Olaf Schmidt

Der Oboist des Königs

Das abenteuerliche Leben des Johann Jacob Bach

Roman

Galiani Berlin Verlag Kiepenheuer & Witsch, FSC® N001512

1. Auflage 2019

Verlag Galiani Berlin © 2019, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung Manja Hellpap und Lisa Neuhalfen, Berlin Umschlagmotiv Antoine de Favray, Wikimedia Commons; Ornament Unter Benutzung eines Ornaments von visnezh/Freepik Lektorat Wolfgang Hörner Gesetzt aus der Minion Satz Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-86971-185-0

Weitere Informationen zu unserem Programm finden Sie unter www.galiani.de Erster Teil

In die Ohren könnten wir wohl schreien, aber ein jeglicher muss für sich selber geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich würde dann nicht bei dir sein noch du bei mir.

Martin Luther, Erste Predigt zum Sonntag Invocavit 1522

I.

Nacht

Eisenach 1695 Sonntag Invocavit

Ein Schrei zerriss die Stille, metallisch-grell, ohrenbetäubend. Sebastian umklammerte Jacobs Hand, so fest, als zöge es ihn in eine grundlose Tiefe hinab. So hatte er sich an ihm festgehalten, als sie letzten Winter beim Eislaufen auf dem Weiher ein- gebrochen waren. Die Sache war glimpflich ausgegangen, Jacob hatte zuerst sich selbst, dann mit letzter Kraft Sebastian aus dem Wasser gezogen. Die Brüder kehrten vom Gottesacker heim, wo sie bei der Beerdigung der Witwe Heesemann gesungen hatten. Es war schon dunkel und bitterkalt. Zwar lag kaum noch Schnee, aber der Wind fegte mit schneidender Kälte durch die Straßen und Gassen. Wer irgend konnte, blieb bei solchem Wetter zu Hause. Doch sie, die Söhne des Hof- und Stadtmusikus Johann Am- brosius Bach, zählten nicht zu diesen Glücklichen. Die Musik war ihr Gewerbe, und sie kamen ihm nach, wie der Bauer sei- nen Acker pflügte, der Bäcker sein Brot buk, der Schuster seine Schuhe flickte. Vor drei Tagen war die Witwe Heesemann im Armenhaus ge- storben. Mancher hätte die Leiche lieber brennen sehen. Denn es bestand kein Zweifel daran, dass die Heesemännin eine Hexe gewesen war. Hatte Anne, ihre Magd, nicht mit eigenen Augen gesehen, wie sie sich hinter den Kornspeicher gehockt und in

9 eine Grube ihr Wasser gelassen hatte, aus der sogleich Hunderte und Tausende von Mäusen gekrochen waren? Und die Kinder, denen sie auf der Straße Nüsse geschenkt hatte, die sich in Kot verwandelt hatten? Dennoch hatte der Pfarrer darauf bestanden, sie christlich zu bestatten. Jeder wusste, dass die Leiber der Hexen, wenn sie, um ihren abscheulichen Sabbat zu begehen, auf die Hörselberge flo- gen, im Bett lagen, als wären sie tot. Und wenn sie ihre zurück- gelassenen Körper nicht mehr vorfanden … Wie ein riesiger schattenhafter Rabe raste die körperlose Un- holdin durch die Nacht und goss ihren Fluch über der Stadt aus. Sebastian zitterte. Jacob legte einen Arm um ihn, suchte nach Trostworten. Wenn sie einfach losrannten? Aber wohin? Das Schreien und Gellen war überall, der Bruder vor Schreck wie gelähmt. Da hörte es auf. Plötzlich war es still. So vollkommen still, dass Jacob der geisterhafte Schrei ganz unwirklich vorkam, als habe er ihn sich bloß eingebildet. Aber Sebastian hatte ihn nicht losgelassen. Er hatte es auch gehört. Jacob öffnete den Mund. Er wusste nicht, was er sagen sollte, aber er musste diese Grabesstille durchbrechen. Da zerfetzte abermals ein mörderischer Lärm das Schweigen, er prasselte wie Rutenstreiche auf sie nieder. Sebastian entriss ihm die Hand und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zu. Jetzt war Jacob hellwach, und mit einem Male – musste er la- chen. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, aber das Gelächter brach sich unwiderstehlich Bahn. Sebastian starrte ihn an, entsetzt, verwundert. Da stimmte er in das Lachen ein. Die beiden Brüder lachten und lachten, bis ihnen die Tränen übers Gesicht liefen. Unversehens, wie auf Verabredung schwiegen sie still und lauschten. Der Radau tobte schrecklicher denn je. Aber nicht die Heese-

10 männin heulte ihren Rachegesang, es war die Armsünderglocke der Georgenkirche, die mit ihrem schauderhaft unreinen Des die Passionszeit einläutete. Zwischen dem Sonntag Invocavit und Ostern unterblieb das volle Geläut. In dieser Zeit musste die Glocke ihren Dienst allein verrichten. Umso mehr legte sich Küster Kegenfuß ins Zeug. Er ließ das Glöcklein läuten, als wäre der Jüngste Tag angebrochen. Jacob stieß den Bruder in die Seite: »Komm, wir gehen heim.« Keiner von beiden würde zu Hause ein Wort über den Vor- fall verlieren. Über den menschenleeren Frauenplan stolperten Jacob und Sebastian hinüber zur Fleischgasse. Es war finster, und die spiegelglatten Pfützen, die Rillen und niedrigen, aber hart ge- frorenen Wälle, die Wagen und Karren im vormals weichen Boden hinterlassen hatten, boten unzählige Gelegenheiten, sich die Beine zu brechen. Die Brüder froren erbärmlich in ihren fadenscheinigen Kurrendemänteln. Zur Beerdigung der Heesemännin waren nur Pfarrer Hein- lein, der Totengräber Stülpnagel mit seinen drei Söhnen und der Chor erschienen, der außer Jacob und Sebastian heute bloß aus dem Präfekten Bienengräber und den Quintanern Schultz, Finke und Schmidt bestand. Schultz war der Einsatz als Strafe für eine unpassende Bemerkung im Religionsunterricht auf- erlegt worden. Finke und Schmidt waren schwer erkältet und hatten fast keine Stimme, aber sie durften nicht fehlen, weil ihre Familien jeden Pfennig nötig hatten. Vor Kälte bibbernd, hatten sie zwei Choräle heruntergeleiert: O Mensch, bewein dein Sünde groß und O Haupt voll Blut und Wunden. Selbst Pfarrer Heinlein hatte sich kurzgefasst. Die ganze Zeremonie hatte keine Viertel- stunde gedauert. Noch während sie den Friedhof verließen, waren die Stülp- nagels an ihre Arbeit gegangen. Die Erde, die sie am Morgen ausgehoben hatten, war längst wieder steinhart gefroren. Wie Bergleute schlugen die Männer mit ihren Spaten Brocken aus

11 dem Haufen und ließen sie Schlag auf Schlag auf den dünnen Sargdeckel krachen, der früher oder später der sich stetig ver- größernden Last nachgeben und einbrechen würde. Gerade bei Armenbegräbnissen passierte das oft. Die Stülpnagels kümmer- ten sich nicht darum, sie wollten nur die Plackerei hinter sich bringen. Den Pfarrer Heinlein kümmerte es sehr wohl. Er ver- langsamte seine Schritte und schien schon im Begriff, sich um- zuwenden. War es nicht seines Amtes, dafür zu sorgen, dass alles ordnungsgemäß und würdig ablief? Aber dann beschleunigte Heinlein wieder seinen Gang. Was würde sein Einschreiten be- wirken? Im besten Falle ein gleichgültiges Achselzucken, dazu vielleicht eine gotteslästerliche Bemerkung. Die Stülpnagels waren für ihre Schlagfertigkeit gefürchtet, bei einem etwaigen Wortgefecht konnte er nur den Kürzeren ziehen. Was sollte es? Ohnedem war ja die Seele der Heesemännin längst bei ihrem Schöpfer. Mochte ihr Leib ohne intakten Sargdeckel in der Erde ruhen, er, Leopold Fürchtegott Heinlein, hatte seine Schuldig- keit getan. Am Friedhofstor musste Finke den Pfarrer an die schuldigen Groschen erinnern. Hastig und scheelen Blickes, als wäre es ein Judaslohn, drückte Heinlein den Schülern die Münzen in die steif gefrorenen Hände. Bienengräber (als Präfekt erhielt er zwei Groschen), Schultz, Finke und Schmidt sagten ihr Dankeschön und machten sich vom Acker. Als die Reihe an Jacob und Sebastian kam, machte Heinlein keinerlei Anstalten, ihnen den sauer verdienten Groschen aus- zuzahlen. Schweigend blinzelte er sie mit seinen kurzsichtigen Gelehrtenaugen an. Die Nase in seinem langen blassen Gesicht war gerötet. Der Pfarrer zog ein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel und schnäuzte sich umständlich. Nachdem er das Tüch- lein sorgfältig wieder eingesteckt hatte, hub er an: »Liebe Kinder, auf ein Wort …«

12 Ein dumpfer Schlag, dann ein Geräusch, das an das Rascheln von Stroh erinnerte: Der Sargdeckel der Heesemännin war unter der steinschweren Last eingebrochen. Die Stülpnagels schürften ungerührt weiter. Das Poltern, mit dem die Erde im Grab lan- dete, klang nun gedämpfter. Heinlein hatte den Faden verloren. Doch gleich besann er sich. Der Pfarrer kramte in seinen Manteltaschen herum, bis er einige Münzen fand. Er drückte ihnen nacheinander die Hand. Sein Griff war schlaff und feucht, trotz der Kälte schwitzte er. Dann stülpte sich Fürchtegott Heinlein seinen Kastorhut über die Perücke und stapfte davon.

Das Haus in der Fleischgasse stand wie verlassen. Aus den Fens- tern schien kein Licht wie sonst. Kein Laut war zu hören. Ge- wöhnlich ging es hier bis in die Nacht hinein zu wie in einem Taubenschlag: Mägde, Lieferanten, Lehrjungen, Kollegen und Freunde des Vaters gaben sich die Klinke in die Hand. Un- ablässig ließ sich ein Klopfen, Feilen, Schleifen, Zupfen und Tuten vernehmen. An den Clavichorden, Cembali, den Gei- gen, Bratschen, Gamben, Kontrabässen, Lauten, den Pommern, Schalmeien, Zinken, den Posaunen und Trompeten war immer etwas zu richten, zu stimmen oder zu polieren. Dazwischen er- tönten Tonleitern, Etüden, Rigaudons, Allemanden, Fugen, Im- provisationen auf allen Instrumenten und Gesang. Klang füllte jeden Winkel des Stadtmusikerhauses. Nun war es still. Als Jacob und Sebastian den Hausflur betraten, stand der Onkel vor ihnen. Er hielt ein Talglicht in der Hand, seine Ge- sichtszüge waren durch das Flackern der Kerze unheimlich ver- zerrt. Er sagte nichts, es war, als blicke er durch die Brüder hin- durch. Hatte er sie überhaupt bemerkt? Hinter ihm öffnete sich lautlos die Tür. Es war der Kantor Dedekind. Sie erkannten ihn an seiner gedrungenen Gestalt, auf der ein viel zu großer Kopf saß. Langsam trat Dedekind an den Onkel heran, nahm ihm

13 das Licht ab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. nickte kaum merklich, fuhr sich mit der Hand übers Ge- sicht und kehrte in die Wohnstube zurück. Dedekind sah ihm kurz nach, dann wandte er sich ihnen zu. Jacob merkte, dass Sebastian und er sich wieder an den Händen hielten. Dedekind sah sie an. »Sebastian, Jacob – der Vater …« Er sprach nicht weiter. Seine Blicke schweiften ziellos im Raum umher. Er musste nicht weitersprechen, sie wussten, was er ihnen zu sagen hatte. Sie hatten es die ganze Zeit über gewusst. Als sie sich zum Friedhof aufgemacht hatten. Als sie am Grab der Heesemännin gesungen hatten. Als Heinlein sie so selt- sam angeblinzelt hatte. Als sie sich auf dem Heimweg vor dem Glockengeläut der Georgenkirche gegraust hatten. Der Vater war gestorben.

Seit im verwichenen Jahr sein Zwillingsbruder Christoph, Hof- und Ratsmusiker zu Arnstadt, plötzlich und ohne vorherige An- zeichen von Krankheit das Zeitliche gesegnet hatte, war Johann Ambrosius Bach von der Gewissheit durchdrungen, dass nun auch seine Tage gezählt seien. Nichts und niemand, weder die Mutter noch seine engsten Freunde, der Vetter Johann Chris- toph Bach und der Kantor Andreas Christian Dedekind, hat- ten ihn von dieser Überzeugung abzubringen vermocht. Pfar- rer Heinlein hatte dem Vater Vorhaltungen gemacht, ein solcher Aberglaube sei eines Christenmenschen unwürdig, ja, er halte es, geradeheraus gesagt, für eine Sünde, sich auf solche Weise selbst dem Tod zu überantworten: Deine Zeit steht in Seinen Händen! Ambrosius widersprach nicht. Und erwartete den Tod. Christoph und Ambrosius hatten sich geglichen wie ein Ei dem anderen, selbst ihre Ehefrauen hatten sie mitunter nur schwer auseinanderhalten können. Auch die Art, wie sie sich benahmen und sprachen, ihre Spielweise, ob auf der Geige (bei- der Lieblingsinstrument) oder dem Zink, war ein und dieselbe. Bei ihren Improvisationen folgten sie denselben Einfällen; Vor-

14 halte, Doppelschläge, Triller, noch die geringste Verzierung führten sie in derselben Manier aus. Ihre ganze Gemütsart war identisch: War einer der Brüder niedergeschlagen, fröhlich, ge- sund oder krank, so war es der andere auch. Es war, als wäre die- selbe Person zweimal vorhanden. Und wenn Christoph tot war, wie sollte Ambrosius am Leben bleiben? Der Tod war kein Fremder für sie, er war schon oft bei den Bachs zu Gast gewesen. Die Eheleute Johann Ambrosius und Maria Elisabeth hatten vier Kinder verloren, zuletzt vor vier Jah- ren Johann Baltasar, der nach der Lehre beim Vater als wan- dernder Musikergeselle auf der Landstraße zwischen Erfurt und Sangerhausen erschlagen worden war. Die Erfurter Vettern des Vaters, Christian und Nicolaus Bach, waren der Pest zum Opfer gefallen. Christians Sohn, der ebenfalls Johann Jacob hieß, war als Lehrjunge zu Ambrosius gekommen, ein überaus talentierter Violinist, der zu den größten Hoffnungen Anlass gab. Vor zwei Jahren hatte ihn die Kriebelkrankheit, das schreckliche Anto­ niusfeuer, befallen. Nach einer Woche Qual hatte ihn der Tod erlöst. Und es waren noch mehr, viel mehr. Die Zahl der Toten übertraf diejenige der Lebenden bei weitem. Wochen vergingen, doch Ambrosius’ letzte Stunde ließ auf sich warten. Hatte der Herr ihn vergessen? Nachts be- tete er laut: Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen, die des Todes warten, und er kommt nicht? Von seinem Amt hatte sich Johann Ambro- sius Bach beurlauben lassen. Musik mochte er nicht einmal mehr hören, die Proben durften nicht mehr im Stadtpfeifer- haus stattfinden. Die Gesellen und Lehrjungen übernahmen seine Aufgaben, so gut sie es vermochten. Aber lange konnte das nicht so weitergehen. Schon ließen Rat und Hof anfragen, wann denn der Herr Stadtmusikus seinen Dienst wieder auf- zunehmen gedenke. Seinen Kindern kam Ambrosius mehr und mehr wie ein Fremder vor. Sie betraten die Schlafkammer nur noch, um

15 Bericht zu erstatteten, wie dieser oder jener Einsatz verlaufen sei. Aber der Vater hörte ihnen nicht zu. Wie schon früher in Zeiten der Niedergeschlagenheit verließ Ambrosius sein Bett tagelang nicht. Er befahl der Mutter, ihm ein Totenhemd zu nähen, um bereit zu sein, falls Gott ihm doch noch die Gnade des Todes erwiese. Sie tat, was er wollte. Die Mut- ter pflegte ihn wie einen bettlägerigen Kranken. Sie redete mit Engelszungen auf ihn ein, wenigstens ein paar Bissen zu essen, wachte nächtelang an seinem Bett. Bald sorgten sie sich mehr um die Mutter als um den in seiner Trauer begrabenen Vater. Sie verfiel zusehends, ihre Haare wurden von Tag zu Tag grauer, bis sie ganz weiß waren. Sie, die sonst mit kraftvoller Stimme Aufträge erteilte, das Gesinde ermahnte, den Haushalt ordnete, flüsterte nur noch. Die Mutter betete oft, nicht nur morgens und abends und vor den Mahlzeiten, auch während der Arbeit, beim Kochen, bei der Wäsche. Drei Wochen nach Ostern brach Maria Elisabeth Bach ohnmächtig zusammen. Man legte sie ins Bett, neben den Vater, der seinen Kopf im Kissen vergrub. Die Mut- ter erwachte nicht wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit. Am Mor- gen nach ihrem Zusammenbruch fand die Magd sie tot im Bett. Der Vater tobte und schrie, stieß jeden weg, der sie berühren wollte, und klammerte sich an den Leichnam seiner Frau. Erst Dedekind und Doktor Burchardi vermochten ihn so weit zu be- ruhigen, dass er sie, nach zwei Tagen und zwei Nächten, frei gab. Als sie die Mutter auf dem Stadtgottesacker begruben, schien die Sonne. Es war ein heller, warmer Frühlingstag. Die Vögel sangen. Als ginge das Leben einfach weiter. Als wäre der Tod nur ein Gerücht. Jeden Morgen erwachten sie in dem festen Glauben, alles sei nur ein Albtraum gewesen. Doch dieser Albtraum erwies sich immer wieder aufs Neue als Wirklichkeit. Die Pendeluhr in der Wohnstube schlug nicht mehr, ihr Ticken ordnete nicht mehr die lautlose Unendlichkeit der Zeit. Die Tage schlichen eintönig dahin, einer wie der andere.

