habt, ihr müsst RM 10.– geben, dann lassen

_ berichtet über den Angriff auf die Synagoge _ wir euch in einer Stunde frei.‘ Berichterstatter

_ in der Pestalozzistraße (Charlottenburg) am _ bot RM 15.– an, wenn sie bald freikämen. Da-

15 10. November 1938. Am 11. November 1938 _ rauf Beratung mit dem Resultat ‚In einer Vier-

_ flüchtete er in die Niederlande. Weiter ist über _ telstunde‘. Tatsächlich wurden sie dann auch

_ ihn nichts bekannt. 60 freigelassen. Berichterstatter erfuhr dann bei

_ _ einem Anruf in seiner Wohnung, dass schon

_ _ Kriminalbeamte da gewesen waren, um ihn

20 _ abzuholen.

_ In der Synagoge Pestalozzistraße in Berlin- _ Die Synagoge Pestalozzistraße und die an-

_ Charlottenburg waren Donnerstag, den 10. 65 schließende Mittelstandsküche wurden voll-

_ November, mehrere Juden, darunter Bericht- _ kommen zertrümmert. Auf der Straße lagen

_ erstatter, als junge Burschen in Zivil, aber _ Thorarollen, Altardecken, Gebetbücher, Zy-

25 deutlich als SS oder SA kenntlich, zumal sie _ linderhüte herum, alles zerstört und ver-

_ sich über ihre ‚Formationen‘ unterhielten, ein- _ schmutzt. Christliche Kinder spazierten mit

_ drangen, vier Mann packten und unter Fuß- 70 den Hüten herum. [...]

_ tritten in den Keller unter der Synagoge war- _

_ fen (darunter Berichterstatter). Sie wurden _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- 30 _ wahnsinnig mit Stöcken verprügelt, ein Mann berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ wurde gezwungen, einen anderen zu schlagen _ 2008, S. 221 ff.

_ unter größten Drohungen, hinterher wurde der _

_ Stock an ihm kaputt geschlagen. Berichter- _

_ statter wurde an der Lippe verletzt, einem an- _

35 deren wurden Zähne herausgeschlagen, was _

_ sonst an Verletzungen geschehen ist, ist nicht _

_ bekannt. Sie mussten dann 2 ½ Stunden ste- _

_ hen und sodann den sehr verschmutzten Kel- _

_ ler sauber machen und wurden eingeschlos- _

40 sen. Als Berichterstatter eine Frage stellte, _

_ wurde ihm ein entsicherter Revolver an die _

_ Stirn gehalten: ‚Noch ein Wort, und ich schie- _

_ ße dich über den Haufen.‘ Oder es wurde ge- _

87 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/5 //1 von 2 Seiten

_ Augenzeugenbericht einer Jüdin aus Düssel- _ Fenster und hörte auch schon eine Schar

_ dorf vom Überfall auf eine Privatwohnung 45 junger Männer auf der Straße sagen: ,So,

_ _ jetzt in dieses Haus und zu den Familien.‘ Ich

_ Die unbekannte Autorin hielt fest, wie sie in _ hörte, dass man zu mir auch kommen woll-

05 der ,Reichskristallnacht‘ in ihrer Düsseldorfer _ te, schloss rasch meine Wohnungstür, meine

_ Wohnung überfallen wurde. _ Schlafzimmertür, holte meinen schlafenden

_ 50 Jungen aus dem Bett, da ich mit diesem al-

_ _ leine war, und schloss mich ins Bad ein. Da in

_ _ meinem Hause außer mir noch zwei jüdische

10 Zu den letzten Ereignissen in Deutschland _ Familien wohnten, hörte ich unten dasselbe

_ möchte ich Folgendes schildern, wie es mir _ furchtbare Zerschlagen und Schreien, wor-

_ selbst in der Nacht vom 9. auf den 10. No- 55 auf ich glaubte, auch die Menschen würden

_ vember ergangen ist. Nachts gegen 12 Uhr _ angegriffen, dann wiederholte sich dasselbe

_ schellte bei mir das Telefon, es meldete sich _ auf meiner Nachbaretage, während kurze

15 ein Herr aus K., der mich um Aufnahme bat, _ Zeit darauf auch meine Wohnungstür einge-

_ da etwas furchtbares passiert sei, und ob er _ drückt wurde und in meine Wohnung ca. 20

_ sofort kommen dürfte. Selbstverständlich 60 junge Männer hineinstürmten, welche mit

_ bejahte ich dies und kam dieser Herr entsetz- _ Beilen und Spitzhacken sofort meine ganze

_ lich aufgeregt zu mir, ohne Hut, ohne Mantel, _ Wohnung zertrümmerten. Die Scheiben wur-

20 bleich und schilderte folgendes Ereignis: Er _ den eingeschlagen, die Möbel zermatscht,

_ saß in einem jüdischen Café, als ein Trupp _ alles kurz und klein geschlagen, die Bilder

_ junger SA-Leute in Uniform mit vorgehalte- 65 zerschnitten, die Lehne und Sessel der Mö-

_ nem Revolver in der Hand in das Café herein- _ bel zerhackt, die Tischplatten zerschlagen,

_ stürmte und schrie: ,Rache für Paris!‘ Er hörte _ kurz und gut alles zerstört und zum Schluss

25 einen Schuss, und im selben Moment wurde _ sämtliche Möbel übereinandergeworfen.

_ das ganze Lokal kurz und klein geschlagen, _ Während diese Leute dann die Wohnung ver-

_ während dieser Herr flüchten konnte. Ich füge 70 lassen hatten, um in den Nebenhäusern das

_ hinzu, dass der Besitzer des Cafés inzwischen _ Zerstörungswerk fortzusetzen, kam ich mit

_ seinen Verletzungen erlegen ist. Es war ganz _ meinem Jungen aus dem Bad heraus und

30 grauenhaft gewesen, dieses anzusehen. Er _ suchte die anderen Hausbewohner. [...] Auch

_ rannte zur Königsallee (Hauptstraße von D.), _ diesen Leuten war nichts geblieben. Kurze

_ wo er sah, dass man bei einem jüdischen 75 Zeit darauf wurden wir nach oben geschickt,

_ Modehaus die Fensterscheiben einschlug. Er _ und es kamen private Leute, die anfingen in

_ hörte die Leute rufen: ,Hängt die Juden an die _ den Wohnungen zu plündern und zu rauben.

35 Bäume!‘ _ [...] Man sagte noch, man sei sehr gnädig mit

_ Dieser Herr blieb kurze Zeit bei mir. Ich bot ihm _ uns umgegangen (in diesem Wohnviertel). In

_ selbstverständlich an, die Nacht über in mei- 80 anderen Gegenden hat man die Möbel zum

_ ner Wohnung bleiben zu dürfen, doch wollte _ Fenster hinaus auf die Straße geworfen.

_ er nach Hause. Ich gab ihm Geld und Mantel _ [...] bei Freunden von mir, die das gleiche

40 und glaubte nicht, dass auch die Wohnun- _ Schicksal teilten, ist das ganze Haus eben-

_ gen betroffen würden, doch kaum war dieser _ falls völlig zerstört worden. Die teuren Bilder

_ Herr fort, als ich im Nebenhaus ein furchtba- 85 sind kurz und klein geschnitten worden. Zum

_ res Klirren und Poltern hörte. Ich rannte zum _ Schluss sind sämtliche Hähne aufgedreht

88 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/5 //2 von 2 Seiten

_ worden, sodass alles voll Wasser lief, wäh- _

_ rend man die Vorrichtung zum Abdrehen, be- _

_ vor man ging, abgerissen hatte, sodass das _

_ Wasser nicht abzustellen war. [...] _

05 _

_ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael _ Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ _ 2008, S. 338 ff. _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

89 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/6 //1 von 2 Seiten

_ Augenzeugenbericht aus Wölfersheim/Hes- _ die Bauern. Langsam gelang es ihnen, uns zu

_ sen von einem Pogrom in einer ländlichen 45 isolieren und […] 1937-38 wagte kaum mehr

_ Gegend _ ein Bauer, mit uns zu reden. Einige ,Treue‘ ka-

_ _ men noch in der Dunkelheit, aber deren Angst

05 Der 80-jährige Hermann (Herz) Rossmann war _ war so groß, dass wir von uns aus auf diese

_ 1939 mit seinen Enkelkindern nach Palästina _ Unterhaltungen verzichteten um sie nicht zu

_ geflüchtet. Noch im selben Jahr diktierte er 50 gefährden.

_ seinem Enkel Hans folgenden Bericht, der in _ Im Jahre 1935 kurz vor der Ernte wurde die

_ einer jüdischen Tageszeitung in Palästina ab- _ ganze Frucht von unseren Feldern gestohlen.

10 gedruckt wurde. _ Der Bürgermeister versicherte uns zwar, dass

_ _ dies nicht wieder vorkommen wird, aber von

_ 55 diesem Zeitpunkt brauchten wir nicht mehr

_ _ viel zu ernten.

_ Die Qualen jüdischer Bauern in einem deut- _ So lebten wir noch ca. 2 Jahre in der Hoffnung

15 schen Dorfe _ nach Palästina auswandern zu können. Da ka-

_ Wie verliefen die Novemberpogrome bei einer _ men die Novembertage 1938 und die Pogrome

_ jüdischen Familie in einem Dorfe in der Nähe 60 machten ein weiteres Bewohnen des Dorfes

_ Frankfurts? Einer unserer Leser sandte uns _ unmöglich. Ein gewöhnlicher Novembertag –

_ folgende Schilderung, die ihm sein Großva- _ ich lag in meinem Schlafzimmer, als in unser

20 ter, 80-jährig, ein jüdischer Bauer aus Süd- _ Haus ca. 20 SA-Leute eindrangen, die meisten

_ deutschland, erzählte: _ ohne Uniform. Zuerst begannen sie meinen

_ Ich lebte in einem kleinen Dorfe […] in der 65 Sohn zu schlagen und von dessen Schrei-

_ Nähe Frankfurts, welches ca. 1 550 Einwohner _ en verstand ich welch ein Wind weht. Dar-

_ hat und meine Vorfahren bewohnten dieses _ auf hausten dieselben ca. ½ Stunde in allen

25 Dorf seit dem 18. Jahrhundert. Ich erbte von _ Ecken des Hauses, drangen in mein Zimmer,

_ meinem Vater ca. 25 Morgen von dem frucht- _ jeder mit einem anderen Gerät bewaffnet.

