Rockband 1964: Du kannst sein, wer du willst, wenn du nur eine Gitarre in der Hand halten kannst

114 DER SPIEGEL 27/2012 Kultur

LEGENDEN Die Letzten ihrer Art Sie lieferten den Sound zur sexuellen Revolution, zum Studentenprotest und zum Drogenrausch. Seit 50 Jahren tun die Rolling Stones Dienst, immer noch als die größte Band der Welt. Von Georg Diez und Thomas Hüetlin

ick und Keith, was soll man dazu men, die eine Menge Geld bezahlten, um wird dann 70 Jahre alt sagen: zwei Helden, zwei Irre, sich mit den Stones zu schmücken. „Ich sein, 69, Charlie Watts 72, Mzwei Untote? Der eine ein teufli- will nur eines: eine verdammte Platte von und selbst Ron Wood, der erst 1975 ein- scher Engel, der andere ein Gitarrist wie den Jungs. Alle 18 Monate.“ stieg, hat dann mit 65 das offizielle engli- eine rauchende Lunte. Narziss und To- Es gibt Regeln. Und es gibt die Rolling sche Rentenalter erreicht. tenkopf. Eines der großen Paare des 20. Stones. Sie haben eine Karriere darauf auf- Mit diesen Tourneen erzielen die Rol- Jahrhunderts. gebaut, sich nicht an die Regeln zu halten. ling Stones Rekordeinnahmen, zuletzt Sie passen im Grunde nicht zusammen, Chess hat flinke, grüne Augen. Sein mit „A Bigger Bang“: 558 Millionen Dol- der ehemalige Student und der Arbeiter- Haar ist grau. Seinen Musikverlag hat er lar. Der nicht nachlassende Erfolg, auch sohn, der Geschäftsmann und der Selbst- verkauft. Er spüre das Alter, sagt er. Den in Zeiten elektronischer Downloads, hat zerstörer. Gemeinsam veränderten sie Rücken, die Knie. Am Wochenende habe die Mitglieder der Band sehr reich ge- den Lauf der Dinge. er Zahnschmerzen gehabt, so schlimm, macht. Jaggers Vermögen wird auf 300 Sie verkörpern das Helle und das dass er dachte, jemand bohre mit einem Millionen Dollar geschätzt, Richards soll Dunkle, das Hedonistische und das Dio- Dolch in seinem Kiefer herum. Ein Höl- 270 Millionen schwer sein, Watts 125 Mil- nysische unserer Zeit – ihre lionen, Wood 55 Millionen Geschichte erzählt davon, Dollar. wie wir wurden, was wir sind. Was da zu besichtigen ist Im Kleinen: wie der Erfah- in Fußballstadien oder auf rungsraum von Krieg, Not matschigen Feldern, sind die und Hunger ersetzt wurde großen Überlebenden aus durch den Erlebnisraum von der Stunde null des Pop. Die Liebe, Spaß und Konsum. Letzten ihrer Art. Im Großen: wie der Westen Bill Clinton hält Lobreden herrschte. auf die Band und ließ sie zu Und so ist ein Blick auf 50 seinem 60. Geburtstag auf- Jahre Rolling Stones auch ein spielen. Hollywood-Regisseur Blick auf das vergangene hal- Martin Scorsese sagt: „Sie ga- be Jahrhundert, das die Ära ben meiner Generation eine des Pop war. „Das Gesicht Stimme, eine Form.“ von Keith Richards“, sagt der Sie sind die Band der Baby- britische Historiker Simon boomer, jener Generation,

