Rundbrief 1+2/08 AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE Quelle: Gerhart Hass, Münchner Diktat 1938 – Komplott zum Krieg, Karl Dietz Verlag 1988 Dietz Verlag zum Krieg, Karl – Komplott Quelle: Gerhart Diktat 1938 Hass, Münchner 1938 – EUROPA AUF DEM WEG IN DEN KRIEG INHALT

EDITORIAL...... 3 Dr. Reiner Zilkenat

DAS THEMA: 1938 – EUROPA AUF DEM WEG IN DEN KRIEG Die Annexion Österreichs im März 1938 – ein lange und zäh verfolgtes deutsches Expansionsziel ...... 5 Dr. Martin Seckendorf „Volkstumspolitik“, faschistische Geheimdienste und die Politik der Sudetendeutschen Partei ...... 18 Dr. Reiner Zilkenat

AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Der Militarismus und die Stärkung der Rechten in der BRD ...... 41 Ulrich Sander Die extreme Rechte bei den Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg sowie bei den Kommunalwahlen in Bayern...... 45 Dr. sc. Roland Bach und Dr. Gerd Wiegel Neonazis in unserer Stadt – Völklingen an der Saar...... 46 Luitwin Bies Rechtsextreme Aktivitäten in Oranienburg – und die Gegenwehr der Zivilgesellschaft ...... 47 Reiner Tietz Ein Wiederholungstäter ...... 48 Dr. Gerd Wiegel Ein Bundeswehr-General fälscht Geschichte ...... 50 Michael Quelle

GLOSSE Riskante Vergleiche ...... 51 Dr. Mathias Wedel

ZUR DISKUSSION Wie verhielt sich die DDR zum Antisemitismus?...... 52 Dr. sc. Detlef Joeseph

WIEDER GELESEN Gustav Reglers Bauernkriegsroman „Die Saat“ ...... 53 Professor Dr. Dieter Schiller

HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Die soziale Zusammensetzung der SA des Berliner Bezirkes Prenzlauer Berg in der „Kampfzeit“...... 55 Oliver Reschke M. A. Auf den Spuren von Helene Fredrich ...... 57 Dr. Günter Wehner „Ostraumplanung“ ...... 59 Dr. Martin Seckendorf Zum Kampf um den Berliner Reichstag (26. April bis 1. Mai 1945) ...... 60 Professor Dr. Gerhart Hass Der Kampf um den Reichstag – Erinnerungen des Luftwaffenhelfers Ernst Bittcher ...... 61 Professor Ernst Bittcher BERICHTE UND INFORMATIONEN Bundesarbeitsgemeinschaft Rechtsextremismus/Antifaschismus vom Vorstand der Partei DIE LINKE anerkannt...... 64 Dr. sc. Roland Bach und Dr. Horst Helas Rechtsextreme Straftaten 2007...... 65 Antworten der Bundesregierung auf Anfragen von Petra Pau MdB Schändungen jüdischer Friedhöfe 2002 bis 2006 ...... 70 Antworten der Bundesregierung auf Anfragen von Petra Pau MdB „Zug der Erinnerung“ fährt durch Deutschland ...... 70 Dr. Horst Helas Der Generalplan Ost und die Deutsche Forschungsgemeinschaft: Fragen und Probleme ...... 71 Dipl. Ing. Matthias Burchard Wolfgang Leonhards Schwanengesang? ...... 76 Professor Dr. Horst Schneider

REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN Der Aufstieg der NSDAP in Berlin ...... 78 Oliver Reschke M. A. Karriere unter Ribbentrop und Springer ...... 79 Yves Müller Gegen den Faschismus – Für die Sowjetunion! ...... 81 Dr. Günter Wehner Vor aller Augen und so viele Täter...... 82 Dr. Horst Helas Deutsche und Juden in Bessarabien ...... 83 Professor Dr. Karl-Heinz Gräfe Über Kindheitsträume und Regionalgeschichte und vom Schreiben gegen das Vergessen ...... 84 Professor Dr. Klaus Böttcher Nazi-Kriegsverbrecher auf dem „Rattenpfad“ nach Argentinien ...... 85 Dr. Reiner Zilkenat Rosen auf dem Marschweg der Braunen ...... 87 Dr. sc. Roland Bach Deutsche Zustände 2007 ...... 88 Professor Dr. Rolf Richter Wie links ist der Antisemitismus?...... 89 Yves Müller Neofaschisten im Landkreis Stade ...... 91 Dr. Reiner Zilkenat Lügen haben kurze Beine ...... 91 Dr. Günter Wehne Ein Handbuch gegen Neonazis ...... 92 Dr. sc. Roland Bach EDITORIAL

Vor siebzig Jahren taumelte Europa dem übernimmt er den unmittelbaren Befehl den bayerischen Kommunalparlamen- Zweiten Weltkrieg entgegen. Mit dem über die gesamte Wehrmacht. ten recht kümmerlich ist. „Anschluss“ Österreichs und der Ein- Kluge Köpfe, nicht nur auf der Linken, Und dennoch: Immer wieder ist darauf verleibung der so genannten sudeten- erkannten die innere Logik dieser Po- hinzuweisen, dass der gesellschaftliche deutschen Gebiete der Tschechoslowa- litik. Thomas Mann warnte seit jeher, Einfluss und die Akzeptanz der Brau- kei schien es sich für viele Zeitgenossen dass Krieg der zentrale Bestandteil in nen nicht allein, vielleicht nicht einmal um die Fortsetzung der „friedlichen“ Er- der Weltanschauung der Nazis sei – in erster Linie, an den Wahlergebnissen oberungen und einer solchen Außenpo- und dass er planvoll vorbereitet wer- ablesbar ist. Sie haben mittlerweile in litik des faschistischen Deutschland zu de. Sein berechtigter Groll richtete sich nicht wenigen Kommunen Eingang in die handeln, die angeblich nur auf die Her- gegen die politischen Herrschenden in dortigen Vereine, in die freiwilligen Feu- stellung der „Gleichberechtigung“ mit den westlichen Demokratien, die nichts erwehren oder ähnliche Organisationen den anderen Großmächten abzielten. gegen Hitler unternähmen, da seine In- gefunden, in denen sie zum Teil bereits Diese vor allem in Großbritannien und teressen im Osten Europas, im Kampf die Meinungsführerschaft übernehmen Frankreich verbreitete Denkungsart war gegen den auch bei ihnen verhassten konnten. Wie dies konkret funktioniert, jedoch mehr einem Wunschdenken ge- „Bolschewismus“ zu verorten seien. ist am Beispiel von Ostvorpommern ei- schuldet. Wir haben diesem „Rundbrief“ Aussa- ner kürzlich erschienenen, sehr lesens- Zur Erinnerung: Bereits am 3. Februar gen von Politikern und Schriftstellern werten Reportage des „Tagesspiegels“ 1933 entwickelt Hitler vor den Befehls- unterschiedlicher Provenienz zur Lage zu entnehmen (vgl. Ganz im Dunkeln, in: habern der Reichswehr und der Reichs- im Jahre 1938, aber auch Dokumen- Der Tagesspiegel, 14.4.2008, S. 3). marine seine auf die Entfesselung eines te aus den Akten des Auswärtigen Am- Die Beiträge von Reiner Tietz und Luit- Krieges ausgerichtete Politik; am 19. Ok- tes und des Reichsinnenministeriums, win Bies sind am Beispiel des branden- tober 1933 erfolgt der Austritt Deutsch- als Veranschaulichung der beiden Tex- burgischen Landkreises Oberhavel und lands aus dem Völkerbund; am 13. Ja- te zum „Anschluss“ Österreichs und zur der saarländischen Stadt Völklingen nuar 1935 votiert eine überwältigende Zerstückelung der Tschechoslowakei diesem Thema gewidmet. Zum Glück Mehrheit der Saarländer für die Wieder- beigefügt. formiert sich nicht nur dort die Gegen- eingliederung in das Deutsche Reich; am Das Jahr 2008 begann in der Bundesre- wehr engagierter Bürgerinnen und Bür- 9. März 1935 werden die ausländischen publik mit einigen Landtags- und Kom- ger. Regierungen offiziell über den sich be- munalwahlen, die für großes Aufsehen Hingewiesen sei auf den Beitrag von reits vollziehenden Aufbau der Luftwaf- sorgten. Dabei ging es besonders um Detlef Joseph in der Rubrik „Zur Dis- fe informiert; am 16. März des gleichen die überraschend guten Ergebnisse, kussion“, der sich mit aktuellen De- Jahres wird die allgemeine Wehrpflicht die von der LINKEN in Niedersachsen, batten zur Frage der Existenz von An- eingeführt; am 7. März 1936 marschiert Hamburg, Hessen und Bayern erzielt tisemitismus in der DDR befasst. Über die Wehrmacht in das entmilitarisierte werden konnten. Dies ist tatsächlich Meinungen von Leserinnen und Lesern Rheinland ein, zugleich wird der Ver- überaus begrüßenswert. Uns interes- zu diesem Artikel, wie auch zu anderen trag von Locarno (1925) einseitig auf- siert in diesem Heft jedoch ein anderer Beiträgen, die wir selbstverständlich ab- gekündigt; am 25. Juli 1936 beschließt Aspekt: Das Abschneiden der Parteien drucken, wären wir sehr erfreut. Hitler die militärische Unterstützung und Kandidaten der extremen Rechten. Der nächste „Rundbrief“ wird sich in General Francos gegen das republikani- Zum Glück waren die von ihnen erziel- seinem thematischen Schwerpunk den sche Spanien; am 24. August 1936 wird ten Resultate so schwach, dass sie in „Kulturen des Antifaschismus“ widmen. die Militärdienstzeit von einem Jahr auf keinen Landtag einziehen konnten und zwei Jahre verlängert; nur zwei Mona- auch die Zahl der gewonnenen Sitze in Dr. Reiner Zilkenat te später erfolgt auf dem „Reichspar- teitag“ in Nürnberg die Verkündigung des „Vierjahresplans“, der die rüstungs- 3. Mai, 3. Oktober, 15. November 2008 wirtschaftliche Vorbereitung des ge- planten Krieges sicherstellen soll; am Rundfahrten zu den Orten 26. September 1936 wird das Gesetz der Revolutionskämpfe 1918/20 in Berlin über den Reichsarbeitsdienst verab- schiedet; am 25. November 1936 un- An den authentischen Orten sollen die Geschichte dieser Aufstände, die terzeichnen Deutschland und Japan den Schicksale einiger Akteure und die Bewegung an sich nachvollziehbar ge- „Antikominternpakt“, dem sich Italien macht werden. am 6.11.1937 anschließt; am 30. Janu- Treffpunkt 12 Uhr, am Großen Stern/Siegessäule, Haltestelle Hofjägerallee. ar 1937 zieht Hitler „feierlich“ die deut- Von dort Besuch der Todesstellen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. sche Unterschrift unter den Versailler Anschließend Busrundfahrt mit Begehung des Friedhofs der Sozialisten in Vertrag zurück; am 26. April 1937 legen Friedrichsfelde. Bomber der „Legion Condor“, die – mit Preis pro Person 10 Euro, Ermäßigung für Gruppen, Schüler, Erwerbslose auf den damals modernsten Waffen ausge- Anfrage. Weitere Informationen unter www.kunst-und-kampf.de. Anmeldung rüstet – an der Seite Franco-Spaniens über [email protected] oder [email protected], Tel.: 030 44310-158, Fax: -222. kämpft, Guernica in Schutt und Asche; am 5. November 1937 entwickelt Adolf Die Rundfahrten sind ein Gemeinschafts projekt von Bernd Langer und der Hitler vor den Spitzen der Wehrmacht Rosa-Luxemburg-Stiftung. seine Kriegsziele; am 4. Februar 1938

3 XIV. Internationaler Metallarbeiter-Kongress in Prag, 11. bis 14. Juli 1938

Aus der Rede von Heinrich Schliestedt, ter Landstrecken im Osten verlangten, um die Ernährung Vorsitzender der Auslandsvertretung Deutschlands sicher zu stellen, fordert Hitler in seinem Bu- der deutschen Gewerkschaften: che ‚Mein Kampf‘ für die überschüssige deutsche Bevölke- „Seit der Aufrichtung der Hitlerdiktatur in Deutschland als rung im Osten neue Siedlungsräume auf Kosten Russlands. ‚Nationalsozialismus‘ steht die europäische Entwicklung (…) unter diesem entscheidenden Einfluss. Immer mehr wird Der Frieden in Europa ist nicht dadurch zu gewinnen, dass das Gesetz des Handelns allen anderen europäischen Staa- alle Staaten dem Kriege ausweichen, den Friedensbrechern ten von Hitler vorgeschrieben und nichts kann in Europa dadurch volle Handlungsfreiheit gewähren, damit der allge- mehr geschehen, das nicht vorher auf die Wirkung in Hit- meine Krieg um so besser von ihnen vorbereitet werden lerdeutschland geprüft wurde. Die freie und unabhängige kann. Der Frieden ist nur zu gewinnen und zu sichern in der Entscheidung ist den Händen der europäischen Völker und Bereitschaft zum Kampfe mit allen Mitteln gegen den Nati- ihrer Regierungen vom Hitler-Regime entwunden. (…) onalsozialismus.“ Mit dem nationalsozialistischen Deutschland ist der all- Heinrich Schliestedt. Die Gewerkschaften und das Schick- deutsche Imperialismus wieder entstanden, aber in gewalt- sal Europas, Referat auf dem XIV. Kongress des Internati- tätigster Form. Er bedroht alle europäischen Völker mit der onalen Metallarbeiterbundes, Juli 1938 in Prag, 11 S. (hek- Einverleibung, bezw. dem ‚Anschluss’, oder mit dem abso- tographiertes Material), in: Bundesarchiv- Zwischenarchiv luten Abhängigkeitsverhältnis von Vasallen. In seiner ideo- Hoppegarten – ZB 7098, Akte 8, unfol. logischen Begründung, Vollender der deutschen Einheit zu sein, ist der Nationalsozialismus so besonders gefährlich. Aus der Resolution des XIV. Internationalen Die deutschen Imperialisten berufen sich auf das Selbstbe- Metallarbeiter-Kongresses in Prag, stimmungsrecht der Nationen, das dem deutschen Volke in 11. bis 14. Juli 1938: seiner Gesamtheit bei den Friedensschlüssen verweigert „Mit tiefer Empörung stellt der Kongress fest, dass der Welt- worden sei. (…) friede durch den Imperialismus der faschistischen Staaten In den Worten Hitlers liegt nicht die Anerkennung der Exis- ständig bedroht ist. Die Regierungen der demokratischen tenzberechtigung anderer Staatsgebilde mit deutschen Staaten werden aufgefordert, sich in entschlossener Akti- Minderheiten, der deutsche Imperialismus geht immer von vität gegen die Anmaßungen, Brutalitäten und Einmischun- der Größe des gesamten deutschen Volkes in Europa aus gen der faschistischen Staaten entgegen zu stellen und so und ihm gegenüber sind die meisten anderen Völker nur den Frieden, der für die soziale Wohlfahrt der Völker not- Minderheiten, welche das Recht Deutschlands nicht zu be- wendig ist, wahren zu helfen. einträchtigen vermögen. Jede andere Deutung der Hitler- Dem republikanischen Spanien und seiner Arbeiterschaft schen Worte ist Selbstbetrug. (…) entbietet der Kongress für die Tapferkeit und die gewalti- Der Nationalsozialismus hat als wirtschaftliches Ziel die gen Opfer an Gut und Blut im Kampfe gegen den Imperia- Unabhängigkeit Deutschlands aufgestellt, besonders aus lismus und im Kampfe für die Verteidigung der Demokra- wehrwirtschaftlichen Gründen. Die gelegentliche Betonung tie seine beste Sympathie. Er versichert dem freiheitlichen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Völkern spanischen Volke seine unverbrüchliche Solidarität. Möge geschieht nur aus der Zwangslage heraus, solange die Au- Spanien aus diesen blutigen Kämpfen geeint in sozialer Ge- tarkie ein noch nicht erreichtes Ziel ist. Der Nationalsozia- rechtigkeit und in Freiheit in die Gemeinschaft der demo- lismus will allerdings keine Autarkie im klassischen Sinne kratischen Staaten eintreten. der Selbstgenügsamkeit, sondern sie ist ein Eroberungs- Die Organisationen werden eingeladen, ihre Bemühungen programm. Die nationalsozialistische Autarkie ist erreicht, in materieller und moralischer Hinsicht für die Unterstüt- wenn Deutschland auf eigenem Gebiet eine ausreichende zung des republikanischen Spaniens zu verstärken. Basis für Ernährung und Rohstoffe hat. Der Tschechoslowakischen Republik und ihrem tüchtigen Die alldeutschen Eroberungsziele, welche der Weltkrieg und fleißigen Volke spricht der Kongress für die in ruhi- nicht erfüllte, wurden von Hitler mit anderer Begründung ger Entschlossenheit organisierten Verteidigung der staat- wieder aufgenommen. Hitler hat das Erzbecken von Briey lichen Integrität gegen den Ansturm des faschistischen und Longwy noch nicht ausdrücklich genannt, dafür aber Imperialismus seine achtungsvolle Hochachtung aus. Die die Niederwerfung Frankreichs als Ziel aufgestellt und da- Tschechoslowakei hat damit dem europäischen Frieden ei- für würden ihm die belgischen Kohlengruben, die lothrin- nen großen und unschätzbaren Dienst geleistet. Der Kon- gisch-luxemburgischen Minette ohne weiteres zufallen. (…) gress spricht den Wunsch und die Hoffnung aus, dass alle Der Vorstoß Hitler-Deutschlands nach Südosteuropa zeigt demokratischen Staaten mithelfen mögen, in wirtschaftli- deutlich die alldeutschen Ziele: die rumänischen Ölquel- cher und politischer Beziehung diesem Staate seine schwe- len, deren Besitz getarnt wird mit der Befreiung der Deut- re Aufgabe in der Verteidigung des demokratischen Gedan- schen in Siebenbürgen und dem Banat, in Südslawien lo- kens und des Weltfriedens aufrecht zu erhalten.“ cken Eisen und Kupfer und in Ungarn das Getreide. Wenn Hektographierter Text der Resolution in: Bundesarchiv – die Alldeutschen während des Krieges die Eroberung wei- Zwischenarchiv Hoppegarten – ZB 7098, Akte 8, unfol.

4 DAS THEMA: 1938 – EUROPA AUF DEM WEG IN DEN KRIEG Die Annexion Österreichs im März 1938 – ein lange und zäh verfolgtes deutsches Expansionsziel

In den Morgenstunden des 12. März Kaisermetropole Wien war über Nacht flusseliten in Österreich9 nicht möglich 1938 drang die 8. deutsche Armee in zu einer Provinzstadt des Deutschen gewesen wäre. Erfreulicherweise gibt Österreich ein. Geschlossene deutsche Reiches geworden. Österreich wurde es in Österreich in neuerer Zeit kaum Polizeieinheiten sowie Einheiten der SS- das erste Opfer der neuen Etappe nazis- noch eine geschichtswissenschaftli- Verfügungstruppe, dem Vorläufer der tischer Expansionspolitik, die mit der so che oder ernsthafte politische Debat- Waffen-SS, waren in die Wehrmachts- genannten Hoßbach-Besprechung am te zum Gegenstand, bei der nicht auch verbände integriert. 5. November 1937 eingeleitet worden die Frage nach innerösterreichischen SS-Kommandos unter der Leitung des war.6 Damals hatte die deutsche Füh- Ursachen und deren Gewicht für den Reichsführers-SS und Chefs der Deut- rung den Entschluss gefasst, die seit Untergang der ersten Republik gestellt schen Polizei Heinrich Himmler waren langem geplanten Expansionsziele, die wird.10 Mit den Argumenten der Nazi- auf dem Wiener Flughafen Aspern ge- unter der Chiffre „Erweiterung des Le- Propaganda hatte sich schon das Inter- landet und hatten an Hand vorbereite- bensraums“ dem Nazi-Reich die Herr- nationale Militärtribunal in Nürnberg im ter Listen mit Verhaftungen begonnen.1 schaft über den Kontinent bringen und Prozess gegen die Hauptkriegsverbre- Die in Österreich eindringenden SS- und eine territorial genügend große Platt- cher 1945/1946 auseinander zu set- Polizeieinheiten besaßen nach einem form für den Kampf um die Weltherr- zen. „Vor dem Gerichtshof wurde einge- Bericht des Reichssicherheitshauptam- schaft sichern sollten, von nun an not- wendet,“ so das Gericht, „die Annexion tes bei allen Exekutivmaßnahmen vol- falls unter Einsatz militärischer Gewalt Österreichs habe in dem weit verbrei- le Handlungsfreiheit. Sie waren auch schrittweise zu realisieren. Um Flanken- teten Wunsch einer Vereinigung Öster- in Fragen „über Tod und Leben“ nicht bedrohungen bei einem Einschreiten reichs und Deutschlands ihre Rechtfer- an gesetzliche Regeln gebunden.2 Die der Großmächte gegen die gewalttäti- tigung gefunden … und schließlich sei österreichische Regierung hatte ihren ge Expansionspolitik zu beseitigen und dieses Ziel ohne Blutvergießen erreicht Streitkräften befohlen, den eindringen- gleichzeitig das rüstungswirtschaftliche worden.“ Das Gericht betonte demge- den Deutschen keinen Widerstand ent- Potential zu vergrößern, wollte man sich genüber, dass die Einverleibung Öster- gegen zu setzen.3 Österreichische SS zuerst gegen Österreich und die Tsche- reichs eine Aggression, die schwerste und SA besetzten im ganzen Land die choslowakei wenden. Wenn alles „blitz- kriminelle Handlung in den zwischen- Schaltstellen der Regierungsgewalt. Am artig schnell“ ginge, so Hitler auf der staatlichen Beziehungen darstellte. Nachmittag kam Adolf Hitler nach Linz. Hoßbach-Beratung, sei die Gefahr, dass Auch „die Methoden, deren man sich Dort traf er den österreichischen Na- Großbritannien und in dessen Gefolge zur Erreichung jenes Zieles bediente“, zi-Funktionär Arthur Seiß-Inquart, der Frankreich den einzelnen Opfern bei- seien „die eines Angreifers“ gewesen, kurz zuvor vom österreichischen Bun- springen werde, ziemlich gering.7 Die führte das Gericht weiter aus.11 Insbe- despräsidenten Wilhelm Miklas unter Aggression gegen Österreich war nicht sondere wurde darauf verwiesen, dass starkem Druck des Hitler-Reiches zum Endzweck, sondern eine geographisch die einmarschierende Wehrmacht so- österreichischen Bundeskanzler er- wichtige Zwischenstation auf dem Weg wie die in Österreich eindringenden SS- nannt worden war. Am 13. März wurde zur Erringung der Herrschaft über den und Polizeieinheiten, den Befehl hatten, das „Gesetz über die Wiedervereinigung Kontinent. bei Widerstand sofort rücksichtslos Ge- Österreichs mit dem Deutschen Reich“ walt anzuwenden.12 In Hitlers Weisung verkündet. Darin heißt es: „Österreich Eine Aggression Nr. 1 für die Kriegsführung vom 11. März ist ein Land des Deutschen Reiches … Der erzwungene Beitritt Österreichs 1938 („Unternehmen Otto“) heißt es: Die Einführung des Reichsrechts in Ös- zum Deutschen Reich wurde unter Be- „1. Ich beabsichtige, wenn andere Mittel terreich erfolgt durch den Führer und zugnahme auf das Ende des Heiligen nicht zum Ziele führen, mit bewaffneten Reichskanzler oder den von ihm hierzu Römischen Reiches Deutscher Nation Kräften in Österreich einzurücken … 5. ermächtigten Reichsminister.“4 Eine am im Jahr 1806 von der Nazipropaganda Sollte es aber zu Widerstand kommen, 16. März 1938 gebildete Zentralstelle als Wiedervereinigung gefeiert. In den so ist er mit größter Rücksichtslosig- unter Leitung des Reichsinnenministers Tagen des 12. und 13. März 1938 hat- keit durch Waffengewalt zu brechen.“13 sollte auf staatlicher Ebene die schnel- te die Propaganda der Eindruck zu ver- Auch auf der Hoßbach-Besprechung am le Eingliederung des Landes in das Na- mitteln versucht, die ganze österreichi- 5. November 1937 war nur von Krieg ge- zi-Reich und den Aufbau der deutschen sche Bevölkerung jubele den deutschen gen Österreich die Rede. Reichskriegs- Verwaltung in Österreich koordinieren.5 Truppen zu und behauptete, die Anne- minister Genraloberst Werner von Blom- Zum ersten Male hatte der deutsche Fa- xion sei mit Zustimmung „der Österrei- berg hatte den Beschluss zur baldigen schismus einen unabhängigen Staat un- cher“ und als Familienangelegenheit8 er- Annexion Österreichs als „unsere(r) Of- terworfen, nicht um ihn zeitweilig zu be- folgt. Unstrittig ist, dass der leichte Sieg fensive nach Südosten“ bezeichnet und setzen, sondern um ihn für immer dem über Österreich im März 1938 ohne die Hitler sprach von der „Durchführung Nazi-Reich einzugliedern. Die gloriose massenhafte Hilfe der Macht- und Ein- unseres Angriffs gegen die Tschechei

5 und Österreich“.14 Das Hossbach-Pro- cheren Raum auf Wegen herbei schaf- opa, der im Ergebnis einer zielsicheren tokoll, so das Internationale Militärtribu- fen zu können, die anders als im Ersten Expansionspolitik schon Ende 1937/ nal, beweise in besonderer Weise, dass Weltkrieg nicht von England kontrol- Anfang 1938 als „informal empire“ des von den „ehernen Motiven“ gegenüber liert werden konnten. Hitler ging wäh- deutschen Faschismus bezeichnet wer- den „Brüdern und Schwestern“ bei ge- rend der Hoßbach-Besprechung mehr- den kann.23 Österreich galt in vielerlei nauem Hinsehen nichts übrig blieb, fach auf diese grundlegende Lehre ein, Hinsicht als das Tor nach Südosteuropa. „dass keiner der erwähnten Umstände die von den deutschen Eliten aus dem Wenn es in „falsche“ Hände geriet, konn- der Beweggrund“ für das Handeln der Ersten Weltkrieg gezogen worden war. te es aber auch als Sperrriegel gegen deutschen Führer gewesen ist.15 Die Der zu erobernde „Lebensraum“, der den deutschen Drang nach Südost fun- Propagandathese, es ginge nur um die Rohstoffe und Lebensmittel liefern soll- gieren. Auf diese „Gefahr“ hatte schon „Brüder und Schwestern“ in Österreich, te, müsste „im unmittelbaren Anschluß 1930 der Deutsche Schutzbund, ein po- benutzte Hitler schon in seinem 1925 an das Reich“ liegen, auf dem Land- litisch einflussreicher Dachverband des erschienen Buch „Mein Kampf“. Die weg zugänglich sein. Keinesfalls dürfe „Grenz- und Auslandsdeutschtums“ mit Angliederung „Deutschösterreichs“ sei er in Gebieten liegen, die nur „über die guten Beziehungen zur rheinisch-west- notwendig wegen des „gleichen Blutes“, durch England beherrschten Seegebie- fälischen Schwerindustrie und zum das „in ein gemeinsames Reich“ gehö- te“ zu erreichen wären.19 Die Blockade Auswärtigen Amt, hingewiesen und ei- re. Er bestritt vehement andere Gründe Deutschlands durch die Entente im Ers- nen schnellen Anschluß Österreichs ge- etwa geostrategische oder „wirtschaftli- ten Weltkrieg bildete ein starkes Motiv fordert. Im Juni 1930 übergab der Vor- che Erwägungen“ für die Anschlussplä- zur Wiederaufnahme der Südostexpan- sitzende des Verbandes, Karl C. von ne.16 Zwölf Jahre später, auf der Bespre- sion. Loesch, der Reichsregierung die Denk- chung am 5. November 1937, spielte Schon bald nach 1918 hatte Karl Helf- schrift „Möglichkeiten deutscher Ostpo- für den Entschluss zur baldigen Einver- ferich, der Vizekanzler der Reichsre- litik“, die zuvor mit dem Reichsaußen- leibung Österreichs das „gleiche Blut“ gierung während des 1. Weltkrieges minister Gustav Stresemann und nach keine Rolle. Bei den vorgesehenen Er- (1916/1917) und ehemalige Direktor dessen Tod mit seinem Nachfolger Juli- oberungen sollte es nach Hitler „nicht der Deutschen Bank, auf dieses Blocka- us Curtius sowie mit großen Unterneh- um die Gewinnung von Menschen, son- deproblem aufmerksam gemacht. In Re- merverbänden abgestimmt worden war. dern von landwirtschaftlich nutzbarem flexionen über die deutsche Nahostex- Das bislang kaum bekannte Dokument Raum“ und von Rohstoffgebieten gehen. pansion bis 1918 wies er darauf hin, ein ist ein bedeutendes außenpolitisches Wichtig sei die „Verbesserung unserer entscheidender Vorteil der Nahostlinie Strategiepapier in der Weimarer Repub- militärpolitischen Lage … im Falle krie- habe darin bestanden, dass sowohl die lik. Im Kapitel „Die Probleme des nahen gerischer Entwicklungen … um die Flan- Expansionsräume als auch die Verbin- Südostens“ heißt es: „Das Wichtigste kenbedrohung … auszuschalten.“ Wegen dungslinien dorthin „abseits des Macht- ist fraglos der Anschluß … auch wegen der dann „kürzere(n), bessere(n) Grenz- bereichs des seegewaltigen England“ la- der Gefahr, die ein selbständiges Öster- ziehung“ könne die Wehrmacht Truppen gen, das während des Weltkrieges „alle reich für uns bedeutet. Sie liegt in der „für andere Zwecke“ bereithalten.17 unsere anderen Ausgänge nach der au- Möglichkeit der Entstehung eines eigen- ßereuropäischen Welt beherrschte.“20 österreichischen Staatsgefühls, in wirt- Tor nach Südosteuropa Die Blockadeerfahrung wurde ab 1933 schaftlicher Sonderentwicklung, im Ein- Die von Hitler angesprochenen wirt- ein konstitutives Element deutscher tritt Österreichs in ein politisches oder schafts- und militärgeografischen Fra- Südosteuropapolitik. Der Generalbevoll- wirtschaftliches System, dem das Reich gen weisen auf die für den deutschen mächtigte für die Kriegswirtschaft hob nicht angehört, ja das gegen dieses ge- Imperialismus besondere Bedeutung in einem Schreiben vom 14. Septem- richtet sein könnte. Das Ergebnis wäre: Österreichs in Zusammenhang mit der ber 1938 die „außerordentliche Bedeu- Abschnürung des Reiches von den Län- deutschen Südostexpansion hin. Die tung“ der Verkehrswege nach Südost- dern der mittleren und unteren Donau“. Eroberung Österreichs war nicht nur europa im „Mob-Fall“ hervor, „da sich Der Schutzbund forderte „eine aktive wegen der Aussicht, Devisen, Arbeits- der größte Teil der Ein- und Ausfuhren Politik … welche in der Gewinnung Ös- kräfte, Rohstoffe, Lebensmittel und Deutschlands“ über diese Wege vollzie- terreichs das erste Nahziel sieht … Ös- Produktionskapazitäten zu gewinnen, hen werde.21 Am 12. November 1940 terreich … ist auch der Ausgangspunkt wichtig. Das Land ist als erstes Ziel, als legte Günther Bergemann, im Reichs- jeder weiteren Reichspolitik nach Os- Ausgangspunkt und Auftakt der not- wirtschaftsministerium zuständiger Ab- ten und zur Neuordnung Europas.“ Die falls gewaltsam zu betreibenden deut- teilungsleiter für die Außenwirtschaft, deutsche Politik müsse zügig an „der schen Expansionspolitik vor allem we- die Kontinuität deutscher Politik hin- Durchführung des staatsrechtlichen Zu- gen seiner geographischen Lage sowie sichtlich des „Blockadekomplexes“ dar. sammenschluss Österreichs mit dem seiner politischen und wirtschaftlichen Es sei das langfristige Bestreben gewe- Deutschen Reich“ arbeiten. Die Denk- Verbindungen nach Südosteuropa aus- sen, eine Situation wie vor dem Ersten schrift fasst zusammen: „Der öster- gewählt worden. Diese Region war be- Weltkrieg zu vermeiden, als „43% der reichische Alpenraum und das oberste sonders nach dem Ersten Weltkrieg ein deutschen Einfuhren aus Übersee“ ka- Donaubecken um Wien sind die Schlüs- bevorzugter deutschen Expansions- men und von der Entente leicht unter- selstellung.“24 Ebenso wie sieben Jahre raum. Ein wesentliches Motiv für die be- bunden werden konnten. Deshalb ha- später in der „Hoßbach-Besprechung“, sonders seit 1934 forcierte deutsche be sich Deutschland insbesondere seit spielen in der Schutzbund-Denkschrift Politik der friedlichen Durchdringung 1933 „bewusst und planmäßig bemüht, die „Brüder und Schwestern“ für die Südosteuropas, dem Musterbeispiel ei- seine überseeischen Einfuhren zu dros- Begründung zum Anschluß Österreichs ner hochkomplex angelegten pénétra- seln und seinen Warenverkehr so zu len- keine Rolle. Es heißt darin: „Der Raum tion pacifique,18 war das Bemühen der ken, dass es in der Lage ist, Waren auch ist noch wichtiger als der Zuwachs von Faschisten, im Kriegsfall Lebensmittel im Kriegsfall erreichbar zu haben.“22 6,5 Millionen Deutschen und die Wirt- und Rohstoffe aus einem blockadesi- Dieser ideale Bezugsraum war Südost- schaftskräfte Österreichs.“25

6 Der „Anschluss“ 1938: nach Berchtesgaden befohlen und die- schen Spitzennazis erklärte Hitler, sein Improvisation oder Verwirklichung sen mit der Androhung militärischer Ziel sei, die Österreich-Frage auf einem einer längerfristigen Planung? Gewalt massiv erpresst. Der so einge- „evolutionäre(m) Weg“ zu lösen.36 Vee- Der Ablauf der Ereignisse zwischen dem schüchterte Österreicher bildete sofort senmayer berichtete in seinem oben ge- 11. und 13. März 1938 führen zu der bis sein Kabinett um und nahm die Nazis nannten Schreiben vom 18. Februar von heute kontrovers diskutierten Frage, ob Artur Seyß-Inquart und Edmund Glaise- „Chaosstimmung“ in Wien. Eine Kapitu- der „Anschluss“ eher improvisiert oder Horstenau als Sicherheitsminister bzw. lation solchen Ausmaßes der Gruppen der letzte Schritt eines sorgfältig kalku- als Minister ohne Portefeuille in die Re- hinter Schuschnigg hatte die deutsche lierten Stufenplans war. In einer in gro- gierung. Schuschnigg musste außer- Führung nicht erwartet. Das Nazi-Re- ßer Auflage verbreiteten Publikation aus dem zugestehen, dass die Nazi-Organi- gime verschärfte den Druck auf Öster- dem Jahre 2002 heißt es, dass am 12. sationen in Österreich sich de facto frei reich. Hitler, Keppler und Göring leg- März die deutschen Truppen „mit al- betätigen konnten und inhaftierte Na- ten am 21. Februar 1938 den weiteren len Zeichen der Improvisation“ in Ös- zis freigelassen werden.30 Damit hat- Kurs fest. Unter Seyß-Inquart sollte die terreich einmarschierten.26 Die Quellen ten die Nazis zum ersten Male Zugriff Entwicklung auf einen „Anschluss“ vor zeigen dagegen besonders für den mili- auf entscheidende Bereiche der öster- allem durch die weitere Kapitulation tärischen Bereich ein anderes Bild. Das reichischen Staatsmacht (auch der auf der Schuschnigg-Gruppe bis zur Über- Reichskriegsministerium meldete am die Unabhängigkeit Österreichs bedach- tragung der Staatsmacht an die öster- 12. März 1938, dass „die Operationen te Generalstabschef wurde durch einen reichischen Nazis beschleunigt vorange- weiter planmäßig verlaufen.“ (Hervorhe- „deutschfreundlichen“ Offizier ersetzt; trieben werden. Um die Nazi-Bewegung bung von mir – M. S.)27 schon 1936 war es gelungen, den nazis- in Österreich straffer von Deutschland Schon 1945/1946 musste sich das In- tischen Gewährsmann Guido Schmidt aus zu führen sowie um störende Akti- ternationale Militärtribunal in Nürnberg zum österreichischen Außenminister er- onen der Nazis in Österreich, aber ins- mit dem Improvisationsargument aus- nennen zu lassen). Zusammen mit der besondere aus dem Ausland auf den einandersetzen. Um den Vorwurf der fast uneingeschränkten Tätigkeit der ös- verschärften, dennoch vorgeblich ge- Anklage zu entkräften, sie hätten sich terreichisch-deutschen Nazi-Organisati- waltlosen „evolutionären“ Kurs zu ver- mit dem Ziel verschworen, gegen Öster- onen, dem verstärkten illegalen Transfer meiden, wurde der wegen seiner Diszi- reich eine Aggression durchzuführen, von Devisen im Wert von vielen Millio- plinlosigkeit und seiner Intrigen gegen nahmen einige Angeklagte und ihre Ver- nen Reichsmark zur Stärkung großdeut- Seyß-Inquart in Berlin unbeliebt gewor- teidiger Zuflucht zu dem Argument der scher Kräfte und Verhinderung des Ent- dene Landesleiter der NSDAP in Öster- Improvisation. „Es war nichts vorberei- stehens eines „eigenösterreichischen“ reich Josef Leopold abgesetzt.37 tet gewesen, sondern es war alles im- Staatsgefühls31 sowie einem gestei- Das seit 1936 ins Auge gefasste Sze- provisiert“, sagte Wilhelm Keitel, seit gerten propagandistischen Druck aus nario der „evolutionären“ Entwicklung Februar 1938 Chef des Oberkomman- Deutschland32, war die totale Faschisie- sollte nach Berchtesgaden zügig umge- dos der Wehrmacht, in der Vernehmung rung der Alpenrepublik abzusehen und setzt werden. Es umfasste: Kein Putsch am 3. April 1946.28 Diese Aussagen soll- ein Anschluß „via facti“33, ohne Anwen- in Österreich, Rücktritt Schuschniggs ten nach Meinung von Sidney Alderman, dung offensichtlicher äußerer Gewalt in und des Bundespräsidenten Wilhelm dem amerikanischen Anklagevertreter, kurzer Zeit möglich. Die Nazi-Führung in Miklas, Übergabe der Staatsmacht an das Bild vermitteln, dass „Deutschland Deutschland nannte dies die evolutionä- Seyß-Inquart und die Nazi-Bewegung, niemals Pläne für die Invasion Öster- re Lösung der Österreich-Frage.34 die dann den „Anschluss“ als Vollzug reichs gemacht hat“.29 Im Urteil des In- Am 18. Februar hatte Edmund Veesen- des Volkswillen verkünden werde. Die ternationalen Militärtribunals heißt es mayer, Stellvertreter des seit 1937 als Improvisationsthese wird auch dadurch dagegen:„Der Einfall in Österreich war Sonderbeauftragter für Österreich agie- genährt, dass Hermann Göring in der ein erwogener vorbereitender Schritt renden Wilhelm Keppler, in einem Infor- letzten Phase sichtbar hervorgetreten zur Förderung des Planes, gegen ande- mationsbericht über die Folgen der Ber- ist. Das zeigt sich unter anderem an re Länder Angriffskriege zu führen. Da- chtesgadener Besprechung mit Blick seiner Teilnahme an der oben genann- mit war Deutschlands Flanke geschützt auf die austrofaschistischen Machtzir- ten Besprechung Hitlers mit Keppler und die Tschechoslowakei erheblich ge- kel festgestellt: „Der Zusammenbruch am 21. Februar 1938, aber besonders schwächt. Der erste Schritt zur Ergrei- ist ein derartig totaler, dass unter der bei den bekannten Telefonaten vom fung von ‚Lebensraum‘ war getan; viele Voraussetzung, dass eine Beschleuni- 11. März 1938.38 Er war zwischen 1936 neue Divisionen ausgebildeter Soldaten gung der Entwicklung dem Führer in und 1939 der wichtigste wirtschaftspo- waren gewonnen, und durch die Gewin- sein außenpolitisches Konzept passt, litische Ratgeber Hitlers. Göring stützte nung ausländischer Devisen-Reserven durch bestimmten Nachdruck seitens sich wiederum auf die ihm unterstellte war das Aufrüstungsprogramm bedeu- des Reiches innerhalb der nächsten Wo- Vierjahresplanbehörde und „andere um tend gestärkt worden.“ chen eine Reihe entscheidender Positi- ihn sich sammelnde Wirtschaftsexper- Die Diskussion Improvisation versus onen erobert werden können.“35 Hitler ten“39. Außerdem war er seit über ei- langfristige Strategie wird auch durch machte sich diese Beurteilung mit der nem Jahr offensichtlich intensiver mit die Ereignisgeschichte in den letzten Favorisierung der „evolutionären Ent- wirtschaftspolitischen Fragen des „An- Wochen vor dem Anschluss befördert, wicklung“ zu Eigen. Er stellte am 26. Fe- schlusses“ befasst, als bislang bekannt. in dem sich auf deutscher Seite die Tak- bruar 1938 zum Berchtesgadener Ab- Am 17. März 1937 verkündete Göring tik gegenüber der österreichischen Re- kommen fest, es sei „so weitgehend, vor dem Eisen- und Stahl-Arbeitskreis gierung und nach außen auf deutscher dass bei voller Durchführung die Öster- des Vierjahresplans, dass bei Modell- Seite auch die an der Spitze handeln- reich-Frage automatisch gelöst werde … rechnungen für den Kriegsfall „auch die den Personen änderten. Für den 12. Fe- Eine gewaltsame Lösung sei ihm, wenn Bezüge aus Österreich in seiner gan- bruar 1938 hatte Hitler den österreichi- es irgendwie vermieden werden kön- zen Ausdehnung zugrunde zu legen“ schen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg ne, jetzt nicht erwünscht“. Österreichi- seien.40 Am 21. Februar 1938 machte

7 er den Vorschlag, mit Österreich eine gime innenpolitisch und außenpolitisch tet, dass sich die Mehrheit der Österrei- Währungsunion einzugehen. Damit wä- extrem beschädigen. Im Falle eines cher für die Unabhängigkeit entscheiden re die bis dahin stärkste und kaum wie- Scheiterns des verschärften Kurses wä- werde. Das hätte den Anschluss-Plänen der zu lösende Bindung Österreichs an re Hitler zunächst aus der „Schusslinie“ einen schweren Schlag versetzt. In der Nazi-Deutschland erreicht worden. Au- gewesen. Erst als am Abend des 12. deutschen Führung kannte man durch ßerdem konnte man die begehrten Roh- März der „Anschluss“ sicher war, konn- Agentenmeldungen die Prognosen der stoffe aus Österreich ohne den Einsatz te Hitler wieder hervortreten. Die deut- österreichischen Regierung für Neu- ausländischer Devisen mit Reichsmark schen Planungen über den verschärften wahlen bzw. Volksbefragungen. Danach erwerben. Göring nannte konkret „Ei- evolutionären Kurs brachte dann der ös- wollte die Schuschnigggruppe auf die sen, Metalle und Holz“41 . terreichische Bundeskanzler Schusch- Arbeiterbewegung zugehen, wodurch Für das Vordringen Görings hat auch die nigg durcheinander. Um die sich ab- „die absolute Majorität“ erwartet wer- Erfahrung vom Sommer 1934 eine Rolle zeichnende Entwicklung aufzuhalten, de.42 Die Nazis verließen den evolutio- gespielt. Nach dem gescheiterten Nazi- verkündete er am 9. März 1938 eine nären Kurs. Am Vormittag des 10. März Putsch in Wien musste Hitler sich von Volksbefragung für den 13. März 1938. befahl Hitler, das „Unternehmen Otto“, der österreichischen NSDAP distanzie- Damit sollten die Unabhängigkeit Öster- den Überfall auf Österreich vorzuberei- ren. Das Nazi-Regime in Berlin machte reichs gerettet und die Herrschaft des ten. Um 18.30 Uhr wurde die 8. Armee in der Österreichpolitik einen im Aus- Austrofaschismus gesichert werden. mobilisiert. Am 11. März erging die Wei- land viel beachteten Rückzieher. Einen Das war für die deutsche Führung der sung Nr. 1 für den Einmarsch in Öster- solchen Rückzug 1938 würde das Re- casus belli. Die Nazi-Regierung, befürch- reich. Ebenfalls am 11. März betrieb Gö-

Der im englischen Exil lebende österreichische Schriftsteller Stefan Zweig beschreibt in seinen Memoiren den Tod seiner Mutter nach dem Einmarsch der „Wehrmacht“:

„Dieser Tage, da täglich die Hilfeschreie aus der Heimat gel- starb wenige Monate nach der Besetzung Wiens, und ich len, da man nächste Freunde verschleppt, gefoltert und er- kann nicht umhin, eine Episode festzuhalten, die mit ihrem niedrigt wusste und für jeden hilflos zitterte, den man lieb- Tode verbunden war; gerade dass solche Einzelheiten ver- te, gehören für mich zu den furchtbarsten meines Lebens. merkt werden, scheint mir wichtig für eine kommende Zeit, Und ich schäme mich nicht zu sagen – so hat die Zeit unser der derartige Dinge als unmöglich gelten müssen. Herz pervertiert –, dass ich nicht erschrak, nicht klagte, als Die vierundachtzigjährige Frau war morgens plötzlich be- die Nachricht vom Tode meiner alten Mutter kam, die wir in wusstlos geworden. Der herbeigerufene Arzt erklärte so- Wien zurück gelassen hatten, sondern dass ich im Gegen- fort, dass sie die Nacht kaum überleben würde, und be- teil sogar eine Art Beruhigung empfand, sie vor allen Lei- stellte eine Wärterin, eine etwa vierzigjährige Frau, an ihr den und Gefahren nun gesichert zu wissen. Sterbebett. Nun waren weder mein Bruder noch ich, ih- Vierundachtzig Jahre alt, beinahe völlig ertaubt, hatte sie re einzigen Kinder, zur Stelle und konnten natürlich nicht eine Wohnung in unserem Familienhause inne, durfte so- kommen, da auch Rückkehr an das Sterbebett einer Mut- mit selbst nach den neuen ‚Ariergesetzen‘ vorläufig nicht ter den Vertretern der deutschen Kultur als ein Verbrechen delogiert werden, und wir hatten gehofft, sie nach eini- gegolten hätte. So übernahm es ein Vetter von uns, den ger Zeit doch auf irgendeine Weise ins Ausland bringen zu Abend in der Wohnung zu verbringen, damit wenigstens ei- können. Gleich eine der ersten Wiener Verfügungen hatte ner von der Familie bei ihrem Tode anwesend wäre. sie hart getroffen. Sie war mit ihren vierundachtzig Jahren Dieser unser Vetter war damals ein Mann von sechzig Jah- schon schwach auf den Beinen und gewohnt, wenn sie ih- ren, selbst nicht mehr gesund, und er ist tatsächlich auch ren täglichen kleinen Spaziergang machte, immer nach fünf ein Jahr später gestorben. oder zehn Minuten mühseligen Gehens auf einer Bank an Als er eben Vorbereitungen traf, im Nebenzimmer sein Bett der Ringstraße oder im Park auszuruhen. Noch war Hitler für die Nacht aufzuschlagen, erschien – zu ihrer Ehre ge- nicht acht Tage Herr der Stadt, so kam schon das viehische sagt, ziemlich beschämt – die Pflegerin und erklärte, es sei Gebot, Juden dürften sich nicht auf eine Bank setzen – ei- ihr leider nach den neuen nationalsozialistischen Gesetzen nes jener Verbote, die sichtlich ausschließlich zu dem sa- nicht möglich, über Nacht bei der Sterbenden zu bleiben. distischen Zweck des hämischen Quälens ersonnen waren. Mein Vetter sei Jude, und sie als eine Frau unter fünfzig Denn Juden zu berauben, das hatte immerhin noch Logik dürfe, auch bei einer Sterbenden, sich nicht gleichzeitig und verständlichen Sinn, weil man mit dem Raubertrag der mit ihm unter demselben Dache über Nacht aufhalten, – Fabriken, der Wohnungseinrichtungen, der Villen und mit der Mentalität Streichers gemäß musste ja eines Juden den frei gewordenen Stellen die eigenen Leute füttern, die erster Gedanke sein, Rassenschande an ihr zu praktizie- alten Trabanten belohnen konnte; schließlich dankt die Bil- ren. Selbstverständlich, sagte sie, sei ihr diese Vorschrift dergalerie Görings ihre Pracht hauptsächlich dieser groß- furchtbar peinlich, aber sie sei genötigt, sich den Gesetzen zügig geübten Praxis. Aber einer alten Frau oder einem er- zu fügen. So war mein sechzigjähriger Vetter, nur damit die schöpften Greis zu verweigern, auf einer Bank für ein paar Pflegerin bei meiner sterbenden Mutter verbleiben konnte, Minuten Atem zu holen, dies war dem zwanzigsten Jahr- gezwungen, abends das Haus zu verlassen; vielleicht ver- hundert und dem Manne vorbehalten, den Millionen als steht man nun, dass ich sie glücklich pries, nicht länger un- den Größten dieser Zeit anbeten. ter solchen Menschen leben zu müssen.“ Glücklicherweise blieb es meiner Mutter erspart, der- Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Ein Zeitalter wird be- lei Roheiten und Erniedrigungen lange mitzumachen. Sie sichtigt (1944), Frankfurt a. M. 1995, S. 459ff.

8 ring mit den genannten Telefonaten den die Wiedervereinigung und Annexion, schung dieses Weges abseits war nur Rücktritt Schuschniggs, die Ernennung zu wählen.46 Es ist sicher „ein falscher möglich, wenn auch jenes Teilstück, Seyß-Inquarts zum Bundeskanzler, dik- Rückschluss, aus dem schließlichen Er- das über Österreich-Ungarn führte, von tierte dem neuen Regierungschef die folg des koordinierten Vorgehens einen Deutschland kontrolliert werden konn- Ministerliste und befahl die Absendung perfekt geplanten Ablauf zu konstruie- te. Nach Meinung einflussreicher Kräf- eines „Hilfeersuchens“ der neuen öster- ren“47. Ausschlaggebend war der seit te in Deutschland reichte dazu die po- reichischen Regierung zur Entsendung Jahrzehnten manifeste Wille aller Frakti- litische und militärische Bindung in deutscher Truppen nach Österreich.43 onen der deutschen Macht- und Einflus- dem seit 1876 bestehenden Zweibund Joachim von Ribbentrop, der inzwischen seliten, Österreich, ganz gleich in wel- nicht aus. Das Bündnis sollte durch ei- zum Reichsaußenminister ernannt wor- cher konkreten staatsrechtlichen Form, ne starke ökonomische Durchdringung den war, sondierte in Großbritannien ihrem Machtbereich einzuverleiben und der Donaumonarchie untermauert wer- und der Italienbeauftragte Prinz Philipp dafür – auch das war Bestandteil rele- den. Am 26. Juli 1905 nahm die Berliner von Hessen holte in Rom Benito Mus- vanter Anschluss-Konzeptionen – die „Börsen- und Handelszeitung“ die Er- solinis Zustimmung für die deutsche erforderlichen Bedingung und Anläs- öffnung deutscher Bankenstützpunkte Militäraktion ein. Bis dahin scheint die se in Österreich und auf internationa- in Sofia zum Anlass, auf die Problema- deutsche Führung davon ausgegangen ler Ebene zu schaffen sowie sich plötz- tik der Beherrschung des Weges nach zu sein, den Anschluss in Form einer Fö- lich bietende Gelegenheiten zu nutzen. Bagdad durch wirtschaftliche Durch- deration der beiden dann nazi-faschisti- So meinte das Auswärtige Amt auf eine dringung einzugehen. Diese Bankenak- schen Staaten zu vollziehen. Als sich im Denkschrift des Deutschen Schutzbun- tivitäten, schrieb die Zeitung, seien nur Laufe des 12. März herausstellte, dass des vom März 1930 mit der Forderung „im Zusammenhang mit den deutschen der Einmarsch problemlos verlief, die nach schnellem Anschluss Österreichs Aufgaben im Orient zu verstehen … Al- Westmächte, insbesondere Großbritan- und der „Wiedergewinnung“ Südtirols, les deutet an, dass die Dinge im Orient nien nicht ernsthaft intervenieren wür- dass dies „unseren politischen Wunsch- bald in Fluss geraten und Deutschland den44 und Italien dem deutschen Trei- träumen entspreche“, aber man zur dort die Vormacht erlangt … Dort entwi- ben zustimmte, wurden die Pläne für die Verwirklichung noch nicht in der Lage ckelt sich ganz von selbst das beste Ko- staatsrechtliche Form des Anschlusses sei. Deutschland werde abwarten, aber lonialprogramm.“ Auch die Donaumon- geändert. jede „Gelegenheit wahrnehmen“ müs- archie „kommt dabei in Betracht, denn Die deutsche Führung war vom Ausmaß sen, „ohne Rücksicht darauf, ob ein Pro- die wirtschaftliche Initiative derselben der Faschisierung der österreichischen gramm oder die Reihenfolge eines Pro- versagt nach außen, und da sie auch im Bevölkerung sowie von der totalen Ka- gramms dadurch eingehalten werden Innern abnimmt, so bietet sich der deut- pitulation des austrofaschistischen wird“48. schen Finanz hier eine Gelegenheit, Un- Systems vor den österreichischen und garn und selbst Österreich wirtschaft- deutschen Nazis völlig überrascht und Traditionelles Expansionsziel lich zu meistern.“49 passte ihr Anschluss-Konzept den neu- Auf den Anschluss wurde seit Jahrzehn- Zentrale Bedeutung wurde Österreich- en, für sie extrem günstigen Bedin- ten hingearbeitet. Österreich geriet Ungarn im Zusammenhang mit den eben- gungen an. Hitler veranlasste Seyß- In- schon Ende des 19. Jahrhunderts in den falls verstärkt seit der Wende zum 20. quart, ein Bundesverfassungsgesetz Fokus der auf die Eroberung eines „Plat- Jahrhundert auftauchenden Planungen über den Beitritt Österreichs zum Deut- zes an der Sonne“, auf Weltherrschaft für einen unter deutscher Führung ste- schen Reich zu verabschieden. In die- angelegten deutschen Expansionspo- henden mitteleuropäischen Wirtschafts- sem Punkt wurden die Austrofaschisten litik. Die Donau-Monarchie war für die block beigemessen. In der Schaffung von ihren eigenen Untaten eingeholt. deutsche Wirtschaft schon wegen ihrer dieses Wirtschaftsblocks erblickten alle Sie hatten im Frühjahr 1934 nach deut- Bevölkerungszahl ein lukrativer Absatz- Fraktionen der Macht- und Einflusseliten schem Vorbild das Parlament entmach- markt und wegen ihrer relativen Unter- im wilhelminischen Deutschland das ent- tet und die Gesetzgebungskompetenz entwicklung ein Anlageplatz für deut- scheidende Mittel für die Beherrschung der Regierung übertragen. Der Nazi-Mi- sches Kapital. Um 1900 hatte die k.u.k. Europas und die beste Voraussetzung nister Seyß-Inquart machte 1938 davon Monarchie fast 43 Millionen Einwohner zum Kampf gegen andere „Weltreiche“. Gebrauch, um Österreich zu liquidieren, (Deutschland: 52 Millionen). Der vor allem durch die Angliederung ohne formell einen Verfassungsbruch zu Vor allem aber war Österreich wegen Österreich-Ungarns und weiterer Staa- begehen. Da sich der Bundespräsident seiner geographischen Lage für alle ten entstehende mitteleuropäische Wirt- Wilhelm Miklas weigerte, das Gesetz zu maßgebenden Gruppen der deutschen schaftsblock sollte, so der Vorsitzende bestätigen, wurde er zum Rücktritt ge- Macht- und Einflusseliten von großem der Jungliberalen, Robert Kaufmann, in zwungen. Seyß-Inquart übernahm auch Interesse. Es spielte dadurch sowohl einer Veröffentlichung von 1912, zügig die Aufgaben des Bundespräsidenten in den Mitteleuropaplänen als auch in zu einem geschlossenen, von Deutsch- und unterzeichnete das Bundesverfas- der Expansionslinie „Berlin-Bagdad“ ei- land beherrschten Wirtschaftsverbund sungsgesetz dessen Text dann als Arti- ne herausgehobene Rolle. Das Gewicht „von Borkum bis Bagdad“ ausgebaut kel I in das deutsche „Gesetz zur Wie- Österreich-Ungarns für die Expansi- werden.50 dervereinigung Österreichs mit dem onspolitik in Richtung Türkei/Nahost Nach der Entfesselung des Ersten Krie- Deutschen Reich“ vom 13. März 1938 verdeutlicht ein Blick auf die Landkar- ges stand das Mitteleuropa-Projekt im einfloss.45 te. Die Großmacht im Südosten Euro- Mittelpunkt der deutschen Kriegszie- Die unerwartet günstigen Bedingungen pas reichte Ende des 19. Jahrhunderts le. Im zentralen Kriegszielkonzept der in Österreich und auf internationaler von Oberitalien und der Adria bis Lem- deutschen Regierung, dem „Septem- Ebene hatten die Nazi-Führung bewogen, berg, vom Ostrand des Erzgebirges bis berprogramm“, schrieb Reichskanzler das Konzept für die Form des Anschlus- zur Donau bei Belgrad. Der Landweg Theobald von Bethmann Hollweg am ses zu wechseln und die staatsrechtlich von Berlin nach Bagdad führte über ös- 9. September 1914: „Es ist zu errei- radikalste Variante des Anschlusses, terreichisches Territorium. Die Beherr- chen die Gründung eines mitteleuro-

9 päischen Wirtschaftsverbandes … Die- ler ins Ausland transferierten Geldmittel ter im Reichswehrministerium und spä- ser Verband, wohl ohne gemeinsame des Vereins nach Österreich gingen.55 tere Militärbefehlshaber in Frankreich konstitutionelle Spitze, unter äußerli- „Deutschtums“-Politik wurde seit der (1940–1942), Otto von Stülpnagel, an cher Gleichberechtigung seiner Mitglie- Gründung des VDA ein vielseitig ver- das Auswärtige Amt, zu den „nächste(n) der, aber tatsächlich unter deutscher wendbares Instrument deutscher Ex- Ziele(n) der allgemeinen deutschen Po- Führung, muss die wirtschaftliche Vor- pansionspolitik. litik“ gehöre der „Anschluss Deutsch- herrschaft Deutschlands über Mitteleu- Mit dem Ausgang des Ersten Weltkrie- Österreichs.“59 Geändert wurden die ropa stabilisieren“.51 Bereits kurz nach ges war das deutsche Interesse an Methoden. Gemäß den oben zitierten Kriegsbeginn hatte Walther Rathenau, „Deutsch-Österreich“ eher noch ge- Vorgaben der Reichsregierung vom Ok- Geschäftsinhaber der Berliner Han- wachsen. Repräsentanten der Weimarer tober 1923 sollten die Verhältnisse in der delsgesellschaft und „Chef“ der AEG, Republik betrieben 1918 den baldigen, Alpenrepublik im Zuge einer beispiello- dem Kanzler eine Denkschrift zu der staatsrechtlich engstmöglichen An- sen wirtschaftlichen und geistig-politi- „Frage einer wirtschaftlichen Annähe- schluss der Alpenrepublik an Deutsch- schen Durchdringung derart verändert rung Deutschlands und Österreichs-Un- land. Dabei spielte auf deutscher Seite werden, dass bei besseren internationa- garns“ übermittelt. Die Denkschrift gilt zunächst das Motiv eine Rolle, mit der len Bedingungen ein Anschluss in kür- als verschollen, ihr Inhalt lässt sich aber Schaffung Großdeutschlands die Folgen zester Zeit problemlos zu erreichen sei. aus einer Stellungnahme des Reichs- der Kriegsniederlage abzumildern. Gus- Konzentriert zeigte sich dieses Konzept amts des Innern vom 3. September tav Stresemann erklärte im Dezember in einer Ausarbeitung des deutschen 1914 rekonstruieren. Rathenau soll „die 1918: „Gelingt es uns aber, die Deutsch- Gesandten in Prag Walter Koch vom 29. Zollgemeinschaft mit Österreich-Un- Österreicher an uns zu fesseln, dann Dezember 1927. Er ging davon aus, dass garn als dringend erwünscht erschei- kommen wir über manches hinweg, was „der politische Anschluss … in absehba- nen lassen“, heißt es in dem Doku- wir in anderer Richtung verloren haben: rer Zeit … auf machtpolitischem Wege“ ment. Das Amt weist darauf hin, dass dann haben wir den großen Block der nicht möglich sei. Deshalb „dürfte die die Reichsregierung sich seit längerer 70 Millionen Deutschen inmitten Euro- wirtschaftliche Durchdringung Öster- Zeit mit diesem Problem beschäftige. pas, … an dem keiner vorbeigehen kann reichs, die ‚Eindeutschung‘ sozusagen „Neu ist in der Rathenau`schen Denk- … Erreichen wir das, dann werden wie- der österreichischen Wirtschaft als ein- schrift der Gedanke“, heißt es, „die ge- der andere Zeiten kommen, dann wer- ziges Mittel übrig bleiben, das uns vor- waltige Umwälzung, die eine Zollunion den andere politische Konstellationen wärts zu bringen in der Lage scheint, zu- für beide Länder im Gefolge haben wür- unsere Lage erleichtern.“56 gleich aber in der Lage sein dürfte, den de, während des Krieges durch einen Die deutschen Bestrebungen konnten Anschluss … via facti durchzuführen.“ Handstreich gegen Österreich-Ungarn sich auf eine starke Anschlussbewe- Die wirtschaftliche Seite des Durch- durchzusetzen.“52 Am 14. September gung in Österreich stützen. Die Verant- dringungsprogramms sollte man „der 1914 ließ der Reichskanzler Rathenau wortlichen in Wien waren davon ausge- deutschen Industrie und den deutschen mitteilen, er habe die „Ausführungen gangen, dass „Rumpfösterreich“, das Banken überlassen … Die Reichsregie- mit größtem Interesse gelesen“ und „in- nur noch ein Achtel des Territoriums rung wird, den Endzweck der Aktion vor zwischen marschiert die Sache, wie ich der ehem. K.u.k. Monarchie umfasste, Augen, sie regulierend zu beeinflussen glaube“53. nicht lebensfähig sei und nur der An- haben.“ Bemühungen zur materiellen Die deutsche Seite war sich bewusst, schluss als Ausweg bliebe. Für die Herr- Stützung der großdeutsch eingestellten dass die auf Vorherrschaft zielenden schenden in Berlin waren es wieder die Bevölkerung sowie auf politisch-propa- Pläne vielfach auf harsche Ablehnung geographische Lage und die traditio- gandistischem und rechtlichem Gebiet, der jüdischen, slawischen und ungari- nellen Beziehungen Österreichs nach „die auf die beiderseitige Annäherung“ schen Bevölkerung in Österreich-Ungarn Südosteuropa, die Interesse an einem gerichtet seien, wären ebenfalls not- stießen. Außer dem Einsatz der ökono- Anschluss geweckt hatten. Die deut- wendig. Koch wies nachdrücklich dar- mischen Überlegenheit setzte Deutsch- sche Regierung ging zügig an die Ver- auf hin, dass Österreich nur der erste land seit den 80er Jahren des 19. Jahr- wirklichung des Anschlusses. In den Schritt, der Ausgangspunkt deutscher hunderts zunehmend stärker auf die Verhandlungen mit Österreich strebte Bestrebungen sei. Ein wirtschaftlicher „Förderung des Deutschtums“, um den das Auswärtige Amt „den völligen Auf- Anschluss Österreichs an Deutschland, Einfluss der anderen Völker in der Do- gang Deutsch-Österreichs in Deutsch- so Koch, habe erhebliche Bedeutung für naumonarchie zurück zu drängen. „Ein land“ an.57 Die Verhandlungen wurden die deutsche Expansion nach Südosteu- unter slawischer Vorherrschaft stehen- vertraulich geführt, denn die Entente- ropa.60 des Österreich“, heißt es in einer Arbeit Mächte hatten in den Friedensverträ- Dieses Konzept des Auswärtigen Amtes aus dem Jahr 1913, „wäre für das Deut- gen mit Deutschland und Österreich ein deckte sich mit Vorstellungen, die von sche Reich kein zuverlässiger Partner striktes Anschluss-Verbot ausgespro- der deutschen Wirtschaft entwickelt mehr.“54 chen. Als Österreich 1922 beim Völ- wurden. Max Schlenker, Geschäftsfüh- Für die „Deutschtums“-Tätigkeit in Ös- kerbund um eine Anleihe nachsuchen rer des „Vereins zur Wahrung der ge- terreich, deren Hauptzweig die groß- musste, wurde die Vergabe des Geldes meinsamen wirtschaftlichen Interes- deutsche Propaganda bildete, entstand an ein erneutes Anschlussverbot ge- sen in Rheinland und Westfalen“ (sog. 1881 mit dem Allgemeinen Deutschen bunden. Die deutschen Pläne waren ge- Langnamverein) und der Nordwestli- Schulverein, seit 1908 Verein für das scheitert. Die deutsche Regierung leg- chen Gruppe des Vereins Deutscher Ei- Deutschtum im Ausland (VDA), ei- te im Oktober 1923 fest: „Verschieben sen- und Stahlindustrieller, forderte im ne spezielle Organisation. Obwohl der jeder österreichischen Anschlusspolitik Juli 1928 in einem Zeitschriftenaufsatz VDA zunehmend weltweit agierte, lag bis zur gründlichen Änderung der dorti- die Schaffung eines unter deutscher der Schwerpunkt seiner Tätigkeit in Ös- gen Verhältnisse.“58 Führung stehenden mitteleuropäischen terreich. Im Tätigkeitsbericht für 1909 Das Ziel wurde nicht aufgegeben. Am Wirtschaftsblocks. Dabei käme dem An- wurde mitgeteilt, dass 58,2 Prozent al- 6. März 1926 schrieb der Abteilungslei- schluss Österreichs eine zentrale Rolle

10 zu. Österreich sei das „für die Erschlie- schen Zollunion.64 Auf die Rolle der Zoll- MNN war mit einer Auflage von 135.000 ßung des Südostens ausschlaggebende union als erstem Schritt in Richtung auf Exemplaren eine der am meisten ver- Gebiet.“ Weiter heißt es in dem Aufsatz: ein deutsches Mitteleuropa wies Staat- breiteten Zeitungen in Deutschland.69 „Die besondere Stellung Österreichs in sekretär Bülow am 15. April 1931 in ei- Die am 30. Januar 1933 installierte Mitteleuropa, seine zentrale Lage, seine nem Brief an den deutschen Gesandten Hitler-Regierung hielt sich in ihrem Han- Bedeutung als beherrschender Bank- in Prag hin: „Ist die deutsch-österreichi- deln gegenüber Südosteuropa an die platz … lässt es deshalb besonders an- sche Zollunion einmal Tatsache ge- nach dem Zollunionsdebakel entwickel- gezeigt scheinen, durch den … Zusam- worden, so rechne ich damit, dass der ten konzeptionellen Leitlinien für eine menschluss auch die mitteleuropäische Druck wirtschaftlicher Notwendigkei- Politik auf lange Sicht und der Vermei- Wirtschaftsfrage in Fluss zu bringen.“61 ten den Beitritt der Tschechoslowakei dung von internationalen Zwischen- Etwa 1930 sahen die maßgebenden nach wenigen Jahren in der einen oder fällen. Sie war damit in Südosteuropa Kräfte in Deutschland die Zeit für ge- anderen Form erzwingen wird. Ich wür- außerordentlich erfolgreich.70 In der Ös- kommen, im Rahmen einer „aktiven“ de darin den Anfang einer Entwicklung terreich-Politik ging die Nazi-Regierung, Außenpolitik die Anschlussfrage erneut sehen, die geeignet wäre, lebenswichti- unterstützt von hohen Beamten des zu forcieren. Wesentliches Ziel der neu- ge politische Interessen des Reichs ei- Auswärtigen Amtes71 und einflussrei- en politischen Anstrengungen war der ner auf anderem Wege kaum möglich chen Kräften der Hochfinanz, einen an- zunächst wirtschaftliche Anschluss. Die erscheinenden Lösung zuzuführen … deren Weg. Gestützt auf den Aufwind, Schaffung eines wirtschaftspolitischen Wenn es gelingt, die Tschechoslowa- den die Nazis in Österreich durch den Großdeutschlands galt als erster und kei unserem Wirtschaftsblock anzuglie- 30. Januar 1933 in Deutschland erlang- wichtigster Schritt auf dem Wege zu ei- dern, und wenn wir inzwischen auch mit ten, kehrte sie zur Taktik des Frontalan- nem deutschgeführten Mitteleuropa, den Randstaaten nähere wirtschaftliche griffs zurück. Am 16. Mai 1933 lobten das im wirtschaftspolitischen Frontal- Beziehungen geschaffen haben wer- die „Deutschen Führerbriefe“, ein ver- angriff gegen die französische Hegemo- den, dann ist Polen mit seinem wenig trauliches und in kleiner Auflage ver- nie in Ost- und Südosteuropa durch die gefestigten Wirtschaftskörper einge- breitetes Informations- und Kommuni- Schaffung eines einheitlichen Zollgebie- kreist und allerhand Gefährdungen aus- kationsorgan der Hochfinanz, Hitlers tes mit unüberwindlich hohen Außen- gesetzt: Wir haben es in der Zange …“65 Politik nach einem schnellen Anschluss zöllen entstehen sollte. Von dieser Platt- In Paris wurden die politischen Folgen vor allem wegen der großen Bedeutung, form aus beabsichtigte man, den Kampf der Zollunion nicht nur für Frankreichs die die Annexion Österreichs für eine um die Vorherrschaft auf dem Konti- Stellung in Südosteuropa, sondern für „Neuordnung Europas“ unter deutscher nent und um die Wiederherstellung der die gesamte Versailler Nachkriegsord- Führung habe. Es spreche „für die inne- „Weltgeltung“ zu führen. Am 31. Mai nung erkannt.66 Frankreich und seine re Zielsicherheit des Kanzlers“, schrieb 1930 schrieb der deutsche Gesandte in Verbündeten brachten das Projekt zu das Blatt, „dass er sich von der groß- Bukarest an den Staatssekretär im Aus- Fall. Für die Herrschenden in Deutsch- deutschen Lösung um keinen Preis ab- wärtigen Amt, Bernhard von Bülow, dass land war das Scheitern der Zollunion ein bringen lassen will“72. angesichts der Stärkung Deutschlands traumatisches Ereignis, das in Anspie- „Etwa im Herbst“, meinte das Blatt, sei „die Anschlussfrage nicht mehr so un- lung auf die Demütigung Frankreichs im die Machtübernahme durch die öster- aktuell“ sei. „Österreich bleibt doch in Sudan durch Großbritannien 1898 als reichischen Nazis erreicht. Durch den mancher Beziehung die Schlüsselstel- „Faschoda der deutschen Außenpoli- bald zu vollziehenden Anschluss wür- lung für den Südosten.“62 tik“, als die schwerste Niederlage nach de „eine neue Konstellation an der Do- Am 26. August 1930 stellte das Auswär- Versailles und dem „Ruhreinbruch“ be- nau geschaffen, die ihrerseits wieder tige Amt in einer Ausarbeitung für den wertet wurde.67 Das Debakel veranlass- zu neuen Konstellationen in der gesam- Reichskanzler Heinrich Brüning fest, te Reichsregierung, Wirtschaftsführer, ten internationalen Politik Anlass geben Deutschland müsse seine aktivere Au- hohe Beamte und Verbandsfunktionäre können“73. Als sich die austrofaschisti- ßenpolitik nach Südosteuropa lenken. zur Erarbeitung einer neuen komplexen sche Regierung unter Engelbert Dollfuß Dort seien die Dinge in der Entwicklung. Durchdringungsstrategie, die auf länge- mit italienischer Rückendeckung wei- „Dort müsste die deutsche Politik den re Sicht angelegt war und vorsichtiger, gerte, den österreichischen Nazis die Hebel ansetzen, weil dort die Zukunfts- unter besserer Berücksichtigung der ei- Macht zu übergeben und die NSDAP in möglichkeiten Deutschlands liegen.“ genen Möglichkeiten und des internati- Österreich verbot, griff die deutsche Re- Deshalb sollte der Anschluss jetzt erfol- onalen Kräfteverhältnisses, zu realisie- gierung zu diplomatischem Druck, Wirt- gen. „Der Zusammenschluss mit Öster- ren wäre. Vor allem gegen Österreich, schaftssanktionen und maßlosen Pro- reich“ so das Auswärtige Amt, sei „die das nun stärker als zuvor in den fran- pagandaaktionen. Die österreichischen vordringlichste Aufgabe der deutschen zösischen und italienischen Einflussbe- Nazis gingen zur offen terroristischer Politik“. Von „einem zu Deutschland ge- reich geriet, sollte auf längere Sicht vor Tätigkeit über, die Reichswehr lieferte hörenden Österreich“ könnten die „Ent- allem das „Umfeld“ für einen neuen Vor- die Sprengmittel.74 Höhepunkt des un- wicklung in Südosteuropa“ ganz anders stoß verändert werden.68 erklärten Krieges gegen Österreich war als bisher „beeinflusst und gelenkt wer- Der Anspruch auf den Anschluss wur- ein Nazi-Putsch im Juli 1934, bei dem den“. Das Auswärtige Amt forderte, „als de nicht aufgegeben. Paul Reusch, ei- Bundeskanzler Dollfuß ermordet wurde. erstes“ den Anschluss Österreichs zu ner der mächtigsten und politisch ein- Italien stellte sich demonstrativ an die vollziehen. Diese Aufgabe sei „dring- flussreichsten deutschen Industriellen Seite Österreichs. Nazi- Deutschland licher“ und „wichtiger“ als andere au- (Gutehoffnungshütte, MAN u. a.), hatte musste sich von den Putschisten distan- ßenpolitische Fragen, unterstrich das im Juni 1932 die ihm gehörenden Zei- zieren und erlitt die bis dahin „schwers- Amt.63 tungen, darunter die „Münchner Neuste te außenpolitische Niederlage“.75 Das Im März 1931 präsentierten Deutsch- Nachrichten“ (MNN) angewiesen, stets Desaster veranlasste die deutsche Füh- land und Österreich das Projekt einer „das Recht auf den Zusammenschluss rung, sofort die Strategie gegen Öster- weitreichenden deutsch-österreichi- mit Österreich klar zu verfechten.“ Die reich zu verändern. Über eine „Normali-

11 Die Annexion Österreichs am 12. März 1938 führte bei vielen Sudeten- deutschen zu der Annahme, die Nazi-Wehrmacht werde sie innerhalb kürzester Frist „befreien“. Aus dem Telegramm des deutschen Gesandten im Familienkreise geäußert, die Republik werde in diesem in Prag, Ernst Eisenlohr, an das Auswärtige Amt Jahr sicherlich keine Jubiläumsfeiern mehr begehen!“ v. 4. April 1938: Ebenda, D 585 085f. „Aus Eger-Land und Gegend Böhmisch-Budweis zurückge- kehrte zuverlässige Vertrauensleute berichten über Fest- Aus dem Bericht eines Kreisleiters der Sudetendeut- stellungen und Eindrücke folgendes: schen Partei (SdP) in Südmähren v. 6. April 1938: 1.) Stimmung Sudetendeutsche Bevölkerung im Egerland „Gleich in den ersten Tagen nach der nationalen Erhebung äußerlich zwar abwartend, jedoch noch immer stark erregt in Österreich wurde festgestellt, dass zahlreiche Rekruten, und jederzeit leicht entflammbar. In letzter Zeit mehrfach welche in den vorhergehenden Tagen assentiert wurden, Verprügelungen und Bespeiungen tschechischer Polizei- die erstbeste Gelegenheit benützten, und über die Grenze beamter. (…) Eingeleitete Besprechungen zwischen Sude- ins nahe Reichsgebiet flüchteten. Sie wurden dort einge- tendeutscher Partei und Regierung werden von Bevölke- kleidet und machten als SA-Leute zusammen mit den Fi- rung, die weiterhin an Möglichkeit deutschen Einmarsches nanzwachorganen (Zollbeamten-d. Redaktion) Dienst an glaubt, kritisch aufgenommen. Bevölkerung erwartet von der Grenze. Bis zum heutigen Tage dürften ca. 200–300 Parteileitung Anweisung zu Terror-Handlungen. (…) Leute, zum überwiegenden Teile SdP-Mitglieder aus den 4.) Parteileitung Sudetendeutsche Partei klagt weiterhin Bezirken Znaim, Frain und Joslowitz übergegangen sein. über illegale Einwirkung reichsdeutscher Parteistellen an Vorgestern, am 4. April, sind wieder 10 Rekruten aus Joslo- Grenze (südlich Böhmerwald, Egerland) auf sudetendeut- witz abgängig.“ sche Gruppen, denen Waffenlieferungen versprochen wer- Ebenda, D 585081 den. Auch von Österreich her anhält aufreizende Propagan- da. (…)“ Aus dem Brief des Oberförsters Max F. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 103658, aus Oberplan an Adolf Hitler vom 20.3.1938: D 494399f. „Mit fassungslosen Staunen verfolgte die ganze Welt Ih- ren Triumphzug durch Österreich und wir Sudetendeut- Aus dem Bericht des Deutschen Konsuls in Brünn, sche begleiteten Sie zu Hunderttausenden während dieser Graf v. Bethusy-Hoc, an die Gesandtschaft in Prag Fahrt beim Radio mit angehaltenem Atem und jubelten und v. 6. April 1938: schluchzten und weinten aus reiner Freude. (…) „Die Wiedervereinigung Deutsch-Österreichs mit dem Unsere Not ist groß, mein Führer, verlassen Sie uns nicht. Reich hat auf das hiesige Deutschtum eine außerordent- Mit brennenden Augen schauen wir auf die nahe deutsche lich starke Wirkung ausgeübt. Wie ich von verschiedenen Grenze, und mit starkem Herzen bleiben wir hier und war- Seiten erfahre, ist die Stimmung in den deutschen Gebie- ten; wir warten, weil wir Sudetendeutsche wissen, dass ten des Altvatergebirges, insbesondere in den Bezirken Sie, mein Führer, Unser nicht vergessen werden. Mährisch-Schönberg und Römerstadt, äußerst gehoben Sie kamen, vom Allmächtigen gesandt, als Erlöser des und zuversichtlich. deutschen Volkes aus tiefster Schmach und Schande und Innerhalb der Bevölkerung wird ganz offen die Frage erör- als Führer in eine lichte und starke und herrliche Zukunft. tert, wann die Besetzung des Landes ‚durch Hitler‘ erfol- Er lenkt Ihre Schritte und segnet sichtlich Ihr Werk. (…) gen werde. Überall werden Hakenkreuzfahnen angefertigt, Mit Deutschem Gruß – Sieg Heil!“ die zwar nicht gehisst, aber in den Wohnungen nicht im- Ebenda, unfol. mer unbedingt verborgen gehalten werden. Aus Mährisch- Trübau im Schönhengstgau ist mir berichtet worden, dass Aus dem Bericht des deutschen Konsuls in Brünn, trotz des gegen früher erheblich verstärkten Polizeiaufge- Graf v. Bethusy-Hoc, an die Gesandtschaft in Prag bots Hakenkreuzfahnen bald hier, bald da auf den zahlrei- v. 5. Mai 1938: chen hölzernen Triangulationsständern in der Landschaft „Seitens der leitenden Stellen der Sudetendeutschen Par- gesetzt worden sind. tei in Prag und Brünn war den unteren Organen der Par- Über die Stimmung in den deutschen Gebieten unmittelbar tei in Troppau die strenge Weisung ereilt worden, … jeden an der Grenze Preußisch-Schlesiens, z. B. in den Bezirken Frei- Aufmarsch und Umzug anlässlich der Maifeiern zu unter- waldau und Jägerndorf, habe ich Näheres nicht gehört. An- lassen. Die Parteiangehörigen im Grenzgebiet, die starke scheinend ist die Bevölkerung dort etwas zurückhaltender. Beziehungen über die Grenze unterhalten und von dort er- Die Stimmung lässt sich jedoch daraus erkennen, dass der muntert und zum Widerstand aufgefordert werden, haben deutsche Gruß durch Erheben der rechten Hand allgemein sich aber über die erteilte Weisung hinweggesetzt. ‚Was re- angewandt wird. Der Druck, den dort die Polizei auf die Be- den die in Prag und Brünn; wir müssen Hitler einen Anlass völkerung ausübt, ist jedoch offenbar noch zu stark, um geben, einzurücken.‘ Dies ist so etwa die Stimmung, die in weitergehende Kundgebungen aufkommen zu lassen. Troppau wie im ganzen Grenzgebiet herrscht. (…) In Südmähren hat, wie dort schon bekannt ist, das natio- Auch aus Südmähren höre ich immer wieder, dass dort die nale Bewusstsein einen außerordentlich starken Auftrieb deutsche Bevölkerung kaum mehr zu halten ist. Die feste erhalten. Hakenkreuzfahnen sollen in der Znaimer Gegend Überzeugung, dass Hitler in kürzester Zeit einrückt, dass in öffentlichen Lokalen sogar auf Häusern zu sehen gewe- die Grenzen unbedingt revidiert werden würden, und dass sen sein. In einem Dorf nahe Nikolsburg fand sich folgen- die deutsche Bevölkerung baldigst zum Reich kommt, lässt des Plakat: ‚Masaryk, Du hast das Land gestohlen, gib es sich auch durch Vernunftsgründe in weiten Kreisen nicht wieder her, sonst wird es der Hitler holen, mit der braunen verdrängen. (…) Personen, die zur Vorsicht und Ruhe mah- Wehr!‘ Umgekehrt herrscht in den tschechischen Kreisen nen, werden womöglich als Volksverräter angesehen.“ offenbar starke Depression und Niedergeschlagenheit. Ein Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 103659, mir bekannter, stark national eingestellter Tscheche, hat E 033367f.