_ barsten Boden in Süddeutschland. Außerdem 70 Einer der Eindringlinge erhob seine Faust,

_ besaß ich einige Kühe mit welchen wir die Fel- _ um auch mich zu schlagen. Darauf erhob ich

_ der bestellten […] _ mich im Bette und fragte denselben, ob er

30 Im Dorfe waren wir sehr beliebt und jeden _ sich nicht schäme, einen Greisen wie mich zu

_ Abend versammelten sich bei uns die Bauern _ schlagen. Anscheinend beeindruckten diese

_ des Dorfes und erzählten Witze und Arbeits- 75 Worte, der Anführer schaute mich einen Au-

_ eindrücke. Vom Antisemitismus wusste man _ genblick an, dann befahl er mir, mich unter die

_ nichts im Dorfe und überhaupt beschäftigten _ Decke zu legen und nicht zu wagen, den Kopf

35 wir uns nicht mit Politik, da wir dachten, dass _ hervorzuheben.

_ der Bauer seinen Boden bearbeitet und keine _ Ich hörte, wie man Möbel und Geschirr zer-

_ Politik betreibt. 80 bricht, danach ging es zu einer anderen Fa-

_ Auch Anfangs 1933 kamen viele Bauern noch _ milie am Orte. Ich ging sofort in die Küche, wo

_ zu uns und nur wenige kümmerten sich um die _ mein Sohn blutüberströmt fast ohne Besin-

40 Politik der vereinzelten SA-Leute in dem Dorf. _ nung lag. Er brachte nur die Worte „Vater ich

_ Aber nachdem die Politiker aus den Nach- _ sterbe, Vater ich sterbe“ heraus. Im Neben-

_ bardörfern gebracht wurden, drang die nati- 85 zimmer lag meine Schwiegertochter ohne Be-

_ onalsozialistische Lehre immer mehr unter _ wusstsein. Nach einigen Minuten kehrte ihre

90 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/6 //2 von 2 Seiten

_ Besinnung zurück und sie erzählte mir, dass _

_ einer der Terroristen vorschlug, ihren Körper _

_ in 2 Teile zu teilen, aber da er dieselbe für tot _

_ hielt, fügte er hinzu, dass sich dies nicht mehr _

05 lohnt, da sie ja sowieso nichts mehr spüren _

_ würde. Hiermit dachten wir das Pogrom für _

_ beendet und wir saßen die ganze Zeit rings _

_ um meinen Sohn, für den wir weder einen Arzt _

_ noch eine Schwester bekommen konnten. _

10 Mein Enkel melkte inzwischen die Kühe. Aber _

_ etwas später am Abend, um 10.30, hörten _

_ wir wieder das Geschrei des Pöbels, worauf _

_ wir uns alle in die Scheune begaben. Da ich _

_ befürchtete, dass man die Scheune anzün- _

15 den könnte, beschloss ich mich von meinem _

_ Hause zu entfernen. Ich begab mich über den _

_ Friedhof zu einem Bekannten und klopfte um _

_ Mitternacht an dessen Tor und bat um Nacht- _

_ asyl. Weinend sagte er mir: Hermann, ich darf _

20 nicht, sonst zünden sie auch mein Haus an. _

_ Genauso ging es mir bei einem zweiten Bau- _

_ ern. Ich beschloss, mich zum jüdischen Fried- _

_ hof zu begeben, wo meine Urahnen begraben _

_ sind, aber nochmals versuchte ich mein Glück _

25 bei einem alten Kameraden, der auch bereit _

_ war, mich in seinem Kuhstall zu verstecken, _

_ wo ich die ganze Nacht auf einem Melksche- _

_ mel verbrachte. _

_ Am frühen Morgen ging ich zu unserem Haus, _

30 aber nie werde ich diesen Moment vergessen. _

_ Keiner meiner Angehörigen befand sich noch _

_ zu Hause, da alle nachts nach Friedberg flo- _

_ hen. Im Hause war alles zerstört, der Schmuck _

_ und die Kleider waren gestohlen. _

35 So wurde in einem Tage die Arbeit mehrerer _

_ Generationen zerstört – Glücklich bin ich, _

_ mein Lebensende in Palästina verbringen zu _

_ können. _

_ _

40 Quelle: Entschädigungsakte Herz Rossmann, Hessisches _ Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 518, Nr. 28776 _ _

_ _

_ _

91 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/7 //1 von 2 Seiten

_ Augenzeugenberichte zum Verhalten der _ Augenzeugenberichte einer in der jüdischen

_ nichtjüdischen Bevölkerung während der 45 Wohlfahrtspflege tätigen Frau aus Breslau

_ Novemberpogrome _ (siehe auch Quelle 5/1)

_ _ Der Bericht über die Situation nach dem No-

05 Die folgenden Auszüge aus Augenzeugenbe- _ vemberpogrom in Breslau und Schlesien wur-

_ richten zeigen, wie die angegriffenen Juden _ de Mitte November 1938 verfasst.

_ die nichtjüdische Bevölkerung und das Ver- 50

_ halten ihrer nichtjüdischen Nachbarn und _ Synagogen alle verbrannt. Wo Brandgefahr

_ Kollegen erlebt haben. Im Folgenden sind _ für umliegende Häuser, völlig zertrümmert.

10 ganz unterschiedliche Erfahrungen zusam- _ Alle Geschäfte ausnahmslos zerhauen und

_ mengestellt, die nicht repräsentativ sind, _ geplündert. Bis in die dritte Etage auch En-

_ sondern die Bandbreite der Verhaltensweisen 55 groshäuser. Wohnungen und Villen in Breslau

_ aufzeigen. _ vereinzelt. Oberschlesien viele Wohnungen

_ _ [zerstört]. Dort auch Frauen einen Tag ver-

15 _ haftet. […] Volk: Bessere Leute schämen sich,

_ _ kleine Leute gleichgültig, keine Seele kocht.

_ Augenzeugenbericht eines holländischen 60

_ Kaufmanns und Besitzers eines Unterneh- _ Aus ihrem Bericht nach dem 1. Januar 1939:

_ mens in Berlin _ Man kann nicht davon sprechen, dass sich in

20 Der Zeuge war bis zum Abend des 10. Novem- _ Breslau und in Niederschlesien eine scharfe

_ ber in der Reichshauptstadt und hielt direkt _ oppositionelle Stimmung bemerkbar macht.

_ anschließend seine Eindrücke fest, die er na- 65 Die sogenannten gebildeten Stände, die sich

_ mentlich nicht unterzeichnete. _ noch ein Gefühl für Humanität und Anstand

_ _ bewahrt haben, sind natürlich durch das gan-

25 Das Publikum äußerte im Allgemeinen sein _ ze Auftreten der führenden Kreise des Drit-

_ Entsetzen über diese Vorgänge, und es fielen _ ten Reiches, insbesondere aber durch die

_ Ausdrücke, wie: ‚Das ist nun unsere heuti- 70 Inbrandsetzung der Synagogen, abgestoßen

_ ge Kultur‘, oder ‚So wird unser Volksgut ver- _ und stehen dadurch wie durch andere Eindrü-

_ schleudert‘. _ cke abseits. Die große Masse hingegen steht

30 Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael _ den Ereignissen gleichgültig oder sogar mit Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main einer gewissen Sympathie für die Regierung _ 2008, S. 217 75 gegenüber.

_ _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ _ 2008, S. 265 f. u. 274 f.

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

92 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/7 //2 von 2 Seiten

_ Augenzeugenbericht eines nichtjüdischen _ Augenzeugenbericht aus Düsseldorf

_ holländischen Arztes aus Berlin 45 Moritz Klein dokumentierte am 18. Novem-

_ Im Archiv der Wiener Library, wo zahlreiche _ ber 1938 im Exil in Amsterdam verschiedene

_ Augenzeugenberichte gesammelt und aufbe- _ Berichte aus Düsseldorf. Äußerungen von SA-

05 wahrt wurden, finden sich auch einige Auf- _ Angehörigen dieser Art finden sich selten in

_ zeichnungen von Reisenden, die sich während _ den Augenzeugenberichten.

_ des Novemberpogroms in Deutschland auf- 50

_ hielten. Der Autor der folgenden Aufzeichnun- _ Fräulein […] aus Düsseldorf, die sich auf der

_ gen unterzeichnete nur mit dem Kürzel Herr A. _ Durchreise nach Amerika in Amsterdam auf-

10 Er nahm um den 9. November 1938 herum in _ hält, erklärte, dass ein SA-Mann, der gezwun-

_ Berlin an einer medizinischen Weiterbildung _ gen wurde, die Aktion mitzumachen, nach der

_ teil. Seine Beobachtungen diktierte er am 55 Aktion erklärte, es sei so schrecklich gewe-

_ 14. November nach seiner Rückkehr nach _ sen, was er hätte tun müssen, dass er sich,

_ Holland. Die Passage bezieht sich auf den _ wenn er nicht Frau und Kinder hätte, das Le-

15 Vormittag des 10. November 1938. _ ben nehmen würde.

_ _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ 60 Herr A. sah am Donnerstagmorgen, als er das berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ Haus verließ, dass in der Nähe seiner Woh- _ 2008, S. 346

_ nung ein Geschäft mit Galanteriewaren von _

20 einer Menge junger Burschen zerstört wurde. _

_ Beim Weitergehen kam er an dem Korsett- _ Augenzeugenbericht aus Franken

_ geschäft Neumann, einem großen Eckladen, 65 Der namentlich nicht bekannte Verfasser do-

_ vorbei und sah zu seinem Entsetzen, dass _ kumentierte im Februar 1939 seine Erfahrun-

_ dort das Gleiche geschah. Die Bevölkerung _ gen während der Pogromattacken in verschie-

25 stand mit stummem Schrecken dabei. Keiner _ denen Städten in Franken.

_ wagte, dagegen aufzutreten. Schließlich be- _

_ gann man aber zu plündern. Frauen schlugen 70 In Würzburg war der Anführer des Sturmes

_ sich um Unterkleider etc. Das Gleiche stellte _ auf die Synagoge der Rektor der Universität

_ Herr A. bei einem Schuhwarengeschäft fest. _ Seyffert. Er hat sich auch nicht vor der Klein-

30 Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael _ arbeit gescheut und eigenhändig bei einem Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main angesehenen jüdischen Bürger die Teppiche _ 2008, S. 227 75 zerschnitten. Überhaupt beteiligten sich auch

_ _ so genannte gebildete Leute an dem Vandalis-

_ _ mus. So erkannte eine Dame in einem der Zer-

_ _ störer den Gartenarchitekten, der ihr einmal

_ _ für viel Geld ihren Garten angelegt hatte. […]

_ 80 Dem Beispiel der Behörden folgend scheuten

_ _ sich natürlich auch Privatpersonen nicht vor

_ _ Erpressungen […].