16 Die abergläubische Anne, ihre Magd, hatte es in dieser Gruft, wie sie es nannte, nicht mehr ausgehalten. Ihren Knecht Sam- son, ein gutmütiger, aber geistesschwacher Riese, hatten die Ereignisse völlig durcheinandergebracht. Er schlich den gan- zen Tag um das Haus herum, machte sich sinnlos im Stall zu schaffen und sprach mit niemandem. Die Lehrlinge und Ge- sellen trieben sich in den umliegenden Dörfern herum, spielten auf eigene Rechnung, auf Taufen, Hochzeiten und anderen fro- hen Anlässen. Jacob, Sebastian und Salome geisterten durch das menschenleere Haus. Sie verzehrten, was noch in der Speise- kammer vorhanden war, legten sich hin, wenn sie müde waren, schliefen in ihren Kleidern. Der Vater war nach wie vor nicht ansprechbar. Er wälzte sich in seinem Bett und bettelte Gott um den Tod an. Salome stellte ihm jeden Morgen eine Schüssel mit Hafergrütze in die Kam- mer, die er nie anrührte. Sie waren Gefangene, gefangen in einer trostlosen Nacht, die kein Ende nehmen wollte. Zwischen Schlaf und Aufwachen war Jacob einmal der Ge- danke gekommen: Wenn nun nicht die Mutter, sondern alle anderen, der Vater, Salome, Sebastian und er selbst, gestorben wären? War die Vorstellung so abwegig? So musste es doch sein, wenn man tot war. Wenn sie aber selbst gestorben waren, hätten sie nicht in den Himmel kommen müssen? Doch mit dem, was Dedekind und Heinlein ihnen über den Himmel erzählt hatten, hatte die Düsternis, die sie umgab, nichts zu tun. Also waren sie entweder noch am Leben – oder in der Hölle. Allerdings schien es zwischen den beiden Möglichkeiten keinen nennenswerten Unterschied zu geben. Selbst diese Nacht nahm ein Ende. Irgendwann, es konnten nur ein paar Tage vergangen sein, aber sie waren ihnen wie eine Ewigkeit vorgekommen, stand der Kantor Dedekind vor der Tür. Mit einem Blick erfasste er die Lage und nahm die Dinge in die Hand. In den ersten Stunden drang kein Laut aus der Schlafkammer.

17 Irgendwann hörte man leises Reden. Dazwischen langes Schwei- gen. Am dritten Tag ließ sich ein lautes Geschrei vernehmen. Dedekind, der im Unterricht nie die Stimme erhob, den nichts aus der Ruhe zu bringen vermochte, betete laut, er bedrohte den Vater, er schalt und brüllte. Als der Kantor die Kammer ver- ließ, war sein Gesicht bleich vor Erschöpfung. Aber er hatte ge- siegt. Mit unnachgiebiger Beharrlichkeit und übermenschlicher Langmut war es ihm gelungen, sich in das finstere Verlies, in das der Vater seine verwundete Seele gesperrt hatte, Einlass zu ver- schaffen und die bösen Geister, die Ambrosius quälten, auszu- treiben. Als der Vater sich von seinem Lager erhob und mit un- sicheren Schritten in der Stube umhertappte, staunten sie ihn an, als sei er wahrhaftig von den Toten auferstanden. Und war es nicht so? Johann Ambrosius Bach glaubte nicht mehr, seinem Bruder nachsterben zu müssen. Sogar vor seinen Kindern legte er das Bekenntnis ab: Er habe sich geirrt. Ihr Verstand ist ver- finstert, und sie sind fremd geworden dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, durch die Verstockung ihres Herzens. Sich selbst dem Tode zu überantworten, war eine Sünde. Gott strafte ihn zu Recht, wenn ER ihn zum Witwer, seine Kinder zu Waisen machte. Ambrosius hatte Seinen Richt- spruch vernommen. Und lebte weiter.

Im November, ein halbes Jahr nach Elisabeth Bachs Tod, hei- ratete der Vater Barbara Margaretha Bartholomaei, eine ver- witwete Schwägerin des Kantors Dedekind. Wie bei Zweitver- heiratungen üblich, wurde keine Hochzeitsfeier abgehalten, Pfarrer Heinlein traute das Paar in aller Stille im Stadtpfeifer- haus. Barbara Margaretha Bartholomaei, geborene Keul, war an- derthalb Jahrzehnte jünger als Ambrosius. Zwei Männer waren ihr hintereinander nach kurzer Ehe gestorben. Gegen die Kin- der benahm sich die Stiefmutter weder freundlich noch feind-

18 selig. Niemals hörte man Barbara Margaretha sich über irgend- etwas beklagen, aber sie freute sich auch über nichts. Sie lachte nie, sie weinte nie. Es war, als sei alles, was an menschlichen Regungen einmal in ihr gewesen war, restlos verbraucht. Auch nach der Wiederverheiratung trug sie stets ihre Witwentracht. Der Vater, der sich früher, zumal wenn er bei Hofe auftrat, gerne à la mode gekleidet hatte, ging ebenfalls nur noch im schlichten schwarzen Rock einher. Das Einzige, was die beiden Neuver- mählten miteinander verband, war ihre Trauer. Die Stiefmutter brachte zwei Töchter ins Haus, Catharina, zwölf, und Christina, neun Jahre alt, verwilderte Geschöpfe, die sich in einer Art Geheimsprache miteinander verständigten, überhaupt unter sich blieben und ihren Stiefgeschwistern das Leben zur Hölle machten. Catharina und Christina kannten keine Verbote, sie taten, wonach immer ihnen der Sinn stand, und dazu gehörte nicht die Hausarbeit. Die blieb an Maria Sa- lome hängen, die sich bitter beim Vater über die bösen Schwes- tern beklagte. Ambrosius zeigte wie immer Verständnis, erklärte sich jedoch in dieser Angelegenheit für nicht zuständig. Salome zog sich, wie sie es immer getan hatte, in die Speisekammer zu- rück und richtete sich an dem Gedanken auf, dass ihre Tage in gezählt waren. Bald würde sie ihren eigenen Haushalt führen. Ihre Verlobung mit dem Kürschnermeister Andreas Wie- gand in Erfurt war seit einem halben Jahr beschlossene Sache. Jacob und Sebastian war solcher Trost nicht beschieden. Auch für sie war das Stadtpfeiferhaus ein ungemütlicher Ort geworden. Nach Möglichkeit hielten sie sich dort nur zu den Mahlzeiten auf. Vormittags besuchten sie die Georgenschule, nachmittags sangen sie in der Kurrende oder probten mit dem Chorus musicus in der Kirche. In seiner Freizeit streunte Jacob mit den anderen Quartanern durch die Gassen der Stadt, durchstreifte den Wald oder wan- derte zur Wartburg hinauf, während Sebastian jede freie Minute bei Johann Christoph Bach in der Georgenkirche verbrachte.

19 Der Onkel ließ sich seine Orgel umbauen, sodass der Bruder, der mit seinen neun Jahren schon genau wusste, dass auch er einmal ein Organist werden würde, das gewaltige Instrument in seinen kleinsten Einzelteilen studieren konnte. So war das Leben mehr oder weniger in seine alten Bah- nen zurückgekehrt. Der Vater hatte seine Arbeit wiederauf- genommen, die Stadtpfeiferei machte ihrem guten Namen wie- der Ehre. Aber niemand, der den alten Johann Ambrosius Bach gekannt hatte, konnte bestreiten, dass der Mann nur noch ein Schatten seiner selbst war. Ein einziges Mal hatten man ihn noch lächeln gesehen: auf der Hochzeit seines ältesten Sohnes Johann Christoph in Ohrdruf, als der kleine Sebastian zusammen mit Meister Pachelbel, Christophs Lehrmeister, musiziert hatte.

Im darauffolgenden Winter wurde der Vater am Leibe krank. Das Fieber wollte nicht weichen. Er litt unter heftigem Schüttel- frost, sein Verstand war tagelang getrübt. Im Fieberwahn sprach er mit dem toten Zwillingsbruder und der Mutter. Dazwischen gab er seine Musikern Anweisungen: »Im zwölften Takt stac- cato! – Die Herren Posaunisten, nicht so zaghaft! Jacob, achte auf deinen Strich! – Sebastian …« Eines Morgens war Ambrosius’ Haut über und über mit blauen, später roten Malen übersät. Der eilig herbeigeholte Doktor Burchardi diagnostizierte Fleckfieber und verschrieb allerlei Arzneien, die ein Vermögen kosteten, aber nicht an- schlugen. Am 20. Februar 1694 gab Johann Ambrosius Bach sei- nen Geist auf. Nach der Sitte wurde der Vater für einen Tag im Hausflur auf- gebahrt. Freunde und Kollegen kamen, um sich von ihm zu ver- abschieden. Ambrosius trug seinen Hausrock aus grüner japa- nischer Seide, den er zu Lebzeiten, vor dem Tode der Mutter, so geliebt hatte. Sonst erinnerte nichts an den stattlichen, stol- zen Mann, der einmal Johann Ambrosius Bach gewesen war, der geachtete und allseits bewunderte Stadtpfeifer von Eisenach,

20 der mit Orgel, Geigen, Singen, Trompeten und Heerespauken dreinschlug, dass den Hohen Herren des Rates und des herzög- lichen Hofes die Perücken vom Kopfe flogen, der unermüdliche Lehrer, der seine Schüler, eigene Söhne wie Lehrjungen, streng, aber geduldig in allen Instrumenten unterwies, der Virtuose, zu dessen Geigenspiel die braven Eisenacher den Mund nicht mehr zubekamen. Nein, diese ausgezehrte, wächserne Gestalt war nicht ihr Vater. Es war seine leere Hülle. Ihr Vater war lange vor seinem leiblichen Tod gestorben.

Nachdem am Abend der letzte Besucher gegangen war, erschien Pfarrer Heinlein. Scheu betrachtete er den Toten. In seinem Blick lag Erleichterung, ja Befriedigung: Alles war zu einem guten Ende gekommen. In Frieden mit sich und seinem Herr- gott war Ambrosius Bach entschlafen. Und daran hatte er, Hein- lein, einen nicht geringen Anteil. Gewiss, er hatte nichts als seine Seelsorgerpflicht getan. Dennoch: War es nicht auch ihm, Heinlein, zu verdanken, dass dieser arme Mensch letzten Endes doch noch seine unselige Verirrung eingesehen und reuig wie- der zum Glauben gefunden hatte? Heinlein war von sich selbst gerührt. Und diese Rührung war nicht zu überhören, als er nun allen Ernstes bedauerte, dass es ihm nach Gottes Willen nicht vergönnt gewesen sei, dem selig Verblichenen die Beichte abzu- nehmen und mit eigener Hand die Augen zu schließen; es sei einfach zu rasch gegangen. Von wegen. Es hatte lange gedauert. Dedekind hatte dem Vater die Hand gehalten und die Augen zugedrückt. Und in Wahrheit war der Pfarrer keineswegs betrübt darüber, nicht zur Stelle gewesen zu sein. Denn das Sterben bekam ihm nicht, es schlug ihm auf den Magen, raubte ihm den Schlaf, machte ihn tagelang arbeitsunfähig. Jeder wusste es. Wer im Sterben lag, durfte von ihm keinen Beistand erhoffen. Darum holte man ihn nach Möglichkeit erst, wenn alles vorbei war. Aber dann! Bei der Trostspendung machte Heinlein niemand etwas vor.