12 sierung“ des Verhältnisses, die auch ein den und Schuschnigg verpflichtete sich, nach der Wiedervereinigung zum Bür- weiteres Abgleiten Österreichs in den Gewährsleute der Nazi-Partei in die Re- germeister von Wien (1938 bis 1940).84 Bereich Frankreichs und Italiens ver- gierung aufzunehmen.79 Damit waren Ende 1940 avancierte Neubacher zum hindern sollte, wollte man zu einer auf wesentliche Voraussetzungen geschaf- „Sonderbevollmächtigten des Auswärti- lange Sicht angelegten Durchdringung fen worden, auf „evolutionärem“, lega- gen Amtes für den Südosten“. übergehen und unbedingt die Ausprä- lem Weg die Nazis in Österreich an die Für die deutschen Banken und Indus- gung des österreichischen Staatsge- Macht zu bringen. triekonzerne sowie für den Reichshaus- fühls behindern. Das Ziel bestand darin, Das Juli-Abkommen zeitigte für die halt erwies sich die Wiedervereinigung ohne sichtbare äußere Einmischung, deutschen Nazis derart günstige Ergeb- als äußerst lukrativ.85 Zum sofortigen den Nazis in Österreich schrittweise zu nisse, dass am 12. Februar 1938 wäh- wirtschaftlichen Zugewinn gehörten mehr Einfluss und letztlich zur Staats- rend der Besprechung zwischen Hitler Gold und Devisen im Wert von 1,323 macht zu verhelfen. und Schuschnigg in Berchtesgaden die Milliarden Reichsmark (der deutsche Diese Taktik beschrieb der „Stellvertre- deutsche Seite die entscheidenden Devisenbestand belief sich auf gera- ter des Führers“ Rudolf Heß wenige Wo- Schritte auf dem Weg zum Anschluss de einmal 76 Millionen Reichsmark).86 chen nach dem Putsch in Wien in einem gehen konnte.80 Allerdings hatte sich In Deutschland als Mangelware gelten- Brief. Unter Bezugnahme auf die Legali- auch die Situation um Österreich gegen- de Produkte wie Eisen, andere Metalle, tätsstrategie, die die Naziführung nach über 1934 entscheidend verändert. Na- Holz und Mineralöl sowie Arbeitskräf- dem gescheiterten Putsch gegen die zi- Deutschland konnte inzwischen ein te kamen der angespannten deutschen Weimarer Republik im November 1923 erhebliches Bedrohungspotential auf- Rüstungswirtschaft zugute. In großem einschlug, schrieb Heß: „Der Führer bieten.81 Italien, das noch 1934 mit ei- Umfang setzte der Übergang von öster- hat … nach dem November 1923 Ent- nem Truppenaufmarsch Österreichs Un- reichischen Betrieben und Immobilien schlüsse gefasst, die einen völlig neuen abhängigkeit (und die Brennergrenze) in „deutsche Hände“ ein.87 Die Übertra- und absolut legalen Kurs der NSDAP in sicherte, war zum abhängigen Verbün- gung des österreichischen Außenhan- Deutschland bedeuteten, Entschlüsse, deten des Nazi-Reiches geworden und dels führte unter anderem dazu, dass die … sich später als recht und zum Er- machte entsprechende Zugeständnis- der deutsche Anteil am Außenhandel folg führend erwiesen. Seien Sie versi- se an die deutsche Österreich-Politik. vor allem der Länder in der deutschen chert, dass auch die neuen Entschlüsse Am 6. Januar 1936 äußerte Mussolini Hauptexpansionsrichtung Südosteuro- des Führers hinsichtlich des Nationalso- gegenüber dem deutschen Botschafter pa sich der 40-Prozent-Marke näherte zialismus in Österreich trotz allem einst, in Rom, er hätte keine Einwände, wenn und diese Länder wirtschaftlich in kaum und zwar auf völlig legalem Wege, er- Österreich ein deutscher Satellit wer- wieder lösbare Abhängigkeiten von Na- möglichen werden, dass Ihr und unser de.82 Auch die Kleine Entente, jenes von zi-Deutschland gerieten. aller Wünsche hinsichtlich Österreichs Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg Von besonderem Gewicht war die Über- sich erfüllen.“76 errichtete Bündnis gegen den deut- nahme österreichischer Anteile am Ka- Zur Durchsetzung der neuen Politik schen Drang nach Südost, zerfiel. Der pitalexport in jene Länder. Damit konn- wurde der ehemalige deutsche Vize- Eckpfeiler dieses Bündnisses im Südos- te die Schwachstelle der deutschen kanzler Franz von Papen, als Sonderbot- ten, Jugoslawien, war offen auf die Seite Südostexpansion abgemildert wer- schafter nach Wien geschickt. Das Ziel Nazi-Deutschlands getreten. Nach dem den.88 Vor allem aber gelang mit der blieb trotz „Normalisierungsstrategie“ Putsch in Wien fanden österreichische Wiedervereinigung die Einnahme jener unverändert, wie der deutsche Militär- Nazis zu Tausenden in Jugoslawien Un- exponierten geostrategischen Stellung, attaché in Wien, Wolfgang Muff, am 30. terschlupf, konnten sich in militärischen die Österreich seit dem Ende des 19. August 1934 in einem Brief nach Berlin Einheiten formieren und eine militäri- Jahrhunderts für den deutschen Imperi- betonte. Wegen der geostrategischen sche Ausbildung absolvieren.83 alismus so attraktiv gemacht hatte. Der Lage könne auf einen Anschluss nicht Weg nach Südosteuropa und Italien lag verzichtet werden. „Die Bedeutung Ös- Expansionsziel am 12. März 1938 fest in deutscher Hand. Die Annexion terreichs in gesamtdeutschem Sinn“, erreicht Österreichs hatte der deutschen Süd- schrieb Muff, „ist einmal defensiver Art: Mit der „Wiedervereinigung“ im März ostexpansion eine völlig neue Dimensi- dem geschlossenen Reichsgebiet vor- 1938 konnte das seit fast 50 Jahren von on gegeben. Göring forderte am 5. April gelagert, versperrt es als Südostmark deutschen Macht- und Einflusseliten zäh 1938 vor dem Generalrat des Vierjah- italienischem Vorrücken über die Alpen- verfolgte Expansionsziel erreicht wer- resplanes: „Vom Lande Österreich aus grenze den Weg und zwingt als Gegen- den. Die Alpenrepublik wurde Deutsch- muss die wirtschaftliche Erfassung des bastion von Schlesien die Tschechei in land einverleibt, dem Land in kurzer Zeit Südostraumes … ausgehen.“89 Am 6. den deutschen Wirkungsbereich. Of- das deutsche (Un-)Rechtssystem über- April 1938 eröffnete Eduard Mosler, Vor- fensiv aber bedeutet Österreich das gestülpt, die öffentliche Verwaltung, die standsmitglied der Deutschen Bank, die Sprungbrett nach dem Südostraum Eu- Wirtschaft sowie Wissenschaft und Kul- Hauptversammlung der größten deut- ropas.“77 Am 11. Juli 1936 gelang von tur rigoros von Anschlussgegnern und schen Privatbank mit der Bemerkung, Papen der Abschluss eines Abkommens Juden „gesäubert“, die Schaltstellen in der 12. März habe „eine neue Epoche mit der österreichischen Regierung, das Wirtschaft, Politik und in den Medien unserer nationalen Geschichte eingelei- die Beziehungen normalisieren sollte. weitgehend von Reichsdeutschen bzw. tet“. Die „Wiedervereinigung“ habe „die Die deutsche Seite erkannte heuchle- von langjährigen Vertrauenspersonen europäische Landkarte von einem Tag risch „die volle Souveränität des Bun- der deutschen Nazis in Österreich be- auf den anderen“ total verändert und desstaates Österreich“ an.78 Österreich setzt. So ernannte Göring den seit vie- den „diesen Raum bewegenden zwi- machte im Gegenzug erhebliche Zu- len Jahren in der Anschlussbewegung schenstaatlichen Problemen ein neues geständnisse. So wurden Putschisten tätigen österreichischen Nazi Hermann Gesicht“ gegeben.90 Tilo von Wilmows- und ihre Anhänger amnestiert, die Na- Neubacher, der zugleich Vertrauens- ky, Präsident des Mitteleuropäischen zis konnten wieder politisch tätig wer- mann der IG Farbenindustrie AG war, Wirtschaftstages, mit besten Verbin-

13 dungen zu den Großagrariern und zum jetzt den Aufmarsch und die Entwick- Um die Wiedervereinigung als legalen Hause Krupp, bewertete den Anschluss lung vollzogen für die Lösung weiterer Akt darzustellen, fand am 10. April 1938 als Chance, „das Tor nach Südosteuro- Aufgaben“ führte er weiter aus. Der An- eine Volksabstimmung statt. „Wir sind pa … weit zu öffnen“.91 schluss bedeute „die breite Öffnung des ein Volk“, hieß es auf den Plakaten. „Vor Neue Möglichkeiten eröffneten sich Tores nach Südosten, und wenn wir für aller Welt“ werde mit der Abstimmung auch für weitere Aggressionen. Die unser deutsches Volk die Einflussmög- belegt, dass die Wiedervereinigung „des Tschechoslowakei, die man auf der lichkeit nach dem Osten suchen, so ist deutschen Volkes Wunsch und Wille“ sei. „Hoßbach-Besprechung“ am 5. Novem- das Tor jetzt geöffnet.“ Von der errunge- Im Besitz aller staatlichen und medialen ber 1937 als nächstes Opfer ausgewählt nen Machtposition aus seien „die gan- Macht, unterstützt von Wirtschaft und hatte, war von drei Seiten eingeschlos- zen Ostfragen aufzurollen.“ Man könne Kirche, seit 5 Jahren in solcherart Be- sen und allein von der Geographie her den Völkern im Donauraum jetzt sagen: kundung des Volkswillen geübt, insze- gegen einen deutschen Angriff militä- „ihr wisst, dass wir so stark sind, dass nierten die Nazis die Abstimmung. Etwa risch nicht mehr zu verteidigen. Die jeder der gegen uns geht, vernichtet 360.000 Österreicher, mehr als 8 Pro- Wehrmacht stand, gestärkt durch das wird“.93 zent der Wahlberechtigten, wurden aus österreichische Rüstungs- und Wehrpo- Um die Wiedervereinigung zu sichern, rassischen oder politischen Gründen tential, an den Grenzen Italiens, Jugos- installierten die Deutschen einen gewal- von der Wahl ausgeschlossen. Tausen- lawiens und Ungarns. Im August 1938 tigen Repressionsapparat. Die Erfah- de saßen in Haft. Das Wahlgeheimnis entwickelte das Reichsamt für wehr- rung von fünf Jahren faschistischen Ter- war nirgends gewahrt. Wer nicht offen wirtschaftliche Planung eine Studie rors in Deutschland kam in Österreich abstimmte, geriet in den Verdacht, mit über einen Militärschlag gegen Jugos- sofort zur Geltung. Viele Österreicher „Nein“ zu stimmen zu wollen. Der Gang lawien, um das Land im Falle kriegeri- waren zur Kollaboration mit den Deut- in die Wahlkabine wurde als lebensbe- scher Verwicklungen zu zwingen, seine schen bereit und unterstützten auch de- drohend empfunden und daher meist Gesamtproduktion an rüstungssensib- ren Terrorismus. Beginnend noch am unterlassen. Selbst bei der Gestaltung len Rohstoffen und ausgewählten Nah- 12. März 1938 wurden in kurzer Zeit et- der Stimmzettel waren in manipulati- rungsmitteln dem Nazi-Reich zur Verfü- wa 70.000 Österreicher als potentielle ver Absicht psychologische Tricks ver- gung zu stellen.92 oder tatsächliche Feinde der Annexion wendet worden: Der „Ja“-Kreis war dop- Am 23. Januar 1939 ging der Reichs- bzw. als rassisch Unerwünschte festge- pelt so groß wie der „Nein“-Kreis. Als statthalter für Österreich, Seyß-Inquart, nommen. Darunter waren ca. 10.000 Ergebnis wurde bekannt gegeben: Über in einer Rede vor Offizieren der Wehr- „Prominente“ – Künstler, Gelehrte so- 99 Prozent der „deutschen Männer und macht auf die neuen Perspektiven ein. wie hohe Beamte und Spitzenpolitiker Frauen“ in Österreich und in Deutsch- Die Schaffung Großdeutschlands habe des Schuschnigg-Regimes.94 Begleitet land hätten mit Ja gestimmt.96 „eine gewaltige Stärkung des Potenti- wurde der Massenterror von einer gera- als des Reiches“ gebracht. „Wir haben dezu hysterischen Propaganda.95 Dr. Martin Seckendorf

14 1 Vgl. Befehl Himmlers vom 12. März 1938, in: Bun- 33 Eine Anschlussmethode, die der deutsche Diplo- gewicht-Revision-Restauration, hrg. von Karl Bosl, desarchiv Berlin (im folg. BAB), Film 14464. mat Walter Koch bereits am 29. Dezember 1927 München – Wien 1973, S. 244. 2 Europa unterm Hakenkreuz, Bd. 1: Die faschistische in einem Strategiepapier vorgeschlagen hatte. (Po- 66 Deutsche Botschaft Paris/Hoesch v. 23.3.1931 an Okkupationspolitik in Österreich und der Tschecho- litisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, AA AA, in: BAB, Film 16194. slowakei (1938–1945). Dokumentenauswahl und 43000, Bl. 114-im folg. PAAA). 67 So u. a. „Deutsche Führerbriefe“, Berlin Nr. 69 v. Einleitung von Helma Kaden, Berlin 1988, S. 35 (im 34 So Hitler am 26.2.1938 in einer Ansprache vor ös- 4.9.1931 und Nr. 70 v. 8.9.1931. Folgenden: Europa unterm Hakenkreuz, Bd. 1) terreichischen Nazi-Funktionären, abgedruckt in: 68 Zum konzeptionellen Neuansatz vgl. Martin Se- 3 Vgl. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher ADAP, Serie D, Bd. I, Nr. 328, S. 450. ckendorf, Entwicklungshilfeorganisation oder Ge- vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürn- 35 ADAP, Serie D, Bd. I, Nr. 313, S. 439–441. neralstab des deutschen Kapitals? Bedeutung und berg 14. November 1945–1. Oktober 1946. Amtli- 36 ADAP, Serie D, Bd. I, Nr. 328, S. 450 (Protokoll ei- Grenzen des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages, cher Wortlaut in deutscher Sprache, Bd. II, S. 463 ner Ansprache Hitlers an österreichische Nazi- in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. (im folg. IMT). Funktionäre). und 21. Jahrhunderts, H. 3, VIII. Jg., 1993, S. 19ff. 4 Reichsgesetzblatt 1938 Teil I, Nr. 21, S. 237. 37 Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Au- 69 Kurt Koszyk, Paul Reusch und die „Münchner Neu- 5 Vgl. Europa unterm Hakenkreuz, Bd. 1, Dok. 6, ßenpolitik 1933–1938, Frankfurt am Main-Berlin esten Nachrichten“. Zum Problem Industrie und S. 81f. 1968, S. 834 u. 840. (Aktennotiz vom 22.2.1938 Presse in der Endphase der Weimarer Republik, 6 Zum Inhalt und zur Interpretation dieser Bespre- in: ADAP, Serie D, Bd. I, Nr. 318, S. 443f.). in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, H. 1/1972, chung vgl. neuerdings Martin Seckendorf, Angriffs- 38 Der Wortlaut dieser Telefonate, die u. a. die Anwei- S. 76 u. 91. krieg beschlossen, in: „junge Welt“, Berlin vom sungen Görings an Seyß-Inquart zur „Machtüber- 70 Ausführlich Martin Seckendorf, Südosteuropa: 3. November 2007, S. 10f. nahme“ in Österreichs enthalten, war Gegenstand Zielgebiet deutscher Expansion, in: Kurt Pätzold u. 7 Die Niederschrift über die Besprechung am 5. No- des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses Erika Schwarz, Hg., Europa vor dem Abgrund. Das vember 1937 lag dem IMT als Dokument 386-PS (Dokument 2949-PS, längere Auszüge auch in der Jahr 1935, Köln 2005, S. 136ff. vor. Hauptverhandlung, IMT, Bd. II, S. 457ff.). 71 Dieter Ross, Hitler und Dollfuß. Die deutsche Öster- 8 So der deutsche Botschafter in Paris gegenüber 39 Dietrich Eichholtz, Rüstungskonjunktur und Rüs- reich-Politik 1933–1934, Hamburg 1966, S. 24ff. dem Französischen Außenminister am 11. März tungskrise. Bemerkungen zu materiellen und fi- 72 Deutsche Führerbriefe, Berlin Nr. 38 v. 16. Mai 1938, in: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik, nanziellen Problemen der wirtschaftlichen Kriegs- 1933. 1918 bis 1945, Aus dem Archiv des Auswärtigen vorbereitung, in: Der Krieg vor dem Krieg, S. 117. 73 Ebenda, Nr. 59 v. 1. August 1933. Amts, Baden-Baden, 1950. Serie D, Bd. I, Nr. 346, 40 BAB, Film Nr. 14754. 74 Brief des AA vom 25. Juli 1934 an das Reichsinnen- S. 466 (im folg. ADAP). 41 Aktennotiz über einen Empfang bei Hitler, in: ADAP, ministerium, in: BAB, Film 17508. 9 Vgl. Ernst Gottschling, „Heim ins Reich!“ oder die Serie D, Bd. I, Nr. 318, S. 444. 75 Norbert Schausberger, Der Griff nach Österreich. Annexion Österreichs, in: Dietrich Eichholtz und 42 ADAP, Serie D, Bd. I, Nr. 338, S. 460 (Meldung des Der Anschluss, Wien-München 1978, S. 13–212, Kurt Pätzold, Hrsg., Der Weg in den Krieg, Ber- deutschen Militärattachés in Wien vom 7. März 1938). S. 301. lin 1989, S. 183 (im Folgenden: Der Weg in den 43 Der Wortlaut des „Hilfeersuchens“ von Seyß-Inquart 76 Brief vom 21. August 1934 an Alfred Eduard Frau- Krieg). an Hitler in: ADAP, Serie D, Bd. I, Nr. 358, S. 474. enfeld, zit. n. Karl Stuhlpfarrer u. Leopold Steurer, 10 Überblicksartig: Gabriele Holzer, Verfreundete 44 Zur internationalen Reaktion vgl. Gerhart Hass, Die Ossa in Österreich, in: Vom Justizpalast zum Nachbarn. Österreich-Deutschland Ein Verhältnis, Krieg in Ost oder West? Zur Entscheidung über die Heldenplatz. Studien und Dokumentationen 1927 Wien 1995. Reihenfolge der faschistischen Aggressionen, in: bis 1938, Wien 1975, S. 57. 11 IMT, Bd. I, S. 213ff. Der Weg in den Krieg, S. 171. 77 Zit. n. ebenda, S. 35. 12 IMT, Bd. I, S. 216. 45 Die Vorgänge um dieses Gesetz sind im Urteil des 78 Deutsch-österreichisches Kommuniqué vom 1. Juli 13 Ebenda, Bd. II, S. 454, Dok. C-102. IMT dargelegt. Vgl. IMT, Bd. I, S. 213 ff. 1936, in: ADAP, Serie D, Bd. I, Nr. 153, S. 234. 14 Das Hoßbach-Protokoll ist auch abgedruckt in: AD- 46 Zum Wechsel der staatsrechtlichen Form des „An- 79 Vertraulicher Teil des Abkommens vom 11. Ju- AP, Serie D, Bd. I, Nr. 19, S. 25–32. schlusses“ am 12.3.1938 s. a. Europa unterm Ha- li 1936 („Gentlemen-Agreement“), in: Ebenda, 15 IMT, Bd. I, S. 216. kenkreuz, Bd. 1, S. 21. Nr. 152, S. 231ff. 16 Adolf Hitler, Mein Kampf, 133. Auflage, München 47 Ernst Gottschling, „Heim ins Reich!“ oder die Anne- 80 Protokoll über die Besprechung vom 12. Februar 1935, S. 1. xion Österreichs, in: Der Weg in den Krieg, S. 192. 1938, in: Ebenda, Nr. 295, S. 423f. 17 IMT, Bd. II, S. 296–308. 48 BAB Film 16189 (Aufzeichnung vom 20. Juni 1930). 81 Zum Rüstungsstand vgl. Manfred Messerschmidt, 18 Vgl. Martin Seckendorf, Südosteuropa: Zielge- 49 Willibald Gutsche, Mitteleuropaplanungen in der Wege in den Zweiten Weltkrieg, in: Der Krieg vor biet deutscher Expansion, in: Kurt Pätzold/Eri- Außenpolitik des deutschen Imperialismus vor dem Krieg, S. 141ff. ka Schwarz, Hg., Europa vor dem Abgrund. Das 1918, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 82 Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Au- Jahr 1935-Eine nicht genutzte Chance, Köln 2005, Heft 5/XX. Jahrgang (1972), S. 538f. ßenpolitik 1933–1938, Frankfurt a. Main-Berlin S. 129ff. 50 Zit. nach ebenda, S. 541. 1968, S. 811. 19 IMT, Bd. II, S. 296–308. 51 Weltherrschaft im Visier, Dok. 26, S. 88. 83 Ludwig Jedlicka, Der außenpolitische Hintergrund 20 Karl Helfferich, Georg von Siemens. Ein Lebensbild 52 BAB, RK Nr. 403, Zitate auf Bl. 2R und Bl. 5. der Ereignisse vom Frühsommer 1934 bis Oktober aus Deutschlands großer Zeit, Bd. 3, Berlin 1923, 53 Ebenda, Bl. 6. 1934, in: Ludwig Jedlicka u. Rudolf Neck, Hrsg., S. 16. 54 Robert Hoeniger, Das Deutschtum im Ausland, Das Jahr 1934: 25. Juli, München 1975, S. 120. 21 BAB, Film 5711. Leipzig-Berlin 1913, S. 115. 84 Erklärung von Max Ilgner im Nürnberger IG-Farben- 22 „Deutschlands Südosthandel. Methode und 55 Jahresbericht des VDA für 1909, Berlin o. J. S. 12. Prozeß 1947, in: Anatomie des Krieges. Neue Do- Ziel unverändert“, in: Berliner Börsenzeitung v. 56 Zit. nach Roswitha Berndt, Die Wirtschaftlichen kumente über die Rolle des deutschen Monopolka- 13.11.1940. Beziehungen des deutschen Imperialismus zu Ös- pitals bei der Vorbereitung und Durchführung des 23 Hans-Jürgen Schröder, Südosteuropa als „Informal terreich in der Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929– Zweiten Weltkrieges, hrg. und eingel. von Dietrich Empire“ Deutschlands 1933–1939. Das Beispiel 1931, phil. Diss. Halle/S. 1965, S. 25. Eichholtz und Wolfgang Schumann, Berlin 1969, Jugoslawien, in: Jahrbücher für Geschichte Osteur- 57 Zit. nach Martin Seckendorf, Südosteuropakonzep- Dok. 61, S. 168f. opa 23, 1975, S. 61. tionen des deutschen Imperialismus in der Zeit von 85 Martin Moll, Der Griff nach Österreich im März 24 BAB, Film 16189, S. 5 und 24 der Denkschrift. 1918–1933/34 unter besonderer Berücksichtigung 1938-erster Schritt in den Krieg?, in: Der Krieg vor 25 Ebenda, S. 5 der Denkschrift. der nach dem Scheitern der deutsch-österreichi- dem Krieg, S. 182ff. 26 Hans-Ulrich Thamer, Nationalsozialistische Außen- schen Zollunion von 1931 entwickelten Konzeption, 86 Manfred Jochum: Die Erste Republik in Dokumen- politik: der Weg in den Krieg, in: Informationen zur Diss. A Humboldt-Universität Berlin 1980, S. 42. ten und Bildern, Wien 1983. S. 247. politischen Bildung Nr. 266, Bonn 2002, S. 40 so- 58 Zit. nach Dokumente zur deutschen Geschich- 87 Ausführlich dazu: Europa unterm Hakenkreuz, Bd. wie Martin Moll, Der Griff nach Österreich im März te 1919–1923, hg. v. Wolfgang Ruge, Berlin 1975, 1, S. 24ff. 1938-erster Schritt in den Krieg? Offene Fragen zu S. 85. 88 Wolfgang Schumann u. Martin Seckendorf, Rich- einem scheinbar eindeutigen Sachverhalt, in: Wer- 59 Weltherrschaft im Visier, a. a. O., Dok. 70, S. 185. tung Südost. Politik und Wirtschaft in Vorbereitung ner Röhr, Brigitte Berlekamp u. Karl Heinz Roth, 60 PAAA, AA 43000, Bl. 114ff. der ersten deutschen Aggressionen: Österreich/ Hrg., Der Krieg vor dem Krieg. Politik und Ökono- 61 Als auszugsweise Abschrift in PAAA, AA 42995, Tschechoslowakei 1938–1939 (eine Fallstudie), mie der „friedlichen“ Aggressionen Deutschlands Bl. 16f. Berlin 1990, S. 271f. 1938/39, Hamburg 2001, S. 159, 166 und 178 (im 62 BAB, Film 16192. 89 Europa unterm Hakenkreuz, Bd. 1, Dok. 11, S. 86. Folgenden: Der Krieg vor dem Krieg). 63 Wolfgang Ruge u. Wolfgang Schumann, Die Reakti- 90 BAB, Deutsche Bank, 21069, Bl. 377. 27 ADAP, Serie D, Bd. I, Nr. 368 und 369, S. 480. on des deutschen Imperialismus auf Briands Pan- 91 Rede auf der Versammlung des MWT am 22. No- 28 IMT, Bd. X, S. 567. europaplan 1930, in: ZfG, Heft 1/XX. Jahrgang, vember 1938, in: BAB, Deutsche Bank, 21834, Bl. 29 IMT, Bd. II, S. 444. 1972, S. 70. 268. 30 Das Berchtesgadener Abkommen ist abgedruckt in: 64 Protokoll der Sitzung des Reichskabinetts v. 92 BAB, Film 10662. ADAP, Serie D, Bd. I, Nr. 295, S. 423f. („Protokoll 18.3.1931 in: BAB, Film 15633. Die offiziellen Doku- 93 Weltherrschaft im Visier, Dok. 99, S. 251f. über die Besprechungen vom 12. Februar 1938“). mente zur Zollunion sind abgedruckt in: Johannes 94 Aufzeichnung des Staatsekretärs Ernst von Weiz- 31 Dazu Karl Stuhlpfarrer/Leopold Steurer, Die Os- Hohlfeld (Hg), Deutsche Reichsgeschichte in Doku- säcker vom 5. Juli 1938, in: ADAP, Serie D, Bd. I, sa in Österreich, in: Vom Justizpalast zum Hel- menten in vier Bänden 1849–1934, Bd. III 1926– Nr. 405, S. 509f. denplatz. Studien und Dokumentationen 1927 bis 1931, Gröitzsch 1934, Dok. 93 (356), S. 314–319. 95 Europa unterm Hakenkreuz, Bd. 1, S. 33ff. 1938, Wien 1975, S. 35–64. 65 Zit. nach Peter Krüger, Das europäische Staaten- 96 Gabriele Holzer, Verfreundete Nachbarn. Öster- 32 Ernst Gottschling, „Heim ins Reich!“ oder die Anne- system und die deutsche Politik gegenüber der reich-Deutschland. Ein Verhältnis, Wien 1995, xion Österreichs, in: Der Weg in den Krieg, S. 189. Tschechoslowakei in den 30er Jahren, in: Gleich- S. 84.

15 16 17 „Volkstumspolitik“, faschistische Geheimdienste und die Politik der Sudetendeutschen Partei Zur Vorgeschichte der Zerstückelung der Tschecheslowakei 1938

„Fall Grün“ – so lautete die Bezeich- deren Vormarsch durch Sabotageaktio- Nachbarstaat destabilisieren sollten nung des Operationsplanes für die nen unterstützen sollten. Dabei konnte und die darauf abzielten, die deutsch- Zerschlagung der Tschechoslowakei die „Abwehr“, ebenso wie die Gestapo stämmiger Bevölkerung, für die sich seit durch die Nazi-Wehrmacht.1 Er beinhal- und der Sicherheitsdienst der SS (SD), 1919 der Begriff „Sudetendeutsche“ ein- tete unter anderem eine Vielzahl von auf ein bereits seit längerem existieren- zubürgern begann, als Instrumente der Maßnahmen, die öffentlichkeitswirk- des Netz von Agenten und Zuträgern auf die Revision der Pariser Vorortver- same Anlässe für den Einmarsch fa- zurückgreifen, die nicht erst seit 1933, träge bedachten deutschen Außenpoli- schistischer Truppen in das Nachbar- aber seitdem in wachsendem Umfang, tik zu missbrauchen. land liefern und zugleich die Lage in Informationen über militärische, politi- Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass der damaligen CSR am Vorabend die- sche und wirtschaftliche Entwicklungen es nach dem Aufstieg der NSDAP zu ei- ser geplanten Aggression destabilisie- in der CSR geliefert hatten. ner wähler- und mitgliederstarken Par- ren sollten. Mit der am 1. Oktober 1933 Bevor wir uns jedoch den „verdeckten tei seit dem Beginn der dreißiger Jahre, gegründeten Sudetendeutschen Par- Aktionen“ zuwenden, die im Vorfeld des vermehrt zu geheimen Kontakten zwi- tei (SdP)2 unter der Leitung von Kon- Einmarsches der Wehrmacht, der am 1. schen der Nazipartei und den innerhalb rad Henlein, die an der Jahreswende Oktober 1938 begann, organisiert wor- der CSR wirkenden sudetendeutschen 1937/38 über fast 550.000 Mitglieder den waren, ist es notwendig, an die Kon- Faschisten der Deutschen Nationalso- verfügte3, standen Hitler, seinen Partei- tinuität subversiver Aktionen gegen die zialistischen Arbeiterpartei (DNSAP) dienststellen, Generälen, Geheimdiens- Tschechoslowakei zu erinnern, die be- kam.6 Die Erfolge der Faschisten in der ten und Diplomaten eine Organisation reits in der Zeit der Weimarer Republik Weimarer Republik stimulierten die Tä- zur Verfügung, die in der Lage und wil- ein hohes Niveau erreicht hatten. tigkeit ihrer Gesinnungsgenossen in der lens war, den für den Sommer 1938 ge- Worin bestand die Ursache für diese Ak- CSR beträchtlich. planten Angriff, der als „Befreiung“ der tivitäten? Handelte es sich ausschließ- von den Tschechen „geknechteten“ Su- lich um quasi „normale“ geheimdienst- Militärspionage und detendeutschen erscheinen musste, liche Aktionen, um öffentlich nicht „Volkssport“-Übungen“ optimal vorzubereiten. zugängliche Informationen über die Po- Wir können an dieser Stelle aus einer Wohl selten in der neueren Geschich- litik und militärische Geheimnisse eines Fülle von einschlägigen Sachverhalten, te wurde systematisch eine derartige Nachbarlandes zu erhalten – oder lagen die unter anderem in den Geheimakten Fülle von geheimen Operationen unter- die Dinge hier etwas anders? des Auswärtigen Amtes und des Reichs- schiedlichster Art gegen ein friedliches Bei der Beantwortung dieser Frage ist ministeriums des Innern sowie in den Nachbarland organisiert. zu berücksichtigen, dass die Anschau- veröffentlichten „Akten zur Deutschen Von Deutschland aus flossen bereits ung, die Tschechoslowakei hätte im Auswärtigen Politik“ dokumentiert sind, seit den Jahren der Weimarer Republik besten Falle als ein von Deutschland nur einige wenige Beispiele anführen, kontinuierlich und auf versteckten We- wirtschaftlich wie politisch abhängiger die uns veranschaulichen, mit welchem gen bedeutende finanzielle Mittel in die Staat eine Existenzberechtigung, zum Aufwand der Kampf gegen die Tsche- CSR, um irredentistische Kräfte zu un- Allgemeingut des politischen Denkens choslowakei schon in der Zeit der Wei- terstützen. Seit der Machtübernahme bis weit in die „politische Mitte“ hinein marer Republik geführt worden ist. der NSDAP steigerte sich nicht nur der gehörte – und das bereits seit 1919! Als ein wirkungsvolles Instrument dien- Zufluss baren Geldes, auch Unmengen Die aus der Konkursmasse der öster- te dabei der „Hilfsverein für Deutsch- von in der Tschechoslowakei verbotener reichisch-ungarischen Monarchie ent- böhmen und Sudetenland“, der Nazi-Literatur wurden zur ideologischen standene Tschechoslowakei, in der nach Vorläufer des 1925 entstandenen „Su- Schulung der SdP-Kader ausgeführt. den Ergebnissen der Volkszählung von detendeutschen Heimatbundes“, von Häufig kam es zur Teilnahme an Nazi- 1921 neben 6,8 Millionen Tschechen, 2 dem noch weiter unten die Rede sein Veranstaltungen und –kundgebungen in Millionen Slowaken, 745.000 Ungarn, wird. Vor allem im Krisenjahr 1923, als grenznahen Orten durch Mitglieder der 462.000 Karpatho-Ukrainer und 76.000 nach der Ruhr-Besetzung durch alliierte Sudetendeutschen Partei. Listen über Polen mehr als 3,1 Millionen Deutsche Truppen eine bewaffnete Konfrontation Mitglieder der sozialdemokratischen lebten4, war für die deutsche Außen- mit Frankreich nicht ausgeschlossen bzw. kommunistischen Partei, aber politik, zugespitzt formuliert, eher ein werden konnte, organisierte der „Hilfs- auch anderer linker Organisationen, „Staat auf Zeit“, dessen Grenzen, eben- verein“ für die Reichswehr ein dichtes wurden nach Deutschland übermittelt. so wie diejenigen Polens, niemals völ- Netz von Informanten in der CSR, um Schließlich wurden geheime Waffenla- kerrechtlich verbindlich anerkannt wur- die militärische und politische Führung ger für den „Tag X“ angelegt. den – bekanntlich auch nicht in Locarno in Berlin rechtzeitig zu warnen, falls die Die deutsche „Abwehr“, die Spionage- 1925.5 Tschechoslowakei – ein enger Alliier- organisation der Wehrmacht unter der Ohne die Zäsur des 30. Januar 1933 ter Frankreichs – im Falle eines bewaff- Leitung des Admirals Wilhelm Canaris, relativieren zu wollen, erscheint es al- neten Konflikts an der Seite der Fran- schuf im Zusammenhang mit der Vor- so nötig, politische Aktivitäten in den zosen kämpfen würde.7 Nicht zuletzt bereitung des „Falles Grün“ Strukturen Blick zu nehmen, die bereits vor der Na- ging es um Informationen über die An- kleiner Terror-Einheiten, die im Vorfeld zi-Machtübernahme mit konspirativen wesenheit französischer Offiziere, die des Einmarsches deutscher Truppen Methoden den tschechoslowakischen als Ausbilder bzw. Berater in der Ar-

18 mee der CSR tätig waren. Koordiniert geflüchtet seien. Im gleichen Bericht ist zialistischen Arbeiterpartei gegründe- wurden diese Aktivitäten von den „Ab- von Beobachtungen des Verkehrs auf ten, paramilitärischen „Volkssport“-Or- wehr“-Stellen der Reichswehr-General- den Bahnstrecken der CSR (Truppen- ganisation, die viele Ähnlichkeiten mit kommandos in Breslau und Dresden.8 transporte) die Rede, außerdem wird der SA aufwies. Neben der Einfuhr ver- Ebenfalls an der Organisation von Spi- die Ausbreitung „bolschewistischer“ botenen Nazi-Schrifttums wurde ihnen onage-Tätigkeiten gegen die Tschecho- Stimmungen im Heer analysiert.12 Zu- die Abhaltung manöverähnlicher Gelän- slowakei waren Beamte der sächsischen gleich findet sich in den Akten auch ein despiele vorgeworfen.18 Insgesamt 267 Polizei bzw. des Landes-Innenministe- vom 23.8.1920 datierter, detaillierter Angehörige dieser Organisation waren riums beteiligt. Für den Juli 1923 wird Bericht über die Produktion in den Sko- schließlich wegen „Hochverrates“ an- in den Akten der Name eines „Regie- da-Werken.13 geklagt worden.19 Ungeachtet des kurz rungs-Kommissars“ Zimmermann ge- Als ein Zentrum irredentistischer und vor ihrer Verhaftung gegen sie verhäng- nannt, der im Hotel „Weißes Roß“ in auch bereits faschistischer Aktivitäten ten Verbotes, trafen sich viele Mitglie- Bautzen Besprechungen „mit mehre- vor 1933 ist die Studentenschaft an der der des „Volkssportes“, nicht zuletzt ren Herren aus der Tschechoslowakei“9 Deutschen Universität Prag anzusehen. Studenten, auch ferner zu „Geländeü- durchführte. Auch hier ging es um die Hier existierte der „National-Sozialis- bungen“ und Schulungsveranstaltun- Anwesenheit französischer Offiziere tische Deutsche Studentenbund“, auf gen. in der CSR, aber auch um das angeb- dessen Briefbögen unübersehbar das In einer vom 1. Oktober 1932 datier- liche Anwachsen des Panslawismus im Hakenkreuz prangte.14 Im März 1931 ten Aufzeichnung des Auswärtigen Am- Nachbarland. Dass der tschechoslowa- verfügte diese Nazi-Gruppierung bereits tes, die entsprechende Mitteilungen kische Präsident Thomas Masaryk und über etwa 180 Mitglieder, wie sie in ei- der Prager Gesandtschaft zum „Volks- sein Außenminister Edvard Benesch in nem Schreiben an Adolf Hitler mitzutei- sport“-Prozess zusammenfasste, wird der Krise des Jahres 1923 gegenüber len wusste.15 Der Zweck dieses Briefes durchaus zutreffend das folgende Mo- dem französischen Alliierten mäßigend vom 21. März 1931 an den „Führer“ der tiv für die harten Strafverfolgungsmaß- einwirkten und einen bewaffneten Kon- NSDAP bestand darin, ihn zu bitten, für nahmen der tschechoslowakischen Jus- flikt mit dem in einer schwerwiegenden eine Veröffentlichung anlässlich der be- tiz genannt: „Nicht die Geländeübungen Krisensituation befindlichen Deutsch- vorstehenden Asta-Wahlen einen Ar- der Angeklagten und das mehr oder we- land unter allen Umständen vermeiden tikel zur Verfügung zu stellen.16 Kurze niger kindliche Soldatenspiel der jungen wollten – das sei hier nur am Rande er- Zeit später, im August 1931, ist in einem Akademiker seien es, die die Behörden wähnt.10 neuerlichen Schreiben an Adolf Hitler und die tschechische Presse so feindse- Bereits für das Jahr 1920 sind eingehen- von einem weiteren Beitrag die Rede, lig gestimmt haben, sondern vor allem de Beobachtungen der Verhältnisse im die er für die Zeitschrift des Studenten- die Tatsache, dass sich Sudetendeut- tschechoslowakischen Heer durch deut- bundes („Burschen heraus!“) zu schrei- sche in ihrer Gesinnung mit dem Ziel sche Agenten überliefert. Unter den Su- ben versprochen hätte: „In Flugzetteln einer reichsdeutschen Bewegung iden- dentendeutschen angeworbene Agen- und Aufrufen haben wir schon hingewie- tifiziert haben, ein Ziel, das der Staats- ten berichteten zum Beispiel im August sen, dass Ihr Artikel … erscheinen wird. anwalt mit dem Begriffe ‚Großdeutsch- 1920 über die Weigerung junger Män- Es wäre ein großartiger Erfolg für unse- land‘ umschrieb.“20 ner in Asch, Weidenau, Eger und Brau- re Bewegung, wenn Ihr Artikel oder Auf- Die militärischen Übungen der in erster nau, sich als Wehrpflichtige mustern zu ruf in unserem Blatt veröffentlicht wer- Instanz im September 1932 zu ein- bis lassen: „Bei der Musterung in Weidenau den könnte.“17 dreijährigen Freiheitsstrafen, in 2. In- am 3.8. diesen Jahres marschierten zu Die Aktivitäten faschistischer sudeten- stanz im Oktober 1933 weniger streng dem festgesetzten Zeitpunkt etwa 500 deutscher Studenten in der CSR re- verurteilten Angeklagten, mögen dilet- Gestellungspflichtige geschlossen un- duzierten sich jedoch nicht auf bloße tantisch gewesen sein, sie bargen aber ter Absingen des Liedes ‚Deutschland, Propaganda. Im Mai 1932 kam es zu die Gefahr in sich, Keimzellen des Wir- Deutschland über alles‘ an dem Muste- umfangreichen Verhaftungen von Stu- kens militanter sudetendeutscher Grup- rungslokal vorbei, ohne sich mustern zu denten, aber auch von anderen Angehö- pen innerhalb der CSR zu sein, einer lassen.“11 Interessant ist der Hinweis, rigen der sudetendeutschen Jugendver- „5. Kolonne“, deren Zielsetzung der dass „viele Gestellungspflichtige über einigung „Jungsturm“ und der bereits oben zitierte Staatsanwalt präzise be- die Grenze, besonders die bayerische“, 1919 von der Deutschen Nationalso- schrieben hatte.

Der Präsident der Tschechoslowakei, Dr. Edvard Benes, in einem Beitrag für die Festnummer des Fachblattes der deutschen sozialdemokratischen Lehrer in der CSR v. April 1938:

„Unter neuem Humanismus verstehe ich, dass wir in den dern die Organisation ein Werkzeug der Menschen bildet; neuen Verhältnissen, in denen wir leben, an die unver- dass der freie Mensch und Bürger es ablehnt, dem Staa- gänglichen Humanitätsideale und Wahrheiten vergange- te, der Nation und Partei absolute Machtbefugnisse über ner Jahrhunderte, ja Jahrtausende glauben müssen. Und die menschliche Gemeinschaft zuzuerkennen und dass er nicht nur glauben, sondern auch dafür arbeiten. Arbeiten den Grundsatz einer folgerichtigen und allgemeinen Tole- für die Wahrheit, dass die menschliche Seele das höchs- ranz gegenüber jeder Meinung und Überzeugung vertei- te Gemeingut ist; dass ihr Wohl der höchste Zweck je- digt.“ der gesellschaftlichen Organisation und Aktion ist; dass Bundearchiv Berlin-Lichterfelde, R 58/348, Bl. 38 (Auszug die Menschen nicht Mittel der Organisation sind, son- aus „Prager Tagblatt“, Nr. 69, 15.4.1938).

19 In diesem Zusammenhang muss dar- lich bei ihrem Leiter Kapitän zur See Pat- Verteidigung der Angeklagten finanzi- auf hingewiesen werden, dass die su- zig – wegen des fehlenden Engagements ell sicher zu stellen. Schließlich übergab detendeutschen Studenten und andere der deutschen Diplomaten in Prag zu- der deutsche Gesandte Walter Koch am junge „Volkssport“-Mitglieder reichlich gunsten der Angeklagten „neuerdings 29.4.1933 dem Prager Rechtsanwalt Unterstützung aus Deutschland erhiel- recht schlecht auf die hiesige Gesandt- Dr. Stark in den Räumen der deutschen ten. Nicht nur Nazi-Schrifttum wurde schaft zu sprechen“ sei. Süffisant fügte diplomatischen Vertretung gegen ent- von dort in großer Menge illegal ein- er hinzu, dass „in der Urteilsbegründung sprechende Quittung 86.950 Kronen. geschmuggelt, sondern man beteiligte sich Ausführungen über die Beziehun- Koch vermerkte ausdrücklich, dass die- sich gelegentlich auch an den „Volks- gen zwischen Reichswehr und SA-Leu- ses Geld „vom Reichswehrministerium sport“-Aktivitäten der sudetendeut- ten“ befänden, „die angeblich geeignet (Abwehrabteilung)“ übersandt worden schen Nazis. So berichtete das Konsu- waren, auch die hiesigen angeklagten sei.24 lat in Reichenberg am 7. Juli 1931 dem Nationalsozialisten zu Hilfsorganen der Immer wieder musste die deutsche di- Auswärtigen Amt, dass drei namentlich deutschen Reichswehr zu machen“22. plomatische Vertretung sich mit Pro- genannte junge Männer, alle deutsche Tatsächlich hatte die „Abwehr“ allen blemen befassen, die aus dem rapide Staatsbürger und Mitglieder der NSDAP, Grund, den „Volkssport“-Angehörigen, anwachsenden Schmuggel von Nazi-Li- in Friedland wegen der Teilnahme an die im erwähnten Prozess unter Ankla- teratur entstanden. Dabei wurden mit- „Umzügen von Hitler-Leuten und manö- ge gestellt worden waren, jede erdenk- unter die primitivsten Vorsichtsmaßre- verähnlichen Übungen“21 verhaftet wor- liche Unterstützung zuteil werden zu geln missachtet. den seien. lassen.23 Denn aus der Aufzeichnung ei- Am 26. Februar 1932 meldete der deut- Sehr bemerkenswert ist es in diesem ner Besprechung, die am 31. März 1933 sche Gesandte in Prag dem Auswärti- Zusammenhang, dass offenkundig recht im Auswärtigen Amt unter dem Vor- gen Amt, dass deutsche Stipendiaten, enge Beziehungen zwischen der „Ab- sitz des Ministerialdirektors Dr. Köpke die in der Tschechoslowakei ihren Stu- wehr“-Abteilung im Reichswehrminis- stattfand – der Reichskanzler hieß mit- dien nachgingen und einer so genann- terium und den im September 1932 in tlerweile Adolf Hitler – geht zweifels- ten Freischar junger Nation angehörten, 1. Instanz verurteilten „Volkssport“-An- frei hervor, dass die betreffenden Sude- systematisch Publikationen faschisti- gehörigen bestanden. Der deutsche Ge- tendeutschen im Dienste der „Abwehr“ scher Provenienz in die CSR einschmug- sandte in Prag, Dr. Walter Koch, ver- standen. Der sicherlich nicht zufällig geln würden. Nachdem einer ihrer Mit- merkte in einem Schreiben an den anwesende „Kapitänleutnant Schubert glieder verhaftet worden war, empfahl Legationsrat im Auswärtigen Amt von von der Abwehr-Abt. des Reichswehrmi- der Gesandte den Organisatoren dieser Heeren am 29. Januar 1933, dass man nisteriums“ sicherte seinen Gesprächs- Gruppe, alle kompromittierenden Papie- dort – in der „Abwehr“-Abteilung des partnern zu, dass seine Behörde 20.000 re zu vernichten, damit sie im Falle ei- Reichswehrministeriums und nament- Reichsmark aufbringen werde, um die ner Hausdurchsuchung nicht der tsche-

Dokumente des Hasses gegen die Tschechoslowakei

Aus dem Brief von Helene M. aus Nürnberg Aus dem Brief von Fritz B. aus Berlin v. 18. September 1938 an den Reichsaußenminister (Lichterfelde-West) an das Auswärtige Amt Joachim v. Ribbentrop: v. 15. August 1938: „Es ist in Mitteleuropa nicht üblich, reißende Tiere frei her- „Mit Zähneknirschen nehmen wir Deutsche seit 1918 viele umlaufen zu lassen, ob die nun auf 4 oder 2 Beinen stehen. Fußtritte selbst der kleinsten, mit deutschem Blut begrün- Eine wild gewordene Natur ohne Vernunft lässt man nicht deter Staaten hinnehmen müssen. Zähneknirschend müs- auf hilflose Menschen los. (…) Es besteht die moralische sen wir jetzt von dem hemmungslosen Terror der Tsche- Pflicht, unsere Sudentendeutschen aus den Klauen reißen- chen Kenntnis nehmen. Gibt es nicht vielleicht auch ohne der Tiere zu befreien. Das wilde Tier reißt eben, weil ihm Krieg einen Weg, diesen Terror dadurch zu beseitigen, dass Reißen Lebensnotwendigkeit ist.“ die deutschen Zeitungen veranlasst werden, den Sudeten- Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 103668, unfol. deutschen den Rat zu erteilen: sie möchten sich genau je- den einzigen, der sich ihnen gegenüber etwas zuschulden Aus dem Schreiben des Leutnants a. D. K. aus kommen lässt, merken, um ihn dann zur Rechenschaft zu Überlingen an v. Ribbentrop v. 21. Mai 1938: ziehen, wenn es wirklich dem Streben der Tschechen ent- „Wann endlich dürfen wir die Tschechenbrut aus den Wie- sprechend zu einem Eingreifen des Deutschen Reiches gen holen und an die Wand klatschen? (…) Herr Reichsau- kommen sollte? Zumal die Tschechen ja schon selbst zu- ßenminister, wenn wir aus irgend einem Grund noch zu- gegeben haben, dass sie in einem solchen Falle ‚zunächst‘ warten müssen: nützen wir diese Zuwarte-Zeit, um einen überrannt würden. Ausrottungsplan gegen diese Höllenbrut auszuarbeiten! Ich habe dabei persönlich die Meinung, dass ein etwaiger Selbst die allergemeinsten Mittel sind für diese Hunde viel, Angriff nicht nur wegen der Gebirgszüge, sondern auch viel zu gut! (…) wegen der deutschen Bevölkerung nicht an den nördlichen Herr Reichsaußenminister, wir dürfen uns kein Gewissen Grenzen enden dürfte, sondern auf der niedriger gelegenen daraus machen, wenn wir diesen Benesch-Verein ausrot- Trennungslinie zwischen Tschechei und Slowakei, so dass ten! Wir tun damit ein Gott gefälliges Werk! Wir müssen sie jene abgeschwächt werden würde. Jedenfalls sind 7 Millio- langsam zu Tod martern, – und selbst dann sind wir noch nen Tschechen ‚zuviel auf der Welt’.“ zu human gegen dieses gottverdammte Pack!“ Ebenda, R 103665, unfol. Ebenda, R 103660, unfol.

20 choslowakischen Polizei in die Hände Selbstverständnis des – wohlgemerkt: Der Sudetendeutsche Heimatbund er- fielen.25 Die Annahme, diese „kompro- tschechoslowakischen – Abgeordneten füllt im Wesentlichen zwei Funktionen mittierenden Papiere“ hätten den tsche- sind seine in einer Aufzeichnung des Le- für die deutsche Außenpolitik gegenü- choslowakischen Strafverfolgungsbe- gationsrates Victor von Heeren zitierten ber der Tschechoslowakei. hörden genauere Aufschlüsse über die Aussagen, die er in einem Gespräch mit Zum einen organisierte er in Deutsch- konspirativen Aktivitäten reichsdeut- diesem Diplomaten im Dezember 1932 land eine Vielzahl von Kundgebungen, scher Organisationen und Personen auf formuliert hatte: „Ein konkretes Anliegen die das „Leid“ der Sudetendeutschen dem Territorium der CSR geben können, brachte er nicht vor, sondern gab nur in der CSR veranschaulichen und allge- über den Schmuggel verbotener Litera- wiederholt der Auffassung Ausdruck, mein Stimmung gegen die Tschechoslo- tur hinausreichend, liegt nahe. dass sich die Reichspolitik der sudeten- wakei machen sollten. Zugleich fehlte es deutschen Minderheit stärker als dies nicht an deutlich formulierten Aussagen, Ein Deputierter der CSR bisher der Fall gewesen sei, für ihre poli- denen zufolge die sudetendeutschen als Spitzen-Agent der „Abwehr“ tischen Ziele bedienen könne. Er stellte Gebiete in ein zu schaffendes, größer Als besonders krasses Beispiel für die insbesondere seine Partei, die Deutsch- dimensioniertes Deutsches Reich ein- Diversionstätigkeit eines sudetendeut- nationalen, und ihre Vertreter im Prager gegliedert werden müssten. Teilwei- scher Spitzen-Politikers vor der Nazi- Parlament für die Ausführung eventuel- se nahmen diese Veranstaltungen den Machtübernahme sei der Fall des Pro- ler Wünsche der reichsdeutschen Poli- Charakter von primitivsten Hetzkundge- fessors Dr. Ernst Schollich genannt, tik zur Verfügung.“31 Das freiwillige An- bungen an. So erklärte der aus der CSR zugleich ein besonders schwerwiegen- dienen bei Reichsbehörden war keine geflohene Abgeordnete Baeran, er war des Beispiel von Hoch- und Landesver- Besonderheit des Senators Schollich, unter anderem der Spionage überführt rat. Von Hause aus Hochschullehrer, sondern eine durchaus verbreitete Ver- worden, am 3. Februar 1926 im Berliner war er zum Fraktionsvorsitzenden („Klu- haltensweise sudetendeutscher Bürger Konzerthaus vor 4.000 Teilnehmern: bobmann“) der Deutschen Nationalpar- der CSR. Wie schon gesagt: Es ist hier „Wir kennen keine andere Sehnsucht – tei26 im Prager Parlament avanciert. nicht der Ort, auf das seit den Anfän- heiß brennt sie in uns – als die, endlich Schollich, Staatsbürger und Deputierter gen der Weimarer Republik existieren- zu einem einzigen großen Reich zusam- der CSR, war einer der Spitzenagenten de Netzwerk von Spionage und Diversi- menzuwachsen. (…) Wir sind das Herz der Spionage-Abteilung im Reichswehr- on in der angemessenen Ausführlichkeit Europas. (…) Blut will zu Blut, Geist zu ministerium. Unmittelbare Anleitung in einzugehen, das gegen die Tschechoslo- Geist, Flamme zu Flamme.“33 seiner Tätigkeit erhielt er offenkundig wakei gerichtet war. Der „Fall Schollich“ Nur wenige Monate später formulierte von einem Major von Rintelen, der in war indes kein Einzelfall. Admiral von Trotha bei einer Großver- der Abwehr-Stelle in Breslau stationiert anstaltung in Breslau: „Die Überzeu- war.27 Schollichs große Bedeutung wird Der „Sudetendeutsche Heimatbund“ gung muss Allgemeingut werden, dass schon daraus ersichtlich, dass deren Ein überaus bedeutsames Beispiel der es nichts Höheres, Reineres und Größe- Chef, Kapitän zur See Conrad Patzig28, gegen die Tschechoslowakei gerichte- res gibt als unser deutsches Blut, und und seine Mitarbeiter, die Majore Rös- ten Diversion in der Zeit der Weimarer dass dieses deutsche Blut zusammen- sing und Konrad, ihren Schützling mit Republik stellte die Tätigkeit des so ge- gehört in der ganzen Welt, dass kei- folgenden Worten dem Leiter der 1. Po- nannten Sudetendeutschen Heimatbun- ne Grenzen den Begriff des deutschen litischen Abteilung im Auswärtigen Amt, des (SHB) dar, an dessen Spitze der Ad- Volkstums zerreißen können. (…) Hinter Ministerialdirektor Köpke, für einen Ge- miral a. D. Adolf von Trotha stand und dieser kämpfenden Front (der Sudeten- sprächstermin empfahlen: „Der Besuch dessen intellektueller und organisato- deutschen – R. Z.) steht der Sudeten- Schollichs im Auswärtigen Amt verfolgt rischer Kopf offensichtlich Dr. Theodor deutsche Heimatbund.“34 den Zweck, die Politik der von ihm ver- Dorn war. Zum anderen wirkte der SHB auch ziel- tretenen Deutschen Nationalpartei mit Der SHB, der sein zentrales Büro in Ber- gerichtet in die Tschechoslowakei hin- der allgemeinen Politik des Auswärti- lin-Schöneberg unterhielt, war eigentlich ein. Dr. Theodor Dorn, die „rechte Hand“ gen Amtes in Einklang zu bringen. Ma- nur für die Sammlung und Betreuung von Trothas, reiste häufig und lange in jor Rössing bat um freundliche Aufnah- Sudetendeutscher innerhalb Deutsch- das Nachbarland und verfasste ebenso me Schollichs im Auswärtigen Amt, da lands zuständig. Wirft man aber den ausführliche wie gut recherchierte Be- dieser große Verdienste um den Ausbau Blick hinter die Kulissen dieses Verban- richte über die dortige Lage, die über des Nachrichtenwesens des Reichs- des, so verwundert es, dass angesichts das Büro von Trothas auch in das Aus- wehrministeriums in den sudetendeut- dieser nach innen gerichteten Aufga- wärtige Amt gelangten.35 Dorn regist- schen Gebieten erworben habe. Er wür- benstellung ausgerechnet das Auswär- rierte sensibel die sich am Beginn der de auch vom Reichswehrminister bezw. tige Amt den SHB mit vergleichsweise dreißiger Jahre bei den Sudetendeut- Reichskanzler, General von Hammer- bedeutenden finanziellen Mitteln unter- schen vollziehenden Veränderungen im stein, Hugenberg usw. empfangen.“29 stützte: So erhielt Admiral von Trotha politischen Klima, vor allem den immer Dass Schollich überdies Hauptmann d. z. B. im November 1927 12.000 RM vom größer werdenden Einfluss des „Natio- R. im Feldartillerie-Regiment Nr. 2 in Ol- Auswärtigen Amt ausbezahlt. 1928 wur- nalsozialismus“, nicht nur, aber beson- mütz war, dürfte für die Abwehr-Offizie- den insgesamt 18.000 RM angewiesen, ders unter der jungen Generation.36 re noch von zusätzlichem Interesse ge- wozu noch 5.000 RM zu addieren wä- Dorns Aufenthalte in der Tschechoslo- wesen sein.30 ren, die das Preußische Ministerium des wakei dienten aber nicht nur der Infor- Über den Verlauf der Gespräche Schol- Innern, geführt vom Sozialdemokraten mationsbeschaffung und der Kontaktie- lichs mit den genannten Repräsen- Albert Grzesinski, zur Verfügung stellte. rung sudetendeutscher Politiker. Als er tanten der deutschen Regierung exis- Auch in den Jahren der Weltwirtschafts- später für die Verleihung der von der Na- tieren in den bisher durchgesehenen krise versiegte der Fluss der Zahlungen zi-Führung gestifteten Medaille zur Erin- Akten, bis auf eine Ausnahme, keiner- nicht, es sprudelten die Gelder nur nicht nerung an den Einmarsch in die sog. su- lei Aufzeichnungen. Interessant für das mehr ganz so großzügig wie zuvor.32 detendeutsche Gebiete am 1. Oktober

21 1938 vorgeschlagen wurde, lautete die Ziele einer Revision der Grenzen gegenü- im großen und ganzen nicht allzu weit bemerkenswerte Begründung wie folgt: ber Polen und der Tschechoslowakei so- von den Endzielen der Politik des heu- „Dorn wurde 1933 im amtlichen Auftrag wie die „Vereinigung“ mit Österreich40, tigen Deutschlands; sie unterschieden als Vertrauensmann nach Prag entsandt zum Gegenstand der Tagespolitik zu sich nur in den Methoden, im Vorgehen und hat dort in engster Zusammenarbeit machen. Die Unterscheidung von „Nah- und dem größeren Verständnis für die mit den sudetendeutschen Parteistellen und Fernzielen“ (Gerhart Hass) in der Ziele, Bestrebungen und Bedürfnisse geheime Aufträge durchgeführt. Sei- deutschen Außenpolitik, das Denken in des übrigen Europa …“42 Zwar ruhe die ne laufende vertrauliche Berichterstat- langfristigen Dimensionen, die Anpas- Außenpolitik Deutschlands bereits seit tung, die an eine Reihe hoher deutscher sung der Taktik an mitunter sich schnell 1848 auf einer „alldeutschen Grundla- Amts- und Parteistellen geleitet wurde, verändernde Situationen der Innenpo- ge“ und dieser „allgemeine alldeutsche bot ausgezeichnetes Informationsmate- litik wie in den internationalen Bezie- Rahmen“ sei auch Basis der Hitler-Re- rial. In der Krisenzeit (gemeint ist offen- hungen – alles das gehörte nicht zu den gierung, aber nach der Auffassung von bar der Sommer 1938 – R. Z.) war Dorn Charakteristika ihres Handelns. Benesch habe „das heutige Deutsch- vorübergehend von der tschechoslowa- Daraus ergaben sich nicht selten Kon- land … das Tempo und die Methoden kischen Polizei verhaftet.“37 flikte mit der Reichsregierung, aber auch des Stresemann’schen Deutschlands Im September 1931 hatte Admiral von untereinander. Die finanzielle Alimentie- zur Verwirklichung der deutschen nati- Trotha in einem Gespräch mit dem Le- rung stellte nicht in jedem Falle sicher, onalen Ziele als zu langsam angesehen, gationsrat Dr. Thomsen im Auswärti- dass die Adressaten dieser Zuwendun- es hat die Entwicklungslinie zerrissen gen Amt als zukünftigen Schwerpunkt gen stets eine Politik betrieben, die mit und begann radikalere Methoden anzu- der Tätigkeit des SHB sein Wirken in- den jeweiligen politischen Vorstellungen wenden.“43 Die daraus sich ergebenden nerhalb der CSR genannt: Es gelte, „die der Reichsregierung, speziell des Aus- Folgen seien Angst und Misstrauen in heranwachsende Generation in den wärtigen Amtes, übereinstimmten. Zu- Europa. deutschen Gebietsteilen der Tschecho- sätzlich musste seit dem Eintritt zweier Zehn Monate nach der Machtübernah- slowakei mehr und mehr an Deutsch- deutscher Minister in die tschechoslo- me der deutschen Faschisten war es land heranzuziehen. Dies kann aber mit wakische Regierung im Oktober 1926 nicht einfach, ja es war nicht möglich, Aussicht auf Erfolg nur geschehen, wenn in Rechnung gestellt werden41 , dass vorherzusehen, welche Katastrophe bei- … die dem Zusammenschluss der ein- sich politische Kräfte unter den Sude- spiellosen Ausmaßes sich auf dem eu- zelnen deutschen Gruppen in der Tsche- tendeutschen auszuprägen begannen, ropäischen Kontinent anbahnte, zumal choslowakei dienende Arbeit nach Mög- die – ungeachtet kritischer Bewertun- die Geschwindigkeit und der genaue lichkeit in die Tschechoslowakei selbst gen der tschechoslowakischen Politik Zeitplan sowie die Etappen der Kriegs- verlegt wird. (…) Um das Zusammenge- gegenüber ihren Landsleuten – inner- vorbereitungen der Nazis selbst noch hörigkeitsgefühl der Sudetendeutschen halb des politischen Systems der CSR nicht in jedem Falle – so wie in einem mit und zu Deutschland zu stärken, ist wirksam werden wollten und die sich Drehbuch – festgelegt sein konnten. Al- es erforderlich, dass die Aufklärung an nicht in erster Linie als fremd gesteuer- lerdings erkannte Benesch bereits, dass sie herangetragen wird, nicht aber, dass te Exekutoren einer anderswo entschie- „die Revolution des nationalsozialisti- man die unter sich häufig uneinigen denen Außenpolitik verstanden. schen Deutschlands zweifellos … eine Führer zur Entgegennahme von Richtli- Doch der 30. Januar 1933, die Macht- allmähliche Änderung der gesamten eu- nien nach Deutschland zitiert.“38 übernahme der Nazis in Berlin, ver- ropäischen Kontinentalpolitik“44 bedeu- Admiral von Trotha beließ aber nicht bei schaffte den irredentistischen Kräften tete. solchen Absichtserklärungen. Die be- unter den Sudetendeutschen eine der- Wenige Monate später benutzte Staats- reits angesprochenen Aktivitäten der artige Schubkraft, dass die Karten völ- präsident Tomas Masaryk in der Öffent- „Freischar junger Nation“ innerhalb der lig neu gemischt werden mussten und lichkeit eine deutlichere Sprache als CSR, die von der tschechoslowakischen die gesamte innenpolitische Szenerie sein Außenminister. In einem weit ver- Polizei Anfang 1932 aufgedeckt worden der CSR sich neu ordnete. Zugleich be- breiteten Interview mit dem US-ameri- waren, wurden vom Sudetendeutschen kam die „Volkstumspolitik“ neue Ziele, kanischen Journalisten H. R. Knickerbo- Heimatbund von Deutschland aus ange- aber auch den Zugriff auf bislang nicht cker antwortete er auf die Frage nach leitet.39 gekannte materielle Ressourcen. einer von Deutschland ausgehenden Die in der Regel verdeckt praktizier- Kriegsgefahr in einer ganz undiploma- te, so genannte Volkstumspolitik der „Die nationale Revolution versetzt tisch zu nennenden Art und Weise: „Die deutschen Reichsregierungen in der die tschechoslowakische Regierung ganze (Nazi-)Bewegung wie auch der Zeit der Weimarer Republik war aller- in schreckhafte Erregung“ heutige deutsche Staat, sind auf der dings recht kompliziert durchzuführen Die neuen Gefahren, die durch die von Konzeption aufgebaut, dass die Deut- und nur mühsam zu koordinieren, weil Hitler geführte Regierung für die CSR schen ein Herrenvolk sind. Es ist eine die sudetendeutschen Politiker und Par- entstanden waren, analysierte Edvard ernste Sache, wenn ein Volk von 65 Mil- teien sowie die von Deutschland aus in Benesch öffentlich am 31. Oktober 1933 lionen in dieser Richtung geführt wird. die Tschechoslowakei hinein agieren- in einer Grundsatzrede vor dem Außen- (…) Die Deutschen sprechen vom Drang den Organisationen, zwischen denen politischen Ausschuss beider Kam- nach Osten. Aber was bedeutet das? es Konkurrenzdenken, Eifersüchteleien mern des tschechoslowakischen Par- Polen und Russland? (…) Die Deutschen und politische Differenzen gab, häufig lamentes. Benesch verglich zunächst sind ein ernstes Problem für ganz Eur- die taktisch bedingten Rücksichtnah- die Außenpolitik der Nazi-Regierung opa.“45 men der deutschen Regierung, z. B. auf mit derjenigen ihrer Amtsvorgänger der Edvard Benesch antwortete Knickerbo- das Verhältnis zu Frankreich und Groß- Weimarer Republik und gelangte dabei cker auf die gleiche Frage noch direk- britannien, nicht nachvollziehen konn- zu folgender Einschätzung: „Nach mei- ter – und leider mit einer Vorhersage, ten oder wollten. Sie waren vielmehr be- nen Ansichten lagen die Endziele und die sich tatsächlich bewahrheiten soll- strebt, die in Berlin langfristig avisierten Ideale der Stresemann’schen Politik te: „Wenn die nationale Hochspannung,

22 erkannten durchaus, dass sich hier ei- ne Außenpolitik „neuer Qualität“ entwi- ckelte, die zwar nicht voraussetzungs- los war, sondern deren Wurzeln auch in das abenteuerliche Alldeutschtum des Wilhelminismus und den Revisionismus deutscher Außenpolitik in der Weimarer Republik hinabreichten. Zugleich analysierten sie aber auch das in Ansätzen bereits zu erkennende Neue: Den aggressiven Rassismus, der sich nicht zuletzt gegen die slawischen Völker und Staaten richtete. Dieses „Herrenmenschentum“ bedrohte den tschechoslowakischen Staat aber nicht allein von außen. Seit der Machtüber- nahme der Nazis war die CSR auch von innen durch den deutschen Faschismus bedroht. Denn der 30. Januar 1933 be- deutete eine enorme Ermutigung und Bestätigung für alle diejenigen Kräfte unter den Sudetendeutschen, die der CSR den Kampf angesagt hatten. Die- se schnell anwachsende, existenziel- le Bedrohung von außen wie von in- nen war das Charakteristikum der Lage der Tschechoslowakei in den dreißiger Jahren. Angesichts dieser zugespitzten Lage ist der zynisch klingend Satz aus der politischen Jahresübersicht der Ge- sandtschaft in Prag für das Jahr 1933 nicht unzutreffend: „Die nationale Revo- lution versetzt die tschechoslowakische Regierung und Öffentlichkeit in schreck- hafte Erregung.“48

„Namentlich unter der Jugend hat die Erhebung in Deutschland starken Widerhall gefunden“ Die Machtübernahme der Nazis in Ber- lin stimulierte unübersehbar das Han- deln der irredentistischen Kräfte. Dies betraf vor allem die Schwesterpartei der NSDAP, die Deutsche Nationalsozialisti- sche Arbeiterpartei (DNSAP). Ein ers- tes, unübersehbares Anzeichen für die Schubkraft, die von der Kanzlerschaft Hitlers für die DNSAP ausging, waren die Ergebnisse der Kommunalwahl in Eger am 20. März 1933. Die faschis- tische Partei der Sudetendeutschen avancierte zur stärksten politischen die jetzt in Deutschland zu beobachten ich eine vertrauliche Unterredung mit Kraft, konnte die Zahl ihrer Wählerstim- ist, fünf Jahre lang fortschreiten wird, so Edvard Benesch … Er ist keineswegs op- men fast verdreifachen und die Anzahl werden die Aussichten auf einen Krieg timistisch und meint, die Deutschen sei- der Mandate mehr als verdoppeln.49 mehr als fünfzigprozentig sein.“46 Im en entschlossen, einen Teil der Tsche- Für die Beziehungen zur Nazipartei in vertrauten Kreise gab der tschecho- choslowakei, wenn nicht das ganze Deutschland galt: Ohne dass dies die slowakische Außenminister mehr als Land, zu annektieren.“47 Parteizentrale in München organisiert einmal seiner Überzeugung Ausdruck, Die politisch Verantwortlichen in Prag, oder für sinnvoll befunden hätte, ver- dass sich die CSR auf einen Krieg mit allen voran Tomas Masaryk und Edvard stärkten sich an der Basis die grenzü- dem faschistischen Deutschland vorbe- Benesch, machten sich also ungeachtet berschreitenden Kontakte beider fa- reiten müsse. So notierte der damalige aller heuchlerischen „Friedens“-Beteu- schistischer Parteien, wobei es auch zur Botschafter der USA in Deutschland, erungen aus Berlin keinerlei Illusionen Gewinnung von Mitgliedern mit tsche- William E. Dodd, am 1. Dezember 1933 über den Charakter und die expansio- choslowakischer Staatsbürgerschaft für in sein Tagebuch: „Um 6.30 Uhr hatte nistischen Ziele des Naziregimes. Sie die NSDAP und die SA kam.

