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Wilhelmstädter Magazin – Sonderausgabe zur Ausstellung »Meine Kindheit in der « im Stadtteilladen Adamstr. 39 vom 4. Juni bis 19. Juli 2014 Herausgeber: Bezirksamt von , Stadtentwicklungamt FOTOS AUS DER AUSSTELLUNG Mit diesem Aufruf Liebe Leserinnen und Leser fing alles an ... Der für die Gruppe kocht Ein Interview mit Andreas Wilke, dem Initiator der Ausstellung dies ist eine außergewöhnliche WILMA-Aus- gabe, über die wir uns als Redaktion beson- ders freuen. Vor ca. anderthalb Jahren fand sich – auf ei- Ausstellung ne Initiative von Andreas Wilke vom Koordi- Eröffnung 4. Juni, 17 Uhr Der hat damit angefangen! Der hat uns ange- aber war bei ihrer Entstehung um 1900 ein nationsbüro – nach und nach eine Gruppe im Stadtteilladen Adamstr. 39 stiftet! – Andreas Wilke nämlich, der Spandau sehr bürgerliches Viertel, ohne bedeutende von Wilhelmstädterinnen und Wilhelmstäd­ 5. Juni bis 19. Juli. selbst ganz gut kennt, weil er, ein gebürtiger Industrie, große Klassenkämpfe etc. Sie war tern zusammen, um eine Ausstellung zur Char­­lottenburger, Schulfreunde auch aus der kein Schauplatz großer Berlin- oder gar Welt­ Geschichte der Wilhelmstadt zusammen­ Öffnungszeiten: Wilhelmstadt hatte. ­geschichte. Wir hatten auch keinen geschichts­ ­ zutragen. Keine akademisch-historische Aus­ Mo 10–13 Uhr, Seit vielen Jahren ist er Mitarbeiter des KoSP wissenschaftlichen Anspruch. Es geht hier stellung, sondern ein persönliches Erinne- Di 10–13 Uhr, 17–19 Uhr, (Koordinationsbüro für Stadtentwicklung und vielmehr um die persönlichen Geschichten rungsmosaik der Bewohner. Mi 10–13 Uhr, Do 16–19 Uhr, Projektmanagement), und betreut seit 2010 im und die Eigenheiten eines Kiezes, der für Immer mehr Interessierte brachten Fotos, Fr 9–14 Uhr, Sa 10–14 Uhr Auftrag des Bezirksamts Spandau auch das AZ- viele Menschen eine Heimat war und ist, wo Erinnerungsstücke und vor allem ihre Er- und Sanierungsgebiet Wilhelmstadt. Der ge- Leute leben und aufwachsen ... Es ging dar- zählungen mit. Allmählich entstand eine Zur Ausstellung erscheint schichtsinteressierte Stadtplaner hatte vor ca. um zu zeigen, was diesen Ort ausmacht. Gruppe, die sich regelmäßig traf. In zahlrei- eine Begleitbroschüre, die zwei Jahren die Idee, die Wilhelmstädter einzu- chen Gesprächen wurden nicht nur viele Bil- gegen eine geringe Schutz- laden, ihre persönlichen Fotos und Geschichten Der Aufruf war offenbar erfolgreich ... der zusammengetragen und gesichtet, son- gebühr im Stadtteilladen zusammenzutragen. Und nach und nach fand Ich hatte Riesenglück. Die erste Frau, die sich dern auch sehr lebhaft Erinnerungen ausge- erworben werden kann. sich eine Gruppe von Interessierten zusammen, meldete, brachte gleich einen Stapel wun- tauscht. die sich regelmäßig traf und die Ausstellung derbarer Fotos mit. Sie waren hochinforma- Wir haben in dieser Sonderausgabe versucht, erarbeitete. Wilke organisierte, koordinierte, tiv und zugleich sehr atmosphärisch: Man Grußwort des Spandauer Bezirksstadtrats für Bauen, Planen, einige dieser unterschiedlichen, aber auch

mo­derierte, sammelte, sichtete, archivierte – sah einfach, wie das Aufwachsen, die Jugend SCHNITZLER TANJA Umweltschutz und Wirtschaftsförderung, Carsten Röding verbindenden Erinnerungen aufzuzeichnen.­ und kochte regelmäßig. damals hier war ... Damit war mir klar: wenn Und wir hoffen, dass nicht nur die Ausstel- sich das nur einmal wiederholt, klappt das den Ehrgeiz entwickelte, das Kochen bei je- Liebe Leserinnen und Leser, Generationen, sich mit der Geschichte des lung selbst, sondern auch die Berichte die- Projekt. – Es wiederholte sich dann vielfach. dem Treffen beizubehalten. Natürlich kann Stadtteils und Bezirks zu beschäftigen. ser Sonderausgabe auf reges Interesse und Herr Wilke, wie kamen Sie auf die Idee Manchmal zufällig, manchmal durch den man das nicht endlos durchhalten. Aber der der Spandauer Stadtteil Wilhelmstadt blickt auf Das Besondere daran ist, dass die Ausstellung Resonanz stoßen – denn die Geschichtsar- zu dieser Ausstellung? Schneeball-Effekt: Viele erzählten Freunden Moment, als die Gruppe beschloss, dass sie eine gut hundertjährige, bewegte Geschichte zu- von Wilhelmstädtern selbst erarbeitet wurde: beit soll auch künftig fortgesetzt werden. Es gab mehrere Komponenten: Zum einen und alten Bekannten davon, die dann auch auch nach der Ausstellung mit der gemein- rück. Doch Geschichte wird nicht nur durch gro- In einem über einjährigen Arbeitsprozess tru- Alle Interessierten sind nicht nur herzlich zur den Stadtteilladen, der in der Wilhelmstadt Fotos beisteuerten oder selbst mitkamen. samen Arbeit weitermachen wollen – dafür ße historische Ereignisse geschrieben – sie be- gen sie Dokumente, Fotos, Erinnerungen zu- Ausstellungseröffnung am Mittwoch, dem auch mit Unterstützung des Stadtrats ein- Überhaupt war es faszinierend zu sehen, hat sich alle Arbeit gelohnt. steht auch aus vielen persönlichen Geschichten, sammen und konzipierten daraus diese Aus- 4. Juni , um 17 Uhr eingeladen, sondern auch gerichtet wurde, als Ort für Initiativen und wie viele Verbindungen es untereinander Erlebnissen, Erinnerungen und Erfahrungen von stellung, die zunächst im Stadtteilladen Adam- dazu, sich selbst an der künftigen Arbeit zu als Instrument, mit dem man etwas ansto- gibt: Freundschaften, gemeinsame Bekann- Die Ausstellung wirkt auch optisch Bürgerinnen und Bürgern eines Stadtteils. Auch straße 39 gezeigt wird und dann zu weiteren beteiligen! Die Redaktion ßen kann. Auch wir überlegten, wie wir zur te, gemeinsame Erinnerungen an die Schu- sehr professionell – nicht wie eine sie schreiben Geschichte. Ausstellungsorten wandern soll. Belebung des neuen Ladens beitragen könn- le, an Geschäfte ... Bei den Gesprächen der Hobbysammlung. Mit dieser Sonderausgabe der Wilhelmstädter Das ist Bürgerengagement im besten Sinn: ten. Zum anderen ist Kultur zwar ein Aspekt Gruppe über die Fotos löste oft eine Ge- Zunächst wussten wir ja alle nicht, was und Stadtteilzeitung WILMA halten Sie eine Publi- Nicht professionelle Kuratoren, sondern Bürge- im Förderprogramm »Aktive Zentren«, mit schichte, eine Erinnerung die nächste aus, wie das Ergebnis sein würde. Es ging, wie ge- kation in den Händen, die auf ein ganz besonde- rinnen und Bürger entwickelten monatelang in dem viele Maßnahmen hier finanziert wer- das war ein überaus lebhafter Austausch. sagt, erstmal um die Möglichkeit, sich bei res Projekt hinweist und Ihre Aufmerksamkeit ehrenamtlicher Arbeit diese Ausstellung über Impressum den – real aber gab es so gut wie keine kultu- Und für mich als Nicht-Wilhelmstädter war Treffen über gemeinsame und persönliche dafür wecken will: Am 4. Juni wird im Stadt- die Geschichte ihres Kiezes. Zutage kommen rellen Aktivitäten im Gebiet. auch aus der Sicht des Stadtplaners vieles Geschichten auszutauschen und Material teilladen Adamstraße 39 die Ausstellung »Mei- damit bewegende persönliche Erinnerungen HERAUSGEBER Bezirksamt Spandau von Hinzu kommt, dass ich schon immer sehr hochinteressant und neu. zu sichten. Angesichts der Ernsthaftigkeit ne Kindheit in der Wilhelmstadt« eröffnet. Sie und zugleich ein historisches Mosaik der Wil- Berlin, Abteilung Bauen, Planen, Umwelt- an Fotografie und an Stadtgeschichte inter- der Gruppe und der Qualität der gemeinsa- zeigt Erinnerungen von Anwohnerinnen und helmstadt in vergangenen Jahrzehnten, wie es schutz und Wirtschaftsförderung, Stadtent- essiert war. Es gibt sehr schöne Dokumen- Und warum kochen Sie regelmäßig bei men Arbeit und Zeit, die sie investierten, gab Anwohnern an ihre Kindheit und Jugend in die- bislang noch nicht existierte. wicklungsamt, Fachbereich Stadtplanung tationen über Kiezgeschichte in anderen jedem Treffen – nicht vor Wut, sondern es aber nur eine Schlussfolgerung: Hier sem Stadtteil – und eröffnet damit auch einen Ich möchte mich bei allen Engagierten bedan- REDAKTION Ulrike Steglich, Nathalie Dimmer Gebieten – aber bislang kaum etwas über leckere Gerichte, von denen die Gruppe braucht es eine richtig gute Ausstellung mit ungewöhnlichen Blick auf die Wilhelmstadt, ken, dass durch ihre Arbeit diese außergewöhn- REDAKTIONSADRESSE »Wilma«, die Wilhelmstadt. Dabei hat der Stadtteil ei- immer wieder schwärmt? professioneller Qualität, die auch nach der wie sie von ihren Bewohnern in früheren Jahr- liche Ausstellung möglich wurde. Sie erzählt c/o Ulrike Steglich, Elisabethkirchstr. 21, ne starke Identifikationsfunktion über Ge- (Lacht) Ich hab schließlich auch 24 Kochbü- ersten Schau im Stadtteilladen nicht gleich zehnten erlebt wurde. Da geht es um Familien viel über die Geschichte der Wilhelmstadt – 10115 Berlin, Tel.: (030) 283 31 27, nerationen hinweg: Wilhelmstädter sind cher zu Hause. – Ja, das gemeinsame Essen im Keller verschwindet, sondern weiter wan- und um Spielorte der Kindheit, um Schule und mehr, als bislang in der historischen Literatur mail: [email protected] Wilhelmstädter. So entstand der Arbeitsti- hat sich so eingebürgert. Erst war es einfach dern soll. Und angesichts der Fülle des Ma- alte Geschäfte, um inzwischen verschwundene über das Gebiet zu erfahren war. Zu hoffen ist, ENTWURF UND GESTALTUNG tel: »Das da bin ja ich« für den Aufruf, mit ein Anreiz, um die Leute zu locken, weiter terials und der entstandenen Ideen will die Orte, um die Kriegszeit und unmittelbare Nach- dass dies erst der Anfang ist, denn es gibt noch Kai Dieterich, www.morgen-berlin.com dem Interessierte eingeladen wurden – es zu den Treffen zu kommen, nach dem Mot- Gruppe ihre Arbeit auch fortsetzen. Es gibt kriegszeit, die eine ganze Genera­tion prägte. viel mehr zu erzählen. DRUCK Henke Druck ging eben nicht nur darum, einfach alte Fo- to: »Wenn ich hier Kaffee mache und Ku- ja noch viel zu zeigen und zu erzählen. Die hier gezeigten Fotos und Objekte erzählen Ich wünsche der Ausstellung viele interessierte [email protected] tos zu sammeln, sondern auch etwas von chen backe, könnt Ihr mich doch nicht al- Toll fand ich, dass auch jüngere Leute dazu- Kiezgeschichte aus subjektiver Sicht. Sie spie- Besucherinnen und Besucher und der Ausstel- V.I.S.D.P. Ulrike Steglich / Für den Inhalt den Leuten zu erfahren. lein damit sitzen lassen.« Es ging ja auch – kamen und mitmachten, die keine Fotos geln Erinnerungen älterer Wilhelmstädter und lungsgruppe eine erfolgreiche Weiterarbeit! der Zeitung zeichnet nicht der Herausgeber, ganz unabhängig vom Ergebnis unserer Ar- mitbrachten. Aber genau darum geht es sind zugleich eine Einladung auch an jüngere Ihr Carsten Röding sondern die Redaktion verantwortlich. Warum gab es bislang so wenig zur beit – vor allem um ein Angebot an die Wil- doch: um das Interesse und die Lust, in so Wilhelmstädter Geschichte? helmstädter, sich zusammenzufinden und einer Gruppe mitzumachen. Es gibt ja viel historische Spandau-Literatur: auszutauschen. Interview: Ulrike Steglich z.B. zur Zitadelle, zu , zur Span- Aber es machte dann solchen Spaß mit der dauer Militärgeschichte. Die Wilhelmstadt immer weiter wachsenden Gruppe, dass ich