Schama, „sagt mehr über das / GETTY IMAGES MICHAEL WARD S. 114: (R.) VERLAG / PRESTEL (L.); MIRRORPIX ALAMY die das Konzept der Jugend 20. Jahrhundert als jedes an- Rolling-Stones-Plakate 1964, 1973: Sex als Waffe für sich erfand, den Sex, den dere Dokument.“ Spaß, wie man heiratet, Kin- Alle Wut und alle Widersprüche haben lengeschäft, der Rock’n’Roll, sagt Chess. der kriegt, einander betrügt und sich sich in dieses Gesicht gegraben, die Er sei froh, dass er nicht mehr dabei sei. scheiden lässt, wie man lebt und liebt und Schönheit, der Sex, die Verschwendung, Aber die Rolling Stones? altert, indem man nicht altert. die Gefahr. Es war eine tolle, es war eine „Denen ist das egal“, sagt Chess. „Ihre Die Stones lieferten den Soundtrack harte Zeit. Manche haben überlebt, man- Welt ist anders. So wie der Mars anders zur eigentlichen Revolution des 20. Jahr- che nicht, manche gerade so. ist.“ hunderts – Jahre bevor ein paar Studen- „Als ich mit den Stones fertig war, habe Ihren ersten Auftritt hatten die Rolling ten in Paris und Berlin auf die Barrikaden ich meinen Revolver in den East River Stones am 12. Juli 1962 in einem Londo- stiegen. Und diese Revolution hatte einen geschmissen“, sagt Marshall Chess. Er ist ner Club namens Marquee. Seit 50 Jahren kurzen Namen: Pop. 70 Jahre alt und steht im 10. Stock seines sind sie im Dienst. Pop schaffte die Gesellschaftsgrenzen Büros in einem denkmalgeschützten Art- Aber was für ein seltsames Ding ist die- ab, indem er die Geschmacksgrenzen déco-Wolkenkratzer in New York. ses Jubiläum? Es gibt keine Tournee zu abschaffte. Pop war ein Umsturz der Chess war Geschäftsführer bei den Rol- diesem Anlass, keine CD, sie ziehen es Verhältnisse, der Machtarrangements, der ling Stones, er hat einige ihrer wichtigsten vor zu schweigen, es gibt nur den schnell Art zu reden, zu denken, zu leben. Pop Platten produziert, er hat ihnen Häuser zusammengeleimten Bildband „The Rol- war eine Revolution, die ästhetisch be- besorgt, Autos, Frauen, Drogen, alles, da- ling Stones: 50“ im Prestel Verlag mit lust- gann und politisch und ökonomisch trium- mit es weiterging. „Es ist mir egal, was losen Kommentaren. Goldenes Jubiläum? phierte. du tust“, sagte ihm Ahmet Ertegün, Prä- Ohne uns. Eine Welttournee ist für das Pop war eben nicht nur Oberfläche, sident von Atlantic Records, einer der Fir- kommende Jahr geplant. Glitzer und Sex, Pop war auch Demokra-