23 Der deutsche Konsul in Brünn, Graf von Die Tschechoslowakei reagierte schließ- land geflohen waren, entstand die Fra- Bethusy-Hoc, berichtete am 24. Mai lich im Oktober 1933 mit der Verab- ge, wie die immer stärker sich auf den 1933 dem Auswärtigen Amt, dass mit- schiedung eines „Gesetzes über Ein- deutschen Faschismus orientierenden tlerweile im Hultschiner Ländchen fünf stellung und Auflösung“, das unter Sudetendeutschen organisiert werden feste und acht lose Ortsgruppen der anderem – erneut – verfassungsfeindli- konnten. Konkret: Die Frage nach einer NSDAP bestünden!50 Die Kreisleitung che Symbole verbot sowie die Möglich- handlungsfähigen Nachfolgeorganisati- der NSDAP im bayerischen Selb teil- keit eröffnete, Parteien und Organisati- on der DNSAP musste möglichst rasch te dem Reichsministerium des Innern onen zu verbieten, die eine Bedrohung beantwortet werden. mit, dass an einer Kundgebung in ihrer der „Selbständigkeit, verfassungsmä- Stadt, die am 2. März 1933 anlässlich ßigen Einheitlichkeit, Unteilbarkeit, de- Konrad Henlein – der bevorstehenden Reichstagswah- mokratisch-republikanischen Form der „Turnwart von Asch“ len organisiert worden war, zahlreiche oder der Sicherheit der Tschechoslo- Wer war Konrad Henlein, der innerhalb tschechoslowakische Staatsbürger aus wakischen Republik“55 darstellten. kürzester Zeit zum „Führer der Sudeten- Asch, darunter auch eingeschriebene Ganz offensichtlich waren die politisch deutschen“ aufstieg und bei den Parla- Mitglieder der NSDAP, teilgenommen Verantwortlichen in Prag geneigt, den mentswahlen am 19. Mai 1935 insge- hätten. Die Polizeiorgane der CSR hät- einheimischen Faschisten kämpferisch, samt 67,4 Prozent aller im deutschen ten bislang etwa 100 von ihnen ermit- mit repressiven Maßnahmen, zu begeg- Lager abgegebenen Stimmen auf sich telt und verhaftet. Ebenso habe es sich nen. Dabei schreckten sie auch vor Or- vereinen konnte, so dass die von ihm bei einer Wahlkundgebung in einem ganisationsverboten nicht zurück. gegründete Sudetendeutsche Partei mit Gasthaus „Waldfrieden“ in Wildenau Nicht zu verbieten war aber eine sich 44 Mandaten im Parlament zur zweit- verhalten. Auch hier hätten die Behör- immer schneller entwickelnde Nazifizie- stärksten politischen Kraft in der Tsche- den der CSR Teilnehmer mit tschecho- rung unter den Sudetendeutschen, die choslowakei herangewachsen war?58 slowakischer Staatsangehörigkeit iden- Ausbreitung einer Erwartungshaltung, Henlein wurde am 6. Mai 1898 in der tifizieren können, die dann zu Verhören die von einer in naher Zukunft sich voll- Nähe von Reichenberg (Liberec) gebo- vorgeladen worden seien.51 ziehenden „Befreiung“ der sudetendeut- ren. Er besuchte das Gymnasium und Für die NSDAP und deutsche Dienstel- schen Gebiete in der CSR durch das fa- absolvierte in Gablonz die Handelsschu- len war also unübersehbar: Die sich schistische Deutschland geprägt war. le. Im Ersten Weltkrieg war er Zugfüh- intensivierenden Beziehungen der In den Berichten deutscher Diplomaten rer und Fähnrich an der „Alpenfront“, deutschen Nazis zu ihrer tschechoslo- finden wir plastische Schilderungen da- wo er in italienische Gefangenschaft wakischen Schwesterpartei blieben von, wie sich derartige Stimmungen da- geriet. Nach dem Krieg war er seit dem von den Behörden der CSR nicht unbe- mals artikulierten. So heißt es in dem August 1919, wiederum in Gablonz, als merkt. Nachdem bereits das Tragen von Bericht des Konsuls von Bethusy-Hoc Bankangestellter tätig. Wie für andere Hakenkreuzabzeichen, der Vertrieb von vom 24. Mai 1933 unter anderem: „Na- Männer seiner Generation wurde auch Nazischriften und die Mitgliedschaft in mentlich unter der Jugend hat die Erhe- für Konrad Henlein das „Fronterlebnis“ der NSDAP, der SA und SS untersagt bung in Deutschland einen starken Wi- prägend. Sein Nazi-Biograph Rudolf und unter strenge Strafandrohungen derhall gefunden. Die Begeisterung für Jahn schrieb dazu: „Die Herren der Zu- gestellt worden waren, stand das Ver- die Ideen des Nationalsozialismus und kunft konnten nur die unerschrockenen bot der DNSAP gegen Ende des Jahres für den Führer Hitler selbst ist gewaltig. Kämpfer werden, die, im Stahlbad des 1933 unmittelbar bevor. Bereits am 23. Überall ertönt der Ruf ‚Heil Hitler’, das Krieges gehärtet, auch jetzt den Kampf Februar 1933 war die Immunität eini- Horst-Wessellied wird gesungen, man nicht scheuten. (…) Die Männer der küh- ger Abgeordneter der Deutschen Nati- begrüßt sich mit dem Faschistengruß. nen Tat und des mutigen Wagens, des onalsozialistischen Arbeiterpartei auf- Aus den Zeitungen war mehrfach zu er- zähen Willens und der heißen Liebe zu gehoben worden.52 Um dem drohenden sehen, dass bald auf einer Kirche, bald Volk und Heimat, haben die Wende im Parteiverbot zuvorzukommen, löste auf der Spitze eines hohen Baumes ei- sudetendeutschen Schicksal eingelei- sich am 3. Oktober 1933 die faschis- ne Fahne mit Hakenkreuz wehte; auch tet, den völkischen Neubau begonnen. tische Partei in der Tschechoslowakei die kleinen Dorfjungen ziehen mit ih- Aus dieser Schicht der Kämpfer kam selbst auf. Drei ihrer prominentesten ren Taschentüchern herum, auf denen Konrad Henlein.“59 Führer, Hans Krebs, Karl Viererbl und ein Hakenkreuz in primitiver Form ange- Im Laufe der Zeit wurde Henlein zu ei- Rudolf Jung, flüchteten nach Deutsch- bracht ist. Im Zusammenhang damit hat ner der bedeutendsten Personen im Su- land, nachdem einige Abgeordnete ver- sich die Meinung verstärkt, dass für das detenland. Er widmete sich der Neu- haftet worden waren.53 Ungeachtet der Hultschiner Ländchen bald die Wieder- gestaltung des dortigen Turnwesens, Selbstauflösung der Partei erfolgte am vereinigung mit dem Reiche kommen das er allmählich zu einem organisa- 4. Oktober 1933 das formelle Verbot werde.“56 Im Übrigen sei es bereits zu torisch-politischen Zentrum der Sude- der DNSAP sowie der Deutschen Nati- ersten Auseinandersetzungen zwischen tendeutschen umwandelte. Das Tur- onalen Partei. jugendlichen Nazis und der Polizei ge- nen war ihm allerdings nur Mittel zum Kennzeichnend für die vermehrten Ak- kommen. Zweck: „Eine männliche Straffung und tivitäten der Nazis innerhalb der CSR Schon drei Wochen zuvor hatte der ein soldatisches Gepräge der Turnzeiten war die Tatsache, dass – wie die Prager deutsche Gesandte dem Auswärtigen war notwendig, wenn der Turnboden Gesandtschaft am 19. Juni 1933 dem Amt übermittelt, er höre „aus der Pro- die Zuchtstätte der sudetendeutschen Auswärtigen Amt meldete – inzwischen vinz“, „der Zulauf zur nationalsozialisti- Mannschaft werden sollte. (…) Keine „1.500 politische Prozesse gegen nati- schen Partei sei noch immer enorm“57. Zusammenkunft und keine Turnstunde onale Sudetendeutsche anhängig sind Nachdem sich die Deutsche National- ließ er (Henlein – R. Z.) vorüber gehen, und dass sich 700 Personen aus poli- sozialistische Arbeiterpartei selbst auf- ohne sie zu einem Hinweis auf wichtige tischen Gründen in Untersuchungshaft gelöst hatte und einige ihrer führenden völkische Fragen auszunützen. (…) Die befinden“54. Kader sich nunmehr nach Deutsch- Turnzeiten müssen Stunden der völki-

24 schen Erziehung, neben ernster Arbeit nes mehrere Jahre währenden Prozes- Vortragsveranstaltungen von Spanns und frohem Spiel auch eine Feierstun- ses, an dessen Ende dann allerdings Schüler, dem Privatdozenten Dr. Walter de echter Gemeinschaft sein. Mit einem die Führung und Mitgliedschaft der SdP Heinrich, teilnahm.67 Insgesamt war er Vorspruch und Mahnwort wurde die ohne Widerspruch den Vorgaben aus wohl eher die ausgleichende Kraft in- Turnstunde begonnen, in den Arbeits- Berlin gehorchten. Dass dies nicht von nerhalb der Sudetendeutschen Partei pausen Hinweise auf wichtige Ereignis- Beginn an der Fall war, lag darin begrün- und der „Trommler“ für ihre Ziele nach se des Zeitgeschehens gegeben oder an det, dass sich in der Sudetendeutschen außen. Seine intellektuellen Fähigkeiten völkische Gedenktage erinnert.“60 Partei unterschiedliche politische Kräf- wurden allgemein angezweifelt, ja sie 1931 verordnete Konrad Henlein der su- te vereint hatten. bildeten mitunter die Zielscheibe des detendeutschen Turnerschaft das „Füh- Vereinfacht gesagt, ließen sich innerhalb Spotts von Seiten der politischen Geg- rerprinzip“, bereits im Jahr zuvor hatte der SdP zwei miteinander um die Macht ner. Nach Ansicht des gewöhnlich gut er das so genannte Wehrturnen einge- ringende Gruppen unterscheiden: informierten deutschen Gesandten Wal- führt, dass unter anderem Marschieren, Erstens die alten, zum Teil von Deutsch- ter Koch habe Henlein die SdP nicht aus Geländeturnen, d. h. militärische Übun- land aus agierenden Führungskader der eigener Initiative geschaffen, sondern gen unter freiem Himmel, Kleinkaliber- DNSAP und ihr zahlenmäßig nicht ge- er sei „vom Kameradschaftsbund vor- schießen und Kartenlesen umfasste. ringer Anhang in der CSR, vor allem die geschoben“68 worden. Henlein veranstaltete immer häufiger im „Aufbruch“-Kreis agierenden Kräf- Auch die Beziehungen Konrad Henleins manöverähnliche Nachtübungen, zu de- te. Hier waren junge Parteimitglieder, nach Berlin waren durchaus nicht im- nen Tausende „Turner“ zusammenge- in erster Linie Studenten, tonangebend. mer frei von Spannungen. Dafür lassen zogen wurden. Henleins Turnerschaft Auch bei ihnen gab es zwar gewisse sich mehrere Ursachen nennen: ähnelte mehr und mehr einem parami- Vorbehalte gegen die „Führer“-Anma- Zum einen nahm er von den führenden litärischen Verband. ßungen Hitlers, aber insgesamt stan- Nazis des „3. Reiches“ gern Unterstüt- In einer Hinsicht musste er allerdings den sie loyal zur Politik der NSDAP und zungen jeder Art und auch materielle keine Neuregelung verkünden: Bereits des „Dritten Reiches“. Sie orientierten Zuwendungen und Ehrungen entgegen; seit 1897 galt im Ascher Turnverein, in auf die früher oder später zu erfolgen- am liebsten wollte er als „Führer der Su- dem Henlein seine Karriere als „Führer“ de Eingliederung der sudetendeutschen detendeutschen“ jedoch keinem ande- der sudetendeutschen Turnerschaft be- Gebiete in das Deutsche Reich und da- ren „Führer“ untergeordnet sein, auch gonnen hatte, und bald darauf auch in mit auf die Zerschlagung der Tschecho- nicht Adolf Hitler. den meisten anderen deutschen Tur- slowakei. Zum anderen war Henlein sich bis En- nerbünden in Böhmen und Mähren, der Zweitens existierte der so genannte de 1937/Anfang 1938 nicht völlig im „Arierparagraph“: Juden hatten zu die- Kameradschaftsbund (KB) um Dr. Wal- klaren darüber, ob die Zukunft der Su- sen Turnvereinen keinen Zutritt. ter Brand, einem der engsten Mitarbei- detendeutschen im faschistischen Die Stunde Henleins schlug, als sich – ter und Redenschreiber Henleins.63 Der Deutschland liege – das heißt, ob der wie schon dargelegt – im Oktober 1933 Kameradschaftsbund orientierte sich Kurs auf die Eingliederung der sude- die Deutsche Nationalsozialistische Ar- weltanschaulich weniger in Richtung tendeutschen Gebiete in das Deutsche beiterpartei auflöste, um dem tags dar- NSDAP; vielmehr bezogen sich seine Reich der Faschisten zu richten sei – auf ausgesprochenen Parteiverbot zu- Anhänger, die zumeist der katholischen oder, ob noch Chancen bestünden, ei- vorzukommen. Gesucht wurde jetzt eine Kirche angehörten, auf die Lehren des nen Status weitgehender Autonomie in- Nachfolgeorganisation, die imstande in Wien lehrenden Ökonomie- und Philo- nerhalb der CSR zu realisieren.69 war, die parteilos gewordenen Mitglie- sophie-Professors Dr. Otmar Spann, der Eine vom Sicherheitsdienst (SD) der SS der der DNSAP zu integrieren und die als politisches Organisationsmodell die im Juli 1936 verfasste Analyse über die sich immer mehr verbreitende Zustim- Idee des „Ständestaates“ verfocht.64 Sudetendeutsche Partei kam in diesem mung zur Politik der Nazis in Deutsch- Eher im „Austrofaschismus“, im öster- Zusammenhang zu folgender Einschät- land unter den Sudetendeutschen auf- reichischen Dollfuss-bzw. Schuschnigg- zung: „Die Partei hat ohne Zweifel mit zufangen. Gesucht wurde zugleich eine Regime als im faschistischen Deutsch- großen Schwierigkeiten zu kämpfen, Integrationsfigur, die möglich noch nicht land erblickten sie ihr Vorbild, dem es denn sie wird mit den fortwährenden in die politischen Auseinandersetzun- nachzueifern gelte.65 Zwar löste sich der Widersprüchen in ihrer Politik nicht fer- gen eingegriffen hatte, aber dennoch im KB im Oktober 1934 formell selbst auf, tig, abgesehen davon fehlen tatsächlich Sinne der Interessen des deutschen Fa- seine Mitglieder blieben allerdings in- hervorragende Persönlichkeiten, die wie schismus handeln konnte. Die Wahl fiel nerhalb der SdP, bis in die Führungsgre- eine Fackel einen neuen Weg zeigen und auf Konrad Henlein, der am 1. Oktober mien hineinreichend, aktiv und wirkten das Volk bis zum Äußersten begeistern 1933 in Eger die Sudetendeutsche Hei- weiterhin für ihre Zielsetzungen.66 könnten. Henlein ist bestimmt ein voll- matfront (SHF) gründete, die im Vorfeld Ungeachtet der ideologisch untermau- kommen einwandfreier Charakter, ein der Parlamentswahlen vom Mai 1935 in erten Dissonanzen zwischen beiden hochanständiger Mensch, ein vortreffli- Sudetendeutsche Partei (SdP) umben- Gruppierungen war diese Partei ohne cher Organisator, aber er ist weder ein annt wurde.61 jede Einschränkung eine an Kopf und ursprünglicher, noch ein besonders be- Es wäre allerdings eine unzulässige Gliedern faschistische Partei. Außer- fähigter politischer Führer …“70 Simplifikation, wollte man sich das Ver- dem spiegelten manche ideologisch Allerdings ist zu berücksichtigen, dass hältnis der SdP und Henleins zu den in verbrämten Meinungsverschiedenhei- die politischen Wertungen über Füh- Deutschland regierenden Nazis vorstel- ten auch nur den Kampf um den bestim- rungskader und Gruppierungen in die- len wie das Verhältnis einer Marionet- menden Einfluss innerhalb der Partei ser ausführlichen Analyse des SD mit te zu ihrem Puppenspieler.62 Die Instru- wider. einem hohen Maß an Quellenkritik gele- mentalisierung der neu gegründeten Konrad Henlein wurde eher zu den Par- sen werden müssen. Denn die SS-Füh- Partei für die außenpolitischen Zwecke teigängern des Kameradschaftsbundes rung unterstützte die „radikalen“ Kräf- des „Dritten Reiches“ war Resultat ei- gerechnet, zumal er regelmäßig an den ten innerhalb der Sudetendeutschen

25 Partei. Vor allem setzte sie auf den Ab- litischen Einflüsse „des Westens“ ver- gestalten mag, wir Deutsche müssen geordneten Karl Hermann Frank71 , der band: Das Bürgertum sei 1918 in die Be- uns alle – wo wir auch wohnen – als ein später, im Jahre 1938 und besonders deutungslosigkeit gefallen „durch den großes Brudervolk fühlen, denn es ist als „Staatsminister“ im Protektorat Böh- aus den Westländern kommenden Li- das gleiche Blut, das in uns fließt, es ist men und Mähren, noch eine verhängnis- beralismus. (…) Die zügellose Ungebun- der gleiche Geist, der in uns lebt. Blut, volle, ja verbrecherische Rolle spielen denheit … des Einzelmenschen ist sein Geist und Schicksal sind die lebendigen sollte sowie auf den so genannten Auf- Ziel. Jeder Einzelne hat das Recht, sich politischen Kräfte jeder Geschichtsbil- bruchkreis, „ein Kreis von außerordent- sein Leben so günstig als möglich einzu- dung.“77 Für seine Turnerbewegung er- lich fähigen, mutigen jungen Männern, richten; der andere mag sehen, dass es gab sich daraus die Aufgabe, „die Er- die der nationalsozialistischen Idee ihm auch gut gehe. Es ist eine vollkom- ziehung zum deutschen Menschen, die sehr nahe stehen“72. Insofern ging die men egoistische ungermanische Welt- innere Stählung und Ausbildung kla- SS-und SD-Führung stets kritisch mit anschauung des Vorteils, des Gewinns, rer und bewusster zu betonen. An die- Konrad Henlein um, der angeblich unter des Ichs. (…) Dem Liberalismus, auch in ser Deutscherziehung, an dieser Wie- dem Einfluss des „Kameradschaftsbun- der getarnten Form des Persönlichkeits- derdeutschwerdung zu arbeiten, wird des“ stehe und kein „echter“ National- kultes, sagen wir Todfeindschaft an.“74 unsere erste und wichtigste Aufgabe sozialist sei. Drittens verband Henleins Gedanken- sein.“78 welt mit derjenigen der deutschen Fa- Fünftens betonte Konrad Henlein, eben- Henlein und das NS-Gedankengut – schisten die Anschauung, dass Mili- so wie die deutschen Nazis, die auf Mut- Identität, Nachbarschaft oder tanz ein vollkommen legitimes Mittel terschaft und Haushalt reduzierte Rolle, Gegensätze? zur Erreichung politischer Ziele nach die der Frau in der Gesellschaft zukom- Analysiert man jedoch die Reden und innen wie nach außen sei: „Denn nicht me. Eine Vermischung der tradierten Schriften Henleins, so ergibt sich zu- das Reden und Schwärmen und Träu- Geschlechterrollen sei eine „Entar- mindest ein hohes Maß an Übereinstim- men von Volksgemeinschaft … bringt tungserscheinung“: „Der Mann, der den mung bzw. „Nachbarschaft“ zwischen uns vorwärts, sondern nur das tatsäch- Kinderwagen schiebt und die Hausar- seinen weltanschaulichen Grundpositi- liche, nüchterne Kämpfen hierfür.“75 beit verrichtet, während die Frau im onen und denen der deutschen Faschis- Dass mit „kämpfen“ hier nicht nur eine Berufe steht und für den Unterhalt der ten. Worin kam dies zum Ausdruck? besonders engagierte und kompromiss- Familie sorgen muss, das ist eine Ent- Erstens in der Propagierung des „Füh- lose Form der politischen Auseinander- artungserscheinung, die uns heute nur rer“-Prinzips. Es handle sich dabei, so setzung gemeint sein konnte, beweisen allzu oft begegnet.“79 Nötig sei es dem- Henlein 1929, um „jenes Führertum, die von Henlein durchgeführten militäri- gegenüber, als „Ziel und Richtung der dem das Recht gegeben ist, seine Ge- schen Übungen, an denen, wir erwähn- Weibeserziehung … die Mutterschaft“ in folgschaft jederzeit zu rufen und ein- ten es schon, teilweise Tausende seiner den Mittelpunkt zu stellen und im Üb- zusetzen. Jene Gefolgschaft, die kraft „Turner“ teilnahmen.76 Sie stellten ei- rigen „Mannes- und Weibeserziehung einer inneren Verpflichtung und Ver- ne jederzeit einsatzbereite, potenzielle art- und zielgemäß vollständig zu tren- bundenheit dem Rufe des Führers un- Bürgerkriegsmiliz dar, die im Jahre 1938 nen“80. bedingt Folge leistet. Hierin liegt unse- auch zum Einsatz kommen sollte. Sechstens propagierte Henlein in bes- re größte Kraft, unsere höchste Macht. Viertens war Henlein von der beson- ter faschistischer Manier das Ziel ei- Eine Kraft, die nicht zu bekämpfen, eine deren Schicksalsgemeinschaft, ja von nes „erbgesunden deutschen Volkes“. Macht, die nicht zu brechen ist.“73 der historischen Mission des deutschen Es müsse „bei der Gattenwahl mehr als Zweitens ist ein prinzipieller Antilibera- Volkes überzeugt, das vor allem als eine auf Besitz und Mitgift, Titel und Beruf, lismus und Antidemokratismus festzu- „Blutsgemeinschaft“ zu verstehen sei. auf eine hochwertige Erbmasse … Rück- stellen, der sich mit einer kompromiss- Es müsse sich von jedweden „fremden sicht genommen werden. Der Mensch losen Ablehnung der „Ideen von 1789“ Einflüssen“, zumal den „welschen“, frei soll seine Gattung nicht nur erhalten, und aller geistigen, kulturellen und po- halten. „Wie auch unser Schicksal sich sondern über sich hinauswachsen durch

Thomas Mann notiert in seinem Tagebuch am 19. und 21. September 1938:

„Vereinigter Druck auf Benesch. Abtretung der ‚rein deut- „Die Nachrichten erschütternd. Tschechen verlangen schen Gebiete‘ und Befragung in den gemischten. Danach verzweifelt nach dem ihnen zustehenden Schiedsge- internationale Garantierung der neuen Grenzen der C.S.R. richt, erklären, dass Erfüllung der Hitler’schen Forde- Bedeutet zweifellos Neutralisierung und Abhängigkeit von rungen die Auflösung des Staates bedeute. (…) Furcht- Deutschland. (…) Es ist eine unfassliche Geschlagenheit der bare, brutalste Lage eines kleinen, tüchtigen Volkes, Gehirne. Man will den Krieg nicht – er würde nicht kommen, das auf seinen Staat stolz war und Grund dazu hatte. (…) wenn man Hitler die Stirn böte. Er könnte ihn nicht führen, Muss man nicht England als entehrt betrachten, Frank- es wäre sein Ende. Man will also sein Ende um keinen Preis. reich ist hiernach kein bündnisfähiger Staat mehr. Es ist Warum nicht? Weil man den Bolschewismus fürchtet. Die- die vollständige Niederlage der Demokratie und allen ser wäre angeblich auch das Ergebnis des Krieges. Also Rechtes. Die Auflösung eines lebenswilligen, civilisati- nicht Krieg und nicht Hitlers Fall, indem man ihn am Kriege onsdienlichen Staates auf das erpresserische Verlangen hindert. Sondern man gibt ihm die C.S.R. ohne Krieg, wie er einer die Civilisation verhöhnenden Macht ist nicht er- es gewollt hat. Bereitwillig lässt man seinen simplen, offen- hört.“ kundigen Plan Schritt für Schritt in Erfüllung gehen. Ein grö- Thomas Mann, Tagebücher 1937–1939, hrsg. v. Peter de ßeres und dümmeres Elend ward nicht erlebt.“ Mendelssohn, Frankfurt a. M. 2003, S. 289f. u. 292.

26 seine Kinder. Nicht Aussterben oder nur Staates im Geiste der gegenseitigen und dem 18. August 1938 vollzogenen Fortpflanzung, sondern Höherzüchtung Achtung, des Friedens und der mensch- 68 Zahlungsvorgänge lückenlos rekons- verlangt der göttliche Wille vom Men- lichen Wohlfahrt“85 zu wirken. truiert, die über die deutsche Gesandt- schen.“81 Natürlich bildeten solche öffentlichen schaft abgewickelt wurden.88 Siebtens war für Henlein die Erziehung Erklärungen Henleins einen Akt der Die Höhe der den Henlein-Faschisten auf der (männlichen) Jugend zur Wehr- Heuchelei. Allerdings demonstrierte diesem Wege zur Verfügung gestellten haftigkeit, ja zur Militanz, ein überaus eine zeitweilig auch öffentlich ausge- Gelder reichten von 4.300 Kronen am 3. wichtiges Anliegen. Er konzipierte ent- tragene Polemik mit der von Goebbels Oktober 1936, die für die Tätigkeit deut- sprechende, sehr detaillierte Erzie- gelenkten Nazi-Presse86, dass der „Füh- scher Studenten in Prag bestimmt wa- hungspläne.82 Letztlich ginge es – so rer“ der Sudetendeutschen Partei noch ren, bis zu 566.000 Kronen am 31. Mai der „Führer“ der Sudetendeutschen – nicht vollständig geneigt war, den politi- 1937, die an den schon erwähnten Stell- um die Herausbildung „einer einigen schen Anweisungen aus Berlin zu wol- vertreter Henleins, Karl Hermann Frank, heldischen Jugend“83. Und weiter: „Wir len. Dies sollte sich jedoch 1937/38 än- für die Finanzierung der Aktivitäten der sind vor allem ein Männerbund. Die Er- dern. Mit der Entscheidung Hitlers am SdP ausgezahlt wurden. Insgesamt sind ziehung zum Manne, zum Menschen mit 5. November 1937, die Wehrmacht sol- über die deutsche Gesandtschaft im ge- heldischer Gesinnung, in unserer Zeit le einen Angriffskrieg gegen die Tsche- nannten Zeitraum etwa 9,1 Millionen der Krämer- und Knechtseelen, das ist choslowakei vorbereiten („Fall Grün“), Kronen in die Kassen der Sudetendeut- unser erstes und höchstes Ziel. Diese wurden die SdP und Henlein jetzt unein- schen Partei geflossen. Das entsprach – Erziehung beginnt beim Knaben.“84 geschränkt zu Erfüllungsgehilfen Nazi- legen wir den damaligen Umtauschkurs Die Parallelen zur „Hitler-Jugend“ im Na- deutschlands.87 Wie noch zu zeigen sein zugrunde – einer Summe von ungefähr zi-Regime sind unübersehbar. wird, kulminierte diese Entwicklung mit 1 Million Reichsmark.89 Zu diesen seit Betrachtet man die Grundpositionen der von Henlein im September 1938 dem Frühjahr 1936 registrierten Über- des Weltbildes eines Konrad Henlein, veröffentlichten Proklamation „Wir wol- weisungen sind natürlich noch die Gel- so ergab sich eine große Schnittmen- len heim ins Reich!“ der zu addieren, die bereits zuvor, seit ge mit der Ideenwelt der deutschen Fa- Mit der Konstituierung der SdP und ih- der Gründung der SdP, in deren Kassen schisten. Allein der Rassismus schien rem Aufstieg zur mit großem Abstand gespült worden waren. Dies betraf vor in seinen öffentlichen Verlautbarungen mitglieder- und wählerstärksten Par- allem die Finanzierung der Parlaments- nicht so sehr im Mittelpunkt zu stehen, tei unter den Sudetendeutschen waren wahlen im Mai 1935, an deren erfolg- wie dies bei seinen Gesinnungsbrüdern die notwendigen Voraussetzungen vor- reichen Ausgang für die Sudetendeut- im Nazireich der Fall war. In diesem Zu- handen, um die CSR von innen „sturm- sche Partei die maßgeblichen Stellen im sammenhang muss allerdings noch ein- reif“ zu machen und Anlässe zu konstru- „Dritten Reich“ verständlicherweise ein mal daran erinnert werden, dass Juden ieren, die eine militärische Aggression großes Interesse besaßen. Deshalb war die Mitgliedschaft in den Turnerbünden von Seiten des deutschen Faschismus es nicht erstaunlich, dass Henlein für bereits seit Jahrzehnten verwehr wor- legitimieren sollten. diesen Zweck 331.711,30 Reichsmark den war. Die Anschauung, es handle Doch die aufwendige Infrastruktur der zur Verfügung gestellt wurden, eine für sich bei ihnen um „minderwertige“ Indi- SdP, ihre weit gefächerte Agitation, damalige Verhältnisse gewaltige Sum- viduen, mit denen gesellschaftliche Kon- nicht nur in Wahlkämpfen, ihre zahlrei- me, die reichlich Rendite für den spen- takte nach Möglichkeit zu vermeiden chen Publikationen, darunter ihre Par- dablen Geber abwerfen sollte.90 „Es ist seien, darf schon deshalb als eine seit teizeitung „Die Zeit“, nicht zuletzt auch wohl sicher“, schreibt Walter Brand, ei- langem verinnerlichte Anschauung Hen- der aufwendige Lebensstil Henleins, er- ner der engsten Vertrauten Henleins, leins und seiner Anhänger unterstellt forderten groß dimensionierte finanzi- „dass ohne Geld aus dem Reich es un- werden. Konrad Henlein als einen Fa- elle Ressourcen, die sie außerstande möglich gewesen wäre, diesen Wahl- schisten zu bezeichnen – das erscheint war, selbst zu erwirtschaften. Wenden kampf durchzustehen.“91 allerdings nach der Lektüre seiner vor wir uns an dieser Stelle der Frage zu, Zu diesem Zahlungsvorgang erschließt dem 1. Oktober 1938 verfassten Re- wo die Quellen dieser Finanzmittel ent- sich in den Akten des Auswärtigen Am- den und Schriften eine durchaus zutref- sprangen und auf welchen verschlunge- tes übrigens ein interessantes Detail, fende Bezeichnung zu sein. Zu berück- nen Wegen sie an die jeweiligen Adres- das Kucera in seiner Studie unerwähnt sichtigen ist in diesem Zusammenhang saten gelangten. lässt. Mehr als die Hälfte der genann- stets, dass die tschechoslowakischen ten Summe, nämlich 185.000 Reichs- Strafverfolgungsorgane offen und ag- Die geheime Finanzierung mark, waren von deutschen Firmen in gressiv formulierte Bekundungen von der Sudetendeutschen Partei der Tschechoslowakei bereits an die Rassismus und Antisemitismus, vom Ir- durch den deutschen Faschismus SdP „verauslagt“ worden. Für diesen redentismus zu schweigen, zum Anlass Die finanziellen Zuwendungen, die aus Betrag hatte zunächst der „Verband für genommen hätten, mit Repressionen unterschiedlichen Quellen und auf zum das Deutschtum im Ausland“ (VDA) eine gegen die Sudetendeutsche Partei und Teil verschlungenen Wegen die Sude- „unwiderrufliche Bürgschaft“ übernom- Henlein zu reagieren. tendeutsche Partei erreichten, können men. „Wir haben uns“, so teilte diese In der praktischen Politik taktierte der als relativ gut erforscht gelten. In den umtriebige Organisation dem Auswär- „Führer“ der SdP allerdings nach wie vor. Geheimakten des Auswärtigen Amtes tigen Amt in einem Schreiben vom 29. So versäumte es Henlein nach seinem sind eine Fülle von Belegen überliefert, Mai 1935 mit, „unter Mitbürgschaft der sensationellen Wahlerfolg im Mai 1935 die uns Aufschluss über die Höhe der Deutschen Bank und Discontogesell- nicht, ein „Ergebenheitstelegramm“ an einzelnen Zahlungen sowie die jeweili- schaft verpflichtet, diesen Betrag bis den Staatspräsidenten Tomas Masa- gen Überbringer und Empfänger geben. zum 10. August d. Js. in der Tschecho- ryk zu richten, in dem er versicherte, 1999 publizierte der tschechische His- slowakei in Kronen zu erstatten.“92 „für die Sicherung eines harmonischen toriker Jaroslav Kucera eine Studie, in Eine Quelle von Misshelligkeiten zwi- Zusammenlebens der Völker unseres der er die zwischen dem 7. Mai 1936 schen der Sudetendeutschen Partei und

27 ihren Finanziers in Nazi-Deutschland be- deren Strukturen (jetzt legalisiert inner- oben angeführte Bürgschaft der Deut- traf die Finanzierung ihrer Parteizeitung, halb der SdP) offensichtlich noch intakt schen Bank, für die im Wahlkampf der „Die Zeit“. Die Auflage dieses Journals, waren und den dort zu unterstützenden SdP entstandenen Kosten, ist ein Hin- als dessen Chefredakteur übrigens bis Personen Geld auszahlen: „Zunächst weis, dem weiter nachzugehen wäre. Es zum Januar 1936 Walter Brand amtier- erhielt der betr. Herr 8.036 Kronen als kommt hinzu, dass später, am Vorabend te, der strategische Kopf des „Kame- persönliche Spende des Herrn Reichs- der Aggression Hitlerdeutschlands ge- radschaftsbundes“ und „Hauptberater kanzlers für die Gattin des verstorbenen gen die CSR, die I.G. Farbenindust- Henleins“ (Ronald M. Smelser), erreich- Abgeordneten Knirsch97 sowie 30.000 rie AG über die Nationalsozialistische te zu keiner Zeit die geplante Größen- Kronen als Januarrate für die Unter- Volkswohlfahrt dem Sudetendeutschen ordnung.93 Deshalb wurden zwei Spe- stützung notleidender Mitglieder und Hilfswerk und ausdrücklich auch dem zialisten der Buchprüfungsgesellschaft Familien der Partei. Des weiteren wur- terroristischen Sudetendeutschen Frei- „Cura“ mit der Analyse des Geschäfts- de ihm mitgeteilt, dass die vorgeschla- korps am 22. September 1938 immer- gebarens dieser Zeitung beauftragt. Im genen Subventionsbeträge in Höhe von hin 100.000 Reichsmark zukommen Ergebnis dieser Prüfung flossen dann 50.000 Kronen für Frau Knirsch, die für ließ.99 nicht die von der SdP ursprünglich be- die nächsten Monate laufende Unter- Außerdem ist zu fragen, ob und in wel- antragten 500.000 Reichsmark in die stützung von je 30.000 Kronen sowie chem Maße Geld auch von einzelnen Kassen des Verlages der „Zeit“, aber die Verteidigungskosten für die politi- Parteigliederungen unmittelbar in die immerhin konnte das Blatt mit Hilfe schen Prozesse in der vorgeschlagenen Tschechoslowakei floss. Da zum Teil, der von Deutschland aus überwiesenen Höhe von 180.000 Kronen bewilligt ungeachtet der dagegen gerichteten 250.000 Reichsmark sein weiteres Er- würden.“ Strafandrohungen der tschechoslowa- scheinen sicherstellen.94 Das Auswärtige Amt seinerseits hatte kischen Behörden, recht intensive Be- Eine spezielle Facette finanzieller Zu- bereits am 19. Dezember 1933 in ei- ziehungen zwischen der SdP und Or- wendungen aus Deutschland stellte ner Ressortbesprechung mit Vertretern ganisationen der NSDAP in Grenznähe die Unterstützung von „in Not gerate- des Reichsministeriums für Volksaufklä- existierten, kann dies nicht ausge- nen Sudetendeutschen“ dar, worunter rung und Propaganda und des Reichs- schlossen werden. Auch die Gewährung natürlich sudetendeutsche Faschisten ministeriums des Innern zugesagt, aus geldwerter Leistungen (z. B. Fahrzeuge, gemeint waren, die z. B. wegen gesetz- eigenen Mitteln bis zu 30.000 Reichs- Kommunikationsmittel, Druckapparate) widriger Handlungen unter Anklage stan- mark für die „Finanzierung der Verteidi- gehört in diesen Zusammenhang. den. Adolf Hitler persönlich hatte seinen gung der gegen die sudetendeutschen Übrigens hatte Konrad Henlein ein be- Staatssekretär Lammers im Dezember oder reichsdeutschen Nationalsozia- sonders schönes Geschenk von der 1933 damit betraut, dem Reichsaußen- listen in der Tschechoslowakei ange- Firma „Horch“ erhalten, der Vorgänge- minister von Neurath mitzuteilen, dass strengten politischen Prozesse“ zur Ver- rin des heute zum VW-Konzern gehö- „innerhalb Ihres Geschäftsbereiches fügung zu stellen und darüber hinaus renden Automobilproduzenten „Audi“. alles geschieht, um unter Wahrung der einmalig 10.000 Reichsmark an die Ge- Der stets gut informierten Tageszei- aus außenpolitischen Gründen gebote- sandtschaft in Prag zu überweisen, „zur tung „Prager Presse“ zufolge habe das nen Vorsicht der Notlage der Sudeten- sofortigen Linderung dringendster Not- genannte Unternehmen Henlein eine deutschen Nationalsozialistischen Par- fälle“98. In den folgenden sechs Mona- Luxuslimousine mit einem Achtzylin- tei im allgemeinen (die zum Zeitpunkt ten würden jeweils 5.000 Reichsmark der-Motor und fünfeinhalb Liter Hub- dieses Schreibens bereits verboten wor- zur Verfügung stehen, die über abso- raum „überlassen“. Die Zeitung ahn- den war – R. Z.) und der unter Anklage lut zuverlässige Vertrauensleute an die te wohl nicht, wie nah sie der Realität oder Verfolgung stehenden Mitglieder Empfänger geraten sollten. In diesem war, als sie schrieb: „Nächstens lässt im besonderen abzuhelfen. Der Herr Zusammenhang ist der bei dieser in- er sich vom Papierkartell in Deutsch- Reichskanzler bringt dem Schicksal der ter-ministeriellen Zusammenkunft ver- land das Papier für die Presse und die sudetendeutschen Volksgenossen seine einbarte Beschluss von Interesse, dass Flugblätter zahlen, von dem Textilkar- wärmste Anteilnahme entgegen.“95 bei der Auswahl dieser Vertrauensleute tell die Uniformen seiner Angestellten, Der Umfang und die Logistik dieser Mitglieder „des Kameradschaftsbundes vom Möbelkartell die Einrichtung seiner „Hilfsmaßnahmen“ stellten ein Problem von vornherein als unzuverlässig auszu- Kanzlei und von der Reichsbank die Ga- dar, zumal, wenn die deutsche Gesandt- schließen“ seien. Weiter hieß es: „Die ge für seine Sekretäre.“100 schaft in Prag involviert werden soll- Unterstützungsgelder, die ausnahms- Zu guter letzt: Wie gelangte nun das te. Falls die tschechoslowakischen Be- weise und unter Zurückstellung aller Be- Geld von Deutschland in die CSR und hörden illegale Zahlungsströme von denken durch den diplomatischen Ku- wer empfing es dort? Hierzu haben wir Deutschland in die CSR zur Finanzie- rier der Gesandtschaft zu leiten sind, bereits einige Hinweise gegeben. In der rung sudetendeutscher Aktivitäten hät- müssen von den Vertrauensleuten in Regel wurden von der Reichsbank in ten nachvollziehen können, wäre die eigener Verantwortung ohne schriftli- Berlin tschechoslowakische Kronen zur diplomatische Immunität der Gesandt- che Anweisungen oder Belege verwaltet Verfügung gestellt, die dann durch einen schaft gefährdet gewesen und die deut- werden.“ diplomatischen Kurier dem deutschen sche Außenpolitik in schwerwiegender Die Beispiele für die geheimen Geld- Gesandten in Prag, Walter Koch, aus- Weise kompromittiert worden. Wal- Transfers aus dem faschistischen „Drit- gehändigt wurden, der sie dann an Ver- ter Koch, ein erfahrener Diplomat, be- ten Reich“ in die CSR ließen sich weiter trauenspersonen der SdP weiter leite- sprach mit dem von Berlin nach Prag vermehren. Wir wollen an dieser Stelle te. Als Empfänger traten dabei u. a. Karl gereisten Gesandtschaftsrat Hüffer die nur noch darauf hinweisen, dass die Un- Hermann Frank, der Stellvertreter Hen- zu praktizierenden Verfahrensweisen.96 terstützungen durch deutsche Unterneh- leins, der Rechtsanwalt Anton Kreißlr, Eine in den Quellen namentlich nicht men, seien sie in der Tschechoslowakei, Fritz Köllner, Abgeordneter des Tsche- genannte Persönlichkeit sollte die Kon- seien sie in Deutschland ansässig gewe- choslowakischen Parlamentes und Or- takte zur verbotenen DNSAP herstellen, sen, noch der Aufhellung bedürfen. Die ganisationsleiter der SdP sowie Rudolf

28 Meckel, der „Führer“ der faschistischen zen und zum Kriege führen. Blitzartiges rung als „unerfüllbar“ gelten mussten: Studenten in Prag, in Erscheinung.101 Handeln auf Grund eines Zwischenfalls besonders eine Realisierung der „Besei- Nicht immer wurde Bargeld übermittelt. (z. B. Ermordung des deutschen Ge- tigung des dem Sudetendeutschtums In seltenen Fällen übergab der deutsche sandten im Anschluss an eine deutsch- seit dem Jahr 1918 zugefügten Unrechts Gesandte auch Wertpapiere an den feindliche Demonstration).“108 Und und Wiedergutmachung der ihm durch Empfänger der Sudetendeutschen Par- noch einmal Hitler, diesmal am 30. Mai dieses Unrecht entstandenen Schäden“ tei, die aus den Beständen der Reich- 1938: „Es ist mein unabänderlicher Be- sowie die „volle Freiheit des Bekennt- bank stammten. So wurden im Mai/ schluss, die Tschechoslowakei in abseh- nisses zum deutschen Volkstum und Juni 1937 festverzinsliche Wertpapiere barer Zeit durch eine militärische Aktion zur deutschen Weltanschauung“ – wo- von Unternehmen, die in der Tschecho- zu zerschlagen. (…) Eine unabwendba- mit nichts anderes als der Hitlerfaschis- slowakei ansässig waren, an Karl Her- re Entwicklung der Zustände innerhalb mus gemeint war – mussten, neben der mann Frank ausgehändigt. Der addier- der Tschechoslowakei oder sonstige Forderung, dass in deutschen Gebieten te Nennwert dieser Obligationen betrug politische Ereignisse in Europa, die ei- nur Deutsche dem öffentlichen Dienst ca. 64.000 Kronen, der Zinssatz jeweils ne überraschend günstige, vielleicht nie angehören sollten, für jede tschecho- 3 bzw. 4 Prozent.102 wiederkehrende Gelegenheit schaffen, slowakische Regierung von vornherein Finanzielle Zuwendungen vom Auswär- können mich zu frühzeitigem Handeln indiskutabel sein.11 2 Im Kern liefen die tigen Amt erhielt auch das von Friedrich veranlassen.“109 „Karlsbader Forderungen“ auf einen Zu- Bürger in Berlin geleitete Büro Henleins. Der Weg bis zum Einmarsch in die sude- stand hinaus, in dem die sudetendeut- An ihn flossen seit 1937 nicht weni- tendeutsche Gebiete im Oktober 1938 schen Gebiete nicht mehr von Prag ger als 3.000 Reichsmark monatlich.103 ist bekannt: Nachdem am 12. März aus regiert werden könnten, sondern Möglicherweise gelangte ein Teil dieses 1938 der so genannte Anschluss Öster- sie de facto ein eigenständiges staats- Geldes sowie finanzielle Mittel aus an- reichs an das „Dritte Reich“ vollzogen und wohl auch völkerrechtliches Sub- deren Quellen an die SdP in der Tsche- worden war, ging Hitler zielstrebig dar- jekt darstellen würden. Henlein ließ in choslowakei, denn Bürger übergab dem an, den Überfall auf die Tschechoslowa- Ansprachen, die er am 1. Mai 1938 in Legationsrat Altenburg gelegentlich ver- kei vorzubereiten. Reichenberg, Teschen und Aussig hielt, siegelte Briefe bzw. Päckchen mit dem Nur wenige Tage später, am 28. März, keinen Zweifel an der Qualität seiner Adressaten „Dietrich“, die über die empfing Hitler Konrad Henlein und sei- Forderungen, die er als Forderungen be- deutsche Gesandtschaft in Prag an Karl nen Stellvertreter Karl Hermann Frank zeichnete, „die ich als die einzig mögli- Hermann Frank weitergeleitet wurden. zu einem fast dreistündigen Gespräch. che und als die gerade noch zulängliche Sehr wahrscheinlich beinhalteten diese Hier wurden die entscheidenden Wei- Grundlage betrachte, auf der das nati- Umschläge Bargeld.104 chen für die Politik der Sudetendeut- onale Problem einer Lösung zugeführt Wir brechen an dieser Stelle die Darstel- schen Partei in den kommenden Mo- werden könnte“. In dankenswerter Of- lung von Beispielen ab, die das Räder- naten gestellt. Hitler stärkte zunächst fenheit gab er dann unter dem Jubel der werk der Finanzierung der SdP durch Henlein den Rücken, indem er erklär- Anwesenden die folgende Erklärung ab: den deutschen Faschismus veranschau- te, „er wisse, wie beliebt dieser sei und „Ich konnte es nicht mehr länger ertra- lichen. Eines sollte sich in der Krise des dass er der berechtigte Führer des Su- gen, unsere Gesinnung länger zu ver- Jahres 1938 erweisen: Die finanzielle detendeutschtums wäre und auf Grund schweigen. Wir sind Deutsche. Und weil Alimentierung der Sudetendeutschen seiner Beliebtheit und Volkstümlichkeit wir Deutsche sind, bekennen wir uns Partei sollte für Hitlerdeutschland eine die Dinge meistern würde. Auf den Ein- zur deutschen, das heißt zur nationalso- hohe Rendite erwirtschaften. wand Henleins, dass er, Henlein, nur ein zialistischen Weltanschauung.“11 3 Ersatz sein könne, erwiderte Hitler: ich Von besonderem Interesse war natür- Der „Fall Grün“ – Die Aggression stehe zu Ihnen, Sie sind auch morgen lich die Reaktion Frankreichs und Groß- gegen die CSR wird vorbereitet mein Statthalter.“11 0 britanniens auf den eskalierenden Kon- Die militärische und diplomatische Vor- Hitler und Henlein legten die Strategie flikt um die CSR.11 4 Die Frage lautete bereitung des „Einmarsches“ der Na- fest, mit deren Hilfe die tschechoslowa- also: Waren Frankreich und Großbri- zi-Wehrmacht in die Tschechoslowakei kische Regierung in die Defensive ge- tannien im äußersten Falle bereit, der am 1. Oktober 1938 ist immer wieder drängt werden sollte: „Die Tendenz der Tschechoslowakei militärischen Bei- Gegenstand historischer Studien gewe- Anweisung, die der Führer Henlein ge- stand zu leisten? sen105, so dass es an dieser Stelle nur geben hat, geht dahin, dass von Seiten Alle entsprechenden Hoffnungen, die um eine knappe Skizzierung einiger der der SdP Forderungen auf Selbstverwal- vor allem der mittlerweile als Staats- in diesem Zusammenhang wichtigsten tung und Wiedergutmachung gestellt präsident amtierende Edvard Benesch Entscheidungen und Entwicklungen ge- werden sollen, die für die tschechische gehegt hatte, nicht nur ein Freund und hen kann.106 Regierung unannehmbar sind. (…) Hen- Alliierter, sondern ein Bewunderer fran- Im zweiten Halbjahr 1937 waren die lein hat dem Führer gegenüber seine zösischer demokratischer Traditionen, Würfel für die zielgerichtete Vorberei- Auffassung folgendermaßen zusam- ja der französischen Lebensart, wur- tung einer Aggression gegen die Tsche- mengefasst: Wir müssen also immer so den bitter enttäuscht. „Mourir pour choslowakei gefallen. Die Naziführung viel fordern, dass wir nicht zufrieden ge- Prague?“ – diese Frage wurde negativ formulierte „das Ziel, Österreich anzu- stellt werden können. Diese Auffassung beantwortet. Doch die Kapitulation bei- schließen, den tschechoslowakischen bejahte der Führer.“111 der bürgerlicher Demokratien vor dem Staat zu zerschlagen sowie Böhmen und Nach dieser Marschroute wurde in den deutschen Faschismus hatte sich für Mähren Deutschland anzugliedern“107. darauf folgenden Monaten verfahren. den aufmerksamen Beobachter der po- Mit den Worten Adolf Hitlers am 22. Die Sudetendeutsche Partei präsentier- litischen Szenerie bereits seit dem Früh- April 1938 klang dies so: „Handeln nach te auf ihrem „Volksthing“ in Karlsbad jahr 1938 angekündigt. einer Zeit diplomatischer Auseinander- am 24. April 1938 jene Forderungen, Zweideutige Erklärungen des Premier- setzungen, die sich allmählich zuspit- die für die tschechoslowakische Regie- ministers Chamberlain im Unterhaus11 5 ,

29 mehrere, angeblich von der Regierung Zwei Tage später, am 1. Oktober 1938, der Unterstützung, nicht aber der Initi- initiierte Artikel der meinungsbildenden rückte die Nazi-Wehrmacht in die su- ierung von außen. Keine andere faschis- Londoner „Times“, die Verständnis für detendeutschen Gebiete der CSR ein. tische Partei in Europa hatte, gemessen die Forderungen Henleins signalisier- Sie okkupierte 28.363 Quadratkilome- an der Einwohnerzahl, so viele Mitglie- ten11 6 , nicht zuletzt die Entsendung von ter tschechoslowakischen Territoriums. der wie die SdP, auch nicht die NSDAP. Lord Runciman, der am 3. August 1938 Dort wohnten neben 2,8 Millionen Bür- Eines der für mich interessantesten Er- mit einer aus Diplomaten und Militärs gern deutscher Nationalität allerdings gebnisse bei der Lektüre zahlreicher Ak- zusammengesetzten Delegation in Prag auch ca. 720.000 Einwohner tschechi- ten, vor allem des Auswärtigen Amtes, eintraf und wochenlange Informations- scher bzw. slowakischer Nationalität.120 besteht darin, dass nicht nur die tradi- reisen unternahm, um der britischen Re- Tausende von ihnen, nicht zuletzt Juden, tionell mit Vorsicht und Zurückhaltung gierung einen Vorschlag für die Lösung flüchteten vor der einrückenden Nazi- agierenden Diplomaten, sondern im- des Konfliktes zu unterbreiten („Runci- Wehrmacht und den sie begleitenden mer wieder auch zentrale Parteidienst- man-Mission“)11 7, aber auch die insge- Kommandos von Gestapo und SD. stellen darauf hinwirkten mussten, den samt drei gemeinsamen Beratungen der Dass es zur Einverleibung dieser Gebie- Drang sudetendeutscher Aktivisten zu französischen und der britischen Regie- te in das „Dritte Reich“ kommen konn- bremsen, vorschnell, ohne die notwen- rungen, deren Ergebnis in der Ausübung te, dafür waren die „verdeckten“ und of- digen Vorsichtsmaßnahmen zu beach- von Druck auf die tschechoslowakische fenen Aktionen der Diversion, Sabotage ten und ohne Rücksichtnahme auf die Regierung bestand, den deutschen For- und der sich steigernde Terror von Su- politischer Vorgaben aus Berlin, aber derungen nach groß dimensionierten detendeutschen gegen Einrichtungen auch der eigenen Führung, tätig zu wer- Gebietsabtretungen der CSR zuzustim- des tschechoslowakischen Staates eine den und dabei gegen die Gesetze der men – alles das wies darauf hin, dass wesentliche Voraussetzung. CSR zu verstoßen. es dem deutschen Faschismus wohl Zugespitzt formuliert: Die Mitglied- und gestattet werden würde, sich Teile der Eine „5. Kolonne“? Spionage, Diversion Anhängerschaft der SdP dachte offen- Tschechoslowakei anzueignen, ohne und Terror von Sudetendeutschen sichtlich radikaler als ihre Führung. Aus dabei von London und Paris auf militä- gegen die Tschechoslowakei 1938 diesem Grunde relativieren sich aus rische Gegenwehr zu stoßen. Wenn wir im Folgenden einige Aktivi- meiner Sicht die zweifellos wichtigen Schließlich kam es zu den bekannten täten der „5. Kolonne“ in der CSR im Auseinandersetzungen in der Führung Treffen Hitlers mit dem britischen Pre- Jahre 1938 näher beleuchten, so ist in der Sudetendeutschen Partei, die wei- mierminister Neville Chamberlain in diesem Zusammenhang eine Bemer- ter oben angesprochen worden sind. Berchtesgaden am 15. und 16. Sep- kung von entscheidender Bedeutung. Wichtig war: An der Basis, nicht nur bei tember sowie in Bad Godesberg vom Natürlich kamen die finanziellen Mittel den jungen Mitgliedern und Sympathi- 22. bis 24. September 1938, bei de- und anderen materiellen Ressourcen santen, war man geradezu darauf er- nen der „Führer“ unverblümt mit Krieg für den Kampf gegen die Tschechoslo- picht, endlich „losschlagen“ zu können. drohte, falls es den britischen und fran- wakei aus Hitlerdeutschland. Selbstver- 1938 war dieser Zeitpunkt dann her- zösischen Regierungen nicht gelingen ständlich wurde von dort aus die Schu- angereift. Die Wünsche der Parteimit- sollte, die Tschechoslowakei zu veran- lung der Kader der Sudetendeutschen gliedschaft nach militanten Aktionen lassen, widerstandslos in die von Na- Partei im Sinne der Vermittlung und gegen die verhassten Repräsentanten zideutschland geforderten Gebietab- Verbreitung der faschistischen Ideolo- der Tschechoslowakei und die politi- tretungen einzuwilligen.11 8 Bekanntlich gie in jeder erdenklichen Weise unter- schen Vorgaben aus Berlin und aus der wurde dann bei der kurzfristig einberu- stützt. Aber es ist wichtig festzuhalten: Parteizentrale Henleins waren jetzt de- fenen Münchner Konferenz, die am 29. Die Faschisierung einer wachsenden ckungsgleich. September 1938 stattfand, die Kapitu- Zahl von Sudetendeutschen, am Ende Beginnen wir mit der Frage, welche Or- lation der bürgerlichen Demokratien vor ihrer großen Mehrheit, war ein Prozess ganisationen und Dienststellen aus den Drohungen Hitlers unterzeichnet.11 9 der Selbst-Faschisierung. Er bedurfte Deutschland in der CSR tätig waren, um

Der im britischen Exil lebende österreichische Schriftsteller Stefan Zweig über die Stimmung in London nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens:

„Einmütig jubelten die Zeitungen, an der Börse sprangen neue Technik der bewussten zynischen Amoralität sich auf- die Kurse wild empor, von Deutschland kamen zum ersten baute und dass das neue Deutschland alle im Umgang der Mal seit Jahren wieder freundliche Stimmen, in Frankreich Völker und im Rahmen des Rechts jeweils gültigen Spielre- schlug man vor, Chamberlain ein Denkmal zu errichten. geln umstieß, sobald sie ihm lästig schienen. Aber ach, es war nur das letzte leuchtende Auflodern der Den klar-, den weit denkenden Engländern, die längst al- Flamme, ehe sie endgültig verlischt. len Abenteuern abgesagt, schien es zu unwahrscheinlich, Schon in den nächsten Tagen sickerten die schlimmsten dass dieser Mann, der so rasch, so leicht so viel erreicht, Einzelheiten durch, wie restlos die Kapitulation vor Hitler das Äußerste wagen würde; immer glaubten und hofften gewesen, wie schmählich man die Tschechoslowakei preis- sie, dass er sich vorerst gegen andere – am liebsten gegen gegeben. (…) Russland! – wenden würde, und inzwischen könne man mit Durch demokratische Traditionen dem Recht seit Jahrhun- ihm zu irgendeiner Einigung gelangen.“ derten verschworen, konnten oder wollten die führenden Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Eu- englischen Kreise nicht wahrhaben, dass neben ihnen eine ropäers (1944), Frankfurt a. M. 1995, S. 471ff.

30 Agenten, Informanten und Personal für Durch einen tschechischen Agenten, Mitglieder linker Parteien ausgeforscht. potenzielle Terror-Aktionen zu gewin- der in die Organisation Schindlers ein- Die genaue Zahl deutscher Emigranten nen. An erster Stelle ist die „Abwehr“ zu geschleust worden war, kam es im Juli in der Tschechoslowakei lässt sich nicht nennen.121 Sie operierte vor allem von 1938 zur Hausdurchsuchung, zu seiner präzise ermitteln, da nicht alle amtlich Breslau, Dresden, München und Nürn- Verhaftung und zu Verhören durch die gemeldet waren und manche von ihnen berg aus in die CSR hinein. tschechoslowakische Spionageabwehr nur einen einem zeitweiligen Aufenthalt Einer der herausragenden Agenten der in Brünn, in deren Verlauf er angeblich nahmen, um von der CSR aus in andere „Abwehr“ war der in der mährischen gefoltert worden sei. Ursprünglich zum Länder zu emigrieren. Kleinstadt Zwittau geborene Oskar Tode verurteilt, fiel er unter die Amnes- Bereits am 10. August 1933 meldete Schindler, der später als mutiger Ret- tie vom 7. Oktober – deutsche Truppen die deutsche Gesandtschaft nach Ber- ter zahlreicher Juden bekannt wurde waren wenige Tage zuvor in die sudeten- lin, dass sich zur Zeit etwa 4.000 Emig- und dessen Schicksal vom Regisseur deutsche Gebiete einmarschiert – und ranten in der CSR aufhielten, von denen Steven Spielberg verfilmt worden ist. wurde nach Deutschland abgeschoben. sich je 1.000 in Prag, Karlsbad und in Seine Aktivitäten mögen hier stellver- Am 10. Februar 1939 trat er mit der Mit- Marienbad niedergelassen hätten.128 tretend für die anderer sudetendeut- gliedsnummer 6.421.437 der NSDAP Beispielhaft für die Versuche der Ge- scher Militäragenten dargestellt wer- bei und blieb auch ferner Mitarbeiter stapo, Informationen über Emigranten den.122 Schindler wurde 1935 in Krakau der „Abwehr“ – u. a. in Polen und in der zu sammeln, waren die Vorgehenswei- durch eine Frau für die deutsche Ab- Türkei, wo er innerhalb weniger Wochen sen, die in dem 1937/38 durchgeführ- wehr angeworben. Der außerordent- das im Auftrag der Wehrmacht tätige ten Prozess gegen vier Agenten der lich umtriebige Schindler hatte in der Spionagenetz neu organisierte. deutschen Geheimpolizei zur Sprache Tschechoslowakei seinen Militärdienst Das Ausmaß der gegen die CSR gerich- kamen.129 Zum Vorgang: Helmut Ernst, abgeleistet, wurde 1931 arbeitslos und teten Spionagetätigkeiten für die „Ab- einer der Angeklagten, Mitglied und geriet mehrfach mit dem Gesetz in Kon- wehr“ wird deutlich, wenn man die im Funktionär der NSDAP, war im August flikt. Die deutsche Abwehr erkannte die November 1937 im „Prager Tageblatt“ 1934 in die CSR geflohen, nachdem er organisatorischen Fähigkeiten Schind- veröffentlichte Erklärung des sozialde- einen größeren Geldbetrag unterschla- lers. Er bekam zunächst die Aufgabe zu- mokratischen Justizministers Ivan Dérer gen hatte. Unter nicht näher geklärten gewiesen, in Polen tätige ausländische liest, der zufolge 423 Deutsche, darun- Umständen trat er in den Dienst der Ge- Spione zu identifizieren. 1936/37 er- ter 73 Staatsbürger des „Dritten Rei- stapo und erhielt von ihr den Auftrag, hielt er eine mehrmonatige Ausbildung ches“, wegen Militärverrates in Unter- Informationen über die Sopade – die in Deutschland, um auf seine Tätigkeit suchungshaft säßen.124 im Prager Exil tätige Partei- Organisati- als Leiter der geheimen Abwehr-Stelle Die sich steigernden Aktivitäten der Mi- on der SPD – zu beschaffen. In diesem in Mährisch-Ostrau vorbereitet zu wer- litärspionage gegen die CSR führten Zusammenhang warb er einen gewis- den. Schindler war übrigens 1935 Mit- im Oktober 1936 zu einer vergeblichen sen Peter Ochmann an, einen im Ok- glied der Sudetendeutschen Partei ge- Intervention der deutschen Gesandt- tober 1933 in die Tschechoslowakei worden, es darf angenommen werden, schaft in Prag bei der „Abwehr“ in Ber- emigrierten – wie die Gestapo es for- dass er hier ein weites Feld für Rekru- lin. Im Auftrage des Gesandten Dr. Ei- mulierte – „marxistischen Funktionär“, tierungen vorfand. Das geheime Büro senlohr brachte der Legationssekretär der als Portier und Hausdiener im Büro der deutschen Abwehr richtete Schind- Vogel zur Sprache, dass die diplomati- der sozialdemokratischen Flüchtlings- ler ausgerechnet in einer Villa ein, die sche Vertretung „in gewisser Besorg- hilfe in Prag tätig war. Dadurch war es gegenüber einer Kaserne lag. Es ging nis“ sei: „Sie bittet deswegen … dahin ihm möglich, die Kartothek dieser Or- hier aber nicht nur um die Koordinie- zu wirken, dass die V-Leute eingehend ganisation über Nacht an sich zu neh- rung der Agenten-Tätigkeit gegenüber unterrichtet werden, damit sie Unvor- men und unbemerkt an Ernst weiter zu tschechoslowakischen Militäreinrich- sichtigkeiten, wie sie von den Verhaf- leiten, der die Karteikarten fotografier- tungen, sondern zugleich auch um die teten bei den letzten Verhaftungsfällen te. Beim Versuch, die noch unentwi- Organisierung von Spionage-Aktivitä- begangen sind, vermeiden.“125 ckelten Filme durch eine dritte Person, ten gegenüber Polen und der Sowjetu- Den tschechoslowakischen Strafverfol- den Sudetendeutschen Rudolf Kosseck, nion. gungsbehörden gelang zwar immer wie- nach Deutschland zu verbringen, konn- Seine Ehefrau, Emilie Schindler, die in der die Aufdeckung von Strukturen der te dieser jedoch verhaftet werden. Bei die „Abwehr“-Aktivitäten mit einbezo- deutschen „Abwehr“, das von ihr ge- der Durchsuchung der Wohnungen von gen wurde, schildert in ihren Erinne- flochtene Netz war indes zu groß und zu Oschmann und Kosseck konnten ne- rungen die Arbeit in Mährisch-Ostrau engmaschig, als dass es vollständig hät- ben weiteren Materialien der Sopade wie folgt: „Hier entstand unser Haupt- te zerrissen werden können. und des Flüchtlingskomitees auch Un- quartier, der Treffpunkt von Spionen Neben der „Abwehr“ entfaltete die Ge- terlagen sicher gestellt werden, die Auf- und Spitzeln, wo wir die Nachrichten stapo zahlreiche Aktivitäten in der schlüsse über die Art der Zusammen- sammelten, auswerteten und vor aus- CSR. Ihr ging es nicht zuletzt um die arbeit der genannten Personen mit der ländischen Agenten versteckten. In ei- Aufklärung der Aufenthaltsorte, der Gestapo gestatteten. ner dunklen Ecke des Kleiderschranks Handlungen und Organisationen anti- Vor allem Ochmann war für die Gestapo verwahrten wir eine Pistole, wie sie das faschistischer Emigranten. Der siche- offenbar ein besonders wertvoller Agent. deutsche Heer verwandte, eine stets re Aufenthalt, den sie in der Regel im Kein Geringerer als Werner Best, zu jener geladene Luger. Wir hatten auch Mit- Nachbarland gefunden hatten, war der Zeit SS-Standartenführer und Ministeri- arbeiter, u. a. eine Tschechin … Neben Nazi-Führung stets ein Dorn im Auge.126 aldirigent im Geheimen Staatspolizeiamt meiner täglichen Hausarbeit spielte ich Vor allem die Verbindungen zwischen Berlin, bat deshalb das Auswärtige Amt die Rolle der Telefonistin, nahm Nach- Antifaschisten im „Dritten Reich“ und mit Nachdruck, sich für einen Gefangen- richten entgegen, machte Botengänge in der CSR sollten ermittelt werden.127 austausch und damit die baldige Freilas- und erledigte die Schreibarbeiten.“123 Zugleich wurden die sudetendeutschen sung dieses zu sechs Jahren Zuchthaus

31 verurteilten Spitzen-Agenten der Gesta- damals noch nicht einmal dreißigjährige gen der Gestapo, vor der Einweisung in po einzusetzen, denn er habe auf „nach- Chef des „Auslands-SD“, koordinierte Zuchthäuser und Konzentrationslager richtlichem Gebiet“ wertvolle Dienste für die Aktivitäten des Sicherheitsdienstes gefunden hatten. Die große Masse der Deutschland geleistet. innerhalb der Sudetendeutschen Partei. Sudetendeutschen fühlte sich nicht mit Wenn es auch den tschechoslowaki- In seinen Erinnerungen schreibt er hier- den verfolgten Deutschen aus dem Drit- schen Polizeibehörden immer wieder zu: „Durch eine Spezialabteilung wurde ten Reich solidarisch, sondern mit ihren gelang, einzelne Gestapo-Agenten zu Heydrich laufend über die Haltung der Verfolgern. enttarnen, so konnte jedoch nicht ver- Sudetendeutschen Partei sowie Konrad hindert werden, dass der faschistischen Henleins unterrichtet.“134 Das Sudetendeutsche Freikorps – Geheimpolizei wertvolle Informationen Zu den Mitarbeitern und Informanten Terrorinstrument des deutschen übermittelt werden konnten. So ge- des SD zählten u. a. Otto Liebl, seit 1922 Faschismus langten z. B. im Juli 1937 ein Verzeich- Mitglied und Kreisleiter der verbotenen Im Verlaufe des Jahres 1938 eskalier- nis über sämtliche Mitglieder des sozi- DNSAP, später als Mitglied der SdP Ab- ten in den sudetendeutschen Gebie- aldemokratischen Mieterschutzvereins geordneter des tschechoslowakischen ten der CSR die Auseinandersetzungen in Eger in die Hände der Staatspolizei- Parlamentes; Rudolf Kaspar, Vorsitzen- mit den Repräsentanten des tschecho- leitstelle München, während im März der des „Gewerkschaftsverbandes deut- slowakischen Staates.138 Zeitgleich mit 1938 „von einem V-Mann“ die Liste der scher Arbeiter“ und Bevollmächtigter der von Berlin aus angeordneten Radi- sozialdemokratischen Parteimitglieder der Partei für Arbeiter- und Angestell- kalisierung der politischen Forderun- in der Stadt und im Bezirk Eger an die tenfragen; Rudolf Meckel, „Führer“ der gen der SdP initiierte Joseph Goebbels Staatspolizeistelle in Regensburg weiter Studentenschaft an der Deutschen Uni- eine gegen die Tschechoslowakei und geleitet werden konnte.130 Bei dem er- versität Prag.135 „Es ist nicht mehr mög- ihren Präsidenten Edvard Benes gerich- wähnten V-Mann muss es sich um ein lich“, schreibt Ronald Smelser, „die tete, von blankem Hass geprägte Pres- Mitglied des Parteisekretariats in Eger genaue Zahl der SD-Agenten in der sude- se-Kampagne.139 gehandelt haben, wie aus dem Schrei- tendeutschen Politik zu rekonstruieren, Vor allem wurden immer häufiger ge- ben der Regensburger Gestapo zwei- aber mindestens 65 Personen wurden waltsame Angriffe eines sudetendeut- felsfrei hervorgeht. V-Leute der Gesta- nach dem Anschluss des Sudetenlandes schen Mobs gegen die Repräsentanten po beschafften 1937 auch die Namen offiziell in den Sicherheitsdienst über- des tschechoslowakischen Staates or- der Kuriere, die für die Sopade-Führung nommen, offenbar für wichtige geleis- ganisiert, nicht zuletzt gegen Polizisten. Informationen und Materialien von und tete Dienste. Diese Zahl war vermutlich Es kam zu ersten gewalttätigen, auch nach Deutschland schafften.131 Diese nur die Spitze des Eisberges.“136 blutigen Auseinandersetzungen. Im Au- und andere Listen mit den Namen von Ebenso wie die „Abwehr“ und die Ge- gust und September des Jahres 1938 Personen, die in Opposition zur Politik stapo besaß der SD seine spezifische provozierten die militanten Kader der der Sudetendeutschen Partei standen, Funktion beim Kampf gegen die CSR. SdP bürgerkriegsähnliche Zustände.140 dienten dann im Oktober 1938 als Pro- Neben der Einflussnahme auf die Füh- Die Regierung der CSR war gezwun- skriptionslisten für die Gestapo und ihre rung der SdP im Sinne der Interessen gen, am 13. September das Standrecht willigen sudetendeutschen Helfer. Nazideutschlands war der Sicherheits- in acht Landkreisen, darunter Karlsbad Neben der „Abwehr“ und der Gesta- dienst auch mit der Formulierung von und Eger, zu verhängen. Diese Maßnah- po war auch der Sicherheitsdienst der Analysen über die Lage in der CSR be- me hatte ein Verbot von Versammlun- SS (SD) in der Tschechoslowakei über- fasst. Das in den Akten des Reichs- gen, die Beschlagnahme von Publika- aus aktiv. Er war besonders darum be- sicherheitshauptamtes überlieferte ge- tionen der SdP sowie die Entsendung müht, innerhalb der Sudetendeutschen heime „Leitheft – Die Tschechoslowakei von Militär- und Polizeieinheiten in die Partei diejenigen Kader zu unterstützen und ihre Presse“ vom März 1937 gehört genannten Gebiete zur Folge.141 Tausen- und zu alimentieren, die auf die Ideo- in diesen Zusammenhang.137 Detailliert de Tschechen, darunter nicht wenige Ju- logie und Politik des Hitlerfaschismus werden u. a. die wichtigsten Zeitungen, den, flohen aus den sudetendeutschen eingeschworen waren und sich im be- einschließlich der Auflagenhöhe, der Gebieten aus Furcht vor weiteren Über- reits weiter oben genannten „Aufbruch- Organisation und personellen Zusam- griffen des aufgeputschten Mobs. Der Kreis“ organisiert hatten. Jene Kräfte mensetzung ihrer jeweiligen Redaktion, deutsche Konsul aus Eger berichtete in der Führung der SdP, so lesen wir in ihrer grundsätzlichen politischen Aus- hierzu der Gesandtschaft in Prag: „Der den Memoiren von Walter Brand, hät- richtung, und ihrer Haltung zur deut- Auszug der tschechischen Familien und ten nicht nur vom SD Unterstützung schen Politik dargestellt. ihres Umzugsgutes ist immer noch im erhalten, sondern sie selbst, „und dar- Die Aktivitäten von „Abwehr“, Gesta- Gange. Die hochbeladenen, von schwer über gibt es heute auch keinen Zweifel po und SD konnten hier nur skizziert bewaffneten Soldaten begleiteten Wa- mehr“132, hätten ihrerseits „ausgiebig“ werden. Wichtig erscheint mir festzu- gen bieten einen geradezu grotesken für den Sicherheitsdienst gearbeitet. Ei- halten, dass sie ihre umfangreiche Tä- Anblick.“142 ne entsprechende Ausarbeitung des SD tigkeit nur deshalb realisieren konnten, Auch in ihrem militanten Kampf gegen vom Juli 1936, „Die Sudetendeutsche weil sich in großer Zahl Sudetendeut- die CSR konnte sich die Sudetendeut- Partei“133, die nur auf der Grundlage sche freiwillig und aus vorwiegend sche Partei eines immer größer werden- intimster Kenntnisse der in ihren Füh- weltanschaulichen Gründen, bereit er- den Rückhaltes in der Bevölkerung si- rungszirkeln betriebenen Debatten und klärten, Hoch- und Landesverrat zu be- cher sein. Der Bund der Landwirte, die der dort herrschenden Kräfteverhältnis- gehen. Sie taten dies nicht einfach als Deutsche Gewerbepartei und die Deut- sen formuliert werden konnte, demons- „Deutsche“ für „Deutschland“, sondern sche Christlichsoziale Volkspartei lös- triert die offenbar partielle Steuerung als Faschisten für das faschistische ten sich am 22. bzw. 24. März 1938 von Führungskadern der SdP durch den Deutschland – nicht zuletzt gegen ihre auf und überführten ihre Organisatio- von Reinhard Heydrich geleiteten Sicher- exilierten Landsleute, die in der Tsche- nen in die Henlein-Partei.143 Der Frak- heitsdienst. Walter Schellenberg, der choslowakei Schutz vor den Verfolgun- tionsvorsitzende der SdP im tschecho-

32 slowakischen Abgeordnetenhaus, Ernst politisch besonders zuverlässigen Ka- ge zuvor mit anderen Mitgliedern der Kundt, erklärte hierzu triumphierend dern so genannte K-Gruppen auf, die am Parteileitung, unter ihnen Karl Her- und durchaus zutreffend: „Die Legitima- „Tag X“ in Aktion treten sollten und trai- mann Frank, nach Deutschland geflohe- tion der SdP, für das gesamte deutsche nierte sie für Sabotage-Einsätze gegen ne Konrad Henlein rief über den Rund- Sudetendeutschtum zu sprechen, ist für tschechoslowakische Militäreinrichtun- funk zur Bildung dieser Miliz auf. Fast das gesamte In- und Ausland endgültig gen und die Verkehrs-Infrastruktur. 35.000 Sudetendeutsche gehörten klar geworden.“144 Am bedeutsamsten war jedoch die Kon- schließlich dieser in grenznahen Regio- Die Resultate der Gemeindewahlen im stituierung eines „Sudetendeutschen nen Sachsens, Schlesiens und Bayerns Mai bzw. Juni 1938 bestätigten diese Freikorps“ (SFK), das sich in erster Li- aufgestellten Bürgerkriegsarmee an, die Einschätzung: Weit mehr als 80 Prozent nie aus wehrfähigen Männer zusam- aus 41 Bataillonen bestand, die wieder- der Deutschen in der Tschechoslowa- mensetzte, die sich aus der CSR nach um den 4 Freikorps-Gruppen Schlesien, kei votierten bei freien Wahlen für die Deutschland abgesetzt hatten. Unter Sachsen, Bayerische Osmark und Al- faschistische Henlein-Partei. In einigen den „Flüchtlingen“, die vor den bürger- penland/Donau zugeordnet waren. Ih- Städten und Ortschaften errang die Su- kriegsartigen Auseinandersetzungen in ren Eid leisteten die Freikorps-Angehö- detendeutsche Partei sogar fast alle der ihrer Heimat geflohen waren bzw. die rigen Adolf Hitler persönlich.149 abgegebenen Stimmen, wie zum Bei- von vornherein im Sinn hatten, vom Ter- Der „Deutsche Schnelldienst“, eine ur- spiel in Iglau, wo sich 96,8 Prozent der ritorium Deutschlands aus Terror- und sprünglich dem „Stahlhelm-Bund der Wählerinnen und Wähler zu ihren Guns- Sabotageakte gegen staatliche Einrich- Frontsoldaten“ nahe stehende Pres- ten entschieden.145 tungen der Tschechoslowakei – Poli- se-Korrespondenz, kommentierte die Zusätzlich stimuliert wurde die Stim- zei- und Zollstationen, Rathäuser, Ka- Gründung des SFK mit folgenden Wor- mung in den sudetendeutschen Gebie- sernen – zu verüben, fand sich das ten: „Das sudetendeutsche Freikorps ten durch den „Anschluss“ Österreichs notwenige Potenzial für die Aufstellung ist gebildet und bereit, sofort zu mar- am 12. März 1938, der großen Jubel und des „Freikorps“. schieren. Es handelt sich also nur noch die Erwartung unter der Masse der Su- Die Geschichte des Freikorps ist durch um die Handbewegung zum Druck- detendeutschen auslöste, die faschis- eine 1993 publizierte Studie von Wer- knopf, der die deutsche Heeresmaschi- tische Wehrmacht werde sie in kurzer ner Röhr, die vor allem auf Archivstu- nerie in Bewegung setzt, um das irrsin- Frist „befreien“. dien des Autors in der Tschechischen nig flackernde Licht der Tschechenwut Schließlich formulierte Konrad Henlein Republik basiert, gut erforscht.147 Es endgültig auszulöschen. (…) Wenn in am 15. September 1938 seinen „Aufruf kommt hinzu, dass die 1970 veröffent- der allerletzten Minute die isoliert ste- an die sudetendeutsche Bevölkerung“, lichten Tagebücher des „Abwehr“-Offi- henden Tschechen sich nicht besinnen, der in der Forderung gipfelte: „Wir wol- ziers Groscurth interessante Einblicke werden sie als schädliches Gewürm zer- len als freie deutsche Menschen le- in den Aufbau und die „Infrastruktur“ malmt.“150 ben! Wir wollen wieder Friede und Ar- dieser Miliz gestatten, aber auch die Kommandeur des SFK war Konrad Hen- beit in unserer Heimat! Wir wollen heim Auseinandersetzungen diverser Instan- lein, Stabschef wurde Anton Pfrogner, ins Reich!“146 Um diese Parole gewalt- zen des Nazi-Regimes zur Bewaffnung, seit 1930 Mitglied der im Oktober 1933 sam zu realisieren, war bereits im Mai zur Organisation und zu den Einsätzen verbotenen Deutschen Nationalpar- von der SdP eine SA-ähnliche, milizar- des „Sudetendeutschen Freikorps“ ver- tei, seit März 1935 Mitglied der SdP; tige Organisation geschaffen worden: deutlichen.148 im gleichen Jahr wurde er zum Mitglied der „Freiwillige deutsche Schutzdienst“ Das SFK wurde am 17. September 1938 des tschechoslowakischen Parlamen- (FS). Zeitgleich stellte die „Abwehr“ aus aus der Taufe gehoben. Der drei Ta- tes gewählt. Pfrogner verfügte über ein-

Klaus Mann in seinen Erinnerungen über das Münchner Abkommen

„Den Anfang der ‚München’-Krise erlebte ich noch in Euro- als irgendeinen Faschismus. Diese Hitlersche ‚Neue Ord- pa, das Ende in New York. Schlimme Tage, die schlimmsten nung’, nicht so ganz salonfähig, wie sie in mancher Hin- der Epoche; Schandtage, Schmerzenstage: Man möchte ih- sicht scheinen mochte, konnte sie nicht trotz allem nütz- resgleichen nicht noch einmal erleben müssen. lich sein als solides ‚bulwark against Bolshevism’? Mit den In Paris, wo ich die Woche vom 10. bis 17. September ver- Nazis gegen die Roten! Das gleiche Motiv, das einst die brachte, wurde der Krieg erwartet, ohne Begeisterung, aber Herren Hugenberg, von Papen und Konsorten zu ihrer fata- auch ohne Panik. Hätte Hitler ihn damals riskieren können? len Allianz mit der Gangster-Partei bewogen hatte, gab nun War er in der Tat zum Äußersten entschlossen oder bluffte den Ausschlag in London und Paris. (…) er? Müßige Frage. Sicher ist, dass das Äußerste sich nicht Was die ‚appeasement’-Politiker ‚Peace with Honour‘ nen- durch Kapitulation vermeiden ließ; es sei denn, man wollte nen, ist nur die ehrlose Verzögerung des Konflikts, der erst endgültig und bedingungslos kapitulieren. Waren die De- jetzt – jetzt erst recht! – unvermeidlich wird. Frieden – mit mokratien zur definitiven Abdankung bereit? Es mochte so Hitler? Aber Hitler ist der Krieg! Die Dynamik des Natio- aussehen, für einen Augenblick. nalsozialismus hat nur diesen einen Antrieb, nur dies eine Mr. Chamberlain, wohl kaum der Initiator, aber der histori- Ziel: Nur im totalen Krieg rechtfertigt und erfüllt sich die- sche Exponent der ‚appeasement’-Politik schien durchaus ser totale Staat. Der fleischgewordene Zerstörungstrieb, willens, den Kontinent der Nazi-Hegemonie auszuliefern: die personifizierte Aggression als Herr Europas – und das erstens, weil England nicht gerüstet war; zweitens, viel- sollte gut gehen? Welch barocker Einfall! leicht vor allem, weil man in Mr. Chamberlains Kreisen den Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht (engl. russischen Kommunismus viel mehr hasste und fürchtete 1942, dt. 1952), 17. Aufl., Reinbek 2001, S. 537f. u. 540.

33 schlägige militärische Erfahrungen: Mit stationierte SA-Standarte 104 lässt es zu insgesamt 110 Toten und 50 Ver- neunzehn Jahren 1907 zum Fähnrich sich nachweisen, dass Angehörige der wundeten auf Seiten der CSR, während befördert, war er während des Ersten „“ auch als Komman- das Freikorps 52 Tote und 65 Verwun- Weltkrieges Kompanie- und Bataillons- deure an den Terroraktionen des SFK dete registrierte; 19 seiner Angehörigen kommandeur, bevor er 1917 als Nach- teilnahmen. Allein 15 SA-Männer die- wurden vermisst. Auch konnten Waffen richtenoffizier im Stab der 11. k.u.k. ser Einheit waren als Zug-, Kompanie erbeutet werden, darunter 24 Maschi- Armee diente. 1918 erfolgte seine Be- bzw. Gruppenführer tätig.153 Auch pro- nengewehre, 341 Gewehre und 61 Pis- förderung zum Hauptmann.151 pagandistische Unterstützung wurde tolen. 2029 Tschechoslowaken wurden Das Hauptquartier des SFK befand sich gewährt: Der in Berlin-Halensee woh- gefangen genommen bzw. entführt.155 in Schloss Donndorf bei Bayreuth. nende „Schriftleiter“ Wolf Meyer-Chris- Unter den 142 tschechoslowakischen Bewaffnet, geschult und operativ ge- tian führte seine „Tätigkeit im Interesse Gefangenen, die in Nürnberg-Altenfurth führt wurde das Freikorps von der Na- genauester Schilderung der Zustände interniert worden waren, befanden sich zi-Wehrmacht. Sie stellte die Waffen zur im sudetendeutschen Gebiet, teilweise 56 Angehörige der Polizei, 52 Zöllner, Verfügung, die zunächst aus ehemals unter eigener Lebensgefahr, beim Sude- 16 Angehörige der Gendarmerie und 18 österreichischen Magazinen, dann auch tendeutschen Frei-Korps und auch auf Soldaten.156 aus eigenen Beständen stammten. Un- der tschechischen Seite durch“154. Am Ende war der vom Sudetendeut- terstützung erhielt das Freikorps ferner Als Verbindungsoffizier der Wehrmacht schen Freikorps ausgeübte Terror nur von der SA, der SS und dem Reichsar- diente Oberstleutnant Friedrich Köch- eine Episode bei der Vorbereitung der beitsdienst. Sie unterwiesen die Ange- ling. Dieser Stabsoffizier aus dem Ober- gewaltsamen Eingliederung größe- hörigen des SFK nicht nur im Gebrauch kommando der Wehrmacht hatte es rer Teile der Tschechoslowakei in das von Waffen, sondern entsandten teil- nicht leicht. Denn manche Einheiten „Dritte Reich“. Die Wehrmacht konn- weise eigene Kader in das Freikorps. So des SFK dachten nicht daran, sich an te schließlich am 1. Oktober 1938 in unterstützten z. B. 50 Angehörige der die von ihm übermittelten Anweisun- die auf der Münchener Konferenz von SA-Reiter-Standarte 133 aus Sachsen gen zu halten, die teilweise direkt von den bürgerlichen Demokratien Frank- das SFK; fünf von ihnen dadurch, dass Adolf Hitler stammten und in erster Li- reichs und Großbritanniens preisgege- sie den Sanitätsdienst organisierten.152 nie die Intensität der Terror-Aktivitäten benen Gebiete einrücken, ohne dass Vier Angehörige der SA-Brigade 33 aus innerhalb der Tschechoslowakei betra- ein Schuss fiel. Nach dem „Anschluss“ Dresden gehörten dem Stab der von fen. Das Freikorps war nur schwer zu Österreichs im März war im Schicksals- Sachsen aus operierenden Freikorps- kontrollieren und zu disziplinieren. Im jahr 1938 nunmehr der zweite Schritt Kommmandos an. Für die in Chemnitz Ergebnis der Handlungen des SFK kam in der unmittelbaren Vorbereitung des

Aus dem Essay von Thomas Mann, Dieser Friede (1938):

„Es war klar oder hätte endlich jedem klar sein sollen: stär- das weinerliche Geschrei von den ‚sudetendeutschen Brü- ker als jeder dégoût vor dem Pöbel- und Gangstergeist des dern‘ ernst zu nehmen, da doch jedermann wusste, dass es National-Sozialismus, vor seinem moralischen Tiefstand, sich nicht um diese Brüder, sondern um die Skoda-Werke, seinen kulturzerrüttenden Wirkungen, stärker auch als die die tschechische Industrie, das rumänische Öl, das ungari- Furcht vor seiner anarchischen, alle festen Staatsformen sche Korn, den wirtschaftlichen Durchbruch Deutschlands bedrohenden Volksidee, war in den kapitalistischen Demo- nach Osten, die Liquidierung der Tschechoslowakei als mi- kratien des Westens der bolschewistische cauchemar, die litärischer und diplomatischer Position, die Sprengung der Angst vor dem Sozialismus und vor Russland: sie bewirk- Bündnisse Frankreichs und seine Isolierung handelte. (…) te die Selbstaufgabe der Demokratie als geistig-politischer Unter dem betörten Jubel der vor Glück und Erleichterung Position, die Anerkennung der Hitlerschen Zweiteilung der weinenden Völker kehrte das Böhmerland heim, in ein Welt in das Entweder-Oder von Faschismus und Kommu- Reich, zu dem es nie gehört hatte, wurden der deutschen nismus und das Schutzsuchen des konservativen Europa Diktatur tschechische Gebiete ‚mit mehr als fünfzig Pro- hinter dem ‚Bollwerk‘ des Faschismus. (…) zent deutscher Bevölkerung‘ ausgeliefert, – eingerechnet Die Geschichte des Verrates der europäischen Demokratie die deutschsprachigen Demokraten, Sozialisten und Juden, an der tschechosloswakischen Republik, der Darbringung denen es nun grässlich ergehen würde. Erbarmungslos, un- dieses der Demokratie verbundenen und auf sie vertrauen- gerührt von zehntausendfachem Menschenelend, von dem den Staates an den Faschismus, um ihn zu retten, ihn dau- Seelenzustand einer tapferen und gläubigen Nation, die ernd zu befestigen und sich seiner als Landsknechtes gegen für ihre Freiheit und für die Freiheit überhaupt zu kämp- Russland zu bedienen, – diese Geschichte gehört zu den fen bereit gewesen war, und von dem Schicksal des deut- schmutzigsten Stücken, die je gespielt worden sind. (…) schen Volkes selbst, seiner geistigen und moralischen Zu- Es ist unsere Schuld …, dass wir nicht ‚Politiker‘ genug wa- kunft, wurde dem Gestapo-Staat ein ungeheuerer, ihn auf ren, den Betrug zu durchschauen. Wir hatten trotz allem unabsehbare Zeit befestigender Erfolg zugeschanzt, die de- Vorangegangenen – vor allem trotz der doch unverkenn- mokratische Festung im Osten, die tschechoslowakische bar schändlichen und abermals von England geleiteten Republik vernichtet und bewusst zu einem geistig gebro- spanischen Nicht-Interventionskomödie, die der Begüns- chenen Anhängsel des Nationalsozialismus gemacht, die tigung Francos diente – an ein solches Maß von Bübe- kontinentale Hegemonie Hitler-Deutschlands besiegelt, Eu- rei und korrupter Schiebung nicht geglaubt. Das war un- ropa in die Sklaverei verkauft.“ erlaubte Gutmütigkeit, denn unmöglich konnte es etwas Thomas Mann, Gesammelte Werke. Zwölfter Bd., anderes sein als Heuchelei, dass man sich die Miene gab, Berlin 1955, S. 787, 789f. u. 792f.

34 Zweiten Weltkrieges vollzogen worden. Ein Jahr später, nach dem Einmarsch in die – wie es in der faschistischen Dikti- on hieß – „Rest-Tschechei“ und der Be- setzung des Memellandes wurde end- gültig mit der militärischen Aggression gegen Polen in Europa der Zweite Welt- krieg ausgelöst. Heute ist es wieder üblich geworden, die Sudetendeutschen als Opfer zu be- trachten, die nach dem Krieg ihre Hei- mat verloren hätten. Wie aber, so fragen wir, hätte mit einer deutschen Bevölke- rung, die sich in ihrer großen Mehrheit selbst nazifiziert hatte, und die mit Ver- achtung und Hass auf die Tschechen herabsah, ein friedliches Zusammenle- ben nach dem Kriege möglich sein sol- len? Am Beispiel der Sudetendeutschen lässt sich belegen, dass die „Opfer der Vertreibung“ vielfach zugleich Täter, wil- lige Vollstrecker bzw. teilnahmslose Zu- schauer oder doch zumindest Profiteu- re der faschistischen Aggressionspolitik waren; eine Thematik, die nicht nur von den Protagonisten des Geschichtsrevi- sionismus157 beschwiegen und – wenn sie denn diskutiert werden soll – nicht selten mit dem Verweis auf ihre ver- meintliche Nähe zur „Kollektivschuld- These“ abgetan wird. Wichtiger denn je ist es bei alledem, sich um das An- denken der deutschen Antifaschismus zu kümmern, auch wenn es nur wenige waren, die aktiv gegen die faschistische Henlein-Partei tätig waren und später Widerstand gegen die Okkupanten leis- teten. Sie sind und bleiben diejenigen unter den Sudetendeutschen, die es zu ehren gilt und derer zu gedenken ist.

