Band59 2018

Jahrbuch Kulturelle Kontexte des östlichen Europa Dieses Jahrbuch widmet die Kommission ihrer langjährigen Vorsitzenden Dr. Heike Müns zu ihrem 75. Geburtstag.

© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Jahrbuch Kulturelle Kontexte des östlichen Europa

Im Auft rag der Kommission Kulturelle Kontexte des östlichen Europa in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V.

Herausgegeben von Elisabeth Fendl Werner Mezger Saray Paredes Zavala Hans-Werner Retterath Sarah Scholl-Schneider

Band 59 2018

Waxmann 2018 Münster • New York

© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Gefördert von der Beauft ragten der Bundesregierung für Kultur und Medien

Bibliografi sche Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufb ar.

ISBN 978-3-8309-3946-7 © Waxmann Verlag GmbH, Münster 2018 www.waxmann.com [email protected] Redaktion: Elisabeth Fendl, Werner Mezger, Saray Paredes Zavala, Michael Prosser-Schell, Hans-Werner Retterath (Aufsätze); Sarah Scholl-Schneider (Berichte und Rezensionen) Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706

Printed in Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schrift liche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Inhalt

Editorial ...... 7

Im Gespräch mit … Heinke Kalinke Vom Wossidlo-Archiv ins Bundesinstitut: vier Jahrzehnte volkskundlicher Forschung in Ost- und Westdeutschland. Ein Gespräch mit Dr. Heike Müns . . . . . 9

Aufsätze Klára Kuti Wenn Museumsobjekte ihr Gedächtnis verlieren … ...... 33

Michaela Eigmüller „… den hübschen Adler an der Apotheke leider vergessen.“ Oskar von Zaborsky auf „Bilderjagd“ – mit dem Fahrrad in Pommern und Ostpreußen unterwegs ...... 56

Michael Prosser-Schell Volkskundliche Erhebungen zum jugoslawischen Batschka- und Banat-Gebiet im Lager Piding 1952–1954 – Ein Bericht mit dem Versuch einer Kontextualisierung ...... 81

Nadja Harm „Neues aus der (alten) Heimat“ Der Brünner Heimatbote – zur Konstruktion und Stabilisierung einer imagined community ...... 95

Berichte „Kontaktzonen“ und Grenzregionen. Aktuelle kulturwissenschaft liche Perspektiven (Tagung des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde), Dresden, 23.–24. November 2017 (Jana Birthelmer) ...... 113

Archivalien des Instituts für Kultur- und Sozialforschung, München – Depositum des Collegium Carolinum im Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE) (Elisabeth Fendl) ...... 118

Akteure und Institutionen visueller Medien im [deutsch-]tschechischen Kontext. (Jahrestagung der Historischen Kommission für die böhmischen Länder e.V.), , 23.–25. November 2017 (Elisabeth Fendl/Judith Schmidt) ...... 127

Eigenbilder, Fremdbilder, Identitäten im östlichen Europa. Kulturwissenschaft liche Perspektiven. (Tagung der Fachkommission Volkskunde des Johann Gottfried Herder-Forschungsrates in Kooperation mit dem Institut für Volkskunde/ Europäische Ethnologie der LMU München und mit dem Georg Schroubek Fonds Östliches Europa), München, 7.–9. Dezember 2017 (Sarah Scholl-Schneider/Katharina Schuchardt) ...... 135

© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Buchbesprechungen Donauschwäbisches Zentralmuseum Ulm/Stift ung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Hg.) (2016): Vom „Verschwinden“ der deutschsprachigen Minderheiten. Ein schwieriges Kapitel in der Geschichte Jugoslawiens 1941–1955. Doppelausgabe Deutsch und Serbisch (mit Beiträgen in slowenischer, kroatischer und englischer Sprache) (Christian Marchetti) ...... 142

Drascek, Daniel (Hg.) (2017): Kulturvergleichende Perspektiven auf das östliche Europa. Fragestellungen, Forschungsansätze und Methoden (Regensburger Schrift en zur Volkskunde/Vergleichenden Kulturwissenschaft , 29) Münster [u. a.]: Waxmann (Heinke Kalinke)...... 145

Eisler, Cornelia/Göttsch-Elten, Silke (Hg.) (2017): Minderheiten im Europa der Zwischenkriegszeit. Wissenschaft liche Konzeptionen, mediale Vermittlung, politische Funktion (Kieler Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte, 12), Münster: Waxmann (Regina Löneke) ...... 148

Feistauer, Verena (2017): Eine neue Heimat im Kino. Die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen im Heimatfi lm der Nachkriegszeit, Essen: Klartext Tiews, Alina Laura (2017): Fluchtpunkt Film. Integrationen von Flüchtlingen und Vertriebenen durch den deutschen Nachkriegsfi lm 1945–1990 (Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert, 6), Berlin-Brandenburg: be.bra wissenschaft verlag (Martina Egger) ...... 152

