32 Freitag, 22. Dezember 2017 — Der kleine Finale

O-Ton «Die Forderung, geliebt zu werden, ist die grösste der Anmassungen.» Friedrich Nietzsche

Kurz & kritisch Sounds Erika Stuckys leise und skurrile Totenmesse Nein, es ist nun wirklich keine lustige Platte geworden. «Papito», das neue der Sängerin Erika Stucky, sieht zwar von der Coverart her so zuverlässig verschroben-witzig aus, wie man sich das von dieser immer leicht überdreht wir- kenden Musikerin gewohnt ist. Man sieht eine Stucky, die gehobeltes Fleisch um den Hals hängen hat, sieht auch ein Schwarzweissfoto ihres Vaters, der Metz- ger war, mit weisser Schürze, darauf ein grosser, roter Blutspritzer. Mag nun sein, dass «Papito» als Liveprojekt komische Züge entfaltet – auf dem Album aber, als reine Musik, ist das abgesehen von eini- gen kurzen Skurrilmomenten im Gegen- teil traurig, ja oft tieftraurig. «Papito» ist nichts anderes als die Verkleinerungsform von Papa. Stucky befasst sich auf ihrem Album in zwölf Stücken mit ihrem Vater, dem Verstorbe- nen, und in ihren Tönen, sozusagen einer intimen Totenmesse, offenbart sie eine Ernsthaftigkeit, die man mit ihr kaum in Verbindung gebracht hätte. Viele der sorgfältig orchestrierten Stücke handeln in irgendeiner Weise von Abschied. Das Herz des bilden zwei Originale Stuckys – «Stachel- draht» und «Aftermath» –, und diese Trio mit Chef: N.E.R.D. mit (Mitte). Foto: zvg scheinen auch mit zu erklären, wie die Sängerin zur aussergewöhnlichen Inst- rumentalbesetzung für dieses Album fand: zu einem kleinen Barockensemble nämlich mit Streichern samt Cembalo, Die Wachrüttler dem sublimen Elektroniker FM Einheit (ehemals Einstürzende Neubauten), zu- weilen auch dem Countertenor Andreas Pharrell Williams und N.E.R.D. bieten auf ihrem neuen Album eine schöne Abwechslung zum musikalischen Scholl. In «Stacheldraht» evozieren die Einheitsbrei. Und wie immer kann Herr Williams mit einer ganzen Menge Prominenz aufwarten. Streicher mit ihren dicht-traurigen Geflechten eine fast irreale und dabei würdevolle Atmosphäre, Stucky spricht dazu durch ein Megafon «O-o-o-h, my daddy would be so proud of me now», Adrian Schräder schafft hat, schaukelt das Ding mehr Bühne wirkt ihre Musik schlecht Folge , M.I.A. und André das hat in der Tat etwas fast Spirituelles, oder weniger im Alleingang. zusammengekittet, Williams’ Stimme 3000. Sogar der englische Barde Ed Geisterbeschwörendes, als wollte Auch wenn uns das im Abstand von ein dünner als Seidenpapier. Die Alben von Sheeran, auf dem blubbernden Offbeat- Stucky Kontakt aufnehmen mit dem von paar Jahren immer wieder weisge- Recht frisch N.E.R.D. waren schon immer Ansamm- Outro «Lifting You» zu hören, passt gut ihr geliebten Vater. Auch das Schluss- macht wird: Es gibt keine Band mit N.E.R.D. ist der Kanal für den vor Ener- lungen von Crossover-Songs. Eine