Dr. Reiner Zilkenat

1 Vgl. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik bar aus den Akten erarbeiteten Publikationen von se des imperialistischen deutschen Geheimdiens- 1918–1945 (im Folgenden: ADAP). Aus dem Ar- Gerhard Fuchs: Aggressive Planungen des deut- tes, 2., überarb. u. erg. Aufl, Berlin 1975, S. 105: chiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D schen Imperialismus gegenüber der Tschechoslo- Schaubild „Der militärische Geheimdienstzweig (1937–1945), Bd. II: Deutschland und die Tsche- wakei in der Zeit der Weimarer Republik (Dokumen- (Abwehr) in der Reichswehr der Weimarer Repub- choslowakei (1937–1938), Baden-Baden 1950, Nr. tation), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, lik“. 133, S. 190f.; Nr. 221, S. 281ff.; Nr. 282, S. 377ff.; 16. Jg., 1968, H. 10, S. 1309ff.; Die Haltung des 9 PA AA, R 73776, L 120378. Nr. 448, S. 578ff. deutschen Imperialismus zur Gründung der Tsche- 10 In diesem Zusammenhang ist unter anderem der 2 Die Partei trug zunächst den Namen „Sudenten- choslowakischen Republik 1918/1919, in: Jahrbuch Bericht des deutschen Botschafters in Paris Le- deutsche Heimatfront“ (SHF) und wurde im Vorfeld für Geschichte, Bd. 6, 1972, S. 263ff.; Die sudeten- opold von Hoesch v. 20.10.1923 an das Auswär- der Parlamentswahlen vom 19. Mai 1935 in „Sude- deutsche Irredenta in der Revanchepolitik des deut- tige Amt von Interesse, in dem er schildert, dass tendeutsche Partei“ umbenannt. schen Imperialismus (1919–1923), in: Jahrbuch für die anlässlich eines Staatsbesuchs in Frankreich 3 Nach einer Aufzeichnung der Parteileitung, die Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. weilenden Masaryk und Benesch gegenüber den an die deutsche Gesandtschaft in Prag übermit- 17/1, 1973, S. 33ff.; Die politischen Beziehungen Wünschen der Gastgeber, sich der Außenpolitik telt und von dort an das Auswärtige Amt in Berlin der Weimarer Republik zur Tschechoslowakei vom Frankreichs quasi bedingungslos unterzuordnen, weiter geleitet worden war, betrug der Mitglieder- Versailler Frieden bis zum Ende der revolutionären widersetzt hätten: „Mehrere Gewährsmänner er- stand am 31.12.1936 459.833 und am 31.12.1937 Nachkriegskrise, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd. zählen mir übereinstimmend, dass der Abschluss 548.338 Personen. Vgl. Politisches Archiv des Aus- 9, 1973, S. 281ff.; Die Locarno-Verträge von 1925 des Besuches unter merklich abgekühlter Stim- wärtigen Amts (im Folgenden: PA AA), R 103657, D und die deutsch-tschechoslowakischen Beziehun- mung stattgefunden habe. (…) Zu dieser Abkühlung 494368. gen, in: ebenda, Bd. 24, 1985, S. 175ff. der Stimmung mag auch der Umstand beigetragen 4 Vgl. Gerhart Hass, Münchner Diktat 1939 – Kom- 6 Die DNSAP hatte bei den Parlamentswahlen 1925 haben, dass die tschechischen Staatsmänner an- plott zum Krieg, Berlin 1988, S. 9. insgesamt 2,4 Prozent, 1929 2,8 Prozent der abge- scheinend bezüglich des deutschen Problems hier 5 Vgl. Reiner Zilkenat, Edvard Benes – Biographische gebenen Stimmen erzielt. Unter den sudetendeut- eine Sprache führten, die den französischen Ohren Skizze eines europäischen Staatsmannes (Teil schen Wählern betrugen die Ergebnisse 9,9 bzw. nicht immer angenehm klang. (…) Danach haben 1), in: Rundbrief, hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft 12,4 Prozent. die beiden tschechischen Staatsmänner bei ih- Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Partei- 7 Vgl. Gerhard Fuchs, Die sudetendeutsche Irreden- ren Gesprächen mit dem französischen Staatschef vorstand der PDS, H. 2–3/2002, S. 42ff. Zur Politik ta, a. a. O., S. 38ff. und Ministerpräsidenten etwa folgendes erklärt: der Regierungen der Weimarer Republik gegenüber 8 Vgl. Albert Charisius u. Julius Mader, Nicht län- Die Tschechoslowakei sieht in einem Bündnis mit der CSR vgl. vor allem die einschlägigen, unmittel- ger geheim. Entwicklung, System und Arbeitswei- Frankreich eine Notwendigkeit. Sie hat dasselbe

35 Interesse wie dieses an der Wahrung der Friedens- lich vgl. auch Jörg Kracik, Die Politik des deutschen seit 1933 Mitarbeit im „Völkischen Beobachter“ verträge. Frankreich hat vollkommen recht mit der Aktivismus in der Tschechoslowakei 1920–1938, und in den „Nationalsozialistischen Monatshef- Forderung auf Erfüllung der Reparationsverpflich- Frankfurt a. M. 1999, S. 241f. ten“, viele seiner Artikel zeugten von seinem tief tungen. Nur fürchtet die Tschechoslowakei, dass 30 Vgl. PA AA, R 30502k, E 459582. empfundenen Hass gegen alles Tschechische; Ru- Frankreich in seiner Politik Deutschland gegenüber 31 Ebenda, R 73839, L 130878: Vermerk des Legati- dolf Jung (1882–1945), von 1926 bis 1933 Vorsit- zu weit gehen könnte. Sie hat nicht das geringste onsrates Victor von Heesen v. 15.12.1932. Das ge- zender der DNSAP. Interesse an einer Zertrümmerung Deutschlands, naue Datum des Gesprächs mit Schollich ist hier 54 ADAP, Serie C: 1933–1937, Bd. I,2, Nr. 326, die unheilvolle Folgen haben würde … Die Tsche- nicht genannt. S. 577f. choslowakei ist ein Feind von Abenteuern, sie will 32 Vgl. PA AA, R 30504, Bl.15ff., Bl. 45ff., Bl.78ff. 55 Der Text des Gesetzes wurde abgedruckt im Pra- sich daher nicht durch Verträge binden, solange sie 33 Tägliche Rundschau, Nr. 58, 4.2.1926, in: PA AA, R ger Tagblatt, Nr. 244, 18.10.1933, in: BArch, R dadurch selbst in irgend ein Abenteuer hineingezo- 73843, L 133145. 1501/125783, Bl. 64. gen werden könnte.“ PA AA, R 73776, L 120449f. 34 Schlesische Zeitung, Nr. 477, 4.10.1926, in: PA AA 56 BArch, R 1501/125782, Bl. 179. 11 Bundesarchiv Berlin (im Folgenden: BArch), R R 73843, L 133273f. 57 Ebenda, Bl. 239: Der Gesandte in Prag Koch an das 1501/113416, Bl. 4: „Betr.: Lage in der Tschecho- 35 Vgl. bes. die aus dem Jahre 1932 stammenden Be- Auswärtige Amt, 16.4.1933. Slowakei (Agenten erprobt und zuverlässig)“. richte Dorns, die er über die politische Lage der 58 Vgl. Jörg Kracik, Die Politik des deutschen Aktivis- 12 Ebenda, Bl. 5ff. CSR, unter besonderer Berücksichtigung der Situ- mus in der Tschechoslowakei, a. a. O., S. 301. 13 Vgl. ebenda, Bl. 17f. ation der Sudetendeutschen, verfasst hatte, in: PA 59 Rudolf Jahn, Konrad Henlein. Leben und Werk des 14 Am 24.3.1932 meldete das offiziöse Wolffsche Te- AA, R 30502k, E 459563ff. u. E 459569ff. u. eben- Turnführers, 5. Aufl., Karlsbad-Drahowitz u. Leipzig legraphen Büro, dass vom Innenministerium der da, R 73839, L 130753ff. u. L 130813ff. 1938, S. 50. Zahlreiche biographische Hinweise, CSR „ein allgemeines Verbot der Benutzung des 36 Vgl. PA AA, R 30502k, E 459574 u. ebenda, R allerdings primär für den Zeitraum seit 1938/39, Hakenkreuzzeichens“ ausgesprochen worden sei. 73844, L 133524. finden sich bei Ralf Gebel, „Heim ins Reich!“ Kon- Vgl. Wolff’s Telegraphen Büro, Nr. 647, 24.3.1932, 37 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Hoppegarten, ZA V rad Henlein und der Sudetengau (1938–1945), in: PA AA 73839, L 130748. 229, Bd. 4, Bl. 3f. Hervorhebung von mir — R. Z. München 1999, S. 43ff. 15 Vgl. Bundesarchiv, Zwischenarchiv Hoppegarten, 38 PA AA, R 30504, unfol.: Aufzeichnung von Dr. 60 Rudolf Jahn, Konrad Henlein, a. a. O., S. 69. Hen- ZB II 1470, unfol. Thomsen über ein Gespräch mit Admiral von lein führte in diesem Zusammenhang aus: „Mit der 16 Dem Schreiben ist zu entnehmen, dass dieser Bei- Trotha v. September 1931; ein genaueres Datum Übernahme dieser völkischen Pflichten ist der Tur- trag für die Wahlzeitung wohl auch geschrieben wird nicht genannt. Hervorhebung von mir – R. Z. ner nicht bloß Privatmensch, sondern Träger einer worden ist – jedenfalls ist von einer entsprechen- 39 Vgl. Anmerkung 23. Idee und Glied der Mannschaft.“ Zitat nach eben- den Zusage von Hitlers „Privatsekretär“ Hess (im 40 Vgl. hierzu u. a.: Wolfgang Ruge, Die Außenpolitik da, S. 103. Original fälschlich: „Hesse“) die Rede. der Weimarer Republik und das Problem der eu- 61 Der Aufruf Henleins zur Gründung der „Sudeten- 17 Ebenda: Brief des National-Sozialistischen Deut- ropäischen Sicherheit 1925–1932, in: Zeitschrift deutschen Heimatfront“ ist abgedruckt in: Doku- schen Studentenbundes Prag an Adolf Hitler v. für Geschichtswissenschaft, 22. Jg., 1974, H. 3, mente zur Sudetendeutschen Frage 1916–1967. 21.8.1931. S. 273ff.; Michael Salewski, Zur deutschen Si- Hrsg. im Auftrag d. Ackermann-Gemeinde v. Ernst 18 Vgl. BArch, R 1501/125782, Bl. 163f.; ADAP, Serie cherheitspolitik in der Spätzeit der Weimarer Re- Nittner, München 1967, Nr. 73, S. 124f. B: 1925–1933, Bd. XX, Göttingen 1983, Nr. 48, S. publik, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 62 Zum Folgenden vgl. vor allem die differenzieren- 132ff.; ebenda, Bd. XXI, Göttingen 1983, Nr. 75, 22. Jg., 1974, H. 2, S. 121ff.; Michael Geyer, Das den Darstellungen der politischen Verhältnisse in- S. 159ff.; PA AA, R 73839, L 130861ff. ; Ronald Zweite Rüstungsprogramm (1930–1934), in: Mili- nerhalb der Sudetendeutschen Partei bei Ronald M. Smelser, Das Sudetenproblem und das Dritte tärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 17, 1975/H.1, M. Smelser, Das Sudetenproblem und das Dritte Reich 1933–1938, München u. Wien 1980, S. 52f.; S. 125ff.; Michael Salewski, Das Weimarer Revi- Reich, a. a. O., S. 56ff. Gerhart Hass, Münchner Diktat 1938, a. a. O., S sionssyndrom, in: aus politik und zeitgeschichte, 63 Brand hatte z. B. noch im Oktober 1933 vehement 29. 18.1.1980, S. 14ff.; vgl. auch den Beitrag von Mar- jede irredentistische Politik abgelehnt; vgl. Bohe- 19 Vgl. ADAP, Serie B: 1925–1933, Bd. XXI, a. a. O., Nr. tin Seckendorf zum „Anschluss“ Österreichs in die- mia, Nr. 236, 8.10.1933: Dr. Walter Brand – Auf 75, S. 159. sem Heft. dem Boden des Schicksals. Brand hat 1985 recht 20 PA AA, R 73839, L 130856. 41 Vgl. Jörg Kracik, Die Politik des deutschen Aktivis- informative Memoiren veröffentlicht, die inter- 21 BArch, R 1501/125782, Bl. 125f. mus in der Tschechoslowakei, a. a. O., S. 153ff. Bei essante Einblicke in das „Innenleben“ der Sude- 22 Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. Teil den sudetendeutschen Ministern handelte es sich tendeutschen Partei gestatten: Walter Brand, Auf IV: Vom Vorabend der Machtergreifung in Deutsch- um Prof. Dr. Robert Mayr-Harting (Deutsche Christ- verlorenem Posten. Ein sudetendeutscher Politi- land bis zum Rücktritt von Masaryk 1933–1935. lichsoziale Volkspartei) und Prof. Dr. Franz Spina ker zwischen Autonomie und Anschluss, München Ausgewählt, eingeleitet u. kommentiert v. Heidrun (Bund der Landwirte), die als Justizminister bzw. 1985 u. Stephan Dolezel, München 1991, Nr. 3, S. 24. als Minister für öffentliches Gesundheitswesen 64 Vgl. Othmar Spann, Gesellschaftslehre, 2., neube- 23 Vgl. zum Folgenden: PA AA, R 30502k, E 459585ff.: und Leibeserziehung dem Kabinett angehörten. arb. Aufl., Leipzig 1923. Vgl. Ernst v. Salomon, Der Aufzeichnung – Geheim! – des Vortragenden Lega- 42 Edvard Benesch, Die deutsche Revolution und die Fragebogen, Hamburg 1951, S. 164ff.: „Sein System tionsrates v. Heeren v. 31.3.1933; mehrere Quit- neue Phase der europäischen Politik – Die mittel- gipfelte in einer modernen Auffassung von Staat tungen über die Aushändigung bzw. Weiterleitung europäischen Wirtschaftsfragen. Rede vor den Au- und Wirtschaft, die von dem mit aller Kunst beweis- der 86.950 Kronen. ßenpolitischen Ausschüssen beider Kammern des baren Tatbestand einer Gliederung allen gesell- 24 Dr. Stark machte im Juli 1933 weitere Honorarfor- Parlamentes, in: PA AA, R 73782, L 121860. schaftlichen Lebens in Stände ausging, von einer derungen in Höhe von mehr als 123.000 Kronen 43 Ebenda, L 121862. organischen Gliederung des gesamten volkswirt- geltend, die eine in Berlin-Steglitz ansässige „Se- 44 Ebenda, L 121858. schaftlichen Prozesses durch die Stände, die sich kretärin“, die er entsprechend bevollmächtigt hat- 45 Prager Tagblatt, Nr. 53, 4.3.1934, Masaryk und Be- vom Mittelalter her, wo sie sich zu ihrer schönsten te, offenkundig im Auswärtigen Amt bar in Emp- nes über Krieg und Frieden. Interview mit H. R. Kni- Blüte entfalteten, bis in unsere Tage hinein erhalten fang nehmen sollte. Vgl. ebenda, E 459595ff. ckerbocker, in: PA AA, R 73783, unfol. hatten. Lag nicht im … großartigen System Othmar 25 Vgl. PA AA, R 73839, unfol. 46 Ebenda. Spanns alles beschlossen, was sich die Parteien 26 Die Deutsche Nationalpartei hatte bei den Parla- 47 William E. Dodd, Diplomat auf heißem Boden. Ta- erhofften und erträumten und sich deshalb nicht mentswahlen am 27.10.1929 insgesamt 2,6 Pro- gebuch des USA-Botschafters William E. Dodd in verwirklichten, weil just die andere Partei dagegen- zent aller abgegebenen Stimmen erhalten und Berlin 1933–1938, 8. Aufl., Berlin 1977, S. 73. wirkte? Das Christliche und das Soziale, ließ es sich stellte 8 Abgeordnete. Innerhalb der sudetendeut- 48 PA AA, R 73759, E 672467: Jahresbericht Tsche- nicht wirklich auch vom Staate her unter einen Hut schen Bevölkerung kam sie auf 11,5 Prozent der choslowakei 1933. Unterschrift: Dr. Walter Koch. bringen? Das Bauerntum und das Arbeitertum? Die abgegebenen Stimmen. 49 Vgl. Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. Wirtschaft und die Politik? Die Kultur und die Zi- 27 Vgl. PA AA, R 30502k, E 459534. Aufzeichnung Teil IV, a. a. O., Nr.10, S. 35f. Die DNSAP erhielt bei vilisation? Die Macht und die Freiheit? Die Masse Konsul Dr. Busse v. 3.9.1932. den Gemeindewahlen 1929 2.473 Stimmen, 1933 und das Individuum?“ Ebenda, S. 168f. Zur Einord- 28 Conrad Patzig, geb.24.5.1888 in Marienburg, gest. waren es bereits 6.505. Die Zahl der Mandate stieg nung Spanns in das zeitgenössische faschistische 1.12.1975 in Hamburg. Er leitete vom 6. Juni 1932 von 8 auf 17! Die Deutsche Christlichsoziale Volks- Denken vgl. Joachim Petzold, Die Demagogie des bis zum 2. Januar 1935 als Vorgänger von Wilhelm partei und die deutsche Sozialdemokratische Par- Hitlerfaschismus. Die politische Funktion der Na- Canaris die Abwehr-Abteilung im Reichswehrmi- tei folgten mit erheblichem Abstand mit 2.917 bzw. ziideologie auf dem Wege zur faschistischen Dikta- nisterium. Patzig machte danach Karriere als Kom- 2.571 Stimmen und 8 bzw. 7 Mandaten. tur, Berlin 1982, S. 200ff.; derselbe, Konservative mandant des Linienschiffes „Schleswig-Holstein“ 50 Vgl. BArch, R 1501/125782, Bl. 181. Theoretiker des deutschen Faschismus. Jungkon- bzw. des Panzerschiffes „Graf Spee“. Seit 1937 51 Ebenda, Bl. 203f. servative Ideologen als geistige Wegbereiter der trug er den Admiralsrang. Bemerkenswerterweise 52 Vgl. Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag, faschistischen Diktatur, 2., überarb. u. erg. Aufl., war er – fast siebzigjährig! – von 1955 bis 1957 im Teil IV, a. a. O., Nr. 4, S. 29f.; Nr. 13, S. 38f.; Nr. 14, Berlin 1982, S. 185ff. Vgl. auch Deutsche Gesandt- sog. Personalgutachtenausschuss des Bundesver- S. 42ff.; Nr. 25, S. 59ff.; Nr. 31, S. 73ff. (Selbstau- schaftsberichte aus Prag. Teil IV, a. a. O., Nr. 55a, teidigungsministeriums tätig, der die Einstellung flösung der DNSAP). S. 118ff. Ein anonymes Mitglied aus der Führung höherer Offiziere, also ehemaliger Stabsoffiziere 53 Vgl. Ronald M. Smelser, Das Sudetenproblem der 1933 verbotenen DNSAP analysiert hier, im Ju- und Generäle der faschistischen Wehrmacht, in die und das Dritte Reich, a. a. O., S. 52ff. Hans Krebs ni 1934, die Tätigkeit des KB und die daraus sich Bundeswehr bearbeitete. (1888–1947), Hauptgeschäftsführer der DNSAP ergebenden Probleme und Konflikte für die innere 29 PA AA, R 30502k, E 459580f.: Geheime Aufzeich- von 1918 bis 1931, Mitglied des tschechoslowaki- Verfassung der Sudetendeutschen Heimatfront. nung v. 3.12.1932, Unterschrift Gesandtschaftsrat schen Parlamentes von 1925 bis 1933; Karl Vierer- 65 Vgl. Wolfgang Wippermann, Europäischer Faschis- Hüffer. Hervorhebungen von mir – R. Z. Zu Schol- bl (geb. 1903), als Journalist für die DNSAP tätig, mus im Vergleich 1922–1982, Frankfurt a. M.

36 1983, S. 80ff.; Jerzy W. Borejsza, Schulen des Has- achter, Nr. 346, 12.12.1935: Dr. W. Sch. – Henlein Center – The Internationale School for Holocaust ses. Faschistische Systeme in Europa, Frankfurt spricht von „Pangermanismus“? Henleins Aussa- Studies“ nach dem Fundort im Archiv von Yad Vas- a. M. 1999, S. 178ff. gen zum „Pangermanismus“ – so die führende Na- hem abgedruckt: Yad Vashem Archives, TR 2/N 66 Vgl. Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. zizeitung – mit dem der Nationalsozialismus nichts 11/1009/Nl 1318: Schreiben der I.G. Farben AG Teil IV, a. a. O., Nr. 70, S. 150. zu tun habe, sein Gerede von einem „möglichen an den Hauptamtsleiter Hilgenfeldt, NS-Volkswohl- 67 Vgl. Ernst v. Salomon, Der Fragebogen, a. a. O., Konflikt in Mitteleuropa“ hätten in Deutschland fahrt, Berlin SO 36, Maybachufer 48-51, 22.9.1938, S. 169ff., wo in recht plastischer Weise der Ablauf „Befremden“ erregt. – Selbstverständlich wollten Unterschrift: Waibel, Heyer. Vgl. zu den ökonomi- einer solchen Veranstaltung bei Anwesenheit Hen- es Hitler und seine Paladine nicht dulden, dass ein schen Interessen deutscher Konzerne in den sude- leins geschildert wird. „Turnwart aus Asch“ sich erdreistete, noch dazu in tendeutschen Gebieten: Gerhart Hass, Münchner 68 ADAP, Serie C: 1933–1937, Bd. II,1, Göttingen London, Erklärungen abzugeben, die nicht nahtlos Diktat 1938, a. a. O., S. 97ff. 1973, Nr. 51, S. 91: Der Gesandte in Prag Koch an mit der jeweiligen außenpolitischen Linie des „3. 100 Prager Presse, 12.5.1937: Henleins Auto, in: das Auswärtige Amt, 8.11.1933. Reiches“ übereinstimmten. BArch, R 55/21122, unfol. 69 Auch die politischen Diskussionen und Entschei- 87 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Martin Secken- 101 Vgl. Jaroslav Kucera, Between Wilhelmstraße and dungsprozesse in Berlin ließen Henlein lange Zeit dorf in dieser Ausgabe u. Gerhart Hass, Münchner Thunovská, a. a. O., S. 26ff nicht erkennen, welche Variante und welcher Zeit- Diktat 1938, a. a. O., S. 64f. 102 Vgl. PA AA, R 103655, D 494303 u. D 584733ff. plan sich am Ende in der Politik Nazideutschlands 88 Vgl. Jaroslav Kucera, Between Wilhelmstraße and 103 Vgl. ebenda, R 101350, 386643: Schreiben Bür- durchsetzen würde. Vgl. hierzu u. a. Klaus Hilde- Thunovská: Financial Support from the Reich for gers an das Auswärtige Amt, 28.2.1938, Geheim. brand, Das vergangene Reich. Deutsche Außen- the Sudeten-German Party, 1935–8, in: The Prague 104 Vgl. ebenda, 386641f. politik von Bismarck bis Hitler, durchgesehene Ta- Yearbook of Contemporary History 1998, Prag 105 Vgl. z. B. Gerhart Hass, Münchner Diktat 1938, schenbuchausgabe, Berlin 1999, S. 733ff.; Rainer 1999, S. 19ff. Der Autor hat hierzu eine besondere a. a. O.; Stanislav Biman u. Roman Cizek, Der Fall A. Blasius, Für Großdeutschland – gegen den gro- Geheimakte der deutschen Gesandtschaft in Prag Grün und das Münchner Abkommen. Dokumen- ßen Krieg. Ernst von Weizsäcker in den Krisen um ausgewertet, in der die einzelnen Zahlungsvorgän- tarbericht, Berlin 1983; Stefan Kley, Hitler, Rib- die Tschechoslowakei und Polen 1938/39, Köln u. ge (Höhe der Summe, Absender, Adressat) genau bentrop und die Entfesselung des Zweiten Welt- Wien 1981, bes. S. 29ff.; Stefan Kley, Hitler, Rib- vermerkt worden sind. krieges, Paderborn u. a. 1996; Klaus Hildebrand, bentrop und die Entfesselung des Zweiten Welt- 89 Berechnung nach ebenda, S. 35ff. (Payments coll- Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von krieges, Paderborn u. a. 1996; Rainer F. Schmidt, ected by members of the Sudeten German Party at Bismarck bis Hitler, Berlin 1999, S. 733ff.; Rainer Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933–1939, the German Embassy in Prague, 1936–8). F. Schmidt, Die Außenpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 2002, S. 78ff. u. 121ff. 90 Die entsprechende Quittung unterschrieb Henlein a. a. O., S. 258ff. Die besten Sammlungen von 70 BArch, R 58/85, Bl. 9f.: „Die Sudetendeutsche am 28. August 1935 in Berlin: PA AA, R 30502k, E Quellen bieten der bereits 1950 publizierte Band Partei“. Vgl. auch die interessante Analyse des 459652. der „Dokumente zur Deutschen Auswärtigen Poli- Neuen Wiener Tageblattes, Nr. 283, 13.10.1937: 91 Walter Brand, Auf verlorenem Posten, a. a. O., tik“ (vgl. Anm. 1) und die Edition von Václav Král, Die Gegensätze in der Henlein-Partei, in: BArch, R S. 105. Zum Wahlkampf der Sudetendeutschen Das Abkommen von München 1938. Tschechoslo- 58/21122. Partei im Jahre 1935 vgl. Michael Walsh Campbell, wakische diplomatische Dokumente 1937–1939, 71 Karl Hermann Frank (1898–1946), nach abgebro- Henlein’s Flying Bicycle Brigades. The SdP in the Prag 1968. chenem Jurastudium Buchhändlerlehre, 1919–23 1935 General Elections, in: Zeitschrift für Ostmit- 106 Die beste Übersicht zu den sich dramatisch zuspit- Mitglied der NSDAP, seit 1935 Abgeordneter des teleuropa-Forschung, 53. Jg., 2004, S. 200ff. zenden Ereignissen in und um die Tschechoslowa- tschechoslowakischen Parlamentes, 1937 Stell- 92 PA AA, R 30502k, E 459698. Hervorhebung von kei vom 5. bis zum 30. September 1938 findet vertreter Henleins als Parteivorsitzender, 1938 mir – R. Z. sich bei Werner Röhr, September 1938. Diversion stellvertretender Gauleiter Sudetengau, 1938 93 In einer vertraulichen Ausarbeitung eines ano- und Demagogie bei der Erzeugung einer Kriegs- Staatssekretär, 1939 Staatsminister beim Reichs- nymen, offenbar sehr gut informierten Autors v. psychose durch den Hitlerfaschismus und seine protektor von Böhmen und Mähren, Juli 1944 Er- 12.11.1935 über die Lage der „Zeit“ wird u. a. be- Fünfte Kolonnen in der CSR, in: Der Weg in den nennung zum General der Polizei und Waffen-SS, hauptet, die tatsächlich verkaufte Auflage liege bei Krieg. Studien zur Geschichte der Vorkriegsjahre am 21.5.1946 öffentlich in Prag hingerichtet. lediglich 30.000 Exemplaren und das „Inseraten- (1935/36 bis 1939), Berlin 1989, S. 20ff. 72 BArch, R 58/85, Bl. 6. geschäft hat bisher auch nicht die geringste Hoff- 107 Gerhart Hass, Münchner Diktat 1938, a. a. O., 73 Konrad Henlein, Reden und Aufsätze zur völkischen nung erfüllt“. Sehr viel gravierender sind aber die S. 65. Vgl. auch den Beitrag von Martin Secken- Turnbewegung 1928–1933, hrsg. v. Willi Brandner, folgenden politischen Einschätzungen, die wohl dorf in dieser Ausgabe. Karlsbad 1934, S. 34. auch die wichtigste Ursache für das Zögern der da- 108 ADAP, Serie D (1937–1945), Bd. II, a. a. O., Nr. 133, 74 Ebenda, S. 56 u. 58 („Der Neuaufbau unserer Füh- mit befassten Instanzen im „3. Reich“ waren, die S. 190: Zusammenfassung der Besprechung Füh- rung“, geschrieben im Jahre 1930). Hervorhebung „Zeit“ in Größenordnungen zu alimentieren: „Es rer-Gen. Keitel am 21.4.1938. von mir –R. Z. fehlt auch heute noch, wie von Anfang an, jeder 109 Ebenda, Nr. 221, Anlage, S. 282: Der Oberste Be- 75 Ebenda, S. 65 („Leibesübungen und ihre volkspoli- Ansatz zu einer eigenen völkischen kulturpoliti- fehlshaber der Wehrmacht an die Oberbefehls- tische Bedeutung“, geschrieben 1931). schen Linie … Der politische Teil ist unlebendig und haber des Heeres, der Marine und der Luftwaffe. 76 Vgl. ebenda, S. 94f. u. auch seine 1932 verfass- unvolkstümlich. Darüber hinaus vertreten die Leit- Weisung für Fall „Grün“, 30.5.1938. ten Gedanken zur „Erziehung unserer Mannesju- artikel keine klare lebendige Linie, die in irgendei- 11 0 Ebenda, Nr. 107, S. 158. gend“, ebenda, S. 69ff. Vgl. auch Rudolf Jahn, Kon- ner Richtung meinungsbildend für die Leserschaft 111 Ebenda. rad Henlein, a. a. O., S. 145f. sein könnten. Mit einem Wort, die ‚Zeit‘ verzich- 11 2 Ebenda, Nr. 135, S. 192: Die 8 Forderungen Konrad 77 Konrad Henlein, Reden und Aufsätze, a. a. O., tet vollkommen, Führungsmittel der Bewegung zu Henleins verkündet in Karlsbad am 24.4.1938. S. 116. sein!“ PA AA, R 73842, unfol.: Auslands-Pressebü- 11 3 Die Zeit, 3.5.1938: Karlsbad die einzig mögliche 78 Ebenda, S. 38 („Grundsätze über Erziehung und ro GmbH an den Gesandtschaftsrat Dr. Altenburg Grundlage. Konrad Henlein beharrt auf den acht Führung“, geschrieben 1928). im Auswärtigen Amt, 16.11.1935. Grundsätzen, in: PA AA, R 103659, E 033298. Her- 79 Zitiert nach: Rudolf Jahn, Konrad Henlein, a. a. O., 94 Vgl. ebenda, R 30502k, E 459803: Brief v. Dr. Ru- vorhebung von mir – R. Z. S. 163. dolf Schicketanz (SdP-Funktionär u. Verleger der 11 4 Vgl. zum Folgenden: Gerhart Hass, Münchner Dik- 80 Konrad Henlein, Reden und Aufsätze, a. a. O., „Zeit“) an den Gesandtschaftsrat Dr. Altenburg im tat 1938, a. a. O., S. 48ff. S. 51. Auswärtigen Amt, 28.1.1936; ebenda, E 459806: 11 5 Bereits am 2. März 1938 antwortete Chamberlain 81 Zitiert nach: Rudolf Jahn, Konrad Henlein, a. a. O., Abschrift des Schnellbriefs des Reichsministers auf die Frage des Abgeordneten Henderson, ob die S. 162. Hervorhebung von mir – R. Z. der Finanzen an den Reichsminister f. Volksauf- britische Regierung Frankreich und der CSR im Fal- 82 Vgl. Konrad Henlein, Reden und Aufsätze, a. a. O., klärung u. Propaganda, 3.2.1936. Geheim! Unter- le eines deutschen Angriffs zur Hilfe kommen wür- S. 67ff. („Die Erziehung unserer Mannesjugend“, schrift: v. Krosigk. Vgl. außerdem Jaroslav Kucera, de: „Our interest in peace is universal. After all, we geschrieben 1932). Between Wilhelmstraße and Thunovská, a. a. O., cannot forget that the last European war did not 83 Ebenda, S. 80. S. 29. Die Berichte der Cura-Revisions- und Treu- begin in Belgium. (…) In addition, our armaments 84 Ebenda, S. 39 („Grundsätze über Erziehung und handgesellschaft Berlin finden sich in: PA AA, R may be used in bringing help to a victim of aggres- Führung“). 30502k, E 459732ff. (26.10.1935) u. E 459845ff. sion in any case where, in our judgement, it would 85 Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 234, 21.5.1935: 95 ADAP, Serie C: 1933–1937, Bd. II,1, Göttingen be proper under the provisions of the Convenant 1,5 Millionen stimmten für Henlein. Die heuchle- 1973, Nr. 128, S. 223: Der Staatssekretär in der (Völkerbund – R. Z.) to do so. I used the word ‘may’ rischen Bekundungen des SdP-Parteiführers ge- Reichskanzlei Dr. Lammers an den Reichsminister deliberately since in such an instance there is no genüber Masaryk passten genau in die damalige des Auswärtigen von Neurath, 14.12.1933. automatic obligation to take military action.” PA außenpolitische Strategie des deutschen Faschis- 96 Vgl. zum Folgenden: ebenda, Nr. 180, S. 339ff.: AA, R 102813, unfol. Die in dieser Antwort skizzier- mus, der (noch) nicht die Zeit für gekommen hielt, Aufzeichnung des Gesandtschaftsrats Hüffer, te Haltung der britischen Regierung, ein verklausu- Gewalt gegen die Tschechoslowakei anzudrohen 12.1.1934, Geheim. Hervorhebung von mir – R. Z. liertes „Nein“ für eine militärische Abwehr gegen oder gar anzuwenden. Vgl. dazu auch die ganz in 97 Hans Knirsch (1871 bis 1933) war von 1919 bis Aggressionen Nazideutschlands auf dem Konti- diesem Sinne formulierten Artikel der Nazi-Presse, 1926 Vorsitzender der DNSAP. Er gehörte bis 1933 nent, blieb bis zum Münchner Abkommen die Leit- z. B. Der Angriff, Nr. 141, 20.6.1935: Konrad Hen- dem tschechoslowakischen Parlament an. linie ihres Handelns. leins Ziele sowie Völkischer Beobachter, Nr. 295, 98 ADAP, Serie C: 1933–1937, Bd. II,1, a. a. O., Nr. 137, 11 6 Vgl. The Times, 3.6.1938, Problems for settlement, 22.10.1935: Eine europäische Angelegenheit. S. 244: Aufzeichnung des Gesandtschaftsrats Hüf- in: PA AA, R 103660 unfol. Zur Interpretation die- 86 Vgl. z. B. die Polemik im „Völkischen Beobachter“, fer, 19.12.1933, Geheim. ses Artikels, der als ein Zugehen auf die Forde- die sich gegen Aussagen Konrad Henleins bei ei- 99 Das entsprechende Schreiben ist – allerdings in rungen der SdP verstanden wurde vgl. ebenda, R nem Vortrag in London richtete: Völkischer Beob- englischer Übersetzung – im „Shoah Resource 103661, D 494579ff.

37 Die Übersetzung der entsprechenden Leitartikel 125 PA AA, R 102057, unfol.: Geheime Aktennotiz der 143 Vgl. Dokumente zur sudetendeutschen Frage der „Times“ finden sich in: Dokumente zur Sude- Abwehr I v. 24.10.1936. 1916–1967, a. a. O., Nr. 101, S. 183ff. tendeutschen Frage 1916–1967, a. a. O., Nr. 115, S. 126 Bereits am 9. April 1933 hatte sich der tschecho- 144 Prager Tagblatt, 30.3.1938: Sudetendeutsche Par- S. 116 u. Nr. 125, S. 209. slowakische Außenminister zu dieser Frage wie tei: „Grundlegende und mutige Lösung“, in: PA AA, 11 7 Vgl. hierzu die zahlreichen Materialien in: ADAP, folgt geäußert: „Wir sind stolz darauf, den deut- R 103658, unfol. Serie D, Bd. II, a. a. O., S. 427ff. u. Das Abkommen schen Flüchtlingen ein Asyl zu gewähren, wie einst 145 Vgl. ebenda, R 103661, 585111f.; Prager Presse, von München 1938, hrsg. v. Václav Král, a. a. O., S. Amerika, England und Frankreich stolz darauf sein 24.5.1938: Ruhiger Wahlverlauf, in: ebenda, R 174ff. konnten, den Verfolgten ein Asyl zu bieten.“ Zit. 103660, unfol. 118 Auf französischer Seite war in Vergessenheit ge- nach: Kurt R. Grossmann, Emigration – Die Ge- 146 Dokumente zur Sudetendeutschen Frage 1916– raten, was ihr damaliger Außenminister Aristide schichte der Hitler-Flüchtlinge 1933–1945, Frank- 1967, a. a. O., Nr. 132, S. 218. Briand zehn Jahre zuvor, am 12. Oktober 1928, furt a. M. 1969, S. 34. 147 Vgl. Werner Röhr, Das Sudetendeutsche Frei- zu diesem Thema scharfsinnig ausgeführt hatte: 127 Vgl. hierzu z. B. die von Agenten der Gestapo im korps – Diversionsinstrument der Hitler-Regierung „Die Frage des Minderheitenschutzes rühre an ein Mai 1934 übermittelten Unterlagen über „Emig- bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei, in: außerordentlich schwieriges Problem. Sie berge ranten, die als Hetzer und Hochverräter eine Rolle Militärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 52, 1993, die Gefahr in sich, dass die Autorität der Regie- spielen“ und die vom 29. September 1938 datie- S. 35ff. rungen gestört und neue Auseinandersetzungen renden Zusammenstellungen der im sudetendeut- 148 Vgl. Helmut Groscurth, Tagebücher eines Abwehr- zwischen den Regierungen entstehen würden, schen Gebiet ansässigen Emigranten bzw. der offiziers 1938–1940. Mit weiteren Dokumenten auf deren Hintergrund neue Kriege drohten. Aus Namen der Grenzsekretäre der Sopade und von zur Militäropposition gegen Hitler, hrsg. v. Helmut der Minderheitenfrage dürfen keine neuen Krie- Emigrantenquartieren in: BArch, R 58/5, Bl. 1ff u. Krausnick u. Harold C. Deutsch, Stuttgart 1970. ge entstehen. Aber man dürfe die Minderheiten BR 58 498, Bl. 1ff. 149 Der Eid lautete: „Hiermit gelobe ich an Eidesstatt, auch nicht zu einem Mittel der auswärtigen Politik 128 Vgl. BArch, R 1501/125954, unfol. dass ich mich als pflichtbewusster Kämpfer des machen. Es gäbe individuelle Rechte und Rechte 129 Vgl. zum Folgenden: PA AA, R 101348, unfol.: Sudetendeutschen Freikorps meinem Obersten von Nationen, aber kein Sonderrecht könne im ge- Schreiben des Gesandten in Prag Eisenlohr an das Führer Adolf Hitler in unverbrüchlicher Treue ver- gebenen Fall so weit gehen, dass es den Frieden Auswärtige Amt, 15.1.1937, Geheim; ebenda, un- bunden fühle bis zum Tode.“ aller bedrohe. Und wenn die Minderheitenfrage fol.: Schreiben des Geheimen Staatspolizeiamtes 150 Deutscher Schnelldienst, Mittagsausgabe, den Frieden der Gesamtheit bedrohe, so werde er Berlin an das Auswärtige Amt, 9.4.1937, Geheime 21.9.1938: Vorbei – Herr Benesch!, in: BArch, R der erste sein, der Halt gebieten würde.“ BArch, Reichssache (Unterschrift: unleserlich); ebenda, 8034 II/9194, Bl. 138. R 1501/125836, Bl. 337: Abschrift eines Berich- R 101350, E 489380ff.: Schreiben des Geheimen 151 Vgl. Statisten in Uniform. Die Mitglieder des tes des Auswärtigen Amtes über die IX. Völker- Staatspolizeiamtes Berlin an das Auswärtige Amt, Reichstags 1933–1945. Ein biographisches Hand- bundsversammlung, 12.10.1928, Unterschrift: 11.3.1938, Geheim (Unterschrift: Best) Prager Tag- buch, bearb. v. Joachim Lilla, Düsseldorf 2004, von Weizsäcker. blatt, 12.5.1936: Amtliche Verlautbarung zur Prager S. 466f. u. PA AA, R 73841, E 643682. 11 9 Die Repräsentanten der CSR, Dr. Vojtech Mastny, Gestapo-Aushebung, in: PA AA, R 101348, unfol. 152 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Hoppegarten, ZA I Gesandter in Berlin, und Dr. Hubert Masarik, Chef 130 BArch, R 58/348, Bl. 4ff.: Staatspolizeileitstelle 6011, Akte 22, Bl. 146f. u. 151f. der Kanzlei des tschechoslowakischen Außenmi- München an Geheimes Staatspolizeiamt Berlin, 1. 153 Ebenda, ZA I 11922, Bl.139ff. Werner Röhr, Das nisters Krofta, wurden erst nach dem Abschluss Juli 1937; ebenda, R 58/10, Bl. 111ff.: Staatspo- Sudetendeutsche Freikorps, a. a. O., weist auf S. des Vertrages von der französischen und briti- lizeistelle Regensburg an Geheimes Staatspolizei- 49 darauf hin, dass es deutschen Staatsbürgern, schen Delegation über die erzielte Vereinbarung amt Berlin, 15.3.1938, Geheim. die als Ausbilder oder sonst unterstützend für das informiert. Sie wurden vor vollendete Tatsachen 131 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Hoppegarten, ZB SFK eingesetzt waren, eigentlich strikt untersagt gestellt. Die demütigende Szenerie ist beschrieben 7087, Bl. 125ff. u. 134ff. u. ebenda, ZB 7088, u. a. worden war, tschechoslowakisches Territorium zu in: Das Abkommen von München 1938, hrsg. v. Vá- Bl. 38, 93, 97, 109, 113, 137. betreten. clav Král, a. a. O., Nr. 245, S. 271f.: Bericht von Dr. 132 Walter Brand, Auf verlorenem Posten, a. a. O., 154 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Hoppegarten, ZA V Hubert Masarik. S. 71. 229, Band 4, Bl. 4f. 120 Diese Angaben nach Gerhart Hass, Münchner Dik- 133 Vgl. Anmerkung 155 Angaben nach: Bericht über die Tätigkeit als tat 1938, a. a. O., S. 271. 134 Walter Schellenberg, Memoiren, hrsg. v. Gita Pe- Verbindungsoffizier des Oberkommandos der 121 Vgl. das detaillierte Organisationsschema des Am- tersen, Köln 1959, S. 57. Wehrmacht beim sudetendeutschen Freikorps, tes in: Julis Mader, Hitlers Spionagegenerale sagen 135 Vgl. Ronald M. Smelser, Das Sudetenproblem und 11.10.1938, Unterschrift: Köchling, in: Der Pro- aus. Ein Dokumentarbericht über Aufbau, Struk- das Dritte Reich, a. a. O., S. 156ff. zess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem In- tur und Operationen des OKW-Geheimdienstam- 136 Ebenda, S. 159. ternationalen Gerichtshof. Nürnberg, 14. Novem- tes Ausland/Abwehr mit einer Chronologie seiner 137 BArch, R 58/1103, Bl. 1. Die Ausarbeitung hat ei- ber 1945–1. Oktober 1946, Bd. XXXV, Nürnberg Einsätze von 1933 bis 1944, 3. Aufl., Berlin 1971, nen Umfang von insgesamt 35 Seiten. 1949 (Reprint München 1989), Dokument 366-EC, S. 411ff. 138 In den Akten des Auswärtigen Amtes und in der S. 356ff. 122 Vgl. zum Folgenden: In Schindlers Schatten. Emilie Presse-Berichterstattung des „3. Reiches“ sowie 156 Vgl. PA AA, R 101357, unfol.: Abwehrstelle im Schindler erzählt ihre Geschichte, aufgeschrieben in der Zeitung der SdP, „Die Zeit“, sind diese sich Wehrkreis XIII. Nürnberg, d. 17.10.1938, Geheim, v. Erika Rosenberg, 5. Aufl., Köln 1999, S. 40ff.; steigernden Provokationen und Gewalttätigkeiten betr.: Internierten-Lager Altenfurth. Erika Rosenberg, Hrsg., Ich, Oskar Schindler. Die gut dokumentiert. 157 Vgl. hierzu meine Beiträge: Das „Zentrum gegen persönlichen Aufzeichnungen, Brief und Doku- 139 Vgl. die entsprechenden Sammlungen von Zei- Vertreibungen“ und der grassierende Geschichts- mente, München 2000, S. 25ff.; Dieter Trautwein, tungsausschnitten in: BArch, R 8034 II/9193– revisionismus. Vorgeschichte, Ziele, Planungen, in: Oskar Schindler, … immer neue Geschichten. Be- 9195 u. 9335. Horst Helas u. Dagmar Rubisch, Hrsg., Rechtsext- gegnungen mit dem Retter von mehr als 1.200 Ju- 140 Vgl. Werner Röhr, September 1938, a. a. O. remismus in Deutschland, Berlin 2006, S. 34ff. u. den, Frankfurt a. M. 2000, S. 31 u. 275ff. 141 Vgl. ebenda, S. 227. Geschichtsrevisionismus – nur eine Angelegenheit 123 In Schindlers Schatten. Emilie Schindler erzählt ih- 142 PA AA, R 103667, unfol.: Konsularische Zweigstel- des Rechtsextremismus? Thesen zur Diskussion, re Geschichte, a. a. O., S. 41. le der Deutschen Gesandtschaft in Eger an die in: Rundbrief, hrsg. v. d. AG Rechtsextremismus/ 124 Vgl. Prager Tageblatt, 20.11.1937: Die Erklärung Deutsche Gesandtschaft Prag, 16.9.1938, Unter- Antifaschismus beim Parteivorstand der Linkspar- Dérers, in: PA AA, R 103696, E 034494. schrift: Stechele. tei.PDS, H. 1–2/2006, S. 13ff.

38 39 40 AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Der Militarismus und die Stärkung der Rechten in der BRD Neue Entwicklungen und Zusammenhänge

Es herrscht hierzulande eine große Un- Deshalb solle ein solcher Dienst auch Verfassungsbruch nicht erlaubt wird, kenntnis über die brisanten politisch- den Zivil- und Katastrophenschutz be- dann werde man eben den „überge- militärischen Planungen sowohl der inhalten. setzlichen Notstand“ ausrufen, um ge- Regierung als auch der Bundeswehr- Am 17. November 1881 hieß es im deut- gen die Verfassung zu handeln, z. B. ver- Führung. Ich habe es mir deshalb zur schen Reichstag in einer „Kaiserlichen dächtige Flugzeuge abschießen. Dass Aufgabe gemacht, in diesem Beitrag Botschaft“ zur Schaffung der Bismarck- dies eine Argumentation ist, die einem zusammenzufassen, was dort sehr of- schen Sozialgesetze: „Wir Wilhelm, von einschlägigen Urteil des Verfassungs- fen, aber nicht immer öffentlich, dis- Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, Kö- gerichtes in Karlsruhe entgegengesetzt kutiert wird. So verfolge ich seit 1990 nig von Preußen u. s. w., thun kund und ist, sei nur am Rande erwähnt. den militaristischen Diskurs, indem ich fügen hiermit zu wissen“: „Die Heilung In Bundeswehrblättern wie der „Infor- die offizielle und offiziöse Militärpres- der sozialen Schäden“ dürfe „nicht aus- mation für die Truppe“ (IfdT) wird seit se verfolge und möglichst viele Kon- schließlich im Wege der Repression so- Jahren auf den Inlandseinsatz gegen gresse der Militärs besuche. In Form ei- zialdemokratischer Ausschreitungen“ den Terror – und das heißt gegen „Cha- ner Transformation, so wurde dort seit gesucht werden, „sondern gleichmäßig osgruppen wie z. B. die Gruppe der Glo- 1990 gefordert, sollte die Bundeswehr auf dem der positiven Förderung des balisierungsgegner“ (IfdT 3/2002) ein- von einer Verteidigungs- in eine Inter- Wohles der Arbeiter“. gestimmt. Per Reservistengesetz vom ventionsarmee umgewandelt werden. Nachdem nun die 125jährige Sozialge- Februar 2005 wurden noch unter der Das ist seitdem realisiert worden. Die setzgebung umkehrbar gemacht wurde, rot-grünen Regierung Schröder-Fischer jeweils zuletzt formulierte Forderung steht es anscheinend auch wieder auf über eine Million ehemalige Soldaten aus dem Katalog der Wünsche der Mili- der Tagesordnung, „die Heilung der so- zusätzlich für die „Zivil-Militärische Zu- tärs lautete stets: Einführung einer all- zialen Schäden“ vor allem „im Wege der sammenarbeit ZMZ Inneres“, d. h. für gemeinen militärischen und sozialen Repression sozialdemokratischer Aus- den Einsatz im Innern bereitgestellt. Man Dienstpflicht für Frauen und Männer. schreitungen“ vorzunehmen. Und dies hatte einfach das Reservistenalter von Dies ist der einzige Punkt, dessen Ver- mit Polizei und allen militärischen Waf- 45 auf 60 Jahre aufgestockt! Nach wel- wirklichung bislang noch nicht durch- fengattungen, – wie es zuletzt die De- chen Maßstäben die Bundeswehr ihre gesetzt werden konnte. Aber – wie wir monstranten in Heiligendamm erlebt Einsätze gegen die Bevölkerung des je- noch sehen werden – es wird ernsthaft haben. weils besetzten Landes – also auch des daran gearbeitet. Ohne Abstimmung im Bundestag wurde deutschen Landes – ausrichtet, in wel- die angebliche „Parlamentsarmee“ in cher Tradition sie steht, das wird in dem Erstens ein weiteres Land zu einem Kampfein- Buch „Geheime Krieger“ des rechtsex- Die Bundeswehr wurde transformiert – satz entsandt: Mecklenburg-Vorpom- tremen Brigadegenerals a. D. und ehe- von der Verteidigungsarmee zur Ein- mern. Mit Panzerwagen, Kriegsschiffen maligen Gebirgsjäger- und Krisen-Spezi- satzarmee. Entsprechend wurden und und Tornado-Flugzeugen. Der verfas- alkräfte (KSK)-Kommandeurs Reinhard werden Waffen und Gerät beschafft. sungswidrige Einsatz im Innern anläss- Günzel ausgeplaudert: Nach denen der Nun geht es an die Transformation der lich des G8-Gipfels kostete die Steu- Wehrmachts-„Antiterroreinheit“ Divisi- Gesellschaft, die in Bundeswehrzeit- erzahler nach Pressemeldungen zehn on Brandenburg. Diese „Brandenbur- schriften durchaus als Aufgabe des Mili- Millionen Euro – zusätzlich zu einem ge- ger“ waren u. a. im Juni 1941 in Lwow/ tärs bezeichnet wird. Es wurde dafür ein waltigen Rüstungsetat. Und er kostet Lemberg dabei, als 7.000 Juden in we- Zentrum für Transformation geschaffen. Freiheitsrechte der Bürger. nigen Stunden von deutschen und uk- Dazu passt diese Meldung: Die CSU Der Abbau der Freiheitsrechte wird all- rainischen Wehrmachtsangehörigen er- setzt sich für die Weiterentwicklung der gemein mit dem Krieg gegen den Ter- mordet wurden. Wehrpflicht zu einer „sicherheitspoli- ror begründet, der von außen in unser Und eine solche Bundeswehr steht nun tisch begründeten Dienstpflicht“ ein, Land getragen werde. Bundesinnenmi- den zivilen Dienstellen „zur Seite“! In die auch bei der Polizei oder im Kata- nister Wolfgang Schäuble befürchtet sämtlichen 426 Landkreisen und kreis- strophenschutz abgeleistet werden soll. sogar „nukleare Angriffe“ mit schmut- freien Städten wurden in den Rathäu- Damit solle die Wehrgerechtigkeit ge- zigen Bomben auf unser Land, um sein sern und Landratsämtern Kommando- rettet werden. Christian Schmidt (MdB- Ziel zu erreichen, durch Onlinedurchsu- zentralen der ZMZ Inneres geschaffen. CSU), Parlamentarischer Staatssekre- chungen flächendeckend Freiheitsrech- Ganz oben sieht die entsprechende tär im Bundesverteidigungsministerium te abzubauen. Verteidigungsminister Struktur folgendermaßen aus: und Offizier der Gebirgstruppe, sagte, Jung will eine Grundgesetzänderung er- Geschaffen wurde das „Gemeinsame es müsse die „unerlässliche Wehrpflicht zwingen, um die Bundeswehr auch zum Terrorismusabwehrzentrum“ in Berlin- an die neuen Risiken für die innere und Kriegführen im Innern des Landes legal Treptow mit Bundeskriminalamt, Bun- äußere Sicherheit angepasst werden. einsetzen zu können – und wenn dieser desnachrichtendienst, Kriminal- und

41 Verfassungsschutzämtern der Länder, de Regeln des Völkerrechts außer Kraft Die Trennung von innerer und äußerer Bundespolizei, Zollkriminalamt, Militäri- gesetzt. Sicherheit sei „von gestern“. Um zum scher Abschirmdienst, Generalbundes- Und das geschieht in unserem Lande Vorgestern zurückzukehren. Nun also anwalt und Bundesamt für Migration vor allem durch faktische Beseitigung wieder Krieg nach außen und innen! Ih- und Flüchtlinge. Noch 2003 lehnte der der grundgesetzlichen Bestimmungen re Partei nennt es in ihren Dokumenten damalige Verfassungsschutzpräsident zum Verbot des Angriffskrieges und sei- „Verteidigung am Hindukusch und in Werthebach eine solche Zentralisierung ner Vorbereitung und durch faktische Hindelang“. des Staatsapparats aus „historischen Streichung der Bestimmung, dass die Zu den weiteren Schäuble-Maßnahmen und rechtspolitischen Gründen“ ab; die Bundeswehr nur zur Verteidigung dient gehören: Fingerabdrücke aller Bun- „Assoziation mit dem Reichssicherheits- (Artikel 26 und 87a GG). An die Stel- desbürger werden bei der Passbehör- hauptamt“ der Nazizeit sei zu nahelie- le des Grundgesetzes tritt die Militär- de gespeichert, Mautdaten sollen für gend. Doch die Zentralisation schrei- doktrin der EU, ob mit oder ohne EU- Fahndungszwecke verwendet werden. tet voran: Die Einsatzführungsstäbe der Verfassung, die den grundgesetzlichen Sodann sollen erfolterte Geständnisse, Bundeswehr wie der Bundespolizei sind Rahmen überwölben – sprich: ihn aus- die Tatverdächtige in anderen Ländern nunmehr in angesiedelt, noch hebeln. formuliert haben, von der deutschen in unterschiedlichen Immobilien. Justiz als Beweismittel verwendet wer- Die Militarisierung des Landes erreicht Zweitens den dürfen. mit dem neuen Reservistenkonzept und Zur Militarisierung gehört stets der Ab- Weiterhin sind folgende Maßnahmen der neuen „Zivilmilitärischen Zusam- bau der Demokratie. Dies ist ein sich vorgesehen: Die Sicherheitsüberprü- menarbeit Inneres“ und ihrer Anwen- gegenwärtig beschleunigender Prozess. fung der Arbeiter und Angestellten in dung beim G8-Gipfel in Heiligendamm Die Gefahr einer Rechtsentwicklung ist vielen Bereichen der Wirtschaft und der einen neuen Stand. offensichtlich. Sie fällt in zwei Teile: Verwaltungen sowie die Schaffung der Eine neue extrem rechte Organisation a) Anwachsen des Neofaschismus, Dul- Anti-Terror-Datei, die „erstmals seit der entsteht, – zusätzlich zum Wirken alter dung und Förderung der Neonazis als Nazizeit wieder Erkenntnisse von Poli- und neuer Rechtsextremer in der Bun- mögliche gesellschaftliche Reserve zei und Geheimdiensten vereint“ (Süd- deswehr. Und das ist die Reservistenbe- durch den Staat einerseits und deutsche Zeitung 31. März 2007). Nicht wegung. b) Abbau der Demokratie durch den zu vergessen: Mittels „Hartz IV“ wer- Zur Instrumentalisierung der Bundes- Staat andererseits, dies geschieht auch den wichtige Grundrechte von Millio- wehr zum Einsatz im Innern kommt die und nicht zuletzt durch die anwachsen- nen Menschen beseitigt: Arbeitszwang ideologische extrem rechte Beeinflus- de Militarisierung und den Ausbau des für unverschuldet arbeitslose Personen, sung der Bevölkerung: In rund fünf Mil- Überwachungsstaates. Das Konzept Sicherheitsüberprüfungen der Arbeiter lionen Familien gibt es Reservisten, zu von Schäuble vom 9. Juli 2007, das er und Angestellten, keine Unverletzlich- denen die Bundeswehr möglichst lau- im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ keit der Wohnungen von „Hartz-IV-Emp- fend Kontakt hält. Die militaristischen vorstellte, besagt: fängern“ mehr und keine Freizügigkeit Traditionsverbände und die Reservis- Beseitigung des verfassungsmäßig nicht für sie. Zugleich: Millionen Reservisten tenverbänden erhalten immer mehr veränderbaren Artikels 1 des Grundge- werden in Dateien erfasst und können Macht – und Geld der Steuerzahler. setzes (Schutz der Menschenwürde und mir nichts dir nichts einberufen werden. Die Kriege zur Rohstoffsicherung und des Lebens) – darum geht es auch bei Besonders Polizisten möchte Schäuble Energieversorgung der westlichen In- Verteidigungsminister Jungs Vorstoß für zu Auslandseinsätzen zwingen, – und dustriestaaten – und darum handelt es das Abschießen von zivilen „verdächti- die Bundeswehr soll zugleich polizeiähn- sich im Kern bei den heutigen „weltwei- gen“ Flugzeugen. licher werden. Wie auch die Polizei mi- ten Einsätzen“ –, haben das öffentliche Einsperren von „Verschwörern und Ge- litärähnlicher werden soll. Schon sorgt Leben in diesen Staaten, auch in der fährdern“ in Lager. eine internationale Polizeitruppe FRON- Bundesrepublik, entscheidend verän- Die Ermöglichung gezielter Tötungen. TEX auch marineähnlich für die Siche- dert. Neue Runden im Wettrüsten ste- Kommunikationsverbote für politisch rung und Kontrolle der EU-Außengren- hen bevor. Die Dämonisierung des Iran, Missliebige und ganze Bevölkerungs- zen an den Küsten. Die EU bekämpft die Stigmatisierung Russlands und Chi- gruppen, Hausdurchsuchungen ohne damit die Flüchtlinge, die auf das eu- nas als undemokratische, auf Weltherr- Anwesenheit von Zeugen und Betrof- ropäische Territorium gelangen wollen. schaft sinnende Regime sollen die Be- fenen, denn darum handelt es sich tat- Mit Hubschraubern, Marinebooten und völkerung gefügig machen für noch sächlich bei den geheimen Onlinedurch- Küstenwachtrupps werden Flüchtlings- mehr Rüstung, mehr Militär und für of- suchungen privater Computer. boote aufgespürt und zum Umkehren fensive Zielsetzungen der Militärdoktri- Einsatz von Militär mit Waffen gegen De- gezwungen. Rund 6.000 Menschen – so nen. Dies betrifft auch die Atomrüstung monstranten und die umfassende Be- wird geschätzt – haben seit Beginn die- und die Orientierung auf die Erringung spitzelung der Bürger durch Polizei und ser Aktionen ihr Leben verloren. Boo- der Erstschlagskapazität durch die USA Geheimdienste (Rasterfahndung; Über- te und Einheiten der nationalen Grenz- (neue Raketensysteme in Mitteleuro- wachung der Telekommunikation; Tele- polizeien und Gendarmerien sollen in pa, d. h. in Tschechien und Polen). Auch fon- und Internetdaten werden ab dem eine „Toolbox“ aufgenommen werden wenn dies heute noch vor allem Droh- 1. Januar 2008 jeweils ein halbes Jahr und bei Bedarf in einzelnen Mitglieds- kulissen sein mögen, so rückt die Welt lang gespeichert!). staaten als schnelle Eingreiftruppe (Ra- damit doch näher an ein atomares In- Das ist Schäubles extrem rechter Ka- bit = Rapid Border Intervention Teams) ferno heran. Wir stehen vor einer Welle talog, – würde er nicht jedem faschis- zu Wasser, zu Lande und in der Luft zum internationaler Einsätze. Der Krieg soll tischen Umsturzplan alle Ehre machen? Einsatz kommen. Die „Toolbox“ umfasst unter dem Stichwort „militärischer Hu- Und Bundeskanzlerin Merkel ermutigt dabei auch militärisches Material. manismus“ zum Alltag werden. Dem- ihren Innenminister: Keine Denkverbo- Das Gewaltkonzept des „Krieges gegen entsprechend werden widersprechen- te im Kampf gegen den Terror. Sie sagt: den Terror“ und der damit zusammen-

42 hängenden Militärdoktrinen richtet sich Truppe im Innern „Großschadensereig- zent aus Wehrpflichtigen und zu 20 Pro- keineswegs nur gegen auswärtige „Fein- nisse“ genannt. Die Reservisten werden zent aus Berufs- und Zeitsoldaten als de“. In Deutschland wird jetzt das in den für ihren Einsatz im Innern bezeichnen- deren Führungspersonal bestehen. USA angewandte Konzept praktiziert. derweise vor allem an Feldjägerschulen, Die größte rechtsextreme Bewegung Nach dem Homeland Security Council also den Ausbildungsstätten der Militär- entsteht somit – ohne große öffentliche der USA fallen unter die Kategorien des polizei, ausgebildet. Wie wir sahen, wird Erörterung. In einer stark verbreiteten „inneren Verschwörers“: „Ausländische die Bundeswehr per „Amtshilfe“ der Soldatenzeitung, finanziert vom Vertei- islamische Terroristen“, „einheimische Polizei beigeordnet. Sie wird entgegen digungsministerium, wird geschickt die radikale Gruppen“, von „Schurkenstaa- der Verfassung eingesetzt, wie der G8- Verbindung von der heutigen militaris- ten und instabilen Ländern unterstützte Gipfel in Heiligendamm demonstrierte. tischen Community zur früheren herge- Gegner“, „unzufriedene Arbeitnehmer“. Mittlere Polizeibehörden wie Kavala for- stellt: „Vor 60 Jahren waren mehr als 18 Der autoritäre militärorientierte Staat derten Bundeswehrunterstützung gegen Millionen Deutsche aus fast allen Famili- ist die Kehrseite der neoliberalen globa- die Demonstranten an und erhielten sie. en Angehörige der Wehrmacht. Sie wer- len Unterdrückung. Die „verfassungsrechtliche“ Prüfung den derzeit zunehmend verunglimpft Alles spricht dafür: Es gibt eine militaris- solcher Ersuchen erfolgte nicht, schon und pauschal als Verbrecher beschul- tische „community“ im Lande, die aus gar nicht durch das Verfassungsgericht, digt. Der Einsatz unserer Bundeswehr mehreren Organisationen besteht. An sondern, wenn überhaupt, durch die heute ist nur zu verantworten, wenn de- erster Stelle: Der Reservistenverband. „Abteilung Recht beim Verteidigungsmi- ren Pflichterfüllung von der Gesellschaft Er hat nach eigenen Angaben 137.000 nisterium“. Die Verfassungsbrecher ge- unvoreingenommen mitgetragen wird. Mitglieder, die in etwa 2.600 „Reservis- nehmigen sich selbst den Verfassungs- Das setzt Fairness gegenüber der vori- tenkameradschaften“, 129 Kreisgrup- bruch. gen Soldatengeneration voraus.“ (loyal, pen, 29 Bezirksgruppen und 16 Landes- Dieser Entwicklung liegt folgender Plan Heft 10/1999). gruppen gegliedert sind. Dort „laufen zugrunde: In den 2003 verabschiede- Das bedeutet offenkundig: Geschichts- die Fäden zusammen“ und das sichert ten Verteidigungspolitischen Richtlini- diskurse, auch revisionistische, halten „eine flächendeckende Präsenz. … Der en, der damalige Verteidigungsminister die militaristische Community zusam- Verband organisiert die Freiwillige Re- hieß übrigens Peter Struck, ist nachzule- men. Auch Streitfälle aus der Geschich- servistenarbeit außerhalb der Bundes- sen: „Zum Schutz der Bevölkerung und te, zum Beispiel Kriegsschuldfragen wehr.“ (Werbeprospekt 2007 des Ver- der lebenswichtigen Infrastruktur des zum Ersten wie Zweiten Weltkrieg, wer- bandes der Reservisten.) Ein Apparat Landes vor terroristischen und asyme- den in den Traditionsverbänden noch von 500 Hauptamtlichen des Reservis- trischen Bedrohungenwird die Bundes- immer lebhaft erörtert. Antifaschismus tenverbandes wird von der Bundeswehr wehr Kräfte und Mittel entsprechend wird empfunden „als Vehikel kommu- bezahlt. Nun gibt es einen Aufschwung: dem Risiko bereithalten.“ Es gehe da- nistischer Diktaturen“, das „insbeson- Die nicht nur freiwillige Reservistenar- bei um den „Schutz der Bürgerinnen dere in der stalinistischen Zeit, eine beit. und Bürger sowie kritischer Infrastruk- üble Rolle spielte.“ Und so wird auch Insgesamt werden im Bundesverteidi- tur…durch die Bundeswehr.“ Und wei- die deutsche Kriegsschuld am Zweiten gungsministerium 9,6 Millionen deut- ter: „Grundwehrdienstleistende und Weltkrieg vorsichtig geleugnet und zwar sche Bürger als ehemalige Soldaten Reservisten kommen dabei in ihrer klas- anhand des bezeichnenden Buchtitels (Wehrpflichtige und Berufssoldaten) sischen Rolle, dem Schutz ihres Landes „1939 – Der Krieg der viele Väter hat- geführt; 1,9 Millionen von ihnen haben und ihrer Mitbürgerinnen und Mitbür- te“, das der vom rechtsextreme Ex-Ge- bisher an Wehrübungen teilgenommen, ger, zum Einsatz.“ neral Gerd Schultze-Rhonhof verfasst können also jederzeit wieder einberu- CDU/CSU-Sprecher kommentierten er- hat. Damit werde „die heute allgemein fen werden. freut: Das sei Heimatschutz, Verteidi- in Deutschland vertretene Sicht dieser Im Rahmen von ZMZ Inneres – Zivilmi- gung nicht nur am Hindukusch im fernen Zeit und ihre Exponenten“ in Frage ge- litärische Zusammenarbeit im Innern – Gebirge, sondern auch bei Hindelang in stellt.“ So die „Gebirgstruppe“. wurden bis zum Sommer dieses Jahres den deutschen Alpen. In einem Papier Was ist das für eine Bundeswehr, die unter dem Kommando von schnell mo- der CDU/CSU, abgefasst vom heuti- sich als Weltgendarm betätigt, ent- bilisierbaren 5.500 Reserve-Offizieren gen Parlamentarischen Staatssekretär sprechend der Empfehlung der heute Tausende Reservisten in Bereitschaft im Bundeswehrministerium und ultra- obersten Befehlshaberin, damals nur versetzt. Ausdrücklich heißt es in Bun- rechten Gebirgsjäger-Offizier Christian CDU-Vorsitzende, heute Bundeskanzle- deswehrpublikationen, diese Bundes- Schmidt nach den Anschlägen auf die rin, Angela Merkel. Von ihr stammt der wehreinsätze im Innern dienten nicht U-Bahn in Madrid im März 2004, wird furchtbare Satz: „Um die Politik ande- nur der Bekämpfung von Naturkatastro- die Schaffung eines neuen „Organisa- rer Nationen zu beeinflussen, um den phen und der Hilfe bei Unglücksfällen, tionsbereichs im Verteidigungsminis- Interessen und Werten der eigenen Na- sondern auch dem Kampf gegen den terium mit dem Titel ‚Landesverteidi- tion zu dienen, müssen alle Mittel in Terrorismus, worunter wohl eher das gung und Heimatschutz’“ angekündigt, Betracht gezogen werden, von freund- Vorgehen gegen die außerparlamenta- dessen Aufgabe der Aufbau von bis zu lichem Worten bis zu Marschflugkör- rische Opposition, zu verstehen ist. Ein 50 vernetzten „Regionalbasen Heimat- pern.“ So sind ihre Worte auf der Web- Foto in der „Europäischen Sicherheit“, schutz“ mit einer Stärke von jeweils bis site der Münchner Sicherheitskonferenz Heft 2/2007, zeigt „Soldaten des Jäger- zu 500 Soldatinnen und Soldaten in al- von 2004 dokumentiert. bataillons 292 bei der Ausbildung gegen len größeren Städten Deutschlands sein Diese Armee wird von Offizieren ge- Demonstranten“; die Demonstranten soll. Bei einem Einsatz sollen die betref- leitet, über die in der Wochenzeitung haben interessanterweise Arbeitsklei- fenden Regionalbasen durch Reservis- „Die Zeit“ am 20. November 2003 fol- dung an. ten auf eine Stärke von bis zu 5.000 Sol- gendes nachzulesen war: „Neue, noch Entgegen dem Wortlaut von Artikel 35 daten aufgestockt werden können. Die nicht veröffentlichte Daten bestätigen GG werden die Anlässe des Einsatzes der „Heimatschutztruppe“ soll zu 80 Pro- einen zwar nicht überraschenden, aber

43 dennoch ernsten Verdacht: dass Offi- Zusammengefasst: Erforderlich ist die enge Verbindung ziersstudenten – die künftige Führungs- 1. Die Militarisierung des Landes hat von Antimilitarismus und Antifaschis- elite der Bundeswehr – deutlich weiter mit dem neuen Reservistenkonzept ei- mus mit der Friedensbewegung. Wir rechts stehen als ihre zivilen Kommili- nen neuen Stand erreicht. Viele Tau- brauchen eine Friedensbewegung, die tonen. Und sie sind in jüngsten Jahren send Soldatinnen und Soldaten werden auch eine Demokratiebewegung ist. Da- noch ein Stück weiter nach rechts ge- darin zusätzlich einbezogen. Es erfolgt zu müsste an den Konsens von 1945 rückt.“ Fremdenfeindlichkeit und nati- eine Instrumentalisierung der Bundes- wieder angeknüpft werden, der besagt: onalistische Auffassungen von „deut- wehr zum Kampf im Innern und zur re- „Die Vernichtung des Nazismus mit sei- scher Kultur“ und der Wunsch nach aktionären Beeinflussung der Massen. nen Wurzeln ist unsere Losung. Der Auf- „Abwehr von Fremden“ und von „Über- So wächst eine gewaltige Militärorga- bau einer neuen Welt des Friedens und fremdung“ stehen im Mittelpunkt der nisation heran. Dagegen ist die Forde- der Freiheit ist unser Ziel.“ So hieß es Vorstellungen des neuen Offizierskorps. rung nach Abschaffung der Wehrpflicht im Schwur der überlebenden Häftlin- Hierzu heißt es im gleichen Artikel: „Die zu setzen, und jede neue Form von ge von Buchenwald Das bedeutet vor Einstellungen dieser künftigen Truppen- Zwangsdiensten („Zivildienst durch al- allem: Die Einhaltung der UNO-Char- führer tendieren zum rechten Rand.“ le“ à la CSU) ist entschieden zurückzu- ta und des Völkerrechts. Im Potsdamer Ähnliches ist in den „Informationen für weisen. Abkommen wurde den Deutschen 1945 die Truppe“ vom Oktober 2003 veröf- 2. Neben der rechten Haupttendenz der jede nazistische und militaristische Be- fentlicht worden. Truppe, existiert die neofaschistische tätigung sowie eine entsprechende Pro- Wühlarbeit innerhalb der Truppe weiter. paganda verboten. Immer wenn geplant Drittens Nazis wollen Einfluss in der Bundeswehr wird, Deutschland entsprechend Ar- Die Gewerkschaften, einst führend im und in der Gesellschaft, und sie wollen tikel 7 der UNO-Charta militärisch tä- Kampf gegen die Notstandsgesetze und Waffen und Waffenkunde. tig werden zu lassen, dann sagen wir: gegen die Möglichkeit von Bundeswehr- 3. Ein vorrangiges Ziel für alle Demo- Deutschland hat sich aufgrund seiner einsätzen im Innern und im Ausland, karten in der BRD muss die Verteidi- Geschichte aus Kriegen vollkommen nehmen sich nur zögernd dieser The- gung der Demokratie sowie der Frei- fernzuhalten. Es gelten die UNO-Char- matik an. Peter Strutynski, der Spre- heit jedes Einzelnen sein. Nur so haben ta-Artikel 53 und 107 fort, die Deutsch- cher des Friedensratschlages, hat zum linke Kräfte, haben die Gewerkschaften land das Kriegführen verbieten. Und es 1. September 2007 den Aufruf des DGB die Möglichkeit, im Interesse der klei- gilt das Grundgesetz, dessen Grund- zum Antikriegstag und die vielfältigen nen Leute zu handeln. Deshalb weh- rechtekatalog und dessen antimilitaris- Aktionen der gewerkschaftlichen Ba- ren wir uns gegen neue Gesetze – und tische und demokratische Bestandteile sis gewürdigt, zugleich aber ausgeführt: gegen alte –, die den Geheimdiens- wir auch zukünftig verteidigen werden. „Die Bundeswehr aus Afghanistan zu- ten und der Bundeswehr immer mehr rück zu holen, den Umbau der ursprüng- Macht geben, um unsere Grundrech- Ulrich Sander lich als reine Verteidigungsarmee kon- te zu beseitigen. Jede Maßnahme ge- struierten Bundeswehr in eine weltweit gen die Grundrechte, wie sie von Herrn eingreiffähige Interventionsarmee zu Schäuble geplant und von Herrn Jung stoppen, ‚Abrüstung statt Sozialabbau‘ und Herrn Wolf, dem Innenminister zu fordern, die Pläne des Innenministers Nordrhein-Westfalens, der auf Landes- Schäuble zum Einsatz der Bundeswehr ebene die Onlinedurchsuchung per Ge- im Inneren zu bekämpfen – all das sind setz einführte, vollzogen wird, hilft den Forderungen, die dem DGB auch heute rechten Extremisten mit ihren „Führer- gut zu Gesicht stehen würden.“ staats“-Vorstellungen und schwächt Nun haben Verdi und IG Metall auf ihren die Demokratie. Jede Maßnahme zur Kongressen wichtige Beschlüsse ge- Verharmlosung und Reinwaschung des fasst, wenn auch nicht gegen Ausland- geschichtlichen Faschismus selbstver- seinsätze der Bundeswehr, aber wohl ständlich auch. gegen die Bundeswehr im Innern. Und 4. Nötig ist die Verbindung der sozialen der DGB erklärte nach dem G-8 Gip- Kämpfe mit der Friedensforderung und fel in Heiligendamm: Der DGB lehne das heißt: Runter mit der Rüstung! die Grundgesetzänderungen zum Ver- 5. Seit 1999 wird von gewissen Politi- sammlungsrecht und zum Pressewe- kern, nicht zuletzt vom damaligen Bun- sen ab: „Es ist zu befürchten, dass die desaußenminister Joschka Fischer, Länder beim Versammlungsrecht einen wahrheitswidrig behauptet, man müsse Wettlauf um die strengsten Regelungen Krieg führen, um ein neues „Auschwitz“ beginnen und damit das für unsere De- nicht wieder zuzulassen. Mit dieser, die mokratie so wichtige Grundrecht der Geschichte verfälschenden Aussage, Versammlungsfreiheit einschränken.“ legitimierte die damalige aus SPD und Nebenbei: Der Wettlauf ist schon im Bündnis 90/Die Grünen bestehende Gange. Das vom Landtag Mecklenburg- Bundesregierung den völkerrechtswid- Vorpommerns zu Zeiten der SPD-PDS- rigen Einsatz der Bundeswehr auf dem Koalition eingeführte Polizeigesetz hat Balkan. Es gilt jedoch: Auschwitz wurde die Voraussetzungen geschaffen, dass durch Krieg möglich. Die Verpflichtung: mittlere Polizeiführer die Bundeswehr „Nie wieder Krieg – nie wieder Faschis- per „Amtshilfe“ anfordern dürfen und mus“ mit ihren beiden Seiten ist wieder- damit die Verfassung brechen. herzustellen.