Götz, Irene/Roth, Klaus/Spiritova, Marketa (Hg.) (2017): Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaft liche Perspektiven (Ethnographische Perspektiven auf das östliche Europa, 3), Bielefeld: transcript Verlag (Tobias Weger) ...... 158

Jäschke, Georg (2018): Wegbereiter der deutsch-polnisch-tschechischen Versöhnung? Die katholische Vertriebenenjugend 1946–1990 in der Bundes- republik Deutschland. Münster: Aschendorff Verlag (Markus Stadtrecher) ...... 163

Kováč, Dušan/Řezník, Miloš/Schulze Wessel, Martin (Hg.) (2017): Erinnern – Ausstellen – Speichern: Deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Beziehungsgeschichte im Museum (Veröff entlichungen der Deutsch- Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, 21; Veröff entlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 47). Essen: Klartext (Regina Löneke) ...... 169

Stadtrecher, Markus (2016): Nicht unter Fremden? Die katholische Kirche und die Integration von Vertriebenen im Bistum Augsburg (Geschichtliche Grundlagen der Moderne, 14), Baden-Baden: Nomos (Susanne Greiter) ...... 174

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ...... 178

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Manchen Leserinnen und Lesern wird es schon vor dem Aufschlagen des vor- liegenden Bandes aufgefallen sein: Die Kommission, die als Herausgeberin fungiert, und auch das Jahrbuch selbst haben einen neuen Namen. Statt „Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde“ lautet die inhalt- liche Konkretisierung des Periodikums jetzt „Jahrbuch Kulturelle Kontexte des östlichen Europa“. Kommissionsnamen und Reihentitel sind nicht über Generationen hinweg unverrückbare Etikettierungen, sondern sie wol- len als fortwährend kritisch reflektierte Selbstzuschreibungen der beteilig- ten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler deren Forschungsfelder, Frage- stellungen und Erkenntnisziele abbilden, die zwangsläufig einem zeitbedingten Wandel unterworfen sind. Die seit 1994 geführte Bezeichnung, die das Forschungsinteresse auf „deut- sche und osteuropäische Volkskunde“ fokussierte, schien vielen Kommissions- mitgliedern nicht mehr zeitgemäß. Sowohl die vermeintliche Dichotomie zwischen „deutsch“ und „osteuropäisch“ als auch der immer schwerer zu ver- mittelnde herkömmliche Volkskundebegriff wurden zunehmend kontrovers diskutiert. Vor allem aber stieß auf Kritik, dass die bisherige Benennung die überholte Annahme einer homogenen, ethnisch definierten Nationalkultur sug- gerierte, während sie ein modernes, prozesshaftes Kulturverständnis eher aus- blendete. Dadurch entstand in der Außenwahrnehmung der Kommission und ihrer Arbeit der Eindruck, als würde hier von einer „Kultur der Deutschen“ im östlichen Europa ausgegangen, was dem Verständnis einer multiperspektivisch arbeitenden modernen Volkskunde / Europäischen Ethnologie / Kultur anthro- pologie / Empirischen Kulturwissenschaft zuwiderliefe. So kam in den jüngsten Mitgliederversammlungen und Tagungen der Kom mission verstärkt der Wunsch auf, die Forschungsfragen, Methoden und theoretischen Konzepte der eigenen Arbeit grundsätzlich in den Blick zu nehmen und damit ohne Kontinuitätsbrüche zugleich die Kernthematik der Kommissionsarbeit neu zu bestimmen und sie zukunftsfähig zu machen. Dieser Reflexionsprozess führte schließlich 2017 in Marburg zu dem mit deut- licher Mehrheit der dort anwesenden Mitglieder gefassten Entschluss, sich künftig „Kommission Kulturelle Kontexte des östlichen Europa“ zu nennen. Das Ergebnis einer Gesamtbefragung aller Mitglieder bestätigte den Beschluss der Umbenennung, die schließlich 2018 vom Hauptausschuss der dgv geneh- migt wurde. Mit dem Begriff „Kulturelle Kontexte“ werden insbesondere der Beziehungscharakter, die Interdependenzen und die Komplexität kultu- reller Entwicklungen und ihres Miteinanders und Ineinanders ausgedrückt. Die theoretische Diskussion dieser neuen Standortbestimmung ist übrigens noch keineswegs abgeschlossen, sondern sie soll Gegenstand einer eigenen