_ _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ 85 2008, S. 467 f.

_ _

93 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/8

_ Hans Hirschberg über die Begegnung mit den _ über die Polizei erfahren, daß um Mitternacht

_ Berliner Reviervorsteher Wilhelm Krützfeld 45 [9. November 1938] die SA dabei war, in den

_ im November 1938 _ Vorräumen der Synagoge Oranienburger Stra-

_ _ ße Feuer zu legen. Da die Synagoge seit Kai-

05 Sigmund Hirschberg besaß ein Schneiderei- _ ser Wilhelm I. unter Denkmalschutz stand, sei

_ geschäft für Damenkonfektion in der Orani- _ er sofort mit einem Polizeitrupp des Reviers

_ enburger Straße 89 im Bezirk Berlin-Mitte. 50 und der Denkmalschutzorder in der Hand zur

_ Wenige Häuser weiter, in der Oranienburger _ Synagoge marschiert; unter Berufung auf die

_ Straße 30, stand Berlins prächtigste Gemein- _ Denkmalschutzorder habe er die SA an weite-

10 desynagoge, die in der Nacht vom 9. auf den _ rer Feuerlegung gehindert, gleichzeitig habe

_ 10. November attackiert wurde. Der Polizist _ er Löschzüge der Feuerwehr zur Synagoge be-

_ und Reviervorsteher des Polizeireviers am 55 ordert. Das Feuer, das sich bereits im Trausaal

_ Hackeschen Markt, Berlin-Mitte, Wilhelm _ verbreitet hatte, wurde unverzüglich gelöscht.

_ Krützfeld (geb. 1880 in Horndorf/Schleswig- _ – So wurde durch das tapfere Eingreifen eines

15 Holstein, gest. 1953 in Berlin) verhinderte, _ wohlgesinnten Polizei-Inspektors die Neue

_ dass die Synagoge in Brand gesetzt wurde. _ Synagoge in der Oranienburger Straße, wenn

_ Wegen seines widerständigen Handelns wur- 60 auch nur vorläufig, vor der Vernichtung geret-

_ de er zum Berliner Polizeipräsidenten zitiert, _ tet.

_ doch es erfolgten keine Repressionsmaßnah- _

20 men. Ab 1940 wurde er mehrfach in andere _ Quelle abgedruckt in: Rolf Bothe (Hrsg.), Synagogen in Ber- lin. Zur Geschichte einer zerstörten Architektur, Teil 2, Berlin _ _ Polizeireviere versetzt. 1942 reichte er einen 1983, S. 80 f. _ Antrag auf vorzeitige Pensionierung ein. _

_ Hans Hirschberg berichtete in den 1980er- _

_ Jahren zum ersten Mal über seine Begegnung _

25 mit Krützfeld, unter anderem von einem Ge- _

_ spräch zwischen Wilhelm Krützfeld und sei- _

_ nem Vater. _

_ _

_ _

30 Abends bekam mein Vater einen Anruf [ver- _

_ mutlich am 10. November 1938 von Wilhelm _

_ Krützfeld], er solle doch verreisen. Tagelang _

_ verbrachte er mit mir von aller Herrgottsfrühe _

_ an bis 9 oder 10 Uhr auf der S-Bahn. Wir stie- _

35 gen pausenlos in andere Züge und auf andere _

_ Linien um und entgingen so einer eventuellen _

_ Verhaftung. Ungefähr eine Woche später kam _

_ der Reviervorsteher wieder abends mit seiner _

_ Frau zu uns. Sie wollten den neuen Mantel vor _

40 dem Abholen noch einmal anprobieren. Ich _

_ war in einem Nebenzimmer bei geöffneter Tür _

_ und kann mich noch sehr genau an das erin- _

_ nern, was er meinen Eltern erzählte. – Er habe _

94 Quellen / Kapitel 4

Quelle 4/9

_ Augenzeugenbericht eines jüdischen Man- _ waren 78 Mann aus Nordhausen. In Buchen-

_ nes aus Nordhausen/Thüringen über Verhaf- 45 wald ging es noch einmal richtig los […] Die

_ tungen und die Ankunft im Konzentrations- _ SS hat uns mit neunschwänzigen Peitschen

_ lager Buchenwald vom 27. November 1938 _ buchstäblich ins Lager reingeprügelt. Beson-

05 _ ders schlecht kamen dabei weg:

_ Der Berichterstatter wurde in der Nacht vom _ Gerson, ein Amtsgerichtsrat, schon mit

_ 9. auf den 10. November 1938 in Nordhausen 50 6 Jahren getauft, mit arischer Frau und einem

_ verhaftet und in das Konzentrationslager Bu- _ Sohn. Er wurde furchtbar zugerichtet. [Ru-

_ chenwald eingewiesen. Sein Name ist nicht _ dolf Walter Hans Gerson, geb. 1890, starb am

10 bekannt. Es liegen auch keine weiteren Infor- _ 19. November 1938 in Buchenwald, angeblich

_ mationen über seine Zeit in Buchenwald und _ an Herzschwäche] […]

_ sein weiteres Leben vor. 55 Nach uns kamen 600 Mann aus Erfurt an. Sie

_ _ alle waren blutig geschlagen, einem war das

_ _ Auge ausgelaufen, sie waren mit Stöcken und

15 […] Inzwischen holten die betrunkenen SA- _ Eisenruten so zugerichtet worden. Zwei Mann

_ und SS-Männer alle Juden, Männer, Frauen, _ aus Erfurt waren in Nachthemd und Haus-

_ Kinder, auch Schwerkranke und Greise aus 60 schuhen. Alle trugen Verbände. […]

_ ihren Wohnungen. Teils noch in Nachthemden _ Wir bekamen dann die Haare kurz geschoren,

_ wurden wir dann in Autos zum ‚Siechenhof‘ _ und unsere Personalien wurden aufgenom-

20 (eine Art Obdachlosenasyl) gebracht. Natür- _ men etc. Dann wurde mitgeteilt, dass für alle

_ lich wurden beim Abholen auch die Wohnun- _ Juden bis auf weiteres Post- und Kantinen-

_ gen demoliert, Betten zerschnitten, Stuhl- 65 verbot verhängt worden sei. Bis Freitagabend

_ beine abgebrochen, alle Fensterscheiben _ (Donnerstag wurden wir eingeliefert) beka-

_ von jüdischen Läden wurden eingeschlagen _ men wir nichts zu essen.

25 […] Außer ganz wenigen Personen, die of- _ In Buchenwald gab es zu der Zeit zwei Bara-

_ fensichtlich vergessen worden waren (diese _ cken, in denen normalerweise je 500 Men-

_ wurden am nächsten Morgen in verhältnis- 70 schen untergebracht werden können. Wir

_ mäßig freundlicher Form herausgeholt), kam _ waren 2 500 in einer Baracke! Auch in der

_ alles schon geschlagen und verprügelt auf _ Nacht wurde geprügelt. Viele, viele sind ver-

30 dem Siechenhof an. Auch zwei- und dreijäh- _ rückt geworden. In der ersten Nacht sind al-

_ rige Kinder waren in der Gruppe. Auf dem Sie- _ lein aus unserer Baracke 260 Mann verrückt

_ chenhof wurde weiter geprügelt. […] Es war 75 geworden. Die Verrückten wurden gebunden

_ kalt, und ein Teil war fast nackt […] Auch die _ und geprügelt und dann in die Waschküche

_ Frauen mussten auf Befehl hin und her laufen. _ geschleppt, wo sie totgeschlagen wurden.

35 Erst am nächsten Morgen gegen 8 Uhr wurden _

_ sie entlassen. Die Männer im Alter von 15–85 _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ 80 Jahren wurden von den Frauen getrennt. Kei- berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ ner durfte austreten, und die SS-Leute brüll- _ 2008, S. 309 ff.

_ ten: ‚Scheißt in die Hose!‘ […] _

40 Am nächsten Tag (10. November) morgens _

_ wurden wir alle, auch die, die in der Nacht ver- _

_ gessen worden waren, mit Überlandautobus- _

_ sen nach Buchenwald (90 km) gebracht. Wir _

95 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

_ „In Deutschland kann sich der Jude nicht halten. – Das ist eine Frage

_ von Jahren. – Wir werden sie mit einer beispiellosen Rücksichtslosigkeit 25 _ mehr und mehr heraustreiben.“ Das Zitat stammt aus einer Rede von

_ einer der mächtigsten Führungsfiguren des NS-Regimes: dem Reichs-

05 führer SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler. Er sprach

_ am 8. November 1938 vor einer Versammlung von SS-Generälen. Zu die-

_ sem Zeitpunkt hatten die ersten Pogrome in den sogenannten Gauen

_ Kurhessen und Magdeburg-Anhalt bereits begonnen. Himmler formu-

_ lierte hier eine ,Vision‘, die es aus seiner Sicht in mehreren Jahren zu

10 verwirklichen galt. Nur wenige Tage später waren die Nazis ihrem Ziel,

_ die jüdische Bevölkerung rücksichtslos aus Deutschland zu vertreiben,

_ schon deutlich näher gerückt.

_ Am Morgen des 10. November 1938 ordnete die NS-Führung an, „von

_ allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum,

15 gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen. Die endgültige Antwort auf

_ das jüdische Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebung be- 26 _ ziehungsweise der Verordnung dem Judentum erteilt werden.“ Mit der

_ konkreten Planung der „endgültigen Antwort“ wurde sofort begonnen.

_ Am 12. November 1938 berief Hermann Göring in dem von ihm geführ-

20 ten Reichsluftfahrtministerium in Berlin eine Sitzung ein. Mit etwa 100

_ Funktionären – Ministern, Staatssekretären und ranghohen Beamten

_ – wurden hier neue und schärfere antijüdische Maßnahmen diskutiert,

_ beschlossen und koordiniert. Im Wesentlichen ging es um drei Kom-

_ plexe: erstens um die weitgehende Entrechtung der deutschen Juden,

25 zweitens um die landesweite Enteignung und ,Arisierung‘ ihres Ver-

_ mögens und drittens darum, ihre Auswanderung massiv voranzutrei-

_ ben. Direkt nach der Sitzung verkündete Göring den ersten Beschluss:

_ Die deutschen Juden hatten eine ,Sühneleistung‘ von einer Milliarde

_ Reichsmark an das Deutsche Reich zu zahlen. Die angegriffenen Juden

30 waren außerdem dafür verantwortlich, das Chaos der Verwüstungen zu

_ beseitigen. Die Kosten für die Pogromschäden hatten sie selbst zu tra-

_ gen, eventuelle Versicherungsansprüche gingen an das Deutsche Reich.