44 Die extreme Rechte bei den Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg sowie bei den Kommunalwahlen in Bayern

Die Ergebnisse der extremen Rechten In Niedersachsen hatte die NPD ein ihre Gewinne auf dem Lande gegen ihre bei den Landtagswahlen in Hessen, Nie- weitaus besseres Ergebnis als die herben Verluste in München und Nürn- dersachsen und Hamburg sowie bei schließlich zu verzeichnenden 1,5 Pro- berg auf, kam dennoch nur auf 40,0 Pro- den Kommunalwahlen in Bayern sind zent (52.817 Stimmen) erwartet. Zwar zent der Stimmen – 5,5 Prozent weniger erfreulich schlecht ausgefallen. Die ex- wurde die Hürde der Wahlkampfkoste- als vor sechs Jahren, das schlechteste treme Rechte blieb bei allen drei Land- nerstattung problemlos übersprungen, Ergebnis seit 1966. Die SPD feierte ih- tagswahlen weit hinter den Ergebnis- dennoch bleib man hinter den selbst re Erfolge mit der Wahl der Oberbür- sen zurück, wie sie sie etwa zuletzt in formulierten Erwartungen – mindes- germeister in München und Nürnberg, Mecklenburg-Vorpommern oder für die tens ein Achtungserfolg von 2 bis 3 Pro- doch im Durchschnitt hatte sie 2,5 Pro- regionale Ebene in Berlin erzielen konn- zent – zurück. Anders als in Hessen zent wenige Stimmen als 2002, verlor te. Während sich die NPD in Hessen und gab es in Niedersachsen keine rechte zum fünften Mal hintereinander bei ei- die DVU sowie Liste Kusch (eine rech- Konkurrenzkandidatur für die NPD und ner Kommunalwahl Stimmen. Von den te CDU-Abspaltung) in Hamburg nicht auch mit dem Spitzenkandidaten Andre- Verlusten der beiden großen Parteien wirklich gute Chancen für ein achtba- as Molau hatte man eine relativ seriö- konnten Freie Wähler-Gruppen, Grü- res Ergebnis ausgerechnet hatten, blieb se Figur an der Spitze. Ein erster Blick ne und einige Kleinparteien profitieren. auch die NPD in Niedersachsen, wo auf die Wahlkreisergebnisse zeigt auch, Nicht zuletzt konnte die Linke, wo sie man mehr erwartet hatte, deutlich un- dass die NPD wenige herausragende Er- antrat, bis auf zwei Ausnahmen, in die ter diesen Erwartungen. gebnisse erzielte und in ausgewählten Parlamente einziehen. Während die NPD in Hessen mit 0,9 Kreisen maximal 2,7 Prozent erreichte. In mehreren Kreisen traten auch Kan- Prozent der Stimmen nicht die erfor- Interessant ist das Ergebnis der parallel didaten der Republikaner zur Wahl der derliche Grenze der Wahlkampfkoste- zur Landtagswahl durchgeführten „Juni- Landräte an. Insgesamt chancenlos er- nerstattung erreicht hat, hat sie damit orwahl 2008“ in Niedersachsen, an der reichten sie Stimmenanteile von 4,9 auch dieses Minimalziel einer Kandida- sich immerhin 19.000 Schülerinnen und Prozent im Berchtesgadener Land, von tur verfehlt. Die „Republikaner“ erlit- Schüler und damit 87,9 Prozent beteilig- 3,7 Prozent in Erding, von 1,8 Prozent in ten gegenüber der Wahl im Jahre 2003 ten. Hier kam die NPD auf ein Ergebnis Nürnberg-Land. Für die Kreistage erhiel- noch einmal einen Verlust von 0,3 Pro- von 5,4 Prozent. ten die Reps in Ingolstadt 2,6 Prozent zent der Stimmen, liegen mit genau ei- In Hamburg kam die DVU mit 0,8 Pro- der Stimmen, in Dingolfing-Landau 3,8 nem Prozent aber noch im Bereich der zent (6.324 Stimmen) auf ein ähnlich Prozent und in Erding 5,2 Prozent. Die Wahlkampfkostenerstattung. In absolu- schlechtes Ergebnis wie die NPD in NPD – als Partei selbst nicht angetre- ten Zahlen kam die NPD in Hessen auf Hessen. Mit der Liste des ehemaligen ten – versteckte ihre Leute in den „Bür- 23.972 Wähler, die „Republikaner“ er- Innensenators und Rechtsauslegers der gerinitiativen Ausländerstopp“ (BIA). zielten 27.721 Stimmen. Union Roger Kusch gab es in Hamburg Diese hatten nach dem Überfall türki- Somit ist es den Parteien der extre- erneut den Versuch, an die früheren Er- scher Jugendlicher auf einen Rentner in men Rechten nicht gelungen, den ras- folge der Schill-Partei anzuknüpfen. Mit München ihre ausländerfeindliche Het- sistisch gefärbten Wahlkampf der Union 0,5 Prozent (3.520 Stimmen) scheiter- ze noch einmal verstärkt. Damit konn- für sich nutzbar zu machen. Zwar hat- te dieser Versuch aber kläglich, so dass ten in Nürnberg, wo die BIA 3.558 Stim- ten sich weder die NPD noch die Reps sich für die rechtsbürgerlichen Alterna- men (1,9 Prozent) erhielt, der bayerische große Chancen in Hessen ausgerech- tiven zu DVU und NPD kein neuer Erfolg NPD-Vorsitzende Ralf Ollert wieder und net, dennoch ist das Ergebnis aus ihrer abzeichnet. zusätzlich mit Sebastian Schmaus ein Sicht eine Enttäuschung. Die fehlende Für die NPD ist es offensichtlich sehr Kader der Nürnberger Anti-Antifa in den Verankerung der NPD in Hessen hat da- schwer, im Westen der Republik ähnlich Stadtrat einziehen. zu beigetragen, dass die Partei hier ein erfolgreich zu sein, wie im Osten. Eine Nach München entsandte die NPD den schlechtes Ergebnis erzielt hat, wenn- weitere Konzentration auf die nächsten rechtsextremen Publizisten und Mitar- gleich zu berücksichtigen ist, dass das Wahlen im Osten ist deshalb zu erwar- beiter ihrer sächsischen Landtagsfrakti- Schwergewicht des Wahlkampfes der ten, vor allem mit Blick auf Thüringen, on, Karl Richter, und baute ihn zum Spit- NPD eindeutig in Niedersachsen lag. Es Brandenburg und Sachsen. Von beson- zenkandidaten der BIA auf. Mit den 1,4 zeigt sich, dass die finanziellen Schwie- derer Bedeutung wird dabei sein, ob Prozent Stimmen für diese Liste (kumu- rigkeiten der Partei offensichtlich Pro- der NPD weiterhin der Spagat zwischen liert und panaschiert) zog nun der NPD- bleme bereiten, in zwei parallelen Wahl- bürgerlichem Spektrum und Kamerad- Mann in den Münchner Stadtrat ein. Die kämpfen eine weithin wahrnehmbare schaftsszene gelingt. Hier gibt es erste höchsten Stimmanteile erreichte die Propaganda zu betreiben. Bruchstellen, da aus Sicht der Kamerad- BIA in den Stadtteilen Feldmoding-Ha- Die Republikaner konnten ihren fort- schaften die NPD den Weg der „Verbür- senbergl (2,6 Prozent) und Milbertsho- schreitenden Bedeutungsverlust auch gerlichung“ weitergehe, von dem man fen (2,5 Prozent), die geringsten in der mit dem hessischen Ergebnis nicht kor- sich absetzen müsse. Münchner Altstadt und in der Maxstadt rigieren, allein die Tatsache, dass man Nach den Kommunalwahlen in Bayern (je 0,6 Prozent). vor der NPD und im Bereich der Wahl- am 2. März 2008 versuchten sich so- kampfkostenerstattung landete, dürfte wohl die CSU als auch die SPD als Ge- Dr. sc. Roland Bach und für einige Ermunterung sorgen. winner darzustellen. Die CSU rechnete Dr. Gerd Wiegel

45 Neonazis in unserer Stadt: Völklingen an der Saar

Lebendige Stadt am Fluss nennt sich stillgelegten Hüttenkomplexes in die Doch dann folgte bei der Stadtrats- Völklingen, die Stadt, in der ich mit Weltkulturerbe-Liste der UNESCO bei- wahl im Juni 2004 der Paukenschlag: meiner Familie lebe. Zehn Autominu- tragen. Inzwischen boomt „Saarstahl“ die NPD erreichte 1.447 Stimmen, das ten Fahrzeit ist unser Stadtzentrum mit weniger als 4.000 Beschäftigten waren nicht weniger als 9,38 Prozent von dem der Landeshauptstadt Saar- (früher waren es etwa 17.000!) in Völk- der abgegebenen Stimmen. Wie auch brücken entfernt. Mehr als 100 Jahre lingen, nachdem vor Jahren ein Konkurs schon bei der Oberbürgermeisterwahl von Eisen- und Stahlindustrie und dem angemeldet worden war. Im Jahre 2005 zwei Jahre zuvor, konnte sie vor allem Bergbau geprägt wurden Industriearbei- betrug die Arbeitslosenquote in unserer in der Innenstadt viele Stimmen gewin- ter-Dörfer 1937 zur Stadt erklärt. Rund Stadt 20, 3 Prozent. nen: hier votierten nicht weniger als 100 Jahre lang dominierte die Unter- In den 1960er Jahren waren von der Hüt- 10,64 Prozent für die NPD! Im Ergebnis nehmerfamilie Röchling im Werk und in tenindustrie und dem Bergbau tausen- dieser Wahlen entsandten die Neonazis den Kommunen. Schon früh setzte Her- de Arbeiter an die Saar gelockt worden. fünf ihrer Repräsentanten in den Stadt- mann Röchlings Kollaboration mit den Die Familien folgten ihnen. Inzwischen rat. Es bestätigte sich: Mit der Zunah- Faschisten ein, beteiligte er sich an der beträgt der Ausländeranteil in der Stadt me der wirtschaftlichen und sozialen Kriegsvorbereitung, wurde Wehrwirt- 12 Prozent. Sie kommen aus 81 Staa- Probleme in Völklingen und im Saarland schaftsführer und mächtiger Vorsitzen- ten, darunter 2.375 Türken, 1.339 Itali- erhielt die NPD nennenswerten Zulauf. der der Reichsvereinigung Eisen. Später ener, 1.135 Serben und Montenegriner, Dabei bildete Völklingen den Schwer- vom französischen Militärtribunal zu 10 111 Polen, 52 Algerier. In der Innenstadt punkt, aber auch in der Landeshaupt- Jahren Gefängnis erurteilt, wurde er be- wurde der Ausländeranteil an der dort stadt Saarbrücken erhielt der NPD-Wan- reits 1951 amnestiert. lebenden Bevölkerung auf über 24 Pro- derfunktionär Marx einen Sitz in einem In Völklingen hielt (und hält sich noch zent gezählt. Stadtbezirksrat. teilweise) ein verklärtes Bild auf Her- Vor diesem Hintergrund muss man das In unserer Stadt kam erschwerend hin- mann Röchling und seine Familie. Als Wachstum der Ausländerfeindlichkeit zu, dass es neben CDU, SPD, FDP und sich die Krisenerscheinungen in der Ei- und die Artikulation von „schnellen Ant- Grünen zu keiner Kandidatur der Links- sen- und Stahlindustrie mehrten, zog worten“ und einfach klingenden „Wahr- partei gekommen war. Grüne und FDP sich der Röchling-Clan aus Völklingen heiten“ sehen: „Die Ausländer nehmen fielen unter die 5-Prozent-Klausel, so und dem Saarland zurück. uns die Arbeitsplätze weg!“ Oder: „In dass neben der CDU und SPD allein die Völklingen war tatsächlich lange Zeit ei- der Stadtmitte machen sich immer mehr Neonazis im Stadtrat Mandate gewin- ne lebendige Stadt. 1961 gab es hier in türkische und italienische Geschäfte nen konnten. der damals drittgrößten Stadt des Saar- breit!“ Zum letzteren: Machen diese Ge- Was wurde getan, um der NPD entge- landes 1.716 Arbeitsstätten mit 32.713 schäfte im Zentrum Völklingens dicht, genzuwirken? Beschäftigten. Noch 1970 fanden hier dann ist da noch mehr „tote Hose“. In den 1970er Jahren hatte die Kraft 32.000 Menschen „Arbeit und Brot“. Hier setzte schon vor Jahrzehnten ein der engagierten Linken (DKP und Ge- Dann ging es bergab. Es kam zu Teilstill- NPD-Mitglied an, das als agiler Ver- werkschaften) noch ausgereicht, vor legungen der Hütte (Roheisenproduk- treter eines Versicherungs-Unterneh- den Wahlen vor dem Rathaus präsent zu tion, Zementfabrik, Kokerei). Ein Kraft- mens wirkte. 1974 und 1979 versuch- sein, um Unterschriftenwillige davon ab- werk wurde stillgelegt, eine weitere te die NPD bei den Kommunalwahlen zuhalten, der NPD die Teilnahme an den Großkokerei, die Bergwerke Luisenthal zu kandidieren, erreichte aber nicht die Wahlen zu ermöglichen. Sozialdemokra- und Velsen. 2001 waren es hier dann notwendige Zahl der Unterstützungs- ten, die aufgefordert worden waren, sich noch 15.376 Beschäftigte und vier Jahre unterschriften: die dreifache Zahl der mit öffentlichen Aktivitäten ebenfalls ge- später nur noch 13.489. Mit dem Weg- Stadtratsmandate (3 mal 51 = 153 Un- gen die NPD zu engagieren, meinten da- fall der Arbeitsplätze und weiteren Fak- terschriften), die unter Vorlage des mals, das werte diese Partei nur auf. Be- toren waren enorme Verluste an einzel- Personalausweises im Rathaus hätten mühungen um die Konstituierung eines handelsrelevanter Kaufkraft verbunden. geleistet werden müssen. Bei der Bun- möglichst breit gefächerten Bündnisses Das führte zu zahlreichen Geschäfts- destagswahl 1983 erhielt die NPD in gegen die Rechten fehlte es an der not- schließungen und auch Wegzügen. Von Völklingen lediglich 121 Erst- und 115 wendigen Kontinuität. Nach der Stadt- den einst mehr als 50.000 Einwohnern Zweitstimmen (0,4 bzw. 0,38 Prozent). ratswahl von 2004 kam es dann aber sind gegenwärtig nur noch etwa 40.000 Bei der Stadtratswahl 1994 gab es 174 doch zu verschiedenen Bündnis-Grup- übrig geblieben. Die jüngste Prognose Stimmen für die NPD = 1,07 Prozent, pierungen: „Völklinger gegen die Nazis“, spricht von einem weiteren „Schrump- 1999 dann schon 572 Stimmen = 3,71 „Zukunftswertstatt für ein friedliches fen“ auf 34.400 Einwohner bis zum Jah- Prozent der abgegebenen Stimmen. Bei Miteinander der Kulturen“, „Bündnis ge- re 2020. der Wahl des Oberbürgermeisters im gen Fremdenfeindlichkeit“. Info-Stände Beim Spaziergang durch die Innenstadt Jahre 2002 wuchs die Zahl ihrer Wähler- wurden organisiert, ein „Freundschafts- mag man sich gelegentlich an eine ver- stimmen deutlich an: diesmal votierten lauf“ gegen Rassismus und Vorträge lassene Goldgräber-Stadt aus einem 1.321 Bürgerinnen und Bürger Völklin- über Verfolgung und Widerstand in der Western erinnern. Es soll nicht uner- gens für den Kandidaten der NPD, das Nazizeit durchgeführt. wähnt bleiben, dass Verwaltung und entsprach immerhin 5,7 Prozent der ab- Die NPD hat mittlerweile eines ihrer ur- Rat der Stadt vieles unternehmen, um gegebenen Stimmen. In den Stimmbe- sprünglich fünf Mandate verloren, weil die Lage der Stadt zu verbessern. Da- zirken der Innenstadt kamen die Neona- ein Abgeordneter sich zurückzog und es zu mag auch etwas die Aufnahme des zis sogar auf 8,9 Prozent. keine Nachfolgekandidaten auf der Lis-

46 te gab. Die vier Verbliebenen, eine Frau sind weder gelöst oder auch nur in An- Andere Gemeinden scheinen vergessen und drei Männer, machen sich im Stadt- sätzen gemildert worden. Damit bleiben zu haben, dass es die NPD in einer Kri- rat allenfalls dadurch bemerkbar, dass die ideologischen Wurzeln der Auslän- sensituation 1968 – im Vorjahr hatte ei- sie sich in Schweigen hüllen. Hatte an- derfeindschaft – und es bleibt weiterhin ne tiefgehende ökonomische Krise be- fänglich noch der NPD-Funktionär Marx sehr viel zu tun. gonnen, zum ersten Mal regierte in der aus Sachsen „aus der Ferne“ Hilfestel- Wenige Kilometer saarabwärts in Saar- BRD eine aus CDU/CSU und SPD gebil- lung geleistet, so scheint diese inzwi- louis tummelt sich eine rechtsextreme dete Große Koalition – geschafft hatte, schen eingestellt worden zu sein. Die „Kameradschaft Saarlautern“. Diese in viele Rathäuser einzuziehen. Im Okto- NPD stellt im Stadtrat keine Anträge, sie wählten ihren Namen so, wie die Nazis ber 1968 rückte sie auch in den Stadt- stimmt mitunter den Initiativen der CDU einst jene Stadt umgetauft hatten, deren rat von Saarbrücken, den Kreistag von zu, manchmal auch denen der SPD. Gründung auf Ludwig XIV. zurückgeht. Saarbrücken-Land, den Kreistag Ottwei- Eine neue Situation deutete sich bei Übrigens: in Saarlouis gab es 1991 in ei- ler und den Kreistag von Homburg ein. den Bundestagswahlen 2005 an. Die nem Wohnheim für Flüchtlinge den ers- Insgesamt kam die NPD an der Saar auf NPD erhielt in Völklingen 525 Erst- und ten Toten bei den damals bundesweiten 5 Prozent der abgegebenen Stimmen, 618 Zweitstimmen (= 2,83 Prozent der Brandanschlägen gegen Ausländer. Sa- in der Landeshauptstadt Saarbrücken Zweitstimmen). Die Linke kam auf 6.596 muel Yeboah starb an den Brandverlet- auf 7 Prozent. Der von den Neonazis Erst- und 5.348 Zweitstimmen (= 30,18 zungen, andere Heimbewohner brachen proklamierte „Sturm auf den Landtag“ Prozent der Erst- bzw. 24,51 Prozent der sich die Knochen beim rettenden Sprung konnte nur durch massive Proteste der Zweitstimmen). Manche Kolleginnen aus dem Fenster. Die Tat ist bis zum heu- DGB-Gewerkschaften und vieler Antifa- und Kollegen aus der Linkspartei mein- tigen Tag nicht aufgeklärt worden. Ein schisten verhindert werden. ten angesichts dieser Wahlresultate, das besonderes Gedenken an das Mordopfer Wer daran glaubt, Rechtsextremismus Thema NPD habe sich damit erledigt. Wir Yeboah hält der Oberbürgermeister der sei ein „Phänomen“ speziell in den neu- in den Bündnissen gegen Rechts sind al- Stadt nicht für notwendig: „Wir hatten in en Bundesländern war und ist auf dem lerdings der Auffassung, dass die Linke den letzten Jahren keinerlei ausländer- Holzweg. Er kennt die Geschichte der zwar viele Protestwähler für sich gewin- feindliche Übergriffe. Wir haben es ge- „alten“ Bundesrepublik nicht oder hat nen konnte, aber bei der nächsten Kom- schafft, aus Saarlouis eine weltoffene, sie verdrängt. Wir in Völklingen bleiben munalwahl wird hier der Spitzenkandi- gastfreundliche Stadt zu machen.“ dran am Thema Rechtsextremismus. dat nicht Oskar Lafontaine heißen. Weitere „Kameradschaften“ treiben an Unsere Zukunftswerkstatt hat sich auf Es kommt also auch auf das Personalan- der Saar ihr Unwesen. Manche Kommu- weitere Aktivitäten verständigt. gebot der Liste an. Und vor allem: die nen, so z. B. die Stadt Ottweiler, wehren wirtschaftlichen und sozialen Probleme sich aktiv gegen das Vordringen der NPD. Luitwin Bies

Rechtsextreme Aktivitäten in Oranienburg – und die Gegenwehr der Zivilgesellschaft

Neuigkeiten haben manchmal einen folg die so genannte „3. Strategie“, den Vom Mobilen Beratungsteam Neurup- Doppelcharakter, sie sind positiv und „Kampf um die öffentlichen Räume“ (im pin gibt es in diesem Zusammenhang negativ zugleich. Nach dem bewähr- wörtlichen Sinne, um Versammlungs- die folgende Einschätzung, die ich tei- ten Prinzip, zuerst das Negative: Wie es räume) zu führen. Damit haben sie lei- le: „Es gibt im Landkreis Oberhavel die schon oft in den Medien gemeldet wur- der teilweise Erfolg, weil manche Gast- NPD mit strategisch denkenden und ak- de, ist der direkt an Berlin angrenzende wirte sich von ihnen überreden lassen tiven Menschen, die für die rechtsex- Teil des brandenburgischen Landkrei- oder im Interesse des Umsatzes beide treme Ideologie leben. Es gibt direkte ses Oberhavel zum Wohn- und Aktions- Augen zudrücken, wie die jetzt schon personenbezogene Beziehungen nach ort zahlreicher „Prominenter“ aus den zweimalige Durchführung eines Berli- Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, Reihen der NPD geworden. Einige ihrer ner Landesparteitages im Oberhaveler die nachweisbar sind, und es bestehen Führungskader und ihrer Anwälte haben Umfeld von Berlin zeigte. Diese Partei- durch die Parteibindung bundes- und sich mittlerweile hier angesiedelt, ver- tage wurden vor einiger Zeit in Borgs- europaweite Verbindungen. Durch diese suchen auch in ihrem Umfeld, wie z. B. dorf und kürzlich in Velten organisiert. Zusammenarbeit findet ein Austausch Frau Stella Palau, die Frauenbeauftrag- Wie aus ihren Verlautbarungen im In- statt, welche Themen und welche Stra- te ihrer Partei und Mitglied im NPD-Bun- ternet ersichtlich ist, will die NPD das tegie für die Ansprache von Bürgern am desvorstand ist, die in dem Familienzen- auch auf weitere Räume öffentlichen besten greifen. Das ist keine lokale Split- trum in Hohen Neuendorf über ein Jahr Charakters in der Vorbereitung der tergruppe.“1 Symptomatisch ist auch die lang Kinder betreute, Fuß zu fassen. brandenburgischen Kommunalwahlen Fortexistenz gewaltbereiter und Gewalt 2008 ausdehnen. Dabei möchten sie ausübender Gruppierungen (nach dem Die NPD und ihr „Kampf um besonders gerne Gemeinderäume in Verbot des „Sturm Oranienburg“), wie die öffentlichen Räume“ Anspruch nehmen Kurz gesagt: Sie wol- immer von neuem auftretende großflä- Unter dem Anstrich, die Vertreter ei- len hier Verhältnisse schaffen, wie sie chige Schmierereien und der Brandan- ner ganz „normalen“ Partei zu sein, vor der letzten Landtagswahl in Meck- schlag auf die Büros der Abgeordneten kümmern sie sich um soziale Proble- lenburg-Vorpommern beobachtet wer- und die Geschäftsstelle der Partei „DIE me. Hinzu kommt ihr Bestreben, mit Er- den konnten. LINKE“ im Juni 2007 demonstrierten.

47 Netzwerk gegen rechtsextreme zu uns gestoßen die VdN Oberhavel, Für 2008 haben wir uns viel vorge- Aktivitäten ist entstanden der BRH Oranienburg, das Forum Ziviler nommen. Es wird ein mehrtägiges Se- Nun das Positive: Gegen diese Aktivitä- Friedensdienst (Projekt Oranienburg), minar für die Redakteure von Schüler- ten der NPD und ihr Umfeld haben sich die Gedenkstätte Sachsenhausen, die zeitungen des Kreises geben und eine sofort Bürger und Kommunalpolitiker, Bundestagsabgeordnete Frau Angelika Zusammenkunft der jetzigen Gestalter Demokraten unterschiedlicher partei- Krüger-Leißner, der Landtagsabgeord- oder der zukünftigen „Macher“ der In- politischer Provenienz, mit großem En- nete Torsten Krause und der evangeli- ternetvorstellungen der Schulen. Motto: gagement gewandt. Es hat sich ein breit sche Kirchenkreis Oranienburg. Das Internet demokratisch nutzen und gefächertes Bündnis „Nordbahngemein- Sinn und Zweck des Netzwerkes ist der gestalten. Mit einem Flyer, der an alle den mit Courage“ gebildet, zuerst mit Erfahrungsaustausch, die gegenseitige In- Haushalte im Kreis Oberhavel gehen 23 Partnern, dem auch die Städte und formation, aber nicht zuletzt sind es auf- soll, wollen wir zur Wahl der demokrati- Gemeinden angehören, die das bürger- einander abgestimmte Aktionen für die schen Parteien aufrufen und uns mit den schaftliche Engagement an der Basis er- demokratische Mitwirkung der Bürger, Argumenten der Rechtsextremen ausei- freulicherweise auch materiell fördern. gegen die Aktivitäten der rechtsextremen nandersetzen. Im Sommer wird es ein Inzwischen wurde der Verein „Nord- Kräfte, vor allem mit dem Blick auf die Happening der Demokraten im Zentrum bahngemeinde mit Courage e. V.“ ge- Brandenburger Kommunalwahlen 2008. Oranienburgs geben und in den Städten gründet, der sich zum Ziel gestellt hat, Wir freuen uns darüber, dass wir von und Gemeinden sollen auffällig gestal- allen antidemokratischen Bestrebungen der Landesregierung und vom Kreistag tete Papiertonnen stehen, in denen man auf der lokalen Ebene in Staat und Ge- Oberhavel Unterstützung erhalten, denn die Pamphlete der NPD entsorgen kann. sellschaft entgegenzuwirken. der Kreis Oberhavel konnte trotz der Wer Näheres darüber erfahren möchte, Auch für den Kreis Oberhavel haben vorn geschilderten Situation im Bundes- wähle sich bitte ein: www.demokratie- wir daraus eine Strategie der Gegen- programm „Jugend für Vielfalt, Toleranz netz.de. wehr entwickelt. Wir wollen die Bürger und Demokratie – gegen Rechtsextre- Zusammengefasst: Wir wollen alles, von Glienicke/Nordbahn über Oranien- mismus“ leider nicht berücksichtigt wer- was in unseren Kräften steht, tun, um burg bis nach Fürstenberg einbeziehen den. Die Koordinierungsstelle „Toleran- der Verbreitung rechtsextremen Gedan- (die Süd-Nord-Richtung durch unseren tes Brandenburg“ gibt finanzielle Hilfe kengutes, von Auffassungen des Antise- Kreis), ihrem Willen, sich gegen den und der Kreistag hat Mittel für Projekte mitismus und der Feindschaft zu Aus- braunen Schmutz zu wenden, Ausdruck im Haushalt 2007 eingestellt – er wird ländern Einhalt zu gebieten. Wir wollen und Stimme geben. dies auch für 2008 wieder realisieren. verhindern, dass die Vertreter solcher Deshalb hat sich im Herbst 2007 das Wir konnten einen Netzwerkkoordina- Auffassungen, ob aus der NPD oder „Netzwerk für lebendige Demokratie tor einsetzen. Diese Aufgabe hat Pfarrer der DVU, in unsere kommunalen Parla- Oberhavel“ gegründet, in dem neben Bernhard Fricke übernommen (Kontakt- mente einziehen und in unserem kom- den Bürgerinitiativen Oranienburger Fo- möglichkeit: [email protected]). munalen Leben eine Rolle spielen kön- rum gegen Rassismus und rechte Ge- Unsere gemeinsame Wachsamkeit und nen. Das ist oftmals auch deshalb nicht walt, dem Förderverein für interkulturel- Aktivität zahlt sich aus. Im Nordteil des leicht, weil die Gegenthese, eine wirkli- le Bildung und Begegnung Oranienburg, Kreises, in Zehdenick, konnten gezielte che Demokratie im Rahmen dieser un- dem Hennigsdorfer Ratschlag, der Vel- Aktivitäten der NPD zur Einbindung Ju- serer gesellschaftlichen Bedingungen, tener Initiativgruppe gegen Gewalt und gendlicher gebremst werden. In Gran- nur unzureichend gestaltbar und gerade Rassismus, den Nordbahngemeinden see ist der Versuch einer NPD-Frau (wie für junge Leute kaum erlebbar ist. mit Courage auch die Kreisverwaltung, in Hohen Neuendorf) in einen sozialen die Städte Oranienburg, Hennigsdorf, Dienst einzudringen, aufgedeckt worden Reiner Tietz, Mitglied im Forum gegen Zehdenick und Fürstenberg, die Ge- und in Kremmen wenden sich Stadtver- Rassismus und rechte Gewalt meinde Löwenberger Land und Vertre- ordnete, der Bürgermeister und Gast- ter der Aktion „Gesicht zeigen e. V.“ zu- wirte gegen Versuche der NPD, Räume sammenwirken. Inzwischen sind noch für Veranstaltungen zu binden. 1 Oranienburger Generalanzeiger, 14.5.2007.

Ein Wiederholungstäter Rassistische Kampagne im Wahlkampf von Roland Koch

Rassistisch konnotierte Wahlkämpfe kampf, wie er von der hessischen CDU dürftig sind. Bei seiner ersten Wahl zum und politische Interventionen sind in unter Roland Koch geführt wurde, kei- Ministerpräsidenten Hessens im Jahr der Bundesrepublik keine Ausnahme ne betrübliche Ausnahme, sondern die 1999 hatte Koch sich schon einmal ge- sondern sie gehören zum möglichen Bestätigung einer Strategie die bewusst zielt eine ausländerfeindliche Kampa- und nutzbaren Repertoire auch demo- mit der Aus- und Abgrenzung von in gne zunutze gemacht und damit eine kratischer Parteien. Vor allem – nicht Deutschland lebenden Minderheiten ar- schon verloren geglaubte Wahl gewon- nur – von Seiten der Union wurden und beitet. nen. Mittels einer Unterschriftenkam- werden vorhandene rassistische Stim- Eine Ausnahme ist es dagegen eher pagne gegen das von der rot-grünen mungen in größeren Teilen der Bevöl- schon, dass eine solche Strategie nicht Bundesregierung vorgeschlagene neue kerung immer mal wieder genutzt, um vom gewünschten Erfolg gekennzeich- Staatsangehörigkeitsrecht und die hier politisches Kapital daraus zu schlagen. net ist, wenngleich die Gründe für den vorgesehene Ausweitung der Möglich- Insofern ist der zurückliegende Wahl- Misserfolg Kochs sicher diskussionsbe- keit doppelter Staatsbürgerschaften

48 mobilisierte Koch die Ressentiments gefehlt hatte. Unterstützt wurde diese in ihre „Herkunftsländer“ abzuschie- weiter Teile der Bevölkerung gegen ei- Kampagne von der konservativen Pres- ben lässt diese Mensche im Status des ne vermeintliche Überfremdung, die vor se von Focus bis zur FAZ, angeheizt täg- (dann unwillkommenen) Gastes und allem von Seiten der Union immer wie- lich durch die Bild-Zeitung, für die Ras- nicht des hier lebenden Bürgers. Deut- der beschworen wurde. Schnell wurde sismus zum Tagesgeschäft gehört. Die lich wird damit, dass für die Vertreter die Unterschriftenkampagne der Hes- vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Struck dieser Ansicht nicht das reale Leben sischen CDU zu einer Art Abstimmung geäußerte und von der Union heftig kri- (oft von Kindheit an) in diesem Land, über die Zuwanderung generell und die tisierte Ansicht, Koch habe sich heim- sondern die vermeintlich ethnische damals oft zitierte Frage vieler unter- lich über den Überfall auf den Rentner Herkunft (letzlich die völkisch – sprich schriftswilliger Bürger und Bürgerinnen, gefreut, weil er dadurch sein Thema ge- blutsmäßige – Zugehörigkeit) entschei- „wo kann ich hier gegen die Ausländer funden habe, darf getrost als wahr an- dend ist. unterschreiben?“, bringt den Inhalt der genommen werden. Der Union ging es Warum hat der rassistische Mobilisie- Kampagne genau auf den Punkt. Wie mit dem Thema ersichtlich darum, die rungsversuch von Roland Koch dennoch schon in der Debatte um die Abschaf- tatsächliche oder doch vermutete Mei- nicht funktioniert? Die positiv gestimm- fung des Asylrechts 1991 bis 1993 war nung an den Stammtischen ins Zentrum te Antwort ist, weil Rassismus nicht es der Union und auch manchen an- der Wahlkampfdebatte zu rücken. Of- mehr mehrheitsfähig ist, die zurückhal- deren Politikern egal, welche fatalen fensichtlich bringt es die Dynamik von tender gestimmte Antwort lautet, weil Auswirkungen ihre Rhetorik für die in Wahlkämpfen mit sich, dass warnende die realen Probleme in Hessen (Schu- Deutschland lebenden Migrantinnen Stimmen auch aus den eigenen Reihen le, Arbeit etc.) den Menschen wichtiger und Migranten hatte. keine Chance auf Gehör hatten, zumal – waren als das Thema kriminelle Zuwan- Roland Koch, konservatives Aushänge- und da liegt das wirkliche Problem – die derer. Für beide Sichtweisen lassen sich schild der Union und einer der letzten angesprochenen rassistischen Ressen- Gründe anführen. Die schon angeführ- legitimen Nachfolger des Stahlhelmflü- timents ja tatsächlich in größeren Teilen ten Untersuchungen zu rechten Einstel- gels der Union, waren diese Auswirkun- der Bevölkerung vorhanden sind, wie lungspotenzialen, zu Themen wie Zu- gen damals wie auch in der Gegenwart zahlreiche Untersuchungen (z. B. Heit- wanderung und Ausländer zeigen, dass egal. Sehr deutlich wird bei der Analy- meyer, Deutsche Zustände) seit Jahren keineswegs von einer Gesellschaft aus- se des Wahlkampfes von Koch, dass er belegen. gegangen werden kann, die gegen ras- systematisch auf der Suche war nach Mit der Debatte um kriminelle junge Mi- sistische Versuchungen immun ist. Ganz einem Thema, mit dem er die vermu- granten gelang es der CDU, den medi- im Gegenteil steigen Vorurteile und Ab- teten Ressentiments in diesem Bereich alen Diskurs zu beherrschen und die grenzungsbedürfnisse gerade in Zeiten bedienen könnte. Vor allem angesichts bis dahin bestimmenden Themen an verschärfter sozialer Spaltungen der der schwachen Umfragewerte für ihn den Rand zu drängen. Für die Opposi- Gesellschaft. Es ist also eine gewagte und der stärker werdenden Konkurrenz tion war es nicht länger möglich, das These davon auszugehen, dass die (re- war man auf Seiten der Union um ein von Koch gesetzte Thema zu ignorieren. lative) Niederlage Kochs eine bewusste emotionalisierendes und mobilisieren- Auch gelang es der CDU zunächst den Absage an das Thema sei. Offensicht- des Thema bemüht. Schon Mitte De- Eindruck zu erwecken, sie habe tatsäch- lich ist es der Opposition aber gelun- zember 2007 wurde von Koch ein erster lich ein zentrales und bisher aus falsch gen deutlich zu machen, dass Koch ein Versuchsballon gestartet: Spiegel-onli- verstandener Rücksicht gegenüber den Thema nutzen wollte, bei dem in Hes- ne meldete am 16. Dezember, der hessi- Zuwanderern tabuisiertes Thema in die sen selbst zahlreiche Versäumnisse zu sche Ministerpräsident Koch fordere ein Debatte eingebracht. Allein der als Ver- verzeichnen sind und mit dem die CDU Burka-Verbot an den Schulen des Lan- teidigung für Roland Koch gedachte Hin- von der Bilanz der eigenen Regierungs- des. Beschworen wurde von Koch das weis, auch Gerhard Schröder habe sich politik ablenken wollte. Bild der fundamentalistischen Gefahr in seiner Zeit als Ministerpräsident ähn- Im Unterschied zu Kochs Kampagne von direkt vor der eigenen Tür, schlimmer lich radikal zum Thema Abschiebung 1999 hat sich aber auch in der öffentli- noch, in den Schulen und damit als Ge- von straffälligen Ausländern geäußert, chen Debatte zum Thema Zuwanderung fahr für „unsere“ Kinder. Pech für Koch verdeutlichte für jeden der es wissen ein Wandel vollzogen. War für die Union war nur, dass sich schnell herausstellte, wollte, dass dieses Thema keineswegs noch in den neunziger Jahren klar, dass dass es keinen einzigen Fall von burka- tabuisiert war, sondern immer mal wie- Deutschland kein Einwanderungsland tragendem Mädchen an Hessens Schu- der von Politikern genutzt wurde. sei, so hat sich hier ein Bewusstseins- len gegeben hatte. Auch die Opposition Leider bestand auch auf Seiten der SPD wandel vollzogen. Ausgrenzungsdiskur- strafte das Thema mit Nichtachtung, so nicht der Mut, die zentrale und rassisti- se sind zumindest auch in diesem Teil dass der Kampagnenversuch schnell in sche Botschaft von Koch massiv anzu- des politischen Spektrums umstritten, sich zusammenbrach. greifen: Kriminelle Jugendliche mit Mi- wie (leider spät) die Reaktionen aus der Mit dem brutalen und von einer Über- grationshintergrund müssten schneller Union nach der Hessenwahl gezeigt ha- wachungskamera gefilmten Überfall abgeschoben werden; wo das bisher ben. Es kann sein, dass die Politik hier zweier junger Männer mit türkischem nicht möglich sei, müssten die Geset- sogar dem allgemeinen gesellschaft- bzw. griechischem Migrationshinter- ze entsprechend geändert werden. Ei- lichen Klima voraus ist. Aber natürlich grund auf einen deutschen Rentner ne solche Forderung funktioniert nur sind solche Entwicklungen keinesfalls kam jedoch die Gelegenheit für Koch, vor dem Hintergrund einer letztlich völ- unumkehrbar. Der Wahlkampf von Ro- auf die er gewartet hatte. Das Thema kischen Definition der Frage, wer in die- land Koch war der Versuch, vorhandene der ausländischen Jugendkriminalität, sem Land leben darf und wer nicht. Stimmungen nutzbar zu machen. Dass verbunden mit der Forderung nach Ab- Unzweifelhaft sollten brutale Schläger er in Hessen gescheitert ist, birgt keine schiebung und härteren Strafen sollte bestraft werden, unabhängig von ih- Gewähr für zukünftige Fälle. nach dem Willen der Union endlich die rer Herkunft. Die Forderung allerdings, Mobilisierung bringen, die ihr so lange Menschen mit Migrationshintergrund Dr. Gerd Wiegel

49 Ein Bundeswehr-General fälscht Geschichte Zur angeblichen Flucht einer halben Million polnischer Juden ins faschistische Deutschland

Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhon- denburg-Hamburg, 1965 (Titel der fran- chern, die in der freien Enzyklopädie hof aus Buxtehude hat 2003 sein ge- zösischen Originalausgabe: Historie de „Wikipedia“ wie folgt beurteilt werden: schichtsrevisionistisches Buch: „1939 – l‘ Armee allemande)“4. Jacques Benoist- „Seine Publikationen sind durchzogen Der Krieg, der viele Väter hatte“ Méchin (1901–1983) war französischer vom Antisemitismus völkisch-nationa- veröffentlicht. Das Buch ist im Oktober Militärschriftsteller, dessen Bücher listischer Propaganda und der Weißwä- 2007 bereits in der 6. Auflage erschie- auch in rechtsextremistischen Verlagen sche von Wehrmacht und Waffen-SS und nen. Die Aussagen des Autors werden in Deutschland veröffentlicht wurden. NS-Organisationen. Nach seiner Ansicht mittlerweile auch über Hörbücher, ei- Benoist-Méchin arbeitete von 1940 bis sind die Deutschen die eigentlichen Op- ne Internetseite, einen Videovortrag 1944 als Staatssekretär in der Pétain- fer des Zweiten Weltkriegs. Einige seiner und über eine DVD verbreitet. Ein Ziel Regierung in Vichy. Er wurde 1945 we- Werke sind in zahlreichen Auflagen er- Schultze-Rhonhofs besteht darin, vor al- gen Kollaboration zunächst zum Tode schienen (und erscheinen noch immer), lem Schülern und Studenten seine revi- verurteilt; das Urteil wurde in eine le- sie bilden auch heute noch einen festen sionistische Sicht auf die Ursachen des benslängliche Haftstrafe umgewandelt, Bezugspunkt für Rechtsextremisten.“9 2. Weltkriegs zu vermitteln. Im folgen- später erfolgte eine Begnadigung. Die von Benoist-Méchin genannte Stelle den wird anhand einer Behauptung des Der von Schultze-Rhonhof als Quelle in „Opfergang eines Volkes“, das 1962 im Bundeswehr-Generals untersucht, auf für seine Behauptung genannte Band Verlag K. W. Schütz erschienen ist, lautet welche Quelle er sich bezieht. 7 der „Geschichte der deutschen Mili- wie folgt: „Der nächste Schlag erfolgte Der Autor stellt in seinem Buch Nazi- tärmacht“ von Benoist-Méchin ist aller- von Polen aus. Rund 170.000 Juden hat- Deutschland als einen Zufluchtsort für dings nicht im Stalling Verlag erschie- ten von 1933 bis Herbst 1938 Deutsch- hunderttausende Juden aus Polen dar. nen, sondern mit dem Titel: „Wollte land verlassen. Allerdings waren auf- So behauptet er einmal, „dass in den Adolf Hitler den Krieg, 1939: General- grund der schlechten Erfahrungen in den Jahren von 1933 bis 1938 557.000 Juden probe der Macht“ im Jahre 1971 im Ver- Gastländern viele Tausende Juden wie- ihr polnisches Heimatland verlassen und lag K. W. Schütz, Preußisch-Oldendorf.5 der nach Deutschland zurückgewandert. Zuflucht im benachbarten Deutschland Das „Handbuch Deutscher Rechtsextre- Zur selben Zeit emigrieren wegen des suchen“1 und wieder an einer anderen mismus“ schreibt über die Bedeutung herrschenden Antisemitismus 557.000 Stelle „strömen 557.000 polnische Ju- des Verlages K. W. Schütz: „Das Ver- Juden aus Polen. In Polen sprang man zu den von Ost nach West, um in Deutsch- lagsprogramm des Schütz-Verlages ist dieser Zeit sehr rücksichtslos mit den jü- land den Verfolgungen in Polen zu ent- darauf ausgelegt, die Verbrechen des dischen Bürgern um.“10 Eine Quellenan- kommen.“2 Diese von Schultze-Rhonhof NS-Regimes zu rehabilitieren. Der Groß- gabe findet sich bei Kern nicht, woher er verbreitete Zahl von 557.000 Juden, die teil der Autoren kam aus führenden Po- die Zahl von 557.000 Juden nimmt, die angeblich im benachbarten Deutschland sitionen der Schutzstaffel (SS).“6 angeblich wegen des herrschenden An- Zuflucht gesucht hätten, ist nicht nur auf Schultze-Rhonhofs Verweis bezieht sich tisemitismus aus Polen emigrieren. dem ersten Blick schon aufgrund der to- allerdings nicht auf den Buchtext, son- General a. D. Schultze-Rhonhof bezieht talen Abschottung Nazi-Deutschlands ge- dern lediglich auf eine Fußnote – die sich bei seiner Behauptung, dass 1933 genüber Zuwanderungen nicht nachvoll- Fußnote 4 auf Seite 39 lautet: „Wäh- bis 1938 557.000 Juden Polen verlas- ziehbar, sie ist auch durch keine einzige rend 170.000 Juden Deutschland in den sen und im benachbarten Deutschland ernstzunehmende Quelle belegt. Im Ge- Jahren von 1933 bis 1938 verlassen Zuflucht suchten, letztendlich auf ei- genteil, die Anzahl der in Deutschland le- hatten, waren in dem gleichen Zeitraum nen Nazi, der wiederum keine Quellen- benden Juden mit polnischen Pass nahm 557.000 polnische Juden in das Reich angabe macht. Während Erich Kern oh- von 1933 bis 1938 kontinuierlich ab.3 gekommen, um dem in Polen wütenden ne irgendeinen Beleg schreibt, dass von Allerdings lohnt es sich zu überprüfen, Antisemitismus zu entkommen. (Vgl. da- 1933 bis 1938 aus Polen 557.000 Juden auf welche Quellen und welche Fachli- zu Erich Kern: ‚Opfergang eines Volkes’, emigriert seien, sind diese Juden dann teratur Schultze-Rhonhof seine Behaup- 2. Aufl., Göttingen 1963, S. 159/160.)“7 bei Benoist-Méchin „in das Reich ge- tung gründet, die suggerieren soll, dass Bei Benoist-Méchin findet sich also als kommen“ und bei Schultze-Rhonhof su- die Repression gegenüber jüdischen Beleg für Schultze-Rhonhofs Behaup- chen sie sogar schon „Zuflucht im be- Bürgern in Polen viel stärker war als tung interessanterweise keine Original- nachbarten Deutschland“. in Deutschland, um somit den exzessi- quelle, sondern lediglich ein Verweis auf Schultze-Rhonhof ist inzwischen dazu ven Antisemitismus im faschistischen ein Buch von Erich Kern. übergegangen, seine Behauptung leicht Deutschland zu relativieren. Erich Kern (eigentlicher Name Erich Jo- abzuwandeln. Während er weiterhin Der Autor gibt in einer Fußnote als Lite- hannes Kernmayr 1906 bis 1991) war schreibt, dass „557.000 polnische Ju- raturhinweis an: Benoist-Méchin, Band 1939 Gaupresseamtsleiter in der Gaulei- den von Ost nach West strömten, um in 7, S. 39. Im Quellen- und Literaturver- tung Wien der NSDAP, 1940 Leiter der Deutschland den Verfolgungen in Polen zeichnis seines Buches findet sich da- Pressestelle des Gauleiters von Saar- zu entkommen.“11 , verändert er an an- zu der folgender Eintrag: „Benoist-Mé- land/Lothringen. Er trat 1941 in die SS- derer Stelle seine Behauptung. Er ver- chin, Jacques (französischer Autor) zit. Division „Das Reich“ ein und avancier- breitet jetzt: „dass in den Jahren von als Benoist-Méchin, Auf dem Weg zur te zum SS-Sturmbannführer. Kern war 1933 bis 1938 557.000 Juden ihr pol- Macht 1925–1939, Geschichte der nach 1945 in einer Vielzahl von rechts- nisches Heimatland verlassen und Zu- deutschen Militärmacht 1918–1946, extremistischen Organisationen aktiv.8 flucht im benachbarten Deutschland Bände 2–7, Gerhard Stalling Verlag, Ol- Er veröffentlichte eine Vielzahl von Bü- oder auf dem Weg über Deutschland

50 im westlichen Ausland suchen.“12 Eine schen Quellen und der Literatur eine Zum nationalsozialistischen Umgang mit Ostju- den vgl. Trude Maurer, Abschiebung und Atten- vergleichbare Aussage macht er mittler- Herangehensweise, die sich auch bei tat. Die Ausweisung der polnischen Juden und der weile auch in seinen Vorträgen „verlie- vielen anderen revisionistischen Buch- Vorwand für die „Kristallnacht“, in : Das Judenpog- ßen 557.000 Juden Polen, also über ei- autoren findet: Man bezieht sich bei Be- rom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völ- kermord, hrsg. v. Walther H. Pehle, Frankfurt a. M. ne halbe Million Juden, und suchten in hauptungen auf einen anderen Autor, 1988, S. 52ff., bes. 54ff. Deutschland oder auf dem Weg über der wiederum einen anderen Autor als 4 Gerd Schultze-Rhonhof, a. a. O., Seite 541. Deutschland Zuflucht im Ausland; meist Quelle nennt. Es bleibt dann am Ende 5 Buchkatalog der Universität Hamburg. 6 13 Jens Mecklenburg, Hrsg., „Handbuch Deutscher in Frankreich und in den USA.“ eine Naziquelle übrig, der eine nicht be- Rechtsextremismus“, Berlin 1996, S. 426f. Schultze-Rhonhof gibt neuerdings für legbare Behauptung zugrunde liegt. 7 Jacques Benoist-Méchin, Wollte Adolf Hitler den seine ursprüngliche Behauptung „ Wäh- Was Leser von so einem Umgang mit Krieg – 1939 : Generalprobe der Gewalt (Geschich- te der deutschen Militärmacht, Band 7), Verlag rend in den Jahren von 1933 bis 1938 Quellen und Literatur lernen können, ist K. W. Schütz, Preußisch-Oldendorf 1971, S. 39. 170.000 deutsche Juden ihr eigenes klar: Revisionistische Autoren erfinden 8 Kurt Hirsch, Rechts von der Union, München 1989, Land verlassen und im Ausland Ret- sich ihre Behauptungen und biegen sich S. 393f. 9 Erich Kern -Wikipedia (freie Enzyklopädie), www. tung vor Verfolgung suchen, strömen die Geschichte zurecht! de.wikipedia.org, 21.11.2007. 557.000 polnische Juden von Ost nach 10 Erich Kern: Opfergang eines Volkes, Göttingen West, um in Deutschland den Verfolgun- Michael Quelle 1962, S. 159. 11 Gerd Schultze-Rhonhof: 1939 – Der Krieg, der viele gen in Polen zu entkommen.“ neben Be- Väter hatte, Olzog Verlag München, 4. überarbeite- noist-Méchin auch ein „JfZ Gutachten, 1 Gerd Schultze-Rhonhof: 1939 – Der Krieg, der viele te und erweiterte Auflage 2005, S. 189. Seite 80“ als Quelle an.14 Die Literatu- Väter hatte, Olzog Verlag München, 2. durchgese- 12 Ebenda, S. 394. 13 rangabe für ein „JfZ Gutachten“ findet hene Auflage 2003, S. 370. Schultze-Rhonhof, Der weite Weg zum deutsch- 2 Ebenda, S. 173. polnischen Krieg, Vortrag in Hamburg am 25. März sich allerdings bei ihm im Quellen- und 3 Die Volkszählung am 16. Juni 1933 im Deutschen 2007 bei der SWG, abgedruckt in: „Soldat im Volk“, Lteraturverzeichnis nicht. Reich gab 98.747 jüdische Ausländer an, von ih- H. 3/2007. nen besaßen 56.480 die polnische Staatsbürger- 14 Gerd Schultze-Rhonhof: 1939 – Der Krieg, der viele Schultze-Rhonhof offenbart bei dem schaft. Die Zahl der Rückwanderer von ihnen wird Väter hatte, Olzog Verlag München, 6. überarbeite- hier aufgezeigten Umgang mit histori- von 1933 bis 1939 auf 29.000 geschätzt. te und aktualisierte Auflage 2007, S. 189.

GLOSSE Riskante Vergleiche

Da können Historiker erklären, was sie litisch mehrfach korrekten Bezeichnun- ten Manfred Kanter, maustote Juden, wollen – warum die Leute den Hitler ge- gen „Migrantinnen und Migranten“ oder die angeblich gespendet hätten. (Später wählt haben, bleibt ein Rätsel: ein ag- „Bürgerinnen und Bürger mit Migrati- bezichtigte sich Franz-Josef Jung dieser gressives Männlein, bei dem jeder Satz onshintergrund“, wenn er von den sehr Schweinerei und wurde dafür mit dem eine Drohung war. War die Leidenschaft schlechten, ja anstößigen, offensicht- Posten des Ministers für Kriege im Aus- der Deutschen für schlechtes Theater lich entweder angeborenen oder erwor- land belohnt.) daran schuld? Großmutter, die ich vor benen Eigenschaften irgendwie fremder Die Hessen wissen seit langem, wor- vierzig Jahren danach fragte, gab an, Menschen sprach und ausdrücken woll- an sie bei Koch sind – ein Kotzbrocken der Mann habe „Charme“ gehabt und te, dass das alles so nicht weitergehe, eben. Deshalb darf er es immer wieder sie lächelte verzückt ins Gestern. Char- jedenfalls nicht in Hessen. Waschechte versuchen. Und die Merkel, diese gute, me! Vielleicht sind allgemeine freie und Demokraten sind manchmal eben auch patente Frau Merkel, hat ihm mit der gleiche Wahlen doch keine gute Idee, nicht das Wahre. lügnerischen Behauptung, dass es im vor allem nicht, wenn sie geradewegs in Hitler hat meiner Großmutter immer Wahlkampf kein Tabu geben dürfe, die die Diktatur führen. wieder brüllend damit gedroht, was er Ausländer Hessens wärmstens als kal- Natürlich haben nicht alle Hitler ge- vorhat und sie hat ihn trotzdem – oder te Herz gelegt. Kennt sie nicht das Wort wählt, aber viele. Roland Koch haben deshalb? – gewählt. Koch brüllt nicht, von Sigmund Freud: „Wer kein Tabu auch nicht alle Hessen gewählt aber vie- auch wenn er zu Zeiten scharf formu- kennt, ist schon verrückt“? le. Koch gleich hinter Hitler zu nennen, liert. Aber auch er hat – da ist er dem Na seht ihr, riefen am Wahlabend Sozi- ist sicherlich riskant, wenn nicht sogar Hitler nun wieder ähnlich – damit ge- aldemokraten, Grüne und LINKE, nun ist ungerecht. Hitler, würde Großmutter sa- droht, was er vorhat und wurde trotz- er doch noch aufs Gesicht gefallen! Ja, gen, war charmanter. Koch ist das, was dem – oder deshalb? – mehrmals ge- aber nur knapp. Vielleicht bleibt er so- Großmutter einen „Kotzbrocken“ ge- wählt. Er hat Hass auf das Fremde und gar der Häuptling aller Hessen. Demo- nannt hätte – den Ausdruck habe ich Angst vor dem Fremden als Wahlmotiv kratie ist manchmal doch eine zu knap- von ihr. Aber auch in anderer Hinsicht in die deutsche Nachkriegsdemokratie pe Angelegenheit. sollte man Koch nicht mit Hitler verglei- eingeführt und die Hessen haben ihn Insgesamt ist also festzustellen: Die De- chen, und das nicht nur, weil Koch kei- nicht nach Thüringen verjagt. Als ihm mokratie, sofern sie nicht zu Hitler oder nen Vernichtungsweltkrieg führte: Koch wegen geraffter Gelder für die CDU die Koch führt, ist prima. Und wenn man ist ein waschechter Demokrat, was Jauche bis zur nun wirklich stattlichen ansonsten keine Unerhaltung hat, kann man von Hitler schwerlich sagen kann. Unterlippe stand, fiel ihm nur die Ras- man sich sogar an ihr beteiligen. Koch hat beispielsweise nie von Ras- senfrage ein und er erfand sich, in Kum- sen gesprochen. Er bedient sich der po- panei mit dem waschechten Demokra- Dr. Mathias Wedel

51 ZUR DISKUSSION Wie verhielt sich die DDR zum Antisemitismus?

Wenn von einer antisemitischen DDR eine geringe Anzahl von geschichtswis- Die DDR-Geschichtswissenschaft hat die Rede ist, wird vorzüglich auf den un- senschaftlichen Publikationen gegeben sich in der Tat relativ spät mit der Analy- säglichen Prozess gegen Rudolf Slansky habe, die sich speziell mit der Judenver- se des Antisemitismus befasst. Die Kri- verwiesen. Der im vierten Band der Do- nichtung und dem Antisemitismus aus- tik an dieser Tatsache wurde berechtigt kumente der SED (1954) abgedruckte einandersgesetzt hätten. Das ist sicher formuliert. Es gab zwei geschichtswis- Beschluss des Zentralkomitees der SED nicht falsch. Man muss aber meines senschaftlich relevante Broschüren, die vom 20. Dezember 1952 zur „Auswer- Erachtens umfassender an die Proble- 1948 erschienen und für lange Zeit al- tung“ dieses stalinistisch inspirierten matik herangehen. Der entscheidende lein auf weiter Flur blieben. Siegbert Schandprozesses – dieser Beschluss Ansatz war die grundsätzliche Aufklä- Kahn veröffentlichte „Antisemitismus war auch zugänglich in einer massen- rung über den deutschen Faschismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über haft verbreiteten Broschüre „Beschlüs- und der Zusammenhang zwischen der ihre Entwicklung in Deutschland“ (Ber- se, die für die deutsche Jugend von gro- Macht der Monopole und des Großka- lin 1948) und von Stefan Heymann er- ßer Bedeutung sind“, herausgegeben pitals einerseits und dem Faschismus schien ebenfalls 1948 „Marxismus und von der Abteilung Agitation des Zentral- andererseits. Der massenhaft existente Rassenfrage“. Diese Broschüre enthielt rats der FDJ –, trug in der Tat antisemiti- Glaube an die Allgewalt des „Führers“ ein Kapitel „Der Antisemitismus“, in sche Züge und bewirkte Verhaltenswei- und die bedingungslose Hingabe an die- dem es u. a. heißt, dass die Nazis den sen, die man von einer sozialistischen se „einmalige Licht- und Erlösergestalt Judenhass vorfanden und ihn zum all- Partei nicht erwartet musste. Jüdisch- der deutschen Geschichte“ musste ein gemeinen Rassenwahnsinn steigerten. sein reichte zu dieser Zeit aus, um Ver- erstes und wesentliches Ziel der Aufklä- „Der Antisemitismus war die populärs- dacht zu erwecken. Zum Glück wurde rung sein. Es nimmt daher nicht wun- te Rassenfrage und darum auch die ge- diese Praxis bald überwunden und auch der, dass sowohl die Verbrechen wie fährlichste Waffe in den Händen der nie wieder aktuell. Was ist also dran an auch die Demagogie der Nazis die The- Nazis.“ (S. 43). Nicht unwichtig war es der kolportierten Behauptung, die DDR men der Veröffentlichungen bestimm- auch, dass für die Schulung der SED- sei antisemitisch gewesen? ten. Zum Teil wurde das Material in der Mitglieder in der Reihe „Sozialistische Zunächst ist unmissverständlich dar- Sowjetunion vorbereitet und dann nach Bildungshefte“ die Nummer 9/1947 auf zu verweisen, dass die Feststel- dem Mai 1945 im Verlag der Sowjeti- herausgegeben wurde, die das Thema lung, Antisemitismus sei dadurch aus- schen Militärverwaltung in Deutschland „Die Rassenlüge der Nazis“ behandel- gerottet, dass dessen ökonomischen (SMA) verfügbar gemacht. te. Über den Zweck des Antisemitis- und ideologischen Grundlagen mit der Es seien einige dieser Publikationen ge- mus heißt es unmissverständlich: „Eine Entmachtung der Konzerne wie mit der nannt: S. M. Lesnik: Was hat Preußen besondere Rolle spielte in der nazisti- Beseitigung seiner Träger überwunden Deutschland gegeben? (Deutscher Im- schen Rassenlehre der Antisemitismus, wurden, nur dem Grundsatz nach gilt. perialismus und Preußentum), Berlin die Hetze gegen die Juden. Vom Juden- Einerseits wurde Antisemitismus auch 1946. Unter anderem wurde darin das boykott im Jahre 1933 bis zu den Greu- strafrechtlich unterdrückt, andererseits „Preußentum im Dienste des deutschen eln von Auschwitz und Maidanek und wurde alles geistig Mögliche getan, um Faschismus“ abgehandelt. Peter Wie- der physischen Vernichtung von Milli- antisemitische Überreste im Denken zu den schrieb über „Die nationale Maske onen Juden in ganz Europa führte eine überwinden. Offenes antisemitisches der Hitlerimperialisten“ (1946). Georg gerade Linie des Schreckens und des Artikulieren war in relativ kurzer Zeit Rehberg (Pseudonym von Frieda Rubi- Grauens.“ (S. 11). verpönt, möglicherweise auch in dem ner) schrieb „Hitler und die NSDAP in In Kunst und Literatur war die Ausein- Bewusstsein, denkbaren Sanktionen Wort und Tat“ (1946). Die Originalaus- andersetzung mit dem Antisemitismus zu unterliegen. Das bedeutet allerdings gabe erschien in Moskau bereits 1944. frühzeitig Gegenstand. Das Theaterle- keineswegs, dass antisemitische Res- Unter der Schirmherrschaft des Lan- ben in Berlin begann mit der Auffüh- sentiments völlig überwunden waren. desamtes für Arbeit und Sozialfürsor- rung von Lessings „Nathan der Wei- Zudem gab der bereits genannte Slans- ge Opfer des Faschismus des Landes se“. Frühzeitig begann die Produktion ky-Prozess in jener Zeit selbst in den Thüringen erschien von Udo Dietmar von Filmen. „Ehe im Schatten“ zeigt das Reihen der Sozialisten Veranlassung, „Häftling … X … in der Hölle auf Erden!“ Schicksal eines Ehepaares, das Selbst- antisemitisch zu agieren. Nach der (Weimar 1946), die Verhältnisse in drei tötung vollzog, als der Druck übermäch- Überwindung dieser Bösartigkeit entwi- Konzentrationslagern – Buchenwald, tig wurde, den Ehepartner zu zwingen, ckelte sich dann sukzessive eine klare Dachau, Natzweiler behandelnd, die der sich von seiner „nichtarischen“ Frau zu Haltung gegen jegliche Form des Anti- Autor durchlaufen hatte. Hinsichtlich trennen. semitismus, was nicht bedeuten konn- des KZ Buchenwald schrieb Udo Diet- In den Unterlagen des Staatsekretariats te, dass sich unter den Millionen DDR- mar, dass über 51.000 Menschen er- für Kirchenfragen findet sich eine inter- Bürgern nicht auch Personen befanden, mordet wurden, „nur weil sie Russen, essante Liste, die in einer Auswahl von die sich bei Gelegenheit antisemitisch Polen, Juden, Tschechen, Jugoslawen, 1945 bis 1986 belletristische Literatur artikulierten. Franzosen, Griechen, Belgier, Holländer, benennt und eigentlich beweist, dass es Nun wird von interessierter Seite zur Norweger, Dänen und so weiter waren in der DDR eine umfangreiche schön- Stärkung der Behauptung, die DDR sei und Deutsche“. Von Wassilij Grossmann geistige Literatur gab, die sich mit dem antisemitisch gewesen, ins Feld geführt, stammt das Buch „Die Hölle von Treblin- Leben und den Schicksalen jüdischer dass es in der Frühzeit der SBZ/DDR nur ka“ (Moskau 1946). Menschen befasste. Manche Titel wur-

52 den in mehreren Verlagen veröffentlicht Nun bin ich mir darüber im Klaren, dass elle antijüdische Beleidigungen gab, ist und waren somit in größerer Anzahl ver- der Druck von Büchern und selbst deren durchaus zu vermerken. Der DDR ist das fügbar. So z. B. Johannes Bobrowskis Verkauf noch nicht das Lesen der Texte aber jedenfalls nicht anzulasten. Dass „Levins Mühle“ und Franz Fühmanns bedeutet. Und man kann durchaus erklä- die Ablehnung des Zionismus und die ab- „Das Judenauto“. Die Liste verzeichnet ren, dass eine solche Liste noch nichts weisende Haltung gegenüber der Politik auch Werke, die im Ausland erschie- darüber aussagt, ob die Texte auch verin- Israels besondere Kapitel der Politik und nen und in der DDR publiziert wurden, nerlicht wurden. Dem Grunde nach gibt der Außenpolitik der DDR sind, hat mit so z. B. das „Theresienstädter Requiem“ es nur die reale Möglichkeit, wenigstens Antisemitismus nicht das geringste zu von Josef Bor aus der CSSR und 1958 zu bedenken, in welchem zahlenmäßigen tun, auch wenn die entsprechende Lite- erschien „Im Feuer vergangen“. Aus die- Umfange Filme besucht wurden, die sich ratur Konjunktur hat. Es bleibt allerdings sem Buch wurde 1961 bei Reclam/Leip- mit der Thematik befassten. Ich nennen abzuwarten, ob darüber noch objektive zig eine Auswahl unter dem Titel „Tage- hier beispielsweise „Nackt unter Wöl- aufklärende Publikationen erscheinen bücher aus dem Ghetto“ veröffentlicht. fen“, „Sterne“ und „Die Verlobte“. Dass werden. Allein die erste Auflage betrug 5.000 Ex- es in der DDR durchaus auch Übergriffe emplare. z. B. auf jüdische Friedhöfe oder individu- Dr. sc. Detlef Joseph

WIEDER GELESEN Gustav Reglers Bauernkriegsroman „Die Saat“

Reglers Roman „Die Saat“ erschien ner, hatte Regler zunächst auf ein bal- Hoffnungen für den gebürtigen Saarlän- 1936 im Querido-Verlag Amsterdam. diges Ende des nationalsozialistischen der bedeutet hat. Der Rückgriff Reglers Mit der Aufmerksamkeit der intellektuel- Regimes gesetzt. Sein Zeitroman „Im auf die legendäre Gestalt des Joss Fritz, len Emigration für das Buch konnte der Kreuzfeuer“ von 1934 gab der Erwar- den „Musterkonspirateur“ (Friedrich Autor rechnen. Denn er machte ernst tung Ausdruck, die Abstimmung über Engels) in den revolutionären Bauern- mit der Forderung, im Kampf gegen den die Rückkehr des Saargebietes ins Deut- bewegungen am Vorabend des großen deutschen Faschismus und seine Ge- sche Reich am 13. Januar 1935 werde deutschen Bauernkrieges, trug Züge ei- schichtsfälschungen die revolutionären zu einer Niederlage des Hitlerfaschis- ner mühevollen Selbstbestätigung sei- Traditionen des deutschen Volkes leben- mus werden und beitragen, den Sturz ner revolutionären Überzeugungen. Ge- dig werden zu lassen. Kaum ein Stoff bot Hitlers und seiner Partei durch die pro- stützt auf Friedrich Engels‘ Studie über so vielfältige Möglichkeiten wie die Ge- letarische Opposition zu beschleunigen. den Bauernkrieg und auf das monumen- schichte des Bauernkrieges um die Wen- Das Ergebnis – wie immer es zustande tale Werk „Der große deutsche Bauern- de vom 15. zum 16. Jahrhundert. Dass gekommen sein mag – war ein tiefer krieg“ von Wilhelm Zimmermann erzählt hier ein Wendepunkt in der Geschichte Schock und stellte Regler vor die zwin- Regler die Geschichte eines Volkshel- des deutschen Volkes zu suchen war, gende Notwendigkeit, illusionäre Vor- den, der schon zu Lebzeiten fast mythi- wurde in allen Gruppierungen aner- stellungen zu revidieren. Die mehr als sche Züge trug. Es ist die Geschichte ei- kannt, die es für eine antifaschistische 90 Prozent der Stimmen für die Rück- ner illegalen Organisation der Massen Volksfront zu gewinnen galt. Mit solchem gliederung ins Deutsche Reich mochten und ihres genialen Organisators, die Ge- Einverständnis gab sich der Kommunist nicht alles Stimmen für Hitler sein, aber schichte der Bündnisbeziehungen ver- Gustav Regler freilich nicht zufrieden. sie zeigten, in wie hohem Maße es den schiedener Schichten innerhalb einer Er wollte Geschichte als eine Herausfor- Nationalsozialisten gelungen war, die heranreifenden revolutionären Krise. derung wirksam machen, um über die Masse der Bevölkerung für ihre impe- Aber es ist auch die Geschichte eines Erfahrungen und Perspektiven der an- rialistischen Ziele zu mobilisieren. Der scheiternden Aufstandes. Anfang und tifaschistischen Bewegung nachzuden- Widerspruch zwischen hoffnungsfroher Ende des Buches werden von Nieder- ken und Klarheit über das Erreichte und Erwartung und niederschmetternder Er- lagen markiert und die Perspektive ver- das Versäumte zu gewinnen. Sein Ge- fahrung musste bewältigt werden. Er- weist den Leser auf eine weitere. Eben schichtsroman zielte damit auf Fragen, nüchterung bedeutete freilich nicht Re- das aber ist für Regler ein Zeichen der die in der proletarisch-revolutionären signation. Hoffnung. Die Siege der Feudalherren Literaturbewegung während der ersten “Wir dachten die Prediger der volkrei- über die revolutionäre Bauernbewegung Exiljahre fast ausschließlich am Gegen- chen Städte zu sein, und wir waren die sind für ihn zugleich eine Demonstrati- wartssujet erörtert worden waren. Prediger in der Wüste“ – so beschrieb on von deren Unbesiegbarkeit. Denn Es ging um bedrängende Erfahrungen, Regler in seiner Rede auf dem Pariser die Bewegung wächst aus dem Kampf um die Auseinandersetzung mit der Internationalen Schriftstellerkongress um die Lebensinteressen der Bauern ebenso unerwarteten wie opferreichen zur Verteidigung der Kultur im Juni 1935 und kleinen Leute hervor. Die Niederla- Niederlage, die die Arbeiterbewegung seine Situation inmitten des Begeiste- gen widerlegen nicht die Entschlossen- und die demokratische Linke durch die rungstaumels und der Aufmärsche der heit der Organisatoren des Widerstands Machtübergabe an die Nazipartei und Nazianhänger im Januar 1933. Diese wie Joss Fritz, sie bestätigen sie. Reg- die Etablierung der faschistischen Dik- bittere Abrechung mit der eigenen Illu- ler demonstriert in seiner Bauernkriegs- tatur in Deutschland erlitten hatten. sion vermittelt einen Eindruck von der geschichte, dass auch in der aktuellen Wie andere, wie die meisten Hitlergeg- Erschütterung, die das Scheitern seiner Kampfsituation der Antifaschisten mit

53 lang dauernden Kämpfen gerechnet Fritz belegt sind. Im Zentrum der Hand- die Moskauer Prozesse und tödlicher werden muss, die bittere Niederlagen lung steht der legendäre Verschwörer, Streit im eigenen Lager bewegen den einschließen. „Die Saat“ ist ein Buch eine Verkörperung nie erlahmender re- Helden und seine Freunde. Ihr Glaube, über den langen Atem der Revolution. volutionärer Energie und sozialer Sensi- Gestalter der Zukunft zu sein, wird brü- Der Bauernkriegsroman ist der Höhe- bilität. Sein Gefühl für Leidensdruck und chig. Der Kraftakt, „gegen den Zweifel punkt in Reglers literarischem Schaf- Handlungsbereitschaft der bäuerlichen den gesunden Willen zum Sieg zu set- fen, sein wichtigster Beitrag zur sozialis- Masse, seine Fähigkeit zum Durchden- zen, stärker zu sein als die Wirklichkeit“, tischen deutschen Literatur. 1928 war ken der Erfahrungen seiner Erfolge und erscheint als eine kaum erträgliche in- der promovierte Germanist in die Kom- seiner Niederlagen, seine Anziehungs- nere Spannung, die mühsam zurückge- munistische Partei eingetreten. Einen kraft und charismatische Ausstrahlung drängt wird durch ernüchtert illusions- Namen hat er sich in der proletarisch- bringt Regler dem Leser innerhalb einer lose Pflichterfüllung. revolutionären Literatur mit dem Ro- widerspruchsreichen individuellen Bi- Später hat Regler diese Irritationen und man „Wasser, Brot und blaue Bohnen“ ographie, einer Entwicklungsgeschich- Zweifel als Absage an die kommunisti- gemacht, einem Zuchthausroman, den te nahe. In deren Verlauf wird Joss Fritz sche Bewegung gedeutet. Das passte er nach authentischen Berichten eines vom „Revolutionär des Heilands“ und in das Bild, das er von sich in den Jah- Freundes aus dem Strafvollzug der Wei- gläubigen Christen zum Atheisten, der ren des Kalten Krieges in seinem erfolg- marer Republik geschrieben hatte. Der auf nichts setzt als die Empörung und reichsten Buch, seiner Lebensgeschich- „Schrei der gequälten Gefangenen“ war die Kraft der Unterdrückten. Er streitet te „Das Ohr des Malchus“ (1958), für in diesem Buch – es ist 1932 erschie- nicht mehr über den Sinn der Rebellion, die Öffentlichkeit zu entwerfen bemüht nen – mit der Erwartung einer nahen sondern bereitet sie vor, sucht nicht Ar- war. Tatsächlich hat er zu Beginn des Umwälzung der Gesellschaft verbun- gumente, sondern Waffen. Zweiten Weltkrieges mit seinen kom- den. Es war ein politischer Roman, aber Joss Fritz, das ist für Regler eine histori- munistischen Freunden und Genossen auch ein erfolgreicher. Das gab dem sche Konfiguration des Berufsrevolutio- gebrochen. Die amerikanische Ausgabe Schreiber die Möglichkeit, sein nächs- närs, der nicht Parteibürokrat, sondern seines Spanienromans unter dem Titel tes Werk, den antiklerikalen Roman Hoffnungsträger mit Zügen einer Erlö- „The Great Crusade“ (1940) ist davon „Der verlorene Sohn“, in der französi- sergestalt ist. Deshalb scheint es mir geprägt. Der deutsche, damals unveröf- schen Provence, im Avignon, zu vollen- etwas eng gesehen, wenn Kurt Kers- fentlichte Text des Spanienromans soll- den. Die Reise hat er zusammen mit sei- ten das Buch in einer zeitgenössischen te aber nicht aus solcher Retrospektive ner zweiten Frau gemacht, der Tochter Rezension eine „Fibel der Konspirati- gelesen werden. Denn das verzerrt die des Malers Heinrich Vogeler. Geistige on“ nennt. Es ist weit mehr. Bodo Uhse Wahrnehmung. Es war ein kommunisti- und emotionale Erfahrungen seiner vom kommt dem erzählerischen Grundges- sches Buch und bleibt es. Teile daraus Katholizismus geprägten Jugend sind in tus näher, wenn er meint, hier sei kein haben eine Rolle im antifaschistischen diese Geschichte eingegangen. Diskutierbuch, sondern ein Buch der Kampf gegen den drohenden Weltkrieg Sie beginnt skandalträchtig mit dem Tod Aktion entstanden. Ernst Bloch schließ- gespielt: als illegale Flugschrift. eines Priesters in einem Bordell von Avi- lich sieht zwar dichterische Begabung Gustav Regler, das war eine unverwech- gnon. In einer gleichermaßen satirisch im Dienst politischen Lehrwillens wirk- selbare Stimme in der revolutionären Li- und pathetisch konzipierten Handlung sam, betrachtet aber den Roman letzt- teratur der dreißiger Jahre. Der Bauern- konfrontiert der Autor einen religiösen lich vor allem als symptomatisch für kriegsroman zeigt am klarsten, was von Rebellen mit einem Priester und artiku- eine Wende in der revolutionären Lite- den Zeitgenossen als innovativ empfun- liert in ihrer beider Wechselverhältnis die ratur, eine Wende, die „zur legitimen den wurde. Ambivalenz der sozialen Wirkungsmacht Phantasie“ führe. Erich Weinert hat in seine Anthologie an- religiöser Vorstellungen. Kritik an der Auch Johannes R. Becher bewunder- tifaschistischer Erzähler „Trotz alledem!“ Kirche als Institution der herrschenden te die „schmiegsam-federnde Prosa“ (Kiew 1938) das große Weltanschau- Gesellschaft wird verknüpft mit urchrist- im großen historischen Roman Reglers ungskapitel „Hungerwinter, Hitzesom- lich geprägten Appellen für eine sozial vom Bauernkrieg. Er würdigt Regler als mer“ aufgenommen, in dem der Rebell gerechte Menschheitsordnung. Erschei- ein „hervorragendes Talent“, mit einem zum Feind Gottes wird. Umgekehrt zeigt nen konnte der Roman nicht mehr – wie „natürlichen Sinn für das Wesen der Po- sich Ludwig Marcuse in seiner Rezensi- vorgesehen – im Kiepenheuer-Verlag. Er esie“. on fasziniert, dass der marxistische Ro- wurde eines der ersten im Exil erschei- Als Becher das niederschrieb, lag Reg- mancier sich nicht mit der These von der nenden Bücher des Querido Verlages. ler schwer verletzt in einem Lazarett Religion als Opium für das Volk zufrie- Religiöse Motive haben zeitlebens ei- der spanischen Republikaner. Vom den gibt. Joss Fritz – schreibt er – ha- ne Rolle in Reglers schriftstellerischem Kampf der Interbrigaden hat er auch be die Kraft des religiösen Bedürfnisses Schaffen gespielt. Sein erster Roman – als Sonderkorrespondent an die Deut- erkannt, in dieser historischen Gestalt „Zug der Hirten“ (1929) – hatte die alt- sche Zentral-Zeitung nach Moskau be- habe der Autor im 20. Jahrhunderts die testamentarische Geschichte von den richtet. Nach Frankreich zurückgekehrt, „politische Verwertbarkeit religiöser En- Wanderungen des jüdischen Volkes un- schrieb er den autobiographisch getön- ergien“ erfasst. Das Beste an Reglers ter Moses aus säkularer Sicht nacher- ten Roman aus dem Spanischen Bür- historisch-politischem Gleichnisroman zählt. Im Bauernkriegsroman geht er an- gerkreig „Das große Beispiel“ nieder, bringt Marcuse auf die Formel: In ihm dere Wege. Frei ist der Umgang mit den leidenschaftlich bemüht, von den toten sei die Härte des Lebens, so wie auch Quellen, dem geschichtlichen Tatsa- und den lebenden Kameraden Zeugnis wir dieses Leben erfahren, und doch zu- chenmaterial auch hier: in die Darstel- zu geben und Rechenschaft abzulegen. gleich ein Glaube, den „auch Ungläubige lung der Bundschuh-Erhebung von 1502 Es ist ein nachdenkliches Buch, das von nicht belächeln können, weil in ihn un- lässt der Autor Vorgänge einfließen, die Sterben und Vernichtung handelt, von ser Wissen eingegangen ist“. erst für spätere Bauernverschwörungen Zweifeln und von Bitterkeit angesichts unter maßgeblicher Beteiligung des Joss des ungleichen Kampfes. Irritation über Professor Dr. Dieter Schiller

54 HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Die soziale Zusammensetzung der SA des Berliner Bezirkes Prenzlauer Berg in der „Kampfzeit“ Ein Diskussionsbeitrag aufgrund neuer Forschungsergebnisse

„Zäh und erbittert ist hier oben im Nor- Mittelschichten.“5 Damit greift Schus- Landbund organisiert, dem bedeutends- den der Kampf. Doch freudig und mit Ge- ter den Fokus jüngerer Studien auf, die, ten Interessenverband der deutschen wißheit auf einen baldigen Endsieg steht anstatt die Instrumentalisierung des an- Landwirtschaft während der Weimarer die SA hinter ihren Führern, die angefan- geblich unpolitischen und missbrauch- Republik. Zwei SA-Mitglieder waren ehe- gen vom Sturmbannführer ausnahmslos ten SA-Mannes zu betonen, diesen als malige Freikorps-Angehörige. Der eine einfache Soldaten und Arbeiter sind und „ganz normalen Mann“ aus der Mitte der gehörte dem Freikorps „Oberland“, der jederzeit bereit sind, als erste für die Idee Gesellschaft darstellen, der bewusst für andere dem Freikorps „Lützow“ an. Der Adolf Hitlers ihr Leben einzusetzen.“ das „III. Reich“ eintrat.6 Sturmführer 2, Willy Protsch, kam über (Der Angriff, Nr. 14, 22.1.1932, Rub- Doch auch Schusters Berechnungen ba- die Völkische Turnerschaft und den Ber- rik „Der unbekannte SA-Mann“, Beitrag sieren, wie er selbst einräumt, auf „sehr liner Frontbann-Nord zur SA10. Bis hier- „Der Kampf im roten Norden“.) sporadisch überliefertem Quellenmate- her handelt es sich ausschließlich (au- rial“.7 Anhand seiner Forschungsergeb- ßer bei dem Vater, welcher der einzige Dass es sich bei den oberen Chargen nisse über die NSDAP und angeschlos- SA-Mann über 51 Jahre war) um Angehö- der SA zum größten Teil um Ex-Militärs senen Verbände in Prenzlauer Berg8 rige der Kategorie „26 bis 50“. Ein sehr handelte, ist vielfach belegbar. Eine pro- kann der Verfasser nun die Basis des frühes SA-Mitglied (Eintritt schon am 1. letarische Herkunft hingegen kann fast Quellenmaterials, auf der eine fundierte Oktober 1926) und trotzdem Angehöri- durchweg ausgeschlossen werden. Wie Aussage getroffen werden kann, erwei- ger der Kategorie „25 und jünger“ war sah es bei den „einfachen“ SA-Männern tern sowie einen speziellen Beitrag zur vorher im Bismarckbund gewesen. Ein des Bezirkes Prenzlauer Berg aus? Sozialstruktur der SA in einem „klassi- anderer SA-Mann aus der jüngsten Ka- In seiner im Dezember 2004 einge- schen Arbeiterbezirk“ beisteuern. tegorie trat direkt von der HJ in die SA reichten Dissertation1 widerlegt Martin Bei einem Teil der Karteikarten in der über11. Nur ein einziger SA-Mann, Ange- Schuster die weit verbreitete These, die Mitgliederkartei der Ortsgruppe Bötzow9 höriger der „mittleren“ Alterskategorie, Berliner SA wäre von Angehörigen der befand sich noch ein Durchschlag des war vorher (1929/30) in der KPD gewe- Arbeiterschaft dominiert gewesen. Dass beim Aufnahmeantrag auszufüllenden sen. Von einem massenhaften Übertritt die NSDAP eine bürgerliche Basis hatte, Fragebogens, in dem in einem Feld aus dem „linken Lager“ kann also, an- ist in der Forschung unumstritten. Doch auch Mitgliedschaften in anderen NS- hand der vorliegenden Quelle, nicht die bisher wurde angenommen, dass zwar Unterorganisationen einzutragen wa- Rede sein. Bei diesem SA-Mann (Eintritt auch die SA insgesamt sehr heterogen ren. Demnach gehörten 38 NSDAP-Mit- 1.9.1932) handelte es sich um einen un- in ihrer Zusammensetzung war, sie aber glieder der Ortsgruppe Bötzow vor 1933 gelernten Hilfsarbeiter, der auch NSDAP- in Großstädten (vor allem in Berlin) ei- auch der SA an. Hinzu kommen noch Mitglied wurde. Die SA rekrutierte ihre nen durchaus proletarischen Charakter drei weitere SA-Männer, die in der Kar- Anhänger, wenn diese vorher einer an- haben konnte.2 Durch Anwendung sta- tei geführt wurden, nicht aber NSDAP- deren Organisation angehört hatten, al- tistischer Methoden ermittelt Schus- Mitglieder waren. So kann man also die so hauptsächlich aus den Reihen rech- ter, dass Arbeiter auch in der Berliner Kartei auch in Bezug auf die SA statis- ter Jugend- und Wehrverbände. SA unterrepräsentiert waren.3 „In den tisch auswerten. Um die Referenzzahl Diese Befunde werden auch indirekt klassischen Arbeiterbezirken“ hätte, so noch zu erhöhen, haben wir zu den 41 durch nationalsozialistische Quellen be- Schuster, „die SA erhebliche Organisa- SA-Mitgliedern aus der Kartei noch 14 stätigt. Auf einem öffentlichen Sprecha- tionsschwierigkeiten“ gehabt. Ihre Do- weitere SA-Männer aus Prenzlauer Berg bend am 12. März 1929, auf dem Horst mänen lagen, wie bei der NSDAP, in der gerechnet, von denen der Verfasser im Wessel, damals Mitglied des SA-Stur- westlichen Innenstadt und im Süden Zuge seiner Recherchen Alter und/oder mes 1 (Mitte) und Leiter einer Straßen- , also in bürgerlichen Bezirken.4 Beruf ermitteln konnte. Die folgenden zelle im Bezirk Mitte, über das Thema: Zusammenfassend kommt Schuster zu Berechnungen basieren also auf den Le- „Wehrverbände“ sprach, waren auch der Feststellung: „Die Untersuchung bensdaten von 55 SA-Männern aus dem Stahlhelmer und Kyffhäuserbündler an- des sehr sporadisch überlieferten Quel- Bezirk Prenzlauer Berg. wesend, die von den Nazis als „Freun- lenmaterials ergab vielmehr, dass die SA Interessant ist zunächst wieder aus wel- de aus den Wehrverbänden“ bezeichnet von Anfang an eine sozial sehr heteroge- chen Verbänden die SA Zulauf bekam. wurden.12 Der NS-Chronist Julius K. v. ne Organisation war, die Angehörige aller Drei SA-Männer (darunter ein Vater mit Engelbrechten berichtete, dass sich un- Schichten an sich binden konnte. Die SA Sohn) waren vorher in der Deutschna- ter 14 am Abend des 5. März 1930 aus Berlin-Brandenburgs war wie die NSDAP tionalen Volkspartei. Ein SA-Mann war dem „2er“-Sturmlokal „Franz“, Wichert- insgesamt eine massenintegrative Or- neben der NSDAP und zwei weiteren straße 64, zu einer bewaffneten Ausein- ganisation mit einem Übergewicht der NS-Unterorganisationen noch im Reichs- andersetzung mit dem örtlichen Reichs-

55 banner nach Röntgental telephonisch höhere Anteil der Selbständigen in der Ein Grund dafür könnte durchaus die zu Hilfe gerufenen Männern nur zwei SA passt hingegen auf den ersten Blick Erwerbslosigkeit des betreffenden „Par- SA-Männer befunden hatten. Die ande- nicht ins Bild. Er lässt sich jedoch mit teigenossen“ gewesen sein. Ein nicht ren waren Jungstahlhelmer, Bismarck- dem höheren Anteil der im Handwerk ausgefülltes Feld kann aber auch ande- und Kyffhäuserbündler.13 Beschäftigten bei der SA, die hier auch re Gründe haben. Nahe liegend ist wohl, Von den 46 SA-Männern, von denen das zu den Selbständigen gerechnet wer- dass sich schlicht und ergreifend nichts Alter bestimmt werden konnte, war nur den, erklären. Wenn man von 100% der gegenüber dem Feld „erlernter Beruf“ einer älter als 51, 16 (34,8%) waren 26 hier betrachteten SA-Mitglieder den Er- geändert hat, weswegen der Verfasser Jahre bis 50 Jahre alt und 29 (63,0%) 25 werbslosen und den Akademiker mit je- der Einheitlichkeit halber in all diesen und jünger.14 Galt schon das Lebensal- weils 2,3% sowie die Arbeiter mit 30,2% Fällen von besagtem Fakt ausgegangen ter der zur NSDAP-Ortsgruppe Bötzow abzieht, kommt man trotzdem noch ist (zumal ja oftmals im zweiten Feld gehörenden Mitglieder als sehr jung, so auf einen Anteil des Mittelstandes von entweder berufliche Änderungen oder zeigt der Vergleich mit der SA, dass die- 65,2%. Obwohl der Anteil der Arbeiter in „erwerbslos“ bzw. „–“ eingetragen wa- se mit fast 2/3 der Mitglieder im Alter der SA fast doppelt so hoch war, wie in ren). Als erwerbslos wurden also nur je- bis 25 Jahren eine in allererster Linie der Ortsgruppe Bötzow, war trotzdem ne gezählt, bei denen im entsprechen- durch ihre Jugendlichkeit geprägte Or- auch die SA des Prenzlauer Berg, diesen den Feld dieses wörtlich vermerkt war ganisation war. Damit werden die schon Berechnungen nach, vom Mittelstand oder sich ein Querstrich befand. Da die zur Genüge diesbezüglich erbrachten dominiert, womit Schusters Ergebnisse SA bekanntlich durch eine hohe Fluk- Forschungsergebnisse bestätigt.15 bestätigt werden.16 tuation geprägt war, könnte es auch so Wie die Auswertung der Lebensda- wie im Fall der KPD gewesen sein, dass Ortsgruppe ten von den 55 SA-Männern aus dem Arbeitslose, die aufgrund der sozialen SA Bötzow Prenzlauer Berg erbracht hat, waren et- Fürsorge in die NSDAP/SA eingetreten 25 und jünger 40,9 % 63,0 % wa zwei Drittel von ihnen dem Mittel- waren, aus dieser wieder austraten, so- stand zuzurechen. Also kann die an den bald sie wieder eine Arbeitsstelle fan- 26 bis 50 49,7 % 34,8 % Anfang gestellte Aussage in Bezug auf den und so aus der Kartei wieder ent- älter als 50 9,4 % 2,2 % die „einfachen Arbeiter“ auch für die fernt wurden. „einfachen“ SA-Männer nicht bestätigt Weiterhin befinden sich in der Kartei, Von den 55 besagten SA-Männern werden. Wie sah es mit dem Anteil der welche übrigens bis 1945 geführt wur- konnte bei 43 ein Beruf ermittelt wer- „einfachen Soldaten“ aus? In der Kar- de, nicht diejenigen, die im Rahmen den. Die soziale Zusammensetzung tei hatte nur einer von den SA-Männern der Säuberungen nach dem „Stennes- sah folgendermaßen aus: (Alterskategorie 26–50) eine Dienstzeit Putsch“ 1931 und dem so genannten Erwerbslose 1 = 2,3 % beim Militär von 1916 bis 1920 ange- Röhm-Putsch 1934 ausgeschlossen Arbeiter 13 = 30,2 % geben. Von Protsch wissen wir, dass er wurden.20 Da es sich hier außerdem gelernte 9 = 20,9 % Weltkriegsteilnehmer17, vom SA-Mann nicht um eine spezifische SA-Kartei ungelernte bzw. Hilfsarbeiter 4 = 9,3 % Friedrich Hellmann, dass er (nach dem sondern um die Kartei einer NSDAP- Angestellte 11 = 25,6 % Kriege) zwölf Jahre Berufssoldat bei der Ortsgruppe handelt, es sich bei den SA- Selbständige 11 = 25,6 % Reichswehr war18. Zwar ist davon auszu- Männern (auch bei den 14 Zusätzlichen) Beamte 2 = 4,7 % gehen, dass sich noch mehr Weltkriegs- also fast ausnahmslos um NSDAP-Mit- Akademiker 1 = 2,3 % teilnehmer oder Berufssoldaten als die glieder handelt, die auch SA-Mitglieder Studenten 4 = 9,3 % hier belegbaren unter den SA-Leuten waren, ist davon auszugehen, dass man befanden. Doch gehörten, laut Peter H. es hier mit dem „politisch gefestigten“ Ortsgruppe Merkl, 1933 zwei Drittel der SA-Mitglie- Teil der SA zu tun hat, was bei der NS- Bötzow SA der reichsweit der Nachkriegsgenera- Bewegung direkt auf die soziale Situa- (ohne Sonstige 6,0 %) tion an. Mit der Nachkriegsgeneration tion, sprich kleinbürgerliche Herkunft, Erwerbslose 1,5 % 2,3 % sind bei Merkl die Jahrgänge ab 1901 zurückgeführt werden kann – ein Grund Arbeiter 16,6 % 30,2 % gemeint, die vom I. Weltkrieg nur noch mehr für die Dominanz der Mittelschich- gelernte 12,6 % 20,9 % indirekt berührt wurden.19 Wir kommen ten auch bei den SA-Leuten der Kartei. ungelernte 4,0 % 9,3 % in unseren Berechnungen schon bei den Nicht zuletzt sind Aussagen, die auf ei- Jahrgängen ab 1907 (25 Jahre und jün- nem Datensample von nur 55 SA-Män- Angestellte 31,7 % 25,6 % ger) auf einen Anteil von fast zwei Drit- nern beruhen, nur bedingt repräsenta- Selbständige 20,6 % 25,6 % tel an der SA in Prenzlauer Berg. Also tiv. Aber im Zusammenhang mit schon Beamte 11,6 % 4,7 % trifft das oben angeführte Zitat auch in erbrachten Ergebnissen können sie, wie Akademiker 6,0 % 2,3 % Bezug auf die „einfachen Soldaten“ für im vorliegenden Fall, durchaus einen Studenten 6,0 % 9,3 % die SA in Prenzlauer Berg nicht zu. Trend bestätigen. Zum Abschluss noch einige kritische Der Historiker kann nur auswerten und Wie zu erwarten gewesen ist, war bei Bemerkungen: Die hier ermittelte Zahl interpretieren, was er schwarz auf weiß den SA-Mitgliedern der Anteil der Er- an Erwerbslosen mutet tatsächlich, ge- vor sich zu liegen hat. Alle die in die- werbslosen, der Arbeiter und Hilfsarbei- rade für die SA, sehr gering an. Einige sem Beitrag geschilderten Vorbehalte ter sowie der Studenten höher als bei NSDAP/SA-Mitglieder könnten nach und Einschränkungen gehören in den der Ortsgruppe Bötzow, während der Ausstellung ihrer Karte arbeitslos ge- Bereich der Quellenkritik. Sie stellen der Angestellten, Beamten und Aka- worden sein und diese Änderung wurde, meines Erachtens die vorliegenden For- demiker geringer war, da es bei einem da man es für einen vorübergehenden schungsergebnisse nicht grundsätzlich hohen Anteil an jungen Menschen na- Zustand gehalten haben könnte, nicht in Frage. turgemäß vergleichsweise wenige ab- vermerkt. Bei mehreren Karten war das geschlossene Berufskarrieren gibt. Der Feld „jetziger Beruf“ nicht ausgefüllt. Oliver Reschke M. A.