21 »Wir wollen beten.« Fürchtegott Heinlein hatte sich zu Füßen des offenen Sarges aufgestellt. Die Stiefmutter, Catharina und Christina knieten zur linken, Maria Salome, Jacob und Sebastian zur rechten Seite. Nach einem endlosen Gebet blätterte Heinlein in seiner Bibel. Er tat immer so, als fände er die für den jeweiligen Anlass pas- sende Stelle aus dem Stegreif, aber natürlich hatte er seine Zitate sorgfältig ausgewählt und mit kleinen Papierstreifen gekenn- zeichnet. »Wir wissen aber«, begann er mit belegter, Kummer heu- chelnder Stimme, »wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Rat- schluss berufen sind.« Heinlein schlug das Buch zu und sprach frei weiter. »Darum, Kinder«, sagte er, »darum wisset ihr auch, dass Gott euch solche Not nicht zum Verderben geschickt – oh nein, sondern euch dadurch zum Gebet treiben will, auf dass ihr den Glauben übet und Gott erkennen lernet – und lernet, mit den Sünden zu kämpfen und mit Seiner Hilfe zu obsiegen. Denn sonst lernten wir nimmermehr, was Glaube, Wort, Geist, Gnade, Sünde und Tod wären. Und damit würden wir denn Gott nimmermehr kennenlernen und würden nimmermehr rechte Christen.« Heinlein hielt inne und blickte, um die Wir- kung seiner Worte zu überprüfen, in die Runde. »Er will«, fuhr er mit frischem Schwung fort, »Er will, dass du schwach sein sollst, solche Not zu tragen und zu überwinden. Auf dass du in Ihm stark werden lernest und er in dir durch Seine Stärke ge- priesen werde. Amen.« Als Heinlein seine Hände zum Vaterunser faltete, geschah es. Barbara Margaretha, die während der Predigt teilnahmslos ins Leere geblickt hatte, war aufgesprungen. Ohne ein Wort zu sagen, schritt sie auf den Pfarrer zu. Der schaute betreten auf den Leichnam, als flehe er ihn an, aufzustehen und seine Frau zur Ordnung zu rufen. Aber niemand kam Heinlein zu Hilfe. Die Stiefmutter stellte sich vor den bebenden Pfarrer hin, sie sah

22 ihm unverwandt in die Augen. Gerade als sich Heinlein dazu durchgerungen hatte, sie anzusprechen, schlug ihm Barbara Margaretha Bach mit der Faust mitten ins Gesicht. Die Bibel fiel ihm aus der Hand. Das Blut schoss ihm aus der Nase, lief lang- sam als schwarzes Rinnsal über sein blasses Gesicht, besudelte sein blütenweißes Beffchen und tropfte auf den Boden. Die Stiefmutter rührte sich nicht, ihr Blick war so ausdrucks- los wie zuvor. Heinlein hielt sich die Hände vors Gesicht. Die Tür ging, jemand betrat das Haus. Ein Zucken durchlief Heinleins Körper. Er hob die blut- verschmierten Hände, seine Augen waren weit aufgerissen. Er starrte auf das Blut, stammelte Unverständliches. Dann schluchzte er auf und stürzte, Dedekind, der eben den Raum betrat, zur Seite stoßend, zur Stube hinaus. Dedekind kratzte sich verwirrt am Kopf und hob Heinleins Bibel auf, die zerfleddert und blutbefleckt vor dem Sarg lag. Als er sich mit fragender Miene an die Stiefmutter wandte, er- klang aus dem Nebenzimmer eine unzusammenhängende, aber wunderschöne Melodie. Dort stand das Cembalo des Vaters. Jemand fantasierte darauf. Es war Sebastian. In dem Tumult hatte er sich aus der Stube geschlichen. Sebastian spielte und spielte. Endlos improvisierte er über alle Choräle, die er kannte, durch alle Tonarten, erfand die un- wahrscheinlichsten Variationen, sodass die vertrauten Lieder seltsam entrückt und fremd klangen. Dedekind und der herbeigerufene Onkel warfen sich un- gläubige Blicke zu. Gewiss, Sebastian war über die Maßen be- gabt und fleißig. Aber wer hatte ihn so zu spielen gelehrt? Nie- mand hatte ihm je Kompositionsunterricht erteilt, er konnte noch nicht weit in die Harmonielehre eingedrungen sein. Se- bastian musste sich seine Fertigkeit allein durch Zuhören und Ausprobieren angeeignet haben. Hätte der Junge sein Können zu irgendeinem früheren oder späteren Zeitpunkt offenbart, sie

23 hätten nicht gezögert, ihn dem Herzog als Wunderkind vorzu- führen. Vielleicht auch nicht. Denn seine Kunst war ihnen auch unheimlich. Was sollte aus dem noch werden? Sebastian spielte weiter, bis alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren, seine Kunst gleichsam an ihr natürliches Ende ge- kommen war. Als der letzte Ton verklungen war, erstarrte er. Kurz darauf begann er zu zittern. Hatte auch ihn das Fleckfieber gepackt? Sie brachten ihn zu Bett, gaben ihm warmes Starkbier zu trinken. Später fütterte Salome ihn mit Brei. Glücklicher- weise erholte sich Sebastian rasch, er hatte sich stets einer ro- busten Gesundheit erfreut. Bereits am übernächsten Tag war ­Sebastian wieder auf den Beinen.

Vier Tage nach seinem Tod wurde Johann Ambrosius Bach neben seiner ersten Frau, Sebastians, Jacobs und Salomes Mut- ter, auf dem Friedhof an der Stadtmauer begraben. Die Lehr- jungen, die Gesellen, Heinrich Halle und Melchior Paßvogel, und seine Musikerkollegen aus der Umgebung, darunter viele aus der Bachfamilie, spielten und sangen eine Motette, die der Vetter aus Gehren komponiert hatte: Gute Nacht, du Stolz und Pracht, dir sei ganz, du Leben, gute Nacht ge- geben. Dazu läutete die Glocke der Georgenkirche.

24 II.

Exodus I

Zwischen Eisenach und Ohrdruf 1695 April

Als sie den Wald erreichten, setzte der Regen ein. Nach kaum einer halben Meile hatte sich die Straße in einen Sumpf ver- wandelt. Waren sie zuvor schon im Schneckentempo gereist, kamen sie nun so gut wie überhaupt nicht mehr voran. Dann passierte es: In einer Senke blieb ihr Karren, der bis obenhin mit Möbeln, Streich-, Blas- und Tasteninstrumenten beladen war, endgültig stecken. So laut Samson auch mit der Zunge schnalzte und die Peitsche knallen ließ, der alte Lutz, der sonst tagein, tag- aus ohne das geringste Zeichen von Ermüdung den Pflug über den Acker zog, war am Ende seiner Kräfte. Ohne Hilfe würden sie nicht freikommen. Von Beginn an hatte ihr Auszug unter keinem guten Stern gestanden. Gerade hatten die Gesellen ihren Wagen mit den Instrumenten, die Jacob und Sebastian aus dem Erbe des Vaters erhalten hatten, beladen, da brach die Achse. Weil der Scha- den nicht sogleich hatte behoben werden können, hatte man ihr Gepäck auf einen alten Karren geworfen, ein Gefährt, von dem es hieß, dass darauf zur Zeit des Großen Krieges die Pest- leichen aus der Stadt geschafft worden seien. Es war ein trau- riger Abschied gewesen, eigentlich gar kein rechter Abschied. Denn die anderen waren alle schon fort: Die Stiefmutter war nach Regelung der Erbschaftsangelegenheiten zusammen mit

25 den fürchterlichen Schwestern zu ihren alten Eltern nach Arn- stadt gezogen und Maria Salome zu ihrem Andreas nach Er- furt. Die Hochzeit sollte im Frühling stattfinden. Weil die Fa- milie noch um den Vater trauerte, würde es wieder keine Feier geben. Und Jacob und Sebastian? Der Onkel konnte sie beim besten Willen nicht zu sich nehmen. Aber der andere Johann Christoph, ihr vierzehn Jahre älterer Bruder, hatte sich nicht lange bedenken müssen. So zogen sie nach Ohrdruf. Kantor Dedekind hatte seine Beziehungen spielen lassen und zwei Plätze in der Tertia des Lyceum Illustre Gleichense für sie erhandelt. Das Schulgeld durften sie durch Singen abgelten. Jacob und Sebastian muss- ten sich dem Chorus musicus und der Kurrende als Sänger zur Verfügung stellen. Sie würden nicht die einzigen Bachs in der Klasse sein: Ihr Vetter Johann Ernst, der Sohn des verstorbenen Zwillingsbruders Christoph, war mit seiner Mutter, die aus Ohr- druf gebürtig war, ebenfalls dorthin gezogen. Ernst war ein Jahr jünger als Jacob und ein Prachtkerl. Aus Prinzip ging er keiner Keilerei aus dem Weg. Jedenfalls würden Jacob und Sebastian von den neuen Mitschülern kaum etwas zu befürchten haben. Wenn man darüber nachdachte, sah die Zukunft nicht gar so düster aus. Und zumindest für Jacob würde es nur ein vorüber- gehender Aufenthalt sein. Sobald er das erforderliche Alter von vierzehn Jahren erreicht hatte, würde Halle, der Nachfolger des Vaters, ihn als Lehrling übernehmen. Höchstens ein Jahr und Jacob würde wieder nach Eisenach zurückkehren. Alles würde sich fügen. Vorerst allerdings wollte sich gar nichts fügen, geschweige denn bewegen: Der Karren steckte hoffnungslos fest. Um das Gewicht zu verringern, stiegen Jacob und Sebastian ab – und fanden sich knietief im Morast wieder. Aber es half nichts, die Räder hatten sich in den aufgeweichten Boden eingegraben. So bald würde es nicht aufklaren. Im Gegenteil, der Himmel ver- finsterte sich immer mehr. Der Regen wurde immer dichter,

26 wahre Sturzbäche prasselten auf sie herab; sie waren schon bis auf die Haut durchnässt. Dabei war es wochenlang trocken ge- wesen. Als sie in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen waren, hatte nichts auf ein Unwetter hingedeutet. Was sollten sie tun? Es dämmerte schon. Sie konnten un- möglich hierbleiben. Von Samson war keine Initiative zu er- warten. Im Notfall würde sie der Riesenkerl mit seinem Leben verteidigen, mit Mord- und Raubgesindel wurde Samson fertig. Darauf war er vorbereitet. Auf das hier nicht. Sobald etwas Un- vorhergesehenes geschah, die Abläufe auch nur im Geringsten vom Gewohnten abwichen, verfiel er in ein finsteres Schmollen: Gott hatte die Absprache mit ihm, seinem Knecht Samson, nicht eingehalten. Und das missfiel Samson. Es brachte ihn durch- einander. Es machte ihn wütend. Und wenn der Herr des Him- mels und der Erden seinen Teil der Abmachung nicht einhielt, tat er, Samson, eben dasselbe. So verharrte der Knecht regungs- los wie ein Ölgötze auf seinem Kutschbock, ließ den Regen an sich herabrinnen und haderte mit seinem Gott, der ihm so übel mitspielte. Lutz schien das ähnlich zu sehen. Der Gaul wen- dete sich kurz um, erfasste mit einem Blick die Lage und ver- abschiedete sich ebenfalls aus der unbehaglichen Wirklichkeit. Pferde können auch im Stehen schlafen. »Ich friere«, sagte Sebastian. In seiner Stimme schwang nicht die Spur einer Klage mit. Es war eine ebenso nüchterne wie zu- treffende Feststellung. Auch Jacob merkte, wie ihm die Kälte in die Knochen kroch. Es musste etwas geschehen, sonst holten sie sich hier den Tod. »Wie weit noch bis Ohrdruf?«, rief Jacob zu Samson hinauf. Bei schönem Wetter und mit leichtem Gepäck bewältigte man die Reise an einem Tag. Sie waren diese Strecke schon einmal gewandert, zu Johann Christophs Hochzeit. Aber das war ein strahlender Herbsttag gewesen, und Jacob hatte nicht auf Weg- marken geachtet. Er schätzte, dass sie ungefähr die Hälfte der Strecke geschafft hatten. Aber er war sich alles andere als sicher.

27 Samson starrte grämlich vor sich hin, ganz so als trügen Se- bastian und Jacob die Schuld an dem Schlamassel. Dann ver- zog er den Mund. Aber nur um auszuspucken. Als wollte er die widerwärtige Situation – oder die Macht, die sie herbeigeführt, zumindest zugelassen hatte – mit Verachtung strafen. Dabei wusste Samson genau, wo sie sich befanden. Wie hätte er es nicht wissen sollen? Er war sein ganzes Leben lang auf dieser Strecke unterwegs gewesen, er kannte hier jeden Stein. Nur war er in seinem Zustand offenbar nicht willens oder in der Lage, dieses Wissen abzurufen. Aber noch gab Jacob nicht auf. Irgendwie musste er den Rie- sen aus seiner Apathie wecken. Er versuchte, gerade so viel Dringlichkeit in den Tonfall zu legen, dass es sich nicht weiner- lich anhörte: »Samson, welcher Ort liegt am nächsten?« Keine Antwort. Der Koloss verdrehte nur die Augen. Lutz seufzte wohlig auf, wahrscheinlich träumte er von einem warmen Stall mit frischem Stroh und einer Krippe voller Hafer. Es war nichts zu machen. Jacob dachte nach. Welcher Ort lag in der Nähe? Im Okto- ber waren sie durch kein Dorf gekommen. Doch nun erinnerte er sich daran, dass, kurz nachdem sie am Wald angekommen waren, der Onkel bemerkt hatte, sie befänden sich nicht weit von Waltershausen, wo sein Kollege und Freund Künhold an der Stadtkirche Kantor sei. Kantor Künhold in Waltershausen: Natürlich mussten sie an das einzige Kaff weit und breit geraten, wo kein Bach ein mu- sikalisches Amt bekleidete. Immerhin, ein Freund des Onkels. Das war etwas, ein Strohhalm, nach dem sie greifen konnten. Aber wo lag Waltershausen? Sie konnten nicht einfach in den Wald hineinmarschieren. Während Jacob überlegte, murmelte Sebastian etwas, das er nicht verstand. Dann, ohne ein Wort zu sagen, stapfte der Bru- der durch die Pfütze, die sich in der Senke gebildet und in-

28 zwischen zu einem wahren Teich ausgewachsen hatte, kletterte zu Samson auf den Kutschbock und setzte sich neben ihn. Der Knecht schien ihn gar nicht zu bemerken. Erst nach einer ziem- lichen Weile streckte sich Sebastian zu Samson hinauf und flüs- terte ihm etwas ins Ohr. Er sprach nicht lange, vielleicht nur ein einziges Wort. Samson zeigte keinerlei Reaktion – doch, er öff- nete den Mund. Es war kaum zu sehen, aber kein Zweifel: Sam- son sprach! Nur ein paar Worte. Aber er sprach. Als der Bruder wieder von dem Karren herabgeklettert war und auf ihn zukam, vermochte Jacob an seinem gleichgültigen Gesichtsausdruck nicht abzulesen, ob seine Bemühungen von Erfolg gekrönt worden waren oder nicht. Stumm wies Sebastian nach vorn, in ihre Fahrtrichtung, und stiefelte los. Verdutzt folgte Jacob ihm nach. »Wie hast du das gemacht?« Sebastian erwiderte nichts, verbissen arbeitete er sich durch den Straßenschlamm vorwärts. Nach wenigen Schritten hielt er an. »Hier müsste es sein.« Tatsächlich: In einer Kurve bog ein schmaler Pfad nach rechts in den Wald ab. Es war nicht einfach, dem Pfad durch das dichte Gehölz zu folgen. Der Boden war noch versumpfter als die Landstraße. Wenn sie ihre Stiefel aus dem Schlamm zogen, hörte es sich an, wie wenn der Onkel eine Flasche Rheinwein entkorkte. Jacob achtete kaum darauf, zu sehr beschäftigte ihn die Frage, wie um alles in der Welt Sebastian dem Knecht die Auskunft abgelockt hatte. »Los, sag schon, wie hast du ihn zum Sprechen gebracht?« Sebastian drehte sich um. Er sah ihn verständnislos an. »Raus damit, ich will es wissen!« »Was?« »Wir sind da.« So war es. Jacob und Sebastian hatten es geschafft. Sie waren keine halbe Meile von der Stadt entfernt gewesen. Und sie

29 kamen keinen Augenblick zu früh dort an: Der Nachtwächter war schon dabei, das Tor zu schließen. Sie rannten los, riefen ihm zu, er solle noch warten. Der Mann beachtete sie nicht. Dann schien er es sich doch an- ders überlegt zu haben und hielt das Tor einen Spalt weit offen. Völlig außer Atem erzählten sie ihm, was ihnen zugestoßen war. Der Nachtwächter, ein hagerer, zahnloser Greis mit einem dünnen speckigen Zopf, der ihm wie der Schwanz einer Ratte den gekrümmten Rücken herunterhing, hörte sich ihre Ge- schichte an. Aber sein verärgert-gelangweilter Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er ihnen kein Wort glaubte. Man konnte es ihm kaum verübeln. Zugegebenermaßen sahen Jacob und Sebastian ziemlich schäbig aus, ihre Kleider waren nass und von unten bis oben mit Kot bespritzt. Dass sie Tertianer des an- gesehenen Lyceum Illustre zu Ohrdruf sein sollten, musste dem Mann weit weniger wahrscheinlich vorkommen, als dass sie sich mit einem rührseligen Lügenmärchen einschleichen wollten, um in Waltershausen zu betteln oder irgendwelche Diebereien zu begehen. Es war viel Lumpenpack auf den Straßen unterwegs. Der Alte schnäuzte sich lautstark, stieß ein kurzes Hohn- lachen aus und machte sich daran, das Tor endgültig zu ver- rammeln. Aber das geschah nicht. Das Tor blieb einen Spalt auf. Jacob und Sebastian vernahmen ein helles, eindringliches Flüstern, auf das der Nachtwächter mit einem unverständlichen Bellen antwortete. Da vergrößerte sich knarrend der Spalt. »Rein mit euch, in drei Teufels Namen!« Der Alte packte sie unsanft am Kragen und zerrte Jacob und Sebastian hinein. Hinter ihnen schloss sich rumpelnd das Tor. Jacob stammelte ein Dankeschön, aber der Nachtwächter stieß nur ein verächtliches Schnaufen aus. »Pah, das habt ihr dem da zu verdanken.« Er wies auf einen Jungen, der neben ihm stand und ihm seine