2 3 meinen Vater, mit unserer neuen Adresse. Falls er wieder zurückkommt, sollte er wissen, wo er uns findet. Weil sie nur mit Bleistift oder Tintenstift auf blankem Papier schrei- ben konnte, weichte das natürlich bei jedem Regen durch.

Deshalb schrieb sie jeden Tag neue Zettel.« SCHNITZLER TANJA Bis die Häuser in den 50er Jahren wieder aufgebaut wur- den, ging Heidemarie Koch mit ihrer Freundin oft zu der Ruine. »Wir fanden das sehr aufregend. Im Keller gab es noch die alten Fluchtwege, mit Durchbrüchen, damit man bei Verschüttungen notfalls über den Nachbarkeller ent- kommen konnte. Hinter unserem Haus gab es den Garten mit Obstbäumen, dort ernteten wir dann Obst. Überhaupt waren die Ruinen unsere Spielplätze. Und in den Hauseingängen konnte man gut trieseln – da waren die Böden schön glatt.« Trieseln war ein damals beliebtes Kinderspiel – mit einem Kreisel, der mit einer kleinen Peitsche bewegt wurde. »Auf einem Foto sieht man mich in einem Spielanzug, mit der Trieselpeitsche. Da war ich fünf oder sechs Jahre alt. Ein Fotograf fragte mich, ob er mich fotografieren könne. Peter Blöser vor dem Laden in der Jordanstraße 1955 ...... und heute Später brachte er das Foto meiner Mutter. Sie war ganz entsetzt, weil ich doch nur den Spielanzug anhatte, keine Sonntagskleidung. Der Südpark vor unserem Haus mit dem Schwimmbad »Lutscher in Trieselform« war in den 30er Jahren angelegt worden. Früher war dort Peter Blöser, Jahrgang 1949, erinnert sich an das kleine Lebensmittelgeschäft, noch Torf gestochen worden. Eine Badeanstalt vor der Tür das seine Eltern in der Jordanstraße betrieben Frau Koch mit Trieselpeitsche war natürlich paradiesisch: In den Ferien zog ich morgens erst mal das Badezeug an und ging schwimmen – danach gab es Frühstück. »Das Foto wurde 1955 vor dem Geschäft meiner Eltern auf- Die Nachbarschaft kaufte damals die Grundlebensmittel »Die Ruinen waren Die Badeorte in Spandau waren wichtige Erholungsorte. genommen. Ich war damals knapp sechs Jahre alt, bei Blösers ein. In der Jordanstraße gab es eigentlich alles Es gibt noch ein Foto meiner Mutter mit ihren Freundin- April wurde ich eingeschult. für den Alltagsbedarf: »Einen Bäcker, einen Gemüseladen, nen vom ›Weißen Sand‹, ein Naturstrand an der . Die Meine Eltern eröffneten das kleine Lebensmittelgeschäft eine Drogerie an der Ecke zur Pichelsdorfer.« Die Erinne- unsere Spielplätze« jungen Frauen tragen Badekappen, im Hintergrund fährt 1955 in der Jordanstraße 4. Es bestand zwei Jahre. Das Ge- rungen an den kleinen Laden seiner Eltern sind immer Heidemarie Koch, Jahrgang 1943, wohnt noch ein altes Dampfschiff vorbei. schäft war so klein, dass es sich nicht allein tragen ­konnte, noch lebendig: »Damals kam noch der Eislieferant mit 1949 wurde ich in die 23. Volksschule eingeschult. Es gab deshalb übte mein Vater noch einen zweiten Beruf aus. Stangeneis in einer kleinen Truhe, damit wurde die frische immer im Haus ihrer Großeltern am Südpark keine Schiefertafeln mehr, sondern schon Schulhefte, Außerdem fuhr er auch Lebensmittel mit dem Fahrrad Kuhmilch gekühlt. Kühlschränke gab es ja noch nicht. Die aber die waren noch knapp. Unsere Lehrerin schrieb uns aus – das war sozusagen der Vorläufer der heutigen Liefer- Milch wurde mit Schöpfkellen in Flaschen abgefüllt – spä- Heidemarie Koch tischt Waffeln mit himmlischer selbst- Texte im Heft vor, die wir dann in Schreibschrift nach- services. ter gab es dann eine Milchpumpe. gemachter Rhabarber-Himbeer-Sauce auf. Das passt gut schrieben. Das war die ›ganzheitliche Methode‹, so lernte Nach zwei Jahren mussten meine Eltern den Laden aber In unserem Laden gab es eigentlich alles: Milch, Käse, zur warmen Frühlingssonne. man von Anfang an korrekte Rechtschreibung. schon wieder schließen, weil meine Mutter sehr krank Wurst, Kaffee, Mehl, Zucker, Getränke, Süßigkeiten … Es Vor dem kleinen Reihenhäuschen genießen Kinder und In der Nachkriegszeit gab es in den Geschäften noch we- war.« gab auch Erbswurst, das war so eine Paste in Salamiform, Jugendliche die ersten Frühlingstage bei Beachvolleyball nig zu kaufen. Ich empfand das nicht als schlimm; ich Während Peter Blöser erzählt und sich vor dem Laden fo- aus der dann Erbsensuppe gemacht wurde. Wurst und Kä- im gepflegten Südpark. Familien picknicken unter den kannte es ja nicht anders. Vor dem Milchladen gab es im- tografieren lässt, so wie damals als kleiner Junge, erschei- se kaufte man damals in sehr kleinen Mengen ein, es wur- Bäumen, ein älterer Herr sonnt sich auf einem Liegestuhl. mer lange Schlangen. Wenn die Milch alle war, wurde der nen die heutigen Inhaber: Die Familie Leppin betreibt seit de im Gramm abgewogen oder in Pfund. ›Ein Achtel‹ wa- Heidemarie Koch lebt immer noch im Haus ihrer Familie. Laden geschlossen, und die noch Wartenden gingen leer 1961 hier ein Geschäft für Haustechnik und Sanitäraus- ren 62,5 Gramm. Meine Mutter stand hinter dem großen Das Reihenhäuschen hatten ihre Großeltern in den 30er aus. Als Kind holte ich oft mit der Milchkanne frische stattung, ihr gehört auch das Haus. Erst ist das Ehepaar Verkaufstresen und bediente. Bei uns kauften vor allem Jahren in Erbpacht gekauft, als es gerade errichtet worden Milch vom Kuhstall in der Adam-/Jägerstraße. Den gab es zurückhaltend – angesichts der fremden Menschen, die Stammkunden aus der Nachbarschaft ein, die Ansprache war. Hier wohnten ihre Großeltern, die Eltern, sie selbst, auch noch in den 70er Jahren. vor ihrem Laden fotografieren. Doch schnell kommt man war immer sehr persönlich. später auch ihre eigene Familie mit Mann und Kindern. Ich hatte keine Geschwister. Aber meine Mutter war Kin- miteinander ins lebhafte Gespräch: Peter Blöser und das Als Kind freute ich mich über den sogenannten ›Schokola- Heute würde man das winzige Häuschen wohl ein »Mehr- dergottesdiensthelferin in der Melanchthon-Gemeinde, Ehepaar Leppin tauschen sich aus über frühere Nachbarn, denbruch‹ und auch über die Lutscher in Trieselform, mit generationenhaus« nennen. »Meine Oma, meine Mutter und dort waren oft viele Kinder zusammen. Es gab also über die Ställe des Bauern Feldbinder, die sich früher im einer Figur als Stab. Die waren fürchterlich süß – aber ich und ich wohnten hier zeitweise zusammen.« viele Freundschaften, und ich war eigentlich mein ganzes Hof der Jordanstraße befanden, über die Gebäude und Lä- war damals sehr beliebt in der Schule!« Peter Blöser lacht. Heidemarie Kochs Eltern heirateten 1942. Sie kam im Au- Leben lang immer in irgendwelchen Grüppchen – ob im den in der Umgebung – Wilhelmstädter, auch wenn sie Er besuchte die Volksschule in der Földerichstraße, seine gust 1943 zur Welt. Ihren Vater kennt sie nur von Fotos. Er kirchlichen Jugendtreff in der Pichelsdorfer Straße, wo sich bislang nicht kannten, finden schnell Verbindendes. Freunde wohnten in der unmittelbaren Umgebung. »Im wurde im Zweiten Weltkrieg als vermisst gemeldet. Als sie wir spielten und sangen, oder später im Turnverein, wo Frau Leppin zeigt uns den Hof des Mietshauses Jordan- Grunde gab es damals schon Ansätze von Integration – in 13 Jahre alt war, wurde er schließlich für tot erklärt. Er soll wir Square Dance machten oder wanderten. straße 6, den sie liebevoll mit Pflanzen und Blumen ge- meine Klasse gingen beispielsweise auch zwei Kinder, die in Österreich gefallen sein. Als Jugendliche gingen wir gern tanzen, es gab zum Bei- staltet hat. Hier treffen sich die Mieter des Hauses öfter leicht geistig behindert waren. Wir hatten eine sehr mu- Auf die kleine Siedlung am Südpark fielen gegen Kriegs- spiel in den Spandauer Festsälen Bälle, auch den Ab- zum Grillen. Hinten steht immer noch das alte Stallge- sikbegeisterte Klassenlehrerin, die mit uns musizierte. ende Bomben. Das Haus war zerstört und unbewohnbar. schlussball unserer Tanzschule. Beim Osterball im Schüt- bäude, an das sich auch Peter Blöser noch gut erinnert: Ich war nicht besonders begabt – ich spielte die Triangel. Die Familie bekam eine Behelfswohnung zugewiesen, in zenhof lernte ich mit 16 Jahren meinen späteren Mann »In Spandau gab es zwei Ställe des Bauern Feldbinder – ei- Neben den obligatorischen Fächern gab es damals auch der Brüderstraße. kennen – und meine Freundin ihren Mann. Die beiden nen in der Jägerstraße, und diesen in der Jordanstraße. noch Nadelarbeit und Werken.« Täglich ging Heidemarie Kochs Mutter trotzdem zum Haus Männer waren miteinander befreundet.« Oben lagerten Heu und Stroh, zum Spielen war das wun- Noch heute sehen sich die einstigen Schüler bei Klassen- der Familie. »Sie hängte handgeschriebene Zettel auf für (aufgezeichnet von Ulrike Steglich) derbar. Wie Landleben.« treffen wieder. (aufgezeichnet von Ulrike Steglich)