_ Noch am selben Tag erging die Anordnung „zur Ausschaltung der Juden

_ aus dem deutschen Wirtschaftsleben“, die am 1. Januar 1939 in Kraft

35 treten sollte. Der Raub jüdischen Vermögens war damit staatlich legi-

_ timiert worden. Fast täglich folgten weitere antijüdische Verordnungen

_ und Gesetze.

_ Im Januar 1939 eröffnete in Berlin die Reichszentrale für jüdische Aus-

_ wanderung, die eine effiziente Abwicklung sämtlicher bürokratischer

40 Vorgänge wie Pass-, Visa- und Devisenangelegenheiten garantierte,

_ 25 Zit. nach: Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 1998, S. 314 f. _ 26 Zit. nach: Dieter Obst, Reichskristallnacht. Ursachen und Verlauf des antisemitischen Pogroms vom _ November 1938, Frankfurt am Main 1991, S. 94.

96 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

_ aber auch für die Einziehung von Steuern, Zwangsabgaben und die Ent-

_ eignung von Juden zuständig war. Vorbild der Behörde war die Wiener

_ Zentralstelle für jüdische Auswanderung, die nach dem ,Anschluss‘

_ Österreichs im August 1938 eingerichtet worden war. Diese Zentral-

05 stelle hatte sich aus Sicht der Nationalsozialisten als ,Erfolgsmodell‘

_ erwiesen: Bis zum Jahresende 1938 hatten 60 000 Juden die sogenann-

_ te Ostmark verlassen. Die Auswanderungsbehörden in Berlin und Wien

_ unterstanden dem Chef des Sicherheitsdienstes und der Geheimen

_ Staatspolizei (Gestapo), Reinhard Heydrich. Das heißt, der gesamte

10 Komplex Auswanderung lag in den Händen von ideologisch geschulten

_ und überzeugten Antisemiten des NS-Polizeiapparates. Ihr radikales

_ Druckmittel, das sie bereits in der ‚Ostmark‘ angewendet hatten, war

_ die Verhaftung jüdischer Männer und ihre Internierung in Konzentrati-

_ onslagern, so lange, bis sie konkrete Ausreisebemühungen vorweisen

15 konnten. Die ‚Kristallnacht‘ bot den Nazis die Gelegenheit, nun auch im

_ ,Altreich‘ die Auswanderung der deutschen Juden durch Haft zu erzwin-

_ gen. So wurden im Zeitraum vom 10. bis 16. November 30.756 jüdische

_ Männer in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsen-

_ hausen verschleppt.

20 Ein Resultat der Novemberpogrome war für die NS-Führung, dass öf-

_ fentliche und vom Staat initiierte Gewalt gegen Juden in Deutsch-

_ land möglich war. In der erwähnten Sitzung am 12. November 1938 im

_ Reichsluftfahrtministerium wurde jetzt auch über weitere, deutlich

_ radikalere Gewaltmaßnahmen diskutiert, beispielsweise wie judenfreie

25 Städte und Regionen zu schaffen und durchzusetzen wären, oder über

_ die Einrichtung von Ghettos und die Kennzeichnungspflicht von Juden.

_ Alle diese ‚Visionen‘ wurden während des Zweiten Weltkrieges und mit

_ dem Beginn des Holocaust, also der Deportation und Vernichtung der

_ europäischen Juden, zunächst in den besetzten Ostgebieten und dann

30 auch im sogenannten Altreich realisiert. Die ersten Pläne, die in Rich-

_ tung einer weiter gesteigerten massiven Gewaltanwendung gegen Ju-

_ den wiesen, wurden innerhalb der NS-Führung jedoch erstmals offen

_ und einvernehmlich diskutiert, als nach den Novemberpogromen eine

_ Art Hemmschwelle überwunden wurde. Die Möglichkeit eines staatlich

35 legitimierten und organisierten Massenmordes an Juden existierte zu

_ diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Entscheidung zur sogenannten Endlö-

_ sung fiel im Herbst 1941, eine zwingende Voraussetzung dafür war der

_ Krieg.

_

_

_

_

_

97 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

Reaktionen der _ Die Stimmungslage der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich in jüdischen Bevölke- _ den Tagen nach den Pogromen wird in den Augenzeugenberichten über- rung auf die _ einstimmend als eine Art Schockstarre beschrieben. Kontakt zu Famili-

Novemberpogrome _ enangehörigen und Freunden herzustellen war schwierig bis unmöglich,

05 vor allem auf dem Land, da die Telefonverbindungen gekappt oder die

_ Apparate zerstört waren. Etwa 20 Prozent der männlichen jüdischen

_ Bevölkerung war in den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald und

_ Sachsenhausen inhaftiert. Ihre Familien wussten teils über Wochen

_ nicht, was mit ihnen geschehen war beziehungsweise ob, wann und un-

10 ter welchen Bedingungen mit der Entlassung der Männer zu rechnen

_ war. Viele jüdische Männer verharrten noch Tage nach den Pogromen in

_ Verstecken oder irrten durch die Städte, um nicht gefasst zu werden.

_ Zahlreiche jüdische Einrichtungen wie Schulen und Synagogen waren

_ zerstört. Wohnungen waren zertrümmert, Mietverträge waren fristlos

15 gekündigt und Bankkonten gesperrt worden, in Geschäften wurden

_ Juden nicht länger bedient. In vielen Augenzeugenberichten wird be-

_ schrieben, dass ein einigermaßen normaler Alltag nicht mehr möglich

_ war. Man wagte sich kaum auf die Straße, sprach im Flüsterton und be-

_ wegte sich auf Zehenspitzen durch die Wohnung, in der man vorläufig

20 Unterschlupf gefunden hatte.

_ Viele, die eine Möglichkeit hatten, legal oder illegal im Ausland Zuflucht

_ zu finden, hatten Deutschland direkt in den Tagen nach dem 9. November

_ panikartig verlassen. Darunter waren jüdische Repräsentanten oder Ju-

_ den, die aus politischen Gründen besonders gefährdet waren, und auch

25 zahlreiche Jugendliche, die von Verwandten oder Bekannten im Ausland

_ aufgenommen werden konnten. Genaue Zahlen, wie viele Menschen in

_ dieser ersten Fluchtwelle nach den Pogromen emigrierten, liegen nicht

_ vor, doch es war nur ein Bruchteil der deutschen jüdischen Bevölkerung.

_ Zum 1. Januar 1939 trat die Verordnung zur „Entfernung der Juden aus

30 dem deutschen Wirtschaftsleben“ in Kraft. Juden durften keine Ge-

_ schäfte, Betriebe und kein Gewerbe mehr führen, das heißt, es gab so

_ gut wie keine Verdienstmöglichkeiten mehr. (Quelle 5/1; Augenzeugen-

_ bericht einer in der jüdischen Wohlfahrtspflege tätigen Frau aus Bres-

_ lau) Öffentliches jüdisches Leben fand nicht mehr statt. Jüdische Zei-

35 tungen konnten bereits seit dem 8. November nicht mehr erscheinen,

_ danach wurden sämtliche jüdischen Organisationen verboten. Auch die

_ Geschäftsstellen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, des

_ Dachverbands der jüdischen Gemeinden, waren in der Nacht vom 9.

_ zum 10. November 1938 geschlossen worden. Zahlreiche Funktionäre

40 des Führungsgremiums waren verhaftet. Etwa zwei Wochen später lud

_ die Gestapo den Präsidenten der Reichsvertretung, Dr. Leo Baeck, vor

_ und ordnete die Wiedereröffnung der Reichsvertretung unter der Vor-

_ gabe an, der Dachverband habe sich von nun an im Wesentlichen mit

98 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

_ der Auswanderung und allen damit zusammenhängenden Problemen

_ zu befassen. Im Februar 1939 übernahm die Gestapo die vollständige

_ Kontrolle. Der Verband musste sich in „Reichsvereinigung der Juden in

_ Deutschland“ umbenennen. Die Führung wurde künftig von der Gestapo

05 eingesetzt, der regelmäßig Bericht zu erstatten war. All diejenigen, die

_ nach den ‚Nürnberger Gesetzen‘ Juden waren, mussten der Reichsverei-

_ nigung beitreten. Der Dachverband, der bis dahin ein freiwilliger Zusam-

_ menschluss jüdischer Gemeinden gewesen war, wurde zur Zwangsge-

_ meinschaft, die sich den rassistischen Kriterien der Nationalsozialisten

10 unterzuordnen hatte. Unter diesen Bedingungen konzentrierte sich die

_ Reichsvereinigung, der nach wie vor Leo Baeck als Präsident vorstand,

_ auf die dringlichsten Aufgaben. Im Zentrum stand, möglichst vielen

_ Juden die Auswanderung zu ermöglichen. Gleichzeitig galt es alles zu

_ tun, um jüdisches Leben in Deutschland aufrechtzuerhalten, karitative

15 Strukturen zu stärken und das jüdische Schulwesen zu reorganisieren,

_ da von nun an jüdischen Kindern und Jugendlichen der Besuch deut-

_ scher Schulen verboten war.