30 rostige Hellebarde hielt. Er mochte zehn oder elf Jahre alt sein, trug trotz der Kälte nur ein Hemd und ging barfuß. Alles in allem ähnelte er mehr einem Bettler als sie. Der entsetzliche Alte legte den Riegel vor das Tor, nahm seine Waffe an sich und baute sich drohend vor ihnen auf. »Jetzt seht zu, dass ihr verschwindet, bevor ich es mir anders überlege.« Er stieß dem Jungen seinen dürren Zeigefinger auf die Brust. »Du stehst mir für die beiden gerade. Wenn die Halunken was aus- fressen, habe ich nichts damit zu schaffen. Verstanden?« Der Junge nickte. Er gab Jacob und Sebastian ein Zeichen, dass sie ihm schnell folgen sollten, und schon lief er los. Ohne sich zu besinnen, rannten die beiden hinter ihm her. Während sie durch die dunklen, bereits menschenleeren Stra- ßen liefen, kamen Jacob Zweifel. Wer war der Junge? Warum hatte sich der Wächter von ihm überreden lassen, sie doch noch einzulassen? Steckten die beiden unter einer Decke? Es kam vor, dass die kümmerlich entlohnten Nachtwächter, oft ver- krüppelte und verarmte ehemalige Soldaten, mit Verbrechern, Straßenräubern und anderen Bösewichtern gemeinsame Sache machten. Wollte man sie in eine Falle locken? Bares Geld hat- ten Jacob und Sebastian kaum dabei, aber wer sie genauer be- trachtete, musste doch feststellen, dass sie nicht ganz armer Leute Kinder sein konnten. Ein Lösegeld ließ sich allemal für sie erpressen. Vielleicht wäre es besser, in irgendeine Seitengasse zu verschwinden? Das Haus des Kantors Künhold würden sie schon irgendwie finden. Aber wie sollte er Sebastian seine Be- denken mitteilen? Der Bruder war dem fremden Jungen dicht auf den Fersen. Während Jacob vor Erschöpfung kaum Schritt halten konnte, legte Sebastian ein erstaunliches Durchhaltevermögen an den Tag; behände übersprang er jede Pfütze. Jacob nahm darauf längst keine Rücksicht mehr, er watete einfach hindurch. Nas- ser konnten seine Füße ohnehin nicht mehr werden. Allmäh- lich wurde ihm alles gleichgültig. Mochten sie seinetwegen in

31 einer Räuberhöhle landen, Hauptsache, es war dort trocken und warm. Immerhin hatte es zu regnen aufgehört. Der Junge und Sebastian waren stehen geblieben, sie warteten auf Jacob. Als er herangekommen war, sah er, dass sie vor einem hell erleuchteten Haus standen. Nicht gerade ein Palast, eher ein bescheidenes, soweit man es im Dämmerlicht erkennen konnte, etwas heruntergekommenes Bürgerhaus. Wenn darin auch keine reichen Leute wohnten, ganz gewiss hauste hier kein Ver- brechergesindel. Die Erleichterung breitete sich als ein warmes Gefühl in seinem Bauch aus. Was auch immer sie erwartete, es konnte auf keinen Fall unangenehmer sein, als bei diesem Wet- ter eine Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Jacob be- schloss, dem Jungen für seine Dienste den Groschen zu schen- ken, den er in seiner Rocktasche bei sich trug. Die Tür öffnete sich, ein Lichtschein fiel auf die Gasse. Wärme und Küchenduft umhüllten ihn. Wie betäubt wankten sie hin- ein. Eine Stimme, laut, schrill, aber freundlich: »Nein, dass Gott erbarm! Die armen, armen Kinder!« Ehe Sebastian und Jacob wussten, wie ihnen geschah, hatte man sie ihrer nassen Kleider entledigt, abgetrocknet und in zerschlissene, aber saubere Sachen gesteckt. Sie fanden sich an einem großen, grob gezimmerten Esstisch wieder. Vor jedem von ihnen stand eine riesige Schüssel dampfender, köstlich duf- tender Kohlsuppe. Um sie herum ein wilder Lärm aus Kinder- geschrei, Musik (jemand spielte auf einem Hackbrett oder etwas Ähnlichem), Klappern von Geschirr, Schlürfen, Schmatzen und Lachen. Offenbar hatte Madame Künhold sie bereits erwartet. Was für ein Glück, dass sie am Tor auf den Jungen getroffen waren, der ihnen geglaubt und sie zum Kantorenhaus geführt hatte. – Wo war er geblieben? In dem Durcheinander hatte Jacob nicht auf ihn geachtet, anscheinend war er nicht mit ins Haus gekommen. Er würde den Groschen Madame Künhold anvertrauen, dass sie

32 ihn an den Jungen weitergab. Sie wusste sicherlich, wem sie ihre Rettung zu verdanken hatten. Doch ihre Gastgeberin ließ sie gar nicht zu Wort kommen. Jacob und Sebastian sollten sich erst einmal aufwärmen und stärken, warmes Bier wirke bei Erkältungen Wunder. Sie soll- ten sich nur keine Gedanken machen, es sei für alles gesorgt. Um ihr Gepäck und den Knecht kümmere man sich bereits. Mit dem Kerl habe sie allerdings noch ein Hühnchen zu rupfen, zwei Kinder bei solchem Wetter allein in den Wald zu schicken. »Aber langt jetzt erst einmal tüchtig zu. Müsst ja vollkommen ausgehungert sein.« Letzteres stimmte allerdings, und überhaupt war Madame Künhold keine Person, der man ohne weiteres widersprach. Ihrem beträchtlichen Leibesumfang zum Trotz bewegte sie sich erstaunlich gewandt durch die Wohnung, kommandierte nebenher die Magd und ihre Töchter herum, machte sich am Herd zu schaffen, tröstete ein Kind, das sich weh getan hatte, schimpfte mit einem anderen, gab dem kleinsten die Brust, sang ein Wiegenlied. Das alles schien gleichzeitig zu geschehen. Es war, als sei sie selbst Ausgangspunkt und treibende Kraft des lärmenden Wirbels, der um sie herumtobte und den sie ebenso unentwegt wie aussichtslos zu ordnen versuchte. Auch in der Eisenacher Fleischgasse war es bisweilen chaotisch zugegangen, aber gegen die Künholdische Wirtschaft war das die reinste Idylle gewesen. Und doch war es herrlich, auf eine wundervolle Weise berauschend. Irgendwann – wie lange saßen sie schon hier? Es kam ihnen vor wie eine paradiesische Ewigkeit, in Wahrheit konnte es nicht viel länger als eine halbe Stunde gewesen sein – rumpelte ihr Karren vor das Haus. Kurz darauf trottete mit beleidigter Miene Samson in die Stube. Natürlich hatte er sich höchst ungern ret- ten lassen. Beinahe hätte man ihn, wie einer der Bauern, die den Wagen samt Gepäck aus der Senke gezogen hatten, berichtete, mit Gewalt von seinem Bock zerren müssen. Das war dann doch

33 nicht nötig gewesen, Samson hatte schließlich ein Einsehen ge- habt. Aber eingeredet hätten sie auf ihn wie auf einen kranken Gaul – der Gaul, dem sei es letztlich zu verdanken gewesen, dass sich der Sturkopf dann doch bewegt habe. Der sei überhaupt um einiges vernünftiger als sein Herr und Meister. Lutz hatte die Zeichen der Zeit erkannt, plötzlich angezogen und damit Sam- son bewegt – sich zu bewegen. Die Bauern wirkten reichlich verärgert. Sie erwarteten keinen Lohn, kein Wort davon, man hilft, wo man kann. Aber über ein kleines Dankeschön wäre man nicht böse gewesen. Mehr sag- ten sie nicht. Nach allem verfügte Samson offenbar über Riesen- kräfte. Sie betrachteten ihn mit scheuer Zurückhaltung und wi- chen seinem Blick aus, er war ihnen unheimlich. Auch Jacob kam seine Verfassung bedenklich vor, der arme Kerl war völ- lig durcheinander. Madame Künhold schien seine Einschätzung zu teilen, jedenfalls verzichtete sie auf die angekündigte Straf- predigt. Stattdessen stellte sie Samson einen Humpen Walters- hausener Bier hin und etwas zu essen. Jacob bedankte sich derweil in wohlgesetzten Worten im Namen der ganzen Familie Bach bei den Bauern für ihre Ret- tung. Doch erst als Frau Künhold anfing, ihnen Schnaps ein- zuschenken, hellten sich ihre Gesichter auf. Sie tranken sogar Samson zu, in dessen vierschrötigem Antlitz sich wiederum, wenn man ganz genau hinsah und mit viel gutem Willen, sogar so etwas wie ein Lächeln ausmachen ließ. Der Knecht aß und trank, wie es seine Art war, stumm und in atemberaubender Ge- schwindigkeit. Dann begab er sich nach hinten in den Stall und legte sich zu seinem Lutz. Nichts beruhigte Samson so sehr wie die Nähe des Pferdes. Als der Herr Kantor Johann Valentin Künhold nach Hause kam, schien er nicht sonderlich erstaunt, Jacob und Sebastian an seinem Tisch sitzen zu sehen, vielmehr zeigte er sich über die Ereignisse genauestens informiert. Er hieß Jacob und Sebas- tian noch einmal in seinem Haus willkommen, fragte nach dem

34 Befinden des Onkels, mit dem er einen Teil seiner Wanderjahre verbracht hatte. Künhold sprach leise und bedächtig. Überhaupt stellte der Waltershausener Kantor in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil seiner Frau dar. Er war von hochgewachsener, bei- nahe zerbrechlich wirkender Gestalt, sein gelassener Gesichts- ausdruck änderte sich nie. Nicht weniger als sieben Kinder standen um den Tisch herum. Der Vater stellte sie ihnen in der Reihenfolge ihres Al- ters vor: Johann Samuel, Johann Jeremias, Johann Abraham, Friedelena Christina, Johann Tobias, Johann Nathanael und die kleine Elisabetha, die noch in der Wiege lag. Es stellte sich he- raus, dass sie einen bereits kannten: Der Knabe, der sie vom Stadttor zur Kantorenwohnung gebracht hatte und den sie für einen Betteljungen gehalten hatten, war niemand anders als Johann Tobias. Er brachte dem Nachtwächter jeden Tag ein Abendessen, dabei war er zufällig Zeuge ihrer Ankunft ge - worden und hatte sich bei dem Alten für sie verwendet. Sie schüttelten Tobias die Hand. Und Jacob – er wusste selbst nicht, wie es geschehen konnte – drückte ihm den Groschen, den er noch immer in seiner Faust hielt, in die Hand. Noch während er die Hand ausstreckte, wurde ihm bewusst, dass er einen Feh- ler beging. Aber es war zu spät. Tobias schaute verwirrt auf das Geldstück. Dann schüttelte er den Kopf und reichte es ihm zu- rück. Beschämt stand Jacob da mit seinem Groschen. Valen- tin Künhold hatte die Szene beobachtet. »Das ist brav von dir, Jacob«, sagte er ernst. »Du hast es gut gemeint. Aber schenke das Geld lieber einem Menschen, der es nötiger hat. Gib es den Armen.« Den Armen? Die Künholds begnügten sich zum Abend- essen mit ein paar Kanten steinharten Brots, selbst der Vater trank nur Wasser. Die Gäste schienen alle Biervorräte auf- gebraucht zu haben, auch von der Kohlsuppe war nicht allzu viel übriggeblieben. Doch niemand störte sich daran, die Kargheit ihrer Mahlzeit schien ihnen gar nicht bewusst zu sein. Familie

35 Künhold benahm sich so fröhlich und ausgelassen, als täten sie sich an einer fürstlichen Tafel gütlich. Als sie zu Ende gegessen hatten, der Vater noch einmal ein Gebet gesprochen hatte, sangen alle gemeinsam das alt- bekannte Quodlibet: »Ei, wie frisst das Hausgesind so gar viel Käs und Butter / Wären sie Kälber gleich wie du, so fräßen sie das Futter.« Genauso hatten es die Bachs auf ihren Familien- zusammenkünften gehalten. Mit einem Male durchzuckte Jacob der Gedanke: Warum nicht hierbleiben, bei den Künholds in Waltershausen? Er sah Sebastian an. Der Bruder sang laut mit. Ein bisschen zu laut. Sebastian war stets darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen; Jacob kannte niemanden, der seine Gefühle besser zu verbergen vermochte. Aber ihm machte er nichts vor, das kaum sichtbare Zucken in den Mundwinkeln sprach eine deutliche Sprache: Auch Sebastian hätte am liebs- ten losgeheult. Hierzubleiben – in diesem Augenblick hätten Jacob und Sebastian alles darum gegeben. Doch wie sollte das zugehen? Es konnte nicht sein. Nach dem Gesang sprach der Kantor den Abendsegen, und alle gingen zu Bett. Sebastian legte sich mit Tobias, Nathanael und Friedelena in einen Alkoven. Für Jacob fand sich ein Platz zwischen Abraham und Jeremias. Ein Hering hatte es in seinem Pökelfass bequemer. Trotzdem schlief er so tief und fest wie seit langem nicht mehr. Am nächsten Morgen schien die Sonne, als wäre es nie an- ders gewesen. Tobias begleitete sie auf ihrem Weg nach Ohrdruf. Sie hatten noch keine Meile zurückgelegt, da näherte sich ihnen eine schlanke Gestalt. Es war ein junger Mann in einem dunkel- blauen Rock. Als er sie erkannte, schwenkte er seinen Hut und lief ihnen lachend entgegen. Es war ihr Bruder Christoph.

36 III.

Der gottlose Kantor

Ohrdruf 1695 Mittwoch vor Ostern

»Monsieur Bach!« Jacob zuckte zusammen. »Ja, ganz recht, ich meine ihn, Bach senior, Jacobus.« Jacob sprang auf. Er schwankte, ihm wurde schwarz vor Augen. Mit der Linken stützte er sich auf das Pult. Seine rechte Hand krampfte sich um den Griffel, mit dem er gerade einen la- teinischen Hexameter von der Tafel abgeschrieben hatte: QUIS, QUID, CUR, CONTRA, SIMILE, EXEMPLARIA, TESTES. »Wer – was – warum – gegen – ähnlich – Beispiele – Zeugen«. Ein Merkvers zur Ausarbeitung einer Rede. Der Kantor Arnold schritt auf ihn zu, er musterte Jacob mit seinen grausamen Wolfsaugen. Dann verabreichte er ihm einen mittelschweren Backen- streich. Der Siegelring schlug hart auf Jacobs Kiefer. Es floss kein Blut, aber der rote Abdruck würde noch stundenlang sicht- bar bleiben. Eine Ohrfeige hatte nichts zu bedeuten, eine Bagatelle, sie ge- hörte zu Arnolds täglicher Routine. Und es war die erste Back- pfeife des Tages, der Kantor hatte sich noch nicht richtig ein- gepaukt, noch nicht den rechten Schwung gewonnen. Ohrdruf: »auf die Ohren druff«, ein geflügeltes Wort unter den Tertianern, etymologisch fragwürdig und nicht wirklich

37 spaßig. Aber ein solcher Backenstreich war allemal besser als der Rohrstock oder gar die Peitsche. Arnold verfügte über ein reiches Arsenal solcher Marter- werkzeuge. Der leidige Satan hatte es gefügt, dass die guten Ohrdrufer sich ausgerechnet auf die Herstellung von Peitschen- stielen und Züchtigungsinstrumenten aller Art kapriziert hatten; man versorgte ganz Thüringen und Sachsen mit Gerten, Rohr- stöcken, Karbatschen, Klopf- und Riemenpeitschen. Jeder Hieb auf den geschundenen Pferde- oder Schülerrücken ein Gruß aus dem schönen Ohrdruf. Der Lehrer der Tertia besaß ein be- sonders hervorragendes und brutales Erzeugnis Ohrdrufischer Handwerkskunst: In seinen Siebenstriemer aus feinstem Leder waren winzige harte Knoten geflochten und, kaum sichtbar (dafür umso spürbarer), scharfe Metallsplitter eingearbeitet, welche die Stäupung der nackten Waden, Oberschenkel oder gar des blanken Hinterteils zu einer über alle Maßen schmerz- haften und blutigen Angelegenheit machten. Ein Schüler soll nach einer solchen Geißelung wochenlang krank gelegen und sich danach aus Scham das Leben genommen haben. So ging zumindest das Gerücht. Doch niemand, der einmal unter die- ser Knute gezittert hatte, zweifelte am Wahrheitsgehalt der Ge- schichte. Arnold war alles zuzutrauen. Jacob starrte auf die beschriebene Schiefertafel, die vor ihm auf seinem Pult lag: QUIS – wer spricht? Antwort: Kantor Johann Heinrich Arnold, allseits verhasster und gefürchteter Tertius am angesehenen Lyceum Illustre Glei- chense zu Ohrdruf. Leitspruch: An der Rute sparen rächt sich nach Jahren. Sadist, eventuell der Satan in Person. QUID – um was geht es? Im Einzelfall kaum zu sagen und im Grunde gleichgültig. Ein Anlass zum Prügeln fand sich immer, und Arnold war er- finderisch. CUR – warum?