56 1 Vgl. Martin Schuster, Die SA in der nationalsozialis- 9 Zur Auswertung dieser Kartei vgl. ebd., S. 61f. 15 Vgl. z. B. Peter H. Merkl, Formen der nationalso- tischen „Machtergreifung“ in Berlin und Branden- 10 Bundesarchiv Berlin (BArch), BDC, PK und SA, zialistischen Gewaltanwendung: Die SA der Jahre burg 1926–1934, Phil. Diss. Technische Universität Protsch, Willy, 9.2.1899. 1925–1933, in: Wolfgang J. Mommsen u. Gerhard Berlin 2005. 11 Vgl. hierzu: Der Angriff, Nr. 214, 19.10.1932, in dem Hirschfeld, Hrsg., Sozialprotest, Gewalt, Terror. Ge- 2 Vgl. Ebd., S. 79. durch eine Bekanntmachung angeordnet wurde, waltanwendung durch politische und gesellschaft- 3 Vgl. ebd., S. 80–85 sowie S. 93 und 294. dass am 9.11.1932, wie jedes Jahr, alle HJ-Angehö- liche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, 4 Ebd., S. 67, vgl. S. 69 und 293f. rigen, die 1932 18 Jahre alt geworden waren, „un- Stuttgart 1982, S. 438. 5 Ebd., S. 294, vgl. S. 93, 101 und 102. tergruppenweise“ in die SA aufzunehmen waren. 16 Vgl. Schuster, Kapitel 3. Zur sozialen Zusammen- 6 Vgl. ebd., S. 9, vgl. S. 101, 102 und 295. 12 Der Angriff, Nr. 12, 25.3.1929, Rubrik „Aus den setzung der SA, S. 78–102. 7 Vgl. hierzu nochmals ebd., S. 81 u. 85. Sektionen“. 17 BArch, BDC, PK und SA, Protsch, Willy, 9.2.1899. 8 Vgl. dazu Oliver Reschke, NSDAP und SA im Berli- 13 Vgl. Julius K. v. Engelbrechten, Eine braune Armee 18 Vgl. Der Angriff, Nr. 69, 9.4.1932. ner Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg 1925–1933. Ein entsteht. Die Geschichte der Berlin-Brandenburger 19 Merkl, S. 438. Forschungsbericht, in: Rundbrief. AG Rechtsextre- SA, München/Berlin 1937, S. 117. 20 Vgl. Reiner Zilkenat mismus/Antifaschismus beim Parteivorstand der 14 Als Stichtag hat der Verfasser den 1. Januar 1933 Linkspartei.PDS, Heft 1–2/2007, S. 58–65. festgesetzt.

Auf den Spuren von Helene Fredrich

Hinter dem Namen Fredrich steht im werktätigen Frauen, organisiert von der des „Kommunismus-Dezernats“ der Po- Verborgenen der Name Kirsch. KPD. litischen Polizei in Berlin gespeichert. Im Reichstagshandbuch der VII. Wahl- Im November 1932 wurde die engagier- Die Kriminalbeamten des Dezernates periode 1932 und im „Handbuch Deut- te Kommunistin im Wahlkreis Berlin als setzten nahtlos als Gestapomitarbeiter sche Kommunisten“ von Hermann We- Abgeordnete der KPD in den Reichstag ihre Tätigkeit fort, erbarmungslos Kom- ber und Andreas Herbst findet man gewählt, dem sie bis zum März 1933 an- munisten zu jagen und die in der Wei- knappe, aber dennoch präzise Angaben gehörte, bis die Nazis nach der Machtü- marer Republik gewonnenen Erkennt- über das Leben und Wirken der Reichs- bertragung durch Hindenburg die KPD- nisse über Mitglieder und Funktionäre tagsabgeordneten der KPD Helene Abgeordneten widerrechtlich aus dem der KPD sowie über die Strukturen und Kirsch, verheiratete Fredrich. Auch im Reichtag entfernt hatten. Arbeitsweisen der Partei dabei auszu- Band 4 der Reihe „Widerstand in Berlin Helene Kirsch nahm als Angehörige der nutzen. Über Helene Kirsch war im Ge- gegen das NS-Regime 1933 bis 1945“ illegalen Leitung der KPD in Berlin-Bran- stapo-Archiv Folgendes vermerkt: „Die findet sich eine kurze biographische denburg am Widerstand gegen die brau- Kirsch ist seit 1925 Mitglied der KPD. Würdigung. ne Barbarei teil. Sie organisierte und Sie betätigte sich insbesondere auch im Beim Nachforschen über das illegale koordinierte seit März 1933 die Verbin- letzten Jahr als Rednerin in der Gegend Wirken der Reichstagsabgeordneten im dungen zu illegalen Parteigruppen in von . Im Jahr 1933 fand sich eine aufschlussrei- Bad Freienwalde, Luckenwalde, Straus- Dezember 1932 und im Januar 1933 che Spur, die zu neuen Erkenntnissen zu berg und Prenzlau. Maßgeblich beteiligt mußte sie je 1 Mal als Kurier der Par- ihrer Biographie und zu ihrer politischen war sie an der Neuorganisation von der teileitung nach Cottbus zu Brüning (Lei- Arbeit führte. Gestapo zerschlagener illegaler Unter- ter des Unterbezirks Cottbus der KPD- Helene Kirsch wurde in Berlin-Johan- bezirke der KPD in Lübben, Cottbus und G. W.) fahren. Von November 1932 bis nisthal am 18. Juli 1906 in einer Arbei- Weißwasser. Anfang Februar 1933 war sie Mitglied terfamilie geboren. Ihr Vater war Land- Die fieberhaft suchenden Schergen des des Reichstages. Ferner gehörte sie und Industriearbeiter, Mitglied der SPD, NS-Regimes kamen Helene bei einem il- dem Einheitsverband der Metallarbei- ab 1919 gehörte er der KPD an. Die Mut- legalen Treff in Cottbus auf die Spur und ter an. Anfang 1933 richtete die Kirsch ter bemühte sich als Zeitungsausträge- verhafteten sie. eine Beratungsstelle für Arbeitsdienst- rin und Reinigungsfrau, die Lebensbe- Am 29. November 1933 wurden vom pflichtige in Berlin ein, die nach der po- dingungen der kinderreichen Familie Generalstaatsanwalt bei dem Kammer- litischen Einstellung der Kirsch offenbar – Helene hatte drei Brüder – aufzubes- gericht in Berlin fünfundzwanzig Anti- den Zweck hatte, auf Zersetzung des sern. Bereits als Vierzehnjährige arbei- faschisten, darunter die beiden Frau- freiwilligen Arbeitsdienstes hinzuarbei- tete Helene als Montiererin und Jus- en Erna Hoffmann und Helene Kirsch, ten.“2 tiererin in Berliner Zigaretten- und angeklagt, „im Inland insbesondere in Mit solchen diffamierenden Einschät- Metallfabriken. Mit dem Eintritt in das Cottbus und Umgebung in der Zeit vom zungen über das Leben der Angeklag- Berufsleben wurde Helene Kirsch 1920 März bis Juli 1933 gemeinschaftlich und ten erfolgte bereits vor der gerichtlichen Mitglied des Kommunistischen Jugend- meist fortgesetzt das hochverräterische Hauptverhandlung eine Vorverurteilung verbandes (KJVD). Im Alter von 19 Jah- Unternehmen die Verfassung des Deut- der fünfundzwanzig verfolgten Antifa- ren trat sie 1925 der KPD bei. Ferner schen Reiches gewaltsam zu ändern, schisten durch den Generalstaatsan- gehörte sie als aktives Mitglied der Ro- vorbereitet zu haben, …“1 walt bei dem Kammergericht in Berlin. ten Hilfe sowie der Internationalen Ar- In der fünfzehnseitigen Anklageschrift Der Anklageschrift ist ferner zu entneh- beiterhilfe an. wird in der Überschrift „Wesentliches men, wie die verantwortlichen Funktio- Die junge Kommunistin setzte sich in- Ergebnis der Ermittlungen“ hervorgeho- näre der illegalen Berliner Kommunisten tensiv besonders für die Rechte und In- ben, dass alle Angeschuldigten langjäh- bemüht waren, ihre Mitglieder durch teressen der Frauen ein. Ab 1928 wirk- rige Mitglieder der KPD waren und sich entsprechende Richtlinien für das il- te Helene Kirsch politisch vorwiegend aktiv politisch betätigt hatten. Die Fak- legale Wirken zu schützen. So wird im in der Frauenabteilung der KPD-Bezirks- ten über das politische Wirken der An- Punkt II des in den Prozessakten vor- leitung Berlin-Brandenburg und war De- geklagten in der KPD vor 1933 wurde handenen „Richtlinienpapiers“ für die legierte des 1. und 2. Kongresses der seit Mitte der zwanziger Jahre im Archiv Arbeit der Genossinnen und Genossen

57 unter den neuen Bedingungen hervor- Forst Flugblätter gefunden, die zur Ak- SED im April 1946 im Berliner Admiral- gehoben, dass jede illegale Zelle mit tionseinheit aller Antifaschisten gegen spalast teil und wirkte aktiv bis 1950 großer Initiative selbständig sowie un- die NS-Diktatur aufriefen. Im gleichen als Landtagsabgeordnete für das Land ter Beachtung konspirativer Vorsicht ih- Monat fuhr Helene Kirsch nach Weiß- Brandenburg. Von 1947 bis 1971 war re Aktionen gegen die braune Diktatur wasser, um sich dort mit der KPD Ku- sie politische Mitarbeiterin im Zentral- organisieren sollte. Die Parteiführung rierin Hartkopf aus Berlin zu treffen. Es komitee der SED tätig. verwies besonders darauf, alle schriftli- ging darum, die illegale Arbeit der KPD Leider findet man nur wenige Informa- chen Informationen im inneren Parteile- in Weißwasser neu zu organisieren. Laut tionen über das Privatleben von Hele- ben einzuschränken. Entsprechend den Anklageschrift tauchten in den Mona- ne, denn nur noch wenige ihrer Alters- angedeuteten konspirativen Gesichts- ten Juni und Juli 1933 „Die Rote Fahne“, gefährtinnen leben noch. Das Wenige, punkten wurde im März 1933 die Orga- hergestellt und verbreitet In Cottbus was über sie zu ermitteln war, stamm- nisation der KPD im Unterbezirk Cott- und Umgebung, neben weiteren zentra- te aus der Feder ihrer engsten Kampfge- bus illegal weitergeführt bzw. wieder len Flugschriften in größerem Umfange fährtin Johanna Marmulla. Helene Fred- neu organisiert. auf. Die zentralen illegalen Druckschrif- rich hatte keine Kinder, sie war jedoch Dazu schrieb der NS-Ankläger: „ Nach ten kamen aus Berlin. Dazu vermerkt sehr kinderlieb, wie das Verhältnis zu ih- den Ermittlungen ist diese Tätigkeit in die Anklageschrift: „Am 25. Juli 1933 ren Nichten zeigte. Ihre übernommenen folgende Abschnitte zu zerlegen: wurde bei einer Durchsuchung der Woh- Aufgaben erfüllte sie stets mit hohem A.) Maßnahmen zur illegalen Fortfüh- nung des Arbeiters Rudolf Krauter aus Einsatz und Durchsetzungsvermögen. rung der Parteiarbeit im März und April Berlin-Britz etwa 1 Zentner kommu- Auch als Rentnerin stand Helene Fred- 1933. nistischer Broschüren und Bücher be- rich nie abseits und half immer mit Rat B.) Neuorganisation unter Führung der schlagnahmt. Während der Durchsu- und Tat, wenn ein Anliegen an sie heran- Berliner Parteileitung von Mai an. chung flüchtete Krauter und konnte erst getragen wurde. C.) Vertrieb von Beitragsmarken auf nach starkem Widerstand erneut festge- Sie war eine sehr gesellige und kon- Weisung der Berliner Leitung von Ende nommen werden.“4 taktfreudige Persönlichkeit. Kurz nach Mai/Anfang Juni an. Die Anklageschrift gegen die sieben- ihrem 93. Geburtstag vollendete sich D.) Verbreitung einer in Berlin erschie- undzwanzig Widerstandkämpfer endet 1999 das Leben dieser standhaften und nenen Ausgabe der ‚Roten Fahne‘ mit dem Satz: „Die Angeschuldigten ha- tapferen Antifaschistin. E.) Herstellung und Verbreitung einer in ben im weiten Umfange Geständnisse Cottbus erschienenen Ausgabe der ‚Ro- abgelegt. Allerdings erst nach scharfen Dr. Günter Wehner ten Fahne‘ Verhören.“5 F.) Maßnahmen zur illegalen Fortfüh- Am 10. April 1934 wurde Helene Kirsch rung der Parteiarbeit im März und April. zu zwei und dreiviertel Jahren Zucht- 1 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, NJ 17305, ohne Seitensignatur Nach der Auflösung des Parteibüros der haus verurteilt. Aber selbst als Strafge- 2 Ebenda KPD in der Burgstr. 44 in Cottbus Ende fangene gab Helene ihr Ringen gegen 3 Ebenda Februar oder Anfang März 1933 stell- das faschistische Regime nicht auf. Sie 4 Ebenda 5 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Ebenda te der Leiter des Unterbezirks Cottbus, wurde im Frauenzuchthaus Jauer 1935 Brüning die Arbeit ausdrücklich auf Ille- wegen Anstiftung einer Meuterei ange- galität um. …“3 klagt, mußte aber aus Mangel an Bewei- Zur Durchführung der genannten Auf- sen freigesprochen werden. Nach der gabe, eine illegale Zeitung zu drucken, Haftentlassung heiratete Helene Kirsch besaßen die Cottbusser Kommunisten den Kommunisten Bruno Fredrich. Der mehrere Vervielfältigungsapparate und gelernte Buchdrucker wurde zur Wehr- eine Schreibmaschine. macht einberufen und galt seit 1943 Anfang Mai 1933 übernahm Helene als vermisst. Helene Fredrich mußte als Kirsch die Aufgabe, die illegalen Kon- Kriegsdienstverpflichtete in verschie- takte der Berliner KPD Leitung nach denen Berliner Betrieben arbeiten und Cottbus, Weißwasser und Senftenberg stand bis 1938 unter Polizeiaufsicht. zu halten bzw. wieder aufzunehmen. In Unter Beachtung konspirativer Regeln den Monaten Mai bis Juli 1933 fuhr sie nahm sie Kontakt zu den Antifaschistin- regelmäßig nach Cottbus, um die dorti- nen Ella Trebbe und Marta Wagner auf, gen Antifaschisten zu unterstützen. Sie die ihrerseits Kontakte zur Jacob/Saef- war maßgeblich daran beteiligt, dass kow/Bästlein-Organisation hatten und in Cottbus illegale „Dreiergruppen“ ge- sammelte Lebensmittel und Geld für il- bildet wurden, um die Gefahr massen- legal in Berlin Lebende Widerständler. hafter Verhaftungen zu minimieren. In Nach der Befreiung durch die Antihitler- ihrem Auftrag organisierte der Mitange- koalition am 8. Mai 1945 wirkte Hele- schuldigte Richard Schmidt die Neuor- ne Fredrich unermüdlich am demokrati- ganisation der Partei in der Umgebung schen Neuaufbau Deutschlands. Im Juni von Cottbus, insbesondere in dem Ort 1945 erhielt sie den Auftrag, die Frau- Sielow. enarbeit im Berliner Stadtbezirk Wed- Mitte Juli 1933 fuhr Helene Kirsch nach ding zu organisieren und war danach Forst, um das illegale Wirken der dorti- verantwortlich für die Frauenarbeit der gen Widerständler zu intensivieren, in- KPD im Land Brandenburg. dem sie illegale Flugschriften aus Berlin Helene nahm als Delegierte am Verei- mitnahm. Am 2. August 1933 wurden in nigungsparteitag der KPD und SPD zur

58 „Ostraumplanung“ Vor 65 Jahren begutachtete ein faschistischer Rassenspezialist den General plan Ost des Reichssicherheitshauptamtes

Nach der Zerschlagung der Tschecho- konferenz der Nazi-Führung am 16. Juli Deutschen oder Menschen „germani- slowakei, Polens und Jugoslawiens ließ 1941sollte davon ausgegangen werden, schen Blutes“ gewonnen werden. die deutsche Führung Pläne erarbei- dass die Deutschen „aus diesen Gebie- Noch detaillierter sind die Grundzüge ten, um diese Gebiete für die „nächs- ten nie wieder“ herausgehen. des RSHA-Planes in der „Stellungnah- ten Tausend Jahre“ dem Nazi-Reich zu me“ vom 27. April 1942 zu erkennen. unterwerfen. Als sichere Methode galt Die SS will 31 Millionen Menschen Der Autor, Erhard Wetzel, war Rassen- die teilweise oder vollständige Germa- deportieren dezernent im Reichsministerium für nisierung der Länder. Vom ersten Tag Unter den seit dem Spätsommer 1941 die besetzten Ostgebiete. Nach Wetzel der Besetzung an wurden Maßnahmen entstandenen Plänen nimmt der „Ge- hatte das RSHA geplant, dass die Ost- zur „Verringerung“ vor allem der slawi- neralplan Ost“ des Reichssicherheits- grenze des zu germanisierenden Gebie- schen Bevölkerung ergriffen. In den auf hauptamtes (RSHA) eine herausgeho- tes 250 Kilometer westlich von Moskau diese Weise geschaffenen „menschen- bene Stellung ein. Das Hauptamt unter verlaufen sollte. In diesem Territori- verdünnten“, mitunter entvölkerten Ge- Reinhard Heydrich, dem wohl einfluss- um lebten ca. 45 Millionen Menschen. bieten, sollten massenhaft Deutsche reichsten SS-Führer nach Heinrich Nur 14 Millionen von ihnen könnten als angesiedelt werden. Die „Verringerung“ Himmler, war seit seiner Gründung am „eindeutschungsfähige“ Arbeitskräfte der Bevölkerung erfolgte häufig unter 27. September 1939 die mit großen Voll- „in diesem Raum verbleiben“. 85 Pro- dem Deckmantel vorbeugender Partisa- machten ausgerüstete Zentralstelle zur zent aller Polen, 65 Prozent der Westu- nenbekämpfung nach vor dem Überfall Vernichtung aller politischen und „rassi- krainer, 75 Prozent der Weißrussen und ergangenen Befehlen. So einigten sich schen“ Feinde des Faschismus. Es sorg- über 50 Prozent der Tschechen – zu- Wehrmacht und SS vor dem Angriff auf te im engen Zusammenwirken mit den sammen mehr als 31 Millionen Men- Jugoslawien darüber, welche Personen- anderen bewaffneten Kräften der Na- schen – sollten in klimatisch widrige gruppen sofort „sicher zu stellen“ seien. zis dafür, dass in den besetzten Ostge- Gebiete Sibiriens deportiert werden. Dazu gehörten Funktionäre der Arbei- bieten durch millionenfachen Mord und Nach Wetzel hätte das den Untergang terbewegung und Angehörige der Intel- Deportationen sehr schnell jene „men- der meisten Menschen zur Folge. In ligenz, die als Repräsentanten und Be- schenverdünnten“ Gebiete entstan- dem so geschaffenen „menschenver- wahrer des Nationalbewusstseins der den, die die Voraussetzung für die tota- dünnten“ Gebiet wollte man 8 Millionen zu liquidierenden Völker angesehen le bevölkerungspolitische Neuordnung Deutsche ansiedeln. wurden, außerdem Juden und andere auf rassistischer Grundlage und nach „rassisch Unerwünschte“. Die nächs- den Interessen des Faschismus bilde- Wetzel will 51 Millionen Menschen ten Maßnahmen, die z. B. in Sloweni- ten. Der Plan des RSHA zeigt das Be- verschwinden lassen en schon wenige Tage nach dem Einfall mühen der faschistischen Führung, die Hier setzt Wetzels Kritik an dem RSHA- der Wehrmacht ergriffen wurden, waren Absichten gegenüber der Sowjetunion Plan an. Er meinte, es müssten min- die „rassische Siebung“, die Enteignung und die zuvor entstandenen Pläne für destens 51 Millionen Menschen „ver- und die Deportation der nicht „eindeut- die anderen Gebiete in einem Gesamt- schwinden“. Vor allem bemängelte er, schungsfähigen“ Bevölkerung. Häufig plan, einem „Generalplan“, zusammen- dass sich der RSHA-Plan ausschließ- synchron erfolgte der Ansatz der „ger- zufassen. Das Dokument selbst konnte lich mit den zu germanisierenden Ge- manischen“ Siedler auf dem Eigentum noch nicht aufgefunden werden. Seine bieten beschäftige. Die Hauptfrage ei- der soeben Deportierten. strategischen Linien sind aber aus ei- ner dauerhaften deutschen Herrschaft Mit dem Überfall auf die Sowjetunion ner Rede von Reinhard Heydrich, ge- „im ganzen Ostraum“ sei aber das „Rus- am 22. Juni 1941 erhielten die „Germa- wissermaßen der Auftraggeber für die sentum“. Es müsse geklärt werden, wie nisierungs“- Planungen eine völlig neue Ostraumplanung des RSHA, in Prag und „mit dem Russenproblem fertig zu wer- Dimension. Das betraf die Größe des einer umfangreichen Aufzeichnung mit den“ sei. „Das Russentum weiter zu „Planungsraumes“ die Anzahl der be- dem Titel „Stellungnahme und Gedan- schwächen“, wäre die Hauptaufgabe. troffenen Menschen und die Radikalität, ken zum Generalplan Ost des Reichs- Alle Russen umzubringen, wie der „Ras- mit der die Maßnahmen durchgesetzt führers SS“ vom 27. April 1942 zu re- senberater“ der Wehrmacht, Wolfgang werden sollten. Raumordnungsbehör- konstruieren. Heydrich erklärte am 2. Abel, allen Ernstes vorgeschlagen habe, den, Dienststellen der Wehrmacht, Oktober 1941 vor Spitzenbeamten des sei kein gangbarer Weg. Es seien zu vie- Hauptämter der SS, Dienststellen der deutschen Okkupationsregimes in Prag, le. Außerdem brauche man sie für die Hermann Göring unterstellten Wirt- der „Raumgewinn“ in Europa sei nicht wirtschaftliche Nutzung des „Riesenrau- schaftsbehörden, Organisationen der nur die „militärische Voraussetzung für mes“. „Um die Zerschlagung des russi- Privatwirtschaft und das Reichsminis- die …siegreiche Beendigung des Krie- schen Volkstums“ zu erreichen, schlug terium für die besetzten Ostgebiete ges“. Vor allem in Osteuropa, „bis weit er in Anlehnung an deutsche Pläne aus entwickelten unter großflächiger Ein- nach Rußland, bis weit an den Ural“, der Zeit des Ersten Weltkrieges die terri- beziehung deutscher Wissenschaftler sollten als Grundlage deutscher Welt- toriale Aufspaltung und eine „negative“ monströse Pläne, um die UdSSR zu be- macht ein riesiges Kolonialgebiet, eine Bevölkerungspolitik vor. Grundsatz sei, herrschen, die Bevölkerung zu dezimie- „große Rohstoff- und Ernährungsbasis“, dass Politik im Ostraum „konsequent ren, das Gebiet auszubeuten und Raum ein unerschöpfliches Reservoir an Ar- vom biologischen, insbesondere ras- für deutsche Siedler zu schaffen. Nach beitssklaven und in gewaltigem Umfang senbiologischen Standpunkt aus“ be- Äußerungen Hitlers auf der Kriegsziel- Land zur massenhaften Ansiedlung von trieben werde. Wetzels Vorschläge ba-

59 sieren auf Vorstellungen, die seit einiger 1942. Sie war von Mitarbeitern des In- eine Restbevölkerung dürfe sich als Zeit im Reichsministerium für die be- stituts für Agrarwesen und Agrarpolitik Arbeitssklaven in dem Siedlungsraum setzten Ostgebiete diskutiert wurden. der Universität in Berlin-Dahlem unter aufhalten. In geringem Umfang sollten Seine „Stellungnahme“ zum RSHA-Plan Leitung von Konrad Meyer, unterstützt „rassisch brauchbare“ Einwohner ger- fasste diese Diskussion zusammen und von der Universität Jena, erarbeitet manisiert werden. So legte der Plan bildet das Gerüst für einen Generalplan und von Heinrich Himmler, Reichsfüh- für die „Eindeutschung“ der drei balti- des Ostministeriums. Die Gedanken rer SS, im Juni 1942 gebilligt worden. schen Sowjetrepubliken fest, von den Wetzels und die Diskussionen im Ost- Die Dahlemer Wissenschaftler gingen 6 Millionen Einwohnern seien 700.000 ministerium mündeten 1942 in „Gene- davon aus, dass durch die Massenmor- „eindeutschungsfähig“. Für den „Auf- ralpläne“ der regionalen zivilen Okkupa- de von Wehrmacht, SS und Polizei so- bau Ost“ plante Meyer den massenhaf- tionsbehörden in der Sowjetunion. Das wie durch eine perfide Hungerstrategie ten Einsatz von „Kriegsgefangenen, Zi- Ostministerium und die regionalen Be- die „Ostgebiete“ „menschenverdünnt“ vilgefangenen, Polizeigefangenen“. In hörden hoben die Konzeptionen auf die waren. Durch großflächige Enteignung den regionalen Germanisierungsplänen Arbeitsebene der Raumordnungs- und der Bewohner standen die Ländereien wird die Berücksichtigung der erziel- Landesplanung, wodurch sie einen po- auch eigentumsrechtlich zur „Eindeut- ten Ergebnisse bei der Reduzierung der litisch und administrativ erheblich ver- schung“ uneingeschränkt zur Verfü- Bevölkerung deutlich sichtbar. So ging bindlicheren Charakter erhielten. gung. Die Wehrmacht, so die Einleitung der Raumordnungsspezialist Gottfried des Dokuments, habe die „Ostgebiete Müller im Generalplan für das Balti- Aus faschistischen endgültig dem Reich gewonnen.“ Es sei kum und Bjelorußland vom 17. Novem- Germanisierungsplänen nun die „vornehmste Aufgabe,…diese ber 1942 davon aus, dass inzwischen 1 Das Jahr 1942 bildete den Höhepunkt Gebiete innerhalb kürzester Frist“ ein- Million Juden „ausgefallen“ seien. Auch der faschistischen „Ostraumplanung“. zudeutschen. Dabei seien die Erfahrun- die 2 Millionen Polen und die 500.000 Nachdem die Wehrmacht im Frühsom- gen zu nutzen, „die von der SS bei der Russen dieser Gebiete müssten „ver- mer 1942 scheinbar wieder die Ober- rassischen und erbbiologischen Aus- schwinden“. Die Stalingrader Schlacht hand in der Sowjetunion gewonnen lese gemacht sind.“ Meyer definierte: beendete die wahnwitzigen Planungen. hatte, wurden die Pläne detaillierter „Die Eindeutschung wird als vollzogen Die Verantwortlichen für die Dokumen- und uferloser. Die inzwischen bei der angenommen, wenn der Grund und Bo- te, Meyer und Müller, machten in der massenhaften Dezimierung der Bevöl- den in deutsche Hand überführt worden Bundesrepublik als Hochschullehrer kerung erzielten „Ergebnisse“ wurden ist und wenn die beruflich Selbständi- und Landesplaner eine steile Kariere. als neue Ausgangsgrößen für die Pla- gen, die Beamten, Angestellten, die ge- Für Gottfried Müller wurde nach lang- nungen eingesetzt. Ein wichtiges Do- hobenen Arbeiter und die dazugehöri- jähriger Tätigkeit als offizieller Landes- kument zur „Eindeutschung“ der „Ost- gen Familien deutsch sind.“ Als Endziel planer in Düsseldorf sogar ein eigener gebiete“ bildete eine Denkschrift mit formulierte er, „der Osten“ werde „für Lehrstuhl an der Münchener Techni- dem Titel „Generalplan Ost – Recht- alle Zeiten deutsch bleiben“, wenn „aus schen Universität eingerichtet. liche, wirtschaftliche und räumliche dem deutschen Siedlungsraum alles Grundlagen des Ostaufbaus“ vom Mai fremde Blut restlos entfernt ist.“ Nur Dr. Martin Seckendorf

Zum Kampf um den Berliner Reichstag (26. April bis 1. Mai 1945) Die Erinnerungen von Ernst Bittcher – Einführung

Die rote Fahne der Sowjetarmee, die wie „nach Hause!“ Für die Berliner und fe bis 1933 und vom „Reichstagsbrand- am frühen Morgen des 1. Mai 1945 alle Deutschen begann der langwierige prozess“ her, den Georgi Dimitroff, der über dem beschädigten Berliner Reichs- Prozess des Nachdenkens über ihren im Frühjahr 1945 noch eine führende tagsgebäude wehte, wurde zum Symbol Platz im Geschehen der vergangenen Funktion in Moskau bekleidete, als mo- für ihren Sieg über Hitlerdeutschlands zwölf Jahre, über kollektive und indivi- ralischer Sieger über Hitler verlassen Wehrmacht. Die Aufklärer M. A. Jegorow duelle Schuld. hatte. Auch die Brandreden von Nazi- und M. W. Kantarija vom 756. Schützen- Die Erinnerungen von Ernst Bittcher, Führern, wie z. B. Hitler, Goebbels vor regiment der 150. Schützendivision, die Anfang der achtziger Jahre verfasst, den „Abgeordneten“ des Reichstags, auf dem Gebäude die Flagge postiert sind ein Mosaiksteinchen bei der Suche die allerdings tatsächlich in der Kroll- hatten, erschienen in den Geschichts- nach einem objektiven Geschichtsbild Oper stattfanden, dürften den Mythos büchern der Sowjetunion und der DDR vom Kriegsende in Berlin. „Reichstag“ verstärkt haben. Ende April als verehrte Helden. Dem Zeitgeist ge- Der „Reichstag“ überragte zwar viele Ge- 1945, im Gebäude hatten mittlerweile mäß wurde dieses Ereignis für Bild- und bäude des Regierungsviertels, war aber unter anderem Dienststellen des Innen- Filmdokumentationen mehrmals nach- nicht das Machtzentrum Nazideutsch- ministeriums ihren Sitz, war er weder gestellt. lands, wie die Propaganda seiner Erobe- politisch noch militärisch von beson- Am 1. Mai 1945 verhieß das flatternde rer suggerierte. Die falsche Vorstellung derer Bedeutung. Das belegt auch die Banner für Millionen Sowjetarmisten, von der Rolle des Reichstags und der Schilderung unseres Zeitzeugen. wie es Ilja Ehrenburg ausdrückte, das Eroberung des Gebäudes rührte noch Als die „Berliner Operation“ der Roten nahe Kriegsende, klang Berlin für sie aus den Berichten über die Wahlkämp- Armee am 16. April 1945 begann, ver-

60 fügten Hitler und einige Regierungs- Hitlers Selbstmord am Nachmittag des gann nach dem Schulabschluss 1947 mitglieder, die sich seit Januar in der 30. April entschied Kommandant Weid- eine Lehre als Orgelbauer bei der be- von Tag zu Tag immer mehr zur Ruine ling zu kapitulieren, was am 2. Mai ge- rühmten Potsdam-Berliner Firma Schu- werdenden Reichskanzlei in der Voß- schah. Keitel und Jodl schlugen sich ke. Als hervorragender Praktiker und straße aufhielten, nicht mehr über ei- zur „Regierung Dönitz“ bei Flensburg Theoretiker des Orgelbaus ist mit sei- nen wirksamen Regierungsapparat. durch, wo sie am 23. Mai verhaftet ner Arbeit die Rekonstruktion und der Der am 24. April zum letzten Kampf- wurden. Neubau der im Kriege zerstörten oder kommandanten von Berlin ernannte Die vor mehr als 25 Jahren niederge- beschädigten Orgeln im Leipziger Ge- General der Artillerie Helmuth Weidling schriebenen Erinnerungen Bittchers wandhaus, in der Berliner Philharmonie, hetzte zwischen dem Führerbunker in (und weiterer damals jugendlicher Teil- in der Eosander Kapelle des Charlotten- der Reichskanzlei, seinen Komman- nehmer des „Endkampfes“ um Ber- burger Schlosses, der Heilandskirche in dostellen in einem Gebäude des Ober- lin) entstanden im Zusammenhang mit Sacrow, aber auch bedeutender Orgeln kommandos der Wehrmacht (OKW), Forschungen über die Rolle Berlin-Zeh- in Moskau, Sofia, Jerusalem und Tokio im sogenannten Bendlerblock, und im lendorfer Gymnasiasten als Luftwaf- verbunden. Für seine praktischen und Reichsluftfahrtministerium an der Leip- fenhelfer 1944/45, die eine Interes- theoretischen Leistungen verlieh ihm ziger Straße hin und her. Die Chefs des sengemeinschaft dieser ehemaligen die Berliner Akademie der Künste den OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Schüler betreibt und die vom lange für Professorentitel. Keitel und Generaloberst Alfred Jodl, die „Europa-Union“ tätigen, 1927 in Ber- Die Aufzeichnung Bittchers ist eine verließen am Nachmittag des 24. April lin geborene Hans-Jochen Becker koor- wichtige subjektive Quelle für neue auf Nimmerwiedersehen die Reichs- diniert wird und die entsprechende Do- Versuche, das Geschehen in Berlin bei kanzlei. Vergeblich versuchten sie von kumentationen herausgibt. Kriegsende – so weit dies möglich ist – Wehrmachtsstandorten in Krampitz, Ernst Bittcher, am 13. November 1928 objektiv darzustellen. Rheinsberg und Fürstenberg Truppen in Berlin geboren, im April/Mai 1945 zum Entsatz Berlins aufzutreiben. Nach ein erst 16 Jahre alter Gymnasiast, be- Professor Dr. Gerhart Hass

Der Kampf um den Reichstag – Erinnerungen des Luftwaffenhelfers Ernst Bittcher

Seit Januar 1944 waren wir Schüler des den 1. Weltkrieg stellte sich ein, die mir Anblick zerschossener Soldatenleichen Zehlendorfer Gymnasiums unmittelbar nicht nur wegen ihrer heimtückischen eingeprägt, dass sich das Entsetzen vor nach der Kinderlandverschickung als Wirkung in Erinnerung blieb. dem Zerfleischen durch den Grauschlei- Luftwaffenhelfer eingezogen worden, Vermutlich im Morgengrauen des 26. er der Detonations-Staubwolken zu- in die „Fünfte Zweihundertelf“ nach Juni kamen im Neben noch verspreng- nächst gar nicht einstellt. Stahnsdorf. Stellungswechsel erfolgten te eigene Soldaten über das Rollfeld aus Der intensive russische Beschuss trieb nach Siethen, Wietstock und schließlich südlicher Richtung. Der russische Be- mich in unseren Aufenthaltsraum, der nach Düppel zwischen dem heutigen schuss aus dieser Gegend steigerte sich sich im Untergeschoss des Südwest- Museumsdorf und der Berlepschstra- enorm, während wir den letzten Stel- Turms befand. Der Zugang dorthin vom ße an der Stammbahn. Dort erfolgte die lungswechsel zum Reichstagsgebäude Königsplatz erfolgte nicht über die brei- Umschulung von Luftabwehr auf Erd- vollzogen, vermutlich mit nur noch drei te Freitreppe, sondern ziemlich unmit- kampf mit Panzerbeschuss. Geschützen. Ich zählte als Seitenricht- telbar über eine normale Tür mit an- Innerhalb Berlins wechselten wir bei mann des Kommandogerätes nicht zur schließendem Gang, wenn ich mich dem russischen Anmarsch bis Teltow Geschützstaffel, habe also wenig Erin- noch recht erinnere. Die Tür erkannten zunächst mit unseren Geschützen nach nerung an die Stationierung und den wir später auf einem Foto der Reichs- Lichterfelde Stadion mit Quartier in der späteren Einsatz unserer restlichen Ge- tags-Ruine. Längere Zeit habe ich in ei- Siemens-Villa. Ich war vorgeschobener schütze, die nach den Angaben meiner nem Erdbunker verbracht, vor dessen Beobachter im Zeiss-Ikon Goerzwerk Freunde intensiv in nördlicher Richtung Eingang als Splitterschutz ein Blechge- und sah dort die aufmarschierten Pan- vom Königsplatz aus Erdziele beschos- häuse, ein Herdgestell oder ähnliches zer am Teltowkanal. Nach direktem Be- sen. Gerät, mit Sand gefüllt lag. Dort trafen schuss unseres Beobachtungsstandes Ich weiß nur noch, dass unsere Artille- sich Versprengte aller möglichen Trup- ging es zurück zur Batterie am Ostpreu- rie-Einsatz durch intensives russisches penteile, um Schutz vor dem Artillerie- ßendamm in Lichterfelde. Der nächste Feuer, auch aus „Stalinorgeln“, beant- feuer zu suchen, bis es dann auch dort Stellungswechsel ging an die Süd-West- wortet wurde. In unserer eigenen Bat- zu brenzlig wurde. Ecke des Tempelhofer Flughafenge- terie hatten wir mehrere Verwundete Diesen vermutlich in der Nähe des bäudes. Von dort blieben als russische zu bergen – auf umher liegenden Türen Südwest-Turmes liegenden Erdbunker Kampfhandlungen außer starkem Be- zerstörter Gebäude der unmittelbaren verließen wir nach einem starken Be- schuss ein nächtlicher Einsatz von Dop- Nachbarschaft, weil Tragbahren in der schuss, erlebten aber wenig später im peldeckern in Erinnerung, die im Gleit- Hektik der Feuerüberfälle nicht zur Ver- Aufenthaltsraum derart starkes Artille- flug mit abgestellten Motoren über uns fügung standen. Mir hat sich, nach ers- riefeuer, dass das Gebäude erzitterte aufschlagzündende Munition abgewor- ten blutigen Eindrücken in Tempelhof, und auch im Raum Staub im Bereich der fen haben, beinahe eine Assoziation an auf dem Königsplatz insbesondere beim zugemauerten Fenster aufwirbelte. Ich

61 flüchtete abwärts in den Keller, in Ma- nant Richter traf, begrüßte er mich wie Aber im Gegensatz zu meinen Freunden schinen- oder Heizungsräume vielleicht, seinen Sohn, denn er hatte offensicht- war ich eher außerhalb des Gebäudes unter einen sicheren Treppenlauf, denn lich von meinen Exkursionen gehört. unterwegs, als „Einzelkämpfer“, wenn dort war keine Stehhöhe, aber nicht für Er machte sich alsbald mit mir auf den man so will. Oberleutnant Richter ging lange Zeit, denn Feldjäger oder sonst Weg zum Zoobunker, um Eiserne Kreuze mit mir, wie schon gesagt, vermutlich in irgendwelche Ausputzer scheuchten zu besorgen, wie er sagte. Ein EK II habe der Nacht zum 30. April 1945 zum Zoo- mich aus dem sicheren Versteck mit ich dann sogar selbst bekommen. Bunker. Manchmal muss ich auch heute den Worten: „Du feiges Schwein türmst, Nun einige Eindrücke vom Reichstags- noch an diesen Gang durch den Tiergar- während Deine Kameraden draußen gebäude selbst. Als ich in der oberen ten denken. Nur vereinzelt mussten wir verbluten!“ Etage herumstromerte – als ganz kurz vor Einschlägen Deckung nehmen. Das Ich musste mit sorgsam von Frauen der nach unserem Stellungswechsel aus Gerücht schien sich zu bewahrheiten, Reichstagsküche geschmierten, wie zu Tempelhof noch Gelegenheit dazu be- dass die Russen die Ost-West-Achse einer Reise mit Butterbrotpapier ein- stand – war dort in einem Turmraum (heute: Straße des 17. Juni) nicht mehr gewickelten Stullen, mit zwei großen ein Schweres Maschinengewehr stati- beschossen, um sie weitgehend unbe- Blechkannen in den Händen, über den oniert, dessen Bedienung mich völlig schädigt für ihre Siegesparade nutzen Königsplatz von Granattrichter zu Gra- überrascht warnte, mich blicken zu las- zu können. Es hieß auch, dass deutsche nattrichter bis in die Kellerräume eines sen, da es bereits zum Schusswechsel Transportflugzeuge vom Typ Junkers Ju- lang gestreckten Gebäudes gelangen, gekommen sei. Trotzdem erinnere ich 52 auf dieser Straße gelandet und ge- in denen tatsächlich ein Rest zusam- mich, in einen Raum gelangt zu sein, der startet sein sollen mit Verwundeten. men gewürfelter Soldaten noch Wider- bereits verwüstet war, aber noch Mo- Über die Straße hinweg sahen wir die stand leistete. Der Keller dieses zerstör- delle von Gebäuden enthielt, wohl aus Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche in ten Gebäudes war ziemlich großräumig einer Ausstellung für den Wiederaufbau Flammen stehen. Meine Erinnerung da- und im Gang überschaubar, gewiss kein der „Reichshauptstadt“ stammend. Man ran, dass die Glocke im Sog des Turm- Wohn-, sondern ein Verwaltungsgebäu- konnte dort den Kopf in diese Raummo- brandes läutete, scheint sich dadurch de. Während eines meiner drei Besuche delle stecken und hatte einen grandio- zu bestätigen, dass aus einem Foto, dort schlug ein Geschoss bis in den Kel- sen Innenraum-Rundblick. Zu den Ex- das nach dem Ende der Kampfhandlun- ler durch die Decken und begrub einen ponaten zählten auch kleine Plastiken, gen aufgenommen worden war, die Glo- der Soldaten unter einem kegelförmi- z. B. ein kleiner Mädchenkopf von Arno cke noch in der Ruine hing. Später sind gen Schutthaufen. Breker, einem der prominentesten Bild- mir bei einem Gespräch mit Herrn Tony Dem Haus gegenüber befanden sich hauer der Nazizeit, den ich in meinem le Tessier, dem Verfasser eines Buches nach Aussagen unserer Soldaten be- Rucksack verschwinden ließ, ebenso über den Kampf um Berlin 1945, Zwei- reits eingesickerte russische Infante- auch eine „Velveta-Käse-Kiste“, die ich fel gekommen, in welchem Bunker wir risten, weshalb Vorsicht geboten war. aus einem dicht neben dem Reichs- damals gewesen sind, denn es soll ne- Dennoch erlebte ich dort den Abschuss tagsgebäude befindlichen Arsenal mit ben dem Flakbunker in der Zoogegend eines rollenden Panzers T-34. so genannten Marketenderwaren hatte noch einen Kommandobunker gegeben Dieses Modell hatte noch im Gegensatz mitgehen lassen. Aus diesen Beständen haben. In dem Gebäude, das ich mit zu den Panzern vom Typ „Stalin“ gröbe- versorgten wir uns noch zu guter Letzt Oberleutnant Richter aufgesucht hatte, re Platten an den Ketten, so dass ich das mit Fleisch- und Wurstdosen, was als herrschte jedenfalls eine eigentümlich Klatschen dieses Typs wohl noch recht sehr konzentrierte und fette Ernährung hektische Aufbruchstimmung. Man sah gut in Erinnerung habe. Neben mir lag nicht ohne Wirkung auf die Verdauung auch Gestalten, die bereits halb in Zivil ein Soldat mit gerichteter Panzerfaust blieb. gekleidet waren. im Anschlag, ließ den Panzer kommen, Auf der Ostseite des Reichstages be- Ich bekam wohl noch eine Portion zu an den bereits abgeschossenen Tanks fand sich zunächst noch eine intakte essen und schlief dann auf dem Trep- vorbei, ließ ihn sogar das Rohr auf uns Wasserzapfstelle, die aber alsbald aus- penflur kauernd ein. Ohne Stahlhelm – da unten richten und drückte dann ab, fiel, weil Scharfschützen dorthin Ein- vergessen oder gestohlen – kam ich ir- mit viel Staub und Getöse zur Folge, sicht hatten, mit erschreckend sicht- gendwann wieder ans Tageslicht, nahm allerdings auch mit einem Volltreffer, barem Erfolg. Freunde erinnerten mich mir von einem Sturmgeschütz, das vor denn der Panzer brannte bereits im In- daran, dass man Getränke aus den Kel- dem Eingang stand, einen SS-Stahl- nern, als sich der Staub bei uns gesetzt lern der nahe gelegenen Krolloper be- helm, der leidlich passte und machte hatte. Sein Kommentar war nun, dass er schafft habe. mich wieder auf den Weg zum Reichs- jetzt reif für das „Ritterkreuz“ sei, denn Beinahe wäre ich Zeuge einer Hin- tag. Ohne jegliche Feindberührung ge- das sei „die Nummer sechs“ gewesen. richtung eines Deserteurs im Hof des habt zu haben sah ich dann, aus süd- Den bestialischen Gesetzen des Krieges Reichstages geworden. Aber das Exe- westlicher Richtung kommend, dass der folgend, erschossen wir den Komman- kutionskommando musste in Deckung Reichstag brannte. Was sollte ich noch danten des Panzers, kaum, dass er die gehen wegen einer Artilleriesalve, wäh- dort? Indem ich kehrt machte, pfiff es Turmklappe aufgerichtet hatte, mit einer renddessen der Todeskandidat glück- mir plötzlich um die Ohren, so wie Ge- Salve aus vier Gewehren, während die licherweise entkommen konnte. Auch wehrschüsse klingen, und siehe da, vor Besatzung – zwei Tage vor dem Kriegs- von den in den Reichstag bereits einge- mir hatten sich drei Rotarmisten ein- ende! – im Innern schreiend verbrann- drungenen Rotarmisten hatte ich gehört gegraben, ungefähr dort kann es ge- te. Dreimal machte ich als damals Sech- und selbst insbesondere in der Dunkel- wesen sein, wo heute das sowjetische zehnjähriger diesen „Ausflug“ über den heit die daraus resultierende Nervosität Ehrenmal steht. Ich ging sogleich in vol- Königsplatz, nach den Stullen mit Kakao gespürt. Nach meiner Erinnerung ver- le Deckung hinter einem umgestürz- und Kaffee, schließlich mit Panzerfäus- suchte man durch Ausgabe von Paro- ten Baum, nur mein Rucksack schau- ten. Als ich im Reichstag bei unseren len Freund und Feind auf Anruf unter- te darüber hinaus. In der Tasche hatte Leuten auch den Batteriechef Oberleut- scheidbar zu machen. ich noch eine Eierhandgranate, rekapi-

62 tulierte das Abziehen, zog ab und warf chen Ende des „Halbgottes“ der eigent- in den abgesoffenen Heizungskellern – in Richtung Erdloch. Zugleich rannte ich liche Zusammenbruch. Gegen Abend die Pumpen waren außer Betrieb – vor davon, ohne dass diese Granate jemals des 1. Mai 1945 verließ ich die Sieges- allem SS-Männer vor, die versuchten, explodierte, weil ein Zünder wohl nicht säule. Es war kalt und zugleich herrsch- die Spuren der Zugehörigkeit zu dieser vorhanden war. Der Gegner in banger Er- te eine gespenstische Ruhe. Hätte man Truppe auszulöschen. In ihrer Beglei- wartung und Deckung ließ mich laufen. nicht auch von dort aus einen Sturman- tung sah ich Frauen im Männerunifor- Vielleicht waren die drei Eingesickerten griff, den blutigsten Weg der Roten Ar- men, die so bis zur ersten Leibesvisi- auch betrunken, wie viele Rotarmisten mee in diesem Krieg überhaupt, wahr- tation in der Gefangenschaft bei ihren am 1. Mai 1945. Ganz unbehelligt kam nehmen müssen? Ich muss die Tatsache Männern bleiben konnten. ich zur Siegessäule. Man sprach unter einer wohl verständlichen Legende, auf Am Morgen des 2. Mai 1945 begann den Soldaten von Durchbruchsversu- diesem Kulminationspunkt der Nieder- mit einem markigen „Uri, Uri!“ mein chen in U-Bahnschächten in Richtung werfung Nazi-Deutschlands heldenhaft Weg in russische Kriegsgefangen- Ruhleben, von Hitlers Heirat und sei- gestürmt zu sein, anerkennen. Ich kann schaft, zum Glück nur für vier Monate nem Selbstmord. Für mich, der ich tat- dagegen bezeugen, dass der Reichstag nach Posen. sächlich bis dahin an den „Endsieg“ ge- dank der besonnenen Strategie der Ro- Dies ist nur der Versuch einer Rückblen- glaubt hatte – die „Armee Wenck“ war ten Armee ohne großes Blutvergießen de, die gegebenenfalls ergänzt oder be- ja zum Entsatz Berlins angeblich bereits eingenommen wurde. richtigt werden kann. auf dem Wege –, für mich bedeuteten In der Nacht vor dem 2. Mai kam ich diese beiden Nachrichten vom klägli- in das Schloss Bellevue und fand dort Professor Ernst Bittcher

Horst Helas, Dagmar Rubisch, Rainer Zilkenat (Hrsg.) Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland Texte 46 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Karl Dietz Verlag Berlin 2008, 175 Seiten, Broschur, 14,90 Euro, ISBN 978-3-320-02142-9

Antisemitismus ist auf unterschiedliche Motive. Zudem meint Antifaschismus in der deutschen heute immer auch ein PRO, das Eintreten für bestimmte Gesellschaft eine Grundwerte der bestehenden Gesellschaft, ihre Verteidi- seit vielen Jahren gung wie Ausgestaltung. relativ unveränder- 2. „Die Linke“ muss sich fast 60 Jahre nach der Gründung te Einstellung eines zweier deutscher Staaten und fast 20 Jahre nach der er- großen Teils der neuten Herstellung der Einstaatlichkeit mit allen Facetten Bevölkerung. Trotz ihrer Geschichte differenziert, kritisch und sachlich ausei- dieses Befundes nandersetzen. Auch hier versteht es sich von selbst, die ist die Hartnäckig- äußeren Aspekte, beispielsweise die Zwänge des Kalten keit der vielen Ak- Kriegs, zu berücksichtigen. Dies sollte aber nicht zur Ent- teure beim Kampf schuldigung für Unzulänglichkeiten, Fehlentwicklungen um die Zurückdrängung des Antisemitismus in Deutschland und auch Verbrechen im jeweiligen Deutschland. Dies gilt bewunderns- und unterstützenswert. Mehrere Beiträge in auch für eine solche Frage wie die, ob es in der DDR An- dieser Publikation belegen die lange Entwicklungsgeschich- tisemitismus gegeben habe. Dieses Spezialthema der Ge- te von Antisemitismus. Andere beleuchten aktuelle Aspek- schichte der DDR verdient Aufmerksamkeit. Angesichts te dieses Phänomens. Sie bekräftigen, dass der Kampf ge- des in Deutschland um sich greifenden Geschichtsrevisi- gen Antisemitismus einen unverwechselbar eigenständigen onismus gewinnen Debatten, Forschungen wie Publikatio- Platz in der Bekämpfung von Phobien verschiedenster Art nen auch zu dieser Problematik an Aktualität. innehat, der nicht relativiert werden sollte. 3. Staatliche Organe, Wissenschaftler wie Publizisten soll- Im Zentrum des Buches stehen die Referate und ausge- ten aufhören, zwischen Rechtsextremismus und soge- wählte Diskussionsbeiträge der Antisemitismus-Konferenz nanntem Linksextremismus ein Gleichheitszeichen zu set- der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 11. Januar 2007. Dort zen – auch hinsichtlich des Antisemitismus. In Theorie wie wurde das Bedürfnis bekräftigt, grundlegende Erfahrungen gesellschaftlicher Praxis sollte man den Trennungsstrich der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus einem zwischen all jenen Kräften, die die demokratische Grund- breiten Interessentenkreis zugänglich zu machen. ordnung in Deutschland als ihren Handlungsrahmen anse- Die Herausgeber möchten vier Aspekte ihrer grundsätzli- hen, und jenen, die das „ganze System“ und „alle System- chen Haltung benennen: parteien“ überwinden wollen, klar kenntlich lassen. 1. Für Menschen, die sich zu „den Linken“ zählen, ist der 4. In Publizistik wie wissenschaftlicher Debatte erleben wir Antifaschismus ein unverzichtbarer Grundwert. Dass die- immer wieder, dass ein beliebiger Autor mit seinen Aussa- ser Antifaschismus keinesfalls monolithisch zu verstehen gen von Vorgestern immer wieder neu konfrontiert wird. ist, versteht sich von selbst. In Deutschland hat es vor wie Dies geschieht manchmal in der Erwartung, der Zitierte nach 1945 immer Antifaschismen gegeben. Das entspre- möge sich rechtfertigen. Die Herausgeber halten eine Per- chende Handeln von Menschen verschiedener Herkunft sonifizierung inhaltlicher Debatten grundsätzlich für wenig und Weltanschauung gründet sich auch in der Gegenwart zielführend.

63 BERICHTE UND INFORMATIONEN Bundesarbeitsgemeinschaft Rechtsextremismus/Antifaschismus vom Vorstand der Partei DIE LINKE anerkannt

Der Jahreswechsel 2007/2008 war für land. Nach einführenden Bemerkungen Es folgten mehrere Wahlhandlungen und unsere Bundes-AG mit viel Arbeit und von Roland Bach sprachen 15 Genos- Abstimmungen, die jeweils in völliger auch viel Freude verbunden. sinnen und Genossen sowie Sympathi- Einmütigkeit erfolgten. Zunächst wurde Gefreut hat uns, dass über 80 Mitglie- santen. Die Teilnehmer würdigten den beschlossen, dass die Bundes-Arbeits- der der Partei DIE LINKE ihre Mitarbeit Erfolg der Unterschriftenkampagne der gemeinschaft Rechtsextremismus/An- in unserer Bundes-AG persönlich doku- VVN-BdA für ein Verbot der NPD und die tifaschismus entsprechend der Satzung mentiert haben. Gleichermaßen erfüllt breiter gewordene Teilnahme aus allen beim Bundesvorstand der Partei DIE es uns mit Genugtuung und spornt zu Teilen der Bevölkerung an den zahlrei- LINKE ihre Anerkennung als bundeswei- noch besserer Arbeit an, dass über 30 chen Aktionen des Widerstandes in al- ter Zusammenschluss beantragt. (Dazu Sympathisanten ihre Mitwirkung an den len Bundesländern gegen neonazisti- notwendige Unterlagen wurden an den Aktivitäten unseres Zusammenschlus- sche Provokationen. Sie konstatierten, Bundesgeschäftsführer übergeben.) ses bekräftigten oder neu bekunde- dass im Parteibildungsprozess der neu- Dann wurden mit Horst Helas und Jür- ten. Wir freuen uns, dass bewährte An- en Linkspartei eine einmütige Haltung zu gen Plagge-Vandelaar die beiden Spre- tifaschisten uns die Treue halten, in der Rechtsextremismus und Neonazismus cher der BAG einstimmig gewählt. Be- Partei DIE LINKE in den Ländern auf un- zu verzeichnen ist und dass inzwischen stätigt wurden weitere 9 Mitglieder und serem Spezialgebiet Engagierte (in Ost in 8 Bundesländern antifaschistische Sympathisanten, die monatlich mit den und West) ihre Aktivitäten vor Ort er- Landesarbeitsgemeinschaften der Par- Sprechern zu Arbeitsberatungen und höht haben und neue Mitstreiter zu uns tei existieren, weitere in Vorbereitung Koordinierungen zusammenkommen gestoßen sind – darunter erfreulicher- sind. Gleichzeitig wurde betont, dass es werden: Roland Bach, James Herrmann, weise viele junge Menschen. Aufgabe der BAG sein muss, die Proble- Norbert Madloch, Rolf Richter, Dagmar In vier Etappen vollzog sich die Aner- me des Kampfes gegen den Rechtsext- Rubisch, Julia Wiedemann, Gerd Wiegel, kennung unserer Bundes-Arbeitsge- remismus noch stärker in der Gesamt- Reiner Zilkenat sowie Christian Obert- meinschaft. partei zu verankern und dass dazu auch hür (als ständiger Gast und Verbin- neue Anstrengungen in der politischen dungsmann zum Jugendverband solid). Erstens Bildungsarbeit erforderlich seien. Erör- In einem weiteren Beschluss wurde Ka- Nach der Gründung der Partei DIE LIN- tert wurden auch Erfahrungen aus dem rin Plagge als Kandidat der Bundes-AG KE beschloss die BAG Rechtsextremis- Beginn der Landtagswahlkämpfe in Nie- für die Wahlen zum Bundesausschuss mus/Antifaschismus der Linkspartei. dersachsen, Hessen und Hamburg, wo benannt. PDS am 7. Juli 2007 die Fortsetzung ih- es gilt, den Neonazis den Weg in die rer Tätigkeit im Rahmen der neuen Par- Parlamente zu verlegen. Auf scharfe Drittens tei. Der Sprecherrat wurde aufgefordert, Kritik stießen Beispiele des Verhaltens In der Beratung der Sprecher/innen der den Vorstand der Partei DIE LINKE von verschiedener staatlicher Behörden im bundesweiten Zusammenschlüsse am dieser Position zu informieren. Lande, deren Beschwichtigungen, Ba- 19. Januar wurde Karin Plagge als eine gatellisierungen oder Verschweigen von 12 Vertretern dieses Gremiums in Zweitens bekannt gewordener Tatsachen einer den Bundesausschuss der Partei DIE Am 8. Dezember 2007 fand im Berli- Ermunterung von neonazistischen Ge- LINKE gewählt. ner Karl-Liebknecht-Haus eine turnus- walttätern gleichkommen. mäßige Beratung der Bundes-AG statt, Die Beratungen zum zweiten Tagesord- Viertens die von reger Beteiligung gekennzeich- nungspunkt begannen mit einem Dank Am 16. Februar konstituierte sich der net war. an die bisherigen Mitglieder des Spre- Bundesausschuss der Partei DIE LINKE Im ersten Tagesordnungspunkt erfolgte cherrates für ihre Arbeit und an Karin in Berlin. eine Verständigung über aktuelle Erfah- Plagge für ihr jahrelanges Wirken als rungen bei der Auseinandersetzung mit Mitglied der BAG in den Antragskom- Dr. sc. Roland Bach und dem Rechtsextremismus in Deutsch- missionen von Parteitagen der PDS. Dr. Horst Helas

64 Rechtsextreme Straftaten 2007

Seit Jahren erfragt die PDS im Bundestag monatlich die erfassten Straftaten mit rechtsextremem und ausländerfeindlichem Hintergrund. Die Zahlen sind vom Bundesministerium des Inneren, sie gelten als vorläufig und liegen unter den endgültigen. Im Jahr 2000 wurde die Systematik für entsprechende Straftaten bundesweit geändert. Zusammenstellung: Mathias Klätte Quelle: monatliche schriftliche Anfragen über rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten 2007

Straftat Jan. Feb. März April Mai Juni Juli Aug. Sept Okt. Nov. Dez. Ges. Pol. rechts motiviert 909 865 853 895 928 871 888 1.116 959 922 747 982 10.935 (alle Straftaten) Gewalttaten 58 47 60 49 57 68 54 58 65 41 35 50 642 Propag.-delikte 675 631 608 674 715 574 602 589 654 676 540 666 7604 Verletzte Pers. 54 42 62 47 59 60 45 58 46 29 44 53 599 Tatverdächtige 492 456 630 501 560 716 520 631 558 399 355 497 6315 Vorl. Festnahmen 37 46 138 57 71 101 36 79 44 28 20 25 682 Haftbefehle 4 0 0 0 4 1 0 4 3 0 0 0 16 Körperverl. Brandstiftung Landfriedensb. Erpressung Widerstands delikt Raub Vers. Töt. Vollend. Tötung Fremdenfeindl. Mot. 139 123 120 111 108 122 133 163 143 134 118 162 1576 Prop.-delikte fremdenfeindl. 38 25 24 22 35 24 33 35 32 33 29 36 366 Gewalttaten fremdenfeindl. 24 22 33 21 19 29 23 22 27 23 16 27 286 Verletzte fremdenfeindl. 23 18 34 18 13 24 18 23 20 16 15 27 249 Tatverdächtige fremdenfeindl. 102 126 96 106 95 150 113 135 107 82 52 133 1297 Festnahmen fremdenfeindl. 7 12 26 13 11 74 11 24 7 12 1 9 207 Haftbefehl fremdenfeindl. 1 0 0 0 2 1 0 3 1 0 0 0 8 Körperverl. fremdenfeindl. Brandstiftung fremdenfeindl. Erpressung fremdenfeindl. Widerstandsdeli kt-fremdenf. Landfriedensbr. fremdenf. Vers. Töt. fremdenfeindl. Voll. Töt. fremdenfeindl.

65 Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten Januar 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 3 9 3 4 2 0 2 2 8 6 4 4 0 6 3 2 58 Sonst. Straft. 60 109 49 96 7 55 14 13 103 147 14 33 6 102 33 10 851 Anzahl der verl. Pers. 3 9 5 3 0 0 2 4 7 1 5 5 0 7 1 2 54 Tatverdächtige 31 47 32 59 12 25 12 10 51 81 11 20 3 62 26 10 492 vorl. Festnahmen 11 0 3 7 0 0 1 0 0 12 1 0 0 0 2 0 37 Haftbefehle 3 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 4 Gewalttaten 0 2 1 4 0 0 0 0 5 4 3 3 0 0 2 0 24 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 6 15 11 15 1 8 3 0 15 25 6 6 0 4 0 0 115 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 0 2 1 3 0 0 0 0 6 1 4 5 0 0 1 0 23 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 5 13 7 16 3 5 1 0 14 19 7 6 0 2 4 0 102 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 0 0 1 2 0 0 0 0 0 3 1 0 0 0 0 0 7 Haftbefehle fremdenf. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 1

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten Februar 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 4 2 3 2 0 2 1 0 12 5 3 2 0 8 2 1 47 Sonst. Straft. 69 87 65 93 4 52 20 19 108 87 12 37 10 112 20 23 818 Anzahl der verl. Pers. 2 2 4 2 0 4 0 0 9 4 3 3 0 8 1 0 42 Tatverdächtige 41 15 17 55 0 19 2 8 75 67 7 36 5 71 19 19 456 vorl. Festnahmen 6 2 1 14 0 0 0 4 4 8 0 6 0 1 0 0 46 Haftbefehle 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Gewalttaten 2 2 1 1 0 1 0 0 6 4 2 1 0 1 1 0 22 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 9 5 11 15 0 7 2 0 20 20 2 8 1 1 0 0 101 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 0 2 1 1 0 1 0 0 5 3 2 2 0 1 0 0 18 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 13 4 4 11 0 5 1 0 38 31 3 15 0 0 1 0 126 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 1 0 0 1 0 0 0 0 2 4 0 4 0 0 0 0 12 Haftbefehle fremdenf. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten März 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 10 5 12 4 0 3 0 1 7 4 2 4 2 5 1 0 60 Sonst. Straft. 90 108 60 93 2 54 30 17 109 37 14 22 3 120 15 19 793 Anzahl der verl. Pers. 5 8 9 3 0 2 0 1 10 4 1 9 1 8 1 0 62 Tatverdächtige 118 26 142 45 0 13 3 9 123 18 8 24 2 75 11 13 630 vorl. Festnahmen 18 2 108 5 0 0 0 0 0 0 2 2 0 1 0 0 138 Haftbefehle 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Gewalttaten 6 3 7 2 0 2 0 1 5 4 2 1 0 0 0 0 33 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 13 12 10 14 0 3 1 1 22 3 1 1 1 4 1 0 87 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 3 6 7 1 0 1 0 1 8 4 1 2 0 0 0 0 34 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 16 5 27 11 0 3 1 1 19 5 3 2 0 2 1 0 96 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 7 0 14 1 0 0 0 0 0 0 2 2 0 0 0 0 26 Haftbefehle fremdenf. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

66 Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten April 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 5 4 2 4 0 4 0 5 8 6 0 2 0 8 0 1 49 Sonst. Straft. 102 123 57 135 0 57 3 16 103 90 9 20 2 113 8 8 846 Anzahl der verl. Pers. 6 4 2 4 0 0 0 6 6 3 0 3 0 10 0 3 47 Tatverdächtige 85 41 23 70 0 20 2 26 71 57 8 24 0 56 4 14 501 vorl. Festnahmen 14 1 4 11 0 1 0 11 0 4 0 2 0 9 0 0 57 Haftbefehle 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Gewalttaten 2 2 2 4 0 2 0 1 3 4 0 1 0 0 0 0 21 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 5 17 4 17 0 13 1 1 15 1 3 5 0 8 0 0 90 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 3 2 2 4 0 0 0 2 1 3 0 1 0 0 0 0 18 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 23 8 9 19 0 11 1 3 13 3 2 7 0 7 0 0 106 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 4 0 0 2 0 0 0 2 0 3 0 1 0 1 0 0 13 Haftbefehle fremdenf. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten Mai 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 8 4 0 2 0 2 2 4 11 4 2 3 0 6 4 5 57 Sonst. Straft. 74 79 85 105 1 40 28 28 132 91 21 22 5 118 13 29 871 Anzahl der verl. Pers. 8 1 0 3 0 1 2 3 14 6 3 2 0 9 4 3 59 Tatverdächtige 60 37 37 63 2 17 10 24 104 40 15 13 2 79 24 33 560 vorl. Festnahmen 26 1 3 16 0 1 2 0 1 5 0 1 0 14 0 1 71 Haftbefehle 3 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 4 Gewalttaten 3 1 0 0 0 1 1 2 4 1 1 0 0 1 3 1 19 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 3 12 13 5 0 5 2 1 20 8 7 1 1 8 2 1 89 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 0 0 0 0 0 1 1 1 3 1 2 0 0 1 2 1 13 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 11 6 6 2 0 10 4 2 29 1 5 0 0 5 12 2 95 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 7 0 1 0 0 0 2 0 1 0 0 0 0 0 0 0 11 Haftbefehle fremdenf. 2 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 2

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten Juni 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 3 10 1 3 0 4 1 2 12 11 1 5 1 6 5 3 68 Sonst. Straft. 80 88 47 94 0 37 16 42 143 45 23 12 7 93 16 60 803 Anzahl der verl. Pers. 2 12 1 2 0 3 1 0 16 6 1 2 1 5 6 2 60 Tatverdächtige 162 34 8 64 0 20 7 36 101 100 25 7 3 60 9 80 716 vorl. Festnahmen 3 1 1 15 0 0 0 1 1 75 0 0 0 4 0 0 101 Haftbefehle 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 1 Gewalttaten 1 5 0 2 0 4 0 0 3 8 0 2 0 3 1 0 29 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 3 23 8 5 0 3 4 1 15 8 8 5 0 5 2 3 93 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 2 6 0 2 0 3 0 0 3 4 0 0 0 4 0 0 24 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 3 12 1 6 0 7 3 0 13 82 6 6 0 5 4 2 150 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 0 0 0 1 0 0 0 0 0 73 0 0 0 0 0 0 74 Haftbefehle fremdenf. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 1

67 Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten Juli 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 4 5 5 4 3 1 1 1 9 5 2 3 0 6 3 2 54 Sonst. Straft. 98 118 57 91 4 41 22 29 112 35 23 13 1 117 38 36 834 Anzahl der verl. Pers. 3 5 4 8 2 0 0 1 8 3 1 0 0 3 5 2 45 Tatverdächtige 64 49 32 74 3 16 11 19 77 16 24 10 0 72 24 29 520 vorl. Festnahmen 5 19 5 5 0 0 0 1 1 0 0 0 0 0 0 0 36 Haftbefehle 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Gewalttaten 0 3 3 2 0 1 1 1 4 1 1 1 0 4 1 0 23 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 7 19 14 8 1 7 2 5 13 11 8 4 0 5 5 1 110 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 0 4 2 1 0 0 0 0 6 1 0 0 0 2 2 0 18 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 6 11 14 10 0 6 5 10 15 5 16 2 0 6 7 0 113 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 1 4 5 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 11 Haftbefehle fremdenf. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten August 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 7 2 8 8 0 1 1 4 11 0 3 3 2 5 3 0 58 Sonst. Straft. 122 151 96 129 8 64 29 14 95 18 25 32 14 164 22 75 1058 Anzahl der verl. Pers. 9 2 4 7 0 1 1 5 8 0 2 4 1 11 3 0 58 Tatverdächtige 94 46 31 88 8 20 15 12 62 9 50 19 20 86 17 54 631 vorl. Festnahmen 34 0 4 15 1 1 8 0 3 0 11 0 0 2 0 0 79 Haftbefehle 0 0 2 0 0 0 0 0 1 1 0 0 0 0 0 0 4 Gewalttaten 3 0 2 5 0 0 1 0 4 0 2 1 1 2 1 0 22 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 16 20 24 14 1 9 8 3 17 4 3 8 1 6 2 5 141 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 3 0 1 4 0 0 1 0 2 0 2 0 0 9 1 0 23 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 22 6 5 15 1 2 12 2 19 7 4 8 3 13 5 11 135 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 7 0 2 4 0 0 8 0 1 0 0 0 0 2 0 0 24 Haftbefehle fremdenf. 0 0 1 0 0 0 0 0 1 1 0 0 0 0 0 0 3

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten September 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 4 6 9 9 0 1 3 1 5 6 2 4 0 6 2 7 65 Sonst. Straft. 101 116 64 112 7 43 23 21 126 14 29 35 11 132 28 32 894 Anzahl der verl. Pers. 3 4 6 11 0 0 1 3 2 3 1 2 0 5 1 4 46 Tatverdächtige 59 38 33 75 5 12 10 11 100 24 22 25 8 69 23 44 558 vorl. Festnahmen 8 0 3 13 0 3 2 0 1 11 0 1 0 0 2 0 44 Haftbefehle 0 0 1 1 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 3 Gewalttaten 1 3 6 2 0 0 2 1 0 4 2 3 0 3 0 0 27 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 10 24 10 8 1 6 3 4 18 4 7 12 0 7 2 0 116 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 0 3 4 1 0 0 0 3 0 3 1 2 0 3 0 0 20 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 5 21 15 9 1 1 7 2 14 7 6 13 0 3 3 0 107 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 1 0 3 1 0 0 2 0 0 0 0 0 0 0 0 0 7 Haftbefehle fremdenf. 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1

68 Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten Oktober 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 3 3 3 2 0 5 1 0 5 8 0 4 0 3 1 3 41 Sonst. Straft. 53 100 65 122 1 38 24 17 110 163 8 23 6 104 19 28 881 Anzahl der verl. Pers. 1 4 3 2 0 3 1 0 5 4 0 4 0 1 0 1 29 Tatverdächtige 26 27 16 54 1 8 6 4 55 78 0 29 4 54 15 22 399 vorl. Festnahmen 4 4 1 5 0 0 0 0 0 3 0 7 0 0 1 3 28 Haftbefehle 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Gewalttaten 1 1 2 1 0 1 0 0 4 6 0 2 0 2 0 3 23 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 7 17 11 16 0 6 8 0 14 20 5 0 0 2 0 5 111 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 0 1 2 1 0 1 0 0 5 3 0 2 0 0 0 1 16 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 6 8 10 11 0 2 4 0 10 20 0 2 0 4 0 5 82 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 0 4 1 1 0 0 0 0 0 3 0 0 0 0 0 3 12 Haftbefehle fremdenf. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten November 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 4 7 5 1 0 1 3 0 2 4 3 1 0 4 0 0 35 Sonst. Straft. 44 81 53 109 3 28 15 28 86 125 17 24 4 84 0 11 712 Anzahl der verl. Pers. 4 6 8 1 0 1 3 0 1 4 4 1 0 11 0 0 44 Tatverdächtige 49 15 17 54 2 1 7 10 51 41 14 20 2 62 0 10 355 vorl. Festnahmen 15 0 0 3 0 0 0 0 0 0 1 0 0 1 0 0 20 Haftbefehle 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Gewalttaten 3 4 2 1 0 0 3 0 1 1 1 0 0 0 0 0 16 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 3 15 13 9 1 1 4 1 17 23 7 5 1 2 0 0 102 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 3 4 3 1 0 0 3 0 0 0 1 0 0 0 0 0 15 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 5 4 2 5 1 0 6 0 8 14 6 1 0 0 0 0 52 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 Haftbefehle fremdenf. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten Dezember 2007 Bundesland BB BR BW BY HB HE HH MV NI NW RP SH SL SN ST TH Gesamt Gewalttaten 6 2 6 1 0 0 1 1 4 10 2 7 1 5 3 1 50 Sonst. Straft. 81 87 62 85 9 39 20 25 94 160 9 22 2 149 66 22 932 Anzahl der verl. Pers. 4 3 4 3 0 0 1 0 4 13 2 7 1 7 3 1 53 Tatverdächtige 96 19 32 34 6 12 8 20 45 64 9 33 1 63 40 15 497 vorl. Festnahmen 14 2 0 2 0 3 0 0 0 0 0 0 0 0 4 0 25 Haftbefehle 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Gewalttaten 5 2 5 0 0 0 1 0 2 05 2 2 0 2 1 0 27 (fremdenfeindl.) Sonst. Straft. 12 17 22 11 0 9 3 1 13 23 4 7 0 4 8 1 135 (fremdenfeindl.) Anzahl d. Verl. Pers. 3 3 3 0 0 0 1 0 2 6 2 2 0 4 1 0 27 (fremdenfeindl.) Tatverdächtige 31 5 16 6 0 4 4 0 16 13 7 7 0 10 14 0 133 (fremdenfeindl.) Vorl. Festn. 6 2 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 9 Haftbefehle fremdenf. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

69 Schändungen jüdischer Friedhöfe 2002 bis 2006 Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/7216, 16.11.2007

Schriftliche Fragen mit den in der Antwort des Parlamentarischen sich jedoch – ohne Angaben zu Auf- Woche vom 12. November 2007 Staatssekretärs Peter Altmaier klärungsquoten und Tatverdächtigen- eingegangenen Antworten der vom 15. November 2007 zahlen – Informationen über die der Bundesregierung Politisch motivierte Straftaten werden Bundesregierung bekannt gewordenen durch die Länder im Rahmen des „Kri- Fälle von Schändungen jüdischer Fried- 17. Abgeordnete minalpolizeilichen Meldedienstes Poli- höfe in den Jahren 2002 bis 2006 ent- Petra Pau (DIE LINKE.) tisch motivierte Kriminalität“ statistisch nehmen. Demnach wurden im Zeitraum Wie viele antisemitisch motivierte Fried- bewertet und erfasst. Ein gesondertes von 2002 bis 2006 insgeamt 237 jüdi- hofsschändungen gab es in den letzten Kriterium „politisch motivierte Fried- sche Friedhöfe geschändet. Wegen der fünf Jahren bundesweit, und wie vie- hofsschändungen mit antisemitischem Verteilung auf die vergangenen fünf Jah- le dieser Straftaten konnten aufgeklärt Hintergrund“ sieht dieser Meldedienst re wird auf folgende tabellarische Auf- werden (bitte nach Ländern aufschlüs- nicht vor. Vielmehr können solche Vor- stellung verwiesen: seln)? fälle unterschiedliche Strafbestand- teile erfüllen; je nach den Umständen Jahr Anzahl 18. Abgeordnete des Einzelfalles kann es sich beispiels- 2002 60 Petra Pau (DIE LINKE.) weise um Störungen der Totenruhe so- 2003 55 Wie viele Straftäter dieser antisemitisch wie Sachbeschädigungen handeln. Ei- 2004 35 motivierten Friedhofsschändungen ne Sonderauswertung war in der Kürze 2005 48 konnten in diesem Zeitraum bundes- der zur Verfügung stehenden Zeit nicht weit ermittelt werden (bitte nach Län- möglich. Aus hier in anderem Zusam- 2006 39 dern aufschlüsseln)? menhang erstellten Unterlagen lassen Gesamt 237

„Zug der Erinnerung“ fährt durch Deutschland Beate Klarsfelds Ausstellung hat endlich einen Berliner Bahnhof erreicht

23. Januar 2008. Großer Bahnhof im Teil der französischen Ausstellung – auf ein Ausstellungszug durch Deutschland, doppelten Sinne. Mit viel Prominenz Deutschland bezogen – zu präsentieren. der auf zahlreichen Bahnhöfen schon eröffnete die Deutsche Bahn AG unter Sie heißt deshalb nicht „11.000 Kinder. bis Weihnachten 2007 40.000 Besu- dem Motto „Erinnern Darstellen Geden- Mit der Reichsbahn in den Tod“ (franzö- cher gefunden hat. Viele Jugendliche ken“ auf dem Bahnhof Potsdamer Platz sisches Original), sondern „Sonderzüge waren unter den Besuchern. Im Februar eine aus Frankreich stammende Aus- in den Tod“ – Die Deportationen mit der wird dieser Zug in Nordrhein-Westfalen stellung, die dort schon auf vielen Bahn- Deutschen Reichsbahn. Auch ein Buch Station machen, viele Veranstaltungen höfen zu sehen war. Sie dokumentiert ist inzwischen erschienen, das über die gehören zum Begleitprogramm. Im März das Schicksal von jüdischen Kindern, die Rolle des Reichsverkehrsministeriums 2008 soll er Berlin erreichen, Unterstüt- von Frankreich aus in Sonderzügen in bei der Planung und Durchführung der zer und Spender sind willkommen.2 die Vernichtungslager im von Deutsch- Deportation europäischer Juden in die land besetzten Polen gebracht wurden. Vernichtungslager Auskunft gibt.1 Dr. Horst Helas Darunter aus Deutschland geflüchtete Das späte Einlenken der Deutschen Re- Kinder. Nach jahrelangem unwürdigen gierung und ihres Staatsbetriebes Deut- Streit mit Serge und Beate Klarsfeld, sche Bahn AG hat demokratische Kräfte 1 Siehe: Alfred Gottwaldt u. Diana Schulle: „Juden ist die in Frankreich eigens einen Verein je- in Deutschland nicht davon abgehalten, die Benutzung von Speisewagen untersagt“ – Die ner überlebenden Kinder und ihrer An- selbst aktiv zu werden. Die Initiative „Zug antijüdische Politik des Reichsverkehrsministeri- ums zwischen 1933 und 1945, Berlin 2007. gehörigen gegründet hatten, fand sich der Erinnerung“ wurde ins Leben geru- 2 Siehe: www.zugnachberlin.de oder E-Mail-Adres- die Deutsche Bahn AG nun bereit, einen fen. Gezogen von einer Dampflok, rollt se: [email protected]