_

_

Clara Straus (3. von _ links) beim Spaziergang _ mit ihren erwachsenen Kindern und ihrem Enkel _ in der Kuranlage von Bad Nauheim im Jahr 1932. _ Abgebildet sind von links _ nach rechts: Tochter _ Gerda Worms, geb. Straus, Sohn Alex Straus, _ Clara Straus und Enkel Kurt Worms. Clara Straus _ lebte mit ihrem Sohn Alex _ zusammen, der sich im Juni 1939 im Alter von 38 _

Jahren das Leben nahm. _ Die Papiere zur Auswan- derung in die USA hatte _ er bereits erhalten. Clara _ Straus konnte im Juli 1941 in die USA ausrei- _ sen. Ihrem Enkel Kurt _ war bereits Anfang 1940 die Flucht in die USA _ geglückt. Tochter Gerda wurde im September _ 1942 aus Bad Nauheim _ deportiert, sie wurde vermutlich in Treblinka _ ermordet. _ © Curt Warner _

_

_

_

99 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

27

„[...] mehr und _ Nach den Novemberpogromen 1938 war unter der jüdischen Bevölke- mehr Juden, wenn _ rung die Angst vor dem, was noch kommen würde, stets präsent, ge- auch nicht alle, _ paart mit zunehmender Hoffnungslosigkeit. Allein für den November suchten das _ 1938 wird die Anzahl der Selbstmorde auf 300 bis 500 geschätzt. rettende Ufer, _ gleichgültig wo _ Zehntausende Juden drängten darauf, Nazi-Deutschland so schnell wie 27 es sich bot“ _ nur möglich zu verlassen. Panische Fluchtversuche setzten ein und der

_ verzweifelte Kampf, sich die benötigten Ausreisepapiere beziehungs-

_ weise Einreisevisa zu beschaffen. Der Schwarzmarkt mit gefälschten

_ Papieren und gefälschten Schiffspassagen hatte Hochkonjunktur. Die-

_ jenigen, die bereits ins Ausland entkommen waren, bemühten sich un-

_ ermüdlich, Familienangehörige nachzuholen. (Quelle 5/2; Brief von Ilse

_ Lichtenstein aus den Niederlanden an ihre Verwandten in den USA vom

_ Januar 1939)

_ Um überhaupt einen Pass beantragen zu können, mussten von den

_ deutschen Finanzämtern ausgestellte ,Unbedenklichkeitsbeschei-

_ nigungen‘ vorgelegt werden. Damit sorgte die Verwaltung dafür, dass

_ Juden vor ihrer Ausreise alle ihnen auferlegten Zwangsabgaben ent-

_ richtet hatten. Dazu gehörte neben der sogenannten Reichsflucht-

_ steuer die Sühneabgabe, eine Sondervermögenssteuer von 20 Pro-

_ zent, die alle Juden nach den Novemberpogromen zahlen mussten.

_ Selbst Wohlhabende hatten Schwierigkeiten, die geforderten Geld-

_ mittel aufzubringen. Immer mehr Juden rutschten durch Enteignung

_ und Arbeitsverlust in die Armut ab, sie konnten weder die Zwangs-

_ abgaben noch das sogenannte Vorzeigegeld bezahlen, das von vielen

_ potenziellen Aufnahmeländern verlangt wurde. Verarmte Juden hat-

_ ten so gut wie keine Chance, ein Visum fürs Ausland zu erhalten. Der

_ Druck, zu flüchten, war immens, doch sie konnten Nazi-Deutschland

_ nicht verlassen. Für sie war der Widerspruch, der in den Zielen des

_ NS-Regimes angelegt war, nämlich Juden zur Ausreise zu treiben und

_ gleichzeitig die Voraussetzungen für die Emigration gezielt zu zer-

_ stören, ganz real und zumeist nicht auflösbar. (Quelle 5/3; Brief eines

_ 17-Jährigen an das Kinderkomitee in Amsterdam)

_ Alte Menschen hatten grundsätzlich Schwierigkeiten, ein Einreise-

_ visum zu erhalten. Einige von ihnen wollten nicht ausreisen, da sie

_ sich trotz des Terrors nicht von Deutschland und der deutschen Kul-

_ tur trennen wollten, die sie mitgeprägt hatten und mit der sie nach

_ wie vor tief verbunden waren. So waren es vor allem junge jüdische

_ Männer, die nach Palästina oder in andere Länder emigrierten. Seit

_ 1933 hatte sich in der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich

05 ein demografischer Wandel vollzogen: 1933 waren 10,5 Prozent über

_ 27 Kurt R. Grossmann, Emigration. Geschichte der Hitler-Flüchtlinge 1933–1945, Frankfurt am Main 1969, _ S. 118.

100 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

_ 65 Jahre alt, 1939 hatte sich deren Anteil auf 21 Prozent verdoppelt,

_ während der Anteil der 30-Jährigen auf unter 20 Prozent gesunken

_ war.

_

Die jüdischen 05 Bereits nachdem 1935 die ,Nürnberger Gesetze‘ in Kraft getreten wa-

Auswanderungs­ _ ren, hatte die damalige Reichsvertretung der Juden in Deutschland die organisationen _ wichtigsten Organisationen zur Unterstützung und Koordinierung der

_ Auswanderung in einem sogenannten Wanderungsausschuss zusam-

_ mengefasst. Hier wurde Beratung und konkrete Hilfestellung geleistet,

10 was Visa, Zertifikate, die Einreiseanforderungen der Zielländer oder De-

_ visentransfers anbelangte. Der Hilfsverein der deutschen Juden koordi-

_ nierte die Auswanderung in alle Überseestaaten (mit der Ausnahme von

_ Palästina), die Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge vorwiegend die

_ Emigration nach Osteuropa. Die meiste Erfahrung konnte das Palästi-

15 naamt der Jewish Agency vorweisen. Die zionistische Organisation hatte

_ zunehmend an Bedeutung gewonnen, da sie seit vielen Jahren die soge-

_ nannte Alija, die Auswanderung nach Palästina, unterstützte und plan-

_ te. All diese Organisationen hatten bis dahin Pläne für einen langfristig

_ angelegten Emigrationsprozess des deutschen Judentums entwickelt.

20 Nach den Novemberpogromen hatte sich die Situation vollständig ver-

_ ändert. Was jetzt anstand, war vielmehr eine sofortige Evakuierung.

_

Exilländer _ Auch nach dem Novemberpogrom waren sehr wenige Staaten bereit,

_ Juden aus Deutschland aufzunehmen. Dies hatte sich bereits im Juli

25 1938 auf der internationalen Flüchtlingskonferenz in Évian gezeigt. Von

_ den dort anwesenden Vertretern aus 32 Staaten hatte bis auf den Abge-

_ sandten der Dominikanischen Republik niemand eine konkrete Zusage

_ gemacht, die Einreisekontingente zu erhöhen. Seit dem ,Anschluss‘ Ös-

_ terreichs im März 1938 hatten die meisten Länder die Einreisebedin-

30 gungen erschwert. In vielen Ländern wurden die Grenzkontrollen ver-

_ stärkt und teils sogar Einwanderungsverbote erlassen, die sich indirekt

_ gegen Juden richteten.

_ Die ersten und wichtigsten Zielländer für jüdische Flüchtlinge aus Nazi-

_ Deutschland nach 1933 waren die europäischen Nachbarstaaten. So

35 emigrierten beispielsweise in den Jahren 1933/34 die meisten deut-

_ schen Juden nach Frankreich. In den folgenden Jahren kamen dort im-

_ mer weniger Emigranten unter. Im Krisenjahr 1938 stiegen die Zahlen

_ wieder an, doch zu diesem Zeitpunkt waren die Staaten Europas für die

_ jüdischen Flüchtlinge im Wesentlichen ein Zwischenstopp auf dem Weg

40 nach Palästina oder Übersee. Auch nach den Novemberpogromen blie-

_ ben die Einreisemöglichkeiten in die Nachbarländer äußerst begrenzt.

_ Vom November 1938 bis zum Kriegsbeginn im September 1939 nahmen

_ Frankreich, Belgien und die Niederlande jeweils etwa 5 000 jüdische

101 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

_ Flüchtlinge auf. Eine Ausnahme bildete Großbritannien. Von Janu-

_ ar 1939 bis zum Kriegsbeginn im September 1939 fanden dort jeweils

_ 20 000 deutsche und österreichische Juden Zuflucht, darunter knapp

_ 10 000 Kinder, die in einer einzigartigen Rettungsaktion evakuiert wur-

05 den. Hinzu kamen weitere 10 000 Juden aus dem von Nazi-Deutschland

_ besetzten Sudetenland.

_ Im Januar 1939 schlossen die wichtigsten Exilländer Südamerikas – Ar-

_ gentinien, Kolumbien, Paraguay und Uruguay – ihre Grenzen für Juden.

_ Die Auswanderungszahlen nach Asien, und hier vor allem nach Shang-

10 hai, stiegen hingegen im letzten Vierteljahr 1938 stark an. Die häufigs-

_ ten Auswanderungsziele deutscher Juden waren die Vereinigten Staaten

_ und Palästina, auch wenn die Einreise hier besonders schwierig war. Die

_ Briten regelten die Einwanderung in ihr Mandatsgebiet Palästina nach

_ Quoten; bevorzugt wurden vor allem junge Zionisten. Von 1933 bis 1936

15 reisten 29 000 deutsche Juden vermittelt über die Jewish Agency ein;

_ zwischen 1937 und 1941 sank die Zahl auf 18.000. Hinzu kamen einige

_ Tausend Juden, die auf illegalem Weg die britische Mandatsgrenze nach

_ Palästina überschritten. Auch die USA gaben Quoten für die Einwande-

_ rung vor. Allerdings scheiterten die jüdischen Flüchtlinge weniger an den

20 Quoten, die bis 1939 gar nicht ausgeschöpft wurden, sondern vielmehr

_ an den restriktiven Vorgaben der Einwanderungsbehörden. Nach den

_ Novemberpogromen wurden diese scharfen Regelungen gelockert. Es

_ blieb trotzdem schwer, die Hürden zu überwinden. Und dennoch waren

_ die Vereinigten Staaten, auf lange Sicht gesehen, das wichtigste Exil-

25 land für deutsche Juden. Während der NS-Zeit emigrierten insgesamt

_ 130 000 deutsche Juden in die USA. Für die meisten Exilanten war voll-

_ kommen ungewiss, was sie im Zielland erwartete und wie sie finanzi-

_ ell, beruflich und persönlich würden Fuß fassen können. (Quelle 5/4;

_ Brief von Julius Bab an seinen bereits im Exil lebenden Sohn Bernd vom

30 17. November 1938)

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

102 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

Flucht in die USA im _ Juli 1941 Heinz Schuster (vorne _ links) aus Sterbfritz/ _ Hessen kam 1937 in das jüdische Waisenhaus in _ Frankfurt am Main. Er _ gehörte zu den Kindern, die durch das Enga- _ gement der Leiter, des _ Ehepaars Rosa und Isidor Marx, Nazi-Deutschland _ verlassen konnten und in _ verschiedenen Ländern Aufnahme fanden. Heinz _ Schuster brachten sie _ 1939 zunächst in einem Kinderheim in Mont- _ morency im Norden Frankreichs unter. Zwei _ Jahre später flüchtete der _ 15-Jährige weiter in die USA. Das Foto entstand _ auf dem portugiesischen _ Schiff Mouzino auf der Fahrt von Lissabon nach _