DER SPIEGEL 27/2012 115 Kultur tisierung, Pop war Gute-Laune-Kapita - nomics. Richards, der Sohn eines Arbei- der eines Krieges, den Englands Eltern lismus – Pop war eine Revolution, die ters, hing an einer Kunstschule rum, wo geführt hatten. Es war nicht ihr Krieg ge- links begann, im kollektiven Widerstand er Mülltonnen explodieren ließ, einem wesen. Aber sie erbten den Mangel, die gegen die herrschenden Verhältnisse, und Kakadu Aufputschpillen fütterte und auf Strenge, die Nachkriegsdepression. die rechts endete, im Individualismus dem Klo Gitarre spielte. Er war, wie man Dagegen wehrten sie sich. Mit ihrer und der Frage, wer mehr kann und wer im Britannien der Nachkriegszeit zu sa- Musik, mit ihrem Stil, mit ihrer Kultur: mehr hat. gen pflegte, Futter für die Kriege in den Es war die Erfindung des Teenagers aus Im Grunde stellte Pop Karl Marx auf Kolonien. Ein Prolet, dem Untergang dem Geist der aufblühenden Wohlstands- den Kopf: Pop veränderte die Welt, in- geweiht. gesellschaft. Denn auf einmal war auch dem er sie anders interpretierte – alt ist Gemeinsam mit dem Gitarristen Brian Geld da, zuerst in Amerika, wo das alles schlecht und jung ist gut, und du kannst Jones hausten die beiden in einer Zwei- anfing, dann in Europa: Geld für Autos, sein, wer du willst, wenn du nur eine Zimmer-Wohnung, sie waren arm und Geld für Röcke, Geld für blaue Wild - Gitarre in der Hand halten kannst. hatten nicht einmal einen Namen. lederschuhe. Die Jugend war auf der Sie- Und so veränderten die Rolling Stones „Wir hatten kein Gas damals und froren gerseite der Geschichte – und veränderte die Welt, indem sie am Rand der west - uns den Arsch ab“, so geht die Geschich- den Kapitalismus, indem sie einen neuen lichen Vernunft tanzten. Sie waren die te, die Keith Richards erzählt. „Kein Was- Markt erfand. Pragmatiker des Pop. Sie hatten kein Kon- ser, nichts, alles war abgestellt. Aber end- In diesem Markt mussten die Stones zept, keinen höheren Plan. Sie waren kei- lich hatten wir einen Gig, also sagten wir: ihren Platz erst finden. „Ich wollte an ne Missionare. Sie wollten nicht Kunst Rufen wir doch mal die ,Jazz News‘ an. den Wochenenden nicht Rock, sondern sein wie die späten Beatles; sie wollten Die fragten: Wer? Jede Sekunde am Te- Blues spielen“, sagte Mick Jagger einmal. immer das pure Leben sein, groß und ge- lefon kostete wertvolles Geld. Da lag eine „Rock, das waren lauter mittelmäßige, fährlich. Platte von Muddy Waters rum, und der langweilige Typen, die in grässlichen „Die Beatles wollen deine Hand hal- erste Song darauf war ,Rollin’ Stone Theatern vor Leuten auftraten, die sich ten“, hat der amerikanische Schriftsteller Blues‘.“ Und Brian sagte in aller Panik: prügelten. Überall roch es nach altem Tom Wolfe gesagt, „die Stones wollen „Ich weiß nicht … Rollin’ Stones.“ Bier und ungewaschenen Kleidern.“ deine Stadt niederbrennen.“ Der Name traf das Gefühl einer Gene- 1963 wurde ein Mann namens Andrew Sie nahmen die Musik der Schwar - ration. Ortlos, ziellos, Geröll. Sie waren Loog Oldham ihr Manager. Was die meis- zen und ließen die weiße Mittelschichts- alle Kinder des Krieges. Brian Jones war ten abstieß – der raue, schwarze Sound, jugend dazu tanzen. Es war die lässigste 1942 geboren, Keith und Mick 1943. Kin- die schmutzige Lust in ihren Songs, der Art, die Rassenschranken zu Sänger, der sich bewegte wie überwinden. eine Königskobra: Oldham „Sie spielten den Blues“, war sich sicher, dass er Großes sagt Marshall Chess, den ver- vor sich hatte. „Es war Sex. pönten Blues, die Leidens- Und ich war einen Schritt vor musik der schwarzen Skla- dem Rest der Meute dran.“ ven – der Vater und der Onkel Oldhams nächste Idee war von Chess, Kinder jüdischer es, diese anarchische Haltung Einwanderer aus Polen, hat- gegen die erfolgreichste Band ten in Chicago eine Firma für des neuen Jahrzehnts, ge - diese Musik gegründet: Chess gen die fröhlich-beschwingten Records. Beatles zu stellen. „Wir ma- In Amerika spielte mit dem chen aus euch genau das Ge- Feuer, wer den Blues sang. genteil dieser netten, sauberen, Der Blues beschwor den Sex, ordentlichen Beatles. Und je er galt als liederlich, böse, mehr die Eltern euch hassen, kinderverderbend. Jede Blues- desto mehr werden die Kids

Band war eine Band auf der / DAPD KOCH JOERG euch lieben“, sagte Oldham. Flucht. Gitarrist Richards in München 2003: Zu viel Geld auf dem Tisch „Wartet nur ab.“ In England gab es kaum Der Trick funktionierte. Läden, die solche Platten ver- Die Zeitungen geißelten die kauften, man musste sie per Band als „langhaarige Mons- Post bei Chess bestellen, und ter“, ihre Platten rasten an die genau diese Platten waren der Spitze der Charts. In Amerika, Grund, warum Keith Richards während ihrer ersten Tour- 1961 Mick Jagger ansprach, nee, lästerten Radio-DJs über auf dem Bahnsteig von Dart- die Flöhe, die in den Haaren ford, einem kleinen Ort in der Stones herumspringen der Nähe von London. Jag - würden, bei einem Fernseh- ger trug zwei Platten unter auftritt sagte Dean Martin dem Arm, eine von Chuck über einen Trampolinspringer, Berry, die andere von Muddy der in der gleichen Show auf- Waters. trat: „Das ist der Vater der Jagger und Richards hatten Rolling Stones. Seitdem er sie die Grundschule zusammen singen gehört hat, versucht er, besucht, dann hatten sich ihre sich umzubringen.“ Wege getrennt. Jagger, der Nicht einmal beim Besuch Sohn eines Lehrers, ging spä- der Chess-Studios in Chicago