Mi- in dieses abenteuerliche Potpourri. stück «Aftermath»: Halteklänge der dem Namen N.E.R.D.! Vielmehr han- gie strotzenden Jugendlichen in ihm, schung aus Rockhybriden, Hip-Hop- Streicher, bei all ihrem dunkel Drohen- delt es sich dabei um eine Art Fluidum. der es einst als Profi-Skateboarder schaf- Verschnitten, Balladen und schroffen Die Quasi-Clash-Nummer den wirken sie irgendwie himmlisch Denn eigentlich ist dieses Akronym, fen wollte, aber dafür dann doch zu sehr Tanzflächenstürmern. Trotzdem sind die besten Momente die- oder jedenfalls unirdisch; dazu gespens- das für «No One Ever Really Dies» steht Musiker und zu oft im Studio war. Das jenigen, in denen sich Pharrell ganz auf tische sublime Elektronik. Und wenn und nun auch dem fünften Studioal- Projekt hat mit «Rock Star», «Provider», M.I.A. neben seinen Gesang und die Melodieführung Stucky notorisch wiederholt «Papito’s bum seinen Namen gibt, gleichbedeu- «», «Everyone Nose» Mit der Single «Lemon» knüpft Williams verlässt. In «Deep Down Body Thurst» gone», dann wirkt das endgültig so, als tend mit den Träumen, Wünschen und oder «Hypnotize U» über die Jahre im- dort an, wo er als Produzent des Kelis- lässt er aus einer Midtempo-Ballade ob sie geschlagen wäre von etwas Un- Spleens des 44-jährigen Pharrell mer wieder Hits hervorgebracht. Songs Songs «Milkshake» vor fast 15 Jahren auf- nach und nach so etwas wie eine Clash- begreiflichem, Surrealem – über all das Williams. mit Drive, die einen wachrüttelten und gehört hatte: mit einem tänzelnden, an Nummer entstehen. Und «ESP» ist eine aber gewissermassen in Schönheit und Seine Jugendfreunde und eine willkommene Abwechslung vom den Electro-Funk der 80er und an mo- moderne Version einer Lee-Scratch- Würde nachdenken möchte. Shay Haley, die das Projekt seit je nomi- Einheitsbrei darstellten. Und die auch dernen Trap gemahnenden Beat, über Perry-Hymne, samt grummligen Basstö- Christoph Merki nell zum Trio machen, sind mit den Jah- Jahre später noch recht frisch daher- den für einmal die Rapperin nen und Dub-Effekten. Gerichtet ist sie ren mehr und mehr zur Bühnenstaffage kommen. statt die Sängerin gibt. an die Energie, von der dieser fiebrige Erika Stucky: Papito (Traumton Records). degradiert worden. Wer die Musiker einmal live erlebt Überhaupt sind die Rap-Einlagen her- Nerd-Traum durchzittert ist. Konzert: Erika Stucky tritt am 25. Januar Der Nerd aus Virginia Beach, der es hat, weiss allerdings auch, dass ihnen vorragend inszeniert: , Hip- am Be-Jazz-Winterfestival in den Vidmar- mit seinen Produktionen zum Weltstar im dümmsten Fall das Schicksal aller Hop-Star der Stunde, löst seine Aufgabe N.E.R.D.: No_One Ever Really Dies hallen Liebefeld auf. und mit seinem Look zur Stilikone ge- Studioprojekte widerfährt: Auf der in «Voilà» genauso mühelos wie in der (Columbia/Sony).