4 5 Nach dem Krieg war es für mich eigentlich eine schöne »Auf dem Hof durfte Kindheit und Jugend. Wir hatten nicht viel, aber im Ver- »Den Kindern gleich zu anderen ging es mir gut. Ich hatte eine Schild- kröt-Puppe und einen Puppenwagen, mein Bruder und man nicht spielen« ich hatten sogar einen Roller. Das war damals ein Schatz. gehörte die Straße« Brigitte Kühn, Jahrgang 1934, lebt seit zehn Jahren Damit fuhren wir die Adam- und Melanchthonstraße ent- Jürgen Böhmer, Jahrgang 1939 lang, und andere Kinder fragten uns: ›Lässt du mich auch in der Gatower Straße. Bis dahin war die Melanchthonstraße mal fahren?‹ lebt noch heute in seinem Geburtshaus ihr Zuhause. Die Straße war unser Spielort. Auf dem Hof durfte man ja nicht spielen, da kam sofort der Hauswart. Auch im Süd- park war Spielen damals nicht erlaubt. Also spielten wir auf der Straße, es gab ja kaum Autos. Aber wenn wir mit dem Ball in der Melanchthonstraße spielten, regten sich die Erwachsenen trotzdem auf. Im Südpark machte man Sonntagsspaziergänge, man ging zum Ententeich, für die Kinder gab es ein Eis. Auf al- ten Fotos sieht man noch die Pferde im Südpark, eine Skulptur, die 1933 aufgestellt wurde. 1942 wurde sie dann abmontiert – das Metall wurde für die Rüstungsindustrie gebraucht. Jürgen Böhmer wurde im Eckhaus Pichelsdorfer Spannend war für uns Kinder auch die Totenhalle an der Straße/ Franzstraße geboren und hat dort sein Gatower Straße – das Backsteingebäude, in dem sich heu- ganzes Leben lang gewohnt, bis heute. Er fühlt te das Lokal G7 befindet. In der Totenhalle wurden Selbst- sich sehr verbunden mit seinem Geburtshaus mörder und unbekannte Tote aufgebahrt. Wir fanden es und seinen damaligen Spielkameraden – den aufregend, durch das Schlüsselloch zu schauen. Wenn wir Geschwistern und Nachbarskindern. Von den Kinder glaubten, dort Särge zu sehen, riefen wir: ›Kommt einstigen Gefährten leben heute einige nicht mal, da is was los!‹ mehr, andere sind weggezogen. Jürgen Böhmer Zwischen Melanchthon-, Adam- und Gatower Straße be- ist geblieben und erinnert sich: fand sich das Stift für ältere Damen. Außerdem eine klei- ne Parkanlage, wo wir oft auf den Bänken saßen und »Das Haus, der Hof und die Straße – das war ›Schwarzer Peter‹ spielten. Dort gab es auch einen Bunker, unser Universum. In unserem Haus lebten Brigitte Kühn (in der Mitte sitzend), in der 1. Klasse, 1940. wo während der Kriegsbombardements Mütter und Kin- viele Kinder, gemeinsam haben wir ständig der Schutz suchten. Sie konnten schon abends dort hin- Streiche ausgeheckt. Aus der nahe gelege- gehen und schlafen.« nen Glasfabrik, die Laborgegenstände her- Jürgen Böhmer während eines Sonntagsspaziergangs mit seinem Vater, 1941. stellte, sammelten wir entsorgte Glasröhr- Das Kind trug die Verantwortung in Gestalt einer Kamera, Marke Agfa Klax »Das Foto von 1940 zeigt unsere erste Klasse in der 12. Auch nach dem Krieg blieb der chen und beschossen damit heimlich Fuß- Volksschule Földerichstraße. Wie man sieht, war es da- Bewegungsradius überschaubar. gänger mit Holunderbeeren. Die hinterlie- mals eine typische reine Mädchenschule – die Schule für »Alles Schöne gab es ja in der unmittelbaren Umgebung. ßen wunderbare Flecken. Wenn wir unsere die Jungen war gleich nebenan. Mit meinem kleinen Bruder verbrachte ich im Sommer oft Munition verschossen hatten, hieß es: Beine­ mit Knete beklebten, um sie zu beschweren. Tortenstücke und Braten. Das Bild des prall Das Mädchen in der Mitte bin ich. Warum ich dort platziert den ganzen Tag in die Badeanstalt. Sonntags besuchten in die Hand nehmen und rennen, so schnell Oder wir haben Olympiade gespielt. Mein gefüllten Rucksackes und der strahlende wurde, weiß ich nicht mehr. Ganz hinten in der Mitte­ wir manchmal das Tropfsteinkino, für 50 Pfennig sahen du kannst! Vater hat den Siegern wunderbar verzierte Blick meines Vaters über die glücklichen sieht man unsere Lehrerin, Fräulein Wernicke. Die unver- wir Märchen oder ›Pat und Patachon‹. Natürlich hatten wir ständig Angst, erwischt Medaillen aus Pappe geschenkt. Kinderaugen sehe ich vor mir, als sei es ge- heirateten Lehrerinnen wurden damals mit ›Fräulein‹ an- Nachdem ich die achte Klasse abgeschlossen hatte, ­machte zu werden. Besonders vor der Polizei nahmen Mein Vater war sehr beliebt bei uns Kindern, stern gewesen. gesprochen. Die jungen Mädchen links und rechts pass­ ich eine Lehre zur Maßschneiderin. Als Jugendliche war wir uns stets in Acht. Damals, kurz nach denn er hat sich viel mit uns beschäftigt. Mein Vater war ein großes Vorbild für mich. ten auf uns auf. ich eine ›Ausgeherin‹. Anfang der 1950er Jahre gab es hier dem Krieg, wurden Zucht und Ordnung Während des Krieges und auch danach ging Von ihm lernte ich, dass eine gut funktionie- 1940 war für uns Kinder in Berlin vom Krieg noch nicht viel viele Laubenkolonien und auch viele Laubenpieperfeste, noch groß geschrieben. Die Kinder waren in es uns wirtschaftlich sehr schlecht. Man rende Gemeinschaft besonders in schwieri- zu spüren.« auch am Südpark – mit Kettenkarussell, Schießbude, Eis, ihren Freiheiten und Rechten sehr einge- konnte nicht einfach losgehen und was gen Zeiten große Kräfte entwickeln kann. Musik, Tanz. schränkt, anders als heute. Wir durften Neues kaufen. Doch mein Vater hat das mit Unmittelbar vor Kriegsende, im April 1945, »Sie fingen da ja schon an zu siegen«, sagt Frau Kühn Wir sind als Jugendliche oft schwoofen gegangen, ich nicht einmal den Rasen zum Spielen betre- seiner Kreativität und seiner Geduld ausge- war eine Brandbombe ins Dach geschlagen heute ironisch. Damals, als Sechsjährige bekam sie tanzte gern. Man hat dann geguckt, welcher Junge gut ten und ich erinnere mich an ein Schild des glichen und dabei immer große Würde aus- und hatte den gesamten Dachstuhl des Auf- vom Geschehen, von den mörderischen Feldzügen der tanzen kann ... Die Fest-Termine – im Schützenhaus oder Hausbesitzers, das in unserem Hausflur gestrahlt. Vor dem Krieg war er Schriftmaler ganges Franzstraße 1 in Brand gesetzt. Auf Nazis noch nicht viel mit. Sehr lebendig sind aber ihre im Südpark – sprachen sich so herum. Wir sind als Freun- hing, mit der Aufschrift: ›Das Umherstehen und hat die Schilder zahlreicher Geschäfte dem Hof unseres Hauses befand sich eine Erinnerungen an die Zeit, als der Krieg nach Berlin desgruppe überallhin ­gegangen zum Tanzen, egal wo und vor der Haustür sowie das unnütze Aufhal- in der Wilhelmstadt angefertigt. Ich war im- Schwengelpumpe. Die Mieterschaft bildete zurückkehrte – auch in Spandau fielen Bomben. wann. An einer Cola oder Brause hielt man sich dann den ten auf Hof, Fluren und Treppen ist streng mer sehr stolz, wenn ich im Vorbeigehen die eine Wassereimer-Kette vom Hof bis hinauf »1945, als die russische Armee kam, tobten hier die End- ganzen Abend fest. Die kostete ungefähr eine Mark. Als verboten!‹ feine Handwerkskunst an den Geschäfts- in die dritte Etage. Mit viel körperlichem Ein­ kämpfe um die Wehrmachtskasernen. Die Erinnerungen an Lehrling hatte ich 56 Pfennig Stundenlohn, im Monat ver- Trotzdem haben wir uns freier bewegt, als fassaden entdeckte. satz gelang es, den Brand einzudämmen. die Flakkämpfe, die Granaten, die Angst, die ich damals diente man ca. 20 Mark. Davon bezahlte ich auch noch Kinder das heute tun können. Die Straße ge- Nach dem Krieg arbeitete mein Vater als Nachdem die Bewohner viele Stunden Was- hatte, kommen heute noch immer wieder hoch. Manchmal meine Nähmaschine ab. hörte uns, denn damals fuhren kaum Autos. Ober­kellner. An einem Heiligabend, es muss ser schleppten, trafen sich alle an der Pum- schrecke ich nachts auf, weil mich diese Bilder verfolgen. Ich habe dann bis zur Rente in der Modebranche gearbei- Die Franzstraße war die einzige asphaltierte 1946 oder 1947 gewesen sein, kam er mit ei- pe, um sich dort abzukühlen. Seitdem war Die Kasernen wurden nachts öfter von Anwohnern ge- tet: erst im Modehaus Prill, nach dessen Insolvenz war es Straße in der Wilhelmstadt, hier konnten nem Rucksack voller Lebensmittel von sei- die Pumpe für mich das Symbol für den gro- plündert, weil es dort Lebensmittel gab. Auch meine dann das Modehaus am Juliusturm.« wir wunderbar Rollschuh fahren. Auf den ner Schicht nach Hause. Von der Weihnachts­ ßen Zusammenhalt der Hausgemeinschaft – Mutter ging mit mir dorthin. Ich hatte große Angst, es war (aufgezeichnet von Ulrike Steglich) Bordsteinkanten haben wir mit kleinen Au- feier der britischen Militärverwaltung hatte auch in Zeiten größter Not.« dunkel, die Granaten ... tos Rennen organisiert, die wir von unten er einige Reste mitbringen dürfen: große (aufgezeichnet von Nathalie Dimmer)