38 Aus bodenloser Niedertracht. Allerdings hatte in Jacobs Fall Arnold tatsächlich einen handfesten Grund für seine Feind- seligkeit, nämlich den Bruder Christoph. Der frischgebackene Organist an St. Michaelis passte dem Herrn Kantor nicht in den Kram, die Vorschusslorbeeren, das genialische Gehabe, diese ganze vermaledeite Bachische Sippschaft, die sich jeden musi- kalischen Posten weit und breit unter den Nagel riss. Arnold verfolgte die Bachfamilie mit unstillbarem Hass, bis in das letzte Glied. Das heißt, bis in das vorletzte, denn sein Zorn traf vor- nehmlich ihn, Jacob, nur selten Sebastian. Ob seine Wut sich auf ihn konzentrierte, weil er der Ältere war, oder ob sich der Kantor Sebastian nur für eine besonders bestialische Bestrafung aufsparte, wer konnte das wissen? CONTRA – gegen wen geht es? Abermals und immer wieder: Johann Jacob Bach, Tertianer, Neuling auf dem Ohrdrufer Lyzeum, Bruder des neuen und all- seits beliebten Organisten Johann Christoph Bach. Nicht dass irgendjemand verschont geblieben wäre, aber Jacob war un- bestritten Arnolds bevorzugtes Opfer. SIMILE – ähnliche Fälle? Auf der Eisenacher Lateinschule hatten sowohl Magister Jun- cker als auch Kantor Dedekind sich, teils aus Menschenfreund- lichkeit, teils aus Bequemlichkeit, des Prügelns weitgehend enthalten. Sebastian und er hatten sehr wohl gewusst, dass es durchaus anders zugehen könnte, doch was sie auf dem Ohr- drufer Lyzeum auszustehen hatten, hätten sie sich niemals träu- men lassen, in ihren schwärzesten Albträumen nicht. EXEMPLARIA – Beispiele? Unzählige. Bereits am ersten Schultag, als Christoph sie dem neuen Lehrer vorstellte, hatten Jacob und Sebastian geahnt, was ihnen blühte. Als Arnold ihm die Hand drückte, hatte Jacob plötzlich einen furchtbaren Schmerz in der Handfläche gespürt. Schreiend hatte er unter des Kantors hämischem Gelächter die Hand weggerissen. Das Scheusal hatte eine Nadel in seiner

39 Hand verborgen und sie ihm bei der Begrüßung tief ins Fleisch gebohrt. Auf die verdrießliche Frage des Bruders, was er mit sol- chen Possen bezwecke, hatte Arnold mit einem widerwärtigen Grinsen geantwortet, das sei nun einmal seine Art, man solle es ihm nicht übel nehmen. Am liebsten hätte er natürlich den ver- ehrten Herrn Organisten, den elenden Parvenu, selbst durch- bohrt, und zwar nicht bloß die Handfläche und nicht bloß mit einer Nadel. TESTES – Zeugen? Kein Schüler oder Lehrer am Lyzeum, der nicht von irgend- einer Arnoldischen Hundsfötterei zu berichten wüsste oder ihr selbst zum Opfer gefallen wäre. »Monsieur Bach!« Jacob blickte auf. Seine Schockstarre hatte sich etwas gelöst, der Schmerz auf der Wange war kaum noch zu spüren. Er ver- suchte, seine Gedanken zu ordnen. Warum rief der fatale Ar- nold ihn während des Abschreibens auf? Zwar war er längst mit der Arbeit fertig, hatte aber noch Beschäftigung vorgeschützt, und er war sich sicher, dass der Kantor nicht auf seine Tafel geschaut hatte. Warum er ihn aufrief? Dumme Frage. Falsche Frage. Denn die Antwort lautete: Eben darum. Arnold hielt sie ja gerade durch seine Unberechenbarkeit in Angst und Schre- cken. Der Kantor war imstande, etwas Scherzhaftes zu sagen, um, sobald jemand lachte, einen Wutanfall zu bekommen und fürchterlich zu werden. Darum lachte niemand, wenn er einen Scherz machte. Das Schreckliche daran war, dass Arnold nicht nur ein überaus gelehrter, sondern auch ein ausnehmend witzi- ger Kopf war (oder doch sein konnte, wenn er wollte). So wetterwendisch seine Laune war, so sprunghaft hielt der Kantor auch seinen Unterricht. Er konnte mit einer lateini- schen Sprachübung beginnen, sich aus heiterem Himmel über die Gnadenlehre des heiligen Augustin auslassen, urplötzlich auf eine ominöse Rechenmaschine zu sprechen kommen, die irgendein gelehrter Fantast gebaut haben sollte, um von da auf

40 den Stein der Weisen, Himmelskörper, die abstrusen Spekula- tionen eines gewissen Jacob Böhme überzuspringen und un- versehens beim Pfälzischen Erbfolgekrieg zu landen. Es kam vor, dass Arnold sich dabei so in Rage redete, dass ihm der Schaum vor dem Mund stand. Mitunter beschimpfte er lauthals die Obrigkeit, nannte den Grafen einen Hanswurst und Luther einen Erzketzer, weswegen er schon in den Verdacht geraten war, ein heimliches Mitglied des Jesuitenordens zu sein, der im Auftrag des Papstes die Lutherische Lehre untergrub, um die Schüler des Lyzeums zum katholischen Glauben zu bekehren. Aber würde selbst ein Jesuit, dem bekanntlich der Zweck alle Mittel heiligte, so weit gehen, die Auferstehung zu leugnen und für einen gemeinen Betrug zu erklären? Warum »der gottlose Kantor«, wie er allgemein genannt wurde, noch am Lyzeum unterrichten durfte, vermochte nie- mand zu sagen. Die Schulleitung und die übrigen Lehrer (die ihn verachteten, aber beinahe ebenso fürchteten wie die Schü- ler) hüllten sich in Schweigen. Angeblich hatte der Graf, den Arnold doch von seinen Schmähungen nicht ausnahm, einen Narren an ihm gefressen und weigerte sich, ihn hinauszu- werfen. Doch wahrscheinlicher hielt eine noch höhere In­ stanz schützend die Hand über Arnold. Der Verbleib des Kan- tors im Schuldienst war ein Mysterium, für das es, jedenfalls in den Augen der Tertianer, die am schrecklichsten unter Ar- nold zu leiden hatten, nur eine Erklärung geben konnte: Nie- mand anders als der Höllenfürst Beelzebub persönlich prote- gierte den teuflischen Pädagogen. Wenn er nicht gar selbst in der leiblichen Hülle des Kantors steckte. Nicht wenige hielten allen Ernstes Arnold für den leibhaftigen Satan, und auch Jacob neigte mehr und mehr zu dieser Meinung. Immerhin gab es Zeugen: Tagsüber verbarg Arnold seinen Pferdefuß, aber der Primaner Creutzberg hatte den Entsetzlichen gesehen, wie er sich eines Nachts hinkenden Schritts durch eine verrufene Gasse bewegt hatte.

41 Widersagt ihr den Verlockungen des Bösen, damit es nicht Ge- walt über euch gewinne? Ja, weiche von mir, Satan! Doch so leicht ließ sich dieser Beelzebub nicht austreiben. »Herr Bach, was ist Ihnen denn? Haben Sie sich etwa er- schrocken?«, fragte Arnold mit geheuchelter Besorgnis. »Das täte mir herzlich leid, mon cher. Doch wähnte ich Sie wahrhaftig in einem so tiefen Schlummer, dass es mir angeraten schien, Sie ein wenig wachzutätscheln. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.« Der gottlose Kantor lachte höhnisch. »Und nun, mein lie- ber Bach, da Sie nun wieder munter sind, dürfte ich Sie allerun- tertänigst bitten – endlich Ihren Griffel loszulassen. Oder wol- len Sie mich damit erstechen?« Jacob sah auf seine Rechte: Tatsächlich umfasste er seinen Griffel wie einen Dolch, bereit, ihn jemandem in die Eingeweide zu stoßen. Konnte Arnold Gedanken lesen? »Warum zögern Sie?«, rief der Kantor mit schneidender Stimme. »Die Iden des Märzes sind wohl schon vorüber, aber das tut nichts: Begehen Sie einen Schultyrannenmord!« Unter diesen Worten knöpfte er seinen Rock auf, riss sich das Halstuch herunter, öffnete das Hemd und reckte Jacob seine haarlose bleiche Brust entgegen. »Wohlan, mein Sohn Brutus«, schrie er. »Mache ein Ende. Man wird dich als Helden der Freiheit feiern!« Vor Schreck ließ Jacob den Griffel fallen, der nun klappernd auf die Pultkante zurollte. Mit spöttischem Blick verfolgte Ar- nold seinen Lauf. Kurz vor dem Absturz blieb das Schreibgerät an der Kante liegen. Der Kantor brach in ein meckerndes Gelächter aus. Dann fasste er Jacob ans Kinn, nicht grob, beinahe zärtlich. »Nein, dafür fehlt dir der Mut, nicht wahr?«, flüsterte er. »Für so etwas fehlt euch die Courage!«, schrie er plötzlich in die Klasse hin- ein. »Ihr seid ja allzumal dieselben Schlappschwänze, erbärm-

42 lichen Tintenkleckser wie …« Auf einmal schüttelte er sich, als erwache er aus einem bösen Traum. »Wo waren wir stehen ge- blieben?«, sprach er nun mit seiner gewöhnlichen Stimme. Dann nahm Arnold seine siebenschwänzige Peitsche vom Ka- theder und legte sie wie zufällig auf Sebastians Pult, das rechts neben demjenigen Jacobs stand. Jacob bemerkte im Augen- winkel, wie der kleine Bruder erbleichte. Die Schonzeit schien vorbei. Jacob fühlte eine kalte unbändige Wut in sich aufsteigen, die ihn seine eigene Angst beinahe vergessen ließ. Wenn der Schurke Sebastian auch nur ein Haar krümmte, dann – ja, was dann? Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Jacob schloss die Augen und atmete durch. Bis auf die Backpfeife war noch nichts vorgefallen. Nein, auf keinen Fall durfte er sich auf das Spiel ein- lassen, er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Arnold wartete nur auf einen Anlass, auf ihn – oder Sebastian – loszugehen. »Wo waren wir stehen geblieben?« Arnold legte nachsinnend den Zeigefinger auf den Mund. »Ach ja.« Er lächelte zufrieden. Dieses Lächeln war fürchterlicher, als es alle Zornesausbrüche sein konnten. »Ach ja, ich wollte Sie höflichst bitten, folgenden Satz aus unserem heißgeliebten Petronio in die deutsche Spra- che zu übersetzen.« Petronius? Jacob hatte den Namen noch nie gehört. Aller- dings durfte ihn das kaum überraschen, denn Arnold scherte sich nicht um den vorgeschriebenen Lehrplan. Das galt ins- besondere für die lateinischen Sprachübungen. Reyhers Dialogi seu Colloquia puerilia, aus denen Magister Juncker seine Lek- tionen genommen hatte, verachtete er als »afterphilologisches Machwerk«, stattdessen traktierte er die Schüler mit seinen persönlichen Lieblingsdichtern Ovid, Juvenal, Catull und Ti- bull, die allesamt nicht für den Unterricht der Tertia vorgesehen waren. Und zwar, wie sie bald festgestellt hatten, aus sehr guten Gründen. Die dichterischen Hervorbringungen dieser edlen Römer hatten sich nämlich samt und sonders als ausgemachte

43 Ferkeleien erwiesen. Offenbar verwendete Arnold viel Zeit und Sorgfalt darauf, aus der Fülle des antiken Schrifttums die an- stößigsten und unzüchtigsten Stellen herauszusuchen: Inzest, Sodomie, Päderastie, es konnte gar nicht ekelhaft genug sein. Wer sonst nichts als den Arnoldischen Lateinunterricht genossen hatte, musste glauben, dass die alten Heiden zusamt Hurenböcke und Kinderschänder gewesen seien. Ohne Zweifel gehörte auch der ominöse Petronius zu diesen poetischen Lüstlingen, so viel stand fest. Und auch darüber, wie es nun weitergehen würde, konnte kein Zweifel bestehen. Es war immer dasselbe: Der Kantor legte ihnen irgendeinen sehr schwierigen Ausspruch oder Vers vor, ließ sie eine Weile daran herumknabbern (hin und wieder gab er ihnen einen Wink, die Bedeutung einer be- stimmten Vokabel betreffend, was aber meist mehr Verwirrung als Klarheit schuf), und das widerliche Spiel endete damit, dass ein unschuldiger Knabe stotternd und mit hochrotem Kopf eine Abscheulichkeit von sich gab, die ihnen Arnold anschließend mit genüsslicher Umständlichkeit ausmalte. Der Kantor konnte von derlei Übungen nicht genug bekommen, er berauschte sich geradezu daran. Arnold hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und wiegte sich gemächlich, eine Melodie vor sich hin summend – es war der alte Trostchoral »Warum soll ich mich denn grämen?« –, auf den Fußballen hin und her. Mitten in der Strophe ver- stummte er. Er leckte sich über die ohnedies immer feuch- ten Lippen und sprach: »Etiam dormire vobis in mente est, cum sciatis Priapi genio pervigilium deberi.« Genießerisch den Klang gleichsam nachschmeckend, verweilte er bei jedem einzelnen Wort. Grammatisch schien der Satz keine unüberwindlichen Schwierigkeiten aufzuweisen. Aber die Vokabeln? Immerhin, den ersten Teil hatte Jacob erfasst. Doch was um alles in der Welt bedeutete »Priapi«? Was, wenn er gar nichts sagte, wenn er sich dumm stellte und