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Arbeitstagung Ende 2018 mit Rückblick und Ausblick sein, die sich im folgen- den Jahrbuchband niederschlagen wird. Die letzte Namensänderung der Kommission, verbunden mit einer ebenfalls intensiven inhaltlichen Diskussion und der Anpassung an neue Gegebenheiten, war 1994 erfolgt, als die bis dahin verwendete Bezeichnung „Kommission für ostdeutsche Volkskunde“ nach den Ereignissen von 1989/90 immer mehr in die Irre zu führen und falsche Erwartungen zu wecken drohte. Die damalige Umbenennung fiel in die Zeit des Kommissionsvorsitzes von Heike Müns, die ihrerseits aus der DDR-Volkskunde kommend mit Nachdruck auf die Missverständlichkeit des Begriffs „ostdeutsch“ nach der Wende hin- gewiesen und sich um die zeitgemäße Ausrichtung des Gremiums und sei- ner Publikationen überaus verdient gemacht hat. Von 1994 bis 2004 hat Heike Müns der Kommission entscheidende Impulse gegeben und einen wesentlichen Beitrag zu deren Standortbestimmung geleistet. Der Zufall will es, dass Heike Müns just im laufenden Jahr 2018, dem Jahr der neuerlichen Umbenennung von Kommission und Jahrbuch, ihren 75. Geburtstag feiern darf. Aus diesem Anlass hat Heinke Kalinke ein aus- führliches Gespräch mit der Jubilarin geführt, das im vorliegenden Band abge- druckt ist und die vier Jahrzehnte volkskundlicher Forschung in Ost- und Westdeutschland sowie die Kommissionsgeschichte der Dekade des Vorsitzes von Heike Müns aus deren persönlicher Sicht schildert. Der Erscheinungs- termin ihrer Erinnerungen hätte zeitlich nicht besser sein können. So ist es auch nicht mehr als recht und billig, dass wir den hier vorliegenden Band in Dankbarkeit für richtungweisende Entscheidungen und unermüdliches Engagement Heike Müns zueignen. Wir gratulieren ihr sehr herzlich, erinnern uns gerne an ihre bedeutenden Akzentsetzungen und wünschen ihr für die Zukunft alles Gute: ad multos annos.

Werner Mezger

© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Heinke Kalinke Vom Wossidlo-Archiv ins Bundesinstitut: vier Jahrzehnte volkskundlicher Forschung in Ost- und Westdeutschland. Ein Gespräch mit Dr. Heike Müns Aus Anlass ihres 75. Geburtstags führte Heinke Kalinke ein Gespräch mit der langjährigen Vorsitzenden der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde, Dr. Heike Müns, über ihr Leben und ihren berufl ichen Werdegang.

Vielleicht kannst Du zuerst kurz etwas über Deine Familie, Deine Schulzeit und Dein Studium erzählen? Meine Kinderjahre waren geprägt durch die besondere Atmosphäre der Hansestadt mit ihrer Backsteingotik und ihrer Nähe zur Ostsee, aber auch durch die traumatischen Erlebnisse meiner Eltern während der Kriegsjahre und danach. Meine Mutter entstammte einer Rostocker Kauf- manns familie, heiratete 18-jährig einen adligen Landwirt, dessen Familie durch die Jahrhunderte vor allem militärischen Traditionen verpflichtet gewe- sen war. Vielleicht auch ein Grund dafür, dass sich meine Eltern bemühten, trotz aller Armut, der sie 1945 nach der Enteignung ihres Hofes ausgesetzt waren, uns Geschwister ‚standesgemäß‘, recht preußisch, aber auch liebe- voll zu erziehen. Wir lebten nach der Enteignung zunächst in einer kleinen Dachwohnung in Rostock, die uns ein befreundeter Mediziner zur Verfügung gestellt hatte. (Seine ehemalige Dienstwohnung, Am Reifergraben 4 in Rostock, beherbergt heute das Wossidlo-Archiv – meine spätere Arbeitsstelle, davor zeitweise das Musikinstitut der Universität Rostock, an dem ich nach der Wende Vorlesungen hielt, und während meiner Doktorandenzeit das Institut für Marxismus-Leninismus, an dem ich die notwendigen Prüfungen für die Dissertation abzulegen hatte!) Mag sein, dass während unseres Wohnens im Reifergraben der charismatische Professor Hans Curschmann (1875–1950), Direktor der Medizinischen Klinik in Rostock, dessen Porträt uns schon im Treppenhaus Ehrfurcht gebot, und seine Ermahnungen, bei Erkältungen mit Salzwasser zu gurgeln, bei mir das spätere Interesse für Medizin mit geweckt hatten. Der Verdienst meines Vaters – jetzt als ‚Junker‘ diskriminiert, nun zu ‚rich- tiger Arbeit‘ als Kohlenarbeiter verpflichtet und zur regelmäßigen Meldung auf der russischen Kommandantur aufgefordert, reichte natürlich nicht zum Über- leben. Aber glücklicherweise existierte in der Nähe hinter dem ausgebomb-

© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 10 Heinke Kalinke ten Haus meiner Großeltern mütterlicherseits noch der alte Garten, der uns ernährte. Ich erinnere aus heutiger Sicht recht strenge Tischsitten – man hatte gerade zu sitzen, die Ellbogen dicht am Körper zu halten, nicht zu reden, wenn sich Erwachsene unterhielten. Dankes-, Geburtstags- oder Weihnachts briefen an die Verwandten wurde besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Der Alltag meiner Eltern war bestimmt von Sorgen um das tägliche Brot – eine Diskrepanz zum immer fein gedeckten Tisch. Da vor allem das Silber gerettet worden war, gab es die Fliederbeersuppe beispielsweise aus dem prächtigen silbernen Samowar und alle Getränke aus der silbernen Kaffee- kanne mit dem Familienwappen. Was die Schule nicht vermitteln konnte oder wollte, wurde zu Hause oder durch Bekannte unterrichtet, wie etwa Instrumentalunterricht und Französisch, und die Eltern wechselten sich ab im abendlichen Vorlesen von Grimms Märchen, später auch klassischer Literatur, u. a. der niederdeutschen Werke Fritz Reuters. Denn meine Eltern hofften lange auf eine Rückgabe ihres verlorenen Grundbesitzes, und wir Kinder sollten für dieses Ziel vorsorglich die Sprache der Landbevölkerung beherrschen. Zwar hat mein Vater seine Rehabilitation nicht mehr erleben können – die Enteignung war zu Unrecht erfolgt aufgrund einer Falschaussage eines neidischen Nachbarn – aber die Kenntnis des Plattdeutschen erwies sich Jahre später für meine endgültige Berufswahl als mit entscheidend. Und die Eltern legten den Grundstein für die Liebe zur Musik: Jeden Abend sangen wir Wiegenlieder von Brahms, Schumann und Mozart, es gab Blockflötenunterricht, und in der Christenlehre lernten wir vielstrophige Kirchenlieder, die sonntags in der zer- bombten Nikolaikirche kräftig von uns mitgesungen wurden. Ein wichtiger Tag für mich war der, an dem mein Vater, der inzwischen als Schädlingsbekämpfer arbeiten durfte, eines Tages von Bauern eine schöne Geige mitbrachte. Da die neu eingerichteten Volksmusikschulen dringend Schüler suchten, die aus der Arbeiterklasse stammten (und das war ja nun bei mir der Fall!), erhielt ich dort kostenlosen Geigenunterricht, später dann im Rostocker Konservatorium. Unsere wirtschaftliche Situation begann sich zu bessern, wir wohnten nun in zwei Zimmern mit Küche und einem Bad auf dem Flur, Wand an Wand wie- der mit dem alten Ehepaar Curschmann. Du wirst Dich wundern, warum ich u. a. so lange bei der Familie Curschmann verweile: Sehr viele Menschen hatten ja nicht nur Verwandte ‚drüben‘, sondern dort auch Bekannte und Freunde, die die DDR verlassen hatten. Besuche, Briefe und Pakete, Literatur überwanden die Grenze, später die Mauer. Und ich behaupte einfach einmal: Wer solche langjährigen Verbindungen hatte, wer den Westen nicht nur aus den Medien bzw. durch Abbildungen in Schulbüchern und den Staatsbürgerkundeunterricht kennenlernte, der hatte es nach der Wende leichter, die Dinge realistisch einzuschätzen, wusste, dass es weder einen ‚Goldenen Westen‘ noch eine Arbeiterklasse gab, die in ‚Nissenhütten‘ hauste.