ter aufs Gymnasium, studierte O'NEILL / GETTY IMAGES TERRY stießen sie auf Verständnis. an der London School of Eco- Nachwuchs-Band Rolling Stones in London 1963: Ortlos, ziellos, Geröll „Mein Onkel sagte: Da sind so

116 DER SPIEGEL 27/2012 LICHFIELD / GETTY IMAGES Brautpaar Mick und Bianca Jagger in St.-Tropez 1971: Macbeth mit Models

Typen mit einem komischen Akzent“, er- Wenn Gibbs spricht, fällt auf, dass ihm der zum musikalischen Kern der Stones zählt Marshall Chess. „Kümmer du dich ein paar Vorderzähne fehlen. Diese klaf- werden sollte: Gitarrenriffs, die, eingezo- um sie. Ich traute meinen Augen nicht. fende Lücke im Mund und ein silbernes gen wie Stahlstreben, ein minimalisti- Sie tranken Whiskey direkt aus der Fla- Glöckchen für den Butler: Gibbs ist ganz sches Gebäude zusammenhielten. sche, auf der Straße riefen ihnen die Leu- britische Oberschicht, er hat immer dazu- Diese raffinierte Einfachheit blitzte auf te hinterher: ihr Homos. Typen wie sie gehört, auch als er die Eliteschule von Eton bei ihren späteren Hits, immer wieder, hatten wir in Chicago noch nie gesehen.“ verlassen musste wegen Ladendiebstahls. bei „Jumpin’ Jack Flash“, „Sympathy for Sex, das merkten die Rolling Stones Er hatte mintgrüne Samtslipper geklaut. the Devil“, „Honky Tonk Women“ und schnell, war eine Währung, die man in Gibbs bestärkte die Stones in ihrer „Brown Sugar“. Es war glamouröser Re- echtes Geld tauschen konnte; es war aber Ungezogenheit, ihren Skandalen. Er war duktionismus, das Bauhaus des Pop. auch eine Waffe, mit der man die Macht stolz, als sie 1965 ihr erstes Meisterstück Die Stones, eben noch Abschaum, hat- in Bedrängnis bringen konnte. Schönheit ablieferten, den Song, der die Welt der ten jetzt Geld. Sie besorgten sich Bentleys und Intelligenz gingen eine toxische Ver- Biedermänner, die Welt der Zigaretten- und andere Limousinen, marokkanische bindung ein, die das alte System mehr raucher, Konsumwetteiferer und Weiße- Teppiche und Landhäuser, und Gibbs half und mehr in Frage stellte. Hemden-Träger mit einer Zeile verhöhn- ihnen dabei. Oft, erzählt er, habe sich die Vom „Aufstieg der kreativen Klasse“ te: „I can’t get no satisfaction“. Suche nach diesen Wochenendsitzen in spricht heute der amerikanische Ökonom Es war der erste Song in der Geschichte Marihuana-Rauch aufgelöst. Sie hät ten bei Richard Florida – und die Rolling Stones des Pop, der ausdrücklich und unmiss - den Landpartien so viel gekifft, dass sie waren damals die Protagonisten dieser verständlich von Sex handelte. „Es war vergaßen, wohin sie eigentlich wollten. Minirock-Moderne, in der Mode, Musik der Sommer von ,Satisfaction‘“, notierte Schließlich klopfte im Winter 1967 die und Fotografie, Optik und Stil regierten. Andy Warhol auf der anderen Seite des alte Ordnung in Redlands, Keith Richards’ „Im Swinging London haben wir die Atlantiks, „die Stones dröhnten aus jeder Landsitz, an die Tür. „Wir hatten viel Gras Stones mit verbotenen Genüssen bekannt Tür, jedem Fenster, jedem Schrank und geraucht und LSD genommen“, erzählt gemacht“, sagt Christopher Gibbs, Kunst- jedem Auto. Es war aufregend, dass Pop- Gibbs. 18 Polizeibeamte fanden eine Grup- händler und damals eine der zentralen musik so mechanisch klingen konnte, pe vollgedröhnter Männer, dazwischen Figuren. Er steht im Garten seines Anwe- dass man jeden Song an seinem Sound die blonde , mit einem sens oberhalb von Tanger in Marokko. erkennen konnte und nicht an seiner Me- weißen Fell bekleidet. Außerdem wurden Eine Brise vom Meer weht durch die Grä- lodie: Ich meine, du wusstest, dass es ‚Sa- gefunden: ein paar gerauchte Joints und ser. Vor dem Swimmingpool serviert ein tisfaction‘ war, bevor der Bruchteil der ein grünes Samtjackett von Jagger mit Butler in weißem Jackett den Lunch. Zwi- ersten Note gespielt war.“ Amphetamin-Kapseln in der Tasche. schen Shrimps und Tomaten steht ein sil- Die sparsamen, zündenden Akkorde Die Gefängnistüren schnappten zu. bernes Glöckchen. gaben die Richtung vor für einen Sound, Keith Richards: ein Jahr. Mick Jagger:

DER SPIEGEL 27/2012 117 Kultur drei Monate. Der Sänger weinte, als er Marshall Chess wurde Geschäftsführer. le hießen Toronto, München, Montreux, das Urteil hörte. Er besorgte Richards eine Villa, die ein- Kingston, Orte, wo sie mit leerem Blick Es war ein Schauprozess, und als sol- mal für einen Banker erbaut worden war: in teuren Studios auf Gitarrenakkorde chen entlarvte ihn schließlich der Chef- Nellcôte, ein weißer, schlossähnlicher Bau warteten. redakteur der konservativen „Times“, an der Côte d’Azur. Jagger heiratete in Ein düsterer, wüster Glanz umgab sie William Rees-Mogg. „Wollen wir wirklich St.-Tropez die Tochter eines Geschäfts- jetzt, Macbeth mit Models. Es wurde eisig einen Schmetterling aufs Rad flechten?“, manns aus Nicaragua, Bianca Pérez-Mora um sie herum, und wer nicht zum inneren fragte er in einem Kommentar – es schien Macias. Es begann die Spaltung. Kern zählte, der bezahlte seinen Preis ihm wie ein Angriff auf die traditionellen „Keith versank in Drogen“, sagt Mar- wie Marshall Chess und wurde langsam Werte Großbritanniens. shall Chess. „Mick hielt es mehr mit Sex.“ wahnsinnig. Die Antwort war die Freilassung von Chess musste vermitteln, das war sein Die Mädchen, erzählt Chess, hätten mit Jagger und Richards. Die sechziger Jahre Job. „Es war mir egal, wie sehr sie sich ihm geschlafen, nur um sich ein paar Stun- hatten gewonnen, die Welt atmete freier, hassten“, sagt Chess, „solange sie in der den später Mick und Keith hinzugeben. die alte Macht hatte kapituliert – die Lage waren, miteinander zu arbeiten.“ Er widerte sich an. Als Chess 1977 in ei- Emanzipation, die Frauenrechte, die Im feuchten Keller von Nellcôte wurde nem Hotel in Montreux in den Spiegel Schwulenbewegung, die Liberalisierung ein Studio eingerichtet. In den Räumen blickte, sagt er, habe er den Tod gesehen. der Gesellschaft: Und die Rolling Stones darüber zerzauste Männer, sehr schöne Es waren die Jahre, in denen Lust über waren immer ein paar Schritte voraus. Frauen und jede Menge Drogen. Vor allem Scham siegte. Tom Wolfe nannte es die Sie hatten diesem Jahrzehnt die Musik Heroin. „Me Decade“: ich ich ich. Da war das the- geliefert – sie hatten aber immer auch das Heroin wurde zum Treibstoff von rapeutische Ich, das sich heilen wollte. Diabolische, das Satanische, die dunklen „Exile on Main Street“, dem Meisterwerk Da war das hedonistische Ich, das sich Seiten dieser Zeit beschworen, die vom der Band, dem Schlusspunkt ihrer golde- amüsieren wollte. Und in der demokrati- Tod geprägt war, vom Wüten gegen den nen Phase nach „Beggars Banquet“, „Let sierten Welt des Pop entstanden neue Hie- Vietnam-Krieg bis zur Verschwendung im It Bleed“ und „Sticky Fingers“. Gearbei- rarchien – mit den Rolling Stones ganz selbstzerstörerischen Drogenrausch. tet wurde nachts, aber für Richards war oben. Es war nicht alles Peace, Love and Hap- „nachts“ ein weiter Begriff. Sie waren die Aristokraten in diesem piness – manche verliefen sich in diesem Wenn es hieß, sechs Uhr abends im neuen System der Stars, die jetzt über die Jahrzehnt, die Beatles etwa lösten sich Keller, ging es nach Mitternacht los. Oft Sehnsüchte der Menge herrschten: Bianca 1970 auf, Paul McCartney hatte sowieso verschwand Richards auf dem Klo, um Jagger auf einem Schimmel im Studio 54, immer lieber auf einem Bau- Mick Jaggers Gesicht in Pas- ernhof gelebt als in einem tellfarben, porträtiert vom Schloss, John Lennon wollte Hofmaler jener Jahre, Andy lieber die Welt retten als die Warhol. Er hatte schon 1971 nächste Million machen: Und das Cover für „Sticky Fin- als Stones-Gitarrist Brian Jones gers“ entworfen, eine enge im Sommer 1969 tot in seinem Männerjeans mit einem ech- Pool trieb, da wirkte das wie ten Reißverschluss. Warhol eine grausame Pointe. blieb ihr Verbündeter durch Der Tod hatte sie eingeholt. die siebziger Jahre, er wollte Was sich dann aber im Dezem- von der kulturellen Energie ber 1969 im kalifornischen Al- der Rolling Stones profitie- tamont ereignete, das war tat- ren: Dabei ging die längst in sächlich das Ende einer Zeit. eine andere Richtung. 300000 Zuschauer waren ge- Jagger und Richards wa- kommen, es sollte das Wood- ren damals erst Mitte dreißig, stock des Westens werden: Als aber in der Zeitrechnung des die Rolling Stones auf die Büh- Pop waren sie schon ewig da- ne kamen, war die Stimmung bei. Und dann kam Punk schon gespannt, es gab Schlä- und spielte mit ihnen das