70 Der Generalplan Ost und die Deutsche Forschungsgemeinschaft: Fragen und Probleme Dokumentation eines Briefes

Matthias Burchard bestand unser Grundprinzip darin, die Nachdem der inzwischen verstorbe- Verein zur Völkerverständigung schweren Gewalttaten der Vergangen- ne C. Madajczyk 1962 tatsächlich bei mit MSOE heit konkret, wahrhaftig und öffentlich der ersten und einzigen mir bekannten Bamberger Str. 9 aufzugreifen. Die exzellente basispar- Kommentierung des universitären Ge- 10777 Berlin-Wilmersdorf, tizipatorische Grundverankerung und neralplan Ost (GPO) einmal „Juni 1942“ den 28. März 2008 Qualität unserer Vorschläge können Sie nannte, griffen deutsche Historiker die- daran ermessen, dass inzwischen 184 se nicht zutreffende Datierung immer An die Ombudsman-Kommission der Institutionen und Einzelpersonen aus wieder auf und produdzierten durch ih- Deutschen Forschungsgemeinschaft, Polen, darunter 49 Universitätsrekto- re Wiederholung Verwirrung und Täu- Sprecherin Prof. Dr. rer. physiol. Dr. h. ren, gut 100 MdB, 44 Europaabgeord- schung, welche von der Berliner (und c. Ulrike Beisiegel, UK Hamburg-Eppen- nete, 37 Museen und Gedenkstätten, Jenaer) Universität und der Täterschaft dorf; Prof. Dr. Siegfried Hunklinger, 12 deutsche Staats- und Senatskanzlei- der deutschen Wissenschaft ablenkt. Kirchhoff-Institut für Physik der Univer- en, 11 Institutionen aus dem russisch- Das korrekte Datum des 28. Mai 1942 sität Heidelberg; Prof. Dr. Wolfgang Lö- sprachigen Raum sowie sieben Berliner ist auf einem Dokumententisch der wer, Institut für Öffentliches Recht der Botschaften, das Begegnungs- und Aus- kleinen GPO-Ausstellung sehr gut und Universität Bonn stellungsprojekt „65 Jahre Generalplan eindeutig zu lesen. Dennoch wird drei- Ost“ schriftlich eindeutig unterstützen mal, auf der Innenseite der GPO-Aus- Beschwerde zu schwerem wissenschaft- und zwei Bundesministerien unseren stellungsbroschüre, Seite 6 und Seite lichen Fehlverhalten gegenüber den Lei- Vorschlag einer internationalen Fach- 23 das ominöse Datum „Juni 1942“ ge- tern der Projektgruppe „Geschichte der konferenz zur Beratung und Festlegung nannt. Am 2. Juni 1942 gab es tatsäch- DFG von 1920 bis 1970“, Prof. Dr. Rüdi- von mehrsprachigen Mahn- und Ge- lich Schriftverkehr, der Chef des Stabs- ger vom Bruch und Prof. Dr. Ulrich Her- denkzeichen positiv evaluiert haben. hauptamtes des Reichskommissariats bert, den Mitarbeitern Dr. Isabel Heine- Als Europäer und deutscher Patriot bin für die Festigung deutschen Volkstums, mann, Prof. Dr. Patrick Wagner, Prof. ich aus zweierlei praktischen Gründen Kurfürstendamm 140, schrieb an den Dr. Volker Gerhardt, Prof. Dr. Jörg Ba- empört über die sterile Eitelkeit und Reichsführer SS in die Prinz-Albrecht- berowski, Präsident Dieter Lenzen und mangelhafte wissenschaftlichen Serio- Str. 8: „Reichsführer! Der Unterzeich- Prof. Hajo Funke sowie gegen den frü- sität der genannten Projektgruppe der nende erlaubt sich, die anliegende von heren DFG-Vizepräsidenten Prof. Dr. DFG: SS-Oberführer Prof. Dr. Meyer in sei- Jürgen Mlynek zum Zwecke des Stopps - Die noch lebenden Opfer in Mittel- nem Institut für Agrarwesen und Agrar- der Mini-Ausstellung zum Generalplan und Osteuropa quälen sich herum mit politik verfasste Denkschrift „General- Ost und der Vernichtung der themati- traumatisch-schweren Erinnerungen plan Ost – Rechtliche, wirtschaftliche schen Broschüre wegen Verfälschung und hatten in den letzten sechs Jahren und räumliche Grundlagen des Ostauf- des Inhalts und indirekter Leugnung der keine Chance bekommen, die bedeut- baus“ nebst Begleitschreiben vom 28. Existenz einer vollständigen Primärquel- same und oft tröstlich wirkende Erklä- Mai 1942 gehorsamst weiter zu rei- le zum Generalplan Ost rung und Entschuldigung meiner Berli- chen.“ (Unterschrift des SS-Gruppen- ner Agrarfakultät zum Generalplan Ost führers). Etwa 10 Tage später führte Sehr geehrte Frau Dr. Beisiegel, zu lesen oder zu hören (vor vier bis fünf der damals beeindruckende GPO der sehr geehrter Herr Dr. Hunklinger, Jahren wurde eine DFG-Außenstelle in Berliner Universität dazu, dem Chef sehr geehrter Herr Dr. Löwer, Moskau eröffnet!). des SS-Planungsamtes RKF, Prof. Kon- als Alumni der Landwirtschaftlich-Gärt- - Deutsche Studierende gewöhnen sich rad Meyer, auch noch Weisungsbefug- nerischen Fakultät, als Mitglied bürger- an Eitelkeit und Vertuschung, trainieren nis gegenüber zwei Reichsministerien schaftlich-universitärer Initiativen und zu wenig Sozialkompetenz und verlieren und dem Reichsnährstand in allen Fra- seit 2003 im Rahmen des Vereins zur an Effizienz bei jeglicher Teamarbeit, gen der ländlichen Siedlung zu geben. Völkerverständigung mit Mittel-, Süd- weil ihnen ein überragendes Übungsob- Gleichwohl bleibt der Ausgangspunkt und Osteuropa e. V. bemühe ich mich jekt zum Eingeständnis von Irtürmern eindeutig die universitäre Fassung des zusammen mit anderen um eine an- und der Thematisierung von Fehlern seit GPO vom 28. Mai 1942, welcher kor- gemessene Aufarbeitung des Berliner acht Jahren vorenthalten wurde. Dies rekt im Nürnberger Volkstumsprozess Generalplan Ost und der Beziehungen dürfte ganz sicher zur Verlängerung der Nr. VIII im Urteil vom 10. März 1948 zu unseren östlichen Nachbarn. Da- Wochenarbeitszeit beigetragen haben, genannt wurde: „Konrad Meyer-Hetling bei ergaben sich vielfältige Kontakte zu was seit fünf Jahren gesellschaftlich un- was chief of the planing office within NS-Opferverbänden, Museen und Ge- übersehbar geworden ist. the Staff Main Office. During his entire denkstätten sowie Wissenschaftsein- period of service in this position he was richtungen insbesondere in Mitteleuro- Im einzelnen beklage ich: a part time worker only, still retaining a pa. Schon Jahre vor der Verabschiedung 1. Verfälschen des Datums des professorship at the Univertity of Berlin. der Bundestags-Drucksache Resolution Generalplan Ost der Berliner (…) The prosecution´s case rests prin- 16/932 zur Bedeutung von Wahrheits- Universität vom 28.05.1942 mittels cipallys upon the “General Plan East”, und Versöhnungskommissionen für ei- Erfindung eines mysteriösen „Juni- a survey and proposed plan for the “re- ne friedliche Zukunft im März 2006 1942“-Datums: construction of the East”, prepared by

71 Meyer-Hetling at Himmler´s request and aus Dahlem leitetete der Beauftragte für läutert z. B. durch Auswählen und Ver- submitted to Himmler on 28 may 1942.“ Rechtsextremismus der Freien Universi- schweigen unerwünschter Ergebnisse. Schlechte wissenschaftliche Praxis bei tät Berlin, Prof. Hajo Funke, am 7.12.04, Auf der Homepage der DFG fällt übri- anderen Institutionen und Gedenkstät- als er in einem kurzen Schreiben die Da- gens auf, dass der Hauptverwaltungssitz ten wie etwa der Stiftung „Topographie tierung 27.4.1942 der Kommentierung indirekt nie in Berlin-Steglitz ansässig des Terrors“ entbindet aus meiner Sicht der verschollenen SD-Fassung des GPO war sondern nach dem Gründungssitz die DFG und die Berliner Universitäten vom RSHA und dabei inhaltlich zentral im Berliner Schloss 1920 dann schnell nicht von der Achtung der Grundsät- den Judenmord nannte. nach 1945 in einer Villa am Rhein in ze guter wissenschaftlicher Praxis und Die Nichtkommentierung dieses Kern- Bonn-Bad Godesberg angegeben wird der Selbstkontrolle in der Wissenschaft: dokuments in etwa sieben Jahren Lauf- (http://www.dfg.de/dfg_im_profil/ Auch im Ausstellungskatalog „Der Krieg zeit ist angesichts des Anspruchs und geschichte/geschaeftsstelle/index. gegen die Sowjetunion 1941 – 1945. Ei- der Aufgabe der DFG-Projektgruppe völ- html). Der pädagogisch chancenreiche ne Dokumentation zum 50. Jahrestag lig unverständlich und unüblich. Lokalbezug mit dem zweiten DFG-Ver- des Überfalls auf die Sowjetunion. Sei- waltungssitz in Berlin-Tiergarten, Mat- te 98, Berlin 1991, ist im Text 63 bei der 2. Falsche und tendentiöse täikirchplatz 6–8, von wo aus einige Quellenangabe zu einem Auszug aus Quellenangaben, nichtvorhandene Finanzanträge zur „erbwissenschaftli- dem universitären GPO das mysteriöse Ortsangaben zu historischen Fotos chen Untersuchung auf dem Gebiet der Datum „Juni 1942“ verwandt worden. - Kleine Austellungsbroschüre Seite 12, Asozialenfrage und der Bastardbiologie Während der wissenschaftliche Mitar- Foto mit DFG-Präsident SS-Brigadefüh- der Zigeuner“ bewilligt wurden und des beiter der Stiftung Topographie des Ter- rer Prof. Dr. Rudolf Mentzel: Es fehlt DFG-Verwaltungsitzes in Berlin-Steglitz, rors, Andreas Sander, die unzutreffen- die Ortsangabe zum Foto. Da die DFG Grunewaldstr. 35, von wo aus mehr als de Datierung im Herbst 2002 zunächst im Oktober 1940 ihren Sitz im Haus der eine halbe Million Reichsmark für „pla- einräumte, hat später der damalige, Deutschen Forschung in der Grunewald- nungswissenschaftliche Arbeiten“ zum langjährige wissenschaftliche Direktor, str. 35 als repräsentativem Neubau be- Themenkomplex GPO flossen, wird da- Reinhard Rürup, leider das Eingeständ- zog, liegt die Vermutung nahe, dass bei leider verschwiegen und nicht her- nis wie auch eine Bereitschaft zur Kor- das Foto von 1941 dort entstanden ist. gestellt. rektur vermissen lassen und radikal ab- Heute wird das Gebäude von der Frei- - Fotos auf Seite 21 und S. 24 sowie ein gelehnt. Auch bei Städtegründungen en Universität Berlin genutzt. Warum drittes Foto zur historischen Ostraum- wird in aller Regel das erste bekann- wurde diese wichtige und für die Ent- schau von 1941, welches in der Foto- te Datum ausgewählt, welches solide wicklung von Sozialkompetenz so chan- reihe auf der Internet-Präsentation zu nachgewiesen werden kann. In diesem cenreiche Ortsangabe nicht aufgenom- finden ist unter http://www.dfg.de/ak- Fall ist dies eindeutig der 28.05.1942. men? Befürchteten die Autoren der tuelles_presse/ausstellungen_veran- Ich halte es für unseriös, hier nach frei- Ausstellungsbroschüre, dass die Nen- staltungen/generalplan-ost/zoom/z_ em Justus herumzuspringen wie es ge- nung der Ortsangabe zum Foto weitere planung_5_3.html rade so gefällt. Rückfragen etwa von Seiten der Studie- Die Textangaben zu den Fotos nennen Von den vier Vollversionen des GPO sind rendenschaft der FU auslösen könn- zwar die Ausstellung „Planung und Auf- die erste Fassung vom 15.7.1941 und die te? In diesem Zusammenhang möchte bau im Osten“ vom Frühjahr 1941, aber des SD des Reichssicherheitshauptamts ich an zwei Aussagen des Präsidenten verschweigen, dass die Ausstellung an (RSHA) verschollen, aber durch histori- der Max-Planck-Gesellschaft in seiner der Hochschule für Bildende Künste in sche Kommentierungen indirekt rela- Grundsatzrede zu historischer Verant- der Hardenbergstr. 33 in Berlin-Charlot- tiv gut bekannt. Während der General- wortung und wissenschaftlicher Schuld tenburg stattfand, sogar als offenes Er- siedlungsplan vom Okt. bzw. Dez. 1942 vom 7.6.2001 im Dahlemer Harnack- gebnis eines Ideenwettwerbs von Archi- nur in Teilen vorliegt, ist die universitäre Haus erinnern: tekten zur effizienten, neugermanischen Fassung des GPO vom Mai 1942 wie ge- - „Es gilt dabei auch Sorge dafür zu tra- Dorf- und Hofgestaltung im neuen deut- sagt von C. Madajczyk etwas gestaucht gen, dass Schuld und Verantwortung schen Osten. Durch diese Unterlassung auf gut 41 Seiten 1962 in Warschau ab- nicht zu inhaltsleeren Begriffen einer wird insbesondere den 5.000 heutigen gedruckt und liegt in der Langfassung Rhetorik der „political correctness“ ver- Studierenden der UdK Berlin und denen jetzt vermutlich auch im Bundesarchiv fallen, indem abstrakt und ohne konkre- der TU Berlin ein natürlicher und wich- in Berlin-Lichterfelde. Am Lesepult-Do- ten Bezug zu Taten und Tätern, dafür tiger Zugang zum Thema der Ausstel- kumententisch der Mini-Ausstellung aber mit umso stärkerem moralischem lung vorenthalten durch verschleiernde wird nach der korrekten Datumsanga- Impetus Bekenntnisse gefordert oder Nichtnennung des Ortes (vom Bahn- be auch auf diese vollständige Langver- abgegeben werden.“ hof Berlin-Charlottenburg aus starteten sion hingewiesen, es heißt dort: „Die - „Konkret und vollständig ist ein Schuld- hunderte von Studierende im Jahr 1940 Umsiedlungspläne. Mit Schreiben vom bekenntnis erst, wenn es sich unmittel- zur Hoferfassung zwecks Beschlagnah- 28.5.1942 übersandte Konrad Meyer bar an die Opfer wendet. (…) Persönlich me in den „eingegliederten Ostgebie- dem Reichsführer SS Heinrich Himmler den Opfern gegenüberzutreten ist eine ten“). die ‚Kurze Denkschrift – Zusammenfas- schmerzliche Form der Begegnung mit - In der Ausstellung findet sich ein groß- sung der Denkschrift Generalplan Ost‘. der Vergangenheit. Gleichzeitig wächst gedrucktes, leicht gekürztes Zitat von Darin, wie auch in der hier nicht wieder- daraus der nachhaltigste Ansporn, mit Konrad Meyer aus dem Jahr 1941, bei gegebenen Langversion – materialisier- aller Kraft weiterzuarbeiten an der rück- dem die Originalquelle, die Münchener ten sich Forschungsergebnisse, die Mey- haltlosen Aufklärung.“ Studentenzeitung „Die Bewegung“ (Fol- er unter anderem mit DFG-Mitteln hatte Im Ehrenkodex der Satzung zur Siche- ge 8 1941 S. 7) und der Titel des Arti- durchführen lassen.“ Einen aktiven Bei- rung guter Wissenschaftlicher Praxis kels, „Siedlungs- und Aufbauarbeit im trag zur Tilgung der Erinnerung an die der FU Berlin vom 17.04.2002 wird der deutschen Osten“, nicht genannt wird GPO-Fassung der Berliner Universität Begriff des Verfälschens von Daten er- (er ist sogar auf der Homepage der Ber-

72 liner Agrarfakultät aufgenommen unter obgleich von den 36 im Uni-GPO ausge- lebenswert klassifiziert wurden, ist da- http://www.agrar.hu-berlin.de/pro- wählten und zur prioritären Germanisie- gegen bis heute weitgehend unbekannt fil/geschichte/profil/geschichte/le- rung bestimmten Städten nur 13 in Po- geblieben. Die ausführliche Vorstel- seprobe). Der vollständige Satz lautet: len lagen. lung des Judenmords ist eine schwe- „Wir müssen uns heute darüber im kla- - Eine weitere Reduzierung des Sied- re Verfälschung und Manipulation des ren sein, daß der Osten erst in dem Au- lungsanspruchs und zugleich Margina- Kerninhalts des GPO, denn in den vier genblick wirklich für alle Zeiten deutsch lisierung der Rolle der Berliner Univer- Hauptfassungen, insbesondere in der bleiben wird, in dem aus dem geschlos- sität wird in der Ausstellungsbroschüre 64-seitigen Uni-Fassung des GPO kom- senen deutschen Siedlungsraum al- auf Seite 21 vollzogen, wo nicht mehr men Juden nicht mehr vor, ihre priori- les fremde Blut, das die einheitliche die GPO-Fassung der Berliner Universi- täre Deportation und Ermordung wurde Geschlossenheit des grenzdeutschen tät sondern nur noch die des RFK und vorausgesetzt (in den „Planungsgrund- Volkstums irgendwie gefährden könn- des Sicherheitsdienstes des RSHA ge- lagen“ vom Frühjahr 1940 dazu: „Es te, restlos entfernt ist.“ Durch die Nicht- nannt werden: „Zwischen 1940 und wird im folgenden vorausgesetzt, daß nennung der Quelle wird die Rolle der 1943 ließ Heinrich Himmler insgesamt die gesamte jüdische Bevölkerung die- deutschen Studierendenschaft margi- fünf Varianten zur gewaltsamen Umge- ses Gebietes von rund 560.000 bereits nalisiert und mit vergessen gemacht, staltung Osteuropas entwerfen, zusam- evakuiert ist bzw. und im Laufe dieses dass auch Münchener Studierende eif- men bildeten sie den Planungskomplex Winters das Gebiet verläßt.“). Auch das rig Anfang der vierziger Jahre im Rah- „Generalplan Ost“. Vier davon stamm- Foto und Text der Seite 33 mit dem Titel men des „Facheinsatzes Ost“ bei der ten aus dem Apparat des ‚Reichskom- „Umsiedlung der Juden aus Ungarn“ hat Germanisierung im Osten assistierten. missars für die Festigung deutschen nichts mit dem Generalplan Ost zu tun - Kleine Ausstellung, Planungsskizze Volkstums‘ (RKF), eine aus dem Reichs- und gehört nicht in diese Broschüre. des Architekten Walter Wiekop zur neu- sicherheitshauptamt (RSHA).“ Nach die- germanischen Dorfgestaltung in den ser Aussage hat die Berliner Universität 3.2 Praxisrelevanz, Grundcharakter „eingegliederten Ostgebieten“ 1940: keine eigene GPO-Fassung herausgege- der NS-Okkupationspolitik die Quellenangabe ist unvollständig, ben, und es existieren auch nicht vier Auf Seite 28 steht der schwerwiegende es fehlt der Hinweis auf die fachwis- Hauptfassungen sondern fünf. Die Auf- Kernsatz: „Der ‚Generalplan Ost‘ wurde senschaftliche Zeitschrift für das länd- wertung der „Planungsgrundlagen“ vom nie Realität“. Dies ist eine ungeheue- liche Siedlungswesen NEUES BAUERN- Frühjahr 1940 zu einer vollen GPO-Ver- re Falschaussage, denn nach Art. 220a TUM aus Berlin-Dahlem, welche im Heft sion, die noch Rücksicht nehmen muss- StGB und dem Leipziger Kommentar 8 des 32. Jahrgangs den vollständigen te auf den Ribbentrop-Molotov-Nicht- der Tatbestand des „Völkermord“ be- Artikel mit einigen Abbildungen von W. angriffspakt mit Russland, leistet eine reits hinreichend erfüllt bei der Absicht Wiekop publizierte. sehr elegante Verringerung des imperi- der Zerstörung einer sozialen Gruppe - Internet-Präsentation, Foto von der alen Ansatzes, der für die meisten Aus- als Einheit (auch die versuchten Koffer- Ehrung des Begründer des „Archivs zur stellungsbesucher ohne Kenntnis des bomben-Attentäter von Köln vor einem Inneren Kolonisation“ im Jahr 1908 als universitären GPO einfach nicht erkenn- Jahr, deren Bomben nicht explodier- Vorgänger-Organ des „Neuen Bauern- bar ist. ten, wurden angeklagt und rechtskräf- tum“, Prof. Dr. phil. Dr. rer. pol. h.c. tig verurteilt!). Im Mai 2002 hatte die Heinrich Sohnrey, durch einen Staats- 3. Weitere wissenschaftserhebliche Berliner Agrarfakultät in einer wichti- sekretär des Reichsministeriums für Er- Falschaussagen und Unterlassungen gen Erklärung die Existenz des univer- nährung und Landwirtschaft und Konrad 3.1 Vorstellung der „Entjudung“ als sitären Generalplan Ost eingestanden Meyer (http://www.dfg.de/aktuelles_ angeblicher aber leider unzutreffen- und ihn als „schweres Verbrechen ge- presse/ausstellungen_veranstaltun- der Inhalt des Generalplan Ost gen die Menschlichkeit“ verurteilt. Die gen/generalplan-ost/zoom/z_wissen- Mehrere Großfotos sowohl in der Aus- schwere Verbitterung in Mittel- und Ost- schaft_8_4.html) Es fehlt der Hinweis stellung als auch in der Broschüre (z. B. europa ergibt sich dadurch, dass z. B. auf die exakte Quelle und indirekt auf Seite 28) zeigen das Ghetto in Lód´z und 90 Prozent der polnischen Opfer nicht Existenz und Bedeutung der Dahlemer sprechen von der Verfolgung und Er- durch reguläre Kriegshandlungen son- Zeitschrift „Neues Bauerntum“. mordung von drei Millionen Menschen dern infolge stark willkürlich erschei- - Subtile Reduzierung des GPO-Ge- jüdischer Herkunft, auf Seite 32 findet nenden Besatzungs- und Terrormaßnah- samtanspruchs in Bildbeschriftung: Auf sich u. a. die Überschrift „Die Schoah – men der Okkupanten ermordet wurden. Seite 5 findet sich zu einem nebenste- Umsiedlung in den Tod.“ Die Tatsache Wenn Soldaten in den Krieg ziehen, henden Großfoto die Formulierung ei- des Judenmords ist durch den bekann- dann ist Invalidität oder Tod einzupla- ner angeblich „vorrangigen Germanisie- ten und in fast jedem Geschichtsbuch nen. Als jedoch deutsche Polizeieinhei- rung“ der Region um Posen und Lód´z. aufgenommenen Kniefall des dama- ten mit Skierbieszów das erste von 300 Zum einen ist ein falsches Foto ausge- ligen Bundeskanzlers Willy Brandt im Ortschaften am frühen Morgen des 28. wählt worden, besser wäre eines aus Dez. 1970 vor dem Warschauer Ghet- Nov. 1942 nördlich von Zamo´s´c umstel- der Ukraine, die Konrad Meyer zweimal tomahnmal klar in das deutsche Kollek- len und gesunde Bewohner zur Zwangs- besuchte, oder aus der anlaufenden Ent- tivgedächnis aufgenommen, der Neu- arbeit in ein fremdes Land deportieren, völkerung und Germanisierung im Raum igkeitswert dieser Aussagen hält sich Widerständige ermorden und insge- Leningrad. Mit diesem Begleittext wird somit in Grenzen. Dass zeitgleich auch samt mindestens 250 Bewohner in KZs zusätzlich der deutsche Herrschaftsan- mehr als zwei Millionen nichtjüdische verschleppen und ermordeten, lagen spruch und die Germanisierungsplanun- Polen von den deutschen Okkupanten zweifellos eine „besondere Schwere“, gen auch für Osteuropa vergessen ge- ermordet und grundsätzlich fünf bis we- „Heimtücke“ oder „niedere Beweg- macht und überwiegend nur auf Polen niger als ein Prozent der nichtjüdischen gründe“ vor. Genau diese wichtige und reduziert, der Planungsraum also ver- polnischen Zivilbevölkerung als nicht so lange erwartete rechtshistorische kleinert und nach Westen verschoben, „eindeutschungsfähig“ und damit nicht Grundanalyse des Generalplan Ost ist

73 hier aber verweigert worden. Auch der und der ohne universitäre Fachkompe- schungsgemeinschaft 1920 bis 1970 Jurist Gerhard Werle von der Humboldt- tenz durchgesetzten ersten deutschen von Ulrich Herbert und Rüdiger vom Universität verwies 1995 bei seiner An- Informationsstele zum GPO auf dem Bruch der Band „Wissenschaft – Pla- trittsvorlesung zur Südafrikanischen Kurfürstendamm 140–143 im Frühjahr nung – Vertreibung. Neuordnungskon- Wahrheits- und Versöhnungskommissi- 2005 erwies sich einmal mehr, dass die zepte und Umsiedlungspolitik im 20. on darauf, dass eine innere Einheit und genannten DFG-Wissenschaftler in ir- Jahrhundert“ im Franz-Steiner-Verlag. Versöhnung nur dann erreicht werden gendwelchen Elfenbeintürmen deutsch- Anstatt solide aufzuklären über den kann, wenn die Gewalttaten der Ver- nationaler Grundprägung gesellschafts- GPO und die russische Opferperspek- gangenheit KONKRET benannt werden. politisch separiert leben und auch die tive wahrheitsgemäss anzuschneiden, Ähnliches gilt für den Grundcharakter zweistellige Milliarden-Dollar-Entschä- findet sich darin ein Artikel vom Direktor der Okkupation, auch dieser muss end- digungsforderung für NS-Okkupations- des Historischen Instituts der HU, Prof. lich wahrheitsgemäss beschrieben und schäden u. a. von Seiten der Stadt War- Jörg Baberowski, zum Thema: „Ordnung vorgestellt werden. Als wir den langjäh- schau Ende 2004 als Materialisierung durch Terror. Stalinismus im sowjeti- rigen Leiter der DFG-Ethik-Kommission, alter traumatisch-tiefer Existenzängste schen Vielvölkerreich“ (S. 119–144). Zur Prof. Volker Gerhardt, im Sommer 2004 einfach weltfremd ignorieren. Bewertung dieses Vergleiches sei ein Zi- um ein anteilnehmendes Grußwort zum tat aus dem Memorandum „Frieden mit 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Maj- 3.4 Böse Relativierung von NS-Verbre- der SU – eine unerledigte Aufgabe“, danek in Lublin baten, hüllte sich dieser chen durch stalinistische Verbrechen Heidelberg 1989, eingefügt: „Indem his- in kaltes Schweigen. Die Verweigerung der Berücksichti- torisch irreführenden Versuch, die deut- gung einer angemessenen russischen, schen Verbrechen ursächlich auf dieje- 3.3. Verweigerung der Stellungnahme baltischen, ukrainischen und belorus- nigen des Stalinismus zurückzuführen, zu öffentlichen Mahn- und Gedenk- sischen Opferperspektive ist eklatant. zeigt sich das Bedürfnis nach Rechtfer- zeichen Der GPO sollte die deutsche Vorherr- tigung eines schuldhaften Verhaltens, Im Mai 1999 wies ich mittels einer schaft in Europa dauerhaft durchsetzen das nicht zu rechtfertigen ist. Aber auch mehrtägigen Mahnwache vor der DFG- und projektierte konkret auch die Ger- in der Parallelisierung und Relativierung Zentrale in Bonn-Bad Godesberg auf manisierung von 23 Städten in den bal- solcher Taten liegt ein Mißbrauch des den anstehende 60. Jahrestag des GPO tischen Staaten und der Ukraine sowie historischen Vergleichs; denn die eige- in etwa 1.000 Tagen hin (Mai 2002). Am die Einrichtung von drei Siedlungsmar- ne Schuld wird nicht kleiner, wenn man 20.9.1999 und 13.2.2002 wurde dies ken (Leningrader Gebiet, Krim-Cherson die eines anderen danebenstellt. (…) Es konkretisiert durch die explizite Bit- und Memel-Narew-Gebiet). Der perma- ist bedrückend, daß von deutscher Sei- te um Stellungnahme zum Vorschlag nente Einsatz von mindestens drei Mil- te ein klares Eingeständnis der Schuld zweier öffentlicher Erinnerungsobjek- lionen deutscher und österreichischer ausgeblieben ist. Ohne Bekenntnis der te in Berlin-Mitte und wurde u. a. an Soldaten an der Ostfront zum (Vernich- Schuld und ohne Hoffnung auf Versöh- die DFG (K. Genius, Präsident Winna- tungs-) Kampf für neuen Lebensraum, nung kann Verantwortung für den Frie- cker) und das Historische Institut der welche mehrere 10.000 Ortschaften, den nicht glaubhaft übernommen wer- HU sowie etwas später auch direkt an mehr als 1.000 Städte und 400 Museen den.“ Ulrich Herbert und Patrick Wagner ge- samt Depots in der faschistisch okku- richtet. Obgleich Rüdiger vom Bruch pierten SU zerstörten, wird in der Mini- 3.5 Halbierung der Opferzahlen schon in 2001 direkt zum Forschungs- Ausstellung nicht weiter durch histori- in Südost-Polen stand zum SS-Zentralbodenamt RKF in sche Fotos oder Dokumente illustriert. Auf Seite 32 der Broschüre wird die Zahl der Friedrichstr. 110/112 befragt wurde Zwar wird die Ausdehnung des erwei- der Opfer im Raum Zamo´s´c mehr als hal- – der historische Ort liegt nur ein Kilo- terten Planungshorizontes bis zum Ural biert: „Aus dem Kreis Zamo´s´c wurden meter vom Hauptgebäude der HU ent- und darüber hinaus und auch der Frie- mindestens 50.000 Polen vertrieben.“ fernt – und die Arbeitsgruppe des Aka- densschluß von Brest-Litovsk als men- Während Frau Heinemann in ihrer Publi- demischen Senats der HU seit 2002 tale Vorgeschichte aufgenommen, wenn kation zum Rasse- und Siedlungshaupt- den ausdrücklichen Auftrag hatte, an- auch nur auf der politisch-militärischen amt m Jahr 2003 noch in einer Fußnote gemessene Formen des öffentlichen Ebene. Beim DFG-Symposium zum GPO erläuterte, dass etwa 50.000 Menschen Gedenkens zu entwickeln, schwiegen 2002 und beim Gedenksymposium an erfasst wurden aber wohl mindestens die beiden Coleiter der Projektgruppe. der HU im Januar 2005 waren aber lei- die gleiche Anzahl vorher flüchtete, ist Das DFG-Symposium zum GPO im Ju- der keine Historiker aus Ostmitteleuro- dieser wesentliche Hinweis im Band 1 ni 2002 fand leider als Fachtagung un- pa vertreten. Sowohl die DFG als auch Beiträge zur Geschichte der DFG: Wis- ter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, die Humboldt-Universität richteten in senschaft – Planung – Vertreibung von siehe auch Berichterstattung im Bulle- den letzten fünf Jahren eigene Reprä- 2006 (S. 52) nicht mehr als erwähnens- tin für Faschismus- und Weltkriegsfor- sentanzen in Moskau ein. Obgleich nun wert erachtet und weggelassen. Die schung. Bemerkenswert war auch das mit der GPO-Erklärung der Agrarfakul- Widersprüche und auch DFG-produ- Abschlußsymposium der AS-Arbeits- tät vom Mai 2002 ein für noch lebende zierte Asymetrie in der deutsch-polni- gruppe an der HU Ende Januar 2005, in Nazi-Opfer sehr bewegendes Dokoment schen Geschichtswissenschaft und ih- der die Kernfrage zum stadtöffentlichen des Ausdrucks des Bedauerns vorliegt, ren öffentlichen Informationsangeboten Gedenken hartnäckig im Anfangs- und verweigerten DFG und HU radikal je- kann aktuell kaum größer sein, denn in Abschlußplenum ignoriert wurde. Mit des offizielle Zeichen des Eingeständ- der Ausstellung „Erinnerung bewahren. der bezirkspolitischen Genehmigung nisses und der Anteilnahme gegenüber Sklaven- und Zwangsarbeiter des Drit- der Kennzeichnung des SS-Zentralbo- der Russischen Föderation sondern re- ten Reiches aus Polen 1939–1945“, denamtes RKF am 7.12.2003 durch lativierten den NS-Völkermord GPO: Im herausgegeben von der Stiftung „Pol- den Kulturausschuss der Bezirksver- Jahr 2006 endlich erschien als Beitrag nisch-Deutsche Aussöhnung“ und in ordnetenversammlung Mitte von Berlin 1 zur Geschichte der Deutschen For- Polen von mehr als 80.000 Menschen

74 besucht, gibt der Historiker Prof. Woj- Bürgermeister schrieb uns später: „Im Dieses Fazit sei mit zwei praktischen ciech Roszkowski die Zahl von 150.000 Namen der Einwohner unserer Gemein- Bemerkungen ergänzt und abgeschlos- deportierten Personen an (S. 21). So- de Lukowa möchte ich mich hiermit für sen: wohl Ulrich Herbert als auch Rüdiger das Wort ‚Entschuldigung‘ bedanken. - Es ist der Projektgruppe bisher gelun- vom Bruch wurden explizit im Juni 2003 Insbesondere für die Menschen, die gen, mittels fortgesetzter Datumsfäl- zur Reduzierung der NS-Opferzahlen be- den Alptraum der Aussiedlung und de- schung Verwirrung zu stiften und das fragt, aber lehnten beide eine Stellung- ren Folgen erlebt haben, war dies ein vermutlich schwerwiegendste Doku- nahme hierzu ab. sehr bewegendes Erlebnis.“ Die mehr- ment der NS-Wissenschaft, die Lang- jährige Verweigerung einer angemesse- version des 64-seitigen universitären 3.6 wichtige Konkretionen nen Begegnung mit NS-Opfern in Polen Generalplan Ost vom Mai 1942 weiter- nicht geleistet durch die DFG und die Berliner Universi- hin von der Öffentlichkeit fernzuhalten Bei einem Etat von zwei Millionen Eu- täten trug wesentlich dazu bei, dass im und als geschlossenes Dokument nicht ro der thematischen DFG-Projektgrup- Herbst 2004 die Stadt Warschau einen einzuführen oder zu kommentieren. pe beklage ich, dass wichtige Instituti- zweistelligen US-Dollar Milliardenbetrag Der Vorschlag zur Offenlegung der De- onen und Biographien nicht vorgestellt als Entschädigung für NS-Okkupations- tails, im Juli 2004 vom S. E., dem Bot- oder angeregt wurden. Es fehlt ein Hin- schäden fordern konnte und bei der Er- schafter der Slowakischen Republik, weis auf das Arbeitswissenschaftliche öffnung des jährlichen Gedenkzyklus vorgetragen, wurde völlig in den Wind Institut der Deutschen Arbeitsfront, ein Ende Nov. 2004 der Vorsitzende des geschlagen: „Schon beim flüchtigen Großinstitut mit etwa 300 wissenschaft- Vereins der „Kinder von Zamo´s´c“ in sei- Überblättern werden einem die unge- lichen Mitarbeitern, welches in mehre- nem Redebeitrag auf dem Bahnhof von heuerlichen Ausmaße dieser Pläne be- ren Expertisen langfristig, in 100 Jahren, Lublin noch von deutschen Folterknech- wußt. (…). Die Öffentlichkeit hat das die Vorschiebung der deutschen Sied- ten sprach. Im Zusammenhang mit Recht darauf, die Details dieser unge- lungsgrenze bis zum Ural vorschlug. In den heiligen drei Königen führte er da- heueren Pläne zu erfahren, die Pflicht der Broschüre wird nur sehr kurz Prof. bei aus: „Was aber brachten die Folter- der Beteiligten ist es deshalb, diese In- Dr. Felix Boesler aber nicht sein Insti- knechte Hitlerdeutschlands am 6. Janu- formationen der Öffentlichkeit zugäng- tut für Ostfinanzforschung der Universi- ar 1943: den Transport der Kinder von lich zu machen.” Damit ist praktisch ei- tät Jena genannt, obgleich er mit mehr Zamo´s´c vom Übergangslager in Zamo´s´c ne wichtige Primärquelle, welche 1962 als 40.000 Reichsmark etwa das Drei- in unheizbaren Viehwagen, in die sta- durch Veröffentlichung in POLSH WES- fache der Fördersumme erhielt, die Dr. cheldrahtvergitterte Fenster hineinge- TERN AFFAIRS auch international be- Josef Mengele von der DFG für seine brochen worden waren, auf die nächste kannt wurde, als inzwischen sozusa- Zwillingsforschung im KZ Auschwitz be- Station zur Eindeutschung – ausgehun- gen nicht mehr existent erklärt worden. willigt wurde. Zu Boesler, dem Stellver- gert, in zerrissene Lumpen gekleidet, In der Empfehlung sieben “Selbstkon- treter von Konrad Meyer, scheint immer mit Sommerschuhwerk, in keiner Weise trolle in der Wissenschaft” heisst es noch keine Biographie zu existieren. auf die Bedingungen des strengen Win- im letzten Satz: “Deshalb ist die Fest- Gleiches verwundert für den langjähri- ters eingestellt – unter der Eskorte der stellung wichtig, daß das Abhanden- gen DFG-Präsidenten, SS-Brigadeführer deutschen Wachmannschaften in ihren kommen von Originaldaten (…) gegen Prof. Rudolf Mentzel. warmen Uniformen. Die Kinder wurden Grundregeln wissenschaftlicher Sorg- transportiert wie Schwerverbrecher falt verstößt und prima facie einen Ver- 3.7 Verweigerung von Grußworten und gefährliche Banditen. In Warschau dacht unredlichen oder grob fahrlässi- und elementarer Sozialkompetenz angekommen, begaben sich die deut- gen Verhaltens rechtfertigt.” 40 bis 45 als wichtige soft skill schen Wachmannschaften zum war- Jahre nach der ersten Nachkriegsveröf- Im Juni 2003 baten wir den gerade neu- men Essen und zur allgemeinen Aufwär- fentlichung hatte ich angesichts des oft gewählten Präsidenten der Freien Uni- mung, die eingesperrten Kinder ließen verwandten Titelbegriffs “Generalplan versität, Prof. Dieter Lenzen, und einige sie auf dem Bahnhof mit den Eisenbah- Ost” anderes erwartet. Der Oberbür- Fachleute der FUB um ein anteilneh- nern zurück.“ Konsequenter und stärker germeister der Stadt Przemysl, deren mendes Grußwort sowie Kleinbusse für hätte die Verweigerung von Sozialkom- germanischer „Menschenbedarf“ 1942 die Teilnahme an einer Gedenkveran- petenz und grundlegende (Nicht-) Wer- mit 24.200 Neusiedlern bei Kosten von staltung im der Wojewodschaft Lublin. tevermittlung bei den Mitgliedsuniver- 151.300,- Reichsmark kallkuliert wor- Beides wurde leider abgelehnt und im sitäten der DFG nicht ausfallen können den war, schrieb im Okt. 2007: „Die Gegenteil unsere Projektarbeit sogar als wie dies in den letzten acht Jahren Geschichte der deutsch-polnischen erschwert durch Sperrung des Account praktiziert wurde. Beziehungen ist für viele schwer zu ak- Anfang 2004 beim Rechenzentrum ZE- Ein Hochschullehrer, dessen Druckkos- zeptieren, aber die Versuche der Aus- DAT der FU Berlin. Die Teilnahme bei tenzuschuss für die Ergebnisse eines löschung unliebsamer Ereignisse sind der Gedenkfeier zum Überfall des Ortes DFG-Projekts zur NS-Landschaftspla- nicht der richtige Weg zur Versöhnung Lukowa im Kreis Bilgoraj war bewegend. nung in den „eingegliederten Ostgebie- der Völker.“ (vollständiger Text hier: Obgleich ich nur zusammen mit Prof. Ro- ten“ vor 22 Jahren ohne Begründung ab- http://gplanost.x-berg.de/empfehlun- land Köhler, dem jetzigen Ehrenvorsit- gelehnt wurde, fasste seinen Eindruck gen8.html#munprzemyslpres). zenden des Vereins zur Völkerverständi- von der kleine Ausstellungsbroschüre - Gute Lobbyarbeit für die Liberalisie- gung teilnahm, und wir nur kurze Worte wie folgt zusammen: „Ich finde den ‚Ka- rung der umstrittenen embryonalen der Anteilnahme und Grüße der Agrarfa- talog‘ billig und peinlich, das tatsächli- Stammzellenforschung. Nach Einschät- kultät Göttingen ausdrückten, stürzten che Monstrosum des Generalplans Ost zung mehrerer renomierter Histori- hinterher der Wojewode, der Direktor in keiner Weise in seinen katastropha- ker ist die persönliche Entschuldigung der Gedenkstätte Madjanek und der Bi- len Auswirkungen vermittelnd, doch das des damaligen Präsidenten der Max- schof auf uns, um Dank für unsere Wor- ist wohl was in diesem Zusammenhang Planck-Gesellschaft, Prof. Markl, bei te und unser Kommen zu sagen. Der gefragt ist.“ acht Überlebenden von verbrecheri-

75 schen Menschenversuchen im Juni Eindeutschungsfähigkeit für Polen von nannten schwerwiegenden Mängel zu 2001 in Berlin-Dahlem zur moralischen fünf Prozent (die GPO-Fassung des SD stoppen und die restlichen Broschüren Selbstreinigung instrumentalisiert wor- des RSHA legte sogar 15 Prozent fest). einstampfen zu lassen. In einem geson- den, um wenige Wochen später, frei von 80.000 Menschen von etwa 25 Millio- derten Schreiben werde ich mich an den NS-Altlasten, für die embryonale nen Polen bedeutet weniger als ein hal- den Präsidenten der DFG wenden und Stammzellenforschung votieren zu kön- bes Prozent der Gesamtbevölkerung. ihn einladen, an der so lange geplanten nen. In der kleinen DFG-Ausstellung ist Die Nichtnennung dieses Prozentsatzes Akademiker-Exkursion nach Polen – ver- sogar der Begriff der „Eindeutschungs- verstösst gegen die Empfehlung 1, alle mutlich im Juli- aus Anlaß des 65. Jah- fähigkeit“ aufgenommen worden. Da- Resultate zu dokumentieren. Nach mei- restages der „Aktion Zamo´s´c“ persön- bei wird jedoch verschwiegen, dass die ner Kenntnis unserer Verfassung ent- lich teilzunehmen, um sich endlich vor Uni-Fassung des GPO nur „80.000 Go- bindet die Freiheit von Forschung und Ort auch der Begegnung mit den Opfern ralen“ für eindeutschungsfähig und so- Lehre nicht von der Treue zur Verfas- und ihren Angehörigen zu stellen. mit lebenswert klassifizierte und somit sung (GG Art. 5, Abs. 3, Satz 2). viel radikaler war als der Generalsied- Ich möchte Sie daher dringlich bitten, mit freundlichen Grüßen lungsplan vom Herbst 1942 mit einer die Mini-Ausstellung wegen der ge- M. B.

Wolfgang Leonhards Schwanengesang?

Die Wochenzeitung „Das Parlament“ res getan hat (seine Bibliographie be- maßes, die nicht wenig Ressourcen ver- stellte in ihrer Ausgabe vom 18. Juni legt das), als die UdSSR und die DDR schlungen haben dürfte. 2007 dem mittlerweile 87jährigen Wolf- zu verunglimpfen? Als Untertitel für das Leonhards „akademische“ Pausen als gang Leonhard großzügig eine komplet- Interview wählte die Redaktion: „Einst Professor (und „Politikberater“) in Ya- te Seite zur Verfügung. Anlass war die gehörte er zu den Führungskadern des le und Oxford und die Medien, die sich Veröffentlichung seines Buches „Mei- Sozialismus – doch seine Ideale konnte Leonhards gern als „Kommunismus-Ex- ne Geschichte der DDR“.1 Das ausführ- er in der stalinistischen DDR nicht ver- perten“ und „Kreml-Astrologen“ bedien- liche, von Christiane Baumann geführte wirklichen.“ Hier wird darauf angespielt, ten, sprechen für sich. Interview, ging allerdings weit über die- dass Leonhard das jüngste Mitglied der sen Anlass hinaus. Es handelte sich bei „Gruppe Ulbricht“ gewesen ist, die im Zweitens diesem im „Parlament“ dokumentierten Mai 1945 in Berlin den Neuaufbau orga- Nach 1990 hat Wolfgang Leonhard wie Gespräch vielmehr um eine Art Bilanz nisierte. Diese Monate hat Leonhard als schon erwähnt, alte Schulfreunde be- der politischen Ansichten und Absich- „Insider“ bis in die jüngste Vergangen- sucht. Er behauptet, er habe das in Ab- ten Leonhards. heit phantasievoll und lukrativ vermark- stimmung mit Willy Brandt getan: „In Was den Buchtitel betrifft, so ist er ir- tet, aber „Führungskader“? Das waren Ostberlin, in einem früheren Parteige- reführend. Erstens hat der Autor nicht seine früheren Schulkameraden, die er bäude, konkrete, detaillierte Fragen zu in der DDR gelebt und gewirkt. Er ist später bekämpfte. stellen, das war mein Gesprächsstil.“ Im nach seinen eigenen Angaben auf ge- Was will Wolfgang Leonhard den Lese- Unterschied zu Leonhard weiß ich, wie fahrvollen und abenteuerlichen Wegen rinnen und Lesern mit Hilfe des Inter- die damals Befragten über das Ergebnis 1949 nach Jugoslawien geflüchtet. Sei- views im „Parlament“ aufschwatzen? seiner „Recherchen“ denken. Immerhin ne phantasievolle Beschreibung ist in räumt Leonhard ein, dass die „Gesprä- seinem Buch „Die Revolution entlässt Erstens che“ mit dem Zeitpunkt der Einheit en- ihre Kinder“, Auflage von 1990, S. 660f. Er habe mit seinem Buch „Die Revolution deten, und erst danach hätten sie inter- nachzulesen; mit U- oder S-Bahn hätte entlässt ihre Kinder“ gezielt und erfolg- essant und dramatisch werden können. er es übrigens für 20 Pfennige gefahrlos reich in der DDR Diversion betrieben. nach Westberlin geschafft. Das Buch sei in zehn getarnten Ausga- Drittens Erst 1990 besuchte er frühere Schul- ben – eine davon als Stalin-Biographie Ihm missfällt, wie die offizielle Politik freunde der Moskauer Karl-Liebknecht- – illegal in die DDR geschmuggelt wor- mit den Informellen Mitarbeitern des Mi- Schule, u. a. Markus Wolf, Peter Florin, den. In etwa 3.000 Briefen sei er über nisteriums für Staatssicherheit umgeht. Stefan Doernberg und Friedo Seyde- die Wirkung rückinformiert worden. Man müsse – so Leonhard – an deren witz, um aus diesen Gesprächen Stoff Man muss nicht Historiker und kein Führungsoffiziere und an die in der Poli- für ein weiteres Buch zu sammeln. Zwei- Zeitgenosse der Ost-West-Auseinander- tik Verantwortlichen heran. (Im Fall Ingo tens: Selbst diejenigen, die an der Spit- setzungen im Kalten Krieg sein, um zu Steuer hat er das schon im Fernsehen ze des Aufbaus in der DDR standen, fragen: Wem hat das genutzt, wem ge- begründet.) Leonhard kann sich die Ge- würden die DDR-Geschichte nicht als schadet? In wessen Auftrag ist dies ge- danken der ehemaligen DDR-Oberen wie „meine“ Geschichte reklamieren. So schehen? Wer hat diesen aufwendigen folgt vorstellen: „Die dummen Wessis, selbstgefällig und eitel waren und sind Schmuggel mit getarnten Büchern orga- auf die IM zielen sie ab, aber uns lassen die von Leonhard interviewten Schul- nisiert? Wer finanzierte den Druck der sie in Frieden!“ Es bleibt die Frage zu stel- freunde nicht. zehn „getarnten“ Ausgaben? Wie kam len, weshalb führende Politiker der DDR „Das Parlament“ wählte als Titel des In- es zur „Rückinformation“ durch 3.000 in diesem Falle dem Rat Wolfgang Leon- terviews: „Dennoch habe ich Hoffnung“. Briefschreiber? Immerhin handelte es hards nicht folgen und er selbst sich hier Das macht neugierig: Worauf hofft ein sich hier alles in allem offenbar um ei- an der Seite von Hubertus Knabe („Die Mann, der seit 1955 kaum etwas ande- ne logistische Operation größeren Aus- Täter sind unter uns!“) befindet.

76 Viertens Und damit ist das Interview bei der Fra- ge nach Leonhards Meinung zur „Ver- söhnung“ gelandet. Diesen Gedanken liebt der Befragte überhaupt nicht, denn die „hohen SED-Funktionäre waren ein- deutig Repräsentanten eines diktatori- schen Systems“. Zwar habe er in Oxford erfahren, dass man dort „anderen Per- sonen gegenüber toleranter und groß- zügiger ist“, die „Toleranz ist sogar Teil meiner selbst geworden“, aber gegenü- ber den „Führungskadern des Sozialis- mus“, zu denen er ja selbst gehört hat, kommt Versöhnung nicht in Frage.

Fünftens Leonhard, der in der Eifel wohnt, war von der „Revolution“ in der DDR begeis- tert. Er bedauert, „dass die glänzende Gelegenheit vom Herbst 1989 wieder vorbei ist“. Allerdings sagt er nicht, wo- für die Gelegenheit glänzend gewesen sein soll und wer sie weshalb vertan habe. Trotzdem sei er von Hoffnung er- füllt. Leonhard betrachtet heute „hoch- interessante Erscheinungen, denn der darin enthaltene Antikapitalismus ist unverkennbar“. Wer er denn jetzt nur noch erklären würde, worin diese anti- kapitalistischen Erscheinungen bestün- den – die Dankbarkeit seiner Leser wä- re ihm gewiss. Und schließlich: Warum er sein Leben lang gegen mit den Ka- pitalisten gegen den „Stalinismus“-An- tikapitalismus gekämpft hat, um sich jetzt über „Erscheinungen“ des Antika- pitalismus zu freuen? Das Interview schließt mit den Sätzen Leonhards: „Gewiss geht es nicht um den Sozialismus – dieser Begriff ist für die Mehrheit der Bevölkerung diskredi- tiert – wohl aber um soziale Gerechtig- keit. Das ist keineswegs wie früher eine linke Losung. Nein, das wollen heute die meisten Menschen in Deutschland – und das schafft Hoffnung.“ Das ist es, was Wolfgang Leonhard bleibt und sein – bislang – letztes Wort: Hoffnung.

Professor Dr. Horst Schneider

1 Vgl. Wolfgang Leonhard, Meine Geschichte der DDR, Rowohlt Verlag, Berlin 2007.

77 REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN Der Aufstieg der NSDAP in Berlin

Thomas Friedrich, Die missbrauchte (S. 422ff.) behandelt! Zwar liefert Fried- Anm. S. 551–561). Es würde an dieser Hauptstadt. Hitler und Berlin, Propylä- rich im Vorwort auch eine Begründung Stelle wenig Sinn machen, die Fehler en Verlag, Berlin 2007. für seine zeitliche Schwerpunktsetzung im Detail zu erläutern. Hier müsste sich In Anlehnung an den ersten Absatz (vgl. S. 10), doch diese kann den Rezen- ein Autor eigentlich bei der Imprima- der Rezension über Martin Schusters senten nicht recht überzeugen. Die Zeit tur noch einmal der Mühe unterziehen, Dissertation1 kann der Rezensent er- nach 1933 wäre natürlich auch von Be- auch auf solche Dinge zu achten – im In- freulicherweise auf weitere Veröffent- deutung für das gewählte Thema. Da teresse der Leserinnen und Leser. lichungen über Berlin zur Zeit des Natio- Hitler Berlin selbst in seinem Testament Zusammenfassend sei festgehalten: Auf nalsozialismus verweisen.2 Die Jüngste vom 29. April 1945 noch einmal expli- der einen Seite konnte der Autor sei- davon ist das hier angezeigte Buch von zit erwähnt und sein dortiges Aushar- nem Anspruch, eine umfangreiche Mo- Thomas Friedrich. Alle Autoren, die sich ren meines Erachtens auch einen Miss- nographie über das Verhältnis zwischen mit Geschichte Berlins in der Nazizeit brauch der Hauptstadt (siehe den Titel Hitler und Berlin unter neuer Betrach- befassen, bemängeln in ihrer jeweiligen des Buches von Friedrich) darstellt. Im tungsweise zu schreiben, nicht gerecht Einleitung bzw. im Vorwort den nach Wesentlichen geht es im vorliegenden werden. Aber wegen der gelungenen wie vor unbefriedigenden Forschungs- Band also um den Kampf um die Macht Zusammenstellung unterschiedlichster stand das Thema betreffend. Friedrich bzw. den Aufstieg der NSDAP unter den Quellen (wenn auch neben Zeitungen spricht dabei gar von einem „Phäno- spezifisch schwierigen Berliner Verhält- nur aus gedruckten Quellensammlun- men“ und findet es „unverständlich“ nissen. Eine Person, die in diesem Zu- gen und Sekundärliteratur) bietet dieses und „grotesk“, dass die Geschichte der sammenhang viel besser zur Geltung Buch auf der anderen Seite tatsächlich Berliner NSDAP und SA bislang so we- kommt als Hitler, ist die des Gauleiters etwas Neues und ist damit durchaus le- nig erforscht sei (S. 7). Goebbels. senswert. Noch einmal unter einer an- Im Gegensatz zu den bisherigen Wer- Hier jedoch missfällt dem Rezensenten, deren inhaltlichen Schwerpunktsetzung ken über das Verhältnis zwischen Hitler dass Friedrich (wie schon vor ihm ande- überarbeitet und mit einem anderen Ti- und Berlin ist Friedrichs Herangehens- re Historiker) Goebbels’ Tagebuchnoti- tel (wie etwa: „Der Aufstieg der NSDAP weise eine andere: nämlich nicht Hit- zen offensichtlich für in der Regel glaub- in Berlin bis 1933“) ausgestattet, hätte lers emotionales3, sondern sein instru- würdig hält. Denn er lässt ausführliche dieses Buch dann sogar das Zeug zu ei- mentelles Verhältnis zur Hauptstadt in Goebbels-Zitate als mit anderen Quel- nem Standardwerk. den Vordergrund der Betrachtung zu rü- len gleichrangige Belege für seine prä- cken. Denn nach Friedrich ist das „be- sentierten Fakten oder für Goebbels’ Oliver Reschke M. A. stimmende Element“ im Verhältnis von Interpretationen von historischen Ereig- Hitler zur Hauptstadt die Funktion, die nissen ohne entsprechende Kommen- er Berlin – seiner sich zeitlich ändern- tierung für sich stehen. Zwar spricht der 1 Martin Schuster, Die SA in der nationalsozialisti- schen „Machtergreifung“ in Berlin und Branden- den und der jeweiligen politischen Situ- Autor das Problem der Glaubwürdigkeit burg 1926–1934, phil. Diss. Technische Universi- ation angepassten Strategie und Politik von Goebbels-Aufzeichnungen aufgrund tät Berlin 2005; Rezension in Rundbrief 4/06. entsprechend – zuzuweisen gedachte. ihres offensichtlichen „propagandisti- 2 Sven Felix Kellerhoff, Hitlers Berlin. Geschichte einer Hassliebe, Berlin-Brandenburg 2005; Ders., Was aber keineswegs bedeuten solle, schen Zweckes“ am Rande einmal an. Berlin unterm Hakenkreuz, Berlin-Brandenburg dass Hitlers Emotionen ausgeklammert Allerdings nur, indem er in einer Fuß- 2006. werden müssten (vgl. S. 9f.). note bemerkt, dass die „tagebucharti- 3 Siehe hierzu stellvertretend den Titel von Kel- lerhoffs im Jahre 2005 erschienenen Buches Eine zufrieden stellende Darstellung be- gen Eintragungen“ in Goebbels’ „Vom (Anm. 2). sagten Verhältnisses gelingt dem Autor Kaiserhof zur Reichskanzlei“ von 1934 indes nur unzureichend, da die Person nicht mit denen aus seinem Tagebuch Hitlers vom dritten bis zehnten Kapitel übereinstimmen würden (vgl. Anm. 17/ (von insgesamt elf Kapiteln) schlicht- S. 562). Doch auch Goebbels’ „priva- weg zu kurz kommt. Stattdessen gerät te“ Tagebuchaufzeichnungen waren von das Buch über weite Strecken zu einer Beginn an verfälscht und manipuliert, Gesamtdarstellung der Geschichte der wenn auch Anfangs aufs eigene Selbst- NSDAP, der SA und des Nationalsozi- bewusstsein und erst später auf die Öf- alistischen Deutschen Studentenbun- fentlichkeit abzielend. des in Berlin. Bei der diesbezüglichen Im Rahmen einer Rezension sollten mei- Schilderung von historischen Ereignis- nes Erachtens aber auch Druckfehler sen, der Belegung von Fakten mit prä- zur Sprache kommen. Abgesehen von zisen Zahlenangaben, der Auswahl prä- einigen falsch gesetzten oder fehlen- gnanter zeitgenössischer Zitate sowie den Buchstaben bzw. Satzzeichen u. ä. der Analyse der Berliner Wahlergebnis- ist die Fußnotensetzung miserabel und se, gestützt auf eine beachtliche Quel- somit extrem leserunfreundlich: einmal lenbasis, liegt dann auch die eigentli- wird eine Nummer ausgelassen, ein an- che Stärke dieses Bandes. Allerdings deres Mal ist eine Nummer doppelt ver- wird der Zeitraum nach der Machtüber- geben. Besonders schlimm ist es im 8. gabe 1933 nur in einem letzten Kapitel Kapitel (S. 277–325, entsprechende

78 Karriere unter Ribbentrop und Springer

Wigbert Benz, Paul Carell. Ribbentrops drastischer: „[…] Jeder weiß, dass er für sche Wehrmacht Ungarn besetzt. Nun Pressechef Paul Karl Schmidt vor und jedes Regime eintreten würde, wenn es sollten die ungarischen Jüdinnen und nach 1945, Wissenschaftlicher Verlag ihm diese Position anbieten würde, er Juden in die Konzentrationslager de- Berlin, Berlin 2005, 112 Seiten. ist ein reiner Machtmensch. Da er über- portiert werden. In ungebrochener Re- „In der ihm eigenen, ebenso sachlichen haupt keine Hemmungen hat, ist er sei- gimetreue fürchtete Schmidt in einem wie fesselnden Art hat Paul Carell die- nen Widersachern überlegen, weil die Schreiben vom 27. Mai aber: „[…] Die ses Geschehen sowohl aus der Sicht zögern die gleichen Mittel gegen ihn an- Gegner werden schreien und von Men- des Soldaten wie aus der Perspektive zuwenden.“ (Zitat: S. 24) schenjagd usw. sprechen […] Ich möch- der großen Strategie erfasst und gestal- Für die Auslandspropaganda des NS-Re- te deshalb anregen, ob man diesen Din- tet. So ist ein Buch entstanden, das zu- gimes machte sich Schmidt insbesonde- gen nicht vorbeugen sollte […]“ (Zitat: gleich packend und informativ, ergrei- re durch die Herausgabe der Illustrierten S. 38). fend und dokumentarisch ist und zu „Signal“ verdient. Diese Zeitschrift, die Schmidt suchte also nach Möglichkei- Recht ein Welterfolg wurde.“ So steht in mehreren Sprachen publiziert wurde ten, die Deportationen zu legitimieren. es im Klappentext des Buches „Unter- und 1943 eine Auflage von 2,5 Millio- Er schlug unter anderem vor, Spreng- nehmen Barbarossa. Der Marsch nach nen Exemplaren aufwies, sollte der Be- stofffunde in Gebäuden der jüdischen Russland“ von Paul Carell alias Paul Karl völkerung die Kriegs- und Besatzungs- Gemeinde zu fingieren. Diese Vorwände Schmidt. politik im besetzten Ausland vermitteln sollten als Auslöser der für Ende Juli vor- Nachdem er sich bereits in diversen und nicht – wie fälschlicherweise oft gesehenen „Großaktion“ dienen, bei der Beiträgen dem Wirken des Pressechefs angenommen – die Moral der Truppe die Jüdinnen und Juden der Hauptstadt des Auswärtigen Amtes widmete, legt erhöhen. Auch hier versuchte das Pro- Budapest „konzentriert“ werden sollten. der Historiker Wigbert Benz mit „Paul pagandaministerium redaktionellen wie Zwar wird hier die Eigeninitiative und Carell. Ribbentrops Pressechef Paul personellen Einfluss geltend zu machen, Beteiligung Schmidts an der Shoa of- Karl Schmidt vor und nach 1945“ ei- scheiterte damit jedoch schnell. Neben fensichtlich, doch lehnte der Reichsbe- ne quellenreiche Monographie über ei- der „Signal“ unterhielt Schmidts Abtei- vollmächtigte für Ungarn, der Gesandte ne typisch deutsche Karriere vor, die in lung weitere Publikationen, so auch die I. Klasse und SS-Brigadeführer Edmund der Geschichtswissenschaft bisher ver- Zeitschrift „Berlin-Rom-Tokio“, die von Veesenmayer, diese Ideen ab. Sie sei- nachlässigt wurde. 1939 bis 1944 die politischen und kul- en unglaubwürdig, da die Bewegungs- 1936 wurde Paul Karl Schmidt vom turellen Beziehungen der Achsenmäch- freiheit der Juden in Budapest bereits Reichsminister des Auswärtigen Joachim te propagandistisch stützte. Mit den so stark eingeschränkt war, dass jüdi- von Ribbentrop entdeckt. Bereits 1931 täglichen Pressekonferenzen für aus- sche Sabotageakte als nicht realistisch der NSDAP beigetreten, nahm Schmidt ländische JournalistInnen, der täglichen eingeschätzt wurden. Auch erwartete 1938 eine Tätigkeit in der Presse- und Herausgabe von Sprachregelungen, der Veesenmayer keine größeren negativen Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Verbreitung von Nachrichten sowie ei- Reaktionen der ausländischen Presse. Amtes an. Mit der Ernennung zum Stell- genen Informations- und Artikeldiens- Hinzu kam, dass die Nationalsozialisten vertreter des Leiters wurde ihm bald ten nahm die Presse- und Nachrichten- das Datum ihrer „Großaktion“ mit der die faktische Führung der Abteilung zu- abteilung zudem massiv Einfluss auf die Invasion der Alliierten in der Normandie teil. 1940 ernannte ihn Ribbentrop zum Berichterstattung im Ausland. abzustimmen gedachten. Sie nahmen Pressechef. Mit Schmidts Engagement Doch beschränkte sich die Arbeit Paul an, dass die Einleitung der Deportatio- begann zugleich der Aufstieg der Pres- Karl Schmidts keineswegs auf klassi- nen unter der Aufmerksamkeit, der die se- und Nachrichtenabteilung, die noch sche Presse- und Propagandaarbeit: Öffentlichkeit diesem Ereignis schen- vor dem Zweiten Weltkrieg über ledig- Herausragend kann, folgt man Wigbert ken würde, völlig untergehen würde. lich sieben Mitarbeiter verfügte. Der Benz, die Rolle des Pressechefs im Vor- Am 6. Mai 1945 verhafteten die US- Führererlass vom 8. September 1939 feld des so genannten „Unternehmens Amerikaner Paul Karl Schmidt, worauf- verhalf der Abteilung zur absoluten und Barbarossa“ eingeschätzt werden. So hin dieser die nächsten zweieinhalb uneingeschränkten Vormachtstellung in trug Schmidt zur Unterzeichnung ei- Jahre in Internierungslagern zubrach- der Auslandspropaganda, während Jo- nes Abkommens zwischen dem Dritten te. Seine Ehefrau setzte sich für ihn seph Goebbels’ Propagandaministerium Reich und Jugoslawien bei, indem er ein ein, indem sie seine führende Rolle in und sein Reichspressechef Otto Dietrich Treffen Adolf Hitlers mit dem Premier der Auslandspropaganda bagatellisier- das Nachsehen hatten. Obwohl Goeb- des Balkan-Staates, Dragiˇsa Cvetkovic, te. Er habe keine Wahl gehabt und ledig- bels sich mit einem Arbeitsabkommen forcierte. lich seine Pflicht erfüllt. Angeblich habe vom 22. Oktober des Kriegsjahres 1941 Ob Schmidts Rolle über die eines Ver- sich Schmidt auch für Verfolgte und Op- eine gewisse Gleichberechtigung in der mittlers hinausgeht lässt Benz jedoch fer des Nationalsozialismus eingesetzt. Auslandspropaganda erstritt, konnte offen. Tatsächlich trat Jugoslawien am Davon ließen sich die Alliierten jedoch Schmidt seine Führungsrolle behaup- 25. März 1941 dem Dreimächtepakt bei. nicht beirren. Ihre Einschätzung lautete ten. So wird der aufstrebende Paul Karl Ein Militärputsch führte allerdings zur denn auch etwas anders: „[…] subject Schmidt, der mittlerweile auch zum SS- Verschiebung des Zeitplanes. So muss- was not a simple interpreter but a very Obersturmbannführer avanciert war, te zunächst Jugoslawien okkupiert und high ranking official aware of many hid- selbst in den eigenen Reihen als bru- zerschlagen werden, bevor am 22. Juni den states secret.“ (Zitat: S. 50) tal und verschlagen beschrieben. Ein 1941 der Feldzug gegen die Sowjetuni- Trotzdem schaffte Schmidt die schein- schwedischer Journalist, der etlichen der on begann. bare Kehrtwende. Benz zeigt auf, dass täglichen Pressekonferenzen des Aus- Welch Geistes Kind Schmidt war, zeigte es sich hier – wie so oft – jedoch we- wärtigen Amtes beiwohnte, wird noch sich auch 1944: Im März hatte die deut- niger um einen ideologischen Bruch

79 mit dem Nationalsozialismus handel- ropa-Idee“ (S. 59). In einem letzten Ab- „Spiegel“, „Welt“ und anderen Blättern te. Vielmehr ist zu konstatieren, dass schnitt erläuterte Schmidt die drohende anstellte. Mitunter fällt es dem/der Le- Schmidt sich aus Opportunität schein- Gefahr durch den Bolschewismus, der serin nicht leicht, ob der zahlreichen bar von seinem vormaligen Leben als nur mittels militärischer Abschreckung Quellen, die Benz anführt, den Über- Nazi löste. So trat er im Zuge der Nürn- zu begegnen sei. blick zu behalten. Auch wird die in die- berger Prozesse beim Wilhelmstraßen- Im folgenden stellt Benz die herausra- sem Falle etwas zwielichtige Rolle des Prozess gegen das Auswärtige Amt und gende Bedeutung ehemaliger NS-Pro- international renommierten Historikers weitere Ministerien überraschenderwei- pagandisten für die staatlich alimentier- und Faschismusforschers Hans Momm- se als Zeuge der Anklage auf: Schmidt te antikommunistische Hetze während sen lediglich angerissen, ohne dessen war erklärt worden, er könne seine La- des „Kalten Krieges“ heraus. Dass diese Motive, bis zum heutigen Tage an der ge nur verbessern, wenn er gegenüber vor und während der zwölf Jahre wäh- Alleintäterthese festzuhalten, näher zu dem Ankläger Robert M. W. Kempner renden Ära des deutschen Faschismus beleuchten. den Verdacht ausräume, andere Nazis durchaus eine journalistische wie pro- 1959 sorgte Paul Karl Schmidt erneut zu decken. Schmidt willigte ein. Im Pro- pagandistische Schule durchliefen und für Furore: Damals sollte er Redakteur zess dann gab Schmidt sich unschuldig: diese in ein post-nationalsozialistisches im Politik-Ressort der Springer-Illust- Er sei Gegner des Nationalsozialismus Zeitalter zu überführen vermochten, rierten „Kristall“ werden, was vier Re- gewesen und habe sich so bei Außen- wird an der inhaltlichen Kritik Schmidts dakteure der Zeitschrift auf den Plan minister Ribbentrop unbeliebt gemacht. an Eberhard Tauberts antikommunisti- rief, die öffentlichkeitswirksam ihre Der Spielraum gegenüber Ribbentrop schen Schriften deutlich. Schmidt mein- Kündigung einreichten. Wenige Tage sei zudem gering gewesen. Des Weite- te, der ehemalige Antikommintern-Chef später wurde Schmidt offiziell von sei- ren versuchte der Pressechef die Rolle sei „geistig im Jahre 1945 stehen geblie- nen Aufgaben beim Springer-Verlag ent- seiner Abteilung herunterzuspielen. An- ben“ (S. 61). So war Schmidt durchaus bunden. Er blieb dennoch für „Kristall“ geblich habe nämlich Reichspressechef in der Lage taktische Fehler im Zweiten tätig und wirkte weiterhin als Berater Dietrich die Presselenkung beherrscht, Weltkrieg – genannt sei hier der „Zweif- und enger Vertrauter Axel Springers. was mit der Herausgabe der „Tagespa- rontenkrieg“ – einzugestehen. Seine Auch war Schmidt für die persönliche role“ durch Dietrich unterstrichen wer- Propagandatätigkeit konzentrierte sich Sicherheit Springers verantwortlich, der den sollte. ganz auf die Mobilmachung für einen einerseits terroristische Anschläge und Erst 1959 stellte die Zentrale Stelle der möglichen Dritten Weltkrieg gegen die andererseits ein Einfallen der Roten Ar- Landesjustizverwaltungen zur Aufklä- Sowjetunion. Und dies gelang am bes- mee fürchtete. rung nationalsozialistischer Verbrechen ten, indem er die absolute Überlegen- Mit der Berufung von Horst Mahnke als neuerliche Anstrengungen an, Schmidt heit des Westens – inklusive der Bun- neuen „Kristall“-Chefredakteur „begann wegen Mordes anzuklagen. Die Ermitt- desrepublik Deutschland – suggerierte. eine schier endlose Serie ‚Unternehmen lungen mussten jedoch 1971 eingestellt Erst wenn die eigene Stärke vermittelt Barbarossa‘“ (S. 83). So wurde Paul Karl werden, da die Anregungen Schmidts sei, erscheine der Feind als besiegbar. Schmidt unter dem Pseudonym Paul zur propagandistischen Absicherung Benz beschreibt dies treffend als „Mi- Carell mit seiner Reihe „Unternehmen der Judendeportationen in Ungarn nicht schung von rezidiver Angst- und domi- Barbarossa“ berühmt, die später in Mil- zur Anwendung kamen. Dass es sich nanter Erfolgspropaganda“ (S. 62). lionenauflage und in mehrere Sprachen hier trotzdem um Beihilfe zu Tötungs- Für seine spätere Tätigkeit beim Sprin- übersetzt publiziert wurde. Obwohl verbrechen handelte, spielte keine Rol- ger-Verlag empfahl sich Schmidt jedoch Schmidt nie an der Front im Einsatz le mehr. Dieser Straftatbestand war be- 1953 mit der Erstellung einer Wahlzeit- oder in besetzten Gebieten stationiert reits verjährt. schrift der FDP. Zu dieser Zeit galt diese war, wurde er ob der plastischen und Keineswegs geläutert begann Schmidt Partei mit ihrem national-liberalen Flü- realitätsnahen Berichte fälschlicherwei- in der jungen Bundesrepublik unter den gel als Sammelbecken ehemaliger NS- se oft für einen ehemaligen Kriegsbe- ehemaligen Gegnern eine zweite Karri- Angehöriger. Und beim „Spiegel“ fan- richterstatter der Wehrmacht gehalten. ere, die in der Nachbetrachtung seiner den in den 50er Jahren ebenso etliche In der Tat handelt es sich bei der Arti- ersten in nichts nach steht. Unter dem Propagandisten und ehemalige SS-Füh- kelserie bzw. dem Buch „Unternehmen Pseudonym P. C. Holm verfasste Schmidt rer des Nationalsozialismus eine neue Barbarossa“ mitnichten um einen ver- 1950 die Denkschrift „Die Grenzen nie- Heimat. So konnte auch Schmidt in zwei klärenden und romantisierenden Land- der!“. Das 80 Seiten umfassende Pam- „Spiegel“-Reihen die These von der Al- ser-Roman, da Erlebnisberichte mit Hin- phlet, herausgegeben vom Bundesmi- leintäterschaft Marinus van der Lubbes tergründen kontextualisiert werden. nisterium für den Marshall-Plan, befasst beim Reichstagsbrand 1933 verbrei- Schmidt verfälscht dabei die Geschich- sich hauptsächlich mit der Idee von den ten. Dass van der Lubbes Geständnis te des so genannten Russlandfeldzuges „Vereinigten Staaten von Europa“ nach unter Einfluss von Drogen und Folter und macht aus deutschen Tätern Opfer, US-amerikanischem Vorbild. Wegwei- erzwungen wurde, zog Schmidt in sei- indem er z. B. Polen expansionistische send für ein geeintes Europa sei der so nen Beiträgen in Zweifel. Vielmehr be- Bestrebungen gegenüber Deutschland genannte Schuman-Plan, der die Verein- hauptete er, der Prozess genügte durch- unterstellt. So wird der deutsche Über- heitlichung der deutschen und französi- aus rechtsstaatlichen Ansprüchen. „Aus fall auf den polnischen Nachbarn und schen Kohle- und Stahlproduktion vor- dem Schauprozess gegen Kommunisten später die Sowjetunion gerechtfertigt, ja sah. Europa und seine Bewohner haben wurde eine Revue für den Bolschewis- sogar als „Präventivschlag“ legitimiert. eine gemeinsame Geschichte, die eine mus.“, so Schmidt (S. 75). Von einer Während die Rote Armee als barbarisch friedliche Koexistenz gebieten. So argu- eventuellen Täterschaft der Nazis selbst denunziert wird, erscheinen die Verbän- mentierte Schmidt, das historische Fun- wollte Schmidt nichts wissen. Akribisch de von Wehrmacht und Waffen-SS als dament Europas reiche bis zurück zum dokumentiert und analysiert der Autor tapfer und kameradschaftlich. Trotzdem Hellenismus. Der Nationalsozialismus Wigbert Benz die verschiedenen The- gefällt derlei Täter-Opfer-Umkehr „nicht hingegen „führte zur Verneinung der Eu- sen und Mutmaßungen, die Schmidt in nur bei Kriegsveteranen und naiven Le-

80 sern, sondern auch bei renommierten Mit der Arbeit von Wigbert Benz liegt sen sollte man nämlich, dass Schmidt Geschichtsprofessoren“ (S. 65). Benz dem/der Leser/in eine ambitionierte nur einer von vielen war, die nicht trotz, zeigt auf, dass Schmidt alias Carell oh- Monographie vor. Die vielen Wiederho- sondern gerade aufgrund ihres Wirkens ne die positive Resonanz in der deut- lungen erschweren allerdings die Lek- während der Zeit des Nationalsozialis- schen Presse niemals zu seinem Ruhm türe. Es fällt gelegentlich schwer, der mus auch in der frühen Bundesrepublik gekommen wäre. Zudem blieb die anti- Beweisführung des Autors zu folgen. eine Anhängerschaft und reichlich Pro- kommunistische Propaganda eines Paul Eine historische Einordnung des Wir- tektion fanden. Karl Schmidt gerade im sich verschär- kens Schmidts nach 1945 wäre zudem fenden „Kalten Krieg“ zeitgemäß. hilfreich gewesen. Keineswegs verges- Yves Müller

Gegen den Faschismus – Für die Sowjetunion! Der „Geheimapparat“ der KPD

Siegfried Grundmann, Der Geheimap- ten offenbaren. Auf den nachfolgenden Im Kapitel 3 belegt Grundmann, dass parat der KPD im Visier der Gestapo – Seiten des Kapitels geht Grundmann der Einsatz von „V-Männern“ eine leider Das BB-Ressort: Funktionäre, Beamte, auf maßgebliche Mitarbeiter des Res- erfolgreiche Methode der Gestapo war, Spitzel und Spione, Karl Dietz Verlag, sorts ein, die entsprechend ihrer Aus- das BB-Ressort der KPD zu zerschla- Berlin 2008. bildung als Chemiker, Physiker und In- gen. Der Autor konzentrierte sich bei Der Autor legt mit seiner Publikation genieure wichtige Informationen für die der Darlegung dieser Problematik auf über das streng geheime BB-Ressort Sowjetunion beschafften. Er skizziert Berlin. Er erläutert dies entsprechend der KPD erstmalig ein Buch vor, das die- ihren wechselvollen und meist bitteren der vorhandenen Quellen über den Ein- se Organisation als einen wichtigen Be- Lebensweg detailliert und spart dabei satz und die „Arbeits“-Ergebnisse der standteil im antifaschistischen Wider- nicht mit Kritik an den Abwehrorganen Männer und Frauen, die für die Gesta- stand ausweist. der UdSSR und der DDR über deren mit- po arbeiteten. Bemerkenswertes erfah- Basis für die aufschlussreiche Publika- unter miserables Verhalten zu den muti- ren die Leser über die Ursachen und die tion sind die jahrelang durchgeführten gen Kundschaftern für die Sowjetunion Motivationen, die zum Verrat ehemali- Recherchen des Autors in den einschlä- (vgl. S. 56ff.). ger Funktionäre der KPD führten. gigen Archiven. Im 2. Kapitel des Buches untersucht Breitesten Raum widmet der Autor den In seinem ausführlichen Vorwort ver- und schildert der Autor den Aufbau und Verfolgten Antifaschisten im Kapitel 4 weist Siegfried Grundmann auf die Fülle die Arbeitsweise des „Kommunismus- (vgl. S. 176ff.). Er schildert das Leben von Problemen beim Recherchieren und Dezernats“ der Berliner Gestapo, wobei und Wirken der Verfolgten, ausgehend Erarbeiten des Buches und benennt die eine Fülle von neuen Fakten ausgebrei- von Ewald Jahnen, der sich am 6. März Gründe für bestimmte Einschränkungen tet wird. Grundmann erläutert, was sich 1936 im Strafgefängnis Berlin-Plötzen- zur obigen Thematik. hinter dem oben genannten Namen ver- see das Leben nahm, mit welchen Mit- Einleitend geht der Autor auf das BB- barg. Er hebt hervor, dass die Beamten teln und Methoden die Widerstehenden Ressort der KPD ein. Er schildert prä- dieses Dezernates nahtlos ihre Tätigkeit einen Beitrag zum Sturz des NS-Re- zise die Struktur und Funktion dieses vor 1933, nämlich erbarmungslos Kom- gimes leisten wollten und wie sie mit Apparates der KPD. Die Leser erfah- munisten zu jagen, nach der faschisti- ihren speziellen Fachkenntnissen die ren, dass das BB-Ressort eine absolute schen Machtübernahme mit besonde- Sowjetunion vor drohenden Gefahren Sonderstellung innerhalb der KPD ein- rer Intensität fortsetzten. warnen wollten und auch tatsächlich nahm. Der Verfasser erläutert, wie es Mit diesen Beamten verfügte die Ge- warnen konnten. Die Verfolgten werden zur Schaffung des Ressorts kam und stapo über erfahrene Kriminalisten ohne jede Überhöhung als Menschen welche zentrale Funktion bzw. Aufgabe bei der Verfolgung von Regimegeg- „aus Fleisch und Blut“, mit allen guten, es erhielt, nämlich die Nachrichtenbe- nern. Die Leser erfahren bisher we- aber auch schwachen Seiten und Eigen- schaffung aus der Rüstungsproduktion nig bzw. kaum beachtete Fakten über schaften charakterisiert. Deutschlands bereits vor 1933 für die die ausgeklügelten Vernehmungsprak- In der Tat ist diese Publikation eine Pio- Sowjetunion. Er verweist diesbezüglich tiken der Gestapo. Der Autor verweist nierarbeit in Bezug auf die Widerspieg- auf die enge Verbindung mit dem sowje- in diesem Kapitel darauf, dass nicht die lung der Vielfalt im Ringen der kleinen tischen Geheimdienst (vgl. S. 39 ff.). Folter das wichtigste Element bei der Schar Widerstehender gegen die NS- Im Unterpunkt 1.2 des 1. Kapitels schil- Vernehmung verhafteter Antifaschis- Diktatur. Das Buch ist übersichtlich dert der Autor mit Hilfe von präzisen ten war, sondern der Einsatz psycholo- gegliedert. Nutzerfreundlich sind die biografischen Skizzen das Leben und gisch geschulter Kriminalisten erfolgte, Fußnoten auf den jeweiligen Seiten ver- illegale Wirken der Reichsleiter des BB- um Geständnisse zu erpressen. Sicher merkt. Ein Abkürzungs- und Personen- Ressorts. Besonders informativ sind erstmalig belegt der Autor mit authenti- register nebst Bildnachweis beschließt hier die wörtlich aufgenommenen, bis- schen Personaldokumenten, Fotos und diese informative Publikation, die un- her völlig unbekannten Erinnerungen persönlichen Aussagen, wer die wich- sere Kenntnisse über den antifaschis- ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mit- tigsten Mitarbeiter im „Kommunismus- tischen Widerstandskampf in vielerlei arbeiter der Reichsleiter, die Aufschluss Dezernat“ waren und wo sie nach 1945 Hinsicht bereichert. über bestimmte Charaktereigenschaf- verblieben sind – soweit es die Quellen- ten und Arbeitstechniken der Skizzier- lage ermöglichte. Dr. Günter Wehner

81 Vor aller Augen und so viele Täter Neue Bücher zum Thema: „Arisierung“ in Deutschland

„Arisierung“ – dieses Wort steht zu- Weinberger, Max Drimmer und Hans li bis September 2007 zu sehen war.7 recht in Anführungszeichen, denn es Reichow (zum Schicksal seiner Urgroß- Zweitens ein recht umfänglicher Sam- wurde von den Nationalsozialisten ge- mutter Bertha Herbst) auch über dieses melband mit 13 Beiträgen, die in ihrer prägt und bezeichnete einen ganzen Thema sprechen.2 Es gibt zahlreiche Summe einen guten Überblick bieten. Komplex von Maßnahmen zur Entrech- ähnliche Berichte, die Dokumentation Der aktuelle Forschungsstand wird um- tung der deutschen Juden in den Jahren über Heinrich Richard Brinn sei exem- rissen und das Vorgehen der Behörden 1933 bis 1945. plarisch erwähnt.3 In der „taz“ wird für wird charakterisiert. Das Ausmaß der Wolfgang Dreßen war der erste, der im Berlin eine erste Gesamtdarstellung zur „Arisierung“ wird für einzelne Branchen Jahre 2001 für die Stadt Köln mit der „Arisierung“ angezeigt, die erst noch (Einzelhandel, Gesundheitswesen, Ver- Aufsehen erregenden Ausstellung „Be- gelesen sein will und später rezensiert lage) dokumentiert und Recherche-Er- trifft Aktion 3: Deutsche verwerten jüdi- werden soll.4 gebnisse über jüdisches Eigentum in sche Nachbarn“ für Aufruhr sorgte. Die- Ein anderer Bereich der Forschungen zur Leipziger Bibliotheken und Kunstsamm- se Wanderausstellung, die inzwischen „Arisierung“ ist die intensivere Durch- lungen werden vorgestellt8. Eher bei- an vielen Orten im Osten wie im Westen forstung von Magazinen öffentlicher Bi- läufig wird auch hier darauf verwiesen, Deutschlands zu sehen war, dokumen- bliotheken, Kunstsammlungen und Mu- dass Ressourcenknappheit kontinuierli- tiert, wie große Firmen sich Filetgrund- seen nach unrechtmäßig erworbenem ches Arbeiten behindert. stücke unter den Nagel rissen und „bra- Eigentum jüdischer Bürger. Hierfür wa- Im Jahr 2008, wo an die Gründung des ve“ Bürger Anzeigen in ihrem Lokalblatt ren zwei Impulse ausschlaggebend: For- Staates Israel im Mai 1948 und den No- folgten, die Versteigerungstermine von derungen von Nachfahren Betroffener vemberpogrom in Deutschland 1938 mit Eigentum jüdischer Bürger bekannt ga- und eigener Forscherdrang der Mitar- einer Vielzahl von Aktivitäten gedacht ben. Möbel und Bettwäsche, Silberlöf- beiter dieser Institutionen – so ihnen für wird, sollten auch neue Impulse zur For- fel und noch die kleinsten Haushaltsge- diese Aufgabe Zeit, Personal und Geld schung und öffentlichen Präsentation genstände wurden „günstig und ehrlich zur Verfügung gestellt wurde.5 von Gefundenem zum Thema „Arisie- erworben“ – nach (damaligem) „Recht Monika Gibas und ihren Kolleginnen und rung“ in Deutschland möglich sein. und Gesetz“.1 Die rechtmäßigen Eigen- Kollegen verdanken wir neue Erkennt- tümer waren längst deportiert worden nisse über „Arisierungen“ in Thüringen Dr. Horst Helas oder (eine Minderheit) ins Exil entkom- und der Messemetropole Leipzig. men. Für Thüringen wird eine Sammlung von Damals wurde Dreßens Ausstellung als 126 Dokumenten aus lokalen Archiven 1 Siehe: Betrifft: „Aktion 3“. Deutsche verwerten jü- dische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, aus- Skandal angesehen, denn er beging den zur „Arisierung“ vorgelegt. Die Publi- gewählt von Wolfgang Dreßen, Berlin 2001. Zur Tabu-Bruch, für das Beispiel Köln unge- kation beschreibt im Untertitel Stufen Wanderausstellung gehört inzwischen auch ein Vi- schwärzt Firmen- und Personennamen dieses Prozesses, der schon 1933 ein- deo zu den wichtigsten Aussagen. 2 Vgl. Horst Helas, Juden in Berlin-Mitte. Biografien Dokument für Dokument vorzustellen. setzte und bis Mai 1945 anhielt: Ent- Orte Begegnungen, 2. ergänzte und durchgesehe- Seither sind die Forschungen zur „Ari- rechtung, Enteignung, Vernichtung.6 ne Auflage, Berlin 2001. sierung“ vorangeschritten. Auch die Ar- Siebzehn Studenten der Friedrich-Schil- 3 Vgl. New Weissberg-Bob u. Thomas Irmer, Hein- rich Richard Brinn (1874–1944). Fabrikant – Kunst- chivare haben sich beruhigt, wenden ler-Universität Jena trugen unter Anlei- sammler – Frontkämpfer. Dokumentation einer Datenschutzvorschriften zu Gunsten der tung der Herausgeberin die Dokumen- Arisierung, Berlin 2002. Opfer an und erleichtern die vielfältigen te zusammen. In der Einleitung wird als 4 Vgl. Christof Biggeleben, Beate Schreiber u. Kilian J. L. Steiner, Hrsg., „Arisierung“ in Berlin, Berlin 2008. Forschungen von Nachfahren, Fachhis- Ergebnis der Recherche betont, diese 5 Vgl. beispielsweise Thomas Elsmann, Hrsg., Auf torikern und Initiativen von Schülern sei „eine erste Annäherung an das Pro- den Spuren der Eigentümer. Erwerb und Rückga- be von Büchern jüdischer Eigentümer am Beispiel oder Lokalhistorikern. blemfeld und zeigt, dass sich Spuren Bremen. Schriften der Staats- und Universitätsbib- Zunächst standen in der Forschung und für alle Phasen dieses ungeheuerlichen liothek Bremen. 5, Bremen 2004. Publizistik nach 1945 zum Thema „Ari- und massenmörderischen Kapitels der 6 Vgl. Monika Gibas, Hrsg., „Arisierung“ in Thürin- gen. Entrechtung, Enteignung und Vernichtung der sierung“ Einzelschicksale im Vorder- Geschichte Thüringens, das sich in al- jüdischen Bürger Thüringens 1033 – 1945, 2 Halb- grund. Überlebende berichteten über ler Öffentlichkeit abspielte, gerade auch bände, Erfurt 2006. die „Arisierung“ als Höhepunkt der Ent- in kommunalen Archiven finden lassen“ 7 Vgl. Monika Gibas, Cornelia Briiel, Petra Knöller u. Steffen Held, „Arisierung“ in Leipzig. Verdrängt. rechtung ihrer Familien vor Flucht oder (S. 35f.). Beraubt. Ermordet, Leipzig 2007. Deportation. Für Berlin-Mitte konnte ich Für Leipzig liegen gleich zwei Publika- 8 Vgl. Monika Gibas in Zusammenarbeit mit Cornelia beispielsweise mit Zeev Rebhun, Han- tionen vor. Erstens der Begleitband zu Briel und Petra Knöller, Hrsg., „Arisierung“ in Leip- zig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel ni Appel, Walter Tick (Tikotzki), Emanu- einer Ausstellung des Stadtgeschicht- der Stadtgeschichte der Jahre 1933 bis 1945, Leip- el Spira, Edith Karpel-Coulson, Siegbert lichen Museums Leipzig, die von Ju- zig 2007.

