Materialien

Peter Schäfer/Tanja Tabbara (Hrsg.) DIALOG MIT DEM POLITISCHEN III

Inhalt

Einleitung 3

Hana Amoury und Tsafrir Cohen Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel: Linke und IslamistInnen –  wie geht das denn? 5

Ibrahima Thiam Islamische Bruderschaften im ­ – eine Quelle sozialer Stabilität? 15

«Ohne die religiösen Führer würde das Land vor die Hunde gehen» 22 Interview mit dem Afrika-Experten Mamadou Diouf über Islam und Politik im Senegal

Politische Teilhabe statt ­Ausgrenzung von Muslimen 28 Interview mit der tunesischen Staatssekretärin Saida Ounissi über ihre Erfahrungen mit ­Islamophobie und Rassismus in Frankreich1

Autorinnen und Autoren 32

Einleitung 3

Einleitung

Die Reihe «Dialog mit dem politischen Islam» zugehörigkeit einzuteilen erweist sich hierbei befasst sich mit der Frage, welche Rolle der als eine eingeschränkte Sicht der Dinge. Dazu Islam für die politische Verfasstheit und de- kommt, dass Parteien und zivilgesellschaftli- mokratische Entwicklung ausgewählter Re- che Organisationen, die in religiös-konservativ gionen spielt. Sie begann im Dezember 2014 dominierten Gegenden arbeiten wollen, dies mit der Darstellung von zwei unterschiedli- nur mit der Zustimmung örtlicher anerkann- chen linken Positionen, die sich jeweils für ter Autoritäten tun können. Der Text über die und gegen einen Dialog mit moderaten isla- Gemeinsame Liste in Israel zeigt am Beispiel mistischen Kräften aussprachen. In der zwei- einer Solidaritätsdemonstration für Frauen- ten Veröffentlichung vom Juni 2016 beschrie- rechte, dass Koalitionen mit islamischen Wür- ben AutorInnen, die sich seit Jahren mit dem denträgern die Bündnis- und Mobilisierungs- Thema Islamismus beschäftigen, warum Lin- fähigkeit erhöhen. ke mit denjenigen islamistischen Kräften, die Der Senegal ist mit zwei Beiträgen vertreten. heute zum Teil linke Kernthemen wie soziale Der Artikel von Ibrahima Thiam diskutiert die Gerechtigkeit besetzen und verhandeln, in ei- Funktion islamischer Bruderschaften bei der nen kritischen Dialog treten sollten. Lösung gesellschaftlicher Konflikte sowie ih- Diese dritte Ausgabe nun befasst sich mit drei re historische Genese im antikolonialen Wi- Ländern – Israel, Senegal und Tunesien –, in derstand. Der Text konzentriert sich auf die denen Religion eine große gesellschaftliche wichtige Rolle sufischer Organisationen und und politische Bedeutung hat. Eine Positionie- Bewegungen. Sie «formen den Islam im Se- rung innerhalb des religiösen Kontexts ist hier negal,» schreibt Ibrahima Thiam, was bereits Teil des politischen Geschäfts. Für die Linke im Vergleich mit den meisten arabischen und andere Kräfte, die für Säkularismus bzw. Ländern, in denen sufische Gemeinden eher Laizismus eintreten, war die Vernachlässi- eine marginale Rolle einnehmen und teils gung der gesellschaftlichen Funktion und Rol- von salafistischen Gruppen bekämpft wer- le von Religion einer der Gründe für schwin- den, auf die Heterogenität des politischen dende Popularität in Ländern der arabischen Islam hinweist. Das Interview mit Mamadou Welt und darüber hinaus. Religiöse Kräfte sind Diouf vertieft diese Analyse und beschreibt in vielen sozialen Bereichen aktiv und vertre- die stabilisierende Interaktion zwischen den ten zum Teil Positionen, die auch Linke befür- Sufi-Bruderschaften und der staatlichen Ebe- worten. ne. Diouf bezeichnet die Bruderschaften als Der erste Beitrag befasst sich mit der Ge- Grund für das Überleben des sich in einer wirt- meinsamen Liste in Israel, einer Wahlallianz schaftlichen Dauerkrise befindlichen Staats, aus Linken und IslamistInnen. Hana Amoury sieht sie jedoch auch als Bremsklötze für de- und Tsafrir Cohen beschreiben in ihrem Arti- mokratische Entwicklungen. kel, dass politische Zugehörigkeit nicht nur Saida Ounissi von der tunesischen al-Nahda auf Überzeugung beruht, sondern oft inner- Partei ist seit August Staatssekretärin für Be- halb der Familie «vererbt» wird. So kommen rufsbildung im Ministerium für Arbeit in Tunis. politische Zusammenhänge und Koalitionen Das Gespräch mit ihr konzentriert sich auf ih- zustande, deren Mitglieder in Bezug auf Ideo- re Erfahrungen als Muslimin in Frankreich, wo logie, Werte oder spezifische Positionen hoch- sie aufwuchs und sich mit Fragen der Integra- gradig heterogen sind. Menschen nach Partei- tion beschäftigte. Sie plädiert für die Einbezie- 4 Einleitung

hung und stärkere politische, auch vermitteln- vielen Ländern zu einer Renaissance nationa- de Rolle muslimischer (und anderer religiöser) listischer Strömungen führt. Gemeinschaften in europäischen Gesellschaf- ten. Ounissi sieht gläubige MuslimInnen in- Berlin, im Dezember 2016 nerhalb eines christlich-geprägten Europas mit als treibende Kräfte für die Wiederbele- Peter Schäfer bung humanistischer moralischer Werte in ei- Leiter des Nordafrika-Büros ner Zeit, in der Sinn- und Wertekrisen domi- der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis nieren, religiöse Werte als politische Leitlinien nicht mehr salonfähig sind, das Vertrauen in Tanja Tabbara demokratische Institutionen abnimmt und die Leiterin des Afrika-Referats Suche nach moralischen Maßstäben derzeit in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel 5

Hana Amoury und Tsafrir Cohen Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel: Linke und IslamistInnen – wie geht das denn?

Gibt es in den zerrütteten Gesellschaften im als auch die konservative Vereinigte Arabi- Nahen Osten, in denen die politische Bühne sche Liste, deren Argumente auf dem eige- von islamischen FundamentalistInnen und nen Verständnis islamischer Ideale basieren. von reaktionären alten Eliten beherrscht wird, Dieser Text beleuchtet die Entstehung dieses die meist als «Staat im Staate» agieren, über- Projekts und benennt die wichtigsten Erfolgs- haupt noch Hoffnung auf einen Aufschwung faktoren. Abschließend werden die Auswir- der Linken? Welche Chancen haben progres- kungen der Gemeinsamen Liste aus linker Per- sive Ideen, von der Bevölkerung aufgenom- spektive analysiert. men zu werden und dort Verbreitung zu fin- den? Angesichts eines zusehends kleiner Die Entstehung der Gemein- werdenden Aktionsrahmens für demokrati- samen Liste sche Politik ist es an der arabischen Linken, Im März 2014 erhöhte die rechtsgerichte- sich einige grundsätzliche Fragen zu stellen te Regierung unter Benjamin Netanjahu die und ihr Vorgehen sowie ihre Fähigkeit, mit Sperrklausel des Parlaments von 2 Prozent möglichst breiten Bevölkerungsschichten auf 3,25 Prozent der gültigen Stimmen – ganz in Dialog zu treten, zu überdenken. Auch die offensichtlich im Bestreben, die Repräsen- europäische Linke muss sich diesen Fragen tanz der palästinensischen BürgerInnen Is- stellen, wenn sie die Interessen eines großen raels in der Knesset zu begrenzen. Die arabi- Teils der Menschen an den Rändern der euro- sche Minderheit wurde zu diesem Zeitpunkt päischen Gesellschaft repräsentieren will: die von drei bis vier verschiedenen Parteien im MigrantInnen sowie die arabischen und mus- Parlament vertreten, keine hatte jedoch mehr limischen Gemeinschaften, die ein integraler als 3,25 Prozent der Stimmen erreicht. Dieser Bestandteil Europas geworden sind. Schachzug war Teil einer größeren Kampag- Hier lohnt ein genauerer Blick auf den Erfolg ne zur Delegitimierung der Linken und insbe- der Gemeinsamen Liste in Israel, die bei den sondere der palästinensischen Minderheit in Wahlen 2015 insgesamt 13 der 120 Sitze im Israel und ihrer VertreterInnen. Seit dem Jahr israelischen Parlament, der Knesset, errang 2009 schränkte die Netanjahu-Regierung die und damit die drittgrößte Fraktion stellt. Ge- politische Redefreiheit schrittweise ein. Sie er- gründet wurde diese ethnisch gemischte par- ließ zu diesem Zweck verschiedene Gesetze, lamentarische Plattform gemeinsam mit an- die den politischen Boykott oder das Geden- deren Akteuren, die alle die Interessen der ken an die Nakba (dt.: Katastrophe) verbieten. palästinensischen BürgerInnen Israels ver- Nakba bezeichnet den Massenexodus von treten, also etwa 20 Prozent der israelischen PalästinenserInnen, als während des Palästi- Bevölkerung (ohne die palästinensische Be- na-Krieges 1948 mehr als 700.000 palästinen- völkerung in Westjordanland und Gazastrei- sische AraberInnen aus ihrer Heimat (die dann fen, die keine StaatsbürgerInnen Israels sind Israel werden sollte) flüchteten beziehungs- und unter Besatzung leben). Dazu gehören so- weise vertrieben wurden. Alle direkten Ver- wohl die linke Partei Chadasch/al-Dschabha suche, den Einzug arabischer Parteien in die 6 Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel

Knesset zu verbieten, scheiterten bislang le- lamentswahlen. Die Idee einer gemeinsamen diglich am Obersten Gericht Israels. Liste brachte alle in eine merkwürdige Lage Angesichts der neuen Sperrklausel und der und zwang sie nicht nur dazu, ihre Differen- unerwarteten Neuwahlen im März 2015 in- zen beizulegen, sondern auch ihren Stolz und folge einer Regierungskrise blieben den vier die Befürchtungen um ihren Ruf hintanzustel- unterschiedlichen Parteien, die hauptsächlich die israelischen PalästinenserInnen vertreten, nur wenige Wochen, um über ihre Zukunft zu Die Idee einer gemeinsamen entscheiden. Am Ende beschlossen sie die Liste zwang alle Beteiligten Bildung einer gemeinsamen Plattform mit nicht nur dazu, ihre dem Namen Gemeinsame Liste, an der sich Differenzen beizulegen, die folgenden Parteien beteiligten: sondern auch ihren Stolz – die arabisch-jüdische Plattform Chadasch/ und die Befürchtungen um al-Dschabha (Demokratische Front für Frie- ihren Ruf hintanzustellen. den und Gleichheit), deren wichtigster Be- standteil die Kommunistische Partei Isra­els len. Ein Aktivist drückte es in einem Interview ist; folgendermaßen aus: «Wie in allen Bevölke- – die linksliberale, aber nationalistische Balad/ rungsgruppen gibt es auch unter den Palästi- al-Tadschamu‘ (Nationales demokratisches nensern in Israel interne Differenzen. Wir sind Bündnis), deren Hauptforderung die Idee keine Herde. Leute, die versucht haben, ihre einer kulturellen Autonomie für die palästi- Positionen in der internen Debatte zu vertre- nensischen BürgerInnen Israels ist; ten, empfanden eine gemeinsame Liste als – die konservative Vereinigte Arabische Lis- Verrat.»1 te, deren wichtigster Bestandteil der soge- Die erbitterten Auseinandersetzungen zwi- nannte südliche Flügel der Islamischen Be- schen der Islamischen Bewegung und den wegung ist; säkularen AktivistInnen von Chadasch/al-­ – sowie die liberale Ta’al (Arabische Erneue- Dschabha und Balad/al-Tadschamu‘ stellten rungsbewegung), die hauptsächlich durch eine besondere Hürde dar. Kontroversen zwi- ihren charismatischen Anführer Ahmad Tibi schen den progressiven Einstellungen von bekannt wurde, der in der Vergangenheit Chadasch/al-Dschabha und Balad/al-Tadscha- mit jeder der drei anderen Parteien bereits mu‘ einerseits und denen der Islamischen Be- Bündnisse eingegangen war. wegung andererseits machten sich in sehr vielen Bereichen bemerkbar: die Beteiligung Die Argumente gegen von Frauen, die Sichtbarkeit säkularer oder eine Gemeinsame Liste «promiskuitiver» Kultur, das gemeinsame Auf- Die Idee, gemeinsam zu kandidieren, wurde treten von Frauen und Männern in der Öffent- nicht von allen begrüßt. Dies lag hauptsäch- lichkeit, christliche Bräuche im öffentlichen lich an drei Gründen. Die drei ideologisch Raum oder das Thema der LGBTI-Rechte. Eine motivierten Parteien Chadasch/al-Dschabha, junge Aktivistin von Balad/al-Tadschamu‘ frag- Balad/al-Tadschamu‘ und die Islamische Be- te einmal: «Was haben wir mit diesen Leuten wegung sind seit Jahrzehnten politische gemeinsam? Wie können wir auf derselben Gegner. Ihre Rivalität ist für gewöhnlich vor Liste stehen, wenn sie nicht einmal zulassen, Kommunalwahlen am größten, wenn in den dass Frauen an ihren Treffen teilnehmen? Die palästinensischen Orten weit höhere Wahl- Kluft zwischen uns ist unüberbrückbar.» Aida beteiligungen erzielt werden als bei den Par- Touma-Suleiman, feministische Aktivistin von Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel 7