44 schwieg? Johann Ernst hatte sich auf diese Taktik verlegt. Wurde er aufgerufen, stellte sich der Vetter einfach taub. Die Methode hatte ihn viel Blut gekostet, war aber schließlich von Erfolg ge- krönt gewesen. Arnolds Schwäche war seine Ungeduld. So viel Pläsier ihm die häufige und ausgiebige Züchtigung seiner Schü- ler bereitete, irgendwann hatte es selbst ihn angeödet, auf einen anscheinend gefühllosen Klotz einzudreschen. Ernst war hart- näckig und stur wie ein Esel. Beinahe verzweifelt hatte Arnold zuletzt auf ihn eingeprügelt, aber der wackere Vetter hatte kei- nen Laut von sich gegeben. Seitdem war er Luft für den Kantor. Nicht zuletzt dieses Sieges wegen genoss Ernst die Bewunderung, ja Ehrerbietung seiner Mitschüler. Nachahmer fand er indessen nicht. Aber selbst wenn er gewollt hätte, Jacob wusste, dass er es nie fertigbringen würde, so zu schweigen. Es war nicht der Schläge wegen. Irgendetwas zwang ihn stets dazu, das Maul auf- zutun, auch wenn er wusste, dass es ihm nur zum Schaden aus- schlagen musste. Arnold hatte sich mit beiden Händen auf das Pult gestützt und beugte sich zu ihm herüber, so nah, dass Jacob seinen sau- ren Atem roch. Mit unheilvoll gedämpfter Stimme wiederholte der Kantor: »Etiam dormire …« Jacob wurde übel. Er schluckte. Arnold registrierte es mit einem Heben der Augenbrauen. Nun gut, die erste Hälfte hatte er ja verstanden: »Ha – habt ihr etwa … im Sinn zu schlafen …«, begann Jacob stockend zu übersetzen. Der Kantor setzte eine überraschte Miene auf. Er klatschte in die Hände. »Bravo, Bach! Wir gratulieren. Wer hätte das ge- dacht?« Er blickte beifallheischend in die Runde. Die Klasse hütete sich, auch nur den kleinsten Laut von sich zu geben. Arnold kümmerte das nicht. »Ja, wirklich exzellent«, rief er vergnügt, »so weit hätte mein Gani es auch zu übersetzen ver- mocht.«

45 Gani – eigentlich Ganymedes – hieß Arnolds gelber Kanari, welchen er einem vagabundieren Vogelhändler abgekauft und dem er allerlei Melodien beigebracht hatte. Gani sang wirklich sehr schön. Manchmal brachte Arnold ihn in seinem Vogel- bauer in den Unterricht. Arnold verhakte seine ekligen Spinnenfinger ineinander und knickte sie mit einem Ruck um. Das scheußliche Knacken ließ die Tertia erschauern, Mengs stieß sogar einen kleinen Schrei aus. Zufrieden betrachtete der Kantor seine langen Finger. »Wo fehlt es denn, Bach? – Steht euch denn der Sinn nach Schlafen – und dann? Sciatis: In welchem Modo steht dieses Verbum? – Frobenius? – im Konjunktiv – richtig! Lux hat dir vorgesagt. Ich höre alles.« Blitzschnell mit einem widerlichen Sausen fuhr die Peitsche auf Luxens linke Hand nieder. Der schrie vor Schrecken und Schmerz auf. Das Martergerät hinterließ einen roten Striemen auf seinem Handrücken, aus dem sofort Blut vortrat. In Erwartung der gleichen grausamen Bestrafung hob Fro- benius abwehrend seine Arme. Doch der Schlag blieb aus. Be- dächtig legte Arnold den Siebenstriemer auf Sebastians Pult zu- rück. »Also Konjunktiv«, fuhr der Kantor fort, als wäre nichts ge- wesen. »Was bedeutet dann cum? Ich empfehle in diesem Falle obwohl: Steht euch etwa der Sinn nach Schlafen, obwohl ihr wisst – was? Obwohl ihr wisst, dass ihr dem Genius des Priapus eine pervigilium: eine Nachtwache schuldet? – Was bedeutet das? Wer weiß es? Niemand?« Arnold kicherte irre vor sich hin. Dann begann er, an seiner Hose herumzunesteln, die ihm plötzlich zu eng geworden schien. In der Tat: Zwischen den Beinen des Kantors zeichnete sich eine beträchtliche Beule ab, die noch zusehends anschwoll und den Hosenstoff zu spren- gen drohte. Arnold fing an, merkwürdig tief zu atmen. »Wisst ihr nicht, was das bedeutet, meine kleinen Lieblinge? Ihr Un- schuldslämmer«, keuchte er. Mit einem Mal fühlte sich Jacob

46 im Nacken gepackt, Arnolds Hand war heiß und glitschig. »Bur- sche, ich will ihm schon weisen …« Jacob stieß ihn mit aller Kraft zurück. Von der Gegenwehr überrascht, taumelte Arnold ein paar Schritte von ihm weg. Aber der Widerstand machte ihn nur noch rasender. Lüstern spitzte er den Mund, seine Blicke durchbohrten Jacob. »Warte, ich werde …« Weiter sprach er nicht. Abermals durchschnitt ein scharfes Zischen die stickige Luft des Klassenzimmers. Beinahe im sel- ben Augenblick ein Knall, ein Platzen, ähnlich dem schmatzen- den Geräusch, das sich hören ließ, wenn man eine Nadel in eine pralle Schweinsblase stach. Das Antlitz des Kantors verfärbte sich blau, Tränen schossen ihm aus den Augen. Er schnappte nach Luft. Dann stieß er ein leises Winseln aus. Er presste beide Hände auf seine Genitalien. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Auf der Hose breitete sich zu beiden Seiten ein schwarzer Fleck aus. Arnold starrte sekundenlang ins Leere, dann schaute er auf seine Hände, blickte wieder auf und sah erst Sebastian, dann Jacob in die Augen. Das wölfische Blitzen, vor dem sie sich so fürchteten, war verschwunden. Keine Spur von Hass lag in diesem Blick, auch kein Entsetzen, nicht einmal Schmerz, sondern – tiefe Dankbarkeit. Arnold flüsterte noch etwas, das niemand verstand. Dann verlor er die Besinnung und sank zu Boden. Es herrschte vollkommene Stille im Klassenraum. Dann ein dumpfer Schlag. Gottfried Tempel, der Klassenprimus, war ohnmächtig von seinem Stuhl gefallen. Kantor Arnold setzte nie wieder einen Fuß in die Schule, ließ sich überhaupt in der Öffentlichkeit nicht mehr blicken. Wer immer ihn bisher geschützt hatte, nichts und niemand hätte ihn jetzt mehr zu retten vermocht. Der gottlose Kantor hatte aus- gespielt.

Weder für die Tertia noch für Sebastian zog der Vorfall irgend- welche Konsequenzen nach sich. Rektor und Konrektor schwiegen,

47 das restliche Kollegium desgleichen. Es hieß, Doktor Köttelwisch habe Arnolds Wunden versorgt und ihm auf unbestimmte Zeit Bettruhe verordnet. Nach einigen Tagen wurde jedoch das Ge- rücht laut, der Kantor sei seiner schweren Verletzung erlegen und bereits heimlich auf dem Gottesacker verscharrt worden. Das war nicht ganz abwegig, denn die Peitsche des Kantors war zweifel- los eine gefährliche Waffe, und Sebastian verfügte durch die täg- liche Übung an der Kirchenorgel, an der ihn der Bruder gleich nach ihrer Ankunft zu unterrichten begonnen hatte, über eine be- trächtliche Armeskraft. Aber Johann Heinrich Arnold war nicht gestorben. Als eine Woche nach dem blutigen Ereignis noch immer Unklarheit über das Schicksal des Kantors herrschte, erkundigte sich Johann Christoph Bach beim Rat nach Arnolds Befinden und erfuhr, dass dieser den Schuldienst ein für alle Mal quittiert habe und nach seiner Genesung, das heißt, sobald er wieder habe gehen können, die Stadt auf immer verlassen habe. Und Sebastian? Der Bruder verlor kein Wort über die Affäre. Er sprach mit niemandem darüber, nicht mit Johann Christoph, nicht mit Ernst und auch nicht mit Jacob. Die Geschichte ließ Jacob keine Ruhe. Arnold hatte sein Amt verloren und mit Schimpf und Schande aus der Stadt flie- hen müssen. Aber hatte er diese Bestrafung nicht mehr als ver- dient? Doch so einfach war die Sache nicht. Warum war Arnold so, wie er war? Dieser sanfte letzte Blick, den Jacob als versöhn- lich, sogar dankbar empfunden hatte, wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn. Hatte Sebastian es auch so empfunden? Wenn man darüber nachdachte: Musste man nicht zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass Arnold von Anfang an alles darangesetzt hatte, auf schimpfliche Weise hinausgeworfen zu werden? Aber warum sollte sich ein Mensch die eigene Vernichtung zum Ziel setzen? Je mehr Jacob darüber nachsann, desto klarer wurde ihm, dass Arnold seine Schüler nie gehasst hatte. Sie waren ihm im Grunde gleichgültig gewesen, vielleicht noch nicht einmal

48 das. Es war nie um sie gegangen, auch nicht um Christoph. In Wahrheit hasste der Kantor niemanden mehr als sich selbst, so sehr, dass sein ganzes Tun und Trachten einzig auf die Selbst- auslöschung abzielte. Aber warum hatte er sich dann nicht an einen Strick gehängt oder eine Kugel vor den Kopf geschossen? Ein Mann wie Arnold fürchtete keine Höllenstrafen. Aber ein Selbstmord wäre zu banal gewesen, damit hätte er es sich zu leicht gemacht. Arnold wollte, er brauchte die Erniedrigung, und zwar die schlimmstmögliche. Darum hatte er den letzten Schlag, Sebastians Hieb mit dem Siebenstriemer, selbst herbei- geführt. Er wollte die Hand nicht gegen sich selbst erheben, das ließ er den Jungen besorgen. Dafür hatte er Sebastian die ganze Zeit über geschont, er hatte ihn sich aufgespart für diesen letz- ten Akt seines Selbsthasses. Hatte Sebastian das geahnt oder gar gewusst? Was bedeutete dann seine Tat? Hatte er sich von Ar- nold zu dessen Werkzeug machen lassen? Oder hatte Sebastian – aus Mitleid gehandelt? Wusste er es selbst? Irgendwann würde er Sebastian danach fragen. Vielleicht. Was immer in Sebastian vorging, nach der Austreibung des gottlosen Kantors blühte der Bruder auf. Ein neuer Rektor wurde berufen, Magister Johann Christoph (noch ein Johann Christoph!) Kiesewetter, ein ebenso gelehrter wie ehrgeiziger junger Mann, der es sich zum Ziel setzte, den glänzenden Ruf, den das Lyceum Gleichense einst genossen hatte, schnellstmög- lichst wiederherzustellen. Ihm zur Seite stand Arnolds Nach- folger, der Kantor Elias Herda, ein alter Kamerad des Bruders Christoph. Unter diesen beiden steigerte sich Sebastians Lern- eifer ins Unglaubliche: In Latein und Mathematik hatte er es im zweiten Jahr der Tertia zum Primus gebracht. Dicht gefolgt von seinem neuen Freund Erdmann, der ihm in diesen beiden Fächern stets ein wenig unterlegen blieb, es ihm dafür aber im Griechischen und, vor allem, in der Eloquenz zuvortat. Erdmann: Zum ersten Male hatte Sebastian, außer Jacob, einen wirklichen Freund. Dabei passten Sebastian und er über-

49 haupt nicht zusammen. Georg Erdmann war, wie Jacob, drei- zehn Jahre alt, also drei Jahre älter als Sebastian, dafür aber einen ganzen Kopf kleiner. Er stammte aus Leina, einem Dorf in der Nähe der Residenzstadt Gotha, und war armer Leute Kind. Aber Erdmanns glockenheller Sopran und seine außergewöhn- liche Begabung für Sprachen hatten ihm die Türen des Lyzeums geöffnet. Das heißt, Herda, der ebenfalls in Leina gebürtig war, hatte dafür gesorgt, dass der begabte Knabe die berühmte Schule besuchen durfte. Wie Jacob und Sebastian verdiente er das Schulgeld als Chorschüler. Wenn Erdmann und Sebastian auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam hatten, eines musste jedem an beiden gleichermaßen auffallen: nämlich eine gewisse hartnäckige, oft auch ärgerliche Taciturnität. Beide waren große Schweiger. Allerdings unterschieden sie sich darin, dass Sebas- tian seine Hartmäuligkeit nur gezwungenermaßen überwand, während Erdmann, zu diesem oder jenem nach seiner Meinung gefragt, mit stupender, geradezu lustvoller Beredsamkeit, ob auf Deutsch oder Latein, gleichsam wie ein neuer Cicero zu spre- chen vermochte. Die Rede brach einfach aus ihm hervor, ohne dass er es selber wollte, ja, man hatte bisweilen den Eindruck, seine Eloquenz sei ihm peinlich. Aber wenn, wie Vetter Ernst es einmal in einer Mischung aus Spott und Bewunderung aus- gedrückt hatte, »der Heilige Geist über ihn kam«, gab es kein Halten mehr. Auf dem Lyzeum waren die beiden Freunde bald als »Moses und Aaron« berühmt. Aaron war bekanntlich drei Jahre älter gewesen als sein Bruder Mose, und so wie der Pro- phet Mose sein Volk aus Ägyptenland geführt und den Pha- rao geschlagen hatte, hatte Sebastian den Kantor Arnold be- siegt. Mose hatte eine schwere Sprache und eine schwere Zunge. Aaron aber war beredt, und Gott befahl ihm, für Mose zum Volk zu reden. und Georg Erdmann redeten aber nicht zum Volk, sie blieben unter sich. Nach der Schule pfleg- ten die Freunde lange und heimliche Gespräche zu führen. Zu

50 gern hätte Jacob gewusst, worüber sich die beiden immer so an- gelegentlich unterredeten, doch wohl kaum über die lateini- schen Casus, unregelmäßige Verben und ähnlich fades Zeug. Mit ihm, dem eigenen Bruder, sprach Sebastian nur noch das Nötigste. Ja, Jacob war eifersüchtig auf Erdmann. Aber zugleich schämte er sich dieser Eifersucht. Sollte er sich nicht freuen, dass sein Bruder einen Freund gefunden hatte, einen, der ihn verstand? Sebastian würde immer sein Bruder bleiben. Doch ihr Verhältnis hatte sich grundlegend gewandelt: Jacob musste ihn nicht mehr an die Hand nehmen. Sebastian konnte auf sich selbst aufpassen. Und nicht nur das: Er hatte ihn, den großen Bruder, aus der Gewalt des gottlosen Kantors errettet. Jacob war ihm dankbar dafür, gewiss. Aber es war nicht richtig, ihre Rol- len hatten sich vertauscht. Sebastian war nicht mehr der kleine Bruder. Er brauchte Jacob nicht mehr. Sebastian ging unbeirrbar seinen Weg, wohin immer ihn dieser Weg führen würde. Als die Nacht über sie hereingebrochen, erst die Mutter, dann der Vater gestorben war, da hatten sie sich gehabt: Jacob und Se- bastian – Sebastian und Jacob, die Unzertrennlichen, stets ge- meinsam, stets in einem Atemzug genannt. Das war vorbei, für immer. Es tat weh, wie ein tiefer Schnitt ins Fleisch. Und es tat doppelt weh, weil Jacob wusste, dass Sebastian die- sen Schmerz nicht spürte.

51 IV.

Stylus Phantasticus

Ohrdruf 1695 7. Sonntag nach Trinitatis

Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und ge- macht hatte. Gott hatte es gut. Alle hatten es gut. Nur für sie begann die heilige Ruhe erst am Nachmittag. Vorher hatten sie zu arbeiten – zur höheren Ehre Gottes, Christoph an der Orgel, Jacob als Chorsänger. Selbst in der Michaeliskirche mit ihren dicken Mauern war es vor Hitze kaum auszuhalten. Er hatte an diesem Morgen so gut wie nicht gefrühstückt, ihm war schwindelig vor Hunger. Wie zum Hohn predigte Superintendent Magister Samuel Kromeyer über Lukas 9, 10–17: Und Jesus rief seine Jünger zu sich und sprach: Es jammert mich des Volks, denn sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und ich will sie nicht ohne Speise von mir lassen, auf dass sie nicht verschmachten auf dem Wege. Da sprachen zu ihm seine Jünger: Woher möch- ten wir so viel Brot nehmen in der Wüste, dass wir so viel Volks sättigen? Und Jesus sprach zu ihnen: Wie viel Brot habt ihr? Sie sprachen: Sieben und wenige Fischlein. Und er hieß das Volk sich lagern auf der Erde und nahm die sieben Brote und die Fische, dankte und brach sie und gab sie seinen Jüngern. Und die Jün- ger gaben sie dem Volke. Und sie aßen alle und wurden satt und hoben auf, was übrig blieb von Brocken, sieben Körbe voll.