6 7 gut handeln, es war ja eine Zeit der Tauschwirtschaft: Ihren Die letzte Fahrt der Führerschein zahlte sie damals mit zwei Kilo Butter. Als Straßenbahn Nr. 75, 1966 mein Vater dann zurückkehrte, gab es natürlich Konflikte: Denn inzwischen hatte die Mutter bei den ­Geschäftsfragen die Hosen an. In der Nachkriegszeit wurden sehr viele Spirituosen kon- sumiert. Aus großen 50-Liter-Kruken wurden die Geträn- ke in Flaschen umgefüllt. Wir hatten damals auch eine große Schnaps-Reklame am Regina-Kino. Die Ladenkasse wurde damals noch mit einer Kurbel be- dient. Die Milch wurde aus mit Zink ausgekleideten Behäl- tern geschöpft und in Kannen umgefüllt. Es gab noch kei- Ich kam 1944 am heutigen Brunsbütteler ne Kühlschränke – der Eismann brachte mit dem Pferde- Damm zur Welt. In den letzten Kriegstagen fuhrwerk die Eisstangen zur Kühlung. Als die Lebensmittel wurden wir dort von der Wehrmacht rausge- noch rationiert waren, wurden Lebensmittelmarken für die schmissen, weil es Kampfzone war. Dann Zettel zur Neueröffnung 1957 Der Vater an der Milchtheke Zuteilungen geklebt. Später gab es dann Rabattmarken. kamen die Russen. Nach Kriegsende lag das So um 1953 bekam der Laden dann ein elektrisches Kühlsy- Haus in Schutt und Asche, wir bekamen ein stem und neue elektrische Kassen. Der Laden wurde auf 28 Notquartier in der Wilhelmshavener Straße Quadratmeter erweitert – durch unser Wohnzimmer. und später eine Wohnung in der Pichelsdor- 1957 wurde dann ein weiteres Zimmer hinzugenommen fer Str. 19. Das war Luxus: mit fließend war- und der Laden damit auf 68 Quadratmeter erweitert. Und mem Wasser aus der Wand. Freunde meiner das Wichtigste: Das Geschäft wurde auf Selbstbedienung Eltern kamen deshalb oft aus , um umgestellt, auf »Freie Wahl«, wie man es damals nannte. bei uns zu baden. Falkensee gehörte zur

Eröffnet wurde am 19.9.1957. Es war ein Wagnis, es war ja LUTZ NORBERT BARTEL Ostzone. Die Straßenbahnschaffner hatten erst der dritte Selbstbedienungsladen in ganz Berlin. Mei- aber kein Ostgeld zum Wechseln – deshalb ne Mutter fürchtete, dass die Kunden wegbleiben könn- wurde ich als Kind oft zum Straßenbahnhof ten. Wir Kinder mussten Werbezettel verteilen: ›Jetzt wird geschickt, um dort mit Ostgeld Fahrscheine das Einkaufen zum Vergnügen‹. Auf einem Aushang wur- Die letzte Fahrt der Linie 75 zu kaufen. Geschäftsansicht von 1953, nach dem ersten Geschäftsumbau de den Kunden erklärt, wie Selbstbedienung funktioniert. Lutz Norbert Bartel, Jahrgang 1944, erinnert sich noch lebhaft an die Der Pichelsdorfer Straßenbahnhof war durch Trotzdem wurde auch weiterhin Bedienung angeboten, den Krieg stark geschädigt worden – bis zu wenn das gewünscht war. Meine Mutter ging mit den Kun­ Straßenbahnlinie 75 – und an das WM-Endspiel 1954 seiner Abschaffung in den 60er Jahren wur- »Freie Wahl« den die Regale entlang und suchte mit ihnen die Waren den die Schäden nie beseitigt. Das Dach war zusammen. Das Volksblatt schrieb damals ›Das Kaufen nur noch ein Gerippe. Zum Straßenbahnhof Hans-Joachim Schultka, Jahrgang 1938, über das macht Spaß‹. kamen die Schaffner mit der Kasse und Feinkost- und Lebensmittelgeschäft seiner Eltern Meine Eltern haben nur geackert. Mein Vater stand jeden machten dort ihre Abrechnung. Am Ein- Morgen zwischen drei und vier Uhr auf, um die Frisch- »Für die Wilhelmstädter war die Straßen- 1966 wurde die Straßenbahnlinie eingestellt gang Weverstraße wurden Wochen- und »Auf dem Foto sieht man unseren Laden in der Metzer milch der Meierei Bolle persönlich abzunehmen. Sams- bahnlinie 75 die ›geliebte‹ Route, um vom und durch Busse ersetzt. Mein Kumpel und Monatskarten verkauft. Straße 14 / Földerichstraße 75. Es war das dritte Geschäft in tags war bis 19 Uhr geöffnet. Sonntags wurde Sahne ge- Süden Spandaus zur täglichen Arbeit oder ich wollten bei der letzten Fahrt der 75 unbe- Als Kinder spielten wir oft an der Pichelsdor- ganz Berlin, das Ende der 50er Jahre auf Selbstbedienung schlagen, für den Sonntagsbesuch unserer Kunden bei zur Westberliner Innenstadt zu fahren. Um- dingt dabei sein, deshalb blieben wir bis tief fer Ecke Heerstraße, einem noch unbefestig- umstellte. Das war damals schon eine kleine Revolution. Kaffee und Kuchen. Die Kunden bestellten vor, und weil gangssprachlich fuhr man mit dieser Linie in die Nacht auf. Für die letzte Fahrt war ein ten Stück Straße. Mit Baumteilen bauten wir Das Geschäft war ursprünglich von der Konsum-Genos- der Sonntagsverkauf ja nicht erlaubt war, wurde die Sahne von der Wilhelmstadt entweder nach Span- alter Straßenbahn-Bautyp eingesetzt wor- uns Tore fürs Fußballspielen. Für Kinder gab senschaft als Kolonialwaren-Geschäft eröffnet worden dann hintenrum durch den Hausflur abgeholt. Außerdem dau – damit war die Altstadt gemeint – oder den. Die Bahn war geschmückt, und schon es in der Pichelsdorfer noch etwas ganz Be- und wurde 1928 von meinen Großeltern – sie hießen Wü- wurden Lebensmittel auch an Kunden geliefert, wenn das nach Berlin, womit der Bereich ab Charlot- während der Fahrt wurden Teile als Erinne- sonderes: einen Verleih für Roller mit Luft- stenberg – als Lebensmittelladen übernommen. Meine gewünscht wurde – ohne Liefergebühr natürlich. tenburg, Wilmersdorfer Straße gemeint rungsstücke demontiert, Schilder und ähn- bereifung und Kinderräder, die damals Bam- Familie führte ihn dann fort bis 1960. Meine Eltern investierten sämtliche Zeit und alles Geld war. Die 75 führte von Hakenfelde bis zum liches. Auch mir wurden Schilder in die Hand bi-Räder genannt wurden. Die Mietgebühr Mein Vater betrieb in seinen jungen Jahren zunächst ein immer in den Laden. Ich begann dann ein Studium als Zoo an der Kantstraße. Auch ich fuhr mit gedrückt. Ich hatte einen einfachen Fotoap- betrug, glaube ich, 50 Pfennig pro Stunde. kleines Geschäft im Spreewald. Bei einem Fest lernten Bauingenieur, aber als Sohn sollte ich den Laden über- dieser Straßenbahn zur Arbeit nach Char- parat dabei, der Blitzer funktionierte nur Ein wunderbares Erlebnis hatte ich als Kind sich meine Mutter und mein Vater kennen, sie heirateten nehmen. Also brach ich das Studium ab und begann eine lottenburg: seit 1960 machte ich eine kauf- mit kleinen Birnchen. im Sommer 1954 in der Weißenburger Stra- 1937 und übernahmen bald den Laden in der Metzer Stra- Lehre bei meinem Vater. In der Berufsschule war ich der männische Lehre nahe der Gedächtniskirche. Die Fahrt führte regulär vom Zoo bis Haken- ße 18 oder 19. Dort besaßen die Eltern einer ße von meinen Großeltern. Er war ursprünglich nur 13 erste, der schon nach zwei Jahren mit der Ausbildung fer- Bei Karstadt Sport war später Endhaltestelle.­ felde und danach zum alten Betriebsbahn- Schulkameradin eine Toto-Lotto-Annahme- Quadratmeter groß und wurde dann erweitert auf 28 Qua- tig war. Ich machte meinen Kaufmannsgehilfenbrief, dann Weil es dort keine Wendeschleife gab, fuhr hof. An der Pichelsdorfer Ecke Heerstraße stelle. Der Besitzer des Geschäfts hatte da- dratmeter. Es gab noch drei oder vier Lebensmittelläden volontierte ich in einer Brennerei, lernte weiter im Labor die Bahn mit zwei Triebwagen, der Fahrer stand ein Stehgeiger und spielte auf. Außer- mals – für die Zeit noch sehr ungewöhn- in der unmittelbaren Umgebung. Aber weil es vor dem einer Weinbaulehranstalt und arbeitete ein Dreiviertel- stieg dann einfach vom einen in den ande- dem ließ es sich Lilo Ruschin nicht nehmen, lich – ein Fernsehgerät aufgestellt, wo eini- Krieg eine Preisbindung gab, machten sie sich keine Kon- jahr auf einem Weingut in Bordeaux. Das war eine wun- ren Wagen um. War der hintere Fahrersitz allen Fahrgästen einen Schluck Feuerzan- ge Eingeladene das Glück hatten, das End- kurrenz und konnten alle leben. derbare Zeit, ich lernte viel über Weine und natürlich auch frei, setzte ich mich gern dorthin. genbowle auszuschenken. ­Lilo Ruschin war spiel der Fußball-WM mit dem legendären Mein Vater war gelernter Kaufmann, doch seit ­Kriegsbeginn die französische Sprache. Neben dem Fahrer gab es damals noch ei- eine Institution im Gebiet, ihr Lokal ›Histo- Berner Sieg der deutschen Nationalmann- wurde er zusätzlich auch noch zum Polizeidienst in Hasel- Und dann erreichte mich plötzlich ein Brief meiner Eltern, nen Schaffner, der das Fahrgeld kassierte. rischer Weinkeller‹, in dem auch viele Pro- schaft sehen zu können. Zu diesen glückli- horst verpflichtet. Später wurde er dann zum Krieg einge- dass sie den Laden verkauft hätten – obwohl sie ja immer Eine Fahrt mit Umsteigemöglichkeit koste- minente verkehrten, war so legendär wie ih- chen Zuschauern gehörten auch mein Vater zogen und musste an die Ostfront. Erst 1948 kam er aus wollten, dass ich ihn weiterführe. Was sie dazu bewogen te damals für Erwachsene 30 Pfennig, für re Feuerzangenbowle. und ich. Die Erwachsenen sangen dann die russischer Kriegsgefangenschaft zurück. hat, weiß ich nicht.« Kinder 15 Pfennig. – Später, als die Busse die Die gußeiserne Nr. 75, die an der Frontseite Nationalhymne.« Inzwischen musste sich ja meine Mutter um alles küm- Der Weinfreund Hans-Joachim Schultka blieb noch lange Straßenbahn ersetzten, kassierten dann die der Straßenbahn hing, nahm ich zum Es war wohl der erste Vorläufer des heutigen mern, um das Überleben der Familie und das Geschäft. Sie der Branche treu und arbeitete mehrere Jahrzehnte im Le- Busfahrer selbst – bis heute. Schluss als Andenken mit. Jetzt ist sie in der Public Viewings. entdeckte dabei ihr kaufmännisches Talent. Sie konnte­ bensmittelhandel. (aufgezeichnet von Ulrike Steglich) Ausstellung zu sehen. (aufgezeichnet von Ulrike Steglich)