Chadasch/al-Dschabha, die dann Parlamenta- ganz offensichtlich bei Themen, die die Rech- rierin der Gemeinsamen Liste in der Knesset te der palästinensischen Minderheit betrafen, wurde, sprach von einer ideologischen Riva- übereinstimmend abgestimmt, oft auch zu- lität zwischen beiden: «Würden die Dinge an- sammen mit der linksliberalen Meretz-Partei. ders liegen, hätte ich, als Kommunistin, sie Interessanterweise gilt dieses konstante ge- schon zum Frühstück verspeist.»2 meinsame Abstimmungsverhalten auch bei Und schließlich gab es besonders in der sozialen, wirtschaftlichen und Bürgerrechts- Chadasch/al-Dschabha die Sorge, dass die jü- fragen. Als Repräsentantin einer marginali- disch-arabische Zusammenarbeit, ein grund- sierten Bevölkerungsgruppe stimmte die Is- legender Baustein ihrer Parteiidentität, im lamische Bewegung immer im Sinne einer Rahmen einer arabisch dominierten Liste an Stärkung der Rechte von Arbeitenden, Armen Bedeutung verlieren könnte. und anderen marginalisierten Gruppen so- wie einer stärkeren Übernahme von Verant- Die Argumente für wortung durch den Staat zur Gewährleistung eine Gemeinsame Liste dieser Rechte. Dies alles erfolgte im Kontext Auf der anderen Seite – und entgegen den einer Knesset, deren Agenda fast vollständig Vorstellungen vieler PolitikerInnen – war der von immer stärker nationalistisch geprägten Wunsch nach einer gemeinsamen Kandida- Rechtsparteien dominiert wurde, die Demo- tur bereits in der Bevölkerung verankert, lan- kratie in einem ganz engen Sinne verstan- ge bevor Netanjahu sie den vier Parteien quasi den. Eine Tendenz, die KritikerInnen zufolge aufzwang. Umfragen zeigten, dass sich bis zu weniger der Demokratie nach westlichem 85 Prozent der palästinensischen BürgerInnen Verständnis, sondern mehr einer Diktatur Israels eine gemeinsame Plattform ihrer Par- der Mehrheit entspricht, die bestrebt ist, den teien wünschten. Raum zu begrenzen, der politischen und eth- Unterstützung erhielt die Idee auch von füh- nischen Minderheiten bleibt, um Widerspruch renden PolitikerInnen in den besetzten paläs- zu äußern. Generell lässt sich also sagen, dass tinensischen Gebieten sowie von führenden die Situation geprägt war von der Auseinan- arabischen Intellektuellen, wie etwa dem be- dersetzung mit der Regierung und den größ- rühmten libanesischen Intellektuellen und ten Oppositionsparteien, die im Sinne einer

Die Islamische Bewegung stimmte immer im Sinne einer Stärkung der Rechte von Arbeitenden und Armen sowie einer stärkeren Übernahme von Verantwortung durch den Staat zur Gewährleistung dieser Rechte.

Schriftsteller Elias Khoury. Er sah in der Grün- stärkeren neoliberalen Ausrichtung für mehr dung der Gemeinsamen Liste «einen Kontra- Privatisierung und einen Rückzug des Staates punkt zum Klima der Auflösung, das über die aus immer mehr gesellschaftlichen Aufgaben arabische Welt aufgrund von Zerstörung und eintraten. sektiererischen Kämpfen hinwegfegt».3 Nicht zuletzt lässt sich anführen, dass die Par- Auch das bisherige Abstimmungsverhalten teien in den Augen der jüdisch-israelischen und die übrigen parlamentarischen Aktivitä- Presse ohnehin durchgängig als «arabischer ten der zuvor genannten Parteien untermau- Parteienblock» tituliert werden, was insbe- erten dieses Bestreben, schließlich hatten sie sondere die Chadasch/al-Dschabha irritier- 8 Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel

te, ist sie doch das einzig echte jüdisch-ara- der und AnhängerInnen. Die Verbindung von bische Bündnis in der politischen Landschaft nationaler Identität mit religiösem Bezugs- Israels. Der Begriff spiegelt zudem den his- rahmen hebt sich ab von manch anderer ver- torischen Umstand wider, wonach keine der wandter Bewegung in der islamischen und unabhängigen Parteien, die insbesondere arabischen Welt, die den nationalen Kampf die palästinensische Min- derheit in Israel vertreten, und zwar einschließlich der Die Verbindung von nationaler Identität Chadasch/al-Dschabha, seit mit religiösem Bezugsrahmen hebt sich Gründung des Staates an ei- von manch anderer verwandter ner Regierungskoalition be- Bewegung in der islamischen und teiligt wurden, nicht einmal arabischen Welt ab, die den nationalen zu Zeiten der linksliberalen Kampf der Schaffung einer islamischen Regierung von Jitzhak Ra- Gesellschaft unterordnet. bin in den 1990er Jahren. Um zu verstehen, warum die Gemeinsame der Schaffung einer islamischen Gesellschaft Liste zu einer echten Option wurde, ist es von unterordnet. zentraler Bedeutung, bestimmte Charakteris- In einer 2015 durchgeführten Umfrage unter tika beider Lager näher zu betrachten, sowohl Mitgliedern der Islamischen Bewegung wur- des linken Lagers als auch der Islamischen Be- den die TeilnehmerInnen gebeten anzugeben, wegung in Israel. welche Identität bei ihnen dominiere. 50 Pro- zent wählten eine nationale palästinensische Die Islamische Bewegung Identität als dominant, die anderen 50 Pro- in Israel zent eine religiös-islamische Identität. Dieses Die Wurzeln der Islamischen Bewegung in Ergebnis verdeutlicht den Charakter der Isla- Israel/Palästina reichen bis zu den Anfängen mischen Bewegung in Israel und ihre enge des britischen Völkerbundmandats für Paläs- Verbindung mit dem Kampf für nationale Un- tina zurück, als die in Ägypten neu gegrün- abhängigkeit. dete Muslimbrüderschaft begann, erste Un- Während der 1980er Jahre erzielte die Islami- tergruppen in Palästina aufzubauen. In Israel sche Bewegung wichtige Erfolge bei den is- wuchs die Bewegung signifikant allerdings raelischen Kommunalwahlen mit einer wach- erst in den 1970er Jahren nach der Niederla- senden Anzahl politischer Ämter in Dörfern ge von 1967 und dem Zusammenbruch des und Städten. Die Ergebnisse der Gemeinde- Panarabismus und der daraufhin in der ara- ratswahlen in den Jahren 1981 bis 1989 zei- bischen Welt anbrechenden Zeit des «Islami- gen, dass es kaum eine Gemeinde gab, in schen Erwachens». Anfangs diente sie als re- der die Bewegung keine Zugewinne zu ver- ligiös-sozialpolitisches Ventil einer nationalen zeichnen hatte. 1989 gewann die Bewegung und religiösen Minderheit, die den jüdischen schließlich ihre erste Bürgermeisterwahl in Charakter des Staates – und seine westliche Umm al-Fahm, der zweitgrößten palästinensi- Orientierung – als problematisch betrachtete. schen Stadt Israels. Eine der bedeutsamsten Eigenschaften der Is- Der Sieg in Umm al-Fahm, der Beginn des lamischen Bewegung in Israel jedoch ist das Friedensprozesses Anfang der 1990er Jah- Vorhandensein einer ethnischen und nationa- re und die Unterzeichnung der Oslo-Abkom- len palästinensischen Identität als integraler men4 führten schließlich dazu, dass einige der Bestandteil der Identität der eigenen Mitglie- Anführer der Islamischen Bewegung auch Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel 9

landesweit zu agieren begannen. Zu Beginn Es kam zur Spaltung. Da beide Seiten darauf der 1990er Jahre entspann sich in der Bewe- bestanden, weiterhin Islamische Bewegung gung dann eine Debatte, die schließlich zur zu heißen, werden sie gemeinhin nördlicher Spaltung der Islamischen Bewegung führte. und südlicher Flügel genannt, um sie ausein- Scheich Darwish, Anführer und Gründer der anderzuhalten. Während der südliche Flügel Bewegung, war mit seinen AnhängerInnen der Islamischen Bewegung seit 1996 durch- der Meinung, dass sich die Bewegung nicht gehend in der Knesset vertreten ist, lehnte allein auf lokale Wahlen beschränken sollte, es der nördliche Flügel bis zuletzt ab, an den sondern auch an landesweiten Wahlen teil- Wahlen zur Knesset teilzunehmen. Ende 2015 nehmen müsste. Darüber hinaus sollte sie wurde der nördliche Flügel durch die israeli- auch eine Friedensvereinbarung zwischen Is- sche Regierung verboten, vor allem aufgrund rael und den PalästinenserInnen unterstützen. seiner mutmaßlichen Beziehungen zur Ha- Die Scheichs Raed Salah und Kamal Khatib mas. lehnten Darwishs Vision strikt ab und begrün- Es ist diese Besonderheit des südlichen Flü- deten dies damit, dass eine Beteiligung an der gels der Islamischen Bewegung, die ihn zu Knesset die Bewegung nicht voranbringen, einem integralen Bestandteil des nationalen sondern paralysieren würde. Zudem waren sie und bürgerrechtlichen Bestrebens macht und der Meinung, dass palästinensische Abgeord- nicht als Außenseiter bei diesen Themen da- nete in der Knesset zum Misserfolg verdammt stehen lässt. seien, sobald es um die Interessen der arabi- schen Öffentlichkeit ginge, und dass Muslime Die arabische Linke in Israel nicht als Abgeordnete in einem israelischen Die arabische Linke in Israel ist ebenfalls un- Parlament sitzen könnten, weil dies erfordere, gewöhnlich aufgestellt und mitnichten ho- einem Staat die Treue zu schwören, der sich mogen. Sie bleibt zudem – im Gegensatz zu als jüdisch definiere. Salah und Khatib waren vielen anderen linken Bewegungen in der ara- auch gegenüber einer möglichen Friedens- bischen Welt – trotz Einbußen stärkste politi- vereinbarung deutlich weniger kompromiss­ sche Vertretung der palästinensischen Bürge- bereit und kritisierten den Oslo-Prozess. rInnen Israels und behält damit den Charakter Im Vorfeld der Wahlen von 1996 gründeten einer Volkspartei. Wie in anderen Ländern Darwish und seine AnhängerInnen des südli- der arabischen Welt auch ist ein Teil der Füh- chen Flügels der Islamischen Bewegung die rungsriege der israelischen Linken zwar Teil Partei Ra‘am, die in der 14. Knesset vier Sitze eines urbanen, intellektuellen Milieus gewor- errang. Sie waren der Überzeugung, dass die den, das kaum noch Berührungspunkte mit Beteiligung an den Parlamentswahlen ledig- breiten Teilen der Bevölkerung hat und einen lich ein Mittel zum Zweck war, das ihnen er- westlichen Lebensstil pflegt. Bei vielen lo- möglichen sollte, sowohl politische Entschei- kal und kommunal agierenden AktivistInnen dungsprozesse zu beeinflussen als auch den und Kadern der linken Parteien ist das jedoch Status der arabischen Bevölkerung zu verbes- nicht der Fall. In manchen Dörfern und Klein- sern. Sie brachten vor, dass es kein religiöses städten wird die Kommunistische Partei von Gebot gebe, das eine Beteiligung an landes- hart arbeitenden Bauern und Bäuerinnen ge- weiten Wahlen untersage, und stellten klar, führt, von ArbeiterInnen und HandwerkerIn- dass, sollte es jemals einen Widerspruch zwi- nen, die oft einen konservativen und häufig schen der Wahlbeteiligung und den Prinzipien sogar religiösen Lebensstil haben. Dabei gilt des Glaubens geben, sie auf die Beteiligung es zu bedenken, dass die palästinensische Ge- an den Wahlen verzichten würden. sellschaft keine säkulare Gesellschaft ist und 10 Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel

Tradition sowie Religion eine entsprechend organisierten einige Frauen nach der Ermor- zentrale Rolle im sozialen Miteinander spie- dung von zwei Frauen durch Familienangehö- len und auch das politische Leben beeinflus- rige eine Demonstration in Jaffa, um gegen sen. In einer solchen Gemeinschaft sind Poli- die Gewalt gegen Frauen zu protestieren. Die tik und Parteimitgliedschaft Teil der Tradition. Aktivistinnen führten langwierige interne De- Links zu sein liegt in der Familie, dasselbe gilt batten darüber, was ihre Botschaft sein sollte: auch für die Islamische Bewegung: Kinder von Einerseits ging es ihnen darum, der Gewalt ei- KommunistInnen würden sich an der Univer- ne klare Absage zu erteilen und das Recht der sität selbstverständlich der Ortsgruppe der Frauen auf ein selbstbestimmtes Leben zu ver- Kommunistischen Partei anschließen, eben- teidigen. Andererseits wollten sie, dass sich so wie die Kinder von AnhängerInnen der Is- möglichst viele Frauen und Männer der Ge- lamischen Bewegung islamistische Gruppen meinde hinter diese Botschaft stellen, die zwar gründen oder sich welchen anschließen. An Gewalt ablehnen, aber nicht unbedingt bereit sind, Parolen für die Freiheit und Gleichheit von Frauen zu Die palästinensische Gesellschaft ist rufen. Diese Menschen wer- keine säkulare Gesellschaft. Tradition den stark von religiösen Figu- und Religion spielen eine zentrale ren beeinflusst, weshalb gro- Rolle im sozialen Miteinander und ßer Wert darauf gelegt wurde, beeinflussen das politische Leben. Akteure der lokalen Zivilge- sellschaft einzubinden, und manchen Orten genügt es, den Familienna- zwar mit einem speziellen Fokus auf die isla- men einer Person zu kennen, um zu wissen, misch argumentierenden Bewegungen und welcher Partei diese wahrscheinlich angehört Institutionen, da diese die Akzeptanz für das und seit wie vielen Generationen. Projekt erhöhen und größere Unterstützung Für die Funktionsweise der Linken innerhalb der Basis garantieren. Zwischendurch bahnte der palästinensischen Gesellschaft in Israel sich allerdings eine Krise an, als eine der Ak- sind Nichtregierungsorganisationen von es- tivistinnen am Tag vor der Demonstration im senzieller Bedeutung. Diese arbeiten zu The- Fernsehen interviewt wurde und dabei über men wie Feminismus und Frauenrechte, Ar- fundamentalistische Kräfte sprach, die Re- beitsrechte oder zur allgemeinen politischen ligion zur Rechtfertigung von Gewalt gegen Bildung. Die Nichtregierungsorganisationen Frauen heranziehen würden. Einige führende sind darum bemüht, innerhalb lokaler Ge - Persönlichkeiten der Islamischen Bewegung meinschaften zu arbeiten und ihr Zielpubli- in Jaffa sahen das Interview, fühlten sich da- kum konstant zu erweitern. Dafür müssen sie von beleidigt und begannen, Menschen dazu Programme aufsetzen, die ihnen auch Zugang aufzurufen, nicht an der Demonstration teil- zu konservativen Gruppierungen ermögli- zunehmen. Es musste viel getan werden, um chen. In manchen Fällen mussten Frauenor- den Schaden zu begrenzen und die Menschen ganisationen lokale Scheichs konsultieren, davon zu überzeugen, dass sich die Demons- um die Zustimmung zur Durchführung eines tration weder gegen Religion noch gegen re- Programms in einer bestimmten Ortschaft zu ligiöse Bewegungen richtete. Was am Ende erhalten. Andernfalls hätten die Scheichs die wohl den Ausschlag für den großen Erfolg der Menschen dazu aufgefordert, nicht an die- Demonstration gab, war die Tatsache, dass im ser Aktivität teilzunehmen, was das gesamte Planungskomitee auch einige religiöse Frauen Programm gefährdet hätte. Im Herbst 2016 mit Hidschab beteiligt waren, die – so das Bild Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel 11

Der Zusammenschluss in der Gemeinsamen Liste hat zu einer höheren Wahlbeteiligung geführt und hierdurch zu einer stärkeren Vertretung der palästinensischen Minderheit in der Knesset sowie einer größeren Wahrnehmung ihrer Anliegen. der Gesellschaft – der Religion nicht feindlich, Forderungen nach gleichen Rechten für die sondern positiv gegenüberstanden. Darüber palästinensische Minderheit in Israel und für hinaus wurden Slogans und Plakate vorberei- ein Ende der Besatzung. Es enthält außerdem tet, die auf Koranzitaten beruhten, um die Ge- einige traditionelle Forderungen der Linken, walt gegen Frauen zu verurteilen und Männer wie die Erhöhung des Mindestlohns und das dazu aufzurufen, Frauen respektvoll zu behan- Ende rassistisch motivierter Diskriminierung deln. in all ihren Formen. Ebenfalls umfasst es eini- Diese nicht gänzlich säkulare Natur der Linken ge Forderungen, bei denen sich die Islamische bzw. die Tatsache, dass die Linke nicht dezi- Bewegung schwerer tat, sie zu akzeptieren, diert antireligiös eingestellt ist, erklärt zum wie die Forderung nach voller Gleichberech- Teil auch, warum Demonstrationen zu unter- tigung der Frauen in allen Lebensbereichen, schiedlichsten sozialen und politischen The- nach Ablehnung aller religiös begründeten men üblicherweise bei einer Moschee be- Auseinandersetzungen und nach Förderung ginnen oder dort enden. Und es ist selbst für freier kultureller und künstlerischer Meinungs- SprecherInnen der Kommunistischen Partei äußerung. Das Wahlbündnis war gerade für nicht unüblich, ihre Rede mit dem Satz «B’ism die Chadasch/al-Dschabha ein großer Erfolg, al-rahman al-rahim» (dt.: «Im Namen des denn sie erhielt fünf Sitze in der Knesset, wo- barmherzigen und gnädigen Gottes») zu be- durch sie die stärkste Partei der Gemeinsamen ginnen. Liste wurde und nun mit ihrem Spitzenkandi- daten Ayman Odeh den Vorsitzenden stellt. Die Gemeinsame Liste – Alles in allem ist es den progressiven Kräften eine Erfolgsstory? und insbesondere Chadasch/al-Dschabha Ein ­Triumph der Linken? gelungen, sich zu behaupten und mit zwei Nach der Betrachtung der Vor- und Nachtei- Frauen, zwei Christen, zwei Beduinen, einem le sowie der deutlichen Opposition einiger Drusen und einem Juden einen ethnisch he- tonangebender Mitglieder von Chadasch/ terogenen und feministischen Charakter der al-Dschabha, sich der Gemeinsamen Liste an- Liste durchzusetzen. zuschließen (die dann aber von einer breiten Der Zusammenschluss in der Gemeinsamen Mehrheit der Basis überstimmt wurden), wol- Liste hat zu einer höheren Wahlbeteiligung len wir nun, fast zwei Jahre nach ihrer Grün- geführt und hierdurch zu einer stärkeren Ver- dung, einen genaueren Blick aus linker Pers- tretung der palästinensischen Minderheit in pektive auf die Gemeinsame Liste werfen. der Knesset sowie einer größeren Wahrneh- Von Anfang an ist es den fortschrittlichen mung ihrer Anliegen. Eine weitere positive Kräften in der Gemeinsamen Liste ohne grö- Entwicklung ist die sich wandelnde Einstel- ßere Anstrengung gelungen, die politische lung der jüdischen KnessetvertreterInnen ge- Vormachtstellung einzunehmen: Basis der genüber ihren KollegInnen. Die Gemeinsame gemeinsamen Plattform ist das Parteipro- Liste arbeitet zu bestimmten Themen mit ei- gramm.5 Es umfasst die intern unumstrittenen nigen anderen Parteien zusammen, und ihr 12 Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel

kombiniertes Stimmengewicht macht sie Vorsitzende des Ausschusses konnte Tou- in verschiedenen Kontexten zu einem ent - ma-Suleiman den Kampf für die Rechte der scheidenden Faktor: «Zum ersten Mal», sagt Frauen aus einer intersektionalen Position (die Haneen Soabi, Abgeordnete der Balad/al-Tad- Überschneidung von verschiedenen Diskrimi- schamu‘ in der Knesset, «werden wir über- nierungsformen in einer Person) heraus ver- haupt gefragt, was wir von ihren Vorschlägen treten und Themen ansprechen, die ihre Vor- und Ideen halten.» Eine stärkere Parlaments- gängerInnen im Amt für irrelevant befanden. fraktion bedeutet auch mehr Medienaufmerk- Hierzu gehörten beispielweise die Auswir- samkeit sowie internationale Beachtung und kungen des Abrisses von Häusern6 auf Frau- Wirkung, die sich durch vermehrte Einladun- en und Kinder, die rassistische Praxis der Tren- gen ins Ausland und durch Treffen mit Di­ nung von jüdischen und palästinensischen plomatInnen und eingereisten PolitikerInnen Frauen in Entbindungsstationen oder die se- zeigt. xuelle Gewalt seitens der Polizei. Die Tatsache, Der wahrscheinlich größte Erfolg, den man dass es ihr gelungen ist, die Aufmerksamkeit der Gemeinsamen Liste zuschreibt, ist das der Gesetzgebung auf die allgemeinen Rech- Fünf-Jahres-Programm der Regierung über te von Frauen zu lenken und die besonderen 3,5 Milliarden Euro für die palästinensischen Interessen der Palästinenserinnen, der Frauen Kommunen, um die soziale Kluft zwischen jü- der Arbeiterklasse und der LGBTI-Community dischen und palästinensischen BürgerInnen einzubinden, bestätigt das große Potenzial der Israels zu schließen. Das Programm wurde Gemeinsamen Liste, die Politik der Segrega­ vom Finanzministerium als Reaktion auf die tion, die von der israelischen Regierung betrie- negativen OECD-Berichte hinsichtlich der ben wird, effektiv zu bekämpfen. systematischen Diskriminierung der nicht Die Gemeinsame Liste entfaltete auch außer- jüdischen Bevölkerung entwickelt und von halb des Parlaments eine positive Wirkung. der Regierung nach massivem internen Wi- Die Abnahme der Spannungen unter den derstand schließlich durchgesetzt. Die par- Fraktionen hat eine fokussiertere Arbeit gegen lamentarische Stärke der Gemeinsamen Lis- den Waffenmissbrauch zu kriminellen Zwe- te ermöglicht ihr nun, die Umsetzung dieses cken innerhalb der palästinensischen Kommu- Programms zu kontrollieren, die von extrem nen in Israel und insbesondere gegen das aku- rechten MinisterInnen möglicherweise noch te Problem der Gewalt gegen Frauen möglich untergraben werden könnte. gemacht – zwei Problemfelder, die sich nicht Als zweitgrößte Oppositionspartei nach der zuletzt durch Vernachlässigung und Nichttä- Zionistischen Union spielt die Gemeinsame tigkeit seitens der staatlichen Behörden ste- Liste gegenüber der Regierungskoalition eine tig verschärfen. Nachdem die Organisatorin zentrale Rolle und hat enorm an politischem des ersten Frauen-Marathons in der Stadt Tira Einfluss gewonnen. Aufgrund ihrer Größe er- Morddrohungen von gewaltbereiten Islamis- hielt die Partei den Vorsitz eines Knesset-Aus- ten erhalten hatte und auf ihr Auto geschos- schusses, und als erste palästinensische Bür- sen wurde, haben ihr alle Parteien der Liste ei- gerin in dieser Funktion überhaupt übernahm nen Solidaritätsbesuch abgestattet, auch die Aida Touma-Suleiman den Vorsitz des Aus- Islamische Bewegung. Die Gemeinsame Lis- schusses für Frauen und Gleichberechtigung te ermöglicht ihren fortschrittlich denkenden mit echten gesetzgeberischen Kompetenzen. Mitgliedern Zugang zu konservativeren Krei- Angesichts der Schwierigkeit für palästinensi- sen: Aida Touma-Suleiman erwähnte in die- sche Frauen, an politische Posten in Israel zu sem Zusammenhang, dass es ihr als feminis- kommen, ist dies von großer Bedeutung. Als tischer Kommunistin durch die Gemeinsame Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel 13

Liste erstmals möglich wurde, mit Beduinen- bha deckten und dass er einer weiteren An- frauen zusammenzutreffen, was bis dahin in näherung an eine linke, rechtebasierte Politik den religiösen Gemeinden der Negev-Wüste mehr als offen gegenüberstünde. Bezüglich undenkbar gewesen wäre. Die scharfe Reak- der kontroverseren Themen wie Frauen- und tion einiger Parteimitglieder von Chadasch/ LGBTI-Rechte hat sie die gemeinsame Arbeit al-Dschabha und Balad/al-Tadschamu‘ auf genötigt, Kompromisse einzugehen und sich einen homophoben Artikel7 eines Mitglieds auch zu Fragen, bei denen sie von der Linken des sogenannten nördlichen Flügels der Is- abweicht, flexibler zu zeigen. Bei den Wah- lamischen Bewegung (der wie oben erwähnt len agitierten sie zum ersten Mal nicht gegen nicht Teil der Gemeinsamen Liste ist) einige Schwule und Lesben und akzeptierten Frau- Wochen nach der Wahl, zeigt außerdem, dass en und Juden (zwei bzw. einer von insgesamt eine gemeinsame Liste mit konservativen Ak- 13 Knesset-VetreterInnen) als ihre Kandida- teurInnen die progressiveren Kräfte nicht da- ten und gleichwertigen KollegInnen. Zur Ver- von abhält, öffentlich Kritik zu üben. tretung der Frauen innerhalb der Gemeinsa- Und schließlich zur Frage, ob sich der nörd- men Liste befragt, antwortete Masud Ghnaim: liche Flügel der Islamischen Bewegung ge- «Wir haben 2 von 13 und wir sollten daran wandelt hat: Die Struktur der Gemeinsamen arbeiten, dies zu verbessern.» 8 Der nördli- Liste lässt es nicht zu, den anderen die eige- che Flügel der Islamischen Bewegung grenzt ne Meinung aufzuzwingen, zumal die Partei- sich zudem eindeutiger als zuvor von radika- en bei kontroversen Themen unabhängig und len Gruppen ab, die innerhalb der palästinen- sogar gegensätzlich abstimmen können. Al- sischen Gesellschaft im Namen des Islam ge- lerdings war der Beitritt zur Gemeinsamen gen Frauenemanzipation, Homosexuelle oder Liste, wie es die Führungskräfte der Islami- kulturelle Diversität hetzen. Ein Lerneffekt ist schen Bewegung formuliert haben, ein Mo- also ebenso deutlich spürbar wie die zuneh- ment der politischen Reife, in dem sie gelernt mende Aufgeschlossenheit gegenüber einem haben, sich auf die Gemeinsamkeiten der progressiveren Diskurs. Parteien zu verständigen und bei Differenzen verschiedener Ansicht zu sein. Gleichzeitig Schlussfolgerungen haben sie aber auch verstanden, dass sie, da Im Gegensatz zu vielen kritischen Vorhersa- sie sich keine Meinung vorschreiben lassen, gen, die Gemeinsame Liste werde sich nach auch ihren PartnerInnen keine Meinung auf- den Wahlen aufspalten, agiert das Bündnis zwingen können. fast zwei Jahre nach seiner Gründung wei- Dennoch bleibt die Frage offen, inwieweit sie terhin sehr erfolgreich als Plattform der nicht sich gegenseitig durch Dialog und gemeinsa- zionistischen Linken Israels und der paläs- me Arbeit beeinflussen. Wie schon erwähnt tinensischen Minderheit, trotz des zuneh- vertritt die Islamische Bewegung eine margi- menden politischen Drucks der israelischen nalisierte Minderheit und zeigt folglich mehr Rechten und der allgemein gewaltbereiten Bereitschaft als andere, linke Gesellschafts- Stimmung in Israel/Palästina. Insbesondere und Wirtschaftstheorien aufzugreifen. Wäh- im Licht der ernüchternden Wahlergebnis- rend eines von der Rosa-Luxemburg-Stiftung se der Meretz-Partei (mit fünf Sitzen) und des organisierten Besuchs in Berlin sprach der konstanten Rechtsrucks der Arbeiterpartei in- Vorsitzende der Islamischen Bewegung in folge ihrer gescheiterten Versuche, der Netan- der Gemeinsamen Liste, Masud Ghnaim, of- jahu-Regierung beizutreten, hat die Gemein- fen davon, dass sich ihre sozialökonomischen same Liste als führende Kraft im Kampf gegen Positionen mit denen von Chadasch/al-Dscha­ Rassismus und für die Umsetzung von so­ 14 Am Beispiel der Gemeinsamen Liste in Israel