52 Kromeyer sprach mit einer kratzigen Fistelstimme, die zu sei- ner gewaltigen Erscheinung in einem so krassen Missverhältnis stand, dass es weniger komisch als unheimlich wirkte. Es war, als müsse jeden Augenblick ein zwergenhafter Bauchredner, der sich hinter dem breiten Rücken des Superintendenten oder unter dem weiten Talar versteckt hatte, hervorspringen und sich als der wahre Prediger offenbaren, der seinen Spott mit ihnen trieb. Endlich sangen sie den Schlusschoral. Kromeyer und Pfar- rer Schimmelhaupt sprachen einen grauenhaft kakophonischen Segen, und die Ohrdrufer verließen ihre Kirche, um sich an die Mittagstische zu begeben. Auch der Chorus musicus wartete auf den Abmarschbefehl. Nur Christoph fand wieder einmal kein Ende. Das Orgel- nachspiel zog sich hin. Während Küster Krummacher laut keu- chend durch die Kirche galoppierte und die Kerzen löschte (ob- wohl sie den Raum unerträglich aufheizten, konnte man in der finsteren Michaeliskirche auf sie nicht verzichten), bauten sich Kromeyer und Schimmelhaupt in der Vierung auf. Von der Sängerempore aus konnte Jacob ihre Physiognomien ein- gehend studieren. Kromeyer wischte sich mit einem Schnupf- tuch über die breite Stirn, sein fleischiges Antlitz war dunkelrot angelaufen, die Hamsterbacken zitterten. Um sich etwas Küh- lung zu verschaffen, zupfte der Superintendent unablässig an seinem zeltartigen Talar herum. Dem dürren Schimmelhaupt schien indessen die Hitze nicht so viel auszumachen, ihn plagte etwas anderes: Er hatte es mit der Blase. Mit Märtyrermiene trat er von einem Bein aufs andere. Jacobs Mitleid hielt sich in Grenzen. Erging es ihnen hier oben denn besser? Das dumpfe Kopfweh, das während des Glaubens- bekenntnisses (bei: »Ich glaube an den Heiligen Geist«) ein- gesetzt hatte, war beim Segen (»Er lasse leuchten sein Angesicht über euch«) in ein rasendes Hämmern übergegangen. Jacob rieb sich die Schläfen. Es war nicht auszuhalten. Ihre Kehlen und Münder waren vor Hitze und vom Singen ausgedörrt; die Luft

53 war so stickig, dass man kaum atmen konnte. Sie schwitzten wie die Orang Pendaks auf Sumatra. Sie wollten nach Hause. Alle Blicke richteten sich beschwörend auf die Orgelempore. Aber Christoph improvisierte immer weiter. Über den Choral »Es ist genug!« Einige Schüler begannen, ihrem Ärger Luft zu machen. »Auf- hören!« – »Hunger!« – »Wir wollen nach Hause!« Sie trampelten auf dem Holzboden der Sängerempore, Pfiffe waren zu hören. Der hochlöbliche Chorus musicus meuterte. Kantor Elias Herda zeigte keinerlei Reaktion. Mit dem Rü- cken zum Chor verharrte er regungslos an der Balustrade und lauschte den musikalischen Ausschweifungen seines Freundes Johann Christoph Bach. Dabei wusste Herda sehr genau, was sich hinter ihm abspielte. Und die Schüler wussten, dass er es wusste. Dem neuen Kantor entging nichts, er besaß die be- neidenswerte, aber etwas unheimliche Gabe, sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren zu können. Aber war ihr Zorn nicht gerecht? Das war er, weiß Gott, Herda sollte ihn gar nicht überhören. Der Kantor war sich natürlich auch darüber im Klaren. Be- tont langsam drehte er sich um, mit einem halb mitleidigen, halb spöttischen Lächeln musterte er die Reihen. Herda ver- lor nie die Beherrschung, die Rute gebrauchte er nur äußerst selten, und wenn, dann so nachlässig, ja geradezu widerwillig, dass es so aussah, als erlitte nicht der Delinquent die Züchti- gung, sondern er selbst. Die Strafe bestand auch weniger in den Prügeln an sich als in der Scham darüber, den geliebten Lehrer gezwungen zu haben, sich selbst derartig zu erniedrigen. Und das wollte niemand, kein Schüler riskierte es ohne weiteres, bei Herda in Ungnade zu fallen. Aber was zu viel war, war zu viel. Herdas Blick zeigte Wirkung. Schlagartig herrschte ver- legenes Schweigen. Waren sie zu weit gegangen? Jeder wusste, wie sehr der Kantor den Organisten Bach und dessen absonder- liche Spielweise schätzte. Wer Bach angriff, legte sich mit Herda

54 an. Dennoch, sie fühlten sich im Recht. Es war eine blöde Situ- ation. Herda sagte nichts, er schien nachzudenken. Dann schüt- telte er in gespielter Hilflosigkeit, als fiele ihm gegen solches Barbarentum beim besten Willen nichts mehr ein, den Kopf, legte den Zeigefinger auf den Mund und – wandte sich wieder dem Orgelspiel zu. Die Chorschüler atmeten auf. Sie hatten verstanden: Der Kantor erwartete nicht, dass sie die Musik würdigten, aber er bat sich Ruhe aus. Das war ein akzeptabler Kompromiss. Ge- wonnen war damit freilich nicht viel. Indessen hatte sich ihre Lage geändert. Aus den Meuterern waren Schiffbrüchige ge- worden, die sich gerettet hatten und sich nun auf ihrer ein- samen Insel einrichten mussten. Jeder tat das auf seine Weise. Quehl, Frobenius und Oschatz zogen sich in einen Winkel zu- rück und begannen, um die Kupferpfennige, die ihnen ihre El- tern für den Opferstock mitgegeben hatten, Würfel zu spielen. Aber sie waren mit wenig Begeisterung bei der Sache, es fehlte der Reiz des Verbotenen. Wenn sie im Unterricht beim Würfeln erwischt wurden, konnte Oschatz die Würfel blitzschnell ver- schlucken und damit alle Beweise vernichten. Unter Kantor Ar- nold (unseligen Angedenkens) hatte er das so oft tun müssen, dass er darüber eine Magenkolik bekommen hatte. Jacob hörte ein hektisches Rascheln hinter sich, wie eine Maus, die sich durch Stroh wühlte. Er brauchte sich nicht um- zudrehen, er wusste, was es war: Primus Tempel schlug ein Buch auf. Jacob kannte sogar den Titel: Eines Christen Reise nach der ewigen Seligkeit. Ein Engländer namens Johannes Bunyan hatte es verfasst. Tempel las bei jeder Gelegenheit darin und kam sich dabei sehr verrucht vor. Tat er es doch wider die Empfehlung des Herrn Pfarrer Schimmelhaupt, der solchen Lesestoff, wenn nicht geradezu als ketzerisch, so immerhin als nicht völlig un- bedenklich eingestuft und Tempel von der Lektüre bis auf wei- teres abgeraten hatte. Von einem regelrechten Verbot oder gar

55 einer Konfiszierung hatte der sonst so gestrenge Gottesmann ab- gesehen, denn Tempel hatte das Buch von seinem Patenonkel, dem berühmten Theologieprofessor Hinckelmann in Halle, ge- schenkt bekommen. Natürlich hatte bald die ganze Tertia da­rauf gebrannt zu erfahren, welch abscheuliche Irrlehren der ketze- rische Engländer in seiner Schrift verbreitete. Als Tempel sich nach unendlichem Zaudern und Zieren endlich dazu herbei- gelassen hatte, ihnen etwas daraus vorzutragen, war die Ent- täuschung groß gewesen. Bereits nach wenigen Sätzen hatte sich erwiesen, dass Bunyans Reise nach der ewigen Seligkeit in seiner quälenden Langatmigkeit sogar noch die in monotonem Sing- sang dahergeleierten Predigten Schimmelhaupts in den Schatten stellte. Tempel konnte natürlich unmöglich zugeben, dass auch ihn der fromme Wortkram zu Tode langweilte, und so war er zum Weiterlesen verdammt. Mit selbstverleugnerischer Diszi- plin hielt er also seinem Bunyan die Treue, was ihm jede Menge Spott, bei seinen Strebergenossen und Nacheiferern Lux und Tross aber maßlose Bewunderung einbrachte. Angeblich konn- ten die beiden es kaum erwarten, das Werk auszuleihen und sich ebenfalls auf die Reise nach der ewigen Seligkeit zu begeben. Was machte Vetter Ernst? Mürrisch dreinblickend, hatte er angefangen, sich mit seinem Klappmesser, ein Erbstück sei- nes Vaters, um das ihn die gesamte Schülerschaft des Lyzeums beneidete, die Fingernägel zu putzen. Selbst er vermochte sich nicht für Christophs Orgelspiel zu begeistern. Dabei nahm Ernst, ebenso wie Sebastian, bei ihm Unterricht und stellte sich dabei gar nicht dumm an, im Gegenteil, er erwies sich als überaus be- gabter Musiker. Allerdings hielt sich Ernst, wie in allen Dingen, auch in der Musik eisern an seine Maxime, niemals mehr zu leisten, als unbedingt von ihm verlangt wurde. Für ihn war die Arbeit des Organisten beendet, wenn die Gemeinde die Kirche verlassen hatte. Und hatte er nicht vollkommen recht? Bruder Christoph war der liebenswürdigste Mensch von der Welt, aber er war nicht ganz von dieser Welt. Saß er am Spiel-

56 tisch, vergaß er alles um sich herum; beim Improvisieren ge- riet er in eine Art Rauschzustand, aus dem er so leicht nicht erwachte. Postludium ad infinitum – und dazu noch so ein- schläfernd. Christoph spielte immer dieselben Figuren. Es klang, als sei er über dem eigenen Spiel eingedöst und seine Finger und Füße wiederholten mechanisch immer wieder die letzten Be- wegungen, die er sie im wachen Zustand hatte ausführen lassen. Redlich, Seidel und Tacke hatten sich an die Wand gelehnt und hielten ein Nickerchen. Auch Jacob überkam eine blei- erne Müdigkeit. Was hielt ihn davon ab, es ihnen gleichzutun? Er schloss die Augen und versuchte, an gar nichts zu denken: In Jesu Namen schlaf ich ein … Da geschah es. Zunächst reihten sich die Töne recht gemächlich aneinander, d-Moll, eine Fantasie oder Toccata. Dann ging Christoph zu auf- und abwogenden Läufen in Sechzehnteln und Zweiunddrei- ßigsteln über, beschleunigte, wurde schneller und schneller – und brach jäh ab: mit einem verminderten Septakkord! Jacob stockte der Atem. Hatte Christoph danebengegriffen? – Nein, unmög- lich. Aber das war gegen alle Regeln, das war verrückt, bizarr, das war – fantastisch. Aber so konnte man doch nicht spielen! Christoph konnte. Nach einer schier unendlichen Pause setzte eine Abfolge ruhig schreitender Akkorde ein. Dann erklang ein ziemlich simples dreitaktiges Thema, das Jacob kannte. Chris- toph hatte es in den letzten Tagen immer wieder vor sich hin ge- pfiffen. Es erinnerte etwas an den Anfang von Wie schön leuchtet der Morgenstern. Dann setzte eine zweite Stimme mit demselben Thema ein. Exposition und Comes: eine Fuge. Eine dritte Stimme folgte. Eine vierte. Schließlich fügte Christoph noch eine fünfte hinzu. Die Durchführungen spielte er zunächst in der Parallel- tonart, dann in der Oberquinte, bei der dritten vermochte Jacob nicht mehr zu folgen. Auch das Thema selbst variierte Christoph, verkürzte und erweiterte es, kehrte es um, führte die Themen in den Durchführungen zusammen und wieder auseinander. In halsbrecherischen chromatischen Läufen raste die Fuge dahin,

57 wie Blitze zuckten die Oberstimmen durch das Donnergrollen der Bässe, als entlüde sich in der Kirche ein Gewitter. Die The- men umschlangen sich, prallten gegeneinander, dann krallten sie sich wieder ineinander, verschmolzen zu unentwirrbarem Klangchaos, aus dem einzelne Töne wie Funken herausstoben. Christoph hatte die Kontrolle verloren, die Musik ging ihm durch wie ein Gaul, dem man zu heftig die Sporen gegeben hatte. Er zwang die Themen nicht mehr zusammen, die Fuge stürzte ein wie ein zu rasch aufgerichtetes Gebäude. Vereinzelt stieg das zerbrochene Thema noch an die Oberfläche wie umher- treibende Trümmerteile nach einem Schiffbruch. Christoph war gescheitert, er hatte zu viel gewollt. Er musste abbrechen. Aber er spielte weiter, immer weiter. Und das Unmögliche geschah: Unversehens, ganz allmählich, Takt für Takt, näherten sich die Stimmen wieder einander an. Die Verworrenheit lichtete sich, die zerschmetterte Ordnung fügte sich wieder zusammen; die scheinbaren Irrwege liefen wieder auf ihren Ausgangspunkt zu. Der Schlussakkord erwies alle vermeintliche Verwirrung als wohldurchdachte planmäßige Vorsehung, als ein zwingendes Kalkül, dessen strahlende Einfachheit sich dem menschlichen Ohr erst im Nachhinein erschloss. Diese Auflösung hatte fest- gestanden, noch bevor der erste Ton erklungen war. Vom Ende her ergab alles einen Sinn, keinen Augenblick hatte Christoph die Kontrolle verloren. Das Ende entsprach dem Anfang – oder doch nicht, denn der letzte Akkord hatte mit der schlichten Me- lodie des Beginns nichts gemein. Was war dazwischen geschehen? Während der Durch- führungen hatte eine Verwandlung stattgefunden. Mit der Musik – und mit demjenigen, der sie gehört hatte. Plötzlich flackerte ein Gedanke in Jacobs Kopf auf, der schon lange tief in seinem Inneren vor sich hin geglommen hatte: Diese Musik war nicht zur höheren Ehre Gottes erklungen. Sie entstand aus sich selbst, lebte aus eigenem Recht. Sie genügte sich selbst. Die Musik brauchte Gott nicht, so wie Gott die Musik nicht brauchte.