New York im Juli 1941. _ Isidor Marx begleitete 1939 einen Kindertrans- _ port nach England und _ kehrte auf Bitten seiner Frau nicht zurück nach _ Deutschland. Rosa Marx _ wurde 1942 in den Osten deportiert und ermordet. _

© Henry Schuster _

_

_

_

Die Kindertrans- _ Großbritannien reagierte als einziges Land sofort nach den November- porte nach Groß­ _ pogromen mit einer Evakuierungsaktion. Am 15. November 1938 be- britannien 1938/39 _ rief Premierminister Neville Chamberlain eine Sitzung mit Vertretern

_ des Councils for German Jewry ein, um konkrete Fluchtmöglichkeiten

05 für verfolgte Kinder auszuloten. Bereits am 21. November fasste das

_ Unterhaus den Beschluss, jüdischen und nichtjüdischen Kindern aus

_ Deutschland durch die Ausstellung von Sammelvisa eine Einreiseer-

_ laubnis zu erteilen. Deren Aufenthalt wurde durch Spenden von Einzel-

_ personen oder Organisationen finanziell abgesichert. Eine Quote wurde

10 nicht festgelegt. Einen Tag später gründete sich das Refugee Children’s

_ Movement, das sich bereit erklärte, sich um sämtliche Belange der Kin-

_ der – von der Ankunft über die Verteilung bis zur Organisation ihres Auf-

_ enthalts – zu kümmern.

_ Im Deutschen Reich verhandelten die Reichsvertretung Juden in

15 Deutschland und die Israelitische Kultusgemeinde Wien, unterstützt von

_ ausländischen Flüchtlingsorganisationen, mit den zuständigen NS-Be-

103 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

_ hörden über die Ausreisemodalitäten. Sie stellten Listen von jüdischen

_ Kindern zusammen, die das Land verlassen sollten. Die NS-Führung

_ hatte keine Einwände gegen die Rettungsaktion und stellte Sonderzüge

_ bereit. Am 2. Dezember 1938 traf der erste Kindertransport in England

05 ein. Etwa die Hälfte dieser Kinder kam aus einem Waisenhaus in Ber-

_ lin, das in der Pogromnacht am 9. November 1938 angegriffen und in

_ Brand gesetzt worden war. Von den insgesamt 9 354 Kindern, die nach

_ England ausreisten, waren 7 482 jüdisch. Dies war nur ein Teil derjeni-

_ gen, die sich bei der Reichsvertretung zur Ausreise angemeldet hatten.

10 Mehr als 10 000 Kindern blieb der Rettungsweg nach England versperrt.

_ Am 2. September 1939, einen Tag nachdem Nazi-Deutschland mit dem

_ Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte, erreichte der

_ letzte Kindertransport die britische Insel.

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Die Brüder Alfred (2. von links) und Julius Spier (3. von links) aus Rauischholzhausen/Hessen bei der Ernte in England im Jahr 1940. _ Die Brüder konnten 1939 mit einem Kindertransport aus Nazi-Deutschland nach England _ fliehen. Hier lebten sie auf einem Bauernhof, wo sie hart arbeiten mussten. Ihre Eltern, zwei _ Brüder und ihre Großmutter blieben in Deutschland zurück. © Jennifer Spier Stern _

_

_ Die Kriterien für die Ausreise nach England waren streng, die Kinder

15 durften nicht älter als 15 Jahre sein, geistig oder körperlich Behinderte

_ wurden nicht zugelassen. Zwischen dem Eintreffen der Nachricht, dass

_ sie für einen der Transporte ausgewählt worden waren, und der Abrei-

_ se lagen meist nicht mehr als 24 Stunden. Ihr Gepäck bestand aus ei-

_ nem Koffer, mehr war nicht erlaubt. An Geld durften nicht mehr als zehn

20 Reichsmark ausgeführt werden.

104 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

_ In England wurden die Kinder und Jugendlichen zunächst in Sammella-

_ gern untergebracht, um dann an Familien oder Heime weitervermittelt

_ zu werden. Sie stammten aus ganz unterschiedlichen Milieus: aus or-

_ thodoxen und nichtreligiösen Elternhäusern, aus sozial schwachen und

05 wohlhabenden bürgerlichen Familien, manche waren Staatenlose oder

_ Waisen. Für sie alle markierte die Rettungsaktion einen gravierenden

_ Einschnitt in ihrer Biografie. Sie wurden von einem Tag auf den anderen

_ von ihren Eltern, Geschwistern und Freunden getrennt, aus ihrer Um-

_ gebung und ihrem vertrauten Leben herausgerissen. (Quelle 5/5; Tage-

10 bucheintrag von Ruth Maier aus Wien vom 11. Dezember 1938)

_ Von nun an mussten sie sich allein in dem neuen Leben im Exil zu-

_ rechtfinden, eine neue Sprache erlernen, sich anpassen, möglichst un-

_ scheinbar sein und so rasch wie möglich die Schule und eine Ausbil-

_ dung absolvieren. Die meisten dieser Kinder und Jugendlichen blieben

15 nach Kriegsende in Großbritannien. Von denen, die das Land verließen,

_ wanderte die überwiegende Mehrzahl in die USA aus oder in den neu

_ gegründeten Staat Israel. Neun von zehn Kindern sahen ihre Eltern nicht

_ wieder. Sie waren in den nationalsozialistischen Ghettos und Vernich-

_ tungslagern ermordet worden.

20

Die Fluchtwellen _ 1933 lebten um die 500 000 Juden im Deutschen Reich. Nach der Macht- seit 1933 _ übernahme der Nationalsozialisten verließen 38.000 noch im selben

_ Jahr ihr Land. Von 1934 bis 1937 emigrierten jährlich zwischen 20 000

_ und 25 000. Im ,Schicksalsjahr‘ 1938 stieg die Zahl der jüdischen Flücht-

25 linge rapide an, 40 000 Juden verließen in diesem Jahr das sogenannte

_ Altreich, allein 60 000 das von Nazi-Deutschland annektierte Österreich.

_ 1939 flohen 75 000 bis 80 000 Juden aus dem deutschen Machtbereich.

_ Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs waren die meisten Emigrations-

_ wege verschlossen. 1940 erreichten noch 15 000 Juden das rettende

30 Ausland, 1941 waren es nur noch 8 000. Mitte Oktober 1941 begannen

_ die Deportationen von Juden in die Konzentrations- und Vernichtungs-

_ lager in den ,Ostgebieten‘. Wenige Tage später erließ das NS-Regime ein

_ endgültiges Ausreiseverbot für Juden. Dennoch gelang in den Jahren

_ 1942 bis 1945 noch etwa 8 500 Juden die Flucht. Insgesamt wird die An-

35 zahl der deutschen Juden, die zwischen 1933 und 1945 emigrierten, auf

_ 278 500 geschätzt. Nur ein minimaler Bruchteil der Emigranten kehrte

_ nach 1945 nach Deutschland zurück. (Quelle 5/6; Auszug eines Berichts

_ von Hans Reichmann vom Frühjahr 1939 aus dem Exil in London)

_

_

_

_

_

105 5. Die Fluchtwelle nach der Katastrophe

_ / Arbeitsvorschläge

_ Die darstellenden Basistexte beschreiben die historischen Entwicklun-

_ gen. Die Augenzeugenberichte und die weiteren Quellen eignen sich, um

_ einige Ereignisse, Entwicklungen und Zusammenhänge herauszuarbei-

05 ten. Eine Arbeitsgruppe kann zu dem Schwerpunkt der Lage der Juden

_ in Deutschland unmittelbar nach den Novemberpogromen und ihren

_ Bemühungen um Fluchtwege eine Erzählung aus jüdischer Sicht erar-

_ beiten. Zur Orientierung können dabei folgende Schwerpunkte hilfreich

_ sein:

10 / Die Darstellung der Lebensbedingungen für Juden in Deutschland

_ nach den Pogromen sollte in eine Reflexion darüber münden, warum

_ und auf welchen Ebenen ein Weiterleben für diese Menschen im Deut-

_ schen Reich nicht mehr möglich war.

_ / Die widersprüchlichen Ziele der antijüdischen Politik der NS-Regie-

15 rung, die wirtschaftliche Ausplünderung und Vertreibung gleicher-

_ maßen vorantrieb, können beschrieben werden. Die Konsequenzen

_ dieser Situation für als Juden Verfolgte können anhand der Quellen

_ erarbeitet und in die Erzählung eingebaut werden.

_ / Die Auswanderungszahlen stellen statistische Informationen dar, mit

20 denen die subjektiven Erzählungen der Augenzeugenberichte sinnvoll

_ ergänzt werden können. Die damalige geringe Aufnahmebereitschaft

_ der meisten Staaten für Juden kann in Bezug zu den aktuellen Proble-

_ men der Flüchtlingspolitik in Europa gesetzt werden.

_ / Die Kindertransporte nach Großbritannien gelten als Ausnahmefall

25 und als ein humanitäres Vorbild. Zugleich waren die Konsequenzen für

_ die Betroffenen zutiefst ambivalent. Demnach könnte es zwei unter-

_ schiedliche Themen geben. Auf der einen Seite sollte die Rettungsak-

_ tion der britischen Regierung mit dem Verhalten der meisten anderen

_ Staaten verglichen werden. Ein zweites mögliches Thema ist die Re-

30 flexion der psychischen Erfahrung der Trennung von den Eltern und

_ des Verlusts der Heimat aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen.

_ / Viele Juden konnten oder wollten auch nach den Novemberpogro-

_ men nicht aus Deutschland fliehen. Die Sammlung und Reflexion über

_ Gründe, die eine Flucht verhinderten, kann Teil der Erzählung über die

35 unmittelbaren Folgen der Pogrome sein.

_ / Die Erzählung soll beschreiben, wie sich die Lage der deutschen Juden

_ nach den Novemberpogromen Ende 1938 bis zum Beginn der Deporta-

_ tionen 1941 entwickelte.

_

_

_

_

_

106 Quellen / Kapitel 5

Quelle 5/1

_ Augenzeugenbericht einer in der jüdischen _ denlang. Dabei sind allein in Breslau fünf Be-

_ Wohlfahrtspflege tätigen Frau aus Breslau 45 rater nebst fünf Stenotypistinnen und etwa

_ _ fünf Registraturangestellten beschäftigt.