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Über Politik oder die Verhältnisse der Verwandtschaft im Westen wurde mit uns Kindern kaum gesprochen, aber wir schnappten doch Manches auf, was sicher nicht für uns gedacht war. Zwei Fluchtversuche in den Westen waren gescheitert, beide Male erlitt mein Vater am Tag vor der Reise eigenartige Unfälle. Die sogenannten Republikfluchten Anfang der 1950er-Jahre bedrück- ten uns Kinder sehr, nahezu alle meine Freundinnen verließen das Land, auch die Familie Curschmann mit ihren Töchtern. Meine Grundschule wurde auf- gelöst, da die meisten Lehrer ebenfalls geflohen waren. Dieses Auflösen von Institutionen, wenn die politische Richtung nicht genehm war, erlebte ich in meinem Leben mehrfach. So wurde auch meine nächste Schule, die bekannte Große Stadtschule, geschlossen, ebenso wie später das Rostocker Musikinstitut, in dem ich nach abgebrochenem Medizinstudium dann Musikwissenschaft stu- dierte. „Wir waren das einzige nicht SED-geführte und -geprägte musikwissen- schaftliche Institut“, erinnerte sich sein Leiter, unser verehrter Professor Rudolf Eller. Ihm, einem renommierten Bach-Forscher, wurde vorgeworfen, uns nicht zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen. Aber das wollten wir ja auch gar nicht. Wir waren von unseren Fächern begeisterte Studenten, sangen und musizierten in Uni-Chor und -Orchester, freuten uns auf die Konzertreisen ins ‚sozialistische Ausland‘, ärgerten uns, weil unser Universitätsmusikdirektor Einladungen in die BRD ablehnen musste, da er Fluchtversuche der Studenten fürchtete, waren wütend, weil man uns die Theater-Pauken für die Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium verwehrte. Ich genoss mein Studium der Germanistik und Musikwissenschaft, und war froh, dass ich gerade noch vor der Schließung des Musikinstitutes dort 1969 mein Examen ablegen konnte. Nach dem Staatsexamen gehörte ich zur Gruppe von fünf Studenten, die von den Germanisten als zukünftige Doktoranden ausgesucht worden waren. Es wurde allerdings dafür zur Bedingung gemacht, in die SED einzutre- ten, was ich ablehnte und also brav mit meinem Schuldienst für die Fächer Deutsch und Musik an einer Polytechnischen Oberschule (POS) begann. Vom Fach Volkskunde hatte ich bis dahin noch nie etwas gehört. An meine Zeit als Lehrerin von 1969 bis 1977 erinnere ich mich ungern, denn ich passte wie- der nicht ins sozialistische Erziehungsprogramm, so dass ich, wie einige andere Lehrer auch, mit ständigen Hospitationen und ideologischen Belehrungen rechnen musste. Zu Klassenelternabenden hatten sich die ‚Genossen Eltern‘ vor der Veranstaltung zu treffen, so dass ich als Klassenlehrerin nicht darü- ber informiert war, wie die zu erwartende Diskussion der Eltern bereits gelenkt worden war. Den starren Lehrplan suchte ich mit anderen Themen zu erwei- tern. Das eskalierte, als ich die Schüler aufforderte, ihre Lieblingsschallplatten mitzubringen – natürlich kamen sie mit verbotener ‚Westmusik‘ –, und ich außer der vorgeschriebenen Bauernkantate von Bach und Mozarts Hochzeit des Figaro, Werke, die als progressiv galten, auch sakrale Kompositionen vorstellte. Der Schulrat wurde informiert, mir drohte die Entlassung. Aber in einer mei-

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Heike Müns als Musik-Lehrerin an einer POS, um 1975 ner Klassen saßen sowohl die Tochter des Rostocker Oberbürgermeisters als auch die Tochter von Harry Tisch, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, die sich, da ihre Kinder begeistert vom Musikunterricht waren, für mich einsetz- ten. Dennoch blieb die ideologische Bevormundung bestehen. Mein Eintritt in die CDU, die Christlich Demokratische Union Deutschlands, erleichterte kurz- fristig die Situation. Als jedoch die Anweisung kam, nun neben der täglichen Zeitungsschau auch noch Wehrkundeunterricht zu erteilen, und ich mich wei- gerte, da auch dieses Anliegen für mich eine Unvereinbarkeit von Lehrstoff und Gewissen darstellte, half mir der Amtsarzt aus den Fängen der Volksbildung. Dennoch muss man sich immer wieder fragen, ob man nicht unfreiwillig zum ‚Hoflieferanten‘ dieses Staates geworden ist, denn der Lehrplan musste ja unter- richtet werden. Vielleicht hast Du den Kehrreim eines Pflichtliedes schon gehört: Die Partei, die Partei hat immer recht – und bei allen Festen hatte ja mein Chor aufzutreten. Wie ich an das Wossidlo-Archiv in Rostock gekommen bin? Dahinter ver- birgt sich eine fast unglaubliche Geschichte, die seit meinem Arbeitsbeginn dort nun schon 40 Jahre zurückliegt. Zunächst muss ich über meine aktuelle

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Alfred Cammann besucht das Wossidlo-Archiv, 1990.

Situation im Frühjahr 1977 berichten, der Zeit, als ich mit aller Kraft versuchte, dem Arbeitgeber Volksbildung zu entkommen. Mit meinem Mann, Wolfgang Müns, tätig als Lektor im Rostocker Hinstorff-Verlag, war und bin ich seit 1970 verheiratet, wir hatten uns während des Germanistik studiums in Rostock kennengelernt. Unsere Tochter Beate war gerade sechs Jahre alt. Meine Mutter hatte nach dem Tode meines Vaters 1959 eine Anstellung als Sachbearbeiterin im Wossidlo-Archiv gefunden – und dieser Umstand bewirkte natürlich, dass ich schon als Schülerin regelmäßig dort zu fin- den war. Die hohen Wände mit den zigarrenkistengroßen Holzkästen mit niederdeutschen Belegen des Lehrers und Volkskundlers Richard Wossidlo (1859–1939) zu Märchen, Sage, Lied, Tanz, Brauch, Volksmedizin, Haus, Geräten, die umfangreiche Bibliothek des Sammlers mit alten Büchern und die ruhige Arbeitsatmosphäre dort faszinierten mich. Und glücklicherweise hatten die Mitarbeiter des Archivs an mir Interesse gefunden und ließen sich dann nicht entmutigen, die langwierige und oft aussichtslos erscheinende Diskussion mit der Volksbildung aufzunehmen, so dass ich nach endlosen und ermüden- den Gesprächen mit Mitarbeitern des Bezirksschulrates im Dezember 1978 endlich die ersehnte sogenannte ‚Freistellung‘ bekam. Denn die Volksbildung der DDR behandelte ihre Lehrer/innen im Grunde wie Sklaven, so dass ein Herauskommen aus dem Beruf schier unmöglich war.