gereien, die Hells Angels, die GETTY IMAGES Spiel, das sie gut kannten, als Sicherheitskräfte engagiert Paar Anita Pallenberg, Richards um 1974*: Eine Familie auf der Flucht weil sie es erfunden hatten: waren, verschärften die Situa- Weg mit den alten Säcken. tion noch, und am Ende war der junge, sich einen Schuss zu setzen. Manchmal Der Druck von außen wuchs. Drinnen schöne Meredith Hunter tot, ein Schwar- blieb er stundenlang weg. in der Band ging die Spaltung weiter, der zer im grünen Anzug, erstochen von ei- Mit halbfertigen Bändern flüchtete die Kampf Jagger gegen Richards. nem der Hells Angels. Band vor der Drogenpolizei aus der Villa, Jagger wollte ein Solo-Star werden, „So etwas kann doch nur den Stones und Flucht blieb zumindest für Richards ewig jung wie Prince oder Michael Jack- passieren, Mann“, sagte Keith Richards die Hauptbeschäftigung dieser Zeit. Er son, das Dahinsiechen von Richards später. „Seien wir ehrlich, den Bee Gees sah aus wie ein Zombie, schlief mit einem nervte ihn. Jagger hatte sich zu einem könnte das nicht passieren.“ Revolver unter dem Kopfkissen. eifrigen Geschäftsmann gewandelt, den Die Stones waren angeschlagen. Außer- „Ich ging meinen Weg direkt hinunter auch das Kleingedruckte interessierte, dem waren sie theoretisch bankrott. in die Heroin-Stadt, Mick dagegen lebte Richards hielt an Totenkopf-Ring und Sie hätten die Steuern, die sie dem im Jet-Set-Land“, sagte Richards über die- Lederjacke fest und an der Auffassung, Staat schuldeten, wohl nie zahlen können. se Zeit. dass die Band keine persönlichen Bezie- Also verließen sie das Land. Sie hatten Es war Irrsinn auf dem denkbar teuers- hungen zu den Bossen der Plattenfirmen nicht mal die Rechte an ihren alten Songs. ten Niveau. Die Band charterte nun eine pflegen sollte. Weil ihr Plattenvertrag auslief, gründeten Boeing 720 samt Bar und Kamin, die Zie- „Wir sind eine verschworene Gemein- sie Rolling Stones Records, erfanden ihr schaft, wir sind gefährlich, wir wahren Markenzeichen, die rote Zunge. * Mit ihren Kindern Dandelion und Marlon. Distanz“, sagte Richards.