Mundart Renata Burckhardt Tagestipp Jimi Jules Hormon u Jahresänd

Geng we me die letscht Kolumne vom I myre Erinnerig isch früecher ds ech d Zytspanni, um es Chind z ma- schon?» (Ikea) – «switch» (Apple) – «Its Jahr schrybt, ischs wider das Ding Jahresänd geng wyss gsi. Guet, me che, z becho, z stille und abzstille. time to change» (O2). mit dr letschte Kolumne vom Jahr. Me weiss, Erinnerige sy flexibel, sy nach U nach vier Jahr syg eigentlech fertig. Drum Läbesabschnittpartner, faus dänkt, es syg öppis Bsundrigs. Drby nöischte Studie sogar so manipulier- überhoupt no Partner. Und o üses ischs nid. Aber trotzdäm äbe scho. Äbe bar, dass me sech a Züüg pbsinnt, Auso d Hormon? Aues genetisch? Syschtem hiuft nid, dass d Lüt wei die letscht im Jahr. U hüür empfinden i wo me nie erläbt het. Aber s git ja die Wie isch das de früecher gsi? Wie het zämeblybe. So viu Druck i de Familie u Der Geschmeidige das fasch no stercher aus süsch. Fotis us dr Chindheit – u die zeigen e mes da gmacht? I de Achzgerjahr zwüsche de Paar. Rollebilder, Chinder- Wäut, wo komplett zuedeckt isch mit sy myner Eutere mit ihrer Scheidig betreuuig, Choschte, Doppelbelasch- S het äuä mit em Schnee z tüe. Wo hüür Schnee. ömu no en Usnahm gsi. Ja, vili chöi u tig, Zwangsmobilität. Aber was, wes Nein, Jimi Jules ist nicht just another Plat- so wunderbar früech isch cho. So, wie i wei hüt eifach dä Alltag nümm us- scho bi däm hie happeret: Vier vo üsne tenleger, der es sich heute Abend hinter de letschte Jahr nümm. Dä Schnee, wo U itz o wider. Wysses Jahresänd. Und haute, das komisch-grüslige Mönsch- siebe Bundesrät hei im Oktober 20 Tag dem Mischpültchen des Kapitels bequem d Wäut zuedeckt. Son es wysses Jahres- drum aues guet wöuen abschliesse, d terli, wo sech hüfig i de Beziehige u Vaterschaftsurloub abglehnt. Hoffent- macht. Der in Bern und Luzern aufge- änd, wos matschet u pflotschet, wo Lüt guet wöue verabschiede, in Fride Familie breitmacht. lech büesse dr Maurer, Cassis, Schnei- wachsene Herr ist ein weltweit gern ge- me scho vor Wienacht geit go schyle, wöue usenang gah, ds Jahr guet ände. Ertrage und ushaute giut hüt nume der-Ammann u Parmelin drfür. Zum hörter und gesehener Tanzbodenbeschal- schlittle, Schneemanne boue. U chuum Wöu me weiss nie. Vilecht han i das aus negativ. U ds Gägeteu isch dr Bischpiu mit Grosschind, wo nüt mit ne ler und Produzent des wohl entspanntes- falle die erschte grosse Flocke, gsehn i hüür o so starch, wöu sech im Umfäud Zytgeischt. Öpper passt nümm, me wie z tüe ha, wo ke Zyt hei, se im ten Club-Albums aus Schweizer Manufak- myni Fründin Katrin vor mr, wie sie vili befründeti Eutere trenne. Familie bruucht öpper angers, öpper, wo Autersheim go z bsueche. tur der letzten Jahre. «Equinox» heisst es, dennzmal uf em Primeler Pouseplatz sech ufschpalte. Mit Chind im Auter besser passt. Auso rächt neoliberalis- Iu, ds Jahresänd. Nid nume Melan- 2016 ist es erschienen, und es präsentiert desumegumpet, göisset u die Fröid zwüsche drü u sächs. S git Wüsse- tisch. D Wärbig machts vor: «Ich bin so cholie im Schnee. Nid nume Gans u den Jimi als einen der musikalischeren het, wos eim fasch verbäset, wo fasch schaftler, wo säge, das syg dr Vierjah- frei» (Nestlé) – «my way» (Burger King) Güezi. S geit o süsch wyter. Und i Verfechter der vierviertelgetakteten, ge- nume Chind so chöi zeige. Im Momänt resryhtmus, rein genetisch. S gieb es – «Liberté, toujours» (Gauloises Blon- möcht mi entschuldige, dass i nid so schmeidigen Clubmusik. (ane) o my Bueb, das Lüchte i sym Gsicht, we Hormon, das tüeg vier Jahr lang für des) – «Hör auf deinen Durst» (Sprite) feschtlech bi. Sorry, s isch e Charakter- d Flocke falle, einzigartig härzig. erotischi Spannig sorge. Auso eigentl- – «Wohnst du noch oder lebst du zug, oder vilecht sis ja sogar d Hormon. Kapitel, 21 Uhr.