82 Deutsche und Juden in Bessarabien

Mariana Hausleitner, Deutsche und sche Intervention von Rumänien 1918 rassistische Bewegung und eine ent- Juden in Bessarabien 1814–1941. Zur angeschlossenen Bessarabien. Aus sprechende politische Radikalisierung Minderheitenpolitik Russlands und Furcht vor einem Übergreifen der rus- der Deutschen in Bessarabien. Großrumäniens, IKGS Verlag, Mün- sischen Revolution und in der Absicht, Im darauf folgenden Kapitel – Bessara- chen 2006. ein Großrumänien zu schaffen, be- bien auf dem Weg zur nationalen „Ho- Die Beziehungen zwischen den in Bes- schloss die Bukarester Regierung im mogenisierung“ – analysiert die Auto- sarabien lebenden Ethnien ist bisher Januar 1918 die Intervention mit Un- rin die Umsiedlung der Deutschen und nur ansatzweise untersucht worden. terstützung der Entente und stellte deren zwangsweise Neuansiedlung im Diese Lücke schließt Mariana Hausleit- die ehemalige russische Provinz durch deutsch besetzten Polen (Warthegau, ner mit ihrer auf breiter Quellengrund- 50.000 Soldaten und 10.000 Gendar- Danzig-Westpreußen) im Gefolge der lage (Zentralarchiv Chisinau, Gesandt- men unter Kriegsrecht. Dieser Zustand Zuordnung der Region zur sowjetischen schaftsberichte im Politischen Archiv endete erst 1928. Da Bessarabien zur Einfluss-Sphäre infolge des Hitler-Sta- des Auswärtigen Amtes Berlin, zeitge- „Verteidigungszone mit militärischen lin-Paktes 1939. Schwierig erscheint es nössische Periodika u. a.) vorzüglich re- Sonderstatus“ gehörte, konnte Buka- auch für die Autorin zu sein, eine Ant- cherchierten Arbeit. rest die Rumänisierung dieser ihr zu- wort auf die Frage zu finden, ob die Das einleitenden Kapitel behandelt die geschlagenen Provinz forcieren. Trotz Bessarabiendeutschen der „Heim-ins Genesis der Multi-Ethnizität (Rumänen, Bodenreform zum Vorteil vor allem der Reich“ – Ideologie verfallen waren oder Ukrainer, Juden, Bulgaren, Deutsche, rumänischen Bevölkerung erfolgte in von der deutschen Naziführung „wider Russen, Gagausen) in der 1812 durch der Zwischenkriegszeit hier keine spür- Willen zu Bodenräubern“ gemacht wur- Russland vom moldauischen Fürsten- bare Modernisierung. Nach Recher- den. tum abgetrennten Provinz Bessarabien chen der Autorin lässt sich die Behaup- Eine vergleichende Betrachtung zur Aus- und die Lage der dort lebenden 60.000 tung, dass es zwischen 1918 und 1940 siedlung der Baltendeutschen in Estland Deutschen und etwa 288.000 Juden (um einen zweiten Modernisierungsschub und Lettland oder der sog. Volksdeut- 1900), die drei bzw. zwölf Prozent der (wie nach 1861 unter russischer Herr- schen in Litauen machen deutlich, wie Bevölkerung Bessarabiens ausmachten. schaft) in Bessarabien gegeben habe, notwendig eine differenzierte Sicht auf Vor allem nach dem Modernisierungs- kaum belegen. In der Zwischenkriegs- diese von Adolf Hitler in seiner Reichs- schub unter Zar Alexander II. und der zeit erfolgte auch im Anschlussge- tagsrede vom 6. Oktober 1939 gefor- nachfolgenden fremdenfeindlichen Po- biet – entgegen den völkerrechtlichen derte „Heim-ins-Reich-Bewegung“ ist. litik der letzten russischen Monarchen Festlegungen – eine Ausgrenzung der Sehr gründlich werden Verfolgung und waren beide Minderheiten betroffen. 250.000 Juden Bessarabiens vor allem Deportation der Juden und der Mas- Die Deutschen, die damals sehr weni- seit dem antisemitischen Regime Goga- senmord an ihnen durch das faschis- ge Kontakte mit ihrer Ursprungsheimat Cuza 1938/39. tische Antonescu-Regime dargestellt. hatten und kein übergreifendes Grup- Diese völkisch-rassistische Politik wur- Eine Tatsache, die bisher von der ru- penbewusstsein besaßen, waren loya- de auch von den nachfolgenden Regi- mänischen Öffentlichkeit weitgehend le russische Untertanen. Ihnen wurde men Miron Cristea und Ion Gigurtu fort- geleugnet worden ist. Erst die vom ru- 1892 dennoch verboten Immobilien im geführt. Letzterer informierte 1940 bei mänischen Staatspräsidenten 2003 in- ländlichen Raum zu erwerben oder zu seinem Staatsbesuch in Berlin, dass er itiierte „Kommission zur Erforschung pachten. Vor allem unter den Kriegsbe- die Judenfrage zu lösen begonnen ha- des Holocaust“, der Historiker Rumä- dingungen von 1914 bis 1918 erfolgten be, aber nur der „deutsche Führer“ ei- niens, Israels, Deutschlands und der Deportationen und Enteignungen. Die ne „totale Lösung für das gesamte Eur- USA angehören, legte 2004 einen ent- jüdische Bevölkerung erlebte seit den opa“ erreichen könne. Die Autorin weist sprechenden Bericht über die Mitver- 80er Jahren des 19. Jahrhunderts Po- nach, dass das rumänische Regime die antwortung des beträchtlicher Teile der grome, von denen das in Kishinew am gesamte Lebensform auch der deut- rumänischen bürgerlichen Eliten beim Ostersonntag 1903 unrühmlich „her- schen Minderheit bedrohte. Doch infol- Massenmord an den rumänischen Ju- ausragt“. ge der Machtübernahme der Nazis in den vor. Das zweite Kapitel untersucht die Min- Deutschland verstärkte sich auch unter derheitenpolitik in dem durch militäri- den Rumäniendeutschen die völkisch- Professor Dr. Karl-Heinz Gräfe

83 Über Kindheitsträume und Regionalgeschichte und vom Schreiben gegen das Vergessen

Kurt Redmer, „Vergesst dieses Ver- Doch schon die vielen Flugzeugstaf- bare Zerstörungen in den Kämpfen oder brechen nicht!“ Der Todesmarsch KZ feln am Himmel und später der gewalti- die leidbringende Folgen danach direkt Sachsenhausen-Schwerin 1945, Ingo ge Feuerschein bei der Bombardierung erlebt haben? In Deutschland und in al- Koch Verlag, Rostock 2001. von Peenemünde, mit den fiktiven Bil- len betroffenen Ländern. Derselbe, Hrsg., Zum Geschehen bei dern in meinem Kopf, dass ich die Men- Natürlich weiß ich, dass Erinnerungen, und in Schwerin 1939 bis 1946, Plawe schen wahrnehmen würde, die in den ob mit persönlichem Bezug oder als Verlagsgesellschaft KG, Plau am See Flammen um ihr Leben liefen, reichten vermittelte Geschichte, in der heutigen 2005. aus. Ebenso die wenigen Bombendeto- Auseinandersetzung mit dem Rechtsex- Derselbe, „Die letzten und die ersten nationen in der Nähe unseres Hauses, tremismus nur ein Mittel, nur eine Mög- Tage“, Verlag Hofwindpress, Hof Gra- wenn Flugzeuge Ballast abwarfen oder lichkeit unter vielen sind, Menschen für bow 2007. der Abschuss, bei dem sich ein kana- dieses Thema zu sensibilisieren und ih- Ich möchte gerne auf drei kleine Bü- discher Pilot mit dem Fallschirm retten re aktive Mitwirkung zu befördern. Ich cher aufmerksam machen, sie aber konnte, aber dann von aufgebrachten al- wage aber die Bemerkung, dass sie ei- nicht einzeln rezensieren. Vielmehr soll ten Männern des Volkssturms mit Knüp- ne sehr wichtige Möglichkeit darstellen, aus eigener langjähriger Erfahrung ih- peln, Forken und Schrotflinten traktiert vor allem dann, wenn lokale und regio- re Vorstellung genutzt werden, um den und den Nazis übergeben wurde. nale Bezüge zur Erörterung und Diskus- Stellenwert von lokaler und regionaler Auch die vielen Panjewagen der lärmen- sion im näheren familiären Umfeld und Geschichte in der Auseinandersetzung den Soldaten mit dem roten Stern, die Freundeskreis anregen. mit dem heutigen Rechtsextremismus im Dorf zwei NSDAP-Leute erschossen, Deshalb war ich auch dankbar, dass hervorzuheben. überall Uhren einsammelten, aber mir mir kürzlich im Zuge der Nachforschun- Ist es eigentümlich oder eher logisch, später auch Bonbons und Gläser mit Le- gen zu meiner eigenen Kindheit, wozu so frage ich mich gelegentlich, dass berwurst schenkten, habe ich nicht ver- ich jetzt Zeit habe, ein Freund drei klei- man im bereits fortgeschrittenen Alter, gessen. Eine ganze Kaufmannsfamilie ne Bücher bzw. Broschüren in die Hand wenn man ein wenig in seinem eigenen hatte sich vor ihrem Eintreffen das Le- gab, deren Verfasser in Mecklenburg- Leben herum kramt und auf Ereignis- ben genommen, die Kinder waren vom Vorpommern, meiner früheren Heimat se und Personen zurückschaut, bei der Vater dazu gezwungen worden. zu Hause ist. Kindheit besonders lange verweilt? Und als die Soldaten wieder weg waren, Ich habe sie mit großem Interesse gele- Jedenfalls habe ich mich schon oft ge- kamen die vielen Flüchtlinge, die nun sen. Der Autor, Kurt Redmer, ein in der nug dabei ertappt, Kindheitsträume und in kleinsten Räumen campierten. Vie- antifaschistischen Bildungs- und For- Kindheitsmuster zu „rekonstruieren“, le meiner späteren Mitschüler wuchsen schungsarbeit erfahrener Historiker aus um mich bei neuen Entscheidungen ohne ihre Väter auf. Schwerin, hat sie in den zurückliegen- darauf zu beziehen. Egal, ob diese Ein- Und wie viele Verwundete und „Kriegs- den Jahren bei verschiedenen Verlagen wirkungen in der Kindheit positiv oder beschädigte“, wie es damals hieß, gab herausgegeben. negativ waren. es allein in einem so kleinen Dorf: Män- Es sind Sammelbändchen, in denen der Vieles was ich in der damals schweren ner mit verbrannten Gesichtern, pul- Autor vorrangig dokumentarische Zeug- Zeit an fürsorglicher Obhut und charak- sierenden großen Vertiefungen in der nisse zusammengetragen hat, mit Spür- terlichen Stärken seitens meiner Eltern Stirn, ledernen Handimplantaten, einem sinn, Professionalität und sicher auch erfahren habe, hat sich ebenso in mei- schweren Holzbein oder in den mons- mit einem Quäntchen Finderglück. nem späteren Handeln manifestiert, terhaft anmutenden Rollwagen mit den Er verwendet wissenschaftlich verwert- wie der Wunsch, vorhandene widrige drei Rädern und den Handhebeln sit- bare Überlieferungen und Dokumen- Lebensverhältnisse zu verändern. Auch zend, wenn beide Beine amputiert wor- te ebenso wie Berichte von Zeitzeugen sich selbst gegebene Versprechen, den waren. oder spätere Interviews und Befragun- mit dafür zu sorgen, dass sich erlebte Soviel Leid und soviel Geschichte auf so gen mit Betroffenen. Die vordergründi- schlimme Ereignisse niemals wiederho- wenigen Quadratkilometern! ge Sachlichkeit der dokumentarischen len, zähle ich dazu. Mein späteres Handlungsmotto „Nie Berichte ist aber durchgängig emotio- So hat mein ungebrochenes Engage- wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ nal durchwoben. Überhaupt hatte ich ment gegen faschistischen Ungeist und und das immer wieder aufs neue er- bei dieser Lektüre, die von ihren etwas Gewalt zweifelsfrei bereits viele Wurzeln forderliche „Wider das Vergessen“ so- sperrigen und einengenden Titeln her in der Kindheit und Jugend, begründet wie das aktive Eintreten gegen neuen zu schnell auf reine Sachbücher schlie- durch die damalige gesellschaftliche Rechtsextremismus und rechten Zeit- ßen lässt, immer das Bedürfnis, viel zwi- Realität und durch die mir vermittelte geist, sind zu einem großen Teil auch aus schen den Zeilen lesen zu wollen. Über Bildung und Erziehung. den eigenen Beobachtungen und Erin- barbarische Rohheit und Sadismus der Als die deutschen Faschisten kapitulie- nerungen jener Zeit und der Vermittlung Nazis, aber auch über erstes Nachden- ren mussten und der von ihnen ange- historischer Tatsachen und Schlussfol- ken und Scham einfacher Leute. Über zettelte Weltkrieg zu seinem Ausgangs- gerungen durch andere geprägt wor- unheilvolle Erziehung junger Menschen, punkt zurückkehrte, war ich gerade vier den. Und ich habe mich oft gefragt, wie aber auch über zarte Pflänzchen von Jahre alt. erst musste es Kindern und ihren Fa- Hilfsbereitschaft und Solidarität gegen- Große Kampfhandlungen und Zerstörun- milien ergangen sein, die die schreck- über den Opfern der Nazibarbarei. Über gen gab es zum Glück auf der Insel Rü- lichen Verbrechen der Nazis bereits vor geistiges Umdenken und antifaschisti- gen und in meinem Heimatdorf nicht. dem Krieg, dessen sinnlose und furcht- sche Bildungsarbeit. Auch über Unent-

84 schlossenheit, Wegsehen und Ängste nicht zu, hier umfassend auf Einzelfra- Eltern und Pädagogen kann ich diese gegenüber heutigen Neonazis. gen einzugehen. Lektüre empfehlen. Aus geschilderten Wobei, bedingt durch die geballten Dem Autor ist aber vor allem zu dan- Gründen, dass sich besonders in Kind- Fakten, der Wissenszuwachs schon an ken, dass er sich dieser Aufgabe über- heit und Jugend Lebensmaximen festi- erster Stelle steht. Meine bisherigen haupt gestellt und erfolgreich bewältigt gen und dabei Hilfe benötigt wird. Auch Kenntnisse über die Todesmärsche aus hat und dass er historische Tatsachen aus der Verpflichtung, historische Wahr- den Konzentrationslagern Ravensbrück stärker ins Bewusstsein bringt wider heiten zu benennen, die der Nazis aber und Sachsenhausen kurz vor Ende des das Vergessen und für neuen Mut, sich auch die des verinnerlichten Antifa- zweiten Weltkrieges zum Beispiel sind, aktuellen Gefahren entgegen zu stel- schismus in der DDR. obwohl ich mehrere mahnende Steine len. Vielleicht war es auch sein Anlie- Und wie bereits auch gesagt, nicht ver- entlang dieses Leidensweges schon oft gen, Nachahmer zu gewinnen, die sich standen als Pflichtliteratur oder Stan- betrachtet, den Belower Wald und das in ihren Kommunen und Regionen die- dardwerk, sondern als eine unter den letzte KZ Wöbbelin oder die Gedenk- ser wichtigen Aufgabe annehmen und Möglichkeiten, etwas gegen Rechts zu stätte in Raben-Steinfeld schon mehr- die örtliche Geschichte zu diesem tun. fach besucht habe, beträchtlich erwei- wichtigen Thema aufzuarbeiten versu- Dr. Kurt Redmer (Jahrgang 1932) war tert worden. chen. zwölf oder dreizehn Jahre alt, als die Historische Tatsachen und Schlussfolge- Es müssen ja nicht immer Bücher für ei- schrecklichen Ereignisse passierten, rungen stellt der Autor gezielten Fehlin- nen großen Leserkreis sein. Man kann die er in seinen Büchern dokumentiert terpretationen und neuem Geschichts- den Begriff „Eigenverlag“, „Stadtschrei- hat. Er war also auch noch ein Kind. revisionismus gegenüber und plädiert ber“ oder „Dorfchronik“ in dieser Frage Vielleicht hat gerade diese Tatsache sei- für eine objektive und verantwortungs- durchaus auch wörtlich nehmen. ne Erinnerung und seine Verantwortung volle Erinnerungs- und Gedenkstätten- Auch eingedenk der Tatsache, dass die beflügelt. kultur. Die große Vielfalt der Themen- Zahl der Zeitzeugen geringer und ge- stellungen in den drei Büchern lässt ringer wird! Nicht nur, aber besonders Professor Dr. Klaus Böttcher

Nazi-Kriegsverbrecher auf dem „Rattenpfad“ nach Argentinien

Uki Goni, Odessa – Die wahre Ge- holen? General Juan Perón, von 1946 gischen Positionen war. Alles, was sich schichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsver- bis 1955 argentinischer Präsident, da- gegen Demokratie und gesellschaftli- brecher, 2. Auflage, Verlag Association vor unter anderem Militär-Attaché im che Emanzipation richtete, konnte stets A, Hamburg 2007. faschistischen Italien, Minister für Ar- auf ihre Sympathie und aktive Unter- Der argentinische Publizist Uki Goni beit und Wohlfahrt sowie Staatssekre- stützung rechnen. darf für sich in Anspruch nehmen, ein tär im Kriegsministerium, war von der Auch ein gewisser Rassismus ist in eminent wichtiges Buch zur Geschichte Idee einer Großmacht Argentinien be- Rechnung zu stellen, der die Perónisten des deutschen Faschismus geschrieben sessen. Als natürlichen Bündnispart- mit den deutschen Faschisten verband: zu haben. Genauer gesagt: Es handelt ner, mit dessen Hilfe diese Idee in die „Argentiniens Herrscher sahen sich sich um eine Monographie, die sich mit Realität überführt werden sollte, hatten zu jener Zeit gern…an der Spitze einer der organisierten Fluchtbewegung von er und seine Verbündeten im Militär, in überwiegend weißen, katholischen und Nazi-Kriegsverbrechern in den Jahren der Politik und in der Wirtschaft Hitler- hispanischen Nation, die unglücklicher- nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschland identifiziert. So kam es weise eine gemeinsame Grenze mit ih- des NS-Regimes befasst. z. B. im Mai 1943 zum Abschluss eines ren ‚gemischtrassigen‘ Nachbarn in Sü- Dem Autor ist es gelungen, mit Hilfe Abkommens zwischen dem Auslands- damerika hatte.“ (S. 46) akribischer Recherchen in Archiven so- Geheimdienst des Sicherheitsdienstes Nach dem Willen Peróns und seiner wie durch Interviews mit noch lebenden der SS („Auslands-SD“) und dem argen- Umgebung sollten die „Fachleute“ aus Zeitzeugen Licht in die systematischen, tinischen Militär. Fortan bewegten sich dem ehemals faschistischen Deutsch- gut vorbereiteten und durch die Hilfe die Agenten des SS-Brigadeführers Wal- land helfen, das Militär, die Geheim- mächtiger Institutionen möglich gewor- ter Schellenberg in Argentinien „wie Fi- dienste, aber auch die Ökonomie, nicht denen Fluchtbewegungen von faschisti- sche im Wasser“. zuletzt die Rüstungswirtschaft des Lan- schen Kriegsverbrechern nach Lateina- Die Verbundenheit mit dem deutschen des, schneller als es sonst möglich ge- merika zu bringen. Faschismus war nicht zuletzt wegen wesen wäre, zu „modernisieren“. Da- Dabei war die Quellenlage kompliziert. des auch unter den Spitzen-Politikern bei wurden auch ehrgeizige Projekte, Denn die argentinischen Behörden hiel- und im Offizierskorps verbreiteten, mi- wie beispielsweise die Entwicklung ei- ten Akten zurück oder gaben sie nur litanten Antidemokratismus und Anti- nes argentinischen Kampfjets, mit Hilfe sehr zögerlich heraus, viele kompromi- kommunismus zustande gekommen. In deutscher Spezialisten verfolgt. tierende Unterlagen sind längst vernich- Argentinien war in diesem Zusammen- Zu den wichtigsten Initiatoren des „Rat- tet bzw. „gesäubert“ worden. hang von besonderer Bedeutung, dass tenpfades“, wie die Fluchtwege nach Worin bestanden die Motive, Tausen- dort die katholische Kirche, eine gesell- Südamerika genannt wurden, gehörten de Kriegsverbrecher und andere „Spe- schaftlich und politisch überaus mäch- hohe und höchste Repräsentanten der zialisten“ des Nazi-Regimes ins Land zu tige Institution, Trägerin dieser ideolo- katholischen Kirche. Im Vatikan waren

85 unter anderem der pathologische Kom- In seinen 1976 publizierten Memoiren cher wann und wo vom Vatikan ver- munisten-Hasser Kardinal Eugène Tis- bekannte sich Alois Hudal in aller Of- steckt gehalten wurden. Und Papst Pius serant, er galt als der „Russland-Exper- fenheit und ohne jegliche Reue zu sei- XII.? Dieser militante Antidemokrat und te“ der Kurie, sowie Kardinal Giovanni nen „Dienstleistungen“ zugunsten von Antikommunist, ein – sehr vorsichtig Battista Montini, der spätere Papst Paul faschistischen Kriegsverbrechern: „Ich formuliert – dem Antisemitismus nicht VI., mit der Legalisierung der Ausreise danke aber dem Herrgott, dass Er mir immer mit vollem Engagement entge- von Nazi-Kriegsverbrechern befasst, un- meine Augen geöffnet hat und auch die gentretende Kirchenfürst3, empfing ter denen sich – was häufig in Verges- unverdiente Gabe geschenkt hat, vie- recht häufig Kriegsverbrecher, vor allem senheit gerät – katholische Geistliche le Opfer der Nachkriegszeit in Kerkern aus den Reihen der Ustascha. befanden. Dabei handelte es sich beson- und Konzentrationslagern besucht und Dem Autor ist angesichts des von ihm ders um Exponenten des kroatischen getröstet und nicht wenige mit falschen zusammen getragenen Beweismaterials Ustascha-Regimes, wie z. B. den Pries- Ausweispapieren ihren Peinigern durch zuzustimmen, wenn er schreibt: „Kardi- ter Krunoslav Draganovic oder den Lei- die Flucht in glücklichere Länder ent- näle wie Montini, Tisserant und Caggi- ter der „Katholischen Aktion“ Kroatiens, rissen zu haben. Alle diese Erfahrungen ano waren das Hirn des Fluchthilfeun- Bischof Ivan Saric (vgl. S. 197ff.). Neben haben mich schließlich veranlasst, nach ternehmens. Bischöfe und Erzbischöfe Tisserant und Montini, der seine jahr- 1945 meine ganze karitative Arbeit in wie Hudal, Siri und Barrère brachten die zehntelangen Erfahrungen im diplomati- erster Linie den früheren Angehörigen notwendigen bürokratischen Verfahren schen Dienst des Vatikans bei der Orga- des NS und des Faschismus, besonders auf den Weg. Priester wie Draganovic… nisierung des „Rattenpfades“ einbringen den so genannten Kriegsverbrechern zu unterschrieben die Pass-Anträge. An- konnte, waren auch Kirchenführer wie weihen.“ (Zitat: S. 223f.) gesichts dieser nicht zu widerlegenden der Erzbischof von Genua, Giuseppe Si- Auf Seiten der argentinischen katholi- Beweise ist die Frage, ob Papst Pius XII. ri, und der österreichische Bischof Alois schen Kirche war einer ihrer höchsten über diese Vorgänge Bescheid wusste Hudal an diesem Unternehmen führend Repräsentanten, Kardinal Antonio Cag- oder nicht, völlig naiv.“ beteiligt. Siri hatte in Genua das „Nati- giano, unmittelbar mit der Organisie- (S. 238) onale Komitee für die Auswanderung rung des „Rattenpfades“ befasst. Of- Neben der katholischen Kirche, die na- nach Argentinien“ gegründet. Nach ei- fenkundig im Februar 1946 besprach er türlich die in Argentinien eintreffenden nem US-amerikanischen Geheimdienst- bei einem Besuch in Rom mit Papst Pi- Kriegsverbrecher und Nazi-„Spezialis- bericht vom 21. Januar 1947 handelte es us XII. und dem Kardinal Tisserant Ein- ten“ mit offenen Armen empfing, waren sich dabei um „eine internationale Orga- zelheiten für die weitere Ausgestaltung auch das Internationale Komitee vom nisation, deren Ziel es ist, die Emigrati- der Fluchtwege. Wes Geistes Kind die- Roten Kreuz, aber auch Diplomaten aus on antikommunistischer Europäer nach ser Kardinal war, demonstrierte seine unterschiedlichen Ländern, in erster Li- Südamerika zu organisieren…Diese all- geradezu unglaubliche, öffentliche Ver- nie natürlich aus Argentinien, an der Or- gemeine Klassifizierung ‚Antikommunis- lautbarung anlässlich der Entführung ganisierung des „Rattenpfades“ in die- ten‘ schließt alle Personen ein, die poli- von Adolf Eichmann durch israelische ser oder jener Form beteiligt. tische Gegner des Kommunismus sind, Geheimdienstler im Jahre 1960: „Es ist In Argentinien selbst reichten die Verbin- also auch Faschisten, Ustaschen und unsere Christenpflicht, ihm zu verzei- dungen bis hinauf zu Präsident Perón. ähnliche Gruppierungen.“ (Zitat: S. 227) hen, was er getan hat.“ (Zitat: S. 107) Die Fäden zogen hier nicht zuletzt sein Bischof Alois Hudal1, seit 1923 Rektor Neben Kardinal Caggiano war auf ar- langjähriger persönlicher Freund, der des Priesterkollegs „Santa Maria dell’ gentinischer Seite vor allem der Bischof deutsche Geschäftsmann Ludwig Freu- Anima“, war in Rom eine bevorzugte von Tucumán, Agustin Barrère, an der de, offenkundig ein Agent des vom Nazi- Anlaufstelle für deutsche Kriegsverbre- Organisation des „Rattenpfades“ be- Außenminister v. Ribbentrop organisier- cher, die von ihm mit einer neuen Iden- teiligt. Dieser schon greise Kirchenfüh- ten Geheimdienstes „Informationsstelle tität und wohl auch mit Bargeld versorgt rer, der Caggiano 1946 bei seiner Rei- III“, er galt allgemein als der „informelle wurden, um die Flucht nach Lateina- se zum Vatikan begleitet hatte, witterte NS-Botschafter in Buenos Aires“ (S. 113), merika antreten zu können. Hudal, „ein überall „Verschwörungen“ von Kommu- sowie der ehemalige SS-Hauptsturm- enthusiastischer Unterstützer Hitlers“, nisten und Freimaurern, denen es ent- führer Carlos Fuldner, der bereits 1945 machte von sich reden, indem er „religi- gegenzutreten gelte. Da er aus früheren nach Buenos Aires gelangt war. Letz- öse Zeremonien für die Nazi-Besatzer in Zeiten über exzellente Beziehungen zu terer baute 1948 im Auftrag Peróns in Italien“ (S. 238) abhielt. Zum Dank be- führenden Personen des französischen Genua und in Bern getarnte Stützpunk- kam er das „Goldene Ehrenzeichen der Faschismus verfügte, lag es nahe, dass te auf, von denen aus Kriegsverbrecher NSDAP“ verliehen! Wes Geistes Kind er er nach dem Kriege erfolgreich alle He- nach Argentinien geschleust wurden. war, demonstrierte der Bischof öffent- bel in Bewegung setzte, um Kollabora- Dabei sicherte er sich unter anderem lichkeitswirksam durch eine unüberseh- teure des Vichy-Regimes nach Argenti- die Unterstützung schweizerischer Be- bar große Flagge des „Großdeutschen nien zu verbringen (vgl. S. 105f.) amter und des schon genannten katholi- Reiches“, die er bis zur Befreiung Roms Besonders skandalös war, dass unter schen Priesters und kroatischen Kriegs- auf seinem Dienstfahrzeug angebracht den Augen des Papstes Kriegsverbre- verbrechers Draganovic (vgl. S. 142ff.). hatte. Zu den von ihm „weiter geleiteten“ cher in solchen Klöstern in Rom ver- Auch der Sohn des oben genannten Lud- SS-Führern gehörten zum Beispiel der steckt wurden, zu denen „weltliche“ wig Freude, Rodolfo, spielte eine wichti- aus US-amerikanischer Haft geflohene Strafverfolgungsbehörden keinen Zu- ge Rolle. 1946 ernannte ihn Perón zum Kommandant des Vernichtungslagers tritt hatten, da sie völkerrechtlich als Leiter der „Nachrichtenabteilung“, einer Treblinka, Franz Stangl, der „Schlächter Bestandteil des vatikanischen Territori- Art Geheimdienst, der koordinierend die von Lyon“ genannte SS-Hauptsturmfüh- ums galten. Uki Goni zitiert aus diplo- Immigration von NS-Kriegsverbrechern rer Klaus Barbie2 sowie einer der Ver- matischen und Geheimdienstberichten steuern sollte. antwortlichen der Euthanasie-Aktion, der USA und Großbritanniens, aus de- Die Frage, ob es nachweisbar ist, dass SS-Hauptsturmführer Gerhard Bohne. nen hervorgeht, welche Kriegsverbre- eine geheime Organisation der ehema-

86 ligen SS-Angehörigen steuernd und len- le bis heute nicht zu klärende Entschei- Gesicht stehen, denn es sind ihm mög- kend diese Fluchtbewegung in Gang dungsabläufe rekonstruierbar sein, die lichst viele Leser zu wünschen. Zuletzt: hielt (die geheimnisvolle „Odessa“), ist mit der Organisierung des „Rattenpfa- Bei einer Neuauflage wäre eine erneu- angesichts des bei Uki Goni ausgebrei- des“ zusammenhängen, dürften die ein- te Lektorierung des Buches sinnvoll. teten Materials fast nebensächlich.4 Er- schlägigen Unterlagen gesperrt bleiben. Redundanzen wären ebenso zu tilgen wiesen ist, dass ein dichtes Netzwerk, Denn an einer Erkenntnis kommen wir wie eine Straffung des Textes in die- bestehend aus führenden Repräsen- nach den Forschungen des Autors nicht sem oder jenem Kapitel. Der Autor ver- tanten der katholischen Kirche und der vorbei. liert sich gelegentlich in ein Gewirr von argentinischen Regierung, dem Roten Auch weltweit gesuchte, besonders üb- Nebenstraßen und kleinen Gassen, ehe Kreuz sowie Strukturen von ehemaligen le Kriegsverbrecher und Massenmör- er atemlos wieder auf die Hauptstraße SS-Führern und Nazi-Kollaborateuren der vom Schlage eines Adolf Eichmann, seiner nicht immer systematischen Dar- aus verschiedenen Ländern, nicht zu- Erich Priebke und Dr. Josef Mengele ge- stellungsweise zurückfindet. letzt aus Kroatien, aber auch aus Frank- langten mit Hilfe der katholischen Kir- Auch Schaubilder könnten helfen, man- reich, Belgien und der Slowakei, ein mit che schließlich nach Lateinamerika. Uki che der von Uku Goni aufgedeckten großem finanziellen und organisatori- Goni hat den Umständen ihrer jeweili- Strukturen und Organisationen dem Le- schen Aufwand gestricktes Fluchtunter- gen Flucht übrigens eigenständige Kapi- ser verständlicher und nachvollziehba- nehmen initiiert und durchgeführt hat- tel gewidmet. rer werden zu lassen. te. Dabei waren viele Akteure im Spiel. Zusammenfassend sei hervorgehoben: Nichts von alledem mindert aber den Manche von ihnen, Diplomaten und Po- Wer dieses überaus wichtige Buch aus Rang dieser Veröffentlichung, die un- lizei-Offiziere, halfen nur punktuell, an- der Hand legt, wird dies nicht ohne Ge- ser Wissen über die Flucht von Nazi- dere, besonders der Vatikan und Kleri- fühle des Zorns und der Erbitterung tun Kriegsverbrechern nach Lateinamerika ker in Italien und Argentinien, waren von können. Kaum, dass die Befreiung Euro- und die perfiden Handlungen ihrer ver- Beginn an in die Unternehmungen ein- pas vom Hitlerfaschismus durch die al- meintlich hochreputierlichen Helfer so gebunden. Dem Autor ist zuzustimmen, liierten Truppen vollzogen worden war, ungemein bereichert, ja auf ein neues wenn er schreibt: „Nur die katholische kaum, dass die damals nach und nach Niveau hebt. Kirche war in der Lage, sämtliche Fäden bekannt werdenden, beispiellosen Ver- dieses gigantischen Unternehmens zu- brechen des Nazi-Regimes die Weltöf- Dr. Reiner Zilkenat sammenzuhalten.“ (S. 222) fentlichkeit erschütterten, gelang es Vieles lief parallel, von einer einzigen Or- nicht wenigen seiner Urheber, Organi- ganisation, die hier, alles steuernd und satoren und Nutznießer, einen sicheren 1 Zu Hudal und den Aktivitäten des Vatikans, die leitend, tätig geworden ist, wird man Aufenthalt in Lateinamerika zu finden. Flucht von NS-Kriegsverbrechern zu organisieren, nicht reden können. Es gab vielmehr Dies war nur möglich, indem Institutio- vgl. Ernst Klee, Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen, 4. Aufl., Frank- mehrere Strukturen, die den Kriegsver- nen, die sich bester Reputation erfreu- furt a. M. 2002. brechern hilfreich auf ihrem Weg nach ten, den Tätern mit einem ungeheuer 2 Barbie wurde allerdings von Bischof Hudal nach La- Lateinamerika zur Seite standen. Ob großen Aufwand an Ressourcen halfen, teinamerika auf Bitten des US-amerikanischen Ge- heimdienstes verbracht, in dessen Dienste dieser man je das ganze Ausmaß des „Ratten- ihrer gerechten Strafe zu entgehen. Da- „Kommunismus-Experte“, der sich im Kampf gegen pfades“ wird rekonstruieren können, bei spielte der Vatikan die Hauptrolle. die französische Widerstandsbewegung der denk- hängt nicht zuletzt davon ab, wann und Gonis brisante Forschungsergebnisse bar grausamsten Mittel bedient hatte, inzwischen getreten war. in welchem Umfang die Akten des Vati- sind in Deutschland von einem Klein- 3 Vgl. Reiner Zilkenat, Papst Pius XII. und der Holo- kans für den Zeitraum von 1945 bis in verlag, der „Assoziation A“, veröffent- caust. Einige Anmerkungen zur neueren Forschung, die fünfziger Jahre hineinreichend, der- licht worden. Sollte „renommierten“ in: Antisemitismus und Demokratiefeindschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert. Festschrift zum einst zugänglich gemacht werden. Op- Verlagen hier der Mut gefehlt haben, 60. Geburtstag von Dr. Horst Helas, hrsg. v. d. AG timismus ist hier nicht am Platze. So diesen Band in ihr Programm aufzu- Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Partei- lange innerhalb der katholischen Kir- nehmen? Es wäre sehr begrüßenswert, vorstand der Linkspartei.PDS, Berlin 2007, S. 60ff. 4 Vgl. hierzu neben dem in der Anmerkung 1 genann- che dezidiert konservative Kräfte ton- wenn die Bundeszentrale für Politische ten Buch von Ernst Klee den folgenden Aufsatz: angebend bleiben, die zumindest in Bildung Uki Gonis Buch kostengünstig Gerhard Paul, Zwischen Selbstmord, Illegalität und peinlichste Erklärungsnöte, wenn nicht vertreiben würde, auch der verdienst- neuer Karriere. Ehemalige Gestapo-Bedienstete im Nachkriegsdeutschland, in: derselbe u. Klaus-Mi- sogar in eine Legitimationskrise gerie- vollen „Schwarzen Reihe“ des Fischer chael Mallmann, Hrsg., Die Gestapo – Mythos und ten, würden aus den eigenen Akten vie- Taschenbuch Verlages würde es gut zu Realität, Darmstadt 2003, S. 529ff., bes. 536f.

Rosen auf dem Marschweg der Braunen

Richard Gebhardt, Hrsg., Rosen auf senschaftlich analysierend, kenntnis- vor der Verharmlosung der Faschisten ge- den Weg gestreut. Deutschland und reich und aus der Erfahrung argumen- warnt hatte: „Ihr müsst sie lieb und nett seine Neonazis, PappyRossa Verlag, tierend oder mit dem Mittel der Satire, behandeln, erschreckt sie nicht – sie sind Köln 2007. sind sie sich einig in der Notwendigkeit, so zart! Ihr müsst mit Palmen sie umwan- Vierzehn Autoren haben sich in diesem aufzuklären und zu mahnen. deln, getreulich ihrer Eigenart! Pfeift eu- Sammelband von PapyRossa zusam- Herausgeber Richard Gebhardt erinnert rem Hunde, wenn er kläfft – Küsst die Fa- mengefunden, um den deutschen Neo- mit dem Titel an Kurt Tucholsky, der schon schisten, wo ihr sie trefft!“ nazis, vor allem aber ihrem Umfeld, in 1931 mit dem ironisch polemisierenden Und er nennt als Anliegen, der Frage dem sie erstarken, nachzuspüren. Wis- Gedicht „Rosen auf den Weg gestreut“ nachzugehen, wo und von wem trotz

87 gelegentlicher Verbote, Auflagen und Weigerung, die Unrechtsurteile der NS- dungen und die Propaganda der Unter- Strafverfolgungen der extremen Rech- Militärjustiz aufzuheben, sprechen Bän- nehmerverbände ab. ten immer wieder der Weg bereitet de. Jelpke schlussfolgert daraus die völ- Wie all dem widerstehen, wie verhin- wird. Die erfreulich knappen und gut lige Konzeptionslosigkeit des Staates dern, dass die braunen Bataillone (ob lesbaren Beiträge greifen ineinander im Umgang mit der extremen Rechten mit Glatze oder im Nadelstreifenanzug) über. So findet sich Analytisches über und weist auf den Rechtsruck im allge- den Weg für ihren Marsch frei finden? Neonazis in den Beiträgen von D. Cle- meinen gesellschaftlichen Diskurs hin. Es ist nicht primär Anliegen des Buches, mens zum Aufstieg der NPD und zu ih- Wer manche Debatte im Bundestag ver- dies zu untersuchen. Einige Feststellun- rer Praxis in kommunalen und Landes- folgt, muss ihr zustimmen, dass die so- gen dazu sind jedoch enthalten und be- parlamenten, von M. Klarmann über die genannte gesellschaftliche Mitte selbst denkenswert. Kameradschaften, von Christina Kaindl den rechten Rand salonfähig gemacht Anne Rieger hebt hervor, dass längst die über den verlogenen völkischen Antika- hat und viele Sonntagsreden über die Theorie widerlegt worden ist, wonach pitalismus, von Gerd Wiegel über neo- politische Auseinandersetzung mit der der Kapitalismus zwangsläufig im Fa- faschistische Alltagskulturen und bei A. extremen Rechten nichts als bloße Heu- schismus enden müsse. Aber der Weg, Rieger, die historische Lehren aus der chelei sind. die Möglichkeit dahin, von einer be- Weimarer Republik und die europäische Ergänzt und illustriert werden diese stimmten Kapitalfraktion gewollt, muss Dimension des Problems aufnimmt. Einschätzungen im Beitrag von Diet- immer wieder frühzeitig durch demo- Der Schwerpunkt der Beiträge be- rich Kuhlbrodt „Normalität : Nazi“, der kratischen und sozialen Protest verhin- handelt die gesellschaftlichen Bedin- sich unter anderem mit der Verherrli- dert werden. Auch Konstantin Wecker gungen, unter denen die Gefahr eines chung der führenden Nazis im Film aus- hält als Fazit seines interessanten Bei- neuen Faschismus auftaucht. Erschre- einandersetzt und aus seiner früheren trages fest, dass am Anfang der Aufbau ckende Beispiele über die Pervertierung Tätigkeit als Oberstaatsanwalt bei der einer antifaschistischen Massenbewe- des Rechtsstaates in der Auseinander- Zentralstelle zur Verfolgung von Nazi- gung stehen muss und er betont, dass setzung mit dem Rechtsextremismus, verbrechen in Ludwigsburg den Blick schließlich jede Abwehr von NPD und die Blindheit bundesdeutscher Justiz auf die staatlich unterbundene und ver- anderen Naziorganisationen nur halbe auf dem rechten Auge und die miese schleppte Behandlung der nazistischen Arbeit sein wird, wenn wir die Allianz Rolle der Geheimdienste beinhaltet der Untaten lenkt. Wie der Staat heute Anti- zwischen Antifaschismus und Pazifis- Beitrag von Ulla Jelpke. Die hohe Zahl faschismus als Delikt zur Verfolgung be- mus nicht wiederherstellen. Angemerkt rechtsextremer Gewalttaten und deren handelt, zeigt auch der Lehrer M. Csas- sei noch, dass dem Band ein Beitrag der zögerliche Verfolgung bei gleichzeitiger zkocy am eigenen Beispiel. Das Bild der junger Leute, die nun wahrlich keine Ro- Kriminalisierung des antifaschistischen umfassenden Begünstigung rechtsex- sen auf den Weg der Nazis streuen, son- Protestes, der Skandal um das geschei- tremer Umtriebe in der Bundesrepub- dern aktiv diesen blockieren, gut getan terte NPD-Verbotsverfahren, die mili- lik (politisch, vor Gericht und finanziell) hätte. taristisch-faschistische Traditionspfle- runden die Beiträge über die Vertriebe- ge in der Bundeswehr bei gleichzeitiger nenverbände, die studentischen Verbin- Dr. sc. Roland Bach

Deutsche Zustände 2007

Deutsche Zustände, Folge 6, hrsg. von lichkeit, Etabliertenvorrechte, Islamo- dem moralischen Niedergang der Ge- Wilhelm Heitmeyer, edition suhrkamp, phobie, Abwertung von Obdachlosen, sellschaft einhergehen. Über ein Drittel Frankfurt a. M. 2008. Homophobie, Abwertung von Behinder- der Deutschen stimmen der Aussage zu, Die Reihe publiziert seit 2002 Ergeb- ten, Sexismus, Antisemitismus und Ras- dass sich die Gesellschaft wenig nützli- nisse eines auf zehn Jahre konzipierten sismus. che Menschen nicht (mehr) leisten kön- Langzeitprojektes. Die Autoren unter Den Zusammenhang von gesellschaftli- ne. Etwa 40 Prozent meinen, dass zu- Leitung von Wilhelm Heitmeyer unter- chen Entwicklungen und GMF bündeln viel Rücksicht auf Versager genommen suchen Gruppenbezogene Menschen- die Autoren in die Worte „unübersicht- würde. Über ein Viertel stimmt der Mei- feindlichkeit (GMF) in Deutschland.1 In- liche Perspektiven“ (S. 13ff.) Diese se- nung zu, dass moralisches Verhalten ein zwischen ist ein weltweit einzigartiger hen sie auf dem Gebiet der objektiven Luxus ist, den wir uns nicht mehr leisten Datensatz entstanden. Entwicklung der sozialen Problemla- können (vgl. S. 32). Ab 2008 werden solche Vergleichsun- gen. Ein weiteres Indiz erkennen sie da- Es wird deutlich, dass heute eine Ideolo- tersuchungen in neun europäischen rin, dass der in Politik und Öffentlichkeit gie der Ungleichwertigkeit grassiert, die Ländern stattfinden. Das wäre natürlich vielbeschworene Aufschwung in der in der Abwertung schwacher Gruppen forschungspolitisch und wissenschafts- Wahrnehmung der Bevölkerung nur be- zum Ausdruck kommt. Heitmeyer und organisatorisch wie kulturell eine begrü- dingt angekommen sei (S. 17). Die For- seine Kolleginnen und Kollegen befra- ßenswert neue Qualität. scher stellen fest, dass im öffentlichen gen die Ökonomisierung des Sozialen Von GMF sprechen die Verfasser dann, Diskurs eine neue Gruppe zum Objekt nach den Folgen für „Überflüssige“ und wenn sich die Anlehnung oder Abgren- „Gruppenbezogene Menschenfeindlich- „Nutzlose“. zung nicht gegen einzelne Personen, keit“ wird: die Langzeitarbeitslosen und Die Wertschätzung von Vielfalt fördert sondern gegen Gruppen richtet. Neun Hartz-IV-Empfänger vgl. (S. 25). Der an- nach ihren Erkenntnissen die Gleich- Elemente werden zum Syndrom der gebliche Aufschwung, reduziert man ihn wertigkeit von Gruppen. Wichtiges wird GMF zusammengefasst: Fremdenfeind- auf nackte Arbeitslosenziffern, kann mit der Leser auch zur Gewalt finden.

88 Diversität, also die Vielfalt von Kulturen, dem Buch einen starken Teil an „Fallge- Bierdosen sind Hartz-IV-Stelzen“. Die- Religionen, Lebensstilen und Weltan- schichten“ beizufügen, von denen jede ses Buch sei nachdrücklich zum Studi- schauungen in einer Gesellschaft wird – für sich wertvoll ist. So etwa zu Mügeln, um empfohlen. insbesondere in Einwanderungsländern- zur Regensburger CSU, zur Frage, ob mehr und mehr zur Realität. Ostdeutschland Vorbild für den Rechts- Professor Dr. Rolf Richter Dazu breiten die Autorenviel Material, extremismus in der Westpfalz ist, über viele Beobachtungen und Fakten aus. Erlebnisse auf einer Lesereise durch 1 Ausführlich zum Projekt GMF und zu den Bänden 3 Es gehört zu dem auch in den voran- eine faschisierte Provinz oder Bruno und 5 siehe Rundbrief, H.1–2/2005, S. 76/77 und gegangenen Bänden Praktiziertem, Schreps Beitrag „Die neue Verhöhnung: H.1–2/2007, S. 89–91.

Wie links ist der Antisemitismus?

Matthias Brosch/Michael Elm/Nor- gestellt werden. Dies entspreche auch suchte – im Gegensatz zu Bauer – eine man Geißler/Brigitta Elisa Simbürger/ dem klassischen marxistischen Ver- säkulare Interpretation des Judentums, Oliver von Wrochem, Hrsg., Exklusive ständnis der kapitalistischen Klassen- indem er sie weniger mit ihrer Religion Solidarität. Linker Antisemitismus in herrschaft als Willensverhältnis denn als vielmehr mit Geld und Egoismus as- Deutschland, Metropol Verlag, Berlin als Strukturverhältnis. Während also soziierte. Erst in seiner späteren Analy- 2007, 440 Seiten ‚der reiche Jude‘ willentlich ausbeute- se des kapitalistischen Systems sollte „Sie rufen auf gegen das Judenkapital, risch handle und schlecht sei, werde Marx sich von seiner simplifizierenden meine Herren? Wer gegen das Juden- dem Proletariat ein inhärentes kom- Sicht verabschieden. Kneers Interpreta- kapital aufruft, meine Herren, ist schon munistisches Selbstverständnis zuge- tion von Marx‘ „Zur Judenfrage“ bleibt Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht schrieben. Während ‚der Kapitalist‘ Ver- unbefriedigend. weiß. Sie sind gegen das Judenkapital rat an der eigenen Nation begehe, seien Am Beispiel der Widerstandsgruppe und wollen die Börsenjobber nieder- die Arbeiter und Arbeiterinnen qua ihrer ‚Baum‘ zeigt Regina Scheer, wie jüdi- kämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapi- körperlichen und ehrlichen ‚deutschen scher Widerstand gegen den National- talisten nieder, hängt sie an die Laterne, Arbeit‘ Teil der Nation. Und vor dieser sozialismus nach 1945 negiert oder zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie Sicht sei auch die KPD keineswegs ge- unter den kommunistischen Kampf sub- stehen Sie zu den Großkapitalisten, den feit gewesen. So wurde auch der politi- sumiert wurde. Im antifaschistischen Stinnes, Klöckner?“ Diese Äußerung der sche Gegner als ‚Judas‘ diffamiert und Gedenken der DDR spielte die jüdische Ruth Fischer, ihres Zeichens Mitglied im bezeichnenderweise den Nationalso- Identität der Mitglieder der Gruppe kei- Zentralkomitee der KPD, vor nationalis- zialisten vorgeworfen, sie würden mit ne Rolle. Dabei ist es unerlässlich, die tischen Studenten im Sommer 1923 ist den Juden paktieren. „Während Frei- Gruppe ‚Baum‘, als jüdische Gruppie- bekannt und sie steht für ein unrühmli- korpsmitglieder gegen „die Juden“ wet- rung zu betrachten. Herbert Baum hatte ches Kapitel in der Geschichte der Lin- terten, wurden sie von der Roten Fahne große Schwierigkeiten, Kontakt zu über- ken in Deutschland. Doch war die anbie- selbst als „Juden“ bezeichnet.“ (S. 75) geordneten Stellen der illegalen KPD zu dernde Haltung der KPD der 20er Jahre ‚Jude‘ dient demzufolge stets als Vehikel bekommen. Aus Sicherheitsgründen – nur ein ‚Ausrutscher‘? War dieser Kurs zur Exklusion. wohl auch aus Mißtrauen – ordnete der lediglich ein strategisches Mißgeschick Markus Kneer nähert sich dem ratio- Kommunistische Jugendverband 1935 in den Krisenjahren um 1923 und 1930? nalistischen Antijudaismus der Philo- an, sich von Juden und Jüdinnen fern- Oder ist Antisemitismus von Anbeginn sophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, zuhalten, um nicht das eigene Leben zu und bis heute ein inhärenter Bestandteil Karl Marx, Ludwig Feuerbach und Bruno gefährden. Trotzdem arbeiteten in etli- linker Bewegungen? In 22 Beiträgen des Bauer. So unterschied Hegel zwischen chen kommunistischen Widerstands- Bandes „Exklusive Solidarität. Linker der „vernunftautonome(n) Tugendreligi- gruppen auch jüdische Menschen. Die Antisemitismus in Deutschland“ suchen on Jesu“ (S. 30) und der jüdischen Ge- ‚Baum-Gruppe‘ jedoch hielt sich bei ih- die Autorinnen und Autoren Antworten setzesreligion, die auf den Mosaischen rer Widerstandstätigkeit keineswegs an und gehen davon aus, dass Antisemitsi- Gesetzen beruhe. Das Judentum sei die die KPD-Kriterien für die Arbeit in der Il- mus von links „ein struktureller bzw. ko- Manifestation religiöser Unfreiheit, weil legalität: Als Juden liefen sie Gefahr je- härenter Bestandteil linker Ideologeme dem Herrscher Gott der Mensch als den Moment entdeckt und deportiert und Bewegungen war und ist“ (S. 12). Knecht gegenüber stünde. Bauer kon- zu werden; ihnen blieb keine Zeit; sich Olaf Kistenmacher stellt eindeutig fest: statierte den Unwillen des Judentums unauffällig zu verhalten, schien keinen Die KPD vertrat einen fetischistischen zur eigenen Emanzipation, indem er den Sinn zu machen. Antikapitalismus, der die Juden mit dem Juden vorwarf, dass sie – im Gegen- Aus psychoanalytischer Perspektive be- Kapital personifiziert. Dabei folgt Kisten- satz zum Christentum – nicht zu ihrer trachtet Ilka Quindeau einen mehr laten- macher dem wertkritischen Historiker Selbstauflösung drängen: „Denn trotz ih- ten Antisemitismus in der Bevölkerung. Moishe Postone, der aufzeigt, wie den res Anspruchs auf Emanzipation wollen Dabei bezieht die Psychoanalytikerin Juden eine Macht zugeschrieben wird, sie sich nicht auf das Ziel der Geschich- ihre praktischen Erfahrungen mit Pa- die keineswegs notwendig konkret, son- te zubewegen.“ (S. 39) Dass die Juden tientinnen und Patienten, die mithilfe dern in der Regel abstrakt ist. So ist es als individualisierte Wesen der Emanzi- antisemitischer Äußerungen „eine Ab- möglich, dass Juden gleichzeitig unrein, pation des „wirklichen Menschen“ zum wehr von unerträglichen eigenen Stre- faul und schwach, andererseits aber „Menschen selbst“ im Wege stünden, bungen oder Kränkungen“ (S. 160) voll- auch intelligent und übermächtig dar- meinte auch Marx zu wissen. Er ver- ziehen, ein. Dass sich derlei zunächst

89 völlig normale Abwehrhaltungen antise- mus der DDR zu erklären, was waren rer vergangenheitspolitisch motivierten mitisch ausdrücken können, führt Quin- seine Ursachen und Antriebe, und ist Deutschlandkritik“ (S. 316) suchen. Ein deau auf die politische Kultur unserer er als antisemitisch zu klassifizieren?“ intellektueller Vertreter dieser israel- Gesellschaft zurück. Sie konzentriert (S. 285) Haury untersucht die Poli- solidarischen Linken widmet sich denn sich dabei auf die Beobachtung des se- tik der DDR gegenüber Israel, die sich auch der Verteidigung des Staates Israel kundären Antisemitismus, den sie auch nach einer kurzen Phase pro-israeli- und der Etablierung eines „zionistischen „Schuldabwehrantisemitismus“ (S. 162) scher Einstellung schnell gegen den jü- kategorischen Imperativ“ (S. 403). Ste- nennt, und stellt dessen moralisch be- dischen Staat richten sollte. Dafür wa- phan Grigat versucht im Dokumentati- freiende Funktion heraus: „So wird mit ren einerseits die Blockkonfrontation onsteil die Widersprüche zwischen lin- der hellen Empörung nicht nur die an- im Kalten Krieg und andererseits das ker Staatskritik und Verteidigung Israels tisemitische Äußerung eines anderen deutsch-deutsche Verhältnis (Allein- in harmonische Bahnen zu lenken und kritisiert, sondern zugleich auch die ei- vertretungsanspruch) verantwortlich. wirft der Linken vor, „dass der linke An- genen, zumeist unbewußten antisemi- Zudem sah sich die DDR auf der Seite tisemitismus, dass das mal indifferente, tischen Tendenzen bekämpft.“ (S. 161) der „Völker“ der so genannten Dritten mal von Mißtrauen geprägte, mal hass- Des weiteren wird erläutert, wie die Er- Welt und vertrat demzufolge eine an- erfüllte Verhalten der Linken gegenüber lebnis-Generation ihre eigene Schuld tiimperialistische Position, die „deutli- Israel nicht aus Radikalität ihrer Gesell- und Mittäterschaft leugnet und statt- che Verbindungen zum Antisemitismus schaftskritik resultiert, sondern aus ei- dessen die Schuldgefühle an die Kin- auf(weise)“ (S. 290). Anders als andere nem Mangel an Radikalität.“ (S. 399) Ei- der und Enkel delegiert, die zwar die sozialistische Staaten, die ebenso anti- ne rigorose Abfuhr erhalten Grigat und Schuld anerkennen, zugleich aber his- zionistisch argumentierten, sieht Hau- die so genannten „Antideutschen“ hin- torisieren und sich damit der eigenen ry im DDR-Antizionismus zudem ein gegen in Elfriede Müllers streitbarer Po- Verantwortung (nicht Schuld) zu ent- deutsches Spezifikum der Schuldab- sitionierung „Die deutsche Linke auf ziehen suchen. So scheint die Verant- wehr. Israel sei eigentlich gar kein jü- Identitätssuche – Antisemitismus und wortung abwehrende Anerkennung der discher Staat. Da der Staat erst nach Nahostkonflikt“. Schuld im Kodex der nationalen Identi- 1945 geschaffen wurde, bestünden kei- Mit seiner Vielzahl an Beiträgen setzt tät in Deutschland einen Platz gefunden ne Ansprüche auf Wiedergutmachung. sich der Band „Exklusive Solidarität“ zu haben, was allerdings paradox wirkt: Außerdem fungiere die Darstellung der ausführlich mit der Geschichte des lin- „Während der Antisemitismus traditi- Juden als Täter und ihre Gleichsetzung ken Antisemitismus in Deutschland von onellerweise die nationale Identität zu mit den Nazis – ein beliebtes Symbol den Anfängen bis in die Gegenwart aus- fördern sucht, indem er die jüdische Be- des Antisemitismus nach Auschwitz – einander. Leider wirkt das Buch etwas völkerung zu Fremden erklärt und aus- in Deutschland als Entlastung eigener aufgebläht, ob der inhaltlichen Wie- grenzt, erreicht er gegenwärtig damit Schuld. Trotzdem stellt der Autor des derholungen in einigen Artikeln. Trotz- gerade das Gegenteil.“ S. 164) Beitrages heraus, dass die DDR stets dem sollte sich, wer sich mit linker Scheiden sich schon bei der Identifizie- am Existenzrecht Israels festhielt. Geschichte und innerlinker Debatten rung von Antisemitismus die Geister, Dies stand für die linken und linksradi- beschäftigt, nicht scheuen dieses Werk so stellt sich beim Antiamerikanismus kalen Bewegungen in der BRD keines- zur Hand zu nehmen. Mögen auch ei- die Frage, was das sei, noch deutlicher. wegs unumwunden fest, wie gleich meh- nige Artikel tendenziös erscheinen, zei- Während Christian Schwaabe in sei- rere Aufsätze (Martin Kloke, Wolfgang gen sie doch die Notwendigkeit eigene nem Beitrag dem Antiamerikanismus Kraushaar, Philipp Gessler) in sich mit- als links verstandene Inhalte zu hin- einen antiimperialistischen Charakter unter wiederholenden Argumentationen terfragen. Nur in der Bewußtwerdung, zuspricht, dem eine verkürzte und fal- zu zeigen versuchen. Während militan- dass es linken Antisemitismus tatsäch- sche Kapitalismuskritik zugrunde liege, te Gruppen wie die ‚Bewegung 2. Juni‘ lich gibt, können wir dem Kapitalismus die ausschließlich auf die USA projiziert ihrem wortgewaltigen antisemitischen wirksam begegnen, ohne ihn verein- wird, hält der bekannte Politikwissen- Antizionismus auch (Gewalt-)Taten fol- facht darzustellen. Und obwohl Grigat schaftler Andrei Markovits Antiameri- gen ließen, beobachtet Martin Kloke in schreibt „Über den Antizionismus und kanismus für untrennbar verbunden mit seinem Artikel „Israel – Alptraum der Antisemitismus der Linken braucht dem Jahrhunderte alten Antijudaismus deutsche Linken?“ bei anderen, die sich man heute nicht mehr viele Worte zu und Antisemitismus Europas. Ersterer später als Grüne und Sozialdemokraten verlieren. Er ist mittlerweile akribisch zeigt, wie aus einer Domäne der politi- in Regierungspose sahen, einen Wan- aufgearbeitet worden.“ (S. 391), so fin- schen Rechten vor 1945 ein Ideologie- del von Palästina-Solidarität zur Vertei- det eine Auseinandersetzung mit die- muster der Neuen Linken nach 1945 be- digung des Existenzrechts Israels. Und ser Thematik in weiten Teil der Linken ziehungsweise mit 1968 wird. Kloke weist – wenn auch nur kurz – auf bis dato nicht statt. „Exklusive Solidari- Seit einigen Monaten heiß diskutiert die „Antideutschen“ hin, die seit Anfang tät“ kann einen Beitrag zu dieser Ausei- wird, ob es „Antisemitismus in der der 90er die linksradikale Gefühlswelt nandersetzung leisten. DDR“ gab. Auch Thomas Haury stellt durcheinander bringen und „in ihrem Is- sich die Frage: „Wie ist der Antizionis- raelkult vor allem nach Bestätigung ih- Yves Müller

90 Neofaschisten im Landkreis Stade

Vereinigung der Verfolgten des Nazire- Ergebnisse bei den jeweiligen Wah- dass der so genannte Stahlhelm e. V., gimes/Bund der Antifaschisten – Kreis- len aufgelistet und die Kandidaten vor- eine anderswo nicht so sehr in Erschei- vereinigung Stade – Hrsg., Neofaschis- gestellt. Dabei werden diejenigen Orte nung tretende Gruppierung, in Stade mus im Landkreis Stade. Chronologie genannt, in denen die Neonazis beson- offensichtlich in den neunziger Jahren und Organisationen 1996 – 2005, Sta- ders erfolgreich waren. Bei den Bun- eine wichtige Rolle spielte. Zwar löste de 2006. destagswahlen im September 2005 sich der „Stahlhelm“ im Juni 2000 auf, Die vierzigseitige Broschüre der VVN erhielt die NPD insgesamt 1,5 Prozent es bleibt aber die Frage zu beantworten, bietet eine Skandal-Chronik des Wir- der im Landkreis Stade abgegebenen wohin es seine „Führer“ und Mitglieder kens neofaschistischer Kräfte im Land- Stimmen. In den Orten Wangersen (8,8 getrieben hat, die immerhin an „Wehr- kreis Stade. Dabei sind mehrere Er- Prozent) und Bargstedt (5.9 Prozent) sportübungen“ mit „Kleinkaliberschie- kenntnisse, die sich bei der Lektüre konnte sie jedoch die 5-Prozent-Hür- ßen“ teilnehmen konnten. ergeben, hervorzuheben: de problemlos überspringen. Bei den Bei der Lektüre dieser kleinen, aber ge- Erstens die Vielzahl von Aktionsformen, Erststimmen konnte der Direktkandidat haltvollen Schrift wird deutlich, wie sehr mit denen die Braunen Antifaschisten Adolf Dammann, der bis 2003 als Filial- die Neofaschisten mit ihren Aktionen in bedrohten, um öffentliche Aufmerk- leiter einer Großbank tätig war und sich den neuen und den alten Bundeslän- samkeit buhlten bzw. ihre nazistischen seit den späten fünfziger Jahren in rech- dern, hier in einem Landkreis Nieders- Propaganda-Formeln verbreiteten. Das ten Organisationen tummelt, teilwei- achsens, offenbar flächendeckend tätig reichte z. B. von Hakenkreuz-Schmiere- se bemerkenswerte Ergebnisse erzie- sind. Um das genaue Ausmaß und die reien, auch an einem Kindergarten, über len: 7,6 Prozent in Brest (Zweitstimmen: einzelnen Inhalte und Formen ihrer Ak- das Verteilen von Flugblättern bei der 4,5 Prozent), 7,4 Prozent in Wangersen tivitäten präziser und vollständiger als Eröffnung antifaschistischer Ausstellun- (Zweitstimmen: 8,8 Prozent), in Bargs- bisher überschauen und politisch ana- gen, dem Gröhlen neonazistischer Paro- tedt 6,6 Prozent (Zweitstimmen: 5,9 lysieren zu können, wünscht man sich len in der Öffentlichkeit, bis zum Tele- Prozent), in Dammhausen 5,5 Prozent mehr Chroniken wie diese. Sie sei des- fon-Terror gegen jüdische Bürgerinnen (Zweitstimmen: 4,6 Prozent). halb zur Nachahmung anderswo drin- und Bürger, die ausgerechnet am 8. Mai Drittens ist der Anhang der Broschü- gend empfohlen. des Jahres 2001 mit Sprüchen wie „Hau re von Nutzen, der in aller Kürze, aber Interessenten können diese Publikation ab nach Auschwitz!“, „Deine Freundin präzise, eine „Begriffsbestimmung zum Preis von 1,50 Euro unter folgender nach links und Du nach rechts!“ oder des Neofaschismus“ sowie einen gu- Adresse käuflich erwerben: Vereinigung „Scheiß Jude!“ konfrontiert wurden. In ten Überblick zu den Organisationen der Verfolgten des Naziregimes – Bund diesem Zusammenhang wurde die loka- der extremen Rechten im Landkreis der Antifaschisten, Kreisvereinigung le Presse akribisch ausgewertet. Stade sowie eine biographische Skiz- Stade, Postfach 2105, 21661 Stade. Zweitens werden die Wahlaktivitäten ze des schon erwähnten NPD-Funktio- der Neonazis detailliert dargestellt, die närs Dammann bietet. Dabei fällt auf, Dr. Reiner Zilkenat

Lügen haben kurze Beine

Horst Busse, Hans-Herbert Nehmer u. verantwortliche und sachkompetente Verfolgung von NS-Verbrechen wie des Dieter Skiba, Herrn Henry Leides Um- Juristen genau das Gegenteil von dem Ministeriums für Staatssicherheit der wälzung der Geschichte der DDR – „An- taten, was er ihnen unterstellte: Kriegs- DDR (MfS) und der dafür zuständigen ti-Leide“, hrsg. v. d. Gesellschaft zur verbrecher unnachsichtlich zu verfol- Gerichte. rechtlichen und humanitären Unter- gen und – wenn die juristische Beweis- Exakt widerlegen die Autoren die zahl- stützung e. V. (GRH e. V.), Berlin 2007. lage eine Bestrafung dieser Verbrecher reichen Unwahrheiten und böswilligen Zu Recht polemisieren die obigen Auto- ermöglichte bzw. erforderte – sie zu Unterstellungen des Herrn Leide in Be- ren gegen die Publikation aus dem Hause verurteilen, so wie das z. B. im Fall des zug über die angebliche „Schonung“ Birthler, verfasst von Henry Leide unter Heinz Barth auch geschah, der als SS- von NS-Kriegsverbrechern in der DDR. dem reißerisch klingenden Titel „NS-Ver- Offizier führend am Massaker gegen Sie belegen, dass der Autor die von ihm brecher und Staatssicherheit – Die ge- die Zivilbevölkerung des französischen benannten Vorgänge und Dokumen- heime Vergangenheitspolitik der DDR“. Dorfes Oradour am 10. Juni 1944 be- te mit Wertungen versah, die der DDR Der besagte Autor bemühte sich in sei- teiligt war. grundsätzlich politische Nachlässig- nem umfangreichen Buch, die Rechts- Dass die Recherchen über die Teilnah- keit bei der Verfolgung von NS-Straftä- pflege und insbesondere die Verfolgung me an Kriegsverbrechen viel Zeit und tern unterstellen. Die Autoren des „An- von faschistischen Kriegsverbrechern Umsicht erfordern und eine Anklage- ti-Leide“ verweisen mit Recht darauf, in der DDR zu diskreditieren, indem er schrift, die zur Verurteilung besagter dass es in der DDR keine weiteren ver- behauptete, Hunderte ehemalige Nazis Taten exakter und beweisbarer Fakten urteilungswürdigen Täter zum Komplex seien in der DDR nicht verfolgt bzw. so- bedarf, schien Herrn Leide nicht zu in- Oradour gab und demzufolge auch kei- gar bewusst versteckt worden. teressieren bzw. seine Auftraggeber er- ne von der Strafverfolgung verschonten Offensichtlich hat Herr Leide nicht da- warteten von ihm die bewußte Verleum- „Informellen Mitarbeiter“ des MfS vor- mit gerechnet, dass die Autoren als dung der zuständigen Staatsorgane zur handen waren.

91 Sie betonen ferner: „Es gab auch kei- reichen Anhang widerlegen die Autoren tion hat einen entscheidenden Mangel: ne ungesetzliche Einflussnahme oder sowohl die Behauptungen des Herrn Dem in diese Thematik nicht eingeweih- andere Vorgaben des MfS auf Staats- Leide mit exakten Angaben über die Ab- ten Leser des Buches fehlen die Fakten, anwälte oder Gerichte. Die rechtliche urteilung aller Arten von NS-Verbrechen die zur Polemik mit Leide führte; man Abgrenzung der Zuständigkeiten wurde einschließlich des Vorganges gegen den kann sie nur aus dem Text als Kenner strikt eingehalten.“ (S. 112) Kriegsverbrecher Heinz Barth. der behandelten Materie entnehmen. Im Nachwort (S. 114ff.) verweisen die Ein umfangreiches Personenregister er- Bei einer zweiten Auflage sollte besag- Autoren auf die Eigentore des Henry möglicht ein schnelles Nachschlagen ter Mangel beseitigt werden. Leide in Bezug auf den Umgang mit den zu dem im Buch genannten Persönlich- von ihm genannten Quellen. Im umfang- keiten. Die sicher notwendige Publika- Dr. Günter Wehner

Ein Handbuch gegen Neonazis

Fabian Virchow u. Christian Dorn- mel „Heil Hitler“ nutzen – die Acht als walt hat. Zum „Kampf um die Parlamen- busch, Hrsg., 88 Fragen und Antwor- achter Buchstabe im Alphabet. Die Pu- te“ gehören die Untersuchung, wer die ten zur NPD. Weltanschauung, Strate- blikation ist in 12 Kapitel gegliedert, in NPD wählt, wen die NPD als Kandida- gie und Auftreten einer Rechtspartei – denen jeweils zwischen vier und zwölf ten aufstellt, wie die NPD – Vertreter in und was Demokraten dagegen tun kön- Fragen zur NPD behandelt werden. den kommunalen und in den Landespar- nen, Wochenschau – Verlag, Schwal- Im ersten Kapitel wird kurz auf die Ent- lamenten agieren. bach/Ts. 2008. stehung der NPD 1964, auf ihre An- In den letzten Jahren gibt es kaum ein Lang ist die Liste von Meldungen, die fangserfolge, den anschließenden tie- Gebiet des gesellschaftlichen Lebens, uns laufend aus Presse und Fernsehen, fen Absturz und ihren Wiederaufstieg wo die NPD nicht versucht hätte, stär- aus Parlamentsdebatten und Polizei- in den neunziger Jahren eingegangen, keren Einfluss zu erlangen und dazu ihre berichten über die NPD entgegenfällt. ein Vergleich zur heutigen NPD gewagt. Positionen auszuarbeiten. Exemplarisch Es sind Meldungen über demagogi- Es folgt eine Auseinandersetzung mit werden dafür die Positionierungen der sche Volksverhetzung und Naziverherr- den weltanschaulichen Grundlagen der NPD in der Wirtschaftspolitik, zum Um- lichung, über die Beteiligung ihrer Mit- NPD. Analysiert werden ihre ideologi- weltschutz, zur Bundeswehr, zu Auslän- glieder an Gewalttaten, über Prozesse, sche Anknüpfung an die NSDAP, ihr Ge- derfragen, zu den Landwirten und zur Verurteilungen und Betrügereien, über sellschaftsmodell, ihr Geschichtsbild, EU erläutert. Es fehlen auch nicht die Biografien mit übler Vergangenheit. ihr verbogenes Demokratieverständnis, Antworten zum Bildungskonzept, zum Ruhmesblätter finden sich nicht darun- ihr völkischer Nationalismus und die Agieren hinsichtlich der Arbeitslosig- ter. Und so ist es auch nur folgerichtig, antisemitischen Züge, ihr Anti-Amerika- keit. dass eine Gesamtschau auf diese Partei nismus und ihre antitürkischen Auslas- Näheres zum Führungspersonal der NPD kein menschlicheres Bild ergibt. sungen. Ihr Verhältnis zum Christentum erfährt der Leser im Kapitel VII. Vorge- 43 Autoren haben die Herausgeber in und die zunehmenden heidnischen Po- stellt werden dabei allerdings nur die diesem Band versammelt, alle ausge- sitionen werden ebenso benannt wie ih- Spitzenfunktionäre Voigt, Apfel, Marx, wiesen durch ihre wissenschaftliche re Träume vom „Vierten Reich“. Gansel, Pastörs, Molau, Börm, Rieger Kompetenz, ihre journalistische Quali- Die im dritten Kapitel versammelten und die drei aus der Kameradschafts- fikation oder ihre praktische Erfahrung. Beiträge beantworten die Frage, wie szene in die NPD-Führungsriege aufge- Die Beiträge zeigen den aktuellen Stand die NPD an die Macht gelangen will. nommenen Wulff, Heise und Tegethoff. der Auseinandersetzung, Abschluss der Ihre Strategie und Taktik wird deutlich Das Kapitel „Infrastruktur und Ressour- Recherche war in der Regel der 31. Ju- an ihrem sogenannten „Vier-Säulen- cen“ gibt Antwort auf die Fragen nach li 2007. Sie sind alle erfreulich kurz Konzept“, ihren Bemühungen um ei- dem organisatorischen Aufbau der NPD, gehalten, umfassen jeweils 2–3 Sei- ne „Volksfront von rechts“, ihrer Taktik nach ihren Finanzquellen (ihre wich- ten. Sie haben keine einheitliche Hand- der „Wortergreifung“ beim Eindringen tigste sind die Zuweisungen aus dem schrift, auf eine Glättung wurde ver- in öffentliche und gegnerische Veran- Staatshaushalt), nach dem Propaganda- zichtet, um die verschiedenen Ansätze staltungen, sowie an ihren Anstrengun- apparat, dem NPD-Ordnungsdienst, der erkennbar bleiben zu lassen. Statt ei- gen, intellektuell aufzurüsten. Ausführ- Schulung ihrer Aktivisten und ihren Im- ner Monografie wurden bewusst Aspek- licher werden Antworten zur Strategie mobilien-Geschäften. te ausgewählt, die in Gesprächen und „national befreite Zonen“ zu schaffen, Erfreulich ist, dass man im Buch un- Diskussionen, im Schulunterricht oder zur Jugendarbeit, zur Rolle der „Schul- ter „Geschlechterverhältnis“ das sonst am Arbeitsplatz, in der politischen Bil- hof – CD“ und der NPD – Jugendorga- oft nur in Einzelveröffentlichungen ver- dungsarbeit oder beim Engagement in nisation „Junge Nationaldemokraten“ streute Wissen über die Frauen in der Parteien, Gewerkschaften, Netzwerken vorgelegt. NPD, über ihr Frauen – und Männer- oder Jugendgruppen immer wieder auf- Die „Säulen“ im NPD – Konzept wer- bild, über den Ring Nationaler Frauen, tauchen. den in einzelnen Kapiteln detaillierter über die Stellung der NPD zur Emanzi- Die Summe von 88 Fragen und Antwor- behandelt. Zum „Kampf um die Straße“ pation der Frauen und zur Familie kom- ten ist kein Zufall. Mit der Titelwahl wird gehören Fragen und Antworten, welche primiert vorfindet, was angesichts der aufmerksam gemacht, wie die Neonazis Themen dort aufgegriffen werden, wie vermehrten Anstrengungen der Partei, seit Jahren bevorzugt die Zahl als Ver- die Organisation der Demonstrationen in diesem Bereich zu punkten, nicht un- schlüsselung für die verbotene Grußfor- erfolgt, welche Position die NPD zur Ge- wichtig ist.

92 Über die Notwendigkeiten, Möglichkei- ten, Erfolge und Misserfolge der NPD, Bündnispartner zu finden, informiert das Kapitel X. Im einzelnen gibt es hier Aussagen zum Pakt mit der DVU, zum Bestreben, Gewinne aus dem teilweisen Zerfall der Republikaner zu ziehen, über das Verhältnis zu den neonazistischen Kameradschaften und den Skinheads sowie den Rechtsrockern. Eingefügt sind in diesem Teil auch die internatio- nalen Kontakte der NPD zu den Neona- zis im Ausland. Die Untersuchungen münden folgerich- tig in die aktuelle Debatte um das Ver- bot der NPD. Die Autoren antworten auf die Fragen nach den juristischen Über- legungen, den bisherigen Erfahrungen mit Verboten rechtsextremer Organisa- tionen, auf die Bedenken, dass ein Ver- bot der NPD ja nicht die neonazistische Ideologie aus der Welt schafft und die Gefahr des Verdrängens der Neonazis in den Untergrund entsteht, überzeu- gend, ohne natürlich in diesem Rahmen abschließende Urteile abgeben zu kön- nen. Dass sie weitgehend ein Verbot dieser neonazistischen Partei befürwor- ten, lassen sie deutlich erkennen. Das abschließende Kapitel XII erfasst ausschnittartig einige Aspekte, wie der NPD entgegengetreten werden kann. Er- örtert werden zunächst Möglichkeiten auf der kommunalen Ebene, die immer wieder erhobene Forderung nach „argu- mentativer Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit“, die Wege in der Sozialar- beit und Jugendarbeit zur Eindämmung der neonazistischen Einflüsse und der Beitrag, den die politische Bildung dabei leisten kann. Hervorgehoben wird, dass die NPD auch ein Thema für den Schul- unterricht ist. Es schließen sich Überle- gungen an, wie der NPD auf der Straße, in den Parlamenten, in den Wahlkämp- fen und mit Hilfe der Medien begegnet werden kann. Auch zu den Aufgaben der Gewerkschaften und den Möglichkeiten von Justiz und Polizei gibt es Antworten. Mit dem umfangreichen Sachwissen, den guten Argumentationen und der meist analytischen Tiefe hält der Leser ein dauerhaftes und hilfreiches Nach- schlagewerk in der Hand, das nicht für den Staub im Bücherschrank ge- dacht ist, sondern für den täglichen po- litischen Kampf. Nicht ausgeschlossen, dass es bei Neuauflagen in den einzel- nen Kapiteln immer wieder aktualisiert werden kann. Auch die Richter in Karls- ruhe können es schon zu den Akten fü- gen, wenn es wieder einmal um das Ver- bot der NPD geht.

Dr. sc. Roland Bach

93 Rundbrief ISSN 1864-3833 Der Rundbrief erscheint bei Bedarf, in der Regel Gegenstand der Rundbriefe sind Analysen, Erfah- einmal je Quartal, und wird herausgegeben von rungen, Nachrichten, Rezensionen und Untersu- der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim chungen zum Thema Rechtsextremismus und Bundesvorstand der Partei DIE LINKE. rechter Zeitgeist. Damit soll die antifaschistische V.i.S.d.P. Dr. Reiner Zilkenat Arbeit demokratischer Organisationen und inter- essierter Personen unterstützt werden. Der Rund- Adresse: Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin brief ist über die AG zu beziehen. Telefon: 030 24009-447 Zuschriften und Beiträge sind willkommen. Telefax: 030 24009-215 Layout und Satz: MediaService GmbH E-Mail: [email protected] BärenDruck und Werbung