zialer Gerechtigkeit und Frieden die politische duktive Auseinandersetzungen mit den unter- Bühne Israels erobert. schiedlichen islamischen Gruppen in der Re- Die Sorgen säkularer und linker AktivistIn- gion gezeigt. nen, dass ein Pakt mit der Islamischen Bewe- gung oder den nationalistischen Mitgliedern 1 Alle Zitate, sofern nicht anders ausgewiesen, stammen aus Inter- views mit den AutorInnen dieses Artikels. 2 Ebd. 3 Khoury, Elias: Yes der Balad/al-Tadschamu‘ den progressive­ to the Joint List, in: Al-Quds Al-Arabi, 9.3.2015. 4 Im September 1993 ren Kräften der Gemeinsamen Liste schaden unterzeichneten Jitzhak Rabin und Yassir Arafat ein Grundsatzabkom- men in Washington, die sogenannten Oslo-Verträge (die Verhandlun- könnte, haben sich nicht bestätigt. Ganz im gen dazu begannen unter Vermittlung der norwegischen Regierung). Gegenteil kann die Gemeinsame Liste als äu- Das Motto lautete «Land für Frieden», doch schrieben sie die Auftei- lung des Westjordanlands in A-, B- und C-Zonen mit verheerenden ßerst produktives, hegemonisches Bestreben Folgen für die Mobilität der palästinensischen Bevölkerung fest. Die der arabisch-jüdischen Linken verstanden A-Gebiete rund um die palästinensischen Städte stehen seither unter palästinensischer Selbstverwaltung, die B-Gebiete unter gemischter werden, die politische Agenda für die gan- und die C-Gebiete unter israelischer Verwaltung. Viele wichtige Fra- ze palästinensisch-israelische Bevölkerung gen – die Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge, die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten, der Status Jerusalems und zu bestimmen und den sozialen Wandel aus der genaue Grenzverlauf – sollten später verhandelt werden. Unter anderem religiös motivierte palästinensische Gruppen protestierten einer Position der Stärke heraus anzuführen, damals gegen die Oslo-Verhandlungen und einen Friedensvertrag mit was ohne eine Konsolidierung durch Wahlen Israel. 5 Für die Übersetzung des Parteiprogramms ins Deutsche sie- he www.rosalux.org.il/dokumentiert-das-programm-der-gemeinsa- undenkbar gewesen wäre. Darüber hinaus me-liste/. 6 Die israelischen Behörden erteilen in palästinensischen hat der Dialog zwischen den linken AktivistIn- Kommunen selten Baugenehmigungen. Folglich sind Abertausende PalästinenserInnen gezwungen, ohne Baugenehmigung zu bauen, nen und der Islamischen Bewegung, die ih- um den Bedarf einer wachsenden Bevölkerung zu decken. Die staat- re öffentliche Position zu Frauenrechten und lichen Behörden reagieren häufig mit dem Abriss der betreffenden Häuser. 7 Vollständiger Artikel in der Zeitschrift The Times of Israel, religionsübergreifender Zusammenarbeit im unter: www.timesofisrael.com/homophobic-op-ed-by-islamic-lea- der-raises-arab-israeli-ire/. 8 Interview von Ronald Zschächner mit Verlauf des vergangenen Jahres korrigiert Knesset-Mitglied Masud Ghnaim: Wir haben uns für Vereinigung ent- hat, einen möglichen Weg für zukünftige pro- schieden, in: Junge Welt, 26.10.2016, S. 3. Islamische Bruderschaften im ­Senegal 15

Ibrahima Thiam Islamische Bruderschaften im ­Senegal – eine Quelle sozialer Stabilität?

1 Einleitung 1044, als der Herrscher von Tekrur,1 War Jabi Im Senegal wird der Islam überwiegend in N’Diaye, zum Islam konvertierte. Mit der An- religiösen Bruderschaften praktiziert. Die- kunft der Almoraviden2 verbreitete sich der Is- se nehmen eine sehr wichtige Rolle im so- lam in der Region.3 Im 15. Jahrhundert, in der zialen, politischen und wirtschaftlichen Le- Blütezeit des Sufismus4 in Nordafrika, konn- ben des Landes ein. Die aktuelle Situation in te sich der Islam schließlich in der senegale- Westafrika ist geprägt von wiederkehrender sischen Gesellschaft verwurzeln. Heute ist politischer Instabilität und dem Entstehen ra- die Bevölkerung zu 95 Prozent muslimischen dikalislamistischer Gruppen in Mali und Ni- Glaubens und gehört mehrheitlich den Bru- geria sowie seit Kurzem in Burkina Faso und derschaften an; eine Minderheit beruft sich der Elfenbeinküste. Auch der Senegal bleibt auf wahhabitische5 Bewegungen, die in Sau- von dieser Entwick- di-Arabien ihren Ur- lung nicht gänzlich sprung haben. Die verschont, obwohl er Die islamischen Verbreitung des Is- als eines der wenigen Bruderschaften spielen lam im Senegal stieß Länder Westafrikas bezüglich der politischen im Allgemeinen auf seine soziale und po- Stabilität des Landes keinerlei Widerstand, litische Stabilität auf- eine entscheidende Rolle, obgleich es auch ein- rechterhalten kann. sie scheinen einen Schutz zelne gewalttätige Die islamischen Bru- gegen Radikalisierung Phasen gab. Diese derschaften spielen darzustellen. Auseinandersetzun- diesbezüglich eine gen wurzelten jedoch entscheidende Rolle, denn sie scheinen einen eher in kulturellen Differenzen. Der Transfer Schutz gegen diese Radikalisierung darzustel- der religiösen Lehre wurde von zahlreichen len. Doch wer sind diese Bruderschaften? Wie Ähnlichkeiten zwischen dem Islam und den tragen sie zur sozialen und politischen Stabi- traditionellen afrikanischen Religionen be- lität des Senegals bei? In welchem Verhältnis günstigt. So bestätigte auch der ehemalige stehen sie zur senegalesischen Regierung? senegalesische Premierminister Mamadou Diesen Fragen geht der vorliegende Artikel Dia (1910–2009), dass der Islam die einheimi- nach. schen religiösen Praktiken bereichern und die Bewahrung ihrer Originalität und kreativen Ka- 2 Blick in die Vergangen- pazitäten ermöglichen konnte.6 heit – der Islam im Senegal Die senegalesische Religionsgeschichte wur- Der Islam erreichte im 9. Jahrhundert im Zuge de von vier Bruderschaften maßgeblich ge- des Karawanenhandels das Gebiet des heuti- prägt: der Tidschānīya, der Murīdīya, der gen Senegal. Die ersten Konversionen im Se- Qādirīya und der Layene. Die Gründer und negal gehen auf das 11. Jahrhundert zurück, Vertreter dieser Bruderschaften werden im genauer auf die Jahre zwischen 1040 und ganzen Land verehrt. 16 Islamische Bruderschaften im ­Senegal

Die älteste senegalesische Bruderschaft ist ihn unter Hausarrest, der bis zu seinem Tod die Qādirīya, deren Gründer ’Abd alQādir al­ am 19. Juli 1927 aufrechterhalten wurde. Dschīlānī (1078–1166) aus Bagdad stammte. Diese Sufi-Bruderschaften formen den Islam Sie wurde im 12. Jahrhundert gegründet und im Senegal, seien sie nun ausländischen oder erreichte den Senegal im 18. Jahrhundert. Sie lokalen Ursprungs. Sie beanspruchen alle das wird von der Kunta-Familie in Ndiassane (Re- prophetische Erbe, unterscheiden sich aber in gion Thiès) vertreten. ihrer Lehre. Zur Zeit der französischen Kolo­ Die im 12. Jahrhundert von Scheich Ahmad nialherrschaft boten die Bruderschaften Raum atTidschānī (1735–1815) gegründete Tid­ für verschiedene Formen des Widerstands. schānīya hat ihren Ursprung in Algerien. Sie erhebt Anspruch auf das prophetische Erbe 3 Widerstandsformen der des orthodoxen Sufismus. Diese Bruderschaft religiösen Bruderschaften stellt die größte Gemeinschaft im Senegal Die senegalesischen Bruderschaften traten zu dar und wird unter anderem von den Fami­ einem günstigen Zeitpunkt in Erscheinung. Im lien von Al-Hāddsch Mālik Sy (1855–1922), 19. Jahrhundert war die Gesellschaft mit zwei ­al-Hāddsch Umar Tall (1797–1864) und von repressiven Systemen konfrontiert: Einerseits der des Scheichs Abdoulaye Niass (1840– existierte eine gesellschaftliche Hierarchi- 1922) vertreten. sierung mit zahlreichen Ungleichheiten und Die Bruderschaft der Layene wurde von Lima- Diskriminierungen, andererseits begann ei- mou Thiaw gegründet, der auch unter dem ne schrittweise Kolonisierung des Landes. Ab Namen Limamou Laye bekannt ist. Er wurde den 1850er Jahren wurde unter dem franzö- im Jahre 1843 in (Halbinsel Cap-Vert) ge- sischen General Louis Faidherbe (1818–1889) boren. Im Gegensatz zu den Gründern der an- der Küstenstreifen zwischen den Flüssen Se- deren Bruderschaften konnte Limamou Laye negal und Saloum besetzt. Frankreich errich- weder lesen noch schreiben. Er war ein anal- tete in der Region Casamance Militärstütz- phabetischer Fischer, der im Alter von 40 Jah- punkte; das Senegal-Tal wurde französisches ren eine religiöse Offenbarung erlebte und da- Protektorat.7 Die Kolonisierung stellte eine raufhin seine eigene Bruderschaft gründete. besondere Bedrohung für die gesellschaftli- Die Murīdīya unterscheidet sich von den an- che und religiöse Ordnung des Senegals dar deren senegalesischen Bruderschaften durch und führte zu massiven Umwälzungen in vie- ihre Lehre, die auf Gebet und Arbeit beruht. len alten Königreichen wie Cayor, Baol, Sine Ihr Gründer Scheich Ahmadou Bamba wurde Saloum, Fouta Toro oder Jolof. Die stark trau- 1853 in Mbacké-Baol (Region Diourbel) gebo- matisierte Bevölkerung forderte die Wieder- ren. Aufgrund von Konflikten mit der französi- herstellung sozialer Gerechtigkeit und das schen Kolonialmacht musste er nach Gabun Überleben ihrer Kultur und Identität. Es for- (1895–1902) und Mauretanien (1903–1907) mierte sich anhaltender Widerstand gegen ins Exil gehen. Nach seiner Rückkehr in den die koloniale Aggression, und unzählige Kö- Senegal fürchteten die französischen Macht- nige, Königinnen, religiöse Führer und Völker haber seinen steigenden Einfluss und stellten kämpften gegen die Kolonisatoren.