118 DER SPIEGEL 27/2012 „Ach, halt’s Maul, Keith, erzähl keinen Mist“, sagte Jagger. Dann redeten sie nicht mehr mitein- ander, nur noch übereinander, in der Presse. „Wenn er statt mit den Stones mit irgendeiner Schmock’n’Balls-Band auf Tour geht, schneide ich ihm die Kehle durch“, sagte Richards. „Ich liebe Keith, ich bewundere ihn … aber ich glaube kaum, dass wir je wieder zusammenarbeiten können“, konterte Jagger. Diese Prophezeiung hielt nicht mal bis zum dritten, gefloppten Solo-Album. Jagger rief wieder an. Ob man sich tref fen könne, auf Barbados. „Entweder ich bin in zwei Tagen wieder da oder in zwei Wochen“, sagte Richards zu sei- ner Familie. Auf einem Balkon mit Kas- set ten recorder, Wodka und ein paar Gi- tarren schrieben sie das Album „Steel Wheels“. Neben dem Alkohol und einer drei Jahrzehnte dauernden Hassliebe gab es einen weiteren Grund für die Annähe- rung. „Ende der achtziger Jahre“, sagt

PATRIK ANDERSSON / TRUNK ARCHIVE / TRUNK ANDERSSON PATRIK Marshall Chess, „lag auf einmal so viel Musiker Jagger, Richards: „Ach, halt’s Maul“ Geld auf dem Tisch, dass die Jungs sich anschauten und sagten: ‚Wir wären ver- rückt, wenn wir es nicht noch einmal ver- suchen würden.‘“ Es war nicht die Neuerfindung der Rol- ling Stones, aber in den folgenden Jahren wurden sie reich, richtig reich. Denn sie setzten auf etwas, das im MTV-Zeitalter eigentlich schon auf dem Müllhaufen der Popkultur gelandet war: Live-Konzerte. Im Gegensatz zu den meisten Gestalten, die durch die bunte Video-Welt stolper- ten, hatten sie ein Werk, Hunderte Songs. Und sie waren in der Lage, diese zu spielen. Sie waren wieder vorn. Sie waren eine Marke, als Marken alles waren, in den neunziger Jahren, dem Markenjahrzehnt – und so verkauften sie Tickets, T-Shirts, alles, was mit dem Logo der Stones ver- sehen war, der rausgestreckten Zunge. Und so sind sie die Band des demogra- fischen Wandels geworden, auch wenn das scheußlich klingen muss für sie. Sie sind die Band all derer, die zwar schon lange erwachsen sind, aber nicht aufhö- ren wollen, sich wie Teenager zu beneh- men. Väter mit Chucks-Turnschuhen, Mütter mit Jeansgröße 27. Die Rolling Stones drehten damit in ge- wisser Weise die Geschichte von Dorian Gray um. Sie altern vor unseren Augen, damit wir jung bleiben können.

Video: „Exile on Main Street“ – die Rolling Stones auf ihrem Zenit Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, etwa mit

ART PARTNER ART der App „Scanlife“.

119