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Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wossidlo-Archivs, 1983: Ulrich Bentzien, Ilse von Zansen-Osten (die Mutter von Heike Müns), Gerda Witte, Frau Passig, Ingeborg Müller, Siegfried Neumann, Gertrud Hoff meister.

„Kollegin Heike Müns wurde heute darüber belehrt, daß sie außerhalb der Volksbildung ohne Genehmigung des Bezirksschulrates keine andere Tätigkeit auf- nehmen darf “, heißt es in einer Mitteilung vom Juni 1977. Nicht ohne Grund hieß die Rostocker Nervenheilanstalt im Volksmund ‚Haus des Lehrers‘, weil dort viele der von der verordneten Ideologie ‚ent- und genervte‘ Lehrer eingewiesen und behandelt wurden. Das Rostocker Wossidlo-Archiv (heute Institut für Volkskunde an der Universität Rostock) war bis zur Wende eine Außenstelle der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Geschichte /Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde in Berlin. Es beherbergt den Nachlass Richard Wossidlos, also seine etwa 2 Mio. handschriftlichen Zettel sowie seine umfang- reiche Bibliothek. Die Bemühungen und ermutigenden Worte meiner späte- ren Kollegen, des Agrarhistorikers Dr. Ulrich Bentzien, des Erzählforschers Dr. Siegfried Neumann und natürlich des Leiters des Wissenschaftsbereiches Kulturgeschichte/Volkskunde, Professor Dr. Hermann Strobach, hatten mir geholfen, die berufslosen Jahre mit vorsichtigem Optimismus zu überstehen. Mit Konzertkritiken für Zeitungen, die Anklang fanden, so dass ich einen Presseausweis bekam, sowie Gutachten für unverlangt eingesandte Manuskripte beim Rostocker Hinstorff-Verlag versuchte ich etwas zum Familienbudget

© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Vom Wossidlo-Archiv ins Bundesinstitut. Ein Gespräch mit Dr. Heike Müns 15 beizutragen, beschäftigte mich aber auch schon mit den Beständen des Mecklenburgischen Volksliedarchivs im Wossidlo-Archiv. Aus meiner heutigen Sicht wundere ich mich immer noch über den Mut der Akademie, mir eine ‚Planmäßige Wissenschaftliche Aspirantur‘ anzu bieten. Ein Hauptgrund mochte gewesen sein, dass an der Akademie der Wissen- schaften der DDR dringender Forschungsbedarf in den Bereichen ‚Sitte und Brauch‘ bestand. Dies entnahm ich nach der Wende dem in scharfem Ton gehaltenen Briefwechsel zwischen dem Schulrat, der meinen Weggang mit nahezu bösartigen Argumenten zu verhindern suchte, und der Akademie, die mich mit geschicktem DDR-typischen Argumentationsvokabular auszulösen suchte: „Im Perspektivplan des Instituts – in Absprache mit dem Rat des Bezirkes Rostock, Abteilung Kultur – ist die Erarbeitung einer ‚Meck- len burgischen Volkskunde‘ vorgesehen, wofür wir dringend einen Forschungsvorlauf benötigen. Die Vergabe eines Dissertationsthemas aus dem Komplex ‚Sitte und Brauch‘ an Frau Heike Müns soll zur Lösung dieser wissenschaftlich und kulturpolitisch wichtigen Aufgabe beitragen.“

Und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wossidlo-Archivs kannten mich und meine Familie seit Jahrzehnten. Ich durfte noch den ersten, seit 1954 tätigen Leiter des Wossidlo-Archivs, Dr. Paul Beckmann (1888–1962), enger Mitarbeiter Wossidlos, erleben. Die alten Familien, im Grunde das Bildungsbürgertum, kannten sich in Rostock, und so lud Beckmann meine Mutter und mich schon während meiner Kindheit zu Lichtbildervorträgen in das Wossidlo-Archiv in der Thomas-Mann-Straße ein. Und damit wir Kinder ‚richtiges‘ Plattdeutsch lernten, sollten wir mit ihm und seiner Familie platt- deutsch sprechen. Und, wie Ulrich Bentzien einmal beiläufig bemerkte, von den wenigen Studierenden der Ethnografie in Berlin – pro Jahr waren es 5–7(!) – eignete sich niemand für dieses regionale Forschungsgebiet. Aber im Grunde fehlten mir doch viele Voraussetzungen für dieses Fach. An Veröffentlichungen hatte ich nichts aufzuweisen außer etwa 50 Konzert- kritiken und Interviews mit Solisten in regionalen und überregionalen Zeitungen, die meine Mutter glücklicherweise aufbewahrt hatte; außerdem konnte ich Vorarbeiten für ein Niederdeutsches Liederbuch (Müns 1981) vor- legen, das auf archivalischen Quellen und Befragungen von 50 Gewährsleuten basierte. Wie gut, dass Hermann Strobach, ein Steinitz-Schüler und Experte für Liedforschung, als Leiter des Fachbereiches Kulturgeschichte/Volkskunde mit diesem geringen Startkapital meinerseits zufrieden war. Da die handschriftli- chen Zettel Wossidlos alle in Niederdeutsch notiert und oft mit lateinischen und griechischen Abkürzungen durch ihn versehen waren, erwies sich natür-

© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 16 Heinke Kalinke lich auch meine Kenntnis von Latein und Griechisch als vorteilhaft. Doch von deutscher Volkskunde hatte ich im Grunde so gut wie keine Ahnung, denn auch an der Rostocker Universität gab es das Fach nicht. Mein Interesse für Volkskunde war eher durch einen Zufall geweckt wor- den: Aufgrund eines Akademie-Abkommens zwischen der DDR und Ungarn gab es einen regelmäßigen Wissenschaftleraustausch zwischen den Akademien. Offenbar hatte im Jahr 1965 von den DDR-Volkskundlern niemand so recht Lust und Zeit, diesem Abkommen, das gegenseitige Besuche einschloss, zu folgen, so dass meine Mutter, Sachbearbeiterin im Wossidlo-Archiv, die Gelegenheit beim Schopf ergriff, und der Einladung an die Akademie nach Budapest folgte und mich als Begleitung mitnahm. Wir waren privat unterge- bracht bei einem ungarischen Ehepaar, mit dem wir viele Jahre freundschaft- lich verbunden blieben. Susanne Winkler arbeitete als Sachbearbeiterin am Ethnographischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Julius Winkler leitete die Handschriftenabteilung der Universität – ein absolu- ter Glücksfall! Denn so lernte ich, noch als Medizinstudentin, zunächst Gyula Ortutay (1910–1978) und Thekla Dömötör (1914–1987) in ihrer Funktion als Chefs unserer Gastgeberin kennen, bei späteren regelmäßigen Besuchen zuneh- mend dann die Arbeitsgebiete der ungarischen Volkskunde. Ein Zufallsfund in einem Papierkorb, eine Karte, auf der die Siedlungsgebiete der Deutschen in Ungarn dargestellt waren, hat mich später bei meinen Feldforschungen in der Baranya (Südungarn) begleitet. Bald besaß ich also eine gute Auswahl volks- kundlicher Veröffentlichungen in deutscher Sprache, erwarb u. a. 1969 die Ungarische Volkskunst, hrsg. von Gyula Ortutay, und Arbeiten von Bálint Sárosi zur ungarischen Volksmusik. Hätte man mich damals gefragt: Was ist Volkskunde? Hätte ich ohne Zögern gesagt: die Sammlung und Beschäftigung mit alten Objekten, traditionellem Erzählgut und musikalischen Äußerungen des Volkes unter dem Aspekt des Rettungsgedankens. Und als ich am 1. April 1979 im Wossidlo-Archiv begann, schien sich zunächst diese Einschätzung zu bestätigen, ging es doch bei meinem Dis ser- tations thema zunächst um die Darstellung der Jahresbräuche im mecklenbur- gischen Dorf, wie sie von Wossidlo erfragt und auf Tausenden von Zettelchen handschriftlich mit Bleistift in Niederdeutsch notiert worden waren. Das Positive war: Ich konnte mich während der drei bewilligten Jahre für die Aspirantur vor allem auf meine Arbeit konzentrieren, nur unterbrochen von der für alle Doktoranden verordneten Teilnahme an Vorlesungen, Seminaren und Prüfungen in den Fächern Russisch, Englisch und Marxismus-Leninismus. Im Archiv musste ich Korrektur lesen für das jährlich erscheinende Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte – ein fast spielerischer Lehrstoff des Faches für mich – und unter dem kritischen Blick von Siegfried Neumann erste Rezensionen erstellen. Und man hatte zusammen mit den Rostocker Kollegen einmal im Monat in Berlin zu den Sitzungen des Fachbereiches zu erschei-