Im 19. Jahrhundert sah sich die senegalesische Gesellschaft mit zwei Unterdrückungssystemen konfrontiert: einer gesellschaftlichen Hierarchie mit zahlreichen Diskriminierungen und der Kolonisierung. Islamische Bruderschaften im ­Senegal 17

Zwei Bruderschaften haben das Land mit ih- die Arbeit und das Gebet, entsprechend dem rem Einsatz gegen die Kolonisierung geprägt: Leitsatz: «Arbeitet, als würdet ihr nie sterben. die Murīdīya von Scheich Ahmadou Bamba Betet, als würdet ihr schon morgen sterben.» und die Tidschānīya mit Al-Hāddsch Mālik Zwei weitere Aussprüche des Scheichs Ah- Sy. Auch Personen wie al-Hāddsch Umar Tall, madou Bamba bezüglich der Arbeit dienen in Lat Dior, Alboury Ndiaye, Mamadou Lamine der Murīdīya heute als Leitsätze: «Arbeiten ist Dramé, Maba Diakhou Bâ oder Aline Sitoé Di- ein Beweis der Gottergebenheit», und «dies atta wurden aufgrund ihres Einsatzes für den ist eine von Gottes Empfehlungen». Diese Widerstand bekannt. Die meisten von ihnen beiden in der Murīdīya vielzitierten Maximen fielen im Kampf gegen die französische Kolo- verleihen der Arbeit einen heiligen Charakter. nialmacht, andere wurden verbannt oder de- Ahmadou Bamba räumt ihr eine so wichtige portiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam Rolle ein, dass er sie als eine Form des Ge- es zu einer zweiten Welle des Widerstands bets betrachtet. Neben der Wissenschaft und unter dem Banner des Islam der Sufi-Bruder- dem Gebet prägt die Arbeit maßgeblich sein schaften, die eine andere als die bewaffnete religiöses­ Denken. Zwar engagieren sich alle Strategie wählten. Bruderschaften im aktiven Gesellschaftsle- ben, die Murīdīya hat sich jedoch im senegale- 3.1 Heiligung der Arbeit in der Murīdīya sischen Wirtschaftsraum durch ihre beispiel- An der Spitze der Hierarchie der Wolof-Gesell- hafte Solidarität besonders hervorgehoben schaft8 stand mit der Königsfamilie der Adel, und damit ein neues Kapitel in der Geschichte darunter standen die Gruppe der Freien (Edel- des Sufismus und des Islam eröffnet. leute, Angehörige unterschiedlicher Kasten Ethik und Konzept der Arbeit in der Lehre des wie Handwerker und die Griots9) und schließ- Scheichs Ahmadou Bamba haben zur Erfolgs- lich die Sklaven. Diese Struktur basierte auf geschichte der senegalesischen Wirtschaft gesellschaftlichen Ungleichheiten. Gleich- beigetragen. Die Erhebung der Arbeit in den zeitig nutzte der koloniale Imperialismus sei- Rang eines Gebets bei den Murīdīya leitet sich ne militärische Stärke zur fortschreitenden aus der islamischen Religion und aus der Kul- territorialen Eroberung. Entsprechend große tur der Wolof ab. Hoffnungen legte das unterdrückte Volk in In gewisser Weise ähnelt dies der protestan- die neu entstandene Murīdīya-Bruderschaft. tischen Arbeitsethik, in der Gewinnstreben Dem Aufruf des Scheichs Ahmadou Bamba zur Erlangung der Gnade Gottes eine zentra- folgten nicht nur Opfer gesellschaftlicher Un- le Rolle einnimmt. Gemäß dem Soziologen gleichheiten, sondern auch all jene, die sich Djiby Diakhaté finden sich auch im Sufismus den Kolonisatoren entgegenstellen wollten. der Murīdīya ideologische Prinzipien, denen Die Lehre des Scheichs zeichnet sich durch das Engagement der Gläubigen in der Arbeit die Ablehnung mönchsartig lebender isla- zugrunde liegt. Die ideologischen Bezüge zur mischer Strömungen und eine dezidierte Ar- wirtschaftlichen Aktivität, die sich im Lehrkor- beitsphilosophie aus. Diese drückt sich nach pus der Murīdīya finden lassen, erklären die Fatoumata Sow in körperlicher Arbeit aus, bedeutende Rolle ihrer Mitglieder in der sene- welche finanzielle Unabhängigkeit und ein galesischen Wirtschaft.11 würdevolles Leben ermögliche.10 Für Bamba Scheich Ahmadou Bamba zeichnete sich beinhaltete diese finanzielle Autonomie, dass durch sein Organisationsmodell und seine die Gläubigen ihre Religion besser ausüben Form der spirituellen Erziehung als wahrhafter können. Die neue Strategie im Kampf gegen religiöser Führer und wirtschaftlicher Akteur die Kolonisatoren fokussierte sich also auf aus. Seine Söhne übernahmen seine Visionen 18 Islamische Bruderschaften im ­Senegal

nicht nur bezüglich der Verbreitung des Glau- 4 Der Einfluss der religiösen bens, sondern auch in ihren wirtschaftlichen Bruderschaften im Senegal Aktivitäten. Der Islam war im Senegal trotz der starken französischen Präsenz insbesondere deshalb 3.2 Spirituelle Erziehung so erfolgreich, weil er sich durch die Aufnah- Die zentrale Persönlichkeit der Tidschānīya me aller seiner Lehre entsprechenden Werte im Senegal, Al-Hāddsch Mālik Sy, konnte in in das kulturelle Leben der Senegalesen ein- den großen Städten des Landes und insbe- fügen konnte. Die Führer der Bruderschaften sondere den vier Gemeinden , Gorée, waren darauf bedacht, diese Religion nicht Rufisque und Saint-Louis Fuß fassen. Sei- als zusätzlichen Akkulturationsfaktor einzu- ne Strategie gründete auf der Errichtung von bringen. Vielmehr richteten sie den Glauben Moscheen, Zawiyas (Rückzugsorte und Tem- neu aus und passten den sozialen Charakter pel) und Koranschulen für Kinder. Für ihn lag der Religion an, um diese unter Bewahrung bereits existierender Werte in die Gesell- Die senegalesischen Bruderschaften gaben schaft zu integrieren. dem Islam durch ihren pazifistischen Der Sufismus mach- Ansatz, ihre religions­übergreifende te den Senegalesen Toleranz und ihre kulturelle Identität ein eine Annahme des Gesicht, das sich in der Welt gut verkauft. Islam möglich, ohne auf ihre kulturellen der Widerstand gegen die Kolonisatoren in Identitäten verzichten zu müssen. Die sene- der Schulung seiner Anhänger mittels religiö­ galesischen Bruderschaften haben also zur ser Bildung. In Anbetracht der neuen Waffe Aufwertung und dem Überleben afrikanischer der Kolonisten – die in der Assimilierung und Kulturen beigetragen. Akkulturation der Völker durch ihre Schulen bestand – konzentrierten sich auch die Bru- 4.1 Religion als sozialer Stabilisierungs- derschaften auf den Bereich der Bildung. Re- faktor ligiöse und moderne Erziehung sollten mitein- Im Senegal haben Interventionen religiöser ander verflochten werden. Persönlichkeiten zur Erhaltung des sozialen Die senegalesischen Bruderschaften gaben Friedens Tradition. Die Mehrheit der Bevölke- dem Islam durch ihren pazifistischen Ansatz, rung zollt ihnen großen Respekt und folgt ih- ihre religionsübergreifende Toleranz und ih- ren Bitten und Ratschlägen, ohne zu zögern. re kulturelle Identität ein Gesicht, das sich in Den religiösen Führern kommt insofern ei- der Welt gut verkauft. Diese Besonderheit the- ne vereinende und stabilisierende Funktion matisiert auch David Robinson, Professor für zu, als sie im Fall sozialer Unruhen, Krisen an Geschichte an der Universität Michigan. In Schulen und Universitäten oder politischer seiner Analyse des friedlichen Widerstands Konflikte einschreiten. Sie konnten wiederholt des Scheichs Ahmadou Bamba und anderer eine Annäherung zwischen Regierung und muslimischer Intellektueller seiner Genera­ Opposition erleichtern. Zudem intervenierten tion während des späten 19. Jahrhunderts sie in der Vergangenheit bereits häufig zur Be- betont Robinson, dass Ahmadou Bamba und friedung eines Konflikts mit einem Nachbarn Al-Hāddsch Mālik Sy durch diese Annäherung wie beispielsweise Mauretanien, Kap Verde an die moderne Pädagogik den Islam neu er- oder Guinea-Bissau. In Trockenperioden wer- fanden. den die Geistlichen um ihre Gebete ersucht. Islamische Bruderschaften im ­Senegal 19

Vor allem der verstorbene Al-Hāddsch Mālik Dem Marabout13 kommt jenseits seiner Rol- Sy ermahnte die Bevölkerung sehr oft zu Bür- le als religiösem Führer und Instanz sozialer gersinn, zu Rückbesinnung auf moralische Stabilisierung eine weitere, für das politische Werte und Einheit der Herzen. Ohne Scheu Leben seines Landes entscheidende Funktion kritisierte er die Regierung und erinnerte an- zu. Seine Beziehungen zur Regierung können dere Geistliche an ihre Pflichten. Er war der als gegenseitiger Austausch von Diensten de- Architekt der Versöhnung zwischen Präsident finiert werden. Die Religion ist im öffentlichen Abdou Diouf (*1935) und seinem gefürch - Raum des Senegals so präsent, dass sie nicht teten politischen Gegner Abdoulaye Wade unabhängig vom Politischen betrachtet wer- (*1926) in den 1980er und 1990er Jahren. An- den kann. dere Geistliche traten in seine Fußstapfen, so Die wichtigste diesbezügliche Unterstützung beispielsweise der Sprecher des Tidschānīya erteilte der Kalif Mouhamadou Moustapha Kalifen, Abdoul Aziz Sy Al Amin, im Kontext Mbacké (1888–1945) während des Ersten der Annäherung zwischen Präsident Abdou- Weltkriegs. Der aus der Region Saint-Louis14 laye Wade und seinem Premierminister Idris- stammende Blaise Diagne (1872–1934) trat sa Seck im Jahre 2007 oder bei den jüngsten 1914 als erster afrikanischer Kandidat für die Auseinandersetzungen zwischen den Bil- französische Nationalversammlung an. Er ge- dungsgewerkschaften und der Regierung.12 noss die Unterstützung der Murīdīya und zog Nicht selten bereisen Parteivorsitzende, Mei- schließlich als Abgeordneter in das französi- nungsführer oder Mitglieder der Zivilgesell- sche Parlament ein, mit 1.910 Stimmen gegen schaft die religiösen Zentren wie (die 671.15 Auch der erste Präsident Senegals, Léo- Wiege der Murīdīya) oder (Sitz der pold Sédar Senghor (1906–2001), unterhielt Familie von Al-Hāddsch Mālik Sy), um sich zu damals sehr gute Beziehungen zum zweiten besprechen, sich beraten zu lassen oder sich Kalifen. Nennenswert sind außerdem die en- gar für bestimmte politische Positionen zu gen Beziehungen zwischen dem Kalifen der rechtfertigen. Diese Struktur erklärt die Ver- Murīdīya Serigne Fallou Mbacké (1888–1968) bindungen zwischen Politik und Bruderschaf- und Präsident Léopold Senghor sowie die zwi- ten im Senegal. schen Präsident Abdou Diouf und dem Kali- fen Abdoul Ahad Mbacké (1914–1989) oder 4.2 Das Zeitliche und das Geistige Abdoulaye Wade und Serigne Saliou Mbacké Der senegalesische Islam war seit seinen An- (1915–2007). Die Unterstützung durch die fängen politisch geprägt und diente der Bevöl- Bruderschaft kommt insbesondere während kerung nicht nur zum Kampf gegen die Besat- des Wahlkampfes zum Tragen. zung, sondern auch zum Erhalt der eigenen Solche politisch-religiösen Bündnisse16 fußen kulturellen Identitäten. Die Leitfiguren dieses auf komplementären Interessen. Die Regie- neuen Widerstandskampfs begleiteten die rung gewährt den Bruderschaften während Bevölkerung auf spiritueller, aber auch auf ma- der islamischen Feiertage oder anderer beson- terieller Ebene, insbesondere durch die Schaf- derer Anlässe finanzielle Unterstützung, greift fung sicherer Räume. Vor diesem Hintergrund den Marabouts durch Subventionen für den wurden die hohen Geistlichen der Bruder- Bau neuer Moscheen und islamischer Institu- schaften zu Vermittlern zwischen den Kolo- tionen oder während ihrer Pilgerfahrten nach nialmächten und der Bevölkerung. Ihre be- Mekka unter die Arme und stellt ihnen Tausen- sondere Position in diesem gesellschaftlichen de Hektar landwirtschaftliche Nutzungsfläche Gefüge legte den Grundstein für eine direkte zur Verfügung. Die Marabouts kontrollieren Einbindung des Religiösen in das Politische. seit der Kolonialzeit die Erdnussproduktion 20 Islamische Bruderschaften im ­Senegal

und sind damit das Bindeglied zwischen der auch heute noch eine wichtige Rolle im reli- ländlichen Bevölkerung und der Marktwirt- giösen, sozialen und politischen Raum des schaft in den Städten. Um diese Rolle über- Landes ein. Von der Bedrohung dschihadis- nehmen zu können, müssen sie mit der Re- tischer Attentate, mit der sich andere Metro- gierung zusammenarbeiten. Sie stehen dem polen Westafrikas konfrontiert sehen, blieb Staat mit ihrer mittelbaren Verwaltung zur der Senegal nicht gänzlich verschont. Laut Seite, um Kommunikationsschwierigkeiten dem Magazin Jeune Afrique kämpfen etwa zwischen dem Zentrum und der Peripherie 30 Senegalesen mit dschihadistischen Grup- beizulegen oder zwischen den Bevölkerungs- pen in Libyen.19 In der dort zitierten aktuel- gruppen politisch zu vermitteln. Die Geistli- len Studie des Timbuktu-Instituts wird davon chen verhelfen den Politikern zur Machterhal- ausgegangen, dass die Jugendlichen in den tung und im Gegenzug erleichtern die Politiker Vororten Dakars sich wegen Armut und Pers- den Geistlichen ihre religiösen Unternehmun- pektivlosigkeit radikalisieren. Eine gegenteili- gen durch materielle Zuwendungen oder den ge Darstellung existiert ebenfalls.20 Zwar gibt Zugang zu den Medien und anderen öffentli- es auch im Senegal Reformbewegungen, die chen Bereichen. eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Islam fordern und die Bruderschaften infrage stel- 5 Fazit len, doch sind Tendenzen hin zu dschihadis- Im unabhängigen Senegal kam es 2012 zum tischen Bewegungen im Senegal sehr be - zweiten Regierungswechsel. Der neue Präsi- grenzt. Der senegalesische Islam bietet einen dent Macky Sall erklärte in einem Interview, Rahmen für sozialen Zusammenhalt und den dass die Marabouts auf politischer Ebene Dialog zwischen den Religionen und Bruder- nicht anders gestellt seien als alle anderen schaften. Dieses friedliche Zusammenleben Bürger.17 Doch er wurde sich sehr rasch des dient als Vorbild für einen toleranten Islam. politischen Einflusses der Bruderschaften im Die Gesellschaft darf sich allerdings nicht auf Senegal bewusst. Seine heutigen Beziehun- diesen Errungenschaften ausruhen und die gen zu den religiösen Bruderschaften erwe- Zukunft aus dem Blick verlieren. Die Bruder- cken den Eindruck, dass er die religiösen In- stanzen durchaus schätzt. Seine zahlreichen Konsultationsbesuche in religiösen Zentren Im Senegal hat sich der des Landes, wie Touba oder Tivaouane, im Islam als Verteidiger der Vorfeld wichtiger politischer Entscheidun- Freiheit und Gleichheit aller gen zeugen davon. Dies gilt beispielsweise Menschen durchgesetzt. für das Referendum zur Reduzierung seiner Amtsperiode, die Begnadigung des wegen schaften müssen sich stärker um die Gunst ungerechtfertigter Bereicherung inhaftierten und das Interesse der Jugendlichen bemü- Sohns des ehemaligen Präsidenten Abdou- hen, denn die Jugend ist weit davon entfernt, laye Wade, Karim Wade,18 oder sein jüngstes unreligiös zu sein. Vielmehr braucht sie Ant- Vorhaben, die in den großen Städten des Lan- worten auf ihre religiösen, moralischen und des bettelnden Koranschüler, die Talibé, von ethischen Fragen. Die senegalesische Ge- der Straße zu holen. sellschaft bleibt religiös, auch wenn sich der Der Islam hat sich gut in die Wolof-Gesell - Staat laizistisch gibt. schaft eingefügt und sich als Verteidiger der Freiheit und Gleichheit aller Menschen Aus dem Französischen von Jo Schmitz und Martina durchgesetzt. Die Bruderschaften nehmen Körner (lingua•trans•fair) Islamische Bruderschaften im ­Senegal 21