8 9 Marianne Wilhelm (2.v.l.) Gurke holte ich oft Schrippen und Knüppel, und Nachbarskinder, mein Vater liebte diese länglichen Brötchen. Der Zusammenhalt war stark, ein sehr gutes Miteinander. ca. 1960 Wir Kinder aßen gern ›Trullis‹, das waren so »Ach – das warst Du?« Man passte aufeinander auf. Das war für mich am prä- tütenförmige Nudeln, und Makkaroni, weil Ina Bittroff, Jahrgang 1960, schätzt besonders die Vertrautheit gendsten. Wenn ich als kleines Kind über die Straße zur man da so schön reinpfeifen konnte. Jeden und gute Nachbarschaft der Wilhelmstadt Mutter wollte, fanden sich immer Ladenbesitzer, die Sonntag schnippelte mein Vater Obstsalat, mich ganz selbstverständlich über die Straße brachten. das war sein Ritual. Wir mochten auch den Noch heute kennen sich viele untereinander, vor allem kalten Grießpudding, den meine Mutter im die Älteren. Ein Marktbesuch ging auch nie unter drei Sommer machte – in einer traubenförmi- Stunden ab, weil man immer Bekannte traf. gen Porzellanform kühlte er ab und wurde Als ich 1999 meinen Sohn in der Földerich-Grundschule dann kunstgerecht gestürzt. Weil es damals anmeldete, die ich selbst als Kind besucht hatte, ging ein kein Schulessen gab, kochte meine Mutter Lehrer an mir vorbei, kam zurück, schaute mich wieder an jeden Mittag für uns, ganz klassisch gab es und sagte: ›Du bist doch die Ina.‹ Und meine frühere Eng- dann auch Nachtisch. lischlehrerin sehe ich immer noch fast wöchentlich. Mit 19 zog ich von Zuhause aus – von der Mein Schulweg führte damals von der Jägerstraße über Földerichstraße 59 in die Földerichstraße die Adamstraße zum Földerichplatz, vorbei am Kuhstall 63, wo auch meine Oma wohnte. Und gleich des Bauern Feldbinder. Die Bauersfrau und ich grüßten gegenüber wohnte ja immer noch meine uns immer. Manchmal gaben mir meine Eltern altes Brot »Manchmal ließ ich meine Mutter – ich war also stets gut behütet! mit: ›Wirf das mal beim Bauern in die Tonne!‹ – als Tierfut- Ich war nicht so der Ausgehtyp. Als Kind ging ter. Ein paar Schritte weiter, am Eisenwarenladen, be- Mutter ein paarmal pfeifen …« ich manchmal ins Kino Regina, dort schau- grüßte mich immer der Hund des Besitzers. te man sich damals diese Pauker-Filme an. Irgendwann, so um 1975, gab es auf dem Feldbinder-Hof Marianne Wilhelm, Jahrgang 1955, wohnte nur ein halbes Jahr Später, als Heranwachsende, setzte ich mich einen Wurf junger Kätzchen, der damalige Knecht zeigte außerhalb der Wilhelmstadt ab und an mit meinem Freund in die Pizze- mir die Kleinen. Ich wollte unbedingt ein Kätzchen haben ria in der Pichelsdorfer Straße 65, wo wir Piz- Ina Bittroff mit Ihrer Mutter und dem Kinderfreund Kurt, 1971 und bekniete meine Eltern. Schließlich durfte ich mir ei- »Ich bin in der Földerichstraße aufgewach- fand das toll – ein ganzer Schlafraum voller za aßen und Marsala tranken, diesen schwe- Foto: Heinz Hermann (Vater) nes aussuchen. Noch heute treffe ich den damaligen Knecht sen. Das Foto zeigt die Nachbarskinder und Kinder ... ren Rotwein. – Heute ist dort die Pizzeria manchmal beim Einkaufen – er erinnert sich immer noch mich ca. 1959 oder 1960. Ich bin das Mädchen­ Ich kann mich auch noch gut an den großen Portofino. an den Kater, der lange in unserer Familie lebte. mit dem Fahrrad. Markt an der Földerich-/ Ecke Zimmerstra- Mit 18 machte ich meinen Führerschein. Weil Wer Ina Bittroff zu Hause besucht, muss sich auf eine Wir waren als Kinder nicht so behütet, wie es heute eher Die Häuser in der Földerichstraße wurden ße erinnern. Dort gab es zahlreiche Händler unsere Familie kein Auto hatte, kaufte ich hals­brecherisch steile, enge Treppe gefasst machen. »Erst- üblich ist. Wir hatten viele Freiräume und spielten auf der 1954 errichtet. Das waren alles kleinere Woh- entlang der vielen Gänge. Immer, wenn wir dem Fahrlehrer der Fahrschule einen ge- bebauung der Adamstraße«, lacht Frau Bittroff: Das schma- Straße Einkriege oder Wilde Sau. Und fast jedes Kind aus nungen. Dafür gab es einen riesigen Hof. zum Markt gingen, war es ein Ritual, dass brauchten Opel Kadett ab, für 800 Mark. Das le Wohnhaus Adamstraße 42 wurde um 1870 errichtet. Im der Wilhelmstadt hat auf dem ›Exer‹, dem früheren Exer- Wir spielten dort oft ›Ball an die Wand‹ und wir Kinder ein frisches Wiener Würstchen war für mich damals sehr viel Geld. Ich war Hof befindet sich eine alte Remise. Ihr kleines Büro hat zierplatz, das Fahrradfahren und Rollschuhlaufen gelernt. donnerten die Bälle an die Garage im Hof. auf die Hand bekamen. Der Markt war faszi- stolz wie Bolle bei der ersten Fahrt, zu der die selbstständige Betreuerin von Kleinunternehmen im Die Rollschuhe hatten damals noch vier Räder, angeord- Darüber regte sich immer die ›Katzenfrau‹ nierend für uns: die lebenden Aale in den ich meinen jüngeren Bruder mitnahm. Für Keller des Hauses eingerichtet. net wie bei einem Auto ... Im Winter konnte man auf dem im Haus auf – eine Dame, die Katzen besaß. Bottichen, die großen Fässer mit frischem Anfänger war es nicht so gefährlich – 1974 Wie viele aus der Gruppe, die die Ausstellung erarbeitete, Exer auch Schlittschuh fahren. Es muss ja auch einen fürchterlichen Krach Sauerkraut und sauren Gurken. gab es ja noch wenig Autoverkehr auf den lebt auch sie schon immer in der Wilhelmstadt. Diese Ab Anfang der 60er Jahre entstanden dann die ersten rich- gemacht haben mit den Bällen. Frische Milch holten wir damals noch vom Straßen. Wenn Familienbesuch kam, hieß starke Ortsbindung der Bewohner, die familiären Verhält- tigen Spielplätze. Aber für Kinder gab es ja noch andere, Außerdem spielten wir Hopse und malten Bauern Feldbinder – blieb Milch übrig, konn- es dann immer: ›Marianne fährt dich nach nisse, die Freundschaften und langjährigen Bekannt- einfache Attraktionen: Spannend für uns war beispielswei- dafür mit Kreide die Quadratfiguren auf das te man daraus noch Dickmilch machen. Hause!‹ Und weil der Gebrauchtwagen na- schaften prägen das Viertel. se der Markt auf der Földerichstraße mit festen Buden. Oft Straßenpflaster. Später spielten wir auch Wir Kinder spielten damals meist draußen, türlich auch rostige Stellen hatte, standen »Das Foto entstand, als ich zehn Jahre alt war. Ich stehe mit saßen wir vor der Zinkwanne des Fischhändlers und beob- Gummitwist und ›Abnehmen‹ oder ärger- zum Beispiel Räuber und Gendarm. Zwi- mein Freund und ich am Wochenende oft meiner Mutter und dem Nachbarsjungen Kurt vor unserer achteten fasziniert die lebenden Aale, die darin herum- ten die Jungs mit ›Juckpulver‹ – das waren schen meiner Mutter und mir gab es die ein- auf der Straße und flickten den Wagen. Er Haustür in der Jägerstraße. Kurt und ich waren befreundet schwammen. – Die Gegend hatte einfach ihren Charme. die kleinen Kerne, die wir aus den Hagebut- fache Abmachung, dass ich zum Abendbrot hatte auch viele Aufkleber: die damals be- und spielten oft zusammen. Die Nachbarschaft im Haus Auf der Adamstraße fanden später oft Straßenfeste statt, ten auf dem Hof pulten.« zu Hause sein sollte, so gegen 18 Uhr. Wenn liebten Prilblumen und anderes.« war sehr eng, man kümmerte sich umeinander. auch zusammen mit den Alliierten. An der Kreuzung ich beim Spielen die Zeit vergaß, pfiff meine Kurt hatte einen Stiefvater; seine Mutter war damals, als Adam-/Földerichstraße stand die Bühne. Ich erinnere mich, Gummitwist und ›Abnehmen‹ waren klas- Mutter vom Balkon, sie hatte da eine ganz Nach der 10. Klasse hatte Frau Wilhelm das Foto entstand, schwer krebskrank, sie verstarb bald. dass ich als Erwachsene in einer warmen Sommernacht sische Mädchenspiele. Dabei ist unter spezielle Melodie, die ich sofort erkannte. beim Lette-Verein eine kaufmännische Kurt und ich verbrachten viel Zeit miteinander. Der Stief- auf der Hollywoodschaukel auf der Terrasse in der Adam- ›Abnehmen‹ keine Essstörung oder Heidi- Aber manchmal ließ ich sie dann einfach Lehre gemacht und wurde danach beim vater heiratete später neu, und als der Stiefbruder Enno straße schlief. Am Sonntagmorgen weckte mich dann Klum-Wettbewerb zu verstehen – es ging auch ein paar Mal pfeifen ... Man wollte ja Sender Freies Berlin (SFB) angestellt. geboren wurde, zog Kurt zu seinen Großeltern nach Gie- plötzlich die sonore Stimme des Pfarrers Bursian, der an- vielmehr um ein Spiel mit einem Band, nicht als Erste das Spiel verlassen. Nach der Wende und der Berliner Wieder- ßen. Unser Kontakt riss damit leider ab. lässlich eines Kiezfestes eine Predigt hielt.« das man sich um die Finger spannte und Als Kinder kauften wir uns in den kleinen vereinigung fusionierte der Westberliner In die Jägerstraße waren wir 1958 eingezogen – meine El- Auch in der Adamstraße 42, wo sie heute wohnt, ist die damit unterschiedliche Figuren formte. Lädchen der Wilhelmstadt gern Süßigkei- SFB mit dem Ostberliner Rundfunk zum tern wohnen heute noch in unserer alten Wohnung. Es Nachbarschaft sehr vertraut, man kennt sich schon viele »Meine Mutter war Hausfrau, wie das Ende ten: Wassereis, einzelne Lutscher für zehn Rundfunk Berlin- (RBB), wo war damals eine Art Drei-Generationen-Wohnen: Großel- Jahre. »Der ›harte Kern‹ wohnt seit Mitte der 80er hier. Und der 50er und in den 60er Jahren ja oft üblich Pfennig, Lakritzpfeifen, Brausepulver, ›Zau- Frau Wilhelm noch heute arbeitet. tern, Eltern und ich. 1982 bezog ich dann meine erste eige- ich zieh hier nur noch mit den Füßen voran aus«, sagt Ina war. Mit fünf Jahren kam ich in den Kinder- berkugeln‹, die die Farbe wechselten beim »Eigentlich habe ich immer in der Wilhelm- ne Wohnung in der Adamstraße 40, klassischer Nach- Bittroff und lacht. garten der Melanchthon-Gemeinde. Aber Lutschen. Ich hatte so ein Oktavheftchen, in stadt gewohnt, abgesehen von einem hal- kriegsbau mit Ofenheizung. 1987 lernte ich meinen Mann Dass sie ihren heutigen Lebensgefährten, den sie 1998 traf, dort war ich meist nur bis mittags, weil mei- dem ich führen musste über meine Ta- ben Jahr in Bayern, weil mein Mann dort ei- kennen und zog zu ihm in die Adamstraße 42. schon viel länger kannte, stellten beide erst beim Durch- ne Mutter ja zu Hause war. Ich freute mich schengeld-Ausgaben. Irgendwie ist das bei nen Job bekam. Aber das ging schief und wir Es ist also alles sehr lokal für mich – eigentlich spielte sich blättern von Fotoalben fest. Er war wie sie in der Jägerstra- immer, wenn meine Mutter mal ›nach Ber- mir hängen geblieben: Noch heute führe ich kamen wieder zurück – wieder in die Wil- mein Leben immer in der Wilhelmstadt ab. Das Faszinie- ße großgeworden, sie hatten als Kinder oft miteinander lin‹ fuhr, wie es damals hieß – denn dann ein Haushaltsbuch ... helmstadt, Földerichstr. 63. Man hat ein- rende am Kiez rund um die Pichelsdorfer, Adam- und Föl- gespielt. Als sie die alten Kinderbilder sichteten, sagte sie durfte ich auch mal wie die anderen Kinder Die Wilhelmstadt war geprägt von diesen fach sein soziales Umfeld hier ...« derichstraße ist dieser geradezu dörfliche Charakter. Vie- irgendwann verblüfft: »Ach – das warst Du?« Mittagsschlaf im Kindergarten machen. Ich kleinen Läden und Geschäften. Beim Bäcker (aufgezeichnet von Ulrike Steglich) le hier kennen mich von klein auf. Ulrike Steglich