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Arbeitszimmer von Heike Müns im Wossidlo-Archiv, an der Wand Porträt Richard Wossidlos nen, der damals ganz oben unter dem Dach im Gebäude der alten Berliner Staatsbibliothek, später in der Prenzlauer Promenade beheimatet war. Wir fünf Aspiranten hatten regelmäßig über unsere Teilergebnisse zu berichten, und ich war sehr froh, dass meine Arbeit stets weiter bewilligt wurde. Diese begann mit einer reinen Fleißarbeit, denn da niemand genau wusste, was eigentlich in den Holzkästchen an Belegen zu ‚Sitte und Brauch‘ quantitativ und qualitativ vorhanden war, erfasste und nummerierte ich die Belege nach den Fragen: Wer/Was/Wann/Wo/Wie mit Zettel und Bleistift auf Karteikarten, damit man notfalls radieren konnte. Man könnte sagen, mit dieser Methode stand ich in guter Tradition der Gebrüder Grimm und Richard Wossidlos, doch die Zeit des geruhsamen Arbeitens war andernorts längst rationelleren Methoden gewichen. Meine Arbeit war also sehr zeitraubend, denn zunächst konnte ich Wossidlos Bleistiftschrift und seine Abkürzungen kaum entschlüs- seln. Parallel arbeitete ich an meinem Niederdeutschen Liederbuch für den Rostocker Hinstorff-Verlag weiter. Denn bereits vor meiner Bewerbung an der Akademie hatte mir der Verlag angeboten, ein Niederdeutsches Liederbuch herauszugeben, offenbar ermutigt von den neuen staatlichen Beschlüssen Zur Förderung des künstlerischen Volksschaffens und Verfügung des Ministers für Kultur über die Bildung von Zentren zur Folklorepflege im künstlerischen Volksschaffen der DDR vom 1.9.1977, die das Plattdeutsche wieder salonfähig machten.

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Da ich die Parteibeschlüsse erst nach der Wende lesen konnte, ging ich unbefangen an die Sichtung des Materials. Es schien sich die Chance zu bie- ten, vergleichend arbeiten und das mecklenburgische Platt im Geflecht benach- barter Liedlandschaften darbieten zu können. Die Rahmenbedingungen jedoch waren alles andere als optimal: Besuche der Archive etwa in Kiel, Hamburg oder des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg waren nicht möglich, das Pommersche Volksliedarchiv blieb unauffindbar, die Existenz des Bremer Instituts für Niederdeutsch war uns damals nicht bekannt, neueste Literatur zum Niederdeutschen bei uns so gut wie nicht vorhanden. Das in der DDR verfüg- bare Notenpapier erwies sich als für den Druck unbrauchbar und wurde dann, ebenso wie die schwarzen Faserstifte, durch Verwandtschaft aus dem Westen besorgt. Notendruck kannten unsere Druckereien nicht, so dass ich alle Noten mit der Hand schrieb. Was in der Ausführung später von den Rezensenten dann als so hübsch und ansprechend gelobt wurde, war im Grunde also Folge des Mangels. Und was im Kleinen galt, galt auch für das Große: Der für mich und auch die Mitarbeiter des Wossidlo-Archivs überraschende Erfolg dieses ersten Liederbuches1, die Tatsache, dass das Buch sofort nach Erscheinen ver- griffen war und auch noch zwei Auflagen mit je 10 000 Exemplaren folgten, eine Mitdruckauflage im Westen erschien (ganz wichtig bei Neuauflagen!), die positiven und anspornenden Rezensionen – all dies war nicht etwa nur ein Beleg für das wiedererwachte Interesse am Niederdeutschen oder wohl gar am spontanen Singen, sondern Ausdruck des Fehlens einer Literatur, die sich aus Sicht der Leser dem so lange vernachlässigten Heimatgedanken widmete, stiller Protest gegen die penetranten Bemühungen staatlicherseits, eine sozialistische Nationalkultur zu verordnen. Das öffentliche Interesse für die volkskundlichen Belege, besonders für Festbräuche, Tänze und Lieder im Wossidlo-Archiv, wuchs in diesen Jahren rasant, jedoch blieben die negativen Folgen für meine eigentliche Arbeit an der Dissertation nicht aus. Die Zeit wurde knapp. Nur die Tatsache, dass ich meine Prüfungen dennoch ordentlich absolviert hatte, der Vertrag mit dem Verlag einzuhalten war und eben deutlich staatliches Interesse an der Veröffentlichung bestand, retteten mich vor dem vorzeitigen Ende der Aspirantur. Und offen- bar wurde ich noch gebraucht, denn es war die Rede von einem größeren Projekt: Eine ‚Mecklenburgische Volkskunde‘ sollte entstehen, und mein weit- sichtiger Doktorvater Ulrich Bentzien sah wohl, dass meine Beschäftigung mit der Volksmusik Mecklenburgs schon eine gewisse Vorarbeit für das entspre- chende Kapitel sein könnte. Man muss bedenken, dass das Wossidlo-Archiv sich ja vor allem mit regionaler Volkskultur beschäftigte, und wir waren zu diesem Zeitpunkt eben nur drei Wissenschaftler dort.

1 1988 erschien folgendes weitere Liederbuch: Dat du mien Leewsten büst. 200 platt- deutsche Lieder aus Vergangenheit und Gegenwart, Rostock: Hinstorff .

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