1 Tekrur war ein kleiner westafrikanischer Staat im Tal des Flusses Se- in Reussir, Sonderheft zum Pilgerfest Magal, 2007, S. 15. 12 Vgl. dazu negal. 2 Die Almoraviden sind eine Berberdynastie auf dem Gebiet den Artikel auf der Internetseite der senegalesischen Presseagentur, der heutigen Staaten Mauretanien, Westsahara, Marokko, Algerien, unter: www.aps.sn/la-une/article/la-mediation-reussie-de-tivaouane- Portugal und Spanien zwischen 1046 und 1147. 3 Vgl. Samb, A: L’Is- et-touba-dans-la-crise-scolaire-a-la-une. 13 Der Marabout ist ein is- lam et l’histoire du Sénégal, in: Bulletin de l’IFAN 3/1971, S. 463. 4 Su- lamischer Gelehrter. 14 Saint-Louis, Dakar, Rufisque und Gorée wa- fismus ist die Mystik des Islam. Der Sufi will den Koran nicht nur äu - ren französische Gemeinden, ihre Bewohner genossen französische ßerlich verstehen und sein Leben nach ihm richten, sondern dessen Bürgerrechte. 15 Vgl. Turbet, Jean Laurent: Blaise Diagne, homme «innere» Seite entdecken und dadurch die Hingabe (= Islam) an Gott politique et franc-maçon, 8.5.2009, unter: www.jlturbet.net/artic - vollständig erfüllen. 5 Die Wahhabiten sind eine puristisch-traditio- le-19222669.html. 16 Samson, F.: La place du religieux dans l’élec- nalistische Strömung des sunnitischen Islam. 6 Vgl. Dia, Mamadou: tion majoritaire Sénégalaise, in: Afrique Contemporaine 194/2000, Islam et civilisations négroafricaines, in: Les Nouvelles Editions Afri- S. 5–11. 17 Vgl. www.pressafrik.com/Macky-Sall-Il-est-exclu-d-ac- caines, 1980, S. 46. 7 Vgl. dazu die Geschichte Senegals auf der offi- corder-des-faveurs-ou-un-statut-particulier-aux-marabouts_a78952. ziellen Internetseite der senegalesischen Regierung, unter: www.gouv. html. 18 Vgl. Seneweb News, 15.6.2016, unter: www.seneweb.com/ sn/Histoire.html. 8 Das Volk der Wolof ist eine ethnische Gruppe in news/Justice/macky-laquo-j-rsquo-ai-decide-de-liberer_n_185050. Senegal, Gambia und Mauretanien. 9 Griots sind in Teilen Westafri- html. 19 Roger, Benjamin: Terrorisme. Ces Sénégalais qui ont rejoint kas Sänger und Dichter. Sie geben durch ihre mündliche Überlieferung l’État islamique en Libye, in: Jeune Afrique, 27.1.2016, unter: www.jeu- traditionelles Wissen weiter. 10 Vgl. Sow, Fatoumata: Les logiques de neafrique.com/297480/politique/terrorisme-ces-senegalais-qui-ont-re- travail chez les , Abschlussarbeit Afrikawissenschaften, Fach- joint-letat-islamique/ 20 Vgl. Les enjeux de la radicalisation islamiste bereich Juristische und Politische Anthropologie, Université de Paris I au Sénégal, Timbuktu Institute, 1.6.2016, unter: http://timbuktu-insti- Panthéon-Sorbonne, 1998, S. 9. 11 Vgl. Interview mit Djiby Diakhaté, tute.org/les-enjeux-de-la-radicalisation-islamiste-au-senegal/-. 22 «Ohne die religiösen Führer würde das Land vor die Hunde gehen»

«Ohne die religiösen Führer würde das Land vor die Hunde gehen» Interview mit dem afrika-Experten Mamadou Diouf über Islam und Politik im Senegal

Das Interview führte Odile Jolys. helzone waren durchaus in der Lage, religiö- se Kontroversen mit Gelehrten in Nordafrika Wie sind die Beziehungen zu verstehen zu führen. zwischen Politik und Islam im Senegal, Der Islam war mystisch und politisch. Die der durch die Sufi-Bruderschaften religiösen Führer und ihre Familien hatten gekennzeichnet ist? sehr komplexe Beziehungen zur politischen Vorweg, über 90 Prozent der Menschen im Macht in dieser Zeit. Es gab religiöse Führer, Senegal sind Muslime. Die wichtigsten Bru- die als Berater der Regierenden fungierten. derschaften im Senegal sind die Tidschānīya, Gleichzeitig waren sie aber auch darauf be- die Murīdīya und die Qādirīya. Etwa 95 Pro- dacht, ihren eigenen religiösen Raum und ih- zent der senegalesischen Muslime gehören re Gemeinschaft zu bewahren. diesen Bruderschaften an. Die Beziehungen Als die großen Reiche, die das heutige Mali, zwischen den Sufi-Bruderschaften und der Mauretanien und den Senegal umfassten, Politik sind sehr eng, sie sind für beide Sei- im 17. Jahrhundert zerfielen, verlor auch der ten konstituierend. Man kann den Islam im Islam an Einfluss, und die traditionellen afri- Senegal nicht ohne den Staat und den Staat kanischen Religionen nahmen wieder ihren nicht ohne den senegalesischen Islam, die Platz ein. Die neuen Herrscher bezogen sich Bruderschaften, verstehen. Das gilt sowohl nun nicht mehr auf den Islam, und die reli- für den Kolonialstaat als auch für seinen giöse Praxis nahm ab, auch wenn die Men- postkolonialen Nachfolger.

Wie hat sich der Islam in der Region, Mamadou Diouf ist Professor für Afri- die heute geografisch dem Senegal ent- ka-Studien und Direktor des Instituts für spricht, in das politische System einge- Afrika-Studien der Columbia University, schrieben? New York. Er untersucht die intellektu- Hier muss man weiter zurückgehen und den elle, soziale, politische und städtische Kontext des historischen Soudan, das heißt, Geschichte des kolonialen und post- das, was wir heute die Sahelzone nennen, kolonialen Afrikas. Seine jüngsten Ver- betrachten. Der Islam hat sich in der Re­gion öffentlichungen sind: «Tolerance, De- vom Norden kommend durch die Sahara mocracy, and Sufis in Senegal» (New ausgebreitet. Dies geschah ohne Gewaltan- York 2013), «New Perspectives on Islam wendung. Der Islam kam mit dem Handel in in Senegal: Conversion, Migration, We- den Sahel und hat sich langsam in der Ober- alth, and Power» (mit Mara A. Leicht- schicht festgesetzt. man, New York 2009), «La Construc­tion Im Mittelalter war der Islam im Malireich das de l’Etat au Sénégal» (mit M. C. Diop ideologische Fundament, auf dem der Staat und D. Cruise O’Brien, Paris 2002), «His- organisiert war. Es war ein gebildeter Islam, toire du Sénégal: Le modèle islamo-wo- der auf den Schriften und ihrer Interpretation lof et ses périphéries» (Paris 2001). basierte. Die islamischen Gelehrten der Sa- «Ohne die religiösen Führer würde das Land vor die Hunde gehen» 23

schen vielfach weiterhin islamische Namen währen zu lassen, denn dies eröffnete neue trugen. Räume für den Islam in der Region. In die- Interessant ist dabei, dass diese Verände- sem Kontext entstand die Sufi-Bruderschaft rung mit dem Aufkommen des transatlanti- der Murīdīya, und die ehemals kriegerischen schen Handels und der Sklaverei zusammen- Tidschānīya wurden friedlich. fiel. Dieser Handel veränderte die politische Doch die Franzosen trauten diesem Sinnes- Macht in der Sahelzone. Die Küstenregio­ wandel zuerst nicht, denn die Bruderschaf- nen, ehemals wenig bevölkert und wirt - ten hatten starken Zulauf und gewannen be- schaftlich schwach, gewannen auf Kosten ständig an Einfluss. Um eine Konfrontation der an dem Binnenhandel orientierten Rei- zu vermeiden, ließen sich die Tidschānīya im che an Gewicht und emanzipierten sich poli- Einflussbereich der Franzosen nieder, näm- tisch von diesen. Die Macht dieser neuen Kö- lich in Tivaouane, sodass die französische nigreiche basierte auf Sklavenhandel. Verwaltung sie genau überwachen konnte. Ende des 17. Jahrhunderts entwickelte sich Gleiches gilt für den Gründer der Murīdīya, ein prägender Konflikt, der zwei Jahrhunder- Ahmadou Bamba (1853–1927), der die «heili- te in der Region andauerte und von Europä- ge Stadt» Touba, heute die zweitgrößte Stadt ern als «Krieg der Marabouts» bezeichnet des Landes, gründete. Auch ihm begegneten wurde. Es ging um den Kampf zwischen den die Franzosen mit großer Vorsicht, da auch er islamischen Gelehrten, den Marabouts, und Massen hinter sich brachte und Teile der ab- den lokalen Machthabern. Die Marabouts gesetzten lokalen Aristokratie anzog. Er wur- lehnten den transatlantischen Handel ab und de daher mehrmals ins Exil verbannt, bevor beschuldigten die lokalen Chefs, Muslime die Franzosen mit ihm Frieden schlossen. und Afrikaner zu verkaufen. Als die Eroberung mit der Etablierung der Konföderation Französisch-Westafrika 1895 Die Kolonisation des Senegals setzte abgeschlossen war – in der Sprache der Ko- sich Ende des 19. Jahrhunderts durch. lonialisten wurde von der Befriedung der Re- Wie schaffte es der Islam, sich gegen- gion gesprochen –, wählten die Franzosen über den französischen Kolonialherren traditionelle Autoritäten, um ihre Kolonien zu zu behaupten? regieren. Diese indirekte Verwaltung schei- Ende des 19. Jahrhunderts vollführten die terte jedoch, denn die Chefs waren korrupt, Marabouts eine wichtige Wende, die das und so kam es zu Revolten. Das Unvermö- Verständnis des Islam in der Region bis heu- gen der Kolonialverwaltung, die Kolonien te prägt. Der militärische Dschihad wur- mittels der lokalen Herrscher effektiv zu ver- de nun als kleiner Dschihad verstanden, walten, veranlasste die Franzosen nach dem der echte Dschihad dagegen fortan als der Ersten Weltkrieg, ihr Verwaltungssystem an- Kampf des einzelnen Gläubigen gegen die zupassen. So halfen die Franzosen, das Sys- eigenen Versuchungen. Es ging nicht mehr tem der Sufi-Bruderschaften zu etablieren, um die Zerstörung der Macht der lokalen das sehr stark dem eigenen französischen Herrscher und den Widerstand gegen die ko- System ähnelte. loniale Expansion. Die Marabouts wussten, dass sie Frankreich militärisch nicht schla- Was heißt das genau, wie arbeiteten gen oder zurückdrängen konnten. Anstatt die Franzosen und die Sufi-Bruderschaf- Widerstand zu leisten, entschlossen sie sich ten zusammen? vielmehr dazu, die Europäer bei der Zerstö- Die Franzosen begannen, in den Bruder- rung der lokalen Herrschaftsstrukturen ge- schaften ihre Verbündeten zu sehen. In mei- 24 «Ohne die religiösen Führer würde das Land vor die Hunde gehen»