10 11 Der Archivar – Spurensuche mit Kamera »Da sind Harald Stein, Jahrgang 1948, dokumentiert seit Jahrzehnten die Veränderungen in der Stadt mit seinem Fotoapparat wir ja drauf!« Renate Keil (geborene Koch), Jahrgang 1937, lebt seit 1951 Wir treffen uns Ende April bei der jüngsten , wie sie sich im Lauf der Zeit ver- hof. In der Adamstraße 6. Und dort, wo heu- in der Genfenbergstraße Stolpersteinverlegung in der Pichelsdorfer änderten. Auch in den Ostberliner Altbau- te ›Nahkauf‹ ist, befand sich eine ­alte Remi- Straße. Die ­»Stolpersteine«, eine Initiative vierteln war er oft mit seiner Kamera unter- se mit der Melkerei vom Bauern Feldbinder. des Künstlers Gunter Demnig, erinnern an wegs, zusammen mit seinem Vater. Und na- Mir ging es immer darum, den Wandel und jüdische Bürger, die von den Nazis depor- türlich besitzt er viele Aufnahmen aus der die ständigen Veränderungen im Stadtbild tiert und ermordet wurden. Vor der Pichels- Wilhelmstadt. im Laufe der Jahre zu dokumentieren. Was dorfer Straße 97 erinnern nun drei bronzene,­ »Ich habe 25 Jahre als Sozialarbeiter gearbei- ist vor 20, 30 Jahren passiert, wie sieht es ins Pflaster eingelassene Stolpersteine an tet. Die Leidenschaft für Fotografie teilte ich heute aus? Es ist eine Spurensuche. Margot, Julius und Fritz Weiss, die hier leb- mit meinem Vater – ebenso wie die für Mu- Viele Orte sind ja inzwischen verschwunden, ten und von hier aus in den Tod transpor- sik, für Blues, Jazz, Rock und Pop. 1969, im existieren nicht mehr, und manches ver- tiert wurden. Trennungsjahr der Beatles, zog ich mit 21 schwindet dann auch aus dem Bewusstsein. Harald Stein kennt viele aus dem Grüppchen, Jahren von nach Spandau, zu- So wie der alte Korbladen in der Breiten die sich an diesem Morgen zur Stolperstein- nächst in eine Wohnung am Südpark. 25 Jah- Straße in der Altstadt – dort befindet sich Einweihung versammelt haben. Trotz der re lang, bis 1994, wohnte ich in der Wilhelm- jetzt das Anzeigenblatt ›Spandau aktuell‹. »In der Melanchthonschule, die ich 1951 für kurze Zeit be- aus den ehemals besetzten Gebieten vertrieben. In Berlin Eine Postkarte frühen Stunde war es ihm eine Herzenssa- stadt, in der Wever- und später in der Földe- Oder das alte Eisenwaren- und Wirtschafts- suchte, pflegte ich eine Brieffreundschaft mit einem briti- lebten wir gemeinsam mit Oma in unserer Wohnung in von 1951: Familie che zu kommen. Nicht nur, weil er selbst jü- richstraße. Gleich um die Ecke befand sich artikelgeschäft in der Adamstraße. schen Mädchen. Zwei Jahre lang schrieben wir uns gegen- Hakenfelde. Wegen des Bombenalarms mussten wir im- Koch auf der discher Herkunft ist. Sondern auch, weil ihn die Post Adamstraße – dort, wo heute der Ich habe auch viele Details fotografiert: alte seitig Briefe. Im Schreibwarenladen ›Papier Schulz‹ in der mer wieder in den Keller des gegenüberliegenden Wohn- Freybrücke beim Berliner Geschichte ganz besonders interes- Stadtteilladen ist. Laternen oder Uhren, die berühmten »Café Pichelsdorfer Straße, den es heute noch gibt, suchte ich hauses. In den letzten Tagen vor Kriegsende wurde unser Sonntags- siert. Seit vielen Jahren hält er die Verände- Ich habe noch den alten Bunker in der Föl- Achteck« – das waren früher öffentliche Pis- nach passenden Postkarten. Zufällig entdeckte ich dabei Wohnhaus von einer ›Stalinorgel‹ getroffen. Wir sahen spaziergang rungen in der Stadt mit der Kamera fest. derichstraße fotografiert, der 1997 abgeris- soirs –, alte Inschriften an Fassaden, von eine Ansichtskarte mit der neuen Freybrücke – und im von der gegenüberliegenden Straßenseite, wie sich das Beim Treffen packt er dicke, sorgfältig ge- sen wurde. längst nicht mehr existierenden Kinos, Knei- Vordergrund meine ganze Familie. Freudestrahlend lief Feuer ausbreitete. Ich erinnere mich noch genau, wie mei- ordnete Foto-Alben auf den Tisch der Bäcke- Auch die ganze Adamstraße habe ich foto- pen, Geschäften. Und nach den Läden ver- ich nach Hause und rief: Da sind ja wir drauf! Die Postkarte­ ne Mutter sagte: ›Und jetzt kommt dein Kinderzimmer rei an der Ecke Pichelsdorfer / Brüderstraße, grafisch dokumentiert, unter anderem die schwinden auch meist die alten Inschriften – hüte ich bis heute wie einen Schatz. Das Foto entstand an dran.‹ Doch dann drehte plötzlich der Wind und die Hälf- in der wir Kaffee trinken. Teilabrisse 1991, aber auch die alten Geschäf- wie z.B. der Schriftzug der Kaffee-Großröste- einem sonnigen Sonntagvormittag. Meine Eltern, meine te des Hauses – und damit auch unsere Wohnung – wurde Einen ganzen dicken Ordner gibt es allein te. In der Adamstraße 3 gab es die Feinbäcke- rei Fritz Haak in der Ruhlebener Straße 5, an Schwester und ich waren wie üblich unterwegs nach Pi- verschont. Seitdem glaube ich an Wunder. von politischen Wandmalereien und bun- rei Horst Gurke – das Haus wurde später ab- einem Teil der früheren Burgwallschanze.« chelswerder oder zum Siemens-Segelclub an der Scharfen Mein Vater konnte kurz danach seiner Familie nach Berlin ten Fassaden ehemals besetzter Häuser in gerissen. Daneben gab es einen Schmiede- Wir blättern viele Fotos durch, die gut und Lanke. Wir liebten das Wasser, mit den Sonntagsspazier- folgen. Er kam bis Senftenberg und hat sich dann zu Fuß gern eine eigene Ausstellung füllen könn- gängen verbinde ich die intensivste gemeinsame Zeit mit weiter durchgeschlagen. Ende April lag er dann plötzlich ten. Es sind zahllose Aufnahmen. Von der meinen Eltern. im Elternbett. Ich habe mich unendlich gefreut. Wir ha- Schild im Schwimmbad Südpark. Foto: Harald Stein, 1987 Ritterstraße 1a, wo einst sogar mal ein Film 1945, kurz vor Kriegsende, hatte die SS die Freybrücke ge- ben gehungert, aber immerhin hatten wir die Wohnung mit Heinz Rühmann gedreht wurde, »als ich sprengt. Davor fuhr die Straßenbahn über die Brücke zum und waren als Familie vereint. Wir waren somit besser dran dort fotografierte, war das ein herunterge- Zoologischen Garten. Nach dem Kriegsende war die Stra- als viele andere. Die Lebensmittelmarken, die wir aus kommenes Haus, heute ist es ein Hotel«. ßenbahn bis zum Neubau der Brücke an dieser Stelle unter- Iglau hatten, waren in Berlin nicht gültig. So haben wir Von einer Fassadeninschrift in der Jordan- brochen, die Freybrücke war nur noch eine provisorische nur von den Lebensmittelmarken der Oma gelebt. Mein straße, »Herm. Müller« ist noch zu entzif- Holzbrücke für Fußgänger. Wenn wir aus Hakenfelde mei- Vater musste Geld verdienen und ging sehr zielstrebig fern und »Zigarren«. Ein alter Kohlenhof An- ne Tante in besuchen wollten, mussten wir vor. Seine Tüchtigkeit habe ich immer bewundert. – Im Ju- fang der 80er. Die »Kolkschenke«, eine Knei- zu Fuß über die Brücke und dann auf der gegenüberliegen- ni 1945 wurde Spandau britischer Militärsektor und mein pe. Kräne und Ausschachtungsarbeiten für den Seite die Anschlussbahn zum Zoo nehmen. – Über die Vater begab sich ins , damals Sitz der bri- den neuen ICE-Bahnhof Spandau. neue Freybrücke zu gehen, war ein großartiges Gefühl. tischen Kommandantur. Da er ein wenig englisch sprach Das links abgebildete Schild fotografierte Ha- Nach den Jahren des Krieges und der Zerstörung­ war das und nicht in der NSDAP gewesen war, also auch nicht rald Stein im Schwimmbad Südpark im Jahr ein Ausdruck von Hoffnung und Neubeginn.­ ›entnazifiziert‹ werden musste, bekam er sofort eine Stel- 1987 – es hat viele Jahrzehnte überdauert. Den Krieg haben wir in Iglau (Jihlava) im heutigen Tsche- le. Später war er als Oberregierungsbaurat beim Senator Dann fällt uns eine uralte Aufnahme in die chien verbracht. Mein Vater Herbert Koch arbeitete bereits für Bau- und Wohnungswesen tätig. Hand – das Foto eines Hochzeitspaares, auf- davor als Maschinenbauingenieur für die Brandenburgi- Auch den Bau der Wohnungsanlage in der Genfenbergstra- genommen ca. um 1900 oder 1910, Harald schen Flugmotoren-Werke. Im Krieg beaufsichtigte er die ße, die aus dem ›European Recovery Program‹ finanziert Stein hat es irgendwo mal entdeckt. Auf Flugzeugproduktion mit und wurde in den Außendienst wurde, hat mein Vater beaufsichtigt. Dadurch konnten wir dem Foto steht, in welchem Foto-Atelier es nach Iglau versetzt. 1951 in den sehr begehrten Neubau am Grimnitzsee einzie- aufgenommen wurde: Es befand sich an der Im März 1945 wollte meine Mutter – zu diesem Zeitpunkt hen. In dieser Siedlung lebe ich auch heute wieder. Pichelsdorfer Ecke Brüderstraße, also dort, war sie mit meiner Schwester schwanger – unbedingt in Damals war die Genfenbergstraße für uns ein Paradies, wo wir gerade sitzen – in einem der vier Eck- die Heimat nach Hakenfelde zurück. Wir bekamen die Er- auch wenn es heute eigentlich noch schöner ist, mit der häuser an der Kreuzung. laubnis und nahmen den letzten Zug nach Berlin. Es war neuen Anlage rund um den See. Traurig bin ich allerdings Harald Stein strahlt wie ein Kind angesichts Freitag, der 13. April, doch für uns war es ein Glückstag: darüber, dass die Wohnhäuser, dessen Bau mein Vater dieser Entdeckung: Wieder so ein Mosaik- Wenig später wurden die meisten Brücken in und um Ber- einst beaufsichtigte, heute sanierungsbedürftig sind und stein zu einer Geschichte. So fügt sich eines lin gesprengt. Eine spätere Rückkehr wäre kaum möglich immer mehr verkommen.« zum anderen. Ulrike Steglich gewesen. Denn nach Kriegsende wurden die Deutschen (aufgezeichnet von Nathalie Dimmer)