58 Weil er sie nicht hörte. Denn falls es ihn gab, war er stumm und taub. Als die Eltern starben, hatte er ihr Weinen nicht gehört. Auch wenn all diese Lehrer und Pastoren etwas anderes erzähl- ten, Jacob wusste es besser. Seltsamerweise erschütterte ihn diese Erkenntnis nicht. Sie kam ihm ganz beiläufig, wie eine Tat- sache, an die er sich seit langem gewöhnt und die er nun zufällig einmal beim Namen genannt hatte. Jacob glaubte nicht mehr an Gott, der Glaube seiner Kindheit war erloschen. Diese Fest- stellung hatte nichts Schmerzhaftes an sich. Er war auch nicht zornig auf Gott. War es denn Gottes Schuld, dass er nicht exis- tierte? Es gab ihn schlicht nicht, was konnte man ihm also vor- werfen? Jacob fühlte sich erleichtert und froh, als sei eine Last von ihm genommen. Man konnte sich auf diesen Gott nicht ver- lassen. Aber man musste es auch nicht, es gab ja die Musik. Sie war eine bessere Trösterin, und sie würde ihn nicht im Stich las- sen, niemals. Auch die anderen hatte Christophs Orgelspiel nicht un- berührt gelassen. Die beiden Prediger standen wie versteinert in der Vierung. Der Superintendent hielt mit der rechten Hand seine Perücke fest, als fürchtete er, sie könne ihm vom Kopfe flie- gen. Schimmelhaupt hatte die Hände gefaltet, in seinen Augen stand blankes Entsetzen. Quehl, Oschatz und Frobenius hatten sich von ihrem Würfelspiel abgewandt, Tempel hatte seinen Bu- nyan zugeschlagen, Ernst das Messer weggesteckt. Alle starrten mit offenen Mündern zum Orgelprospekt hinüber. Herda wandte sich abermals dem Chorus musicus zu, er hob die Arme, als wollte er sie noch einmal singen lassen. Doch nie- mand wäre auf die Idee gekommen, jetzt eine Motette zu sin- gen. Es war undenkbar, dass nach dieser Musik überhaupt noch jemand in der Michaeliskirche einen Ton singen oder spielen sollte. Da begannen die Schüler mit den Füßen auf dem Holzboden zu trampeln, lauter, wilder als vorhin, als sie ihren Unmut über das allzu lange Nachspiel bekundet hatten. Sie trampelten, als

59 wären sie in Wahnsinn verfallen, so heftig, dass die Empore zu schwanken begann. Sie wollten Christoph sehen. Kromeyer und Schimmelhaupt sprachen miteinander, das heißt, der Superintendent redete hitzig auf seinen Pfarrer ein. Dann begaben sich die beiden Geistlichen eiligen Schrittes zur Sakristei. Noch im Mittelgang riss sich Kromeyer die Perücke herunter und kratzte sich ausgiebig seinen kahlen glänzenden Schädel. Schimmelhaupt, stets einen Schritt hinter seinem Vor- gesetzten zurückbleibend, blickte sich immer wieder ängstlich nach der Orgel um. Unterdessen hatte sich Christoph an die Balustrade der Orgel- empore begeben. Er sah aus, als hätte man ihm einen Zuber Wasser über den Kopf gegossen. Er blinzelte benommen umher, wie jemand, der sich lange im Dunkeln aufgehalten hatte und sich erst allmählich wieder an das Tageslicht gewöhnte, lächelte geistesabwesend – und war wieder verschwunden. Nach weni- gen Augenblicken tauchte er wieder auf, links und rechts hielt er zwei Gestalten im Arm. Die Jungen waren ebenfalls bis auf die Haut durchgeschwitzt, sie konnten sich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten. Es waren Georg Erdmann und Sebastian, die den Kalkantendienst versehen hatten. Lachend strich ihnen Christoph über die verklebten Haare.

60 V.

Eine Frage der Ehre

Das Wunder, welches der Superintendent Kromeyer aus dem Evangelium vorgetragen und anschließend in seiner Predigt so appetitlich ausgemalt hatte, geschah. Und zwar hier und jetzt, und nicht etwa in Gestalt trockenen Brotes und ein paar dürfti- ger Fischlein. In der Schulgasse erwarteten Jacob und Sebastian eine Schüssel Sauerkraut mit Schmalz und sage und schreibe vier Bratwürste – eine ganze für jeden. Dazu bekamen sie Köst- ritzer Bier zu trinken, Sebastian einen Viertelkrug, Jacob sogar einen halben. Sie kamen sich vor wie im Schlaraffenland, wo die Zäune aus Würsten geflochten waren. Doch im Gegensatz zu den maßlosen Schlaraffen schlangen sie diese Delikates- sen nicht sinnlos hinunter. Um den Genuss so lange wie mög- lich auszudehnen, kauten Jacob und Sebastian jeden Bissen mit genauer Gründlichkeit. Vor allem Sebastian galt als unüber- troffener Meister in der Kunst, auf diese Weise das Behagen in die Länge zu ziehen und bis zum Letzten auszukosten. Sorg- fältig zerlegte er seine Bratwurst auf dem Teller, um sie dann Stück für Stück zum Munde zu führen und unter andächtigen Seufzern zwischen seinen Zähnen zu zermalmen. Keiner Verrichtung (die Musik ausgenommen) widmete sich der Bruder hingebungsvoller als dem Essen. Bei den Fa- milien, an deren Freitischen er aß, stand Sebastian nicht zu

61 Unrecht im Ruf eines unersättlichen Vielfraßes. Einmal war Pfarrer Schimmelhaupt, bei dem Sebastian jeden Freitag ein- kehrte, der Kragen geplatzt, und der arme Bruder hatte sich eine halbstündige Stegreifpredigt über die Todsünde der Völlerei an- hören müssen. Dabei hatte es bloß Fisch gegeben, einen mickri- gen Quappaal, und grätig dazu. Immerhin hatte sich der Vorfall musikalisch ausgemünzt: Am selben Abend hatten Christoph und Sebastian ein sehr artiges Trauer-Capriccio auf das allzu frühe Hinscheiden der bedauernswerten Quappe komponiert. Unter der Woche nahmen Jacob und Sebastian ihre Mahl- zeiten reihum bei verschiedenen Gönnern ein. War es schon an sich peinlich, sich bei fremden Leuten als Almosenempfänger zu Tisch zu setzen, wurde die Geschichte vollends unerträg- lich, wenn sich die Wohltäter mit ihrer guten Tat das Recht erworben zu haben glaubten, über das Betragen der Empfän- ger ihrer Wohltaten zu wachen und ihnen wohlgemeinte Rat- schläge zu erteilen. Zu jedem Ratschlag, mochte er noch so dumm sein, musste man brav nicken und ihm unbedingt zu folgen versprechen. Der Witwe Knoll trug Jacob das Haar zu kurz, Schimmelhaupt wiederum war er zu schlecht frisiert, dem Rat Kühn war er zu mies gekleidet, Schimmelhaupt ging er wiederum zu geputzt einher. Und so weiter. Aber Widerrede war nicht nur zwecklos, sondern auch äußerst riskant. Die ge- ringste Verstimmung eines Wohltäters konnte die freie Mahl- zeit in Frage stellen und damit ihre gesamte Versorgung ge- fährden. Aber daran dachten Jacob und Sebastian nicht, nicht heute. Dorothea hatte auf ihre Bratwurst verzichtet, sie fühlte sich wegen der Hitze unwohl und hatte sich zur Ruhe gelegt. In- zwischen hatte ihr Bauch einen bedenklichen Umfang an- genommen, nur noch mit Mühe schob sie sich durch die mit ererbten Möbelstücken vollgestellte Wohnung. Christoph hatte ebenfalls erklärt, bei diesem Wetter keine Bratwürste mit Sauer- kraut essen zu können. Und was das überhaupt für eine hirnver-

62 brannte Idee sei, an einem solchen Tag so ein schweres Gericht zu kochen, da könne er ja gleich Wackersteine verschlucken. Jacob und Sebastian hatten sich sogleich auf die überzähligen Würste gestürzt. Dabei hätten sie auf die Extra-Würste liebend gern verzichtet. Christoph war ja nur noch eine halbe Portion, geradezu kümmerlich sah er aus. Das Mittagessen war eine milde Gabe der Schwiegereltern, ge- nauer gesagt der Mutter Johanna Dorotheas, die ihnen hin und wieder solche Delikatessen zukommen ließ. Zum Missfallen des Herrn Schwiegervaters, des gestrengen Rats Vonhoff, der seinen Schwiegersohn von Anfang an für einen ausgemachten Tauge- nichts gehalten und sich überhaupt, wie er unverhohlen zugab, ungern mit einer Stadtpfeifer-Sippschaft verschwägert hatte. Die Bachs mochten ehrbare Leute sein, aber sie waren und blie- ben nun einmal Musikanten. Die Vonhoffs dagegen waren eine alteingesessene Bürgerfamilie. Aber seine Tochter hatte ihren eigenen Kopf. Irgendwann hatte Rat Vonhoff nachgegeben, und sie hatte ihren Johann Christoph heiraten dürfen. Bei einem Vorstellungsgespräch hatte der junge Mann eine überraschend gute Figur gemacht. Auch die Ohrdrufer Hochzeit war höchst angenehm und zur völligen Zufriedenheit aller Beteiligten ver- laufen. Nicht zuletzt der Auftritt des berühmten Pachelbel hatte Eindruck gemacht, und auch die Herren Johann Ambrosius Bach und Johann Christoph Bach senior, immerhin herzog­ liche Hofmusiker, hatten sich als durchaus verständige und re- elle Männer herausgestellt. Also, man konnte zur Not damit leben. Aber so ganz und gar hatte sich der alte Vonhoff mit die- ser Messalliance, denn das war für ihn diese Verbindung nach wie vor, nie abgefunden. Bei den Bachs in der Schulgasse hatte er sich seit der Hochzeit denn auch nie blicken lassen, geschweige denn dass er die Familie seiner Tochter je in sein schönes gro- ßes Haus eingeladen hätte, das nur wenige Gehminuten entfernt am Markt stand. Christoph war seinerseits zu stolz, von seinem Schwieger-

63 vater auch nur das Geringste anzunehmen, lieber ernährte er sich nur von Wasser und Hafergrütze. Selbst Dorothea hatte es irgendwann aufgegeben, ihn umstimmen zu wollen. Zugegebenermaßen hatten sich Vonhoffs Befürchtungen be- wahrheitet, jedenfalls zum Teil. Johann Christoph Bach war ein ausgezeichneter, ja außergewöhnlicher Organist, zweifellos der beste, den Ohrdruf je gehabt hatte. Aber er wollte ausschließlich Organist sein. Anders als es allgemein üblich war (und wozu ihn der Rat auch dringend aufgefordert hatte), hatte Christoph keine zusätzlichen Ämter übernommen. Er hätte zum Beispiel Unterlehrer am Lyzeum werden sollen, doch rundheraus erklärt, zur Schularbeit keine Lust zu haben. Wie sein verehrter Leh- rer Pachelbel wollte er allein der Kunst leben. Der Rat hatte es ihm, nicht ohne Bedenken, aber mit Rücksicht auf seine heraus- ragenden musikalischen Fähigkeiten, durchgehen lassen. Dabei hätte Christoph klar sein müssen, dass die Einkünfte allein aus dem Organistenamt viel zu gering waren, um eine Fami- lie über Wasser zu halten, von zwei zusätzlichen Essern ganz zu schweigen. Es war nicht so, dass Jacob ihn nicht verstehen konnte. Der Schuldienst war für fast alle Musiker, die nicht bei irgend- einem fürstlichen oder zumindest gräflichen Hof angestellt waren, eine lästige Pflicht. Dedekind litt ebenso darunter wie Johann Michael Bach, der in Gehren bei Ilmenau neben seinem Organistenamt als Stadtschreiber arbeitete. Aber hielt ihn das etwa davon ab, seine schönen Kantaten und Motetten zu kom- ponieren? Der Schul- oder Schreiberdienst war nun einmal ein notwendiges Übel. Und Christophs großes Vorbild Johann Pa- chelbel? Auch der hatte einmal klein angefangen. Erst jetzt, wo er an der Sebalduskirche in der berühmten Stadt Nürnberg Or- ganist war, konnte er sich den Luxus erlauben, sich ausschließ- lich seiner Orgel zu widmen. Der Bruder aber hatte seine Kar- riere gerade erst begonnen. Warum war er so stur? Der Vater hätte für Christophs leichtsinnige Entscheidung kein Verständ-

64 nis aufgebracht. Und Sebastian? Bewunderte den älteren Bruder grenzenlos. Gerade dafür. Jacob öffnete das Fenster. Es herrschte tiefste Sonntagsruhe, nur der Gesang der Vögel drang ins Zimmer. Kein Gerassel vorbeifahrender Karren war zu hören, kein Klopfen, Hämmern und Rufen wie an den Werktagen. Sebastian hing satt und mit geschlossenen Augen in einer Ecke der Sitzbank am Esstisch und döste vor sich hin. Dass er noch nicht ganz eingeschlafen war, war nur daran zu merken, dass er ab und an mit einer lässi- gen Handbewegung die Brummfliege verscheuchte, die immer wieder auf ihm landete. Christoph hatte sich in dem alten Kröpelstuhl niedergelassen, in dem sich schon der Vater nach getaner Arbeit entspannt hatte, und sich eine Pfeife angesteckt. Der Knasterqualm mischte sich mit dem Sauerkraut- und Brat- wurstduft, der noch in der warmen Luft hing. Der Bruder war in ein Notenblatt vertieft, das vor ihm auf dem Schoß lag. Es war der Anfangschor einer Kantate, die er zum Geburtstag sei- nes Sohnes – Christoph zweifelte keinen Augenblick daran, dass es ein Knabe werden würde – aufzuführen gedachte. Ob- wohl Dorothea jeden Tag niederkommen konnte, war die Kan- tate noch lange nicht fertig. Der Text war bereits vorhanden, Elias Herda hatte ihn gedichtet (angeblich in einer einzigen Nacht), und es war ein Meisterwerk. Und eben da lag das Prob- lem: Die Musik musste natürlich dem herrlichen Poem gerecht werden. Christoph komponierte in jeder freien Minute. Stän- dig verbesserte er, verwarf das schon Geschaffene, war nie zu- frieden. Die Geburtstagskantate würde niemals pünktlich voll- endet werden. Der Bruder wurde darüber immer magerer und, auch wenn er sich bemühte, es sie nicht spüren zu lassen, un- leidlicher. Christoph blies einen Rauchstrahl gegen das Blatt, zerknüllte es und warf die Papierkugel aus dem Fenster. »Pfusch!«, zischte er (er brüllte nicht, um Dorothea nicht zu wecken). »Nichts als Pfusch!«

65 So genial der Bruder drauflosimprovisierte, so schwer tat er sich mit der Tonsetzerei. Aber warum musste er überhaupt komponieren? Sicherlich, der Onkel gab sich ebenfalls mit die- ser Kunst ab und hatte es weit darin gebracht. Der Vater in- dessen hatte davon nie etwas wissen wollen. Er hätte es zweifel- los gekonnt, wenn er gewollt hätte, doch war Ambrosius Bach stets der Meinung gewesen, dass die Erfindung eigener Musik- stücke nicht seines Amtes war. Vielleicht hatte er auch einfach gewusst, dass er in dieser Kunst allenfalls Mittelmäßiges zu leisten imstande gewesen wäre, und sie daher denjenigen über- lassen, die dazu berufen schienen: dem Onkel, überhaupt den Herren Organisten. Sebastian gehörte auch dazu. Wenn Jacob, noch zu Hause in Eisenach, den kleinen Bruder zum Essen holen sollte, hatte er ihn nie lange suchen müssen. Er fand ihn todsicher in der Georgen- kirche, wo der Onkel zusammen mit dem Orgelbauer Stertzing an seiner Orgel herumtüftelte. Sebastian hatte die Orgel, diesen unendlich komplizierten und empfindlichen Apparat mit sei- nen Blasebälgen, kleinen und großen Pfeifen, Windläden und Trakturen studiert, ihn erforscht wie ein Entdecker die Flüsse, Gebirge und Urwälder eines fremden Kontinents. Den Herren Orgelbauern war der Stadtpfeifersohn mit seiner ewigen Fra- gerei (und gelegentlichen Verbesserungsvorschlägen) höllisch auf die Nerven gegangen. Aber der alte Johann Christoph hatte seine helle Freude an dem superklugen Neffen gehabt und ihm unermüdlich erklärt, was er wissen wollte. Nur an den Spiel- tisch hatte er Sebastian nie gelassen, vielleicht auf Bitten des Va- ters. Das hatte aber Sebastian nicht von seinem Wunsch, viel- mehr seiner Gier abgebracht, das Orgelspiel zu erlernen. Ganz im Gegenteil. Auch der Bruder Christoph hatte in der Frage keinerlei Be- denken. Die Abendstunden verbrachten er und Sebastian oft in der Michaeliskirche. Wenn die beiden zusammen am Spiel- tisch saßen, benahmen sie sich wie zwei Adepten in ihrer Alchi-

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