_ Die im Januar 1939 verfasste Dokumentation _

05 schildert die Situation der jüdischen Bevölke- _ Die Verhaftungen

_ rung in Breslau und in Niederschlesien (siehe _ In Niederschlesien waren etwa 100 % aller

_ auch Quelle 4/7). 50 jüdischen Männer verhaftet. Heute sind noch

_ _ etwa fünf bis zehn Personen im Konzentrati-

_ _ onslager. […]

10 _ Heute ist es noch vorgekommen, dass man

_ Die Lage der Juden _ vier Personen in Haft genommen hat, weil sie

_ Die noch verdienenden Berufe sind an einer 55 ihre Auswanderung nicht energisch genug be-

_ Hand aufzuzählen. Es sind dies einige weni- _ trieben. Man hat sie eine Woche lang in Haft

_ ge Ärzte, einige Anwälte (Rechtskonsulenten) _ behalten. Häufig wird eine Frist zur Auswan-

15 und alles, was mit der Gemeinschaft zusam- _ derung gestellt.

_ menhängt, also Lehrer, Krankenhaus, Fürsor- _ Da man den Leuten beim Hilfsverein zu keiner

_ ge. Alle anderen leben von ihrem Geld oder 60 legalen Einwanderung verhelfen kann, geht

_ von Unterstützungen. [...] _ man jetzt vielfach illegal nach Palästina und

_ _ Belgien.

20 Jüdische Bevölkerungsziffern _

_ Seit dem vorigen Jahr ist die Bevölkerung in _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ 65 der Provinz um 50 % zurückgegangen, näm- berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main _ lich von 5 000 auf 2 500 Seelen. Die jüdische _ 2008, S. 275 ff.

_ Bevölkerung Breslaus ist von 17 000 im Jahre _

25 1938 auf 12- bis 13 000 zurückgegangen. Die- _

_ ser geringere Rückgang gegenüber der Pro- _

_ vinz ergibt sich daraus, dass etwa 2- bis 3 000 _

_ Personen in Breslau aus der Provinz zugezo- _

_ gen sind. _

30 […] Im Augenblick ist man in Breslau damit _

_ beschäftigt, die ganze jüdische Bevölkerung _

_ nach dem Alphabet der Straßen aufzurufen, _

_ wobei man weder alte Leute noch kleine Kin- _

_ der auslässt. Die Vorgeladenen werden be- _

35 fragt, wann sie auszuwandern gedenken. _

_ _

_ Die Verwaltung der jüdischen Gemeinde _

_ Die Gemeindevorsteher sind der Ansicht: Ret- _

_ te sich wer kann! […] _

40 Der Hilfsverein ist von Berlin aus schlecht or- _

_ ganisiert, in der Provinz noch schlechter. […] _

_ Es stehen täglich Hunderte von Menschen vor _

_ den Türen des Hilfsvereins und warten stun- _

107 Quellen / Kapitel 5

Quelle 5/2 //1 von 2 Seiten

_ Brief von Ilse Lichtenstein aus den Nieder- _ Bergen, den 10.1.1939

_ landen an ihre Verwandten in den USA vom _ Meine Lieben,

_ Januar 1939 _ […] Jetzt will ich euch ein bisschen von

_ _ Deutschland erzählen. Aber nicht viel. Wie

05 Die 15-jährige Tochter des Schneidermeisters 20 ihr ja wisst, sind alle Männer im KZ gewe-

_ Meinhard Lichtenstein und seiner Frau Käthe _ sen. Der liebe Papa und Friedel waren auch

_ aus Volkmarsen/Hessen war nach dem No- _ da. Papa war 4 Wochen und Friedel 5 Wochen

_ vemberpogrom 1938 mit einem Kindertrans- _ dort. Natürlich kamen sie mit kahlgeschore-

_ port in die Niederlande gelangt. Wenige Tage _ nen Köpfen zurück. Auch dort haben sie es

10 nach ihrer Ankunft schrieb sie ihren Verwand- 25 nicht besonders gehabt. […] Viele Leute sind

_ ten in den USA und bat unter anderem um Hil- _ meschugge geworden. Auch Lehrer Stern aus

_ fe für ihre in Deutschland verbliebenen Eltern. _ Frankenberg. Er ist in die Latrine gesprungen.

_ 1940 konnte Ilse Lichtenstein in die USA aus- _ Onkel Isaak ist einen Tag zurückgekommen

_ reisen. Ihre Eltern und ihre Schwester wurden _ und dann gleich irr gewesen. Er hatte Eiter im

15 ermordet. 30 Mund und Nase und konnte gar nicht spre-

_ _ chen. Hugo Wertheim hatte Blutvergiftung

_ _ und ist verbrannt worden. Die Urne ist zurück-

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Familie Lichtenstein im Garten ihres Hauses in Volkmarsen im Juni 1936.

_ Abgebildet sind (von links nach rechts): Ilse Lichtenstein, Großmutter Rosa Frankenthal, Großvater Selig Frankenthal, Mutter Käthe Lichtenstein, Vater Meinhard Lichtenstein, Schwester Inge (vorn rechts). _ © Privatarchiv Ernst Klein _

108 Quellen / Kapitel 5

Quelle 5/2 //2 von 2 Seiten

_ gekommen. […] Ach, so manches könnte ich _

_ Euch schreiben. Jeden Tag hat man nur ande- _

_ re Todesanzeigen gelesen. Ihr könnt euch ja _

_ gar nicht denken, was wir alles mitgemacht _

05 haben. An die Demolierung zu Hause darf ich _

_ gar nicht denken. Du, Lieber Arthur, würdest _

_ die Zimmer kaum wiedererkennen. In Friedels _

_ Zimmer ist nichts mehr ganz. Schränke, Bet- _

_ ten, Kommode, Stühle und alles was im Zim- _

10 mer war, sind kaputt. […] Keine Tasse und kein _

_ Teller waren ganz. Gelee und Eier sind zusam- _

_ mengelaufen. 3 große Fässer Scherben haben _

_ wir gehabt. […] Daß keine Scheibe im Haus _

_ mehr heil war, könnt ihr euch ja denken. Die- _

15 ses war der Donnerstagabend und des Mor- _

_ gens ist der liebe Papa geholt worden. In der _

_ Nacht waren die Lieben noch alle zusammen _

_ und am anderen Morgen ist Papa nach Bu- _

_ chenwald gekommen. Was alles gestohlen ist, _

20 kann ich gar nicht sagen. Friedels 2 Anzüge _

_ und Mantel, Papas schwarzer Anzug, meine _

_ ganze Wäsche und Kleider. Vom Lager sind 18 _

_ Anzüge, 6 gestreifte Hosen, Winterulster und _

_ viele Futtersachen. _

25 Und dann noch das schönste, 1 600 Reichs- _

_ mark Vermögensabgabe als Buße. Ist das _

_ nicht allerhand? Wenn der liebe Papa jetzt _

_ arbeiten dürfte, könnte er sich 5 Gesellen _

_ halten. Wenn nur das Konsulat schneller ar- _

30 beiten würde, daß wir fort könnten, denn die _

_ Ungewissheit ist entsetzlich. Seht bitte mal _

_ zu, ob ihr nicht etwas machen könnt, denn _

_ die lieben Eltern können unmöglich länger in _

_ Deutschland bleiben. Denn käme noch einmal _

35 eine Trennung, so wäre es sehr schlimm. Auch _

_ sorgt bitte dafür, dass wir bald weiter kön- _

_ nen, denn wir wollen den Leuten hier nicht zur _

_ Last fallen. […] Ich glaube Euch nun genug ge- _

_ schrieben zu haben, antwortet bald und seid _

40 herzlich gegrüßt von Eurer Ilse. _

_ _

_ Quelle: Privatarchiv Ernst Klein _

_ _

109 Quellen / Kapitel 5

Quelle 5/3

_ Brief eines 17-Jährigen an das Kinderkomité _ Am Ende des Briefes sind die Personalien der

_ in Amsterdam 45 vier Brüder im Alter von acht, zehn, dreizehn

_ Über den Autor ist nichts bekannt _ und siebzehn Jahren angegeben

_ _ Quelle abgedruckt in: Ben Barkow, Raphael Gross, Michael 05 _ Lenarz (Hrsg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugen- _ 15. Dezember 1938 _ berichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main 2008, S. 664. _ Ich möchte Ihnen ganz knapp unsere Lage _