12 13 Ingeborg Stark und »Wir gehen erst, ihre Schwester am wenn der Käsekuchen »Weißen Sand« fertig ist«

Irene Bradley, Jahrgang 1939

»Wo heute der Baumarkt steht, gab es früher Gartenkolonien. Bauern bestellten in Spandau ihre Felder. – Können Sie sich vorstellen, was für eine schöne Kindheit wir ohne den Krieg ge- Irene Bradley mit ihrem Mann und mit dem Hund, 1959, habt hätten?« Altonaer Straße, Spandau – neben dem Bullengraben.

Irene Schön (heute Irene Bradley) kam 1939 Unsere Mutter arbeitete Tag und Nacht. daten auf blut- und kotverschmiertem am Brunsbütteler Damm zur Welt. Im glei- Sie putzte in Geschäften am Brunsbütteler Stroh lagen. Meine Mutter kochte Mehlsup- chen Jahr begann der Zweite Weltkrieg – Damm. Wir Kinder waren ›Schlüsselkinder‹ pe für die Verwundeten, sie riss Laken in und Irenes Vater wurde verhaftet. und spielten auf der Straße, aber weil wir im- Streifen für saubere Verbände. Ihr Vater Walter Schön, ein Dreher, war wie mer wussten, wo unsere Mutter gerade ar- Wir Kinder lebten mittendrin, wir kriegten al- seine ganze Familie in Spandau bekannt als beitete, konnten wir jederzeit zu ihr. Wenn les mit, was sich die Erwachsenen erzählten. überzeugter Marxist und Kriegsgegner. Ire- es Fliegeralarm gab und die ›Silbervögel‹ ka- Ich war ich immer bei den großen Jungs. nes Mutter war Anhängerin der Sozialde- men (so nannten wir die Bomber), mussten Einmal fanden wir einen toten Soldaten, der mokraten. In der Verwandtschaft gab es wir schnell in den nächstliegenden Luft- noch Lederstiefel anhatte. Lederstiefel! Ich »Ihr lauft Eure Schuhe ab!« aber auch überzeugte Nazis. Das sorgte für schutzkeller. Natürlich saßen wir aber viel fasste das Bein an und wollte den Stiefel harte Konflikte. lieber in unserem Hof mit einem Brunnen, abziehen. Plötzlich hielt ich sein Bein in der Ingeborg Stark, Jahrgang 1937, war im Jugendfreizeitheim am Weißen Sand bei den »Spatzen« 1939 flog ein geheimes Treffen von Wider- der Buddelkiste und einem Kirschbaum. Hand ... standskämpfern auf: Nazis überfielen die Zum Kriegsende wollten die Nazis noch die Die toten Soldaten, die zunächst notdürftig Gruppe, zu der auch der jüngere Bruder von Spandauer Brücken sprengen. Vor der Stadt verbuddelt worden waren, wurden später »Ich wuchs in der neuen Siedlung Götelstraße auf. Ein Fo- Wegen des Platzmangels in den Schulen wurde uns emp- Walter Schön gehörte – Irenes Onkel. Im Ge- standen die Russen. Viele Frauen hatten sich wieder ausgegraben und neu bestattet. to zeigt meine Mutter mit uns Kindern ca. 1942 vor den fohlen, die 8. Klasse zu überspringen: wir wechselten da- rangel erschoss er einen der Faschisten und aus Angst vor Vergewaltigungen die Köpfe Zu Essen gab es nach Kriegsende wenig. Wir Häusern der GSW, die damals noch im Bau waren. Es gab mals von der 7. direkt in die 9. Klasse – einfach, weil es zu flüchtete. Irenes Vater wurde deshalb später geschoren und Männeranzüge angezogen. Kinder sammelten Brennnesseln und Mel- keine Buddelkisten – wir spielten einfach in dem Bau- wenig Klassenräume gab. Ich machte dann eine Lehre an seinem Arbeitsplatz verhaftet und ins KZ Meine Mutter hängte ein weißes Laken aus de, aus dem Unkraut wurden Suppen ge- sand. und arbeitete bei Fahrrad-Klein in der Carl-Schurz-Straße. Sachsenhausen gebracht. Dort wurde er ge- dem Fenster, sie hatte Weißkäse organisiert kocht. Einmal brachen wir in den Keller des Die Väter aus der Nachbarschaft sind fast alle im Krieg ge- 45 Jahre lang habe ich Fahrräder verkauft. foltert – er sollte den Aufenthaltsort seines (es gab ja viel Tauschwirtschaft, Spandau Krankenhauses Lynarstraße ein, weil es blieben. Es waren ja vor allem junge Männer und Famili- Schlimm war in der Nachkriegszeit, dass man überall lan- Bruders verraten. war eine ziemlich ländliche Gegend, und dort Lebensmittelvorräte gab. Marmelade! enväter, die damals Wohnungen in dieser neuen GSW- ge anstehen musste. Wenn sich irgendwo vor einem Ge- »Drei Jahre war mein Vater im KZ. Meine viele hatten irgendwie noch ein Karnickel Alle hatten Behälter dafür mitgebracht, Siedlung bekamen. Und alle wurden zum Krieg eingezo- schäft eine Schlange bildete, wusste man zwar, dass es ir- Mutter durfte ihn einmal mit uns Kindern oder eine Ziege) und buk einen Käsekuchen. bloß ich nicht. Also schaufelte ich mir die gen. Wenn mal ein Vater wiederkam ... das war nach Kriegs- gendwas gab – aber was? besuchen. Solche Besuche dienten wohl da- Als die Russen vor unserer Tür standen, er- Marmelade kurzerhand in meine Kittel- ende ein ganz besonderes Ereignis, das sich schnell im Nach dem Krieg war unser Bewegungsradius ziemlich zu, um Häftlinge psychologisch ›weichzu- klärte unsere Mutter energisch: ›Wir gehen schürze. Ich freute mich auf die Überra- Viertel herumsprach. klein. Die Frey-Brücke war zerstört und hing im Wasser, kochen‹. Mein Vater – so erzählte es meine erst, wenn der Käsekuchen fertig ist. Ich schung für meine Mutter. Aber als ich nach Zum Kriegsende fielen Brandbomben, sie zerstörten die die Straßenbahn fuhr nur noch bis zur Brücke. Deshalb Mutter – lüftete dabei in einem unbeobach- Kommandante!‹ Der Kuchen war ja noch im Hause kam, war nichts mehr in der Schürze – Genfenbergstraße und fast das ganze Quartier. Unser waren wir eigentlich immer nur in der Wilhelmstadt. teten Moment kurz sein Hemd und zeigte Ofen. Ihr entschlossener Ton schüchterte die ganze Marmelade war unterwegs durch- Haus war das letzte Haus, das stehenblieb. Wir liefen als Kinder oft zu Fuß in das Schwimmbad Rade- ihr seinen blutig geprügelten Körper. die russischen Soldaten ein, das waren ja getropft. Meine Mutter gab mir links und Später musste meine Mutter ins Krankenhaus, da küm- landstraße, um das Fahrgeld zu sparen. Unsere Mutter An einem Oktobertag 1942 klopfte es schließ- auch noch halbe Kinder. – Natürlich mus- rechts Ohrfeigen: Schließlich musste die merten sich die Nachbarn um uns. Man kannte sich gut schimpfte dann manchmal, weil wir ja damit unsere Schu- lich an unserer Tür. Zwei Polizisten mit sten wir trotzdem aus der Wohnung raus, Schürze jetzt wieder gewaschen werden, und sorgte füreinander. he abnutzten – und neue Schuhe waren teuer. ›Ihr lauft Tschakos standen vor unserer Tür und sag- der Brunsbütteler Damm war Kampfgebiet. und Waschpulver war teuer.« Als Kinder hatten wir viel Bewegungsfreiheit. Die Woh- Eure Schuhe ab!