nem Buch «Histoire du Sénégal»,1 kann man geweitet. Dafür wurde nicht nur Wald gero- genauer nachlesen, wie sich nach dem Ers- det, sondern auch die nomadische Existenz ten Weltkrieg der Staat im Senegal etablier- der Peul2 zerstört. Die Bruderschaften brei- te, ein Staat, den ich als Islam-Wolof-Staat teten sich dadurch im Senegal weiter aus. bezeichne. Diese Zusammenarbeit zwischen Bruder- Die Muslime kontrollierten seit Mitte des schaften und Kolonialstaat führte zu einem 19. Jahrhunderts mehr und mehr den Anbau politischen System, das bis heute sehr sta- von Erdnüssen zur Speiseölproduktion, Se- bil ist. Es existierten aber im Grunde zwei negals wichtigstem Exportprodukt bis En- Kolonialsysteme: Neben dem im ländlichen de der 1960er Jahre. Mit den Gewinnen aus Raum, wo die Bruderschaften dominierten dem Verkauf der Erdnüsse konnten sich die und der Staat mit den Marabouts verhandeln Muslime im 19. Jahrhundert Waffen kaufen musste, gab es die direkte Verwaltung in den und sich gegen die lokale Aristokratie, die vier Städten (Rufisque, Gorée, Saint-Louis Wolof-Könige, zur Wehr setzen. In der Kolo- und Dakar) für die dort lebenden französi- nialzeit waren es die Bruderschaften, die die schen Staatsbürger, dazu zählten auch Afri- Erdnussproduktion kontrollierten. Ich spre- kaner und unter ihnen waren selbstverständ- che ganz bewusst vom System der Bruder- lich Muslime. schaften, denn bei der Begegnung mit der französischen Kolonialmacht konstituierten Was passierte, nachdem der Senegal sich die Bruderschaften um das koloniale 1960 als unabhängiger Staat gegründet Prinzip des Autoritarismus herum. wurde? Der Kalif wird seit dieser Zeit im Senegal als Im Moment der Unabhängigkeit begann ei- Generalkalif bezeichnet, so wie der Kolonial- ne Diskussion zwischen den Bruderschaften gouverneur der Generalgouverneur war. Die und dem Staat über die Zukunft ihrer weite- Macht des Kalifen beruhte auf einem strikten ren Zusammenarbeit, den der verstorbene Autoritarismus. Es handelte sich um ein hie- Historiker Donald O’Brien so treffend als «se- rarchisches System mit dem Kalifen an der negalesischen Sozialvertrag» beschrieben Spitze, der die Grenzen des Territoriums und hat. Sollte das bestehende System mit den seine Gefolgschaft überwachte. Er hatte die Bruderschaften fortgesetzt oder verändert absolute Kontrolle über seine Anhänger und werden? Diese Frage beschäftigte die drei die Ressourcen seiner Bruderschaft. Weil er großen Politiker der Zeit: Der Christ Léopold diese kontrollierte, konnte er mit der Kolo- Sédar Senghor (erster Präsident der Republik nialmacht verhandeln. Der Kalif konnte die von 1960 bis 1980) wurde sehr schnell zum Steuern für die Franzosen erheben, hielt die- Verbündeten der Marabouts. Lamine Guèye, se aber von den internen Angelegenheiten Bürgermeister von Dakar und Abgeordneter der Bruderschaft fern. Das System war ein in der Nationalversammlung mit einer fran- System der Zusammenarbeit und der Aus- zösisch-republikanischen und laizistischen handlung zwischen den Sufi-Bruderschaften Tradition, wollte den Staat modernisieren, und der Kolonialverwaltung. in dem der einzelne Bürger die Hauptrolle Als die Franzosen verstanden hatten, dass spielen sollte. Premierminister Mamadou die Befriedung ihrer Kolonien von der Zu- Dia, der in derselben Partei wie Senghor war, sammenarbeit mit den Bruderschaften ab- sprach sich für eine Modernisierung des Is- hing, begannen sie, mit der Kolonisierung lam aus. Dafür wollte er die Kontrolle der Ma- der Landwirtschaft. Die Erdnussproduktion rabouts über ihre Gefolg­schaft lockern. Ihn in der südlichen Region Saloum wurde aus- beunruhigte, dass die Marabouts mehr Men- «Ohne die religiösen Führer würde das Land vor die Hunde gehen» 25

schen hinter sich scharen konnten als die negal nicht funktionieren, denn die senega- Partei. Mamadou Dia wollte ihnen nicht nur lesische Geschichte unterscheidet sich von ihre Macht entreißen, sondern ihnen auch der Frankreichs. Alle Oppositionellen, selbst ihre Ressourcen nehmen. 1962 verlor er die jene, die sich als Marxisten bezeichnen, sind Macht und wurde von Senghor für 14 Jah- Talibés (Schüler) eines Marabouts. Nur durch re ins Gefängnis geworfen. Lamine Guèye dieses System kann man die Politik im Sene- näherte sich schließlich der Position von gal verstehen. Senghor an, sodass der senegalesische So- zialvertrag mit dem System der Bruderschaf- Ist es diese besondere Beziehung zwi- ten nach der Unabhängigkeit fortgesetzt schen Sufi-Bruderschaften und Staat werden konnte. bzw. Regierenden, welche die Stabilität Ich gebe ihnen noch ein anderes Beispiel des Landes kennzeichnet? Kam es im für die Macht der Marabouts: 1958 kam es Senegal deshalb nie zu einem Putsch? zum Referendum über die Fünfte Repu­blik Die Bruderschaften wurden nach der Unab- in Frankreich, was eine Neubestimmung des hängigkeit sehr schnell zu einem wichtigen Verhältnisses von Frankreich zu seinen Kolo- Verbündeten der Regierenden. Sie sprachen nien einschloss. Für die Kolonien sah das Re- beispielsweise eine direkte Wahlempfehlung ferendum eine Art Gemeinschaft mit Frank- für einen Kandidaten aus, den Ndiguël. Diese reich vor, eine politische Konföderation mit unmittelbare Einmischung blockierte Refor- den Kolonien. Einige senegalesische Politi- men des politischen Systems. Religiöse und ker wollten gegen den Vorschlag de ­Gaulles politische Kultur sind bis heute miteinander stimmen und sprachen sich für eine soforti- verwoben, und die Marabouts sind nicht nur ge Unabhängigkeit aus. Die Marabouts wa- Mittelsmänner, sondern auch Übersetzer ren gegen diesen Weg, und so sahen sich des politischen Systems für die Bevölkerung. die Politiker gezwungen, ihre Meinung zu Diese Rolle verleiht ihnen große Macht, auch ändern und nun doch für eine Zustimmung wenn sie keine direkten Wahlempfehlungen zum Entwurf zu werben. mehr aussprechen. Sie spielen weiterhin ei- Im Jahr 1960, als der Senegal endgültig un- ne politische Rolle, aber ihr Engagement ist abhängig wurde, forderten die Marabouts vielseitiger geworden, da sich das System eine islamische Verfassung für den Senegal. demokratisiert hat. Dieses Mal waren es jedoch die Politiker, die Im Verhältnis zwischen Marabouts und ihren sich geschlossen gegen die Marabouts stell- Talibés geht es um einen symbolischen und ten und deren Forderung ablehnten. Die Re- materiellen Tauschhandel. Der Talibé unter- publik blieb demokratisch und laizistisch. wirft sich dem Marabout. Er arbeitet für ihn Diese Diskussionen charakterisieren das se- oder entrichtet einen finanziellen Beitrag. negalesische System sehr gut. Bis heute be- Hat er ein großes Problem, kann er sich an ruht es auf Verhandlungen zwischen den Re- den Maraobut wenden, zum Beispiel, wenn gierenden und den Marabouts. sein Sohn krank ist und er ihn in das Kran- Die Republik Senegal ist ein gutes Beispiel kenhaus von Dakar bringen muss. Der Ma- für eine besondere Form säkularer Beziehun- raobut kommt dafür auf. Auch in dem Fall, gen zwischen Staat und Religion. Die fran- dass sein Sohn eine Schule besuchen soll zösische Laizität unterscheidet sich vom se- oder dass sein Cousin seine Arbeit verloren negalesischen Beispiel, das dem indischen hat, kann er helfen. Modell ähnelt, in dem Religionen respektiert Damit das System funktioniert, braucht der werden. Der französische Weg kann im Se- Marabout Zugang zum politischen System 26 «Ohne die religiösen Führer würde das Land vor die Hunde gehen»

und seinen Ressourcen. Im Gegenzug sorgt Arbeitnehmer erhielten über Jahre keinen er für treue politische Gefolgschaft. Die Leute Lohn. Der Konflikt war mit Gewalt verbun- erzählen sich, dass ein Kalif seinerzeit zu Prä- den. Ein Marabout mischte sich ein und frag- sident Senghor kam und ihm eine Person als te nach dem Grund für diesen Arbeitskampf. Abgeordneten für die Nationalversammlung Er fragte nach den Forderungen der Arbeiter vorschlug. Senghor soll geantwortet haben, und beglich diese. Weil die Marabouts diese dass dieser ja nicht einmal Französisch spre- soziale Rolle spielen, müssen sie über Res- chen könne. Daraufhin soll der Kalif geant- sourcen verfügen. Also geht ein Marabout wortet haben: «Aber er kann applaudieren.» dorthin, wo er Geld findet und wo er mittels Das politische System beruht eben auf Ver- Gefallen ein Geschäft machen kann. Und wie handlungen und Tausch. Für Donald O’Brien überall gibt es solche und solche, die es eben gibt es einen Grund, warum das Land nie ei- mit der Moral nicht so genau nehmen. Das ne echte politische Krise erlebt hat: Es gibt ist nichts Außergewöhnliches. eine senegalesische Zivilgesellschaft und sie Man muss auch wissen, dass die Zugehörig- wird von den Marabouts getragen. Sie betei- keit zu einer Bruderschaft Bedingungen un- ligen sich an den staatlichen Strukturen, sind terliegt. Als Familie folgt man einem Mara- aber nicht der Staat. Sie können dem Staat bout, den man jedoch auch wechseln kann, die Grenzen seiner Macht aufzeigen und die sollte man ihn beispielsweise für zu korrupt Bevölkerung verteidigen. Sie profitieren na- halten. Es findet also ein Wettbewerb unter türlich von diesem System, aber sie sind die den Marabouts um die Talibés statt. Einzigen, die dem Staat sagen können, bis Es ist die Aufgabe des Staates, nicht die der hier und nicht weiter. Marabouts, eine gute Wirtschaftspolitik für das Land zu gestalten. Die Marabouts ha- Die Senegalesen haben kein großes ben dafür nicht die notwendige Kompetenz. Vertrauen in ihren Staat. Das Land Sie verteidigen nur ihre Interessen. Ohne sie befindet sich seit Jahrzehnten in einer würde das Land vor die Hunde gehen. Mit wirtschaftlichen Krise, die Politiker sind der Erdnussproduktion haben sie lange die als korrupt verschrien. Laufen die Mara- Wirtschaft am Laufen gehalten, danach ha- bouts nicht Gefahr, selbst in Misskredit ben sie die Migration erst vom Land in die zu geraten, weil sie so eng mit der Poli- Städte und dann ins Ausland organisiert. Sie tik verbunden sind? Manche der Mara- erledigen ihre Aufgaben. Das ist die Basis bouts werden als Parvenüs kritisiert … der Stabilität des Senegals. Die Kritik an den Marabouts gab es schon Persönlich glaube ich aber, dass sie einer De- immer. Was Ärger hervorruft, ist das Ver- mokratisierung im Wege stehen, die das po- halten einiger Marabouts. Man muss sich litische System verändern könnte. Die Oppo- im Klaren darüber sein, dass sie nicht in der sition im Senegal ist keine Alternative. Auch Opposition sein können. Ich komme zurück sie sind mit den Bruderschaften verbunden auf mein Islam-Wolof-Staatsmodell. Der und pilgern nach Touba und Tivaouane. Aber Marabout muss die Probleme seiner Talibés vielleicht liege ich falsch. O’Brien hat immer regeln, dafür braucht er Ressourcen. Die gesagt, dass ohne das bestehende System Bruderschaften erwirtschaften jedes Jahr der Staat nicht demokratisch funktionieren riesige Summen ohne staatliche Hilfe – Milli- kann. Man muss diese Diskussion fortset- arden von westafrikanischen Franc. zen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Müllentsor- Die Jungen sind vielleicht der Schlüssel zur gungsunternehmen ging bankrott und die Lösung des Problems. Sie politisieren sich «Ohne die religiösen Führer würde das Land vor die Hunde gehen» 27

immer stärker und leisten nicht nur Wider- 1 Diouf, Mamadou: Histoire du Sénégal. Le modèle islamo-wolof et ses périphéries, Paris 2001. 2 Die Peul, im Deutschen auch unter stand, sondern mischen sich konkret ein. Ich dem Namen Fulbe bekannt, sind in Teilen Westafrikas ein ursprüng- hoffe, dass sich die Jungen etwa von «Y’en lich nomadisierendes Hirtenvolk. 3 Eine wegen der andauernden Kri- se der Stromversorgung im Januar 2011 gegründete soziale Bewe- a marre»3 (dt.: «Wir haben’s satt») systema- gung. Gründungsmitglieder sind die Hip-Hop-Gruppe Keur Gui und der Journalist Fadel Barro. Sie setzen sich für mehr soziale Gerechtig- tisch bei der Auswahl der politischen Kandi- keit ein, für niedrigere Preise von Grundnahrungsmitteln und für ein daten engagieren. Das politische Personal Ende der Korruption. muss sich ändern. Und die Marabouts wer- den sich anpassen. 28 Politische Teilhabe statt ­Ausgrenzung von Muslimen

Politische Teilhabe statt ­Ausgrenzung von Muslimen Interview mit der tunesischen Staatssekretärin Saida Ounissi über ihre Erfahrungen mit ­Islamophobie und Rassismus in Frankreich1