_ schildern: Infolge der Ereignisse der letzten _

_ Wochen sind wir völlig verarmt. Weder meine _

10 Eltern noch einer von uns Geschwistern ha- _

_ ben die geringste Verdienstmöglichkeit – und _

_ wir sind eine siebenköpfige Familie. Können _

_ Sie sich vorstellen, wie unsere Zukunft nun _

_ aussieht? Bei alledem gäbe es eine Hoffnung, _

15 die unsere verzweifelte Lage erträglich ge- _

_ stalten könnte, Hoffnung auf Auswanderung _

_ – aber auch sie ist nicht im geringsten Maße _

_ vorhanden. Wir sind zum 31. Januar 1939 aus _

_ unserer Wohnung endgültig gekündigt. Alle _

20 unsere Anstrengungen, eine neue Wohnung _

_ zu finden, waren vergeblich – und noch knapp _

_ sieben Wochen bis zum 31. Januar. Aber auch _

_ das ist nicht das Schlimmste. _

_ Mein Vater wurde vor fünf Wochen in Schutz- _

25 haft genommen […] Damit schien sich das _

_ grausame Schicksal aber noch immer nicht _

_ zufriedengegeben zu haben. Noch ein vernich- _

_ tender Schlag traf uns: Durch die Erregungen _

_ der letzten Zeit hat meine Mutter einen sehr _

30 ernsten Nervenzusammenbruch erlitten […] _

_ Falls Sie es wünschen, kann ich Ihnen hier­ _

_ über ein ärztliches Attest zusenden. _

_ Können Sie nun verstehen, dass wir uns trotz _

_ Ihres Schreibens krampfhaft an Sie klam- _

35 mern, um Ihre Hilfe zu erlangen? Können Sie _

_ sich einen Begriff davon machen, welche _

_ Empfindungen diese nackten Tatsachen in _

_ der Seele kleiner unschuldiger Kinder wach- _

_ rufen müssen? Verstehen Sie nun, dass in die- _

40 sem Falle zu helfen tatsächlich Pflicht ist? Im _

_ Namen meiner Eltern und Geschwister und in _

_ meinem Namen bitte ich Sie inständig nur das _

_ Eine: Helfen Sie! _

110 Quellen / Kapitel 5

Quelle 5/4

_ Brief von Julius Bab an seinen bereits im _

_ Exil lebenden Sohn Bernd vom _

_ 17. November 1938 _

_ _

05 Julius Bab (1880–1955), war ein Theater- _

_ kritiker und Bühnenautor. Er floh 1938 über _

_ Frankreich in die USA. _

_ _

_ _

10 Es ist ja nun nicht mehr so, daß man zunächst _

_ drüben etwas vorbereiten kann, es handelt _

_ sich nur noch darum, so schnell als möglich _

_ herauszukommen. Auch wenn man sich drü- _

_ ben sehr unwohl fühlt, und letzten Endes ver- _

15 hungert, und ich halte ersteres für möglich _

_ und letzteres für wahrscheinlich, so wird es _

_ doch gut sein, einmal frische Luft geatmet zu _

_ haben. Unter diesem Gesichtspunkt auf alle _

_ Fälle Non-Quota-Visum [Daueraufenthalts- _

20 erlaubnis] bestreben! Obwohl meine Begeis- _

_ terung für diese Form […] sehr gedämpft ist. _

_ Nach seiner Auskunft [die eines Bekannten] _

_ wird man auf dieses Visum hin nicht ameri- _

_ kanischer Bürger, ist überhaupt nur auf eine _

25 bestimmte Zeit zugelassen, die allerdings _

_ verlängert werden kann. Und eigentlich kriegt _

_ man es nur, wenn man einen Lehrauftrag hat. _

_ Das wäre natürlich alles sehr dumm, aber _

_ vielleicht darf man hoffen, daß in der gegen- _

30 wärtigen Notlage die Praxis Abweichungen _

_ gestattet, und auf alle Fälle muß man es ver- _

_ suchen, denn bei normaler Registrierung kann _

_ es zwei Jahre dauern, die man hier bestimmt _

_ nicht mehr überlebt […]. _

35 _

_ Quelle abgedruckt in: Sylvia Rogge-Gau, Die doppelte Wurzel _ des Daseins. Julius Bab und der Jüdische Kulturbund Berlin, _ _ Berlin 1999, S. 149 _ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

111 Quellen / Kapitel 5

Quelle 5/5

_ Tagebucheintrag von Ruth Maier aus Wien _

_ vom 11. Dezember 1938 _

_ _

_ Ruth Maiers Schwester Dita war am Tag zuvor _

05 mit einem Kindertransport nach Großbritan- _

_ nien abgereist. _

_ _

_ _

_ Es war gestern nur so, wie man es malen _

10 kann. In Hütteldorf [Stadtteil von Wien] drau- _

_ ßen dunkel und schwarz. Mit Taschenlampen _

_ haben die jüd. Ordner geleuchtet. Und Kinder, _

_ bis 17 Jahre, Burschen und Mädels mit Ruck- _

_ säcken und Kofferln. Immer noch einen Kuß. _

15 Noch einen und einen letzten. Neben mir hat _

_ eine Frau geweint, nicht leise für sich: Ge- _

_ wimmert hat sie, gestöhnt. Tief aufgeseufzt. _

_ Im ganzen Gesicht gebebt […] Kleine 4jährige _

_ Kinder haben geschrien. Wahnsinn! Auf den _

20 Armen hat man sie noch tragen müssen. Und _

_ die Mütter! Die Väter von den Kleinen sind in _

_ Dachau […] Eine junge Frau, die hat sich zu- _

_ rückgebeugt, ihr Mann zu ihr hin. Eine hat ge- _

_ murmelt: ‚Alle zwei auf einmal, alle zwei.‘ _

25 […] In einem kleinen Häuferl ist Dita mit an- _

_ deren dort gestanden, im Dunkel. Nur ihren _

_ weißblauen Schal hab‘ ich gesehen. Wie wir _

_ vorbeigegangen sind an diesem Häuflein jüd. _

_ Flüchtlinge, da hat sie auf einmal ‚Mama‘ ge- _

30 rufen. Und hat gewinkt. An uns sind sie vor- _

_ bei. Knapp! Noch einen letzten Kuß haben _

_ sie sich geben wollen, Dita und Mama. Ganz _

_ nah waren ihre Lippen, da hat sie der Ordner _

_ auseinandergerissen. ‚Machen Sie sich’s net _

35 schwerer.‘ _

_ _

_ Quelle abgedruckt in: Susanne Heim (Bearb.), Die Verfolgung _ und Ermordung der europäischen Juden durch das national­ _ _ sozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 2: Deutsches _ Reich 1938 – August 1939, hrsg. von Götz Aly u.a., München _ 2009, S. 561 _ _

_ _

_ _

_ _

112 Quellen / Kapitel 5

Quelle 5/6

_ Auszug eines Berichts von Hans Reichmann _

_ vom Frühjahr 1939 aus dem Exil in London _

_ _

_ Hans Reichmann, Repräsentant der größ- _

05 ten jüdischen Organisation in Deutschland, _

_ des Centralvereins, schrieb im Frühjahr 1939 _

_ aus dem Londoner Exil einen umfangreichen _

_ Bericht für seine Freunde in den USA. In den _

_ über 300 Manuskriptseiten geht Reichmann _

10 auf die Jahre 1937/38 und vor allem auf sei- _

_ ne Haftzeit im Konzentrationslager Sachsen- _

_ hausen ein. Diese Dokumentation wurde 1998 _

_ erstmals unter dem Titel „Deutscher Bürger _

_ und verfolgter Jude“ veröffentlicht. _

15 _

_ _

_ Wir, die wir ausgetrieben wurden, die ein neu- _

_ es Leben beginnen sollen, wie man zu sagen _

_ pflegt, sind ruhelos geworden. An die Zukunft _

20 zu denken, wagen wir nicht mehr; wollten wir _

_ sie mit gewohntem Maßstab abtasten, wir _

_ müßten bange werden. Was unfaßbar schien, _

_ ist Wirklichkeit: wir sind Luftmenschen ge- _

_ worden, wir haben den Boden unter uns verlo- _

25 ren, wir sind aus der Sicherheit bürgerlichen _

_ lebens verjagt – ohne Arbeit, ohne Heim, ohne _

_ Heimat. […] Diese sechs Jahre haben unge- _

_ zählte jüdische Menschen gebrochen, mich _

_ nicht. Auch Haß gibt Lebenskraft. Sie danke _

30 ich dem Feind. Wollen sehen, was die Zukunft _

_ bringt, ob sie den innigsten meiner Wünsche _

_ erfüllt: daß ich die deutsche Umkehr noch er- _

_ lebe. _

_ _

35 Quelle: Hans Reichmann, Deutscher Bürger und verfolgter _ Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937 bis _ _ 1939, München 1998, S. 279 _ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

113 Literaturliste

_ Barkow, Ben/Gross, Raphael/Lenarz, _ Steinweis, Alan E.: Kristallnacht 1938.

_ Michael (Hrsg.): Novemberpogrom 1938. _ Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011.

_ Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, _

_ London, Frankfurt am Main 2008. _ Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.):

05 40 Die Novemberpogrome 1938. Versuch einer

_ Benz, Wolfgang/Curio, Claudia/Hammel, _ Bilanz, Berlin 2009.

_ Andrea (Hrsg.): Die Kindertransporte _

_ 1938/39, Frankfurt am Main 2003. _ Thalmann, Rita/Feinermann, Emmanuel:

_ _ Die Kristallnacht, Frankfurt am Main 1988.

10 Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die _

_ Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, _

_ Band 1, München 1998. _

_ _

_ Gross, Raphael: November 1938. Die Kata­ _

15 strophe vor der Katastrophe, München 2013. _

_ _

_ Gruner, Wolf (Bearb.), Die Verfolgung und Er- _

_ mordung der europäischen Juden durch das _

_ nationalsozialistische Deutschland 1933- _

20 1945, Bd. 1: Deutsches Reich 1933-1937, _

_ hrsg. von Götz Aly u.a., München 2008. _

_ _

_ Heim, Susanne (Bearb.), Die Verfolgung und _

_ Ermordung der europäischen Juden durch _

25 das nationalsozialistische Deutschland _

_ 1933-1945. Bd. 2: Deutsches Reich 1938-Au- _

_ gust 1939, hrsg. von Götz Aly u.a., München _

_ 2009. _

_ _

30 Kreutzmüller, Christoph; Weigel, Bjoern: _

_ Kristallnacht? Bilder der Novemberpogrome _

_ 1938 in Berlin, Berlin 2013. _

_ _

_ Pehle, Walter H. (Hrsg.): Der Judenpogrom _

35 1938. Von der Reichskristallnacht zum _

_ Völker­mord, Frankfurt am Main 1992. _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

_ _

114 _

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Abbildungsnachweis

_ Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung der jewei-

_ ligen Rechteinhaber. Sollte es uns trotz gründlicher Recherchen nicht

_ gelungen sein, alle Inhaber von Bild- oder Textrechten zu ermitteln,

_ bitten wir diese, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Die Nachweise

_ befinden sich an der jeweiligen Stelle unter dem Bild bzw. Text.

_ Die Bildrecherche basiert auf der Website www.vor-dem-holocaust.de

115 _ Pädagogisches Zentrum

_ Fritz Bauer Institut &

_ Jüdisches Museum Frankfurt

_ Seckbächer Gasse 14

_ 60311 Frankfurt am Main

_ Tel. 069 21274237

_ [email protected]

_ www.pz-ffm.de

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ Fritz Bauer Institut

_ Norbert-Wollheim-Platz 1

_ 60323 Frankfurt am Main

_ Tel. 069 798322-40

_ Fax 069 798322-41

_ [email protected]

_ www.fritz-bauer-institut.de

_

_ Jüdisches Museum

_ Untermainkai 14/15

_ 60311 Frankfurt am Main

_ Tel. 069 21235000

_ Fax: 069 21230705

_ [email protected]

_ www.juedisches-museum.de

_

_ Museum Judengasse

_ Kurt-Schumacher-Str. 10

_ 60311 Frankfurt am Main

_ Tel. 069 21270790

_ Fax 069 21230705 _

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_

_ www.pz-ffm.de

_

_ www.juedisches-museum.de

_ www.fritz-bauer-institut.de