‹, sagte sie dann. ten zu meiner Mutter: ›Heil Hitler. Wir müs- Häuser in der Straße brannten, das Eckhaus Ihren Mann, mit dem sie bis heute verheira- nungen waren meist klein, also spielte sich für uns Kinder Das Foto zeigt meine Schwester und mich am ›Weißen sen Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann verstor- nebenan war schon zerstört. Wir mussten tet ist, lernte Irene durch einen Hund ken- eigentlich alles draußen ab. Im Winter, wenn die Seen zu- Sand‹. Das war eine beliebte Badestelle an der Havel, sie ben ist. Die Leiche ist nicht mehr zu besichti- bis nach Hakenfelde, zu Verwandten. Den nen. »Ich führte damals ab und an den Schä- gefroren waren, gingen wir oft am Grimnitzsee oder an hieß ›Weißer Sand‹, weil es noch ein ganz natürlicher gen und wird auf Staatskosten beerdigt.‹ Kuchen nahmen wir mit, abgedeckt in mei- ferhund meines damaligen Chefs aus. Ein- der Scharfen Lanke Schlittschuhlaufen. Sandstrand war. Meine Mutter brach zusammen und rief: nem Puppenwagen. Später teilten wir ihn mal riss der Hund einem jungen englischen Unsere Schulzeit war schwierig. Weniger für unseren kleinen Dort gab es in den 50er Jahren auch eine Art Jugendfrei- ›Die Schweine haben es geschafft!‹ Er war mit anderen Flüchtenden. Soldaten einen Dreiangel in die Hose, mei- Bruder: der wurde eingeschult und dachte, das wäre ein­ zeitheim, wo wir spielen konnten. Es gab unterschiedli- wohl zu Tode gefoltert worden. Meine Mut- Als wir ein paar Tage später zurückkehrten, ne Schwester flickte die Uniform. Über die- fach eine Art Spielabteilung ... Er wollte immer nur spielen. che Jugendgruppen, ein bisschen so wie wie früher die ter kämpfte dann um die Urne meines Vaters. lagen auf den Straßen tote Soldaten und sen jungen Mann lernte ich dann meinen Aber für die größeren Kinder war es schwer. Durch die Wandervogel-Bewegung. Bei uns gab es in den 50er Jahren Irgendwann erhielt sie eine Zigarrenkiste Pferde. Mutter sagte: ›Macht die Augen zu, späteren Mann kennen, der als Brite in der Kriegszerstörungen gab es zu wenige Räume für uns im Jugendheim zwei Gruppen: die ›Falken‹ und die ›Spat- mit ein bisschen Asche, die ganz sicher nicht Kinder.‹ Hungrige Menschen waideten die Wevel-Kaserne diente.« Schulkinder. Wir mussten abwechselnd in zwei Schichten zen‹. Ich war bei den ›Spatzen‹.« seine war, seinem Namen, dem Geburts- toten Pferde aus. (aufgezeichnet von Ulrike Steglich) in einem Klassenraum lernen. Auch Lehrer fehlten: Ein (aufgezeichnet von Ulrike Steglich) und Sterbedatum. Sie kämpfte dann auch Auf dem Weg sahen wir am Güterbahnhof Mädchen aus der 8. Klasse sang mit uns – das war unser lange um einen Grabstein für meinen Vater. die Viehwaggons, in denen verwundete Sol- Musikunterricht.

14 15 Naschen im Laden von Onkel und Tante Christel Schories, Jahrgang 1951, über ein Kaffee- und Süßwarengeschäft und englische Manöver

»Wir wohnten in der Wilhelmstraße, als ich Als jemand aus unserer ­Ausstellungsgruppe Als Kind, so zwischen sechs und fünfzehn zur Welt kam. – Das Haus wurde später abge- ein Foto mitbrachte, auf dem noch das Jahren, war ich oft allein ›auf Trebe‹, das rissen, im Zuge des Umbaus zur ›auto- Haus zu sehen war, in dem ich geboren wur- heißt, ich erkundete bei langen Spaziergän- freundlichen Stadt‹. Die Wilhelmstraße de, ging mir das wirklich sehr nah. gen gern allein meine Umgebung. Sonntags wurde Anfang der 60er Jahre verbreitert – Meine Tante und mein Onkel führten ein ging ich gern nach Siemenswerder. Mich auch das Mietshaus, in dem wir wohnten Kaffee- und Schokoladengeschäft in der Pi- zog es immer ans Wasser – das Wasser ist bis und ich geboren wurde, musste dafür wei- chelsdorfer Straße 77 – heute befindet sich heute ein wichtiges Element für mich. chen. Zuvor war die Wilhelmstraße ja nur dort ein italienisches Lokal. Als Kind ging Als Kind spielte ich viel auf dem Hof, oft mit ein schmaler Streifen gewesen, man kann ich gern allein spazieren. Und manchmal den Kindern der Hauswartsfamilie Fiedler. das heute noch an dem kleinen Abzweig an spazierte ich eben zu Tante und Onkel Erd- Ich besaß damals einen Roller. Natürlich der Brüderstraße sehen. Damals gab es mann, dort durfte ich dann naschen. Es gab spielten wir auch auf dem ehemaligen Exer- auch noch Kleingärten an der Wilhelmstra- Bonbons, Kekse, Konfekt ... Hinter dem La- zierplatz, dem ›Exer‹. Wir hatten zudem Ver- ße, die auch abgerissen wurden. Und die dentisch führte eine kleine Tür zur Küche, wandtschaft in Tiefwerder, die auch Kinder Straßenbahn wurde stillgelegt. darüber befand sich ihre Wohnung. in meinem Alter hatten und mit denen ich oft auf den Tiefwerderwiesen spielte. Ich erinnere mich an einige Geschäfte in der Schwimm­bäder und Badestellen etwa, die Pichelsdorfer Straße: An einer Ecke gab es Und es geht es in der Wilhelmstadt gab. Oder frühere Ge- ein Spielwarengeschäft mit einem Puppen- schäfte in der Pichelsdorfer, Adam- und doktor, der Puppen reparierte. Dann einen noch weiter! Weißenburger Straße. Die alten Kinos, die Obst- und Gemüseladen, wohin mein Vater Die Ausstellungsgruppe hat noch viele Themen. Geschichte der Wilhelmstädter Straßenbahn. immer Kartoffeln lieferte. Außerdem gab es Ein Ausblick Oder der frühere Markt, an den sich auch noch einen großen Fischladen und ein Geflügel- viele erinnern. Zudem gibt es eine umfassen- geschäft. Und natürlich Foto-Schulz in der In den anderthalb Jahren, in denen sich die de Fotoserie, die die gesamte Pichelsdorfer Pichelsdorfer Straße – jeder ließ zur Einseg- Gruppe nun schon trifft und die Ausstel- Straße in den 70er Jahren dokumentiert. nung dort seine Fotos machen. lung vorbereitete, wurden nicht nur nach Denkbar wäre damit beispielsweise auch eine Sonntags gingen wir gern zu Kinderfilmen und nach viele Bilder, Dokumente und Erin- weitere Fotoausstellung zum Thema »Pichels- ins Kino, dann beeilte man sich mit dem Es- nerungen zusammengetragen, sondern auch dorfer Straße damals und heute«. sen und bat die Eltern um Geld. Ideen, wie es weitergehen könnte: Denn un- Es gibt noch viele Schätze zu heben. Genau Als Jugendliche ging ich nicht oft aus – wir bedingt will die Gruppe weiter zur Kiez­ daran will die Gruppe weiter arbeiten. Neue waren ja streng erzogen. Manchmal gab es geschichte der Wilhelmstadt arbeiten. Da Mitstreiter sind immer willkommen! Das Musik und Tanz. In Pichelsdorf gab es ein gibt es etliche, noch weitgehend unerfor­ nächste Treffen findet am 26. Juni um 17 Uhr Tanzlokal mit Tischtelefonen. Aber es exi- schte oder undokumentierte Themen: die im Stadtteilladen Adamstr. 39 statt. us stiert nicht mehr, es wurde irgendwann ab- gerissen. Damals wohnten ja in den Kasernen noch britische Soldaten. Manchmal hielten sie auch Manöverübungen ab. Ich erinnere mich, dass sie einmal mitten in der Nacht TANJA SCHNITZLER TANJA rund um das Lokal so ein Manöver abhiel- ten und die Freybrücke wild ›umkämpften‹ – mit Hubschraubern, Panzern usw. Ich dach- te da­mals nachts, es wäre wirklich wieder Krieg!« (aufgezeichnet von Ulrike Steglich)

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