Das Interview führte Peter Schäfer. Eindruck, dass man in Frankreich oft nicht sehr weit kommt, wenn man einen muslimischen Ihr Vater lebte im französischen Exil und Hintergrund hat. Führungspositionen für Mus- auch Sie sind in Frankreich aufgewach- lime sind immer noch die Ausnahme, obwohl sen. Was hat Sie dazu veranlasst, nach viele beruflich qualifiziert und engagiert sind. Tunesien zu gehen? Dieser Mangel an Möglichkeiten in Frankreich Ich war fünf Jahre alt, als wir nach Frankreich hat nach dem Ende der Ben-Ali-Diktatur im kamen. Dort habe ich den wohl wichtigsten Jahr 2011 viele Tunesier dazu veranlasst, nach Teil meines Lebens verbracht. Die französi- Tunesien zurückzukehren. sche Kultur bedeutet mir sehr viel. Ich bin dort zur Schule gegangen, unter anderem Geschah das in der Hoffnung, dass auf eine katholische, und habe an einer fran- Tunesien sich nach der Revolution von zösischen Universität studiert. Ich habe mich 2010/11 in eine Demokratie verwandeln auf lokaler Ebene engagiert und für die Ta- würde? geszeitung Le Monde geschrieben. Man hat Ja, aber nicht nur das. Ausschlaggebend mich als positives Beispiel für Inte­gration war auch, dass in dieser Zeit viele westliche gesehen, doch ich war wohl zu religiös für französische Standards. Jedenfalls wurde ein Hidschab in meinem akademischen und Saida Ounissi (29) ist Staatssekretärin intellektuellen Umfeld definitiv nicht akzep- für berufliche Bildung und Unterneh- tiert. Dabei könnte ich im Prinzip nicht fran- mertum im Ministerium für Arbeit in zösischer sein, als ich bin. Dennoch habe ich Tunis. Sie erlangte bei den Parlaments- das Gefühl, dass es für mich dort im öffentli- wahlen vom Oktober 2014 eines der chen Leben keinen Platz gibt. 69 Mandate für die al-Nahda-Partei und Diese Beschränkungen habe ich schon früh ist eine der internationalen Sprecherin- gespürt. Ich kann mich noch sehr gut daran nen für ihre Partei. erinnern, als ich das erste Mal öffentlich be- Ounissi studierte an der Pariser Sorbon- leidigt wurde: Mein früherer Professor hatte ne-Universtität Geschichte und Politik- mich einmal mit der Begründung aus seinem wissenschaften und beschäftigte sich Seminar geworfen, der Hidschab sei nicht mit dort mit wirtschaftlicher und sozialer Ent- den universitären Werten vereinbar. Er warf wicklung. Derzeit arbeitet sie an einem mir die Tötungen von Franzosen im besetz- Gesetzentwurf zu Solidarischer Öko- ten Algerien und während des Bürgerkriegs in nomie mit. Am 11. Juni 2016 beteiligte den 1990er Jahren vor. Ich habe mich deswe- sie sich an einer Diskussion zum Thema gen beschwert, doch es hat zu nichts geführt. «Frauenrechte zwischen der politischen Vielleicht aber trägt dieser Fall dazu bei, dass Linken und dem politischen Islam» im Tu- Historiker in 50 Jahren unsere heutige Gesell- nis-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung. schaft besser verstehen werden. Ich habe den Politische Teilhabe statt ­Ausgrenzung von Muslimen 29

Gesellschaften zunehmend nach rechts Wenn also Historiker in 50 Jahren an rückten. Ich meine insbesondere den Auf- Beispielen wie Ihrem Fall Islamophobie stieg des Front National in Frankreich oder und Rassismus ablesen können, wie Sie der Alternative für Deutschland. Und der sagen, kann man davon ausgehen, dass vergangene Wahlkampf in den USA und sich die Situation bis dahin verbessert die Wahl Trumps haben diese Tendenz hat? jüngst wieder bestätigt. In Tunesien beob- Die Stigmatisierung von Muslimen, die poli- achten wir jedoch erstaunlicherweise ei- tischen, medialen Angriffe und die individu- ne gegenläufige Entwicklung: Dort sinkt ellen Gewaltakte nehmen gegenwärtig zu. beispielsweise die Akzeptanz für die Ein- Das ist nicht nur meine subjektive Wahrneh- schränkung der Rechte von Frauen und mung, sondern wird auch von etablierten Or- Minderheiten. In Tunesien melden sich bei ganisationen wie Human Rights Watch, La derartigen frauenfeindlichen oder rassisti- Cimade oder Amnesty International bestä- schen Vorfällen viele Gegenstimmen in der tigt. Die Zunahme von Islamphobie in Euro- Öffentlichkeit, im Parlament, aus der Zivil- pa lässt sich quantitativ belegen, sie ist eine gesellschaft oder in den Medien. In Euro- traurige Realität. pa ist dies oftmals nicht der Fall, wenn man Ich denke trotzdem, dass die Existenz mus- den rasanten Anstieg von Hassverbrechen limischer Gemeinden in Europa nicht mehr oder Hetzreden sieht. umkehrbar ist. Die Menschen engagieren sich in ihrem Umfeld, machen eine Ausbil- Welche Erklärung haben Sie für diese dung, verfügen über Kenntnisse, die ge- Entwicklung? Welche Gründe gibt es braucht werden, und sind Teil des wirtschaft- für die zunehmende Feindschaft gegen- lichen Lebens. Diese Menschen kann man über Muslimen und Flüchtlingen? nicht alle vertreiben. Sie sind sehr politisiert Schließlich ist die Immigration von und nehmen am politischen Leben teil, ins- Muslimen aus verschiedenen Ländern besondere auf lokaler Ebene. nach Europa kein neues Phänomen? Interessant für mich ist, wie sich in letzter Der Assimilierungsprozess im Frankreich Zeit der Diskurs in den Moscheen in Frank- der 1960er und 1970er Jahre war sehr ein- reich entwickelt hat. Imame rufen zur Beteili- schneidend und radikal. Migrantische Eltern gung an Wahlen auf, sie bitten die Menschen haben mit ihren Kindern oftmals nicht über um Zurückhaltung nach fremdenfeindli- ihre Herkunft gesprochen, weil sie sie unbe- chen Übergriffen. Und sie forderten zur Be- dingt zu Franzosen machen wollten, um ih- teiligung an der nationalen Trauer nach den nen letztlich jene Diskriminierung zu erspa- extremistischen Anschlägen von Paris oder ren, die sie selbst erfahren mussten. Diese Nizza auf. Sie sorgen dafür, dass sich die Rechnung geht aber nicht auf, wenn die Aus- muslimischen Gemeinden als Teil der Nation grenzung kontinuierlich erfolgt, nur weil man begreifen. Die Moscheen sind heute ein inte- den Namen trägt oder wie auch graler Bestandteil des politischen Lebens für immer nicht «typisch französisch» aussieht. viele Muslime. In der lokalen Moscheegemeinde, in der ich aktiv war, berichteten mir Kinder von Eltern Darin könnte aber auch eine Gefahr aus Nordafrika oder dem subsaharischen liegen, wenn man sich das Beispiel Raum von dem Balanceakt, sich einerseits zu Tunesien vor Augen hält ... Hause als Franzose zu fühlen, andererseits Das stimmt. Doch um radikal-islamistischen öffentlich aber als Nichtfranzose zu gelten. Entwicklungen entgegenzuwirken, haben 30 Politische Teilhabe statt ­Ausgrenzung von Muslimen

wir ganz bewusst Imame in unsere Anti - Taten interpretieren und analysieren kön- terrorstrategie aufgenommen. Es werden nen? Der Konflikt wird jedoch leider dicho- Schulungen durchgeführt, wie sie gegen ex- tomisch begriffen, als Krieg von Muslimen tremistische Gruppen in ihren Gemeinden gegen Nichtmuslime. Meiner Meinung nach gezielt vorgehen können. Auch bieten wir wurde der religiöse Ansatz bei der Antiterro- Rhetorikkurse und Fortbildungen im Bereich rismusprävention für politische Interessen der sozialen Medien an. Leider ist es heute zweckentfremdet. so, dass vielen unpolitischen Imamen immer weniger Beachtung geschenkt wird. Wenn Derzeit findet in Europa eine Art der aber junge, religiös geprägte Menschen in ih- Wertedebatte statt, die ein Hindernis ren lokalen Moscheen keine befriedigenden für die Integration von Muslimen dar- Antworten auf ihre sozialen, religiösen und stellt. Muslimische Werte, oder jeden- politischen Fragen finden, wenn Imame nur falls solche, die stereotyp dafür gehal- von Dingen predigen, die nichts mit den tägli- ten werden, gelten vielerorts als fremd. chen Interessen der Menschen zu tun haben, Wie lässt sich diese Wahrnehmung ver- dann wenden sie sich anderen Predigern zu, ändern? nicht selten den Extremisten. Deshalb müs- Nehmen wir das Beispiel Säkularismus: Ich sen Moscheen Teil des politischen Lebens betrachte den Säkularismus mehr als Chan- sein und in politische Entscheidungen einbe- ce, nicht als Bedrohung. Die Muslime in Eu- zogen werden. Schließlich stellen sie oft den ropa brauchen den Säkularismus als Basis einzigen wirklich öffentlichen Raum in vielen für gesellschaftliche Akzeptanz. Ansons- Städten und auf dem Lande dar. ten müssten alle katholisch werden, wie vor 1905 in Frankreich. Wenn wir den Säkularis- Heute leben mehr als zwölf Millionen mus als Referenzrahmen für kulturelle und Muslime in Frankreich. Welche gesell- religiöse Vielfalt interpretieren, dann hat die schaftliche Rolle sollte ihnen Ihrer Mei- heterogene muslimische Gemeinde in Frank- nung nach künftig zuteilwerden? reich viel dazu beigetragen. Es ist bereits viel Die Möglichkeiten sind vielfältig. Ein fran- Energie in die Etablierung eines «französi- zösischer Muslim könnte einem säkularen schen Islam» geflossen, der kompatibel mit Franzosen doch besser die Lage oder Ge- den französischen Werten ist. Es ist Privat- schehnisse in einem muslimischen Land sache, was man persönlich glaubt oder an- erklären. Ein nicht muslimischer Franzose zieht. Und in Hinblick auf die muslimische dagegen viel eher die gegenwärtige französi- Gemeinschaft bedeutet das: Wir glauben al- sche Politik einem muslimischen Publikum. le an einen Gott und seinen Propheten Mu- Auf diese Weise könnten wir kulturelle und hammad. Doch über alles andere lässt sich politische Brücken zwischen Europa und den offen diskutieren. Und ein solcher Dialog wä- muslimischen Ländern schlagen. Schließ- re für alle Seiten eine sehr löbliche Lerner- lich sind wir alle Opfer der Terroristen, egal fahrung. Meiner Erfahrung nach haben sich ob wir nun muslimisch sind oder nicht. Und Frankreichs Muslime durchaus positiv in die wenn sich dieser Terrorismus auf eine dezi- Gesellschaft eingebracht. Ich selbst war im diert islamisch-fundamentalistische Ideo- interreligiösen Dialog sehr aktiv, hauptsäch- logie bezieht, wäre es dann nicht effektiver, lich mit Christen. Die Priester, die an diesem all jene Menschen in die Debatten einzube- interreligiösen Dialog teilnahmen, erzählten, ziehen, die den Hintergrund dieser Ideologie dass diese Form des Gesprächs auch ihre kennen und gewisse Stellungnahmen oder Gemeinden wiederbelebt habe. Politische Teilhabe statt ­Ausgrenzung von Muslimen 31

Mein Eindruck ist, dass Europa gegenwärtig gestellt und interessieren sich für eine starke unter einer Identitätskrise leidet. Viele Men- Union, die sehr heterogen ist und damit eine schen suchen nach Antworten. Ich bin der Garantie für Offenheit und individuelle Frei- Auffassung, dass das Leben ohne Spirituali- heit darstellt. Als Muslim gibt es in Europa die tät leer ist, und offenbar machen derzeit vie- seltene Möglichkeit, in einem anderen Kon- le Menschen in Europa dieselbe Erfahrung. text zu leben und zu lernen, sich gegenseitig Religion ist eine sehr soziale Angelegenheit zu akzeptieren und nicht jene auszuschlie- und eine Säule jeder Gesellschaft. Muslime ßen, deren Ansichten einem nicht passen. können dazu beitragen, dass diese Dynamik wieder in Gang kommt. Europäische Musli- 1 Das Interview wurde am 23.11.2016 veröffentlicht unter: https:// me sind überwiegend europafreundlich ein- de.qantara.de/node/25778. 32 Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren

Hana Amoury ist Projektmanagerin im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel.

Tsafrir Cohen ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel.

Odile Jolys ist freie Journalistin in Dakar.

Dr. Ibrahima Thiam arbeitet seit 2010 für das Westafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-­ Stiftung in Dakar; er gehört der Bruderschaft der Tidschānīya an.

Impressum

Materialien Nr. 20 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Henning Heine Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2199-7713 · Redaktionsschluss: Januar 2017 Titelbild: Moschee im Gouvernement Kef (Tunesien) · Foto: Belhassen Handous Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Lektorat: Text-Arbeit, Berlin Gedruckt auf: Circleoffset Premium White, 100 % Recycling

«Wir sind alle Opfer der Terroristen, egal ob wir nun muslimisch sind oder nicht. Und wenn sich dieser Terrorismus auf eine dezidiert islamisch-fundamentalistische Ideologie bezieht, wäre es dann nicht effektiver, all jene in die Debatten einzubeziehen, die den Hintergrund dieser Ideologie kennen und Stellung­nahmen oder Taten interpretieren und analysieren können?»

Saida Ounissi